Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme: Differenzierungspraxen und Partizipationsbedingungen in der Grundschule 9783839460160

Wie werden geflüchtete Kinder, die erstmals mit dem deutschen Bildungssystem in Kontakt kommen, unterrichtet und welche

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme: Differenzierungspraxen und Partizipationsbedingungen in der Grundschule
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Judith Jording Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Bildungsforschung  | Band 10

Judith Jording ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) an der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der (erziehungswissenschaftlichen) Migrationsforschung und der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit im Bildungssystem. Dabei befasst sie sich insbesondere mit Differenzierungspraxen sowie In- und Exklusionsprozessen in der Schule der Migrationsgesellschaft.

Judith Jording

Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme Differenzierungspraxen und Partizipationsbedingungen in der Grundschule

Das Forschungsprojekt wurde durch die Forschungsförderung der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg gefördert. Dissertation Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, 2020. Gutachterinnen: Prof. Dr. Ulrike Hormel (Pädagogische Hochschule Ludwigsburg), Prof. Dr. Nicolle Pfaff (Universität Duisburg-Essen)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6016-6 PDF-ISBN 978-3-8394-6016-0 https://doi.org/10.14361/9783839460160 Buchreihen-ISSN: 2699-7681 Buchreihen-eISSN: 2747-3864 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis........................................................................ 9 Dank .......................................................................................... 11 1

Einleitung................................................................................ 13

Teil 1:  Theoretische und methodisch-methodologische Grundlagen 2

Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen: Ausgangslage und theoretische Verortung .............................................. 23 2.1 Forschungslage zur Bildungsbeteiligung neu migrierter Schüler:innen..................... 24 2.1.1 Statistische Erkenntnisse zur Bildungsbeteiligung  neu migrierter Schüler:innen...................................................... 24 2.1.2 Neu migrierte Schüler:innen in der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Forschung........................ 29 2.2 Bildungsungleichheit beobachten: Grundlagentheoretische Verortung ..................... 37 2.3 System- und organisationstheoretische Perspektiven  auf Bildungsungleichheit.................................................................. 41 2.3.1 Ausgangspunkt: Theorien des institutionellen Rassismus und der institutionellen Diskriminierung ............................................ 41 2.3.2 System- und organisationstheoretische Perspektiven  auf Theorien institutioneller Diskriminierung ...................................... 47 2.4 Bildungsungleichheit als polykontexturales Phänomen ..................................... 71 3 3.1

Rekonstruktion bildungspolitischer Reaktionen auf Migration........................... 77 Wirtschaftsaufschwung und Anwerbeabkommen: Etablierung von Vorgaben für die vorübergehende Beschulung ›ausländischer Kinder‹ (1950er - 1970er-Jahre) ....... 78 3.2 Anwerbestopp und Familiennachzug: Konsolidierung der Beschulung ›ausländischer Kinder‹ als vorübergehendes Phänomen (1970er – 1990er-Jahre) ........... 83

3.3 Europäische Fluchtbewegungen: Reaktivierung des Postulats ›Integration auf Zeit‹ (1990er – 2010er-Jahre)............................................. 90 3.4 Historisch etablierte Beschulungsstrategien für ›ausländische‹ Schüler:innen im Spiegel aktueller Entwicklungen ...................................................... 96 Anlage der Studie ....................................................................... 101 Methodisch-methodologische Grundannahmen ........................................... 101 4.1.1 Dokumentarische Methode als Zugang zum (Entscheidungs-)Handeln.................................................... 103 4.1.2 Dokumentarische Organisationsforschung ........................................ 107 4.1.3 Dokumentarische Organisationsforschung als funktionale Analyse ........................................................... 112 4.2 Konkretisierung der Forschungsfragestellung ............................................ 118 4.3 Sampling ................................................................................120 4.3.1 Die Städte ........................................................................ 121 4.3.2 Die Schulverwaltungen............................................................ 122 4.3.3 Die Schulen ..................................................................... 123 4.3.4 Überblick: Datensatz..............................................................126 4.4 Datenerhebung und Reflexion ............................................................ 129 4 4.1

Teil 2:  Analyse 5 5.1

Verwaltung von ›Seiteneinsteigern‹.................................................... 135 Kommunales Distributionsmanagement:  das ›Beratungs- und Zuweisungsverfahren‹ ............................................. 136 5.1.1 Versuch der Herstellung einer Passung zwischen Schulform und ›Seiteneinsteigern‹ in der Schulverwaltung ................................... 137 5.1.2 Verlagerung der Herstellung einer Passung zwischen Schulform und ›Seiteneinsteigern‹ in die Schulen ............................................ 149 5.1.3 Etablierung komplexer Entscheidungsprozesse ....................................155 5.2 Der Übergang in die Regelklasse ......................................................... 157 5.2.1 Annahme einer dauerhaften Kopplung von Schulform  und Vorbereitungsklasse ......................................................... 158 5.2.2 Unterlaufen der kommunalen Zuweisungspraxis durch dauerhafte Kopplung von Schulform und Vorbereitungsklasse ...............159 5.2.3 Verstetigung von Zuweisungen ...................................................162 5.3 Der Wechsel von der Primar- in die Sekundarstufe........................................162 5.3.1 Ressourcenorientierte Zuweisung ohne Schulformdifferenzierung I ............... 163 5.3.2 Ressourcenorientierte Zuweisung ohne Schulformdifferenzierung II................166 5.3.3 Status ›Seiteneinsteiger‹ als maßgebliche Entscheidungsprämisse ............... 168 5.4 Interpretation des Status ›Seiteneinsteiger‹ durch die Schulverwaltungen von Flurstadt und Radstadt ............................................................. 168

6 6.1 6.2 6.3

6.4

6.5

6.6

6.7

Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ .................................................... 171 Überblick: Bildungspolitische Erlasse zur Beschulung  von ›Seiteneinsteigern‹ in NRW .......................................................... 171 Skizzierung der formalen Organisationsprinzipien zur Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ an sechs Grundschulen in NRW................................... 174 Die Praxis der Differenzierung von neu migrierten Schüler:innen .......................... 176 6.3.1 Beobachtungsdimensionen neu migrierter Schüler:innen .......................... 176 6.3.2 Die Klassifikation ›Seiteneinsteiger‹ ............................................. 236 Die Ausgestaltung des Unterrichts für neu migrierte Schüler:innen....................... 238 6.4.1 Bildungspolitische Vorgaben in NRW.............................................. 238 6.4.2 In- und Exklusion neu migrierter Schüler:innen in den curricularen (Regel-)Unterricht ............................................ 240 6.4.3 Leistungsmessung und Leistungsmarkierung neu migrierter Schüler:innen ........ 257 6.4.4 Recht auf Bildung?............................................................... 273 Die Zuweisung in eine Regelklasse ...................................................... 277 6.5.1 Bildungspolitische Vorgaben in NRW.............................................. 278 6.5.2 Übergang in und Zuordnung zu einer Regelklasse & Jahrgangsstufe............... 279 6.5.3 Vorbereitungsgruppen/-klassen als Selektionsorte................................ 295 Die Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs ............................ 299 6.6.1 Bildungspolitische Vorgaben in NRW.............................................. 299 6.6.2 Adressierung von ›Seiteneinsteigern‹ als ›Inklusionsschüler‹ ..................... 303 6.6.3 Vom ›Seiteneinsteiger‹ zum ›Inklusionsschüler‹.................................. 324 Der Wechsel von der Primar- in die Sekundarstufe....................................... 330 6.7.1 Bildungspolitische Vorgaben in NRW.............................................. 330 6.7.2 Praxen der Zuweisung von neu migrierten Schüler:innen in die Sekundarstufe..... 331 6.7.3 ›Seiteneinsteiger‹ als potenzielle ›Hauptschüler‹................................. 346

Teil 3:  Zusammenführung und theoretische Abstraktionen 7 7.1

7.2

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Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule ................. 353 Wissens- und Deutungsressourcen bei der Beschulung neu migrierter Schüler:innen ..... 354 7.1.1 Problembeschreibungen hinsichtlich der Beschulung  neu migrierter Schüler:innen..................................................... 354 7.1.2 Problemlösungen: Klassifikationen des Status ›Seiteneinsteiger‹ ................. 359 7.1.3 Ungleichheitsrelevante Muster I .................................................. 365 Kommunale sozialräumliche, bildungspolitische und bildungsrechtliche Kontexturen der Beschulung neu migrierter Schüler:innen ........ 370 7.2.1 Kommunale sozialräumliche Kontexturen.......................................... 371 7.2.2 Kommunale bildungspolitische und bildungsrechtliche Kontexturen ............... 376 7.2.3 Ungleichheitsrelevante Muster II ................................................. 380 Schlussbetrachtungen: Diskriminierung neu migrierter Schüler:innen im Erziehungssystem der Migrationsgesellschaft als polykontexturales Phänomen .... 385

Transkriptionsregeln ........................................................................ 393 Abbildungsverzeichnis ...................................................................... 395 Tabellenverzeichnis ......................................................................... 397 (Bildungs-)politische Quellen ................................................................ 399 Literaturverzeichnis......................................................................... 403

Abkürzungsverzeichnis

Abs. ADS AO-GS AO-SF APO-SI BA BAMF BASS BezR. BfArM Bspw. DaZ GEW GS Herv. IGLU Kap. KI KM KMK LES

Absatz Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom Ausbildungsordnung Grundschule Ausbildungsordnung Sonderpädagogische Förderung Ausbildungsordnung Sekundarstufe I Bundesagentur für Arbeit Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Bereinigte Amtliche Sammlung der Schulvorschriften NRW Bezirksregierung Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte Beispielsweise Deutsch als Zweitsprache Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Grundschule Hervorhebung Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung Kapitel Kommunales Integrationszentrum Kultusministerium Kultusministerkonferenz Sonderpädagogische Förderung im Bereich der Lern- und Entwicklungsstörungen LVR Landschaftsverband Rheinland MAGS Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales MAIS Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales MKFFI Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration MKJS Ministerium für Kultus, Jugend und Sport MS Münster MSB Ministerium für Schule und Bildung MSJK Ministerium für Schule, Jugend und Kinder MSJK Ministerium für Schule, Jugend und Bildung

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

MSW NRW OGS PISA RBK RdErl RK RS RVR s. SchulG SE Sek StBA v. VK

Ministerium für Schule und Weiterbildung Nordrhein-Westfalen Offene Ganztagsschule Programm for International Student Assessment Rhein-Bergischer Kreis Runderlass Regelklasse ›Regelschüler‹ Regionalverband Ruhr siehe Schulgesetzt ›Seiteneinsteiger‹ Sekundarstufe Statistisches Bundesamt vom Vorbereitungsklasse

Dank

Diese Arbeit wäre kaum ohne die bedingungslose Liebe, Unterstützung und Zuversicht meiner Freund:innen und meiner Familie, sowie die inhaltlichen Perspektivierungen meiner wissenschaftlichen Begleiter:innen und Betreuer:innen entstanden.   Zunächst möchte ich meinen Interviewpartner:innen danken, die sich Zeit genommen, mir Vertrauen geschenkt und großes Interesse entgegengebracht haben.   Ein besonderer Dank gilt meiner Erstbetreuerin Prof. Dr. Ulrike Hormel, die mich nicht nur zu dieser Arbeit angeregt und diese von Beginn an mit großer Ernsthaftigkeit begleitet hat, sondern mich mit ihrer fundierten Kritik immer wieder zum Weiter- und Neudenken inspiriert hat. Gleichfalls hat Prof. Dr. Marcus Emmerich mit seinen Ideen, seiner Diskussionsfreudigkeit und seinen Anregungen wesentlich zur Konzipierung dieser Arbeit beigetragen. Bei meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Nicolle Pfaff möchte ich mich für ihr Interesse, die aufschlussreichen Methodendiskussionen und ihr Vertrauen in mich und meine Arbeit bedanken. Ebenfalls erwähnen möchte ich die Teilnehmenden des Doktorand:innenkolloquium von Nicolle Pfaff in der AG Migrations- und Ungleichheitsforschung der Universität Duisburg-Essen, namentlich insbesondere Tina-Berith Schrader und Thorsten Hertel. Danke, dass ihr mich herzlich aufgenommen und mir bei methodischen Fragen mit Rat beiseite gestanden habt. Mona Massumi und Lydia Heidrich haben mich mit ihren Perspektiven auf den Themenbereich ›neue Migration und Schule‹ zum Nachdenken angeregt und mich mit ihren Rückmeldungen zu meiner Arbeit immer wieder – insbesondere in den Abgabephasen – gestärkt. Danke!   Meine Familie hat nicht nur viel Verständnis für meine zeitintensive Promotionsphase gezeigt, sondern mich auch mit praktischen Dingen, – sei es mit Korrekturen, aufmunternden Worten oder Obstlieferungen – unterstützt. Der Dank gilt vielen, aber insbesondere euch: Dorit Jording, Farina Jording, Nele & Milla Jording, Sebastian Mückner, Uwe Hapke und Wolfgang Mückner-Dellinger.

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Katharina Möllmann, du hast mir im ›Süden‹ nicht nur ein Schlafplatz zur Verfügung gestellt, sondern mir ein Teilzeit-Zuhause mit dem unüberschätzbaren Gefühl, stets willkommen zu sein, geboten. Auch Robert W. und Judith S. möchte ich danken, da Sie entschieden dazu beigetragen haben, dass ich bei der Veröffentlichung meiner Dissertation angekommen bin. Vielen Dank für die vielen Worte! Meine Freund:innen haben mich durch gute und schlechte Zeiten getragen. Ich danke euch für eure ›radikale Zärtlichkeit‹ (Kurt 2021) und dafür, dass ihr nicht nur meine Arbeit wertgeschätzt und bekräftigt, sondern mich auch immer wieder daran erinnert habt, dass es eine andere Welt gibt. Ich höre euch rufen und ich freue mich: Anne Meermeier, Ben Görgen, Chris Maaß, Clarissa Wacher, Henk Stratmann, Jule Nolte, Manu Unkelbach, Marie-Claire Bastong, Mathis Jording, Mone Klein, Moritz Bichler, Moritz Klein, Raphaela Homoet, Regina Gahbler, Sabine Scheerer, Sania Naniev und Zissi Barthelt mit Lukas, Toni und Lisbeth. Zwei weitere Menschen gehören noch dazu: Sophie Burkhard und David Möllmann. Euch möchte ich einen weiteren besonderen Dank dafür aussprechen, dass ihr meine Arbeit mehr als nur einmal gelesen und korrigiert und mich mit Nachdruck darin bestärkt habt, meinen Weg zu gehen. Schließlich danke ich dir, David, für deine Liebe, dein Verständnis, deine unbedingte Solidarität und praktische Überlebenshilfe.

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Einleitung

Seit Beginn der 1990er-Jahre ist nicht nur in der Bildungspraxis, sondern auch in der Bildungspolitik registriert worden, dass die moderne Gesellschaft durch Migrationsbewegungen in Form von bspw. Fluchtmigration, temporärer Bildungs- oder dauerhafter Arbeitsmigration geprägt ist.1 Gleichzeitig zeigt sich jedoch, dass internationale Migration heute immer noch vor dem Hintergrund der ›Normalitäts‹-Erwartungen der Schule in Deutschland als ›Abweichung‹ entworfen wird, auf die mit spezifischen Maßnahmen reagiert werden müsse.2 Dies wird aktuell darin erkennbar, dass in der Bildungspolitik und der Bildungspraxis im Zuge erhöhter Flucht- und Migrationsbewegungen nach Deutschland seit dem Jahr 2010 – bzw. insbesondere seit 2014 – eine Vielzahl von als Fördermaßnahmen für neu migrierte Schüler:innen gerahmte besondere Beschulungsmaßnahmen etabliert wurden: Es wurden Vorbereitungsklassen und -gruppen zum Erlernen der deutschen Sprache für sogenannte ›Seiteneinsteiger‹ eingerichtet, die Zahl der Lehrkräfte erhöht3 , Klassenräume oder manchmal auch ganze Schulgebäude bereitgestellt, kommunale Verfahren zur Verteilung der Schüler:innen auf Schulen entwickelt und diverse bildungspolitische Erlasse auf Landes- und Kommunalebene verabschiedet. Obwohl aktuell nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch im Erziehungssystem (anders als noch in den 1960er bis 1990er-Jahren) verstärkt von einem dauerhaften Verbleib der (neu) migrierten Menschen in Deutschland ausgegangen wird, wurde die Mehrzahl dieser Maßnahmen lokal und ad hoc etabliert, d.h. ohne eine erkennbare Gesamtstrategie und ohne empirische Evidenz hinsichtlich bildungsbiografischer Konsequenzen (vgl. Massumi et al. 2015; von Dewitz/Massumi/

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Gleichfalls wurde zu Beginn der 1990er Jahre das Thema ›Migration‹ auch in der Wissenschaft in Deutschland verstärkt als ein eigenständiges Forschungsfeld etabliert (wie z.B. die Einrichtung des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück 1991 zeigt). Ebenso wird internationale Migration erst vor dem Hintergrund nationaler Staatenbildungen und dem Aufbau eines nationalen Wohlfahrtsstaates als ›Problem‹ registriert und politisch adressiert (vgl. Bommes 1999). Es wurden neue Lehrkräfte eingestellt, pensionierte Lehrkräfte in den Schuldienst zurückgeholt oder, abhängig vom jeweiligen Bundesland, Studierende, Ehrenamtliche oder Menschen in Arbeitsgelegenheiten in die Beschulung eingebunden.

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Grießbach 2016; Emmerich/Hormel/Jording 2016, 2017). Unterdessen wird offenkundig, dass im Rahmen der aktuellen Migrationsbewegungen Beschulungsstrategien für neu migrierte Schüler:innen reaktiviert wurden, welche bereits in den 1970er-Jahren Anwendung fanden und für die inzwischen hinreichend belegt wurde, welche ungleichheitsrelevanten Folgen diese haben (können) (vgl. u.a. Gomolla/Radtke 2002). Trotz gegenwärtiger Bemühungen, eine angemessene Bildungsteilhabe für migrierte Schüler:innen in Schulen in Deutschland zu ermöglichen, stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, wie erfolgreich diese Strategien sind. So wird nicht nur in einer historischen Perspektive (vgl. u.a. Bommes/Radtke 1993; Diehm/Radtke 1999; Gomolla/ Radtke 2002), sondern auch mit Blick auf aktuelle Zahlen zur Bildungsbeteiligung neu migrierter Schüler:innen ersichtlich, dass trotz der meritokratischen Selbstbeschreibung der Schule von einer empirisch nachweisbaren Bildungsbenachteiligung dieser Schüler:innen auszugehen ist (vgl. Massumi 2019; Emmerich/Hormel/Kemper 2020a). In einer der wenigen vorliegenden Studien hierzu führen Emmerich, Hormel und Kemper (2020a) mit Blick auf das Bundesland NRW aus, dass »›Seiteneinsteiger‹ insgesamt (42,4 vs. 8,4 %) fünfmal so häufig Hauptschulen und nur etwa halb so häufig Gymnasien (23,0 vs. 43,4 %) im Vergleich zu den Schüler/-innen insgesamt [besuchen].« (Ebd.: 140) Ebenfalls wird in einer qualitativen Studie unter Leitung von Emmerich und Hormel4 (2016, 2017) in einem kommunalen Vergleich im Bundesland NRW eine schulische Allokationspraxis neu migrierter Schüler:innen auf das niveaudifferenzierte Sekundarschulsystem rekonstruiert, die auf einer systematischen Zuweisung dieser Schüler:innen auf niedrigqualifizierende Schulformen beruht. Auch wenn die hier getroffenen Aussagen noch keine Prognosen hinsichtlich der weiteren Bildungsbiografien der neu migrierten Schüler:innen ermöglichen5 , kann dennoch vermutet werden, dass sich diese Zuweisungspraxen langfristig in einer bildungsbezogenen Schlechterstellung dieser Schüler:innen auswirken. Mit der Feststellung der bis heute nachweisbaren Bildungsbenachteiligung (neu) migrierter Kinder und Jugendlicher, die sich unter anderem auch aus den historisch etablierten ›Lösungsstrategien‹ für den Umgang mit Migrant:innen im Erziehungssystem ergeben (vgl. u.a. Diehm/Radtke 1999; Gomolla/Radtke 2002; Emmerich/Hormel 2013a), erfährt die aktuelle Forschung zu den Prozessen der Beschulung neu migrierter Schüler:innen eine besondere Bedeutung. Entsprechend fokussiert die vorliegende

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Es handelt sich hier um Publikationen, die im von Prof. Dr. Ulrike Hormel (Pädagogische Hochschule Ludwigsburg) und Prof. Dr. Marcus Emmerich (Eberhard Karls Universität Tübingen) geleiteten Forschungsprojekt »Flucht und Migration als Bezugspunkt kommunaler Bildungspolitik und Bildungspraxis« entstanden sind. Die Autorin dieser Arbeit war im Rahmen ihrer Dissertation an diesem Forschungsprojekt und den dabei entstandenen Publikationen beteiligt. Prognosen hinsichtlich der weiteren Bildungsbiographie der Schüler:innen sind insofern nicht möglich, als sich die statistisch beschreibbaren, wie auch durch eine qualitative Interviewstudie rekonstruierten Zuweisungsverfahren auf Sekundarschulformen auf die Allokation neu migrierter Schüler:innen innerhalb einer in NRW etablierten zweijährigen Erstförderphase beziehen, von der in einigen Kommunen angenommen wird, dass nach Beendigung dieser Erstförderung eine niveaudifferenzierte Neuverteilung der Schüler:innen stattfinde (vgl. Emmerich et al. 2020b; Emmerich/Hormel/Jording 2017, 2016).

1 Einleitung

Arbeit die schulische Inklusion neu migrierter Schüler:innen. Die forschungsleitende Fragestellung lautet, wie neu migrierte Kinder und Jugendliche mit welchen Folgen in den Organisationen des Erziehungssystems differenziert werden. Die Produktion von ungleichen Bildungschancen wird dabei als diskriminierende Ordnungsbildung in den Blick genommen und der Fokus auf Muster der Beschulung neu migrierter Schüler:innen sowie diesbezüglich relevanter kommunaler sozialräumlicher sowie kommunaler bildungspolitischer und bildungsrechtlicher Kontexturen gerichtet.   Gesellschaftheoretischer Ausgangspunkt bei der Bearbeitung der Fragestellung ist die Annahme, dass die Bundesrepublik Deutschland als funktional differenzierte Migrationsgesellschaft beschrieben werden kann, die sich dadurch auszeichnet, dass kein einheitliches Prinzip der Inklusion oder Exklusion im Erziehungssystem, in der Organisation Schule und im Interaktionssystem Unterricht vorherrscht (vgl. u.a. Luhmann 1987b, 2004b; Luhmann/Schorr 1988; Nassehi 1999b; Stichweh 2005; Emmerich/ Hormel 2011, 2013b, 2017). Entsprechend wird angenommen, dass sich kein eindeutiges Muster der Schlechterstellung neu migrierter Schüler:innen ausmachen lässt, sondern vor dem Hintergrund der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft vielmehr von einer Polykontexturalität sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem der Migrationsgesellschaft auszugehen ist (vgl. Nassehi und Saake 2002; Drepper 2003: 277f.; Emmerich und Hormel 2013a: 69; Jansen und Vogd 2013). Dieser theoretischen Perspektive folgend ist es möglich, neben der grundsätzlichen Beobachtung des Zugangs neu migrierter Schüler:innen in das Erziehungssystem auch einen Fokus auf Inklusionen/Exklusionen dieser Schüler:innen in der Organisation Schule und dem Interaktionssystem Unterricht zu richten. Denn nur innerhalb der Organisation Schule und der Unterrichtsinteraktion wird entschieden, welche Zertifikate (wie z.B. Abschlusszeugnisse) neu migrierte Kinder und Jugendliche erhalten, die wiederum stark variierende Möglichkeiten der Inklusion in weitere relevante gesellschaftliche Bereiche – wie dem Arbeitsmarkt – prädisponieren.   Auf das Desiderat fehlender empirischer Erkenntnisse hinsichtlich der Inklusion neu migrierter Schüler:innen in das Erziehungssystem der Migrationsgesellschaft (s. zusammenfassend dazu auch El-Mafaalani/Massumi 2019, sowie El-Mafaalani/Massumi/ Jording 2022) sowie der grundsätzlichen Frage, wie die Erzeugung und Persistenz von Bildungsungleichheit erklärt werden kann, reagiert das vorliegende Forschungsprojekt mit einer rekonstruktiv ausgerichteten dokumentarischen Forschung zu lokalen Schulsystemen in zwei Großstädten im Bundesland NRW. Die empirische Basis der komparativen Analyse stellen leitfadengestützte Interviews und Gruppendiskussionen mit Mitarbeiter:innen zweier kommunaler Schulverwaltungen sowie mit Schulleitungen und Lehrkräften an sechs Grundschulen (drei Schulen pro Kommune) dar. Mit der regionalen Vergleichsstudie von zwei Kommunen in einem Bundesland sollen vor dem Hintergrund gleicher landespolitischer Vorgaben ggf. auftauchende regionale oder kommunale Differenzen in der Beschulung neu migrierter Schüler:innen in den Blick rücken. Darüber hinaus werden Primarschulen untersucht, da an diesen Schulen bildungsbiografische Weichenstellungen (wie u.a. die Einleitung sonderpädagogischer Förderverfahren oder der Übergang zur niveau-

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differenzierten weiterführenden Schule) erfolgen, denen eine besondere Bedeutung hinsichtlich der Zuweisung von Bildungschancen zukommt (vgl. Gomolla/Radtke 2002: 89). Mit einer systemtheoretisch informierten dokumentarischen Methode werden in den Interviews deutlich werdende zentrale Bezugsprobleme und deren Lösungen in der Schulverwaltung und der Organisation Schule als »Bewältigung von Kontingenz« (Nassehi 2008: 99) beschreibbar. Mit dem Verweis auf »Kontingenz« (Luhmann/ Schorr 1988: 58ff., hier mit Bezug auf das Erziehungssystem) – also dem Hinweis, dass alles auch anders entschieden werden könnte6  – werden Annahmen simpler Ursache-Wirkungszusammenhänge auf Abstand gebracht. Der Fokus kann damit auf die Kontextbedingungen gerichtet werden, in denen bestimmte Verwaltungs- und Beschulungspraxen neu migrierter Schüler:innen als ›Problemlösungen‹ erscheinen (vgl. Vogd 2011: 115ff.). Gleichzeitig ist es mit einem solchen dokumentarischen Vorgehen möglich, ungleichheitsrelevante Klassifikationen induktiv zu analysieren, d.h. aus dem empirischen Material selbst heraus, ohne zuvor eine Festlegung auf spezifische Klassifikationen (wie z.B. ethnisierende oder sozio-ökonomische Zuschreibungen) vorzunehmen (vgl. Pfaff 2018: 69). Dem Prinzip der induktiven Erfassung von Klassifikationen folgend werden in dieser Arbeit das Konstrukt ›Seiteneinsteiger‹ und die (Entscheidungs-)Praxen, die an dieses Konstrukt anschließen, in den Blick genommen. Anmerkungen zur Sprache In dieser Arbeit wird der Begriff »neu migrierte Schüler:innen« gewählt, da einerseits die englische Entsprechung »new immigrant« auch in der internationalen Migrationsforschung Verbreitung findet (vgl. u.a. Alba 1996, sowie »The New Immigrant Survey« der Princeton University) und andererseits mit dem Ausdruck »neu migriert« erkennbar gemacht werden soll, dass die so bezeichneten Schüler:innen tatsächlich erst kürzlich selbst in die Bundesrepublik Deutschland migriert sind. Differenziert wird dabei nicht zwischen diversen Formen der (internationalen) Migration – d.h. es wird bspw. keine Unterscheidung zwischen Migration und Flucht vorgenommen.7 So ist es für das Forschungsinteresse unerheblich, warum Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter neu in das Erziehungssystem einmünden. Der Fokus dieser Arbeit liegt vielmehr auf der Frage, wie das Erziehungssystem grundsätzlich auf internationale Migration von Kindern und Jugendlichen reagiert, welche unterjährig neu in die Schule aufgenommen werden und vor ihrer Migration ggf. schon für einen gewissen Zeitraum außerhalb Deutschlands beschult worden sind.   Bei der Bezeichnung ›Seiteneinsteiger‹ handelt es sich um einen Begriff, der aktuell in der bundesdeutschen Bildungspolitik (vgl. u.a. MSJK NRW 2002; KI NRW 2015; MKJS

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Vogd führt mit Bezug auf Luhmann aus: »Kontingent ist etwas, was möglich ist, aber nicht notwendigerweise geschehen muss, mit dessen Wahrscheinlichkeit zu rechnen, dessen eintreten aber nicht notwendig ist.« (Vogd 2011: 108) Damit soll gleichzeitig jedoch nicht negiert werden, dass der aufenthaltsrechtliche Status von Kindern und Jugendlichen auch jenseits der ›Schulpflicht für alle‹ ggf. eine hohe Relevanz hinsichtlich der Form des Schulbesuchs zukommt (vgl. u.a. Funck/Karakaşoğlu/Vogel 2015; Massumi 2019).

1 Einleitung

BW 2016) wie auch seit Jahrzehnten in der Bildungspraxis und der sich damit auseinandersetzenden Wissenschaft (vgl. u.a. Liebe-Harkort 1981; Biermann-Berlin 1981; Sahin/Heyden 1982; Boos-Nünning 1986; Büllhoff/Vogt 1991) weite Verbreitung findet. So spricht Radtke bereits in den 1990er-Jahren davon, dass neu migrierte Schüler:innen als ›Seiteneinsteiger‹ verhandelt und zu einer bedenklichen »Ikone der Schulpolitik« (vgl. Radtke 1996: 49) wurden, indem mit dem Konstrukt ›Seiteneinsteiger‹ eine Verdichtung und Verdinglichung von ›Irritationen‹ erfolgte, die neu migrierte Schüler:innen in der Organisation Schule erzeugten (vgl. ebd.). Um weiterhin zu kennzeichnen, dass der Terminus ›Seiteneinsteiger‹ ein Konstrukt darstellt, mit dem bestimmte (neu) migrierte Schüler:innen als eine Gruppe konstruiert und von ›anderen‹ Schüler:innen abgegrenzt werden, wird die Bezeichnung in dieser Arbeit durchgängig mit einfachen Anführungszeichen verwendet. Gleichzeitig wird diese Klassifikation nicht gegendert, da dies in verquerer Weise zu einer Normalisierung und Ausdifferenzierung des Begriffs beitragen würde, die in dessen Konstruktion so nicht angelegt scheint. In gleicher Weise wird in der Arbeit mit den Begriffen ›Regelschüler‹ und ›Inklusionsschüler‹ verfahren. Auch hier soll durch einfache Anführungszeichen und dem bewussten Verzicht auf eine gendergerechte Ausdrucksweise auf den Konstruktionscharakter aufmerksam gemacht werden, mit dem ›Seiteneinsteiger‹ von ›Regelschülern‹ (bzw. ›Regelschüler‹ von ›Inklusionsschülern‹) unterschieden werden. Von diesen begründeten Ausnahmen abgesehen, wird in der vorliegenden Arbeit – wo immer möglich – eine genderneutrale Schreibweise gewählt. Wenn dies nicht zu realisieren ist, wird bspw. von Schüler:innen8 gesprochen. Gemeint sind damit alle Geschlechter – auch jenseits binärer Konstruktionen von ›Mann‹/›Frau‹. Ebenfalls wird eine Reihe weiterer Begriffe ausschließlich mit der Kennzeichnung durch einfache Anführungszeichen verwendet. Hierzu zählt u.a. die Bezeichnung Schüler:innen ›mit/ohne Migrationshintergrund‹ oder ›ausländische‹ Schüler:innen. Erkennbar gemacht werden soll auch hier der Konstruktionscharakter dieser Bezeichnungen. Gleichzeitig wird damit darauf verwiesen, dass es sich bei diesen Ausdrücken i.d.R. nicht um analytisch tragfähige oder spezifisch definierte Begrifflichkeiten handelt, sondern hier vielmehr diverse implizite Annahmen über die so konstruierten ›Gruppen‹ mitschwingen.9 Aufbau der Arbeit und ›Lesehilfe‹ Bevor der Aufbau der Forschungsarbeit dargelegt wird, wird zunächst noch ein Hinweis zum Lesen der Arbeit gegeben. Alle Kapitel folgen grundsätzlich dem gleichen

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Der Doppelpunkt wurde von der Autorin gewählt, da es sich hier um eine besonders barrierearme Schreibweise handelt, durch die Texte – wenn sie bspw. computergestützt vorgelesen werden – weiterhin gut verständlich bleiben (so wird bei computerbasierten Vorleseprogrammen der Doppelpunkt als kurze Pause gesprochen, während das Gendersternchen (*) oftmals als ›Sternchen‹ vorgelesen wird). Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Begriffen – auch hinsichtlich ihrer Persistenz – ist bereits von diversen Autor:innen ausführlich vorgenommen worden. An dieser Stelle kann auf die erkenntnisreichen Ausführungen von Massumi (2019: 43ff.), Stošić (2017), Horvath (2017), Utlu (2011), Castro Varela und Mecheril (2010) und Diehm und Radtke (1999: 115ff.) verwiesen werden, an die in dieser Arbeit angeschlossen wird.

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Prinzip, insofern, als die jeweils in den Kapiteln herausgearbeiteten wichtigsten Ergebnisse in einem abschließenden Unterkapitel zusammengeführt und hinsichtlich der Forschungsfragestellung diskutiert werden. Zusätzlich finden sich jeweils am Ende der empirischen Unterkapitel optisch abgesetzte fallübergreifende Zusammenführungen. Diese beiden Gliederungsformen sollen zum einen dazu dienen, es den Leser:innen zu erleichtern, der Argumentation der Arbeit zu folgen, zum anderen ermöglicht diese Strukturierung, dass die vorliegenden Kapitel der Arbeit in gewisser Weise ›für sich stehen‹ und an bestimmten Inhalten interessierte Leser:innen gezielt Kapitel auswählen und lesen können, ohne die gesamte Arbeit zu studieren. Gleichzeitig ist es so möglich, die Arbeit sozusagen ›von hinten‹ zu lesen: So kann, ausgehend von den zusammenführenden Betrachtungen, bei verstärktem Interesse an den durchgeführten Rekonstruktionen gezielt in die jeweiligen Analysen eingestiegen werden.   Die Arbeit gliedert sich wie folgt:   Teil 1 Kapitel zwei bis vier befassen sich mit theoretischen und methodisch-methodologischen Grundlagen der Forschungsarbeit.   Einführend (Kap. 2) wird die Forschungslage zur Bildungsbeteiligung neu migrierter Schüler:innen anhand statistischer Daten sowie aktueller qualitativer Forschungen zur Inklusion neu migrierter Schüler:innen in das Erziehungssystem der (›deutschen‹) Migrationsgesellschaft dargelegt (Kap. 2.1). Anschließend folgt eine metatheoretische Präzisierung der diese Arbeit leitenden gesellschaftstheoretischen Annahmen im Hinblick auf die Frage, wie die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem der Migrationsgesellschaft beobachtet und analysiert werden kann (Kap. 2.2). An diese grundlagentheoretische Verortung anknüpfend werden system- und organisationstheoretische Perspektiven auf Theorien der institutionellen Diskriminierung dargelegt (Kap. 2.3) und abschließend argumentiert, dass hinsichtlich des Forschungsfokus auf die Bildungsbeteiligung neu migrierter Schüler:innen dem Ansatz gefolgt wird, Ungleichheit als polykontexturales Phänomen zu erfassen (Kap. 2.4). In einem nächsten Schritt (Kap. 3) werden bildungspolitische Reaktionen auf (neue) Migration seit 1945 in Deutschland rekonstruiert (Kap. 3.1-3.3), und anschließend diskutiert, inwiefern historisch etablierte Beschulungsstrategien für neu migrierte Schüler:innen erkennbar werden, auf die im Zuge verstärkter Migrationsbewegungen nach Deutschland wieder ad hoc zurückgegriffen wird (Kap. 3.4). Auf die Präzisierung der theoretischen Grundannahmen aufbauend wird die Anlage der empirischen Studie zur Bildungssituation neu migrierter Schüler:innen erläutert (Kap. 4). Dazu erfolgt zunächst eine Auseinandersetzung mit methodisch-methodologischen Grundannahmen der dokumentarischen Methode und der dokumentarischen Organisationsforschung, um anschließend die dokumentarische Methode als funktionale Analyse auszuweisen und als forschungsleitende Methodik herauszustellen (Kap. 4.1). An die Klärung metatheoretischer und methodischer Grundlagen schließt eine Präzisierung der Forschungsfragestellung (Kap. 4.2), die Erläuterung des Sample der

1 Einleitung

Arbeit (Kap. 4.3) sowie die Darlegung der Datenerhebung und eine Reflexion des methodischen Vorgehens (Kap. 4.4) an.   Teil 2 In Kapitel fünf und sechs werden die Ergebnisse der mit der dokumentarischen Methode analysierten empirischen Daten aus Schulverwaltung und Schulpraxis vorgestellt.   Bei der Analyse der in den Schulverwaltungen durchgeführten Interviews wird der Fokus auf drei bildungsbiografisch relevante Entscheidungsstellen gerichtet, in die die untersuchten kommunalen Schulverwaltungen jeweils involviert sind: das kommunale Distributionsmanagement, d.h. die Zuweisung neu migrierter Schüler:innen auf unterschiedliche Schulen und Schulformen (Kap. 5.1); der Übergang neu migrierter Schüler:innen von der Vorbereitungsklasse/-gruppe in die Regelklasse (Kap. 5.2) sowie der Wechsel der Schüler:innen von der Grundschule in die niveaudifferenzierte Sekundarstufe (Kap. 5.3). Die Frage, wie der Status ›Seiteneinsteiger‹ von den Schulverwaltungen an den drei untersuchten Entscheidungsstellen jeweils interpretiert wird, und welche (ungleichheitsrelevanten) Entscheidungen an diese Interpretationen anknüpfen, wird abschließend diskutiert (Kap. 5.4). Die Analyse der an den Schulen durchgeführten Interviews zur Beschulung neu migrierter Schüler:innen stellt den Schwerpunkt der Arbeit dar (Kap. 6). Neben einem ersten Überblick über aktuelle bildungspolitische Erlasse zur Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ im Bundesland NRW (Kap. 6.1) erfolgt eine Skizzierung der formalen Organisationsprinzipien der Beschulung neu migrierter Schüler:innen an den untersuchten Grundschulen (Kap. 6.2). Daraufhin werden zunächst Differenzierungspraxen hinsichtlich des Konstrukts ›Seiteneinsteiger‹ rekonstruiert (Kap. 6.3) und die sichtbar werdenden Klassifikationen von neu migrierten Schüler:innen als ›Seiteneinsteiger‹ diskutiert (Kap. 6.3.2). Aufbauend auf die Erkenntnisse dieses Kapitels werden daraufhin die sich als bildungsbiografisch besonders relevant darstellenden Entscheidungsstellen in der Primarstufe in den Blick genommen: So erfolgt eine Rekonstruktion der Ausgestaltung der Unterrichtspraxis (Kap. 6.4), der Zuweisung neu migrierter Schüler:innen in die Regelklasse (Kap. 6.5), der Zuschreibung von sonderpädagogischen Förderbedarfen (Kap. 6.6) und des Wechsels von neu migrierten Schüler:innen von der Primar- in die Sekundarstufe (Kap. 6.7). Alle vier Unterkapitel folgen dabei der gleichen Struktur: Zunächst werden für den jeweiligen Gegenstandsbereich relevante bildungspolitische Vorgaben zusammengefasst, um daraufhin die Praxen an den sechs Grundschulen zu rekonstruieren und die Ergebnisse schließlich in Form von Zwischenfazits zusammenzuführen.   Teil 3 In Kapitel sieben und acht erfolgt eine Diskussion und Theoretisierung der rekonstruierten empirischen Erkenntnisse und eine Zusammenfassung der Ergebnisse.   Die empirischen Erkenntnisse werden hinsichtlich der Frage diskutiert, inwiefern sich – über den Einzelfall hinaus – ungleichheitsrelevante Muster der Beschulung neu migrierter Schüler:innen im Erziehungssystem der Migrationsgesellschaft ausmachen

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lassen. Zunächst werden ungleichheitsrelevante Muster hinsichtlich der rekonstruierten Wissens- und Deutungsressourcen der Beschulung neu migrierter Schüler:innen zusammengeführt (Kap. 7.1). Anschließend werden kommunale sozialräumliche, sowie kommunale bildungspolitische und bildungsrechtliche Kontexturen der Beschulung neu migrierter Schüler:innen fokussiert und auch hier auf dabei erkennbar werdende ungleichheitsrelevante Muster verwiesen (Kap. 7.2). Abgeschlossen wird die Arbeit (Kap. 8), indem plausibilisiert wird, dass von einer polykontextural gerahmten Diskriminierung neu migrierter Schüler:innen auszugehen ist, durch die die davon betroffenen Schüler:innen mit einer systematischen Schlechterstellung hinsichtlich ihrer Ermöglichung von Bildungsteilhabe konfrontiert werden.

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen: Ausgangslage und theoretische Verortung

Für die Konzeption des Forschungsvorhabens wie auch für die Analyse der empirischen Fälle ist es unabdingbar, einige theoretische Klärungen vorzunehmen. Deutlich unterschieden werden muss dabei zwischen metatheoretischen und gegenstandstheoretischen Annahmen. Während Letztere nur aus dem empirischen Material selbst gewonnen werden können, dient die Metatheorie in Form einer Beobachtung zweiter Ordnung dazu, zunächst festzulegen, wie beobachtet werden soll (vgl. Nassehi 2008: 102; Nohl 2016: 107ff.; Amling/Vogd 2017: 12; Bohnsack 2017: 14ff.). So kann nur mit der Konkretisierung gesellschaftstheoretischer Grundlagen »der Einsicht« Rechnung getragen werden, »dass jede Beobachtung und Untersuchung standortabhängig ist, also ein konzept- und voraussetzungsloses Beobachten nicht möglich ist.« (Amling/Vogd 2017: 12) Deutlich wird dies, bezogen auf das vorliegende Forschungsthema, durch folgende Erkenntnis: Während hinsichtlich der Feststellung von Bildungsungleichheiten in Deutschland in der sozialwissenschaftlichen Forschung wenig Dissens besteht, ist die Frage, wie diese ungleichen Bildungserfolge oder -misserfolge erklärt werden können, höchst umstritten. Die Forschungslage zur (Re-)Produktion von Bildungsungleichheit in der (deutschen) Migrationsgesellschaft stellt sich entsprechend als äußerst heterogen dar und dreht sich auch um die Frage, inwiefern von einer besonderen Bildungsbenachteiligung von ›ausländischen‹ Schüler:innen oder Schüler:innen mit sogenanntem ›Migrationshintergrund‹ gesprochen werden kann. Neben individual- und gruppenorientierten Theorien, die als Adressat:innenforschung charakterisiert werden können (Diehm/Kuhn/Machold 2017: 9)1 , können von diesem Theorieangebot deutlich abzugrenzende theoretische Perspektiven ausgemacht werden: Dabei wird Bildungsungleichheit in rassismuskritischen 1

Zu individual- und gruppenorientierten Erklärungsmodellen können Forschungsansätze gezählt werden, die Bildungsungleichheit mit Verweis auf ›Merkmale‹ von Kindern und Jugendlichen und ihren Familien erklären. In Form einer Adressat:innenforschung werden dabei Schüler:innen in den Blick genommen und Bildungsdisparitäten als eine Folge ungleicher Ressourcenausstattungen der Kinder und ihrer Eltern erklärt (siehe hierzu ausführlich Diehm/Kuhn/Machold 2017; Emmerich/Hormel 2017)

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Differenzierungstheorien als durch rassistisch (sowie durch weitere Ungleichheitsideologien) erzeugt gefasst, während systemtheoretisch geleitete Theorien zur Erzeugung von Bildungsungleichheit stärker die Funktion der Organisation Schule in den Blick nehmen. Entsprechend unterschiedlich erfolgen die empirischen Zugriffe und methodisch-methodologischen Zuschnitte von Forschungsarbeiten.   Zunächst wird die Forschungslage zur Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen skizziert (Kap. 2.1), um vor diesem Hintergrund eine grundlagentheoretische Verortung der vorliegenden Arbeit vorzunehmen (Kap.2.2). Von diesen Konkretisierungen ausgehend wird schließlich ein theoretischer Begriffsapparat entwickelt (Kap. 2.3), mit dem Bildungsungleichheit als ein polykontexturales Phänomen beschrieben werden kann (Kap. 2.4).

2.1

Forschungslage zur Bildungsbeteiligung neu migrierter Schüler:innen

Grundsätzlich sind Schüler:innen in der Bundesrepublik Deutschland mit großen Unterschieden hinsichtlich ihrer Möglichkeiten zur Realisierung von ›erfolgreichen Bildungsbiografien‹ in Form von u.a. höherqualifizierenden Bildungsabschlüssen konfrontiert. Diese Beobachtung wird durch diverse Arbeiten belegt, die insbesondere im Zuge der Ergebnisse der ersten internationalen Vergleichsstudie PISA im Jahr 2000 entstanden sind (vgl. u.a. Baumert/Schümer 2001; Stanat/Rauch/Segeritz 2010; Rauch et al. 2016). Auch wenn sich die statistische Erfassung der Bildungsbeteiligung neu migrierter Schüler:innen schwierig gestaltet, weisen aktuelle Studien darauf hin, dass diese Schüler:innen mit potenziell als diskriminierend zu bezeichnenden Bildungsmöglichkeiten konfrontiert sind. Gleichzeitig ist die Forschungslage zu neu migrierten Schüler:innen lückenhaft und es fehlen über weite Strecken empirisch fundierte Erkenntnisse (vgl. El-Mafaalani/Massumi 2019; El-Mafaalani/Massumi/Jording 2022).

2.1.1

Statistische Erkenntnisse zur Bildungsbeteiligung  neu migrierter Schüler:innen

Die statistische Analyse der Bildungsbeteiligung von nach Migrationserfahrung differenzierten Schüler:innenpopulationen stellt sich insbesondere mit Blick auf neu migrierte Schüler:innen als äußerst schwierig dar (vgl. u.a. Emmerich/Hormel/Kemper 2020a; El-Mafaalani/Massumi 2019; El-Mafaalani/Kemper 2017). Grundsätzlich lässt sich in den vorliegenden quantitativen Erfassungen der Bildungsbeteiligung von Schüler:innen jedoch besonders für bestimmte Schüler:innenpopulationen eine verstetigte Schlechterstellung im deutschen Bildungssystem beobachten. So sind u.a. Schüler:innen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, Schüler:innen mit sogenanntem ›Migrationshintergrund‹ und neu migrierte Schüler:innen in spezifischer Weise von einer Schlechterstellung betroffen. Eine Übersicht hinsichtlich möglicherweise bestehender Bildungsungleichheiten erfolgt an dieser Stelle mit einem exkursorischen Blick auf Erkenntnisse quantitativer Forschungsarbeiten, die für das vorliegende Forschungsprojekt als besonders relevant erachtet werden:

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen



Quantitative Daten zur Bildungsbeteiligung von geflüchteten Schüler:innen weisen darauf hin, dass diese im Vergleich zu Schüler:innen ›ohne Migrationshintergrund‹ an höherqualifizierenden Schulen deutlich unterrepräsentiert sind und auch gegenüber Schüler:innen ›mit Migrationshintergrund‹ schlechter abschneiden (de Paiva Lareiro 2019: 8).2 So hält de Paiva Lareiro fest: »Im Durchschnitt über alle Personen hinweg war die Wahrscheinlichkeit, dass geflüchtete Kinder und Jugendliche ein Gymnasium oder eine Realschule besuchen, 38 Prozentpunkte geringer als bei Schülerinnen und Schülern ohne Zuwanderungshintergrund.« (Ebd.: 10)



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Bestätigt werden diese Befunde von Henschel et al. (2019), die ebenfalls darauf hinweisen, dass Schüler:innen ›mit Fluchtbiografie‹ an Hauptschulen über- und an Realschulen und Gymnasien unterrepräsentiert sind (ebd.: 328) und von Kemper (2020), der dieses Ergebnis ebenfalls mit Blick auf das Land NRW konstatiert (ebd.: 101f.). Entsprechend ist die Wahrscheinlichkeit für Geflüchtete, die Schule mit einem Hauptschulabschluss zu verlassen, dreimal so hoch wie für nicht geflüchtete Schüler:innen (vgl. ebd.: 102). Gleichermaßen verweist die ReGES-Studie (von Maurice/Will 2021) darauf, dass geflüchtete Kinder und Jugendliche3 häufiger Hauptschulen als Realschulen oder Gymnasien besuchen (ebd.: 10) und ein Gymnasialbesuch wahrscheinlicher wird, wenn »ihre Eltern über ein höheres Bildungsniveau verfügen« (ebd.). Eine Reihe an Arbeiten weist darauf hin, dass ein negativer Zusammenhang zwischen dem Alter neu migrierter Schüler:innen und den möglichen Bildungsbeteiligungen besteht (vgl. u.a. Söhn 2011: 143f.; Kemper 2015: 251). So weist Kemper (2015) »sehr geringe[…] Anteile des Gymnasialbesuchs für die im Alter von mindestens 11 Jahren zugezogenen Schüler« (Kemper 2015: 252) nach. Kinder und Jugendliche, die

In der IAM-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten (de Paiva Lareiro 2019) werden diejenigen als Geflüchtete ausgemacht, die zwischen dem 01.01.2013 und dem 31.01.2016 in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben. Als Schüler:in ›mit Migrationshintergrund‹ wird eine Person erfasst, die »selbst oder mindestens ein Eltern- oder Großelternteil nicht in Deutschland geboren ist oder [die, J.J.] jemals ausschließlich eine andere als die deutsche Staatsbürgerschaft hatte.« (Ebd.: 3) Als Schüler:innen ›ohne Zuwanderungshintergrund‹ gelten alle anderen Schüler:innen, die keine dieser beiden ›Gruppen‹ zugeordnet werden können. Inwiefern eine solchermaßen vorgenommene Differenzierung zwischen ›geflüchteten‹ Schüler:innen und Schüler:innen ›mit Migrationshintergrund‹ – die nach de Paiva Lareiros oben genannter Definition unter Umständen ebenfalls eine eigene Fluchtbiografie aufweisen – sinnvoll und auf der Grundlage schulstatistischer Daten tatsächlich möglich ist, wäre genauer zu untersuchen. In der ReGES-Studie wurden geflüchtete Kinder und Jugendliche durch Daten von Einwohnermeldeämtern ermittelt. So wurden diejenigen Familien in die Studie aufgenommen, die »die sich nach dem Januar 2014 in den jeweiligen Einwohnermeldeämtern angemeldet hatten, aus Ländern mit hohen Schutzquoten kamen und ein Kind in den oben genannten Altersbereichen hatten.« (von Maurice/Will 2021: 3) Wie bei der IAM-BAMF-SOEP-Befragung (de Paiva Lareiro 2019) wäre für weiterführende Analysen und Aussagen zu reflektieren, welche Implikationen mit einer solchen Erfassung einhergehen.

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zu einem späten Zeitpunkt neu in das deutsche Bildungssystem einmünden, erzielen also mit erhöhter Wahrscheinlichkeit keinen höheren Bildungsabschluss. Verbleibedaten von neu migrierten Schüler:innen können Aufschluss darüber geben, ob diese Schüler:innen an den von ihnen zu Beginn ihrer Schullaufbahn in Deutschland besuchten Sekundarschulformen verbleiben, oder im weiteren Verlauf eine Auf- oder Abschulung vollzogen wird. Da bereits in einer Studie von Emmerich, Hormel und Jording (2017) herausgearbeitet werden konnte, dass es offen scheint, inwiefern die an bestimmte Sekundarschulformen zugewiesenen neu migrierten Schüler:innen nach Beendigung der meist zweijährigen Erstförderung weiterhin an den Schulen unterrichtet werden oder auf eine andere Schule/Schulform wechseln, sollte diesem Aspekt besondere Aufmerksamkeit zukommen (vgl. ebd.). Emmerich, Hormel und Kemper (2020a) haben den schulischen Verbleib oder Wechsel auf der Grundlage der wenigen verfügbaren statistischen Informationen für NRW in den Schulbesuchsjahren der Jahrgangsklassen fünf bis neun untersucht und stellen fest, dass der Anteil der neu migrierten Schüler:innen an Hauptschulen stark ansteigt, während der Anteil derjenigen neu migrierten Schüler:innen, die ein Gymnasium besuchen, deutlich zurückgeht: »Die Ergebnisse verdeutlichen am Beispiel von NRW, dass es in den untersuchten Jahren (bzw. im Zeitverlauf) nicht zu einem Rückgang des Hauptschulbesuchs gekommen ist und die dominante Bedeutung dieser Schulform für die Bildungsbiografien von ›Seiteneinsteigern‹ ungebrochen ist.« (Ebd.: 146)





Dies deutet also darauf hin, dass neu migrierte Schüler:innen nach Beendigung der zweijährigen Erstförderung eher ab- als aufgeschult werden (vgl. ebd.). Daten der IAM-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten (de Paiva Lareiro 2019) zeigen, dass im Vergleich zu Schüler:innen ohne ›Fluchthintergrund‹ doppelt so viele geflüchtete Schüler:innen im Alter von zehn bis vierzehn Jahren noch in der Primarschule beschult werden (vgl. ebd.: 6). Diese Erkenntnisse könnten darauf hinweisen, dass neu migrierte Schüler:innen verstärkt von Rückstufungen und Klassenwiederholungen betroffen sind. Gestützt werden diese Befunde durch die ReGES-Studie mit geflüchteten Jugendlichen ab 14 Jahren (von Maurice/Will 2021). So halten die Autor:innen hier fest, dass geflüchtete Schüler:innen mit einer deutlich erhöhten Wahrscheinlichkeit (gegenüber Schüler:innen mit und ohne Migrationshintergrund) eine ihrem Alter nicht entsprechende niedrige Klassenstufe besuchen (vgl. ebd.: 11). Mit Blick auf Schüler:innen aus Südosteuropa belegen die SOEP-Daten darüber hinaus eine deutliche Diskrepanz hinsichtlich ihrer Bildungsbeteiligung an weiterführenden Schulen im Vergleich zu Schüler:innen aus anderen Herkunftsregionen. So werden nur sehr wenige aus Osteuropa migrierte Schüler:innen an einem Gymnasium unterrichtet, wohingegen der Anteil an Hauptschulen, ebenso wie der Anteil an denjenigen Schüler:innen, die keine Schule besuchen, überproportional groß ist (vgl. ebd.: 8). El-Mafalaani und Kemper (2017) bestätigen in ihrer Studie diese Ergebnisse (vgl. ebd.: 184) und weisen außerdem darauf hin, dass Schüler:innen »aus

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen



der Balkanregion« (ebd.) gegenüber ›deutschen Schüler:innen‹ ein deutlich erhöhtes Risiko aufweisen, auf einer Förderschule beschult zu werden (vgl. ebd.). Verschiedene Autor:innen weisen auf die Manifestierung einer strukturierten Bildungsungleichheit in Form von regionalen Varianzen hin: Hinsichtlich der Bildungsteilhabe migrierter/geflüchteter Schüler:innen4 führen El-Mafaalani und Kemper (2017) aus, dass »die Befunde derart systematische regionale Unterschiede [zeigen], dass davon ausgegangen werden kann, dass regionale Faktoren entweder als eigenständige Ursache oder zumindest als weiteres Erklärungsangebot für Bildungsungleichheit gelten können.« (Ebd.: 175) Außerdem halten die beiden Autor:innen fest, dass die Bildungsbeteiligungsmöglichkeit für ›nichtdeutsche‹ Schüler:innen »in den Regionen tendenziell dort besser ist, wo ihr Anteil an allen Schülerinnen und Schülern hoch ist – und umgekehrt.« (Ebd.: 203) Diese Erkenntnisse werden von Kemper (2020) nochmals bestätigt. Der Autor verweist hinsichtlich regionaler Varianzen zwischen unterschiedlichen Kreisen und kreisfreien Städten in NRW auf ein Beispiel: »So gibt es Kreise und kreisfreie Städte, in denen Geflüchtete anteilig weniger als 1,5mal so oft maximal die Schulform Hauptschule wie Nichtgeflüchtete besuchen, diesen stehen verschiedene weitere Kreise und kreisfreie Städte gegenüber, in denen Geflüchtete anteilig mindestens viermal so oft wie Nichtgeflüchtete maximal die Schulform Hauptschule besuchen.« (Ebd.: 102) Die lokal etablierten Schullandschaften scheinen dabei für die Wahrscheinlichkeit, dass Schüler:innen nach der Beendigung der Primarschule bestimmte Sekundarschulformen besuchen, eine relevante Rolle zu spielen: Verschiedene Autor:innen weisen darauf hin, dass es grundsätzlich von den lokal vorhandenen Schulplatzangeboten abhängt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit bspw. für einen Hauptschuloder Gymnasialbesuch ist (vgl. u.a. El-Mafaalani/Kemper 2017; Emmerich/Hormel/ Kemper 2020a; s. hierzu auch: Radtke/Stošić 2009; Stošić 2015).5

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El-Mafalaani und Kemper (2017) unterscheiden ebenso wie u.a. de Paiva Lareiro (2019) zwischen geflüchteten und nicht geflüchteten Schüler:innen. Die Differenzierung wird dabei auf der Grundlage von Daten zur Staatsangehörigkeit vollzogen, wobei angenommen wird, dass Schüler:innen, die (u.a. zu spezifischen Zeitpunkten) aus bestimmten Herkunftsstaaten (z.B. nach 2011 aus Syrien) nach Deutschland migriert sind, als Geflüchtete klassifiziert werden können (vgl. El-Mafalaani/ Kemper 2017: 178f.). Auch hinsichtlich dieser Unterscheidung, die darüber hinaus nicht durchgängig plausibilisiert und beibehalten wird (s.u.a. ebd.: 208ff.), stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage eine Klassifizierung als ›Geflüchtete:r‹ vollzogen werden kann und wie sinnvoll die Unterscheidung zwischen neu migrierten oder geflüchteten Schüler:innen ist – insbesondere dann, wenn die Bedeutung des rechtlichen Aufenthaltsstatus nicht weiter verfolgt wird bzw. werden kann. Bereits in den 1990er Jahren wurde von Hopf (1994) herausgearbeitet, dass »zu beobachten [sei], daß die Sonderschulquote der Ausländer […] bis 1985 kontinuierlich ansteigt (auf 5,9 Prozent) und seither ganz geringfügig zurückgeht (auf 5,8 Prozent). Lag die Sonderschulquote der Ausländer

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Mit einem spezifischen Fokus auf neu migrierte Schüler:innen, fallen, so halten Emmerich et al. mit Blick auf NRW fest, »die Hauptschulbesuchsanteile in Kreisen mit überdurchschnittlich vielen Hauptschulen höher aus als in Kreisen mit wenigen oder keinen Hauptschulen« (Emmerich/Hormel/Kemper 2020a: 143). Regional deutlich divergierende Schulbesuchsquoten führen die Autor:innen darauf zurück, dass die Allokationen neu migrierter Schüler:innen auf kommunal jeweils unterschiedlich gelagerten regionalen Schulstrukturen und -platzangeboten beruhen (vgl. ebd.: 134f.). Abschließend lässt sich mit Blick auf die hier schlaglichtartig zusammengestellten Befunde zur statistischen Erfassung der Bildungsbeteiligung neu migrierter Schüler:innen festhalten, dass mit den statistischen Beschreibungen i.d.R. keine Erklärungen einhergehen, wie die differenten Werte zustande kommen. Insbesondere die stark ausgeprägten regionalen Unterschiede in der Bildungsbeteiligung deuten aber darauf hin, dass weniger die ›Eigenschaften‹ der Schüler:innen selbst, als vielmehr lokale Schulplatzangebote oder kommunale Allokationsverfahren neu migrierter Schüler:innen auf (Sekundar-)Schulen genauer in den Blick genommen werden müssten.6 So schließen Emmerich, Hormel und Kemper:

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bis 1977 noch unter der der deutschen, so liegt sie seither in deutlichem Abstand darüber und beträgt inzwischen fast das Doppelte.« (Ebd.: 375) Als besonders auffällige Erkenntnis weist Hopf aus, dass sich »[h]inter den Durchschnittszahlen für das Bundesgebiet […] erhebliche regionale Unterschiede [verbergen] […]. So waren beispielsweise im Schuljahr 1991/92 insgesamt 17,5 Prozent aller Sonderschüler Ausländer (bei einem Ausländeranteil von 11,2 Prozent unter allen Schülern), doch bewegten sich die Extremwerte zwischen 22,4 Prozent (Hessen; Ausländeranteil insgesamt 14,2 Prozent) oder 26,8 Prozent (Baden-Württemberg; Ausländeranteil insgesamt 14,3 Prozent) einerseits und 16,1 Prozent (Bremen; Ausländeranteil insgesamt 14,2 Prozent) oder 11,6 Prozent (Berlin; Ausländeranteil insgesamt 12,6 Prozent) andererseits, wobei die Angehörigen verschiedener Nationen sehr unterschiedliche Anteile stellen.« (Ebd.) Bestärkt werden diese Befunde durch Arbeiten, die belegen, dass sich grundsätzlich hinsichtlich der Bildungsbeteiligung von Schüler:innen nicht nur deutliche Varianzen auf der Ebene der Bundesländer ergeben, sondern auch regionale Unterschiede in den jeweiligen Bundesländern auszumachen sind (vgl. Bertelsmann-Stiftung et al. 2014: 35ff.). Powell und Wagner (2014) legen empirische Daten zur Überrepräsentanz von Kindern ohne deutsche Staatsangehörigkeit an Sonderschulen vor und belegen mit ihrer bundesweiten Statistik, dass diese regional stark variieren (vgl. ebd.: 190f.). So ist der »Relative-Risiko-Index« (ebd.: 178), der hier die Wahrscheinlichkeit der Überweisung von ausländischen Kindern auf eine Sonderschule angibt, in Baden-Württemberg mit 2,08 im Vergleich mit Brandenburg mit 0,32 um mehr als das sechsfache erhöht (vgl. ebd.: 191). Ebenso machen Kemper und Weishaupt (2015) regional unterschiedliche »Gelegenheitsstrukturen« (ebd.: 253) für die Teilhabe an Bildungsangeboten aus, welche die »Bildungsbenachteiligungen durch die in den Wohngebieten aufgefundenen schulischen Milieus über Mechanismen institutioneller Diskriminierung« (ebd.) verfestigen. Auch Bogumil et al. (2012) stellen fest, dass es mit Blick auf die soziale Segregation in den Ruhrgebietsstädten ausreiche, die Adresse einer Grundschule zu kennen, um vorhersagen zu können, ob ein:e Schüler:in eher einen Abschluss auf einer höher- oder einer niedriger qualifizierenden weiterführenden Schule erreichen wird. Entsprechend folgern sie, dass das »gegliederte[…] Sekundarschulsystem […] nicht nur sozial, sondern auch sozialräumlich hochgradig selektiv [ist].« (Ebd.: 73)

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen

»Würde es sich in diesem Fall um ›Migrationseffekte‹ handeln, müsste angenommen werden, dass Familien ›leistungsschwacher‹ ›Seiteneinsteiger‹ zufällig selektiv bestimmte Kommunen präferieren, um dort nach der Grundschule oder direkt bei Erstbeschulung in der Sekundarstufe einer Hauptschule gegenüber anderen Alternativen den Vorzug zu geben.« (Ebd.: 148) Entsprechend scheint die genauere Untersuchung, wie differente Bildungsbeteiligungsmöglichkeiten neu migrierter Schüler:innen lokal hergestellt werden, von besonderem Interesse, insbesondere, da empirische Daten hierzu bisher kaum vorliegen.

2.1.2

Neu migrierte Schüler:innen in der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Forschung

Erste Arbeiten in Bezug auf neu migrierte Schüler:innen lassen sich in Deutschland ab den 1980er-Jahren in den Sozialwissenschaften ausmachen. Dabei wird deutlich, dass der Begriff ›Seiteneinsteiger‹ zunächst synonym mit »Gastarbeiterkindern« (Birkenfeld 1982) genutzt wird, während ab den 1990er-Jahren auch (Bürger-)Kriegsgeflüchtete aus dem ehemaligen Jugoslawien und die sogenannten ›Spätaussiedler‹ dazu zählen (vgl. Büllhoff/Vogt 1991: 24). Neben Fragen, um wen es sich bei den neu migrierten Schüler:innen handele und wer als ›Seiteneinsteiger‹ definiert werden könne, war die wissenschaftliche Auseinandersetzung von empirischen Berichten von Lehrkräften sowie normativen Diskursen in Bezug auf Ziele und Anforderungen an den ›Seiteneinsteigerunterricht‹ geprägt (vgl. u.a. Biermann-Berlin 1981; Sahin/Heyden 1982; Boos-Nünning 1986; Büllhoff/Vogt 1991; Schöllchen 1995, 1996; Hilgers/Krause 1995). Von diesen deskriptiven wie auch normativen Ansätzen setzen sich lediglich wenige Arbeiten u.a. von Hopf (1994), Haller (1983) und Liebe-Harkort (1981) ab, die sich u.a. mit den Folgen der schulorganisatorischen Praxis befassen. So prognostiziert bspw. Liebe-Harkort hinsichtlich der Organisationsmaßnahmen in Bezug auf ausländische Schüler:innen zu Beginn der 1980er-Jahre, dass die Bildungspraxis zu einer Segregation von oben nach unten führen könnte (vgl. Liebe-Harkort 1981: 6). Die aktuellere wissenschaftliche Forschungslage zu neu migrierten Schüler:innen ist insgesamt als eher defizitär zu bezeichnen (vgl. hierzu auch: El-Mafaalani/Jording/ Massumi 2022). Seit einigen Jahren werden in diesem Bereich jedoch verstärkte Bemühungen sichtbar.7 So erfährt das Thema neu migrierter Schüler:innen im Bildungssystem – losgelöst von der Betrachtung bestimmter ›Migrationsgruppen‹8  – mit der vermehrten Migration und Flucht nach Deutschland seit 2010 eine verstärkte wissenschaftliche Beachtung. Dabei lassen sich fünf thematische Schwerpunktsetzungen ausmachen:

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Bspw. auch durch die Einrichtung eines Forschungsnetzwerkes ›Fluchtforschung‹ und der Etablierung einer spezifischen Zeitschriftenreihe (Z’Flucht). Bspw. finden sich im begrenzten Umfang Studien u.a. zur Bildungssituation von ›Spätaussiedlern‹ (vgl. u.a. Fuchs/Sixt 2008; Große 2015) oder zur Bildungssituation von ›Sinti und Roma‹ (vgl. u.a. Strauß 2011; Hornberg/Brüggemann 2013; Trauschein 2014; Cudak 2016).

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

1.

Überblicksstudien zu rechtlichen Rahmenbedingungen sowie zur allgemeinen schulischen Versorgung von neu migrierten Schüler:innen Überblickswerke zu Schulpflicht und Schulrecht sowie daran anknüpfend zur schulischen Versorgung von neu nach Deutschland migrierten Kindern und Jugendlichen stellen ein relativ großes Themenfeld dar. Einen sehr detaillierten Überblick zur Rechtslage und den damit zusammenhängenden Bildungschancen von neu Migrierten bieten Gogolin et al. (2001), Harmening (2005), Kunz (2008), Söhn (2011) und Weiser (2013). Einen beispielhaften Blick auf die schulischen Bedingungen, mit denen geflüchtete Kinder und Jugendliche konfrontiert werden, findet sich auch bei Neumann et al. (2003) anhand der Darstellung von Bildungsbiografien ›afrikanischer Jugendlicher‹ in Hamburg, sowie Holling (2007), die sich mit der schulischen Situation nicht alphabetisierter ›Seiteneinsteiger‹ in einer Stadt in Niedersachsen befasst. In aktuellen Publikationen in diesem Themenkomplex werden von Massumi et al. (2015) sowie von Dewitz, Massumi und Grießbach (2016) formalrechtliche Regelungen sowie fünf schulorganisatorische Modelle der schulischen Versorgung von ›Seiteneinsteigern‹ in Deutschland skizziert und Handlungsempfehlungen an die Bildungspolitik und Bildungspraxis formuliert. Otto et al. (2016) zeigen auf, dass die von ihnen befragten Gymnasien sehr unterschiedliche Konzepte zum Unterrichten neu migrierter Schüler:innen entwickelt haben, die »in Abhängigkeit zu den Voraussetzungen der Schulen verschieden ausgestaltet werden.« (Ebd.: 45) In einer explorativen Interviewstudie mit Lehrkräften an Kölner Schulen zeichnen Terhart und von Dewitz (2018) nach, dass Lehrkräfte sich zwar Wertschätzend gegenüber einer von ihnen wahrgenommenen Heterogenität der neu migrierten Schüler:innenschaft zeigen, diese (bspw. sprachliche Heterogenität) jedoch nicht in die Gestaltung der Unterrichts eingebunden wird (vgl. ebd.: 283ff.). Der SVRForschungsbericht (2018) zur Bildungssituation von geflüchteten Schüler:innen an segregierten Schulen stellt heraus, dass viele geflüchtete Kinder und Jugendliche an diesen Schulen nicht hinreichend unterstützt werden (können). Vogel und Stock (2017) geben einen Überblick über rechtliche Rahmenbedingungen der schulischen Aufnahme von Geflüchteten in Deutschland und Alexandropoulou, Leucht und Salimovska (2016) befassen sich in einer Pilotstudie mit dem Recht auf Bildung für Geflüchtete in einer zentralen ›Aufnahme- und Rückführeinrichtung‹ in Bayern. Die genannten Arbeiten sind insgesamt eher deskriptiv ausgerichtet und beinhalten i.d.R. Handlungsempfehlungen an die Politik ebenso wie an die Bildungspraxis. Sie können als Grundlage für weitere Recherchen dienen, sie erlauben jedoch nur begrenzt Einblick in konkrete bildungspolitische Strukturen oder bildungspraktische Prozesse und ihrer Genese in einzelnen Kommunen. 2.

Praxisorientierte didaktische Literatur zu Zielen, Anforderungen, Standards und Desideraten im Unterrichten von neu migrierten Schüler:innen Den größten Anteil an wissenschaftlichen Forschungen zum Themenfeld neu migrierter Schüler:innen machen Arbeiten aus, die didaktische Überlegungen zur Vermittlung von ›Deutsch als Zweitsprache‹ (DaZ) sowie allgemeine didaktische Zielsetzungen in Bezug auf Mehrsprachigkeit vor dem Hintergrund der Problematisierung des »monolingualen Habitus« (Gogolin 2008) des deutschen Schulsystems in den Mittelpunkt stellen

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen

(vgl. u.a. Ahrenholz/Maak 2013; Kalkavan-Aydın 2015). Beispielhaft kann die Veröffentlichung von Benholz, Frank und Niederhaus (2016) genannt werden, in der Praxisberichte von Lehrkräften ebenso wie methodisch-didaktische Unterrichtsbeispiele und Hinweise zur Ausbildung von Lehrkräften im Mittelpunkt stehen oder die Arbeit von Fürstenau und Niedrig (2018), in der sich die Autor:innen mit der »Etablierung mehrsprachiger Handlungsroutine« (ebd.: 228) in Vorbereitungsklassen für neu migrierte Schüler:innen befassen und Implikationen für die Praxis ableiten. Die Entwicklung von Lehrwerken zum Thema ›Deutsch als Zweitsprache‹ bildet einen wichtigen Forschungsschwerpunkt, innerhalb dessen – in Reaktion auf den verstärkten Zuzug von schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen ohne Deutschkenntnisse – eine ganze Reihe an Publikationen erschienen sind (vgl. u.a. für das Jahr 2016: Gubanova-Müller/Tommaddi 2016; Huber 2016; Terrasi-Haufe/Gietl 2016; Thormann 2016). Die hier genannten Arbeiten sind darauf ausgerichtet, Ziele, Anforderungen und Standards sowie Praxisanleitungen für den DaZ-Unterricht mit ›Seiteneinsteigern‹ zu formulieren. 3.

Analysen zu individuellen schulischen Voraussetzungen neu migrierter Schüler:innen und ihrer Familien Ein etwas anderer Schwerpunkt bezüglich des Unterrichts von neu migrierten Schüler:innen wird in den Arbeiten von Bär (2016), Karakaşoğlu und Vogel (2015) oder Lanfranchi (2006) gesetzt. Im Fokus steht hierbei die Frage, wie auf etwaige Traumatisierungen von Geflüchteten in der Schule adäquat reagiert werden kann. Die genannten Arbeiten thematisieren entsprechend die im Hinblick auf Geflüchtete in Rechnung zu stellenden spezifischen Anforderungen für die unterrichtliche Praxis in der Migrationsgesellschaft. Sie bieten aber – ebenso wie die genannten Forschungsarbeiten aus dem DaZ-Bereich – nur begrenzt Anknüpfungspunkte für eine empirisch wie auch theoretisch fundierte Auseinandersetzung mit der sozialwissenschaftlich relevanten Frage nach den Folgen des bildungsinstitutionellen Umgangs mit Flucht und ›neuer‹ Migration. 4.

Analysen zur Erzeugung von Bildungsungleichheit durch machtvolle rassistische Zugehörigkeitsordnungen Im Fokus dieser praxistheoretischen Forschungslinie steht eine kritische Auseinandersetzung mit machtvollen Zugehörigkeitsordnungen in der Schulpraxis und den daran anschließenden Folgen für die Bildungsteilhabe (neu) migrierter Schüler:innen. Forschungsarbeiten, die sich spezifisch mit dem Phänomen Rassismus befassen, finden seit einigen Jahren stärkere Beachtung. Rassismus wird dabei nicht individualund gruppenpsychologisch gedeutet, sondern als gesamtgesellschaftlich fundierte Ungleichheitsideologie gefasst. Rassismus wird entsprechend als machtvolle, tief in der Gesellschaft verankerte Ideologie verhandelt (vgl. Miles 1992; Hall 2000; Miles/ Brown 2003), es wird die zunehmende Bedeutung eines Neo-Rassismus diskutiert (vgl. Balibar 1998) und es werden Diskurse des Orientalismus (vgl. Said 1979) und des Otherings (vgl. Spivak 1985) analysiert. Rassismustheoretisch fundierte Arbeiten befassen sich hinsichtlich des deutschen Bildungssystems mit (in der Schule erlebten) Rassismuserfahrungen von Kindern und Jugendlichen (vgl. u.a. Terkessidis 2004, 2010;

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Scharathow 2014, 2016; Karabulut 2020) und von Lehrkräften (vgl. u.a. Fereidooni 2016; Doğmuş 2016; Fereidooni/El 2017a) sowie mit rassistischen Orientierungs- und Handlungsmustern von Lehrkräften (vgl. u.a. Dirim/Mecheril 2010; Rose 2012, 2016; Mecheril et al. 2016; Karabulut/Pfaff 2020; Steinbach/Shure/Mecheril 2020) oder von Mitarbeiter:innen kommunaler Behörden (vgl. u.a. Bukow 2016; Cudak 2016; Kollender 2016; Bukow/Cudak 2017) und den Folgen der durch diese Orientierungen geprägten Praxen für die Produktion von Bildungsungleichheit. Mit einem spezifischen Fokus auf neu migrierte Schüler:innen betrachten Mecheril und Shure (2015) die »Unterscheidungspraxis ›Seiteneinsteiger‹« (ebd.), indem sie Differenz- und Zugehörigkeitsordnungen in den Blick nehmen. Dabei stellen sie fest, dass die »Beschreibungspraxis ›Seiteneinsteiger‹ […] als Praxis verstanden werden [kann], die von dem nicht-zugehörigen Status der Träger bestimmter Bildungsbiografien im Hinblick auf natio-ethno-kulturelle Mitgliedschaft, Wirksamkeit und Verbundenheit lebt« (ebd.: 118, Herv. im Original). Diese Perspektive nimmt auch Khakpour (2016) ein und betrachtet dabei »Zugehörigkeitskonstruktionen im Kontext von Schulbesuch und Seiteneinstieg« (ebd.: 151, Herv. im Original). Dabei stellt sie heraus, dass die derzeitige Organisation von Unterricht und Schulpraxis dazu beiträgt, »Zugehörigkeitserfahrungen« (ebd.: 168) von ›Seiteneinsteigern‹ so zu strukturieren, dass diese auf ein »natio-ethno-kulturelles Anderssein« (ebd.: 167) verwiesen werden, welches sie letztlich in ihr »(Selbst-)Sein« (ebd.) übernehmen. Auch Cudak (2016) zeigt, dass die schulische Bildungspraxis in Bezug auf ›Migration aus Südosteuropa‹ stark von negativen Zuschreibungen und Klassifizierungen und daran anschließenden Separierungen der zu dieser ›Gruppe‹ zugerechneten Schüler:innen geprägt ist. Ebenso befassen sich Karakayali et al. (2017, 2020) mit der aktuellen Einrichtung von separaten Vorbereitungsklassen für neu migrierte Schüler:innen in Berlin und untersuchen, »wie Othering im Kontext der Vorbereitungsklassen für neuzugewanderte Schüler:innen auf doppelter Ebene hergestellt wird: zum einen durch Fremdheitszuschreibungen der Lehrkräfte und Schulleitungen, zum anderen durch die institutionelle Besonderung durch separaten Unterricht.« (Karakayali et al. 2020: 110) Angenommen wird in dieser Forschungsperspektive, dass die Schule durch machtvolle (rassistische) Zugehörigkeitsordnungen geprägt ist, und neu migrierte Schüler:innen durch die Klassifizierungen als ›Seiteneinsteiger‹ und den damit verbundenen Zuschreibungen anders als ›Regelschüler‹ behandelt und unterrichtet werden – mit gravierenden Auswirkungen hinsichtlich ihrer Bildungschancen.   In einem etwas anderen Zugriff untersuchen Karabulut und Pfaff, wie Lehrkräfte an Schulen innerhalb segregierter Quartiersstrukturen9 auf »rassismusrelevante Wissensbestände« (Karabulut/Pfaff 2020: 88) zurückgreifen und wie sich dieser Zugriff 9

Siehe zur Forschung in Schulen in segregierten Stadtstrukturen auch Fölker, Hertel und Pfaff (2015a, 2016).

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen

»in schulische Selektionsprozesse übersetzt.« (Ebd.) Anhand der dokumentarischen Analyse von Lehrkräfteinterviews arbeiten die Autor:innen heraus, dass Lehrer:innen hinsichtlich der von ihnen unterrichteten Schüler:innen auf rassismusrelevante Orientierungsschemata rekurrieren, mit denen die so adressierten Schüler:innen als ›Probleme‹ ausgemacht werden, welche dann wiederum institutionell durch »Exklusion, Separierung oder Pathologisierung« (ebd.: 100) bearbeitet werden. Bezüglich des dabei deutlich werdenden Zusammenwirkens rassistischen Wissens und schulischer Selektionsoptionen lässt sich jedoch feststellen, so Karabulut und Pfaff mit Bezug auf segregierte Quartiersstrukturen, dass dieses »keine Spezifik von segregierten Schulen ist, an denen sozioökonomische Deprivation und ein hoher Anteil von Kindern, die als solche ›mit Migrationshintergrund‹ adressiert werden, zusammentreffen. Vielmehr sind die Institution Schule sowie die Lehrer*innenprofessionalität in der Migrationsgesellschaft in gesamtgesellschaftliche rassismusrelevante Machtverhältnisse eingebettet.« (Ebd.) Karabulut und Pfaff rücken nicht Subjektivierungserfahrungen von Schüler:innen in der Schule in den Mittelpunkt. Vielmehr analysieren sie auf der Grundlage von Lehrkräfteinterviews rassistische Wissensbestände, die aufgrund der an diese Zuschreibungen anknüpfenden institutionellen Exklusionsoptionen in der Schule als diskriminierungsrelevant ausgemacht werden können.   Cudak (2016) verfolgt in ihrer ethnografischen Arbeit ebenso wie Karabulut und Pfaff eine sozialräumliche Perspektive, fragt dabei aber nicht nur danach, wie es innerhalb von Schulen zu einer Erzeugung und Sichtbarmachung von ›Migrant:innen‹ kommt, sondern auch, welche Rolle Kommunen dabei einnehmen (vgl. ebd.: 14). Spezifisch befasst sich Cudak dabei mit der »Sichtbarmachung der ›Einwanderung aus Südosteuropa‹« (ebd.). Auch hier stellen Arbeiten von Autor:innen der Cultural Studies, wie u.a. Hall, den theoretischen Bezugspunkt dar (vgl. Cudak 2016: 26f.). Forschungsgegenstand sind insbesondere sogenannte ›Auffangklassen‹ für neu migrierte Schüler:innen, welche von Cudak als »Form der separierenden Beschulung mit desintegrierender Wirkung« (ebd.: 145) bezeichnet werden. Gleichzeitig rekonstruiert Cudak, dass auch in den regionalen Medien und der Stadtverwaltung Problembeschreibungen ›der Migration aus Osteuropa‹ angefertigt werden. Lokal habe sich in den untersuchten Städten damit »ein ›günstiges‹ Klima für einen Rassismus ausgebreitet, der sich besonders heftig gegenüber Einwanderern äußert, die als ›Roma/Zigeuner‹ identifiziert werden.« (Ebd.: 211) Gleichfalls wird von Cudak die Existenz eines »bildungskulturelle[n] Klima[s] […] [deutlich], das den schulischen Erfolg vieler Newcomer*innen – insbesondere derjenigen, die sich in erschwerten Lebenslagen befinden – unwahrscheinlicher werden lässt. Dass derartige [rassistische, J.J.] Aussagen öffentlich – in einem Lehrerzimmer einer Grundschule – sagbar sind, zeigt an, wie verbreitet Rassismus in der Institution Schule ist und dass rassistische Artikulationen offenbar als ›legitim‹ erscheinen« (ebd.: 258). Cudak arbeitet diverse Formen der (u.a. lokalräumlichen) Erzeugung einer durch rassistische/antiziganistische Diskurse als problematisch entworfenen ›Migration

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

aus Osteuropa‹ heraus10 , welche innerhalb des Bildungssystems reproduziert werden (vgl. ebd.: 489) und interpretiert die sich an diese Konstruktion anknüpfenden Exklusionsoptionen. Dabei ist die Forschung Cudaks von subjekttheoretischen Arbeiten abzugrenzen und zeigt Überschneidungen zu systemtheoretisch informierten Arbeiten. 5.

Analysen zur Erzeugung von Ungleichheit durch systemund organisationsspezifische Prozesse Arbeiten von Bommes und Radtke (1993), Radtke (1996), Diehm und Radtke (1999) und Gomolla und Radtke (2002) begründen in den 1990er-Jahren eine Forschungslinie hinsichtlich der Bildungsbeteiligung (neu) migrierter Schüler:innen, die systemtheoretisch und organisationssoziologisch ausgerichtet ist. So schlagen Bommes und Radtke (1993) vor, die »Ansätze einer Theorie der Diskriminierung mit allgemeinen Theorien der Organisation« (ebd.: 491) zu verbinden, um so einen Erklärungsansatz zu entwickeln, der es erlaubt, Diskriminierungen als »regelmäßige Handlungsoption der Organisation Schule« (ebd.: 483) zu fassen. Diese Theorie der institutionellen Diskriminierung wird von Radtke, Diehm und Gomolla in Bezug auf neu migrierte Schüler:innen weiter vertieft. Durch eine systemtheoretisch angelegte Analyse der organisationsspezifischen Reaktionen und Eigenrationalitäten des Erziehungssystems weisen Gomolla und Radtke (2002) in einer empirischen Studie in der Stadt Bielefeld Formen der institutionellen Diskriminierung von Kindern mit ›Migrationshintergrund‹ sowie neu migrierter Schüler:innen nach. Aktuelle Arbeiten zu neu migrierten Schüler:innen, die dieser theoretischen Perspektive folgen, sind bisher nur vereinzelt zu finden. Korntheuer (2016) untersucht in einem internationalen Vergleich zwischen Kanada (Toronto) und Deutschland (München) die Bildungsteilhabe von geflüchteten Jugendlichen zwischen 14 und 24 Jahren (vgl. Korntheuer 2016: 21). Die empirische Grundlage bilden einerseits Expert:inneninterviews mit Akteur:innen, die in die schulische Beratung und Verwaltung geflüchteter Schüler:innen involviert sind, und andererseits responsive Interviews mit geflüchteten Jugendlichen (vgl. ebd.: 167). Dabei interessiert sich Korntheuer insbesondere für strukturelle Bedingungen im Zugang zu formaler und informeller Bildung sowie soziale und personelle Ressourcen und Barrieren für eine Bildungsteilhabe (vgl. ebd.). Theoretischer Ausgangspunkt ist die Annahme einer funktional differenzierten Gesellschaft nach Luhmann, und – daran anknüpfend – u.a. die Arbeit von Gomolla und Radtke (2002) zur Institutionellen Diskriminierung (vgl. ebd.: 38ff.). Die Autorin arbeitet heraus, dass sich geflüchtete Jugendliche durch »gruppenspezifische[…] biografische[…] Faktoren« (ebd.: 393) als besondere Schüler:innengruppe darstellen, die mit »strukturelle[n] und institutionelle[n] Barrieren und Diskriminierung« (ebd.) konfrontiert wird. Dabei wirken sich letztere, so der Befund, entscheidend auf die Bildungsaspirationen der Jugendlichen aus (vgl. ebd.: 361ff.). Im Vergleich zwischen München und Toronto zeigt sich darüber hinaus, dass neben strukturellen und individuell biographischen Faktoren ebenfalls »gesellschaftsspezifische Integrationsphilosophien« (ebd.: 370) in Form von Multikulturalismus- und Assimilationtheo-

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Siehe hierzu auch Bukow und Cudak (2017); Bukow (2010, 2016).

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen

rien eine relevante Rolle hinsichtlich der Ermöglichung oder Verunmöglichung einer gelungenen Bildungsteilhabe zukommt (vgl. ebd.: 378ff.). Massumi (2019) befasst sich in ihrer empirischen Arbeit zur »Migration im Schulalter« mit bildungsbiographischen Folgen der Beschulung neu migrierter Jugendlicher. Dabei verknüpft die Autorin systemtheoretische Perspektiven u.a. in Anlehnung an Stichweh und Luhmann mit handlungstheoretischen Perspektiven mit Bezug auf Seukwa zur Inklusion von Schüler:innen in die Organisation Schule. An ausschließlich systemtheoretisch informierten Arbeiten wird von Massumi kritisiert, dass diese Arbeiten Personen als »funktional determiniert« (ebd.: 139) betrachten: »Unberücksichtigt bleibt damit, wie sie die in Teilen gegebenen heteronomen Bedingungen und somit auch ihre eigenen Biografien mitstrukturieren und somit den Verlauf der Kommunikationen bzw. Inklusionen mitbestimmen. Um diese Leerstelle zu schließen wird […] der Fokus auf genau dieses Wechselspiel zwischen institutionellen Mechanismen und subjektiver Handlungsfähigkeit bei migrierten Schüler*innen gelegt.« (Ebd.) Auf der Basis einer empirischen Interviewstudie mit 21 Schüler:innen mit »räumlich diskontinuierlichen Bildungsbiografien« (ebd.: 22) in drei Kommunen in NRW sowie der Rekonstruktion schulrechtlicher Reaktionen auf Migration, analysiert Massumi entsprechend ihres pluralen theoretischen Zugriffs einerseits politisch-rechtliche schulische Zugangsbarrieren und Verbleibmöglichkeiten sowie andererseits subjektive Handlungsmöglichkeiten der migrierten Jugendlichen, die trotz restriktiver und einschränkender Bedingungen von diesen aktiv genutzt werden. Massumi macht in Anlehnung an Stichwehs Theorieangebot auf der Organisationsebene Formen der ›inkludierenden Exklusion‹ ebenso wie Formen der ›exkludierenden Inklusion‹ der Beschulung neu migrierter Schüler:innen aus (vgl. ebd.: 247ff.). Hinsichtlich des konkreten Unterrichtsgeschehens, so weist die Autorin nach, stellt sich gleichzeitig jedoch auch heraus, dass sich hier für neu migrierte Schüler:innen die »Wahrscheinlichkeit, im Unterricht nicht adressiert zu werden« (ebd.: 255) als besonders hoch darstellt – und das unabhängig davon, wie die Schüler:innen schulorganisatorisch eingebunden sind (vgl. ebd.). Daraus lässt sich, plausibilisiert Massumi, »schlussfolgern, dass nicht die (inkludierende oder temporär exkludierende) Organisationsform für migrierte Schüler*innen Aussagen über die Effektivität geben kann.« (Ebd.: 256) Es muss entsprechend genauer hingeschaut werden, um bildungsbiografische Folgen der Beschulungspraxen in den Blick zu bekommen. Diese These wird durch die handlungstheoretische Analyse der Interviews bestätigt. So arbeitet Massumi heraus, dass Jugendliche auch in benachteiligenden schulischen Situationen auf der Grundlage ihrer Ressourcen widerständig agieren und wider Erwarten erfolgreich sein können (vgl. ebd.: 369ff.). Massumi entwirft mit ihren differenten theoretischen Zugängen zwei unterschiedliche Perspektiven auf die Ermöglichung oder Verunmöglichung von Bildungsteilhabe für neu migrierte Schüler:innen und stellt damit heraus, dass es wenig plausibel ist, von schulorganisatorischen Beschulungsmodellen11 auf möglicher11

Siehe zu den unterschiedlichen schulorganisatorischen Modellen Massumi et al. (2015) bzw. Kapitel 6 in dieser Arbeit.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

weise vorliegende Diskriminierungen – oder nicht – zu schließen. Vielmehr muss, so die Argumentation, ein spezifischer Blick auf die konkreten Unterrichtsinteraktionen und die Handlungsfähigkeiten der Schüler:innen erfolgen. Emmerich, Hormel und Jording (2016, 2017) knüpfen in ihrem Forschungsprojekt ›Flucht und Migration als Bezugspunkte kommunaler Bildungspolitik und Bildungspraxis‹ ebenfalls an system- und organisationssoziologische Überlegungen an und nehmen in einem interkommunalen Vergleich Zuweisungsprozesse neu migrierter Schüler:innen auf das niveaudifferenzierte Sekundarschulsystem in den Blick, um Entscheidungsmuster des kommunalen Distributionsmanagements zu rekonstruierten (vgl. Emmerich/Hormel/Jording 2016, 2017). Die Autor:innen stellen heraus, dass insbesondere beim Zuweisungsprozess neu migrierter Schüler:innen in die Sekundarstufe »die Frage der Leistungseinschätzung das zentrale Referenzproblem« (Emmerich/Hormel/Jording 2016: 123) darstellt, welches in den Kommunen vor dem Hintergrund der regional jeweils spezifischen Schullandschaften unterschiedlich gelöst wird. Aufgrund der Erfordernis, neu migrierte Schüler:innen auf das niveaudifferenzierte Schulsystem zuteilen zu müssen, betreiben alle untersuchten zuständigen kommunalen Verwaltungsstellen »eine Klassifikationsarbeit, deren Grundmuster einem matching schulischer und sozialer Kategorien folgt, das dazu führt, dass die solchermaßen kategorisierten Seiteneinsteigergruppen über den ›Umweg‹ der Vorbereitungsklassen differenziell in die sozial selektive Struktur des deutschen Schulwesens inkludiert werden.« (Ebd.: 124) So greifen Mitarbeitende in kommunalen Verwaltungen in den für alle neu migrierten Schüler:innen verpflichtenden Erstberatungsgesprächen nicht nur auf bildungsbiografische Daten der Schüler:innen zurück, sondern nehmen darüber hinaus auch eine Einschätzung des sozialen und familiären Umfeldes der migrierten Schüler:innen vor, um Schulformentscheidungen zu treffen. Gleichzeitig zeigen sie, dass die offiziell etablierten Zuweisungsverfahren in den Kommunen unterlaufen werden, wenn Ressourcenprobleme, wie bspw. fehlende Schulplätze an bestimmten Schulformen, auftreten (vgl. ebd.). In der Untersuchung des Wechsels neu migrierter Schüler:innen von der Primar- in die Sekundarstufe (vgl. Emmerich/Hormel/Jording 2017) rekonstruierten die Autor:innen auf der Grundlage von Schulleitungsinterviews drei verschiedene Strategien, den Übergang zu gestalten. Dabei unterscheiden sich die Schulen zum einen in der Art und Weise, wie sie auf kommunale Vorgaben und Angebote der Schulverwaltung zurückgreifen und zum anderen in ihrer Annahme, inwiefern eine Leistungsdifferenzierung der neu migrierten Schüler:innen im Übergang in eine Vorbereitungsklasse einer Sekundarstufe notwendig sei, oder nicht. Erzeugt werden hierdurch, so die Schlussfolgerung, »differenziell ermöglichte Partizipationschancen, die – im Sinne eines Seiteneffekts – zur Prekarisierung gesellschaftlicher Teilhabe beitragen können. Dies gilt auch im Fall der formal inkludierten geflüchteten Kinder und Jugendlichen.« (Ebd.: 220)   Mit Blick auf die fünf Forschungslinien zu neu migrierten Schüler:innen kann festgehalten werden, dass Überblicksstudien zu rechtlichen Rahmenbedingungen (1.) zwar gute Einsichten in rechtliche Grundlagen ermöglichen, dabei aber weniger Einblick in

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen

die Genese von Ungleichheitsstrukturen bieten und praxisorientierte Literatur im Bereich der Didaktik (2.) sowie hinsichtlich der Bildungsvoraussetzungen neu migrierter Schüler:innen (3.) nicht Gegenstand des in dieser Arbeit verfolgten Forschungsinteresses ist. Im Weiteren erfolgt daher eine genauere Bezugnahme auf die letzten zwei Forschungsstränge, die jeweils auf unterschiedliche theoretische Modelle zur Erklärung von Bildungsbe(nach)teiligung rekurrieren und entsprechend eine Verortung der vorliegenden Arbeit notwendig machen.

2.2

Bildungsungleichheit beobachten: Grundlagentheoretische Verortung

Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass es für die empirische Forschung unabdingbar ist, zunächst grundlagentheoretisch zu entscheiden, wie beobachtet werden soll (vgl. Nassehi 2008: 102; Nohl 2016: 107ff.; Amling/Vogd 2017: 12; Bohnsack 2017: 14ff.), wird abschließend diskutiert, wie sich das vorliegende Forschungsprojekt hinsichtlich der rezipierten Forschungsarbeiten zur Erzeugung und Persistenz von Bildungsungleichheit neu migrierter Schüler:innen in Deutschland (Kap. 2.1) verortet.   Rassismustheoretische Forschungsarbeiten zur Erzeugung von Bildungsungleichheit in der Migrationsgesellschaft gehen davon aus, dass Ungleichheiten im Bildungssystem u.a. durch absichtsvolle wie auch nicht absichtsvolle rassistische Diskriminierungen erzeugt werden. Bezugspunkt rassismustheoretischer Erklärungsmodelle zur Entstehung von Bildungsungleichheit stellen postkoloniale Theorien von u.a. Hall, Milles, Miles und Brown, Balibar, Said oder Spivak dar. Grundlegend ist die Annahme, dass die Gesellschaft von rassistischen (ebenso wie sexistischen, antimuslimischen, antiziganistischen, antisemitischen etc.) Ungleichheitsideologien durchdrungen ist, die sich im Bildungssystem manifestieren. Die Autor:innen Dirim und Mecheril (2010) weisen Schule als tief in ein ungleichheitserzeugendes, rassistisches Ordnungsprinzip verwoben aus, was dazu führt, dass ›Migrationsandere‹ nicht nur in direkter und absichtsvoller Weise, sondern auch durch subtilere Formen12 diskriminiert werden. Mecheril und Melter (2010) argumentieren, dass innerhalb der Schule durch »rassistische Ordnungsvorstellungen« (ebd.: 154) Diskriminierungen erzeugt und darüber hinaus gleichzeitig reproduziert und stabilisiert werden (vgl. ebd.). Die Analysen schulischer Bildungsbeteiligungen müssen daher immer vor dem Hintergrund der Annahme erfolgen, dass diese »Teil einer von politischen, kulturellen und symbolischen Machtverhältnissen durchzogenen Gesellschaft« (ebd.) sind, in der Rassismus »auf den Ebenen der Diskurse, Strukturen, Institutionen, Interaktionen und von Subjektivierungsprozessen« (ebd.: 155) verankert ist. Mit einer solchen rassismuskritischen Forschungsperspektive werden schulische Differenzierungen, die Bezug auf ›Nation‹, ›Ethnie‹ oder ›Kultur‹ nehmen, als rassistische Unterscheidungen analysiert (vgl. ebd.: 168). Die hier angesprochenen deutlich werdenden Differenzierungen werden von 12

In einem vorhergehenden Text im selben Band spricht Mecheril hier von »schulorganisatorisch[…] Unterbewussten« (Mecheril 2010: 74), welches für schlechtere Bildungsbeteiligungen von ›Migrationsanderen‹ relevant sei (vgl. ebd.).

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Mecheril als »natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen« (Mecheril 2003) beschrieben. Mit dieser Analyseperspektive ist es möglich, so Mecheril et al., »Migration in ihrer Konsequenz für Subjekte und Räume der Migration zu beschreiben und zu untersuchen« (Mecheril et al. 2016: 25). Die theoretisch in dieser Form gefasste Zugehörigkeitsordnung »kann man als strukturierten und strukturierenden Zusammenhang beschreiben, in dem aus Individuen Subjekte werden« (ebd.: 26). In einer aktuellen Veröffentlichung führen Steinbach, Shure und Mecheril (2020) diese Perspektive hinsichtlich der Relevanz von Subjektivierungsprozessen in der »nationalen Schule« (ebd.) aus. Dabei werden Schulen als »Orte der Subjektivierung in die imagined community der Nation« konzipiert, in der »Kindern nicht nur vermittelt [wird], dass es bspw. Deutschland (ein Land, eine Tradition) gibt, sondern vielmehr aus Kindern Deutsche [gemacht werden], die sich von Nicht-Deutschen abgrenzen.« (Ebd.: 27) Mit einer subjektivierungstheoretischen Perspektive werden, so die Autor:innen, innerhalb der Schule »Macht- und Normalisierungskontext[e] analysierbar« (ebd.: 28), in denen »nicht nur mit, sondern auch an den Subjekten gearbeitet wird« (ebd.). Entsprechend muss es in der Forschung zu Erzeugung von Bildungsungleichheiten darum gehen, zu fragen, »wie die historisch entwickelten Kategorien, Diskurse und Wissensordnungen, die im Rahmen von natio-ethno-kulturell kodierten Ordnungen ›etwas‹ mit den Individuen machen, etwa in den Schulbüchern, den Deutungshaushalten der Schüler/innen und Kolleg/innen, Verwendung finden, welche Subjekte in diesen Ordnungen und Diskursen hervorgebracht werden und wie Bildungsinstitutionen an der Erzeugung hierarchisierender Subjektverhältnisse beteiligt sind.« (Ebd.: 38) Als relevant wird dieser Forschungsansatz insofern entworfen, als damit untersucht werden kann, wie Schüler:innen innerhalb der Schule »behandelt, das heißt vor allem: adressiert und platziert« (ebd.: 39), werden. Beispielhaft für eine Studie, die den skizzierten Forschungsansatz empirisch bearbeitet, kann die Arbeit von Rose (2012, 2016) benannt werden. Ausgehend von der Annahme, dass – mit Bezug auf Mecheril (2003) – ›Migrationsandere‹ keine präskriptiv gegebene Entität darstellen, sondern innerhalb gesellschaftlicher (rassistischer) machtvoller Zugehörigkeitsordnungen hergestellt werden, befasst sich die Autorin aus einer »explizit biographiewissenschaftliche[n] Perspektive« (Rose 2012: 66) mit der Frage, wie »einzelne Jugendliche innerhalb der Schule konkret und praktisch zu ›Migrationsanderen‹ gemacht werden« (Rose 2016: 103). Dabei wird argumentiert, dass es erst mit einer rassismustheoretischen Perspektive möglich ist, »Bedingungen der Möglichkeit von Diskriminierung zu verstehen« (Rose 2012: 411). Indem Rose subjekttheoretische Überlegungen von Butler mit rassismustheoretischen Arbeiten von Hall verknüpft, erarbeitet sie, wie Rassismus ›subjektiviert‹ und im Bildungskontext Schule bearbeitet wird. Auch wenn, wie die Autorin in einem nachfolgenden Artikel einschränkend hinzufügt, »auf der Basis zweier Einzelfallstudien nur sehr begrenzt(e) Verallgemeinerungen zulässig sind, so deuten […] [die Ergebnisse, J.J.] eine Involviertheit der Mehrheitsgesell-

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen

schaft und ihrer Institutionen an, die offenbar dazu beiträgt, dass ›Migrationsandere‹ als solche in der Schule erscheinen (können).« (Rose 2016: 112) Mit der Analyse von in rassistischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen erzeugte Anrufungen von Schüler:innen als ›Migrationsandere‹ könnten, so Roses Schlussfolgerung, Diskriminierungen im Bildungssystem erfasst werden (vgl. ebd.).13 Fokussiert werden mit diesem Erklärungsmodell die durch Orientierungs- und Handlungsmuster von den im Bildungssystem beteiligten Akteur:innen erzeugten Diskriminierungen, die zu einer Schlechterstellung bestimmter, als ›Migrationsandere‹ entworfener Schüler:innen führen. Der Grund für das schlechtere Abschneiden spezifischer Schüler:innen wird entsprechend nicht in den vermeintlichen ›Merkmalen‹ der Schüler:innen und ihrer Familien gesehen,14 sondern anhand von qualitativen Studien die von (rassistischen) Ungleichheitsideologien durchdrungene Schulpraxis und ihre Bedeutung bei der Produktion von Bildungsungleichheiten in den Blick genommen. Dadurch wird es möglich, Bildungsbiografien als Ergebnis von rassistischen Erfahrungen15 sowie als Ergebnis schulischer Selektionsentscheidungen und auf die diesbezügliche Relevanz rassistischen Unterscheidungswissens aufmerksam zu machen. Warum Lehrkräfte auf rassismusrelevante Wissensformationen rekurrieren, wird mit Hinweis auf die Verwobenheit der Schule in rassistische Ungleichheitsideologien erklärt und es wird darauf verwiesen, dass Diskriminierungen durch die Bezugnahme auf bspw. gesellschaftlich weit verbreitete kulturalisierende Argumentationshaushalte legitimiert werden. Relevanz entfaltet eine solchermaßen konzipierte Forschung vor der Möglichkeit, mit Bezug auf postkoloniale Theorieangebote die Persistenz rassistischer Ideologien nachzuzeichnen und zu plausibilisieren, warum insbesondere rassistische Deutungshaushalte als Unterscheidungswissen in der Schule aufgegriffen werden. Auch wenn einige rassismustheoretische Arbeiten neben subjekttheoretischen Ansätzen die Forschungsperspektive des ›institutionellen Rassismus‹ als forschungsleitend ausmachen, bzw. die Bedeutung dieser Perspektive für die Forschung zu bildungsbezogener Diskriminierung herausstellen (vgl. u.a. Geier 2016; Heinemann und Mecheril 2016; Rose 2012), folgen nur wenige Arbeiten (wie u.a. von Cudak 2016; Karabulut/ Pfaff 2020) in der empirischen Analyse tatsächlich der Perspektive, rassistische Diskriminierungen als institutionell verankert und durch die Funktionsweise des Erziehungssystems zunächst ermöglicht zu beobachten.

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Ähnlich argumentieren bspw. auch Ivanova-Chessex und Steinbach (2017), die ausführen, dass innerhalb der Schule Differenzordnungen reproduziert und diskriminierungsrelevante Subjektpositionen zugewiesen werden (Ivanova-Chessex/Steinbach 2017). Wie dies oftmals in individual- und gruppenorientierten Erklärungsansätzen der Fall ist (vgl. u.a. Diehm/Kuhn/Machold 2017; Emmerich/Hormel 2017). Es wird davon ausgegangen, dass Rassismuserfahrungen von Schüler:innen ebenso wie von Lehrkräften eine (bildungs-)biographisch zum Teil einschneidende Bedeutung zukommt – hierauf weisen u.a. die Arbeiten von Terkessidis (2004, 2010), Scharathow (2014, 2016), Fereidooni (2016) und Doğmus (2016) hin. Dabei müssen, so Mecheril, aber auch »die Handlungsmöglichkeiten der Subjekte (z.B. Lehrer, Schüler), sich vom organisatorischen Kalkül oder der exkludierenden Kultur der Institution abzusetzen und anders zu handeln« (Mecheril 2010: 74) stets beachtet werden.

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So wird der Fokus i.d.R. darauf gerichtet, zu analysieren, wie interaktionsbasierte rassistische Unterscheidungen vorgenommen werden – da dies als ›blinder Fleck‹ des Ansatzes ›institutioneller Rassismus‹ und/oder ›institutioneller Diskriminierung‹ ausgemacht wird. Auch Rose hält fest, dass es »zum Anspruch (im engeren Sinne) rassismustheoretischer Ansätze [gehört], genau auf diese Voraussetzungen zu rekurrieren und das binäre Unterscheidungssystem zwischen ›Wir‹ und ›Anderen‹ als Grundlage oder – wie ich vorschlagen möchte – als Bedingung der Möglichkeit von Diskriminierung und als Gewordenes zu verstehen zu geben. Neben der Frage, wie im Rückgriff auf diese Unterscheidungen diskriminiert wird bzw. werden kann, steht damit auch die Frage im Zentrum, im Zuge welcher historischen Entwicklungen insbesondere diese Form der Unterscheidung zwischen ›Fremden‹ und ›Nicht-Fremden‹ diskriminierungsrelevante Bedeutung erhält.« (Rose 2012: 181) Im Mittelpunkt dieser Ansätze steht also, zunächst die den rassistischen Diskriminierungen zugrunde liegende Differenzierung zwischen ›wir‹ und ›die Anderen‹ zu rekonstruieren und herauszuarbeiten, warum gerade rassistische (bzw. ›natio-ethnokulturelle‹) Unterscheidungen in der Schule so präsent sind (vgl. Rose 2012: 181f.; Heinemann/Mecheril 2016: 48). Theoretisch abgeleitet wird aus der Rekonstruktion dieser rassistischen Abgrenzungen dann die Entstehung von Bildungsungleichheit – oftmals ohne die Erzeugung dieser Ungleichheiten explizit empirisch nachzuzeichnen. Aus den Augen gerät weiterhin, so muss mit Blick auf die vorliegenden empirischen Studien festgehalten werden, welche institutionellen Bedingungen des Schulsystems (rassistische) Differenzierung ermöglichen und vor allem, warum wann auf rassistische Wissenshaushalte zurückgegriffen wird – und wann wiederum nicht. Letztgenannte Fragen scheinen – neben der Analyse, wie die Schule durch rassistische Ideologien geprägt ist und wie ›die Anderen‹ kommunikativ ›hergestellt‹ werden – für die Frage, wie Bildungsungleichheit erzeugt wird, von besonderer Bedeutung.   Mit einer organisations- und systemtheoretisch informierten Forschungsperspektive auf die Produktion und Persistenz von Bildungsungleichheiten in der Migrationsgesellschaft scheint es möglich, diese Leerstelle zu bearbeiten und sich der Frage der systemimmanenten Bedingungen der Klassifikationen neu migrierter Schüler:innen und daran anknüpfender potenziell diskriminierungsrelevanter Entscheidungspraxen zuzuwenden. Mit einem system- und organisationstheoretisch gewendeten Blick auf die (Re-)Produktion von Bildungsungleichheit wird die Funktionsweise des Erziehungssystems sowie der Organisation Schule in der Migrationsgesellschaft in den Fokus gerückt. Ebenso wie rassismustheoretische Arbeiten interessiert sich auch diese Forschungsperspektive explizit nicht für vermeintliche ›Merkmale‹ der Schüler:innen und ihrer Familien. Vielmehr wird auf der Grundlage der Annahme einer ›Eigenrationalität‹ des Erziehungssystems untersucht, wie Schüler:innen unter welchen organisatorischen Bedingungen – wie bspw. dem Zwang zur Selektion der Schüler:innen am Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe – in der Schule organisationsintern differenziert werden und wie an diese Differenzierungen ungleichheitsrelevante und bildungsbiografisch folgenreiche Entscheidungen angeknüpft werden. Der Ansatz distanziert sich dabei

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen

insofern auch von rassismustheoretischen Erklärungsmodellen, als nicht davon ausgegangen wird, dass eine spezifische Ungleichheitsideologie wie Rassismus gesamtgesellschaftlich wirksam ist und das Erziehungssystem oder die Organisation Schule prädisponiert. Entsprechend, so bringt Hormel dies auf den Punkt, zeichnen sich diese Erklärungsmodelle dadurch aus, dass sie annehmen, dass »die infolge der organisatorischen Binnendifferenzierung des Schulsystems strukturell ermöglichten und erzwungenen Selektionsentscheidungen einerseits sowie die Prozessierung dieser Entscheidungen und deren Ausstattung mit Legitimität auf der Ebene des Professionshandelns andererseits [von Bedeutung sind].« (Hormel 2010: 177) Dieses Argument wird im Folgenden (Kap. 2.3) vertieft. Im Blick behalten werden muss dabei jedoch – darauf verweisen Emmerich und Hormel ebenso wie Massumi und dies kann auch aus den rassismustheoretischen Perspektiven abgeleitet werden –, dass bei der Rekonstruktion organisatorischer Praxen nicht aus dem Auge gelassen werden darf, welche Formen der Inklusion und Exklusion sich auf der Ebene der Unterrichtsinteraktion – u.a. in Form direkter oder indirekter rassistischer Diskriminierungen – ergeben.

2.3

System- und organisationstheoretische Perspektiven  auf Bildungsungleichheit

Die folgenden theoretischen Auseinandersetzungen stellen keinen Versuch einer detaillierten Abhandlung der Konzepte zu rassistischer oder institutioneller Diskriminierung (s. hierzu u.a. Gomolla/Radtke 2002; Hormel 2007; Gomolla 2008, 2013, 2017; Fereidooni/El 2014) oder differenzierungstheoretischer Perspektiven systemtheoretischer Provenienz auf Diskriminierung (im Erziehungssystem) dar (s. hierzu u.a. Nassehi 1999a; Hormel 2007; Schwinn 2011; Emmerich/Hormel 2013a; Scherr 2015b). Ebenso geht es nicht darum, in einer schultheoretischen Perspektive die Bedeutung schulischer Bildung für Individuen herauszuarbeiten (s. hierzu u.a. Fend 2008). Vielmehr wird das Ziel verfolgt, auf metatheoretischer Ebene einen handhabbaren und konsistenten Begriffsapparat für die nachfolgenden empirischen Analysen zu schaffen, der zu einer Fokussierung des Forschungsprozesses beitragen kann. Entsprechend des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Arbeit hinsichtlich der (Re-)Produktion von Bildungsungleichheit im Erziehungssystem der Migrationsgesellschaft wird plausibilisiert, wie sich – von den Theorien zu institutionellen Rassismus und institutioneller Diskriminierung ausgehend (Kap. 2.3.1) – mit einem system- und organisationstheoretischen Zugriff (Kap. 2.3.2) der Frage nach der Erzeugung und Reproduktion sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem angenähert werden kann.

2.3.1

Ausgangspunkt: Theorien des institutionellen Rassismus und der institutionellen Diskriminierung

Die Ansätze des institutionellen Rassismus und der institutionellen Diskriminierung sind in ihrer grundlegenden theoretischen Konzipierung nicht systemtheoretisch aus-

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gerichtet. Sie stellen jedoch Ausgangspunkte für die in dieser Arbeit als relevant entfalteten Perspektive von Bildungsungleichheit als polykontexturales Phänomen dar, bzw. bieten die Basis für die von u.a. Bommes und Ratke (1993) und Gomolla und Radtke (2002) seit Beginn der 1990er Jahr entfalteten system- und organisationstheoretischen Fundierung der Theorie institutioneller Diskriminierung. Theorien des institutionellen Rassismus Entstanden sind Forschungen zum institutionellen Rassismus vor dem Hintergrund andauernder rassistischer Diskriminierungen und Gewalt sowie sich dagegen richtender Menschenrechtsbewegungen in den USA in den 1960er-Jahren. Der Begriff ›institutioneller Rassismus‹ wurde 1967 von den Theoretiker:innen Carmichael und Hamilton (1992 [1967]) erstmals in der Publikation »Black-Power: The Politics of Liberation in America« eingeführt. Getragen ist die Arbeit der Autor:innen – so führen sie in der Einleitung zum Buch aus – von der Idee, das Bewusstsein für diverse Formen rassistischer Diskriminierungen in der Gesellschaft zu schärfen und dadurch Veränderungen anzuregen. Notwendig sei es, nicht nur die richtigen Fragen zu stellen, sondern auch das Problem korrekt zu formulieren (vgl. Carmichael/Hamilton 1992: xvi). Als Problem wird von den Autor:innen, neben dem individuellen Rassismus, der als »individual whites acting against the black community« (ebd.: 4) definiert wird, der mit dieser Form eng verknüpfte institutionelle Rassismus ausgemacht, der beschrieben wird als: »less overt, far more subtle, less identifiable in terms of specific individuals committing the acts. But it is no less destructive of human life. The […] type originates in the operation of established and respected forces in the society, and thus receives far less public condemnation than the first type.« (Ebd., Herv. im Original) Mit dem Erklärungsansatz des institutionellen Rassismus weisen Carmichael und Hamilton erstmals auf die Bedeutung von rassistischen Handlungen hin, die unabhängig von einzelnen Individuen in den Strukturen der Gesellschaft in verschiedenen Bereichen wie Bildung, Gesundheitswesen oder Wirtschaft verankert seien. Dabei halten die Autor:innen jedoch fest, dass auch der strukturell verankerte institutionalisierte Rassismus auf Einstellungen und Vorurteilen beruhe, die sich gegen Schwarze Personen richten (vgl. ebd.: 5) und die Gesellschaft auf individueller wie institutioneller Ebene, offen und verdeckt durchdringe (vgl. ebd.). Institutioneller Rassismus, führen Carmichael und Hamilton aus, zeige sich bspw. durch eine hohe Säuglingssterblichkeitsrate in der Schwarzen Community, die u.a. durch unzulängliche Nahrung und fehlende gesundheitliche Versorgungssysteme begründet sei (vgl. ebd.). An die wegweisende Arbeit von Carmichael und Hamilton knüpfen bis heute eine Vielzahl von Studien an, die sich mit institutionellem Rassismus in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie dem Gesundheitssystem, der Politik oder Wirtschaft befassen (vgl. u.a. Knowles/Prewitt 1969; Blauner 1972; Benokraitis/Feagin 1977; Barbarin et al. 1981; Better 2008; Friedrich/Mohrfeldt/Schultes 2016; Dengler/Foroutan 2017). Vor dem Hintergrund der Erfahrungen vieler ehemals kolonialisierter Menschen, welche in Großbritannien trotz eines Verbots rassistischer Diskriminierungen unter besonders prekären Bedingungen lebten und arbeiteten, wurden die Theorien zu institutionellem Rassismus ab den späten 1960er-Jahren auch in Großbritannien aufgegriffen (vgl. Mi-

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les/Brown 2003: 86f.). Als von besonderer Relevanz stellte sich der »Macpherson report« dar, welcher in den 1990er-Jahren zur Aufklärung des Mordes am Schwarzen Collegeschüler Stephen Lawrence veröffentlicht wurde (vgl. Macpherson of Cluny 1999; Miles/ Brown 2003: 70f.). Dieser Bericht gilt als Meilenstein in der politischen Auseinandersetzung mit institutionalisierten Formen von Rassismus und führte, so Gomolla, zu »einer neuen Rezeption des Begriffs des ›institutionellen Rassismus‹« (Gomolla 2008: o.S.). Institutioneller Rassismus wird in der Untersuchung wie folgt definiert: »The collective failure of an organisation to provide an appropriate and professional service to people because of their colour, culture, or ethnic origin. It can be seen or detected in processes, attitudes and behaviour which amount to discrimination through unwitting prejudice, ignorance, thoughtlessness and racist stereotyping which disadvantage minority ethnic people.« (Macpherson of Cluny 1999: § 6.34) Während Gomolla (2008) festhält, dass diese Definition, die auf der Untersuchung des britischen Polizeisystems, der Verwaltung und Politik gründet, auch zu neuen Ansichten und theoretischen Perspektiven hinsichtlich sozialer Ungleichheit im Bildungssystem führte, kritisieren u.a. Miles und Brown (2003), dass die Definition, die stringent auf die Definition von Rassismus als »any incident which is perceived to be racist by the victim or any other person« (Macpherson of Cluny 1999: §47.12) aufbaut, zwar politisch richtig sei, in analytischer Hinsicht jedoch dem Ansatz widerspreche, Rassismus als Ideologie zu fassen (vgl. Miles/Brown 2003: 70f.). Trotz der hier deutlich werdenden Kritik stellte sich das Konzept des institutionellen Rassismus als einflussreich für kommende Studien dar. So werden auch aktuell angesichts verstärkter öffentlicher Diskussionen über und Proteste gegen rassistische Polizeigewalt in den USA u.a. im Band von Tourse, Hamilton-Mason und Wewiorski (Tourse et al. 2018), gegenwärtige Konzepte und Studien zu institutioneller rassistischer Diskriminierung in den USA diskutiert. Dabei definieren die Autor:innen institutionellen Rassismus als: »Institutional racism is developed by individuals or groups of individuals who hold power and who reflect their individual racial biases consciously or unconsciously in the rules, regulations, policies, procedures, and practices that govern institutions.« (Ebd.: 6) Es wird deutlich, dass auch in dieser aktuellen Arbeit an die von Carmichael und Hamilton etablierte Theorie des institutionellen Rassismus angeschlossen wird, indem zum einen der Verknüpfung zwischen individuellem und institutionellem Rassismus besondere Bedeutung zugesprochen wird und zum anderen hinsichtlich der Definition von institutionellem Rassismus auf die Annahme hingewiesen wird, dass institutioneller Rassismus auf (historisch tradierten) rassistischen Vorurteilen (›racial biases‹) beruhe, die sich in Regeln und Verfahren von Institutionen einschreiben. Institutioneller Rassismus wird also von den Vertreter:innen dieses Ansatzes als eine Form der Diskriminierung gefasst, welche sich nicht nur im absichtsvollen Handeln von Individuen ausdrücken kann. Vielmehr wird darüber hinaus davon ausgegangen, dass das Handeln von Individuen in Organisationen durch rassistisch konnotierte Normen, Werte und Annahmen geformt wird. Es wird entsprechend angenommen, dass Individuen

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in ihrem Verhalten durch historisch etablierte rassistische Wissensordnungen geprägt werden – und das selbst dann, wenn sie rassistische Deutungsangebote klar ablehnen. So hält bspw. Better (2008) fest, die in einer postkolonialen Perspektive eine enge Verknüpfung zwischen historisch etablierten Macht- und Diskriminierungsstrukturen der Sklavenarbeit in den USA und aktuellen politisch-ökonomischen Interessen ausmacht (vgl. ebd.: 39ff.), dass »[m]ost importantly, racism within American institutions is normative, that is, racist patterns operate as ordinary forms of behavior and bureaucracy.« (Ebd.: 45) Theorien der institutionellen Diskriminierung Feagin und Booher Feagin entwickelten 1978, mit Bezug auf Theorien des institutionellen Rassismus, die Theorie der institutionellen Diskriminierung. Dabei betonen die beiden Autor:innen mit Blick auf bisherige Diskriminierungstheorien die Notwendigkeit, »to move beyond the traditional emphasis on individuals and on a prejudice discrimination perspective to a more adequate conceptualization of discrimination« (Feagin/Booher Feagin 1986: 15). Notwendig sei eine Weiterentwicklung der Diskriminierungstheorien deshalb, weil die vorliegenden Arbeiten von u.a. Carmichael und Hamilton zum institutionellen Rassismus noch zu stark von der Annahme ausgingen, dass letztlich (rassistische) Vorurteile die Institutionen prägten (vgl. ebd.: 13). Die Autor:innen Feagin und Booher Feagin distanzieren sich hingegen von theoretischen Konzepten, die sich auf die Annahme der Relevanz von (rassistischen) Vorurteilen berufen (vgl. ebd.: 19f., 21f.), und zielen mit ihrer Arbeit auf eine theoretische Stärkung des Konzepts der institutionellen Diskriminierung, indem sie u.a. eine Differenzierung direkter und indirekter Formen von Diskriminierung ausmachen. Die Autor:innen entwickeln eine Typologie diskriminierenden Verhaltens, mit der sie die Intentionalität diskriminierender Handlungsweisen mit dem Grad der Einbettung dieses Verhaltens in große Organisationen ins Verhältnis setzen (vgl. ebd.: 28). Feagin und Booher Feagin nehmen auf dieser Grundlage eine analytische Unterscheidung von vier Typen diskriminierenden Verhaltens vor: Als ›isolierte Diskriminierung‹ wird ein intentionales Handeln von Einzelpersonen definiert, welches darauf abzielt, Angehörige von Minderheiten oder gesellschaftlich schlechter gestellten Personengruppen zu schaden (vgl. ebd.: 29f.). Mit dem Typ ›Diskriminierung durch kleine Gruppen‹ wird intentionales diskriminierendes Verhalten von kleinen Gruppen gegenüber Minderheiten beschrieben, welches nicht durch Regelungen oder Normen großer Organisationen fundiert ist. Beispielhaft benennen Feagin/Booher Feagin kleinere Gruppen, die sich dem Ku-Klux-Klan zuordnen (vgl. ebd.: 30). Von besonderem Interesse sind neben diesen beiden nicht oder kaum institutionalisierten, intentionalen Diskriminierungen für die Autor:innen jedoch insbesondere die zwei weiteren Typen der direkten und indirekten institutionalisierten Diskriminierung. Die ›direkte institutionalisierte Diskriminierung‹ bezieht sich auf organisatorisch verankerte Maßnahmen, die absichtlich negative Auswirkungen auf Mitglieder bestimmter Minderheiten oder sozial benachteiligter Personengruppen haben. Relevant ist dabei, dass das diskriminierende Verhalten nicht nur punktuell stattfindet, sondern kontinuierlich und routinemäßig von einer großen Anzahl an Personen innerhalb einer Organisation vollzogen wird (vgl. ebd.). Prägend für diese Form der Diskriminierung sind nicht nur bspw. for-

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen

male Gesetze, sondern auch informelle und ungeschriebene Regelungen und Normen. Darüber hinaus können solchermaßen zu klassifizierende Handlungen in Vorurteilen begründet liegen, aber auch durch wirtschaftliche oder politische Interessen beeinflusst sein. Als Beispiel für direkte institutionalisierte Diskriminierung kann die Separierung von Minderheiten in schlecht ausgestatteten Schulen benannt werden (vgl. ebd.). ›Indirekte institutionalisierte Diskriminierung‹ beruht hingegen – anders als die drei ersten Typen – nicht auf intentionalen Handlungen. Vielmehr sind die den Verhaltensweisen zugrunde liegenden, organisatorisch vorgeschriebenen Normen und Regelungen ohne Absicht der Diskriminierung oder Schlechterstellung bestimmter Personengruppen festgelegt worden. Dies führe dazu, so Feagin und Booher Feagin, dass »on their face and in their intent, the norms and resulting practices appear fair or at least neutral.« (Ebd.: 31) Dennoch wirken die Praktiken sich negativ auf Minderheiten aus. Mit Blick auf empirische Studien weisen Feagin und Booher Feagin darauf hin, dass die von ihnen ausgemachten vier Typen ein theoretisches Modell darstellen und in der Empirie von Überschneidungen und Verknüpfungen der Typen ausgegangen werden kann (vgl. ebd.: 33ff.). Auch Alvarez (1979), der sich mit den organisatorischen Mechanismen der Erzeugung von Diskriminierung befasst, unterscheidet – ähnlich wie Feagin und Booher Feagin – zwischen »primary institutional discrimination« (ebd.: 5), mit dem die Etablierung neuer diskriminierender Strukturen in Organisationen beschrieben wird und »secondary institutional discrimination« (ebd.), die sich dadurch auszeichnet, dass an historisch etablierten Strukturen festgehalten werde, welche sich negativ auf bestimmte Bevölkerungsgruppen auswirken (vgl. ebd.: 6). Dieser Unterscheidung folgend definiert Alvarez institutionelle Diskriminierung als »set of social processes through which organizational decision making, either implicitly or explicitly, results in a clearly identifiable population receiving fewer psychic, social, or material rewards per quantitative and/or qualitative unit of performance than a clearly identifiable comparison population within the same organizational constraints.« (Ebd.: 2) Dabei deutet Alvarez darauf hin, dass Diskriminierungen zwar i.d.R. rechtlich verboten sind, gleichzeitig aber zu beobachten sei, »however, it does not prevent its existence through informal agreements, implicit understandings, or practices, the consequences of which were never previously questioned.« (Ebd.: 20) Trotz eines offiziellen und rechtlich verankerten Diskriminierungsverbotes kann es also aufgrund informeller Vereinbarungen und unbewusst tradierter Praktiken zu Diskriminierungen innerhalb von Organisationen kommen (vgl. ebd.). Besonderes Augenmerk wird von Alvarez auf Verteilungsfragen und der Legitimation dieser durch Organisationen gerichtet: »The centrally important characteristic of distribution is nor that it occurs, or that some get more and some less, but rather that it is justified in particular ways.« (Ebd.: 7) So sei von institutioneller Diskriminierung allein in Abhängigkeit von der Art und Möglichkeit der Legitimation dieser Ungleichverteilungen zu sprechen (vgl. ebd.: 21), wobei das Kriterium für die Legitimation in Abhängigkeit von der Kongruenz von individuellen Leistungen von Organisationsmitgliedern mit Organisationsaufgaben gesehen wird (vgl. ebd.: 49). Wie Diskriminierungen in Organisationen erzeugt werden, könne, so Alvarez, nur ge-

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nauer beleuchtet werden, wenn »the very nature of organizational phenomena« (ebd.) in den Blick genommen werde. Dabei müsse, anstatt wie in bis dato weit verbreiteten soziologischen Studien, nicht das Hauptaugenmerk auf individuelle Merkmale von Organisationsmitgliedern gelegt werden, sondern vielmehr untersucht werden, welche Bedeutung »ascribed characteristics such as race, sex, kinship relationships, and other such ›fixed‹ attributes of individuals« (ebd.: 8, Herv. im Original) im Hinblick auf Verteilungsfragen haben.   In dieser kurzen Rekapitulation von Theorien institutionellen Rassismus und institutioneller Diskriminierung werden folgende zentrale Aspekte sichtbar: Erstens kann mit dem durch u.a. Feagin und Booher Feagin und Alvarez entwickelten Modell der institutionellen Diskriminierung eine theoretisch fundierte analytische Beschreibung von in Organisationen zu beobachtenden direkten und indirekten Diskriminierungen erfolgen, ohne dabei – wie u.a. bei Carmichael und Hamilton – einen spezifischen Schwerpunkt auf rassistisch begründete Strukturen und ›Vorurteile‹ zu legen. Zweitens wird darauf verwiesen, dass Handlungen diskriminierend sein können, auch wenn dies nicht intendiert ist. Explizit wird diese Perspektive bei Benokraitis und Feagin (1977), die festhalten, dass es notwendig sei, die Bedeutung von Normen – wie formale Gesetze oder bürokratische Vorgaben – und Rollen in Institutionen – wie Machtrelationen oder Erwartungshaltungen – näher zu betrachten (vgl. ebd.: 134). Dieser Annahme folgend weisen die Autor:innen am Beispiel der Besetzung von Jurys in US-Gerichten aus, wie es dazu kommt, dass Schwarze Personen deutlich unterrepräsentiert sind, »even though prejudice or behavior based on prejudice may have had little direct effect on the outcome.« (Ebd.: 140). Mit der hier eingeführten Perspektive auf Rassismus und Diskriminierung kann entsprechend in den Blick genommen werden, wie wirkmächtig soziale Kategorisierungen (wie Schwarz/weiß, Mann/Frau etc.) in ihren Konstruktionen und beständigen Rekonstruktionen hinsichtlich der Etablierung diskriminierungsrelevanter Strukturen und Mechanismen in Institutionen sind.16 Drittens zeigt sich aber auch, dass der Institutionenbegriff bei den benannten Vertreter:innen der Theorien des institutionellen Rassismus und der institutionellen Diskriminierung relativ schwach theoretisch ausgearbeitet wird. Deutlich wird dies bspw. bei Feagin und Booher Feagin, die unter dem Begriff der Institution nicht nur Unternehmen, Schulen oder bspw. Krankenhäuser fassen, die auf formellen und informellen Regelungen und Gesetzen beruhen und in denen bestimmte Rollen wie Lehrer:innen und Schüler:innen festgelegt sind (vgl. ebd.: 12), sondern auch »larger sets or combinations of organizations such as ›the economy‹ or ›the family‹« (ebd.), ohne diese genauer zu spezifizieren oder theoretisch zu fundieren.

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Dieser Aspekt wird von Hormel (2007) einer ausführlichen Analyse unterzogen. Zu einer tiefergehenden Beschäftigung sei daher auf diese Arbeit verwiesen.

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen

2.3.2

System- und organisationstheoretische Perspektiven  auf Theorien institutioneller Diskriminierung

Die Arbeiten von Bommes und Radtke (1993), Diehm und Radtke (1999) und Gomolla und Radtke (2002) begründen im deutschsprachigen Raum in den 1990er-Jahren eine von Theorien institutioneller Diskriminierung angeregte differenzierungs- und organisationssoziologisch ausgerichtete Forschungslinie, die sich mit der Erzeugung von bildungsbezogener Ungleichheit befasst. In den Blick genommen werden dabei, so führen Bommes und Radtke aus, »die der Schule als Organisation zugehörigen sozialen Prozeduren, die jenseits individueller, kultureller oder sozialökologischer Merkmale der Kinder die Diskriminierungseffekte […] hervorbringen.« (Bommes und Radtke 1993: 487) Die Eigenrationalität des Erziehungssystems und der Organisation Schule stelle, so Diehm und Radtke, einen bisher nicht beobachteten Aspekt in der Forschung zu Bildungsungleichheit dar, welcher jedoch mit einer systemtheoretischen Beobachtung des Erziehungssystems und seiner Organisationen bearbeitet werden könne (vgl. Diehm/Radtke 1999: 102f.). Denn, dies halten Gomolla und Radtke fest, »[e]in nicht unbedeutender Teil der Ungleichheit in der Bildungsbenachteiligung von deutschen im Vergleich mit nicht-deutschen Schülern läßt sich […] nicht auf die Eigenschaften der Kinder und ihrer migrationsbedingten Startnachteile zurechnen, sondern wird in der Organisation Schule selbst erzeugt.« (Gomolla/Radtke 2002 16f.) Nachdem zunächst die insbesondere von Bommes und Radtke sowie Gomolla und Radtke angeregte u.a. auf die Systemtheorie nach Luhmann Bezug nehmende system- und organisationstheoretische Fundierung der Theorie institutioneller Diskriminierung rekonstruiert wird (Kap. 2.3.2.1) und ein organisationssoziologischer Blick auf die Organisation Schule und die Unterrichtsinteraktion geworfen wird (Kap. 2.3.2.2), erfolgt anschließend (Kap. 2.3.2.3) in Bezug auf Gomolla und Radtke (2002) eine Auseinandersetzung mit der Diskriminierungsrelevanz von Wissens- und Deutungsressourcen, um schließlich die von Emmerich und Hormel (u.a. Hormel 2007; Emmerich und Hormel 2011, 2013a, 2013b, 2017; Emmerich 2016) vorgenommene Erweiterung der von Gomolla und Radtke entwickelten Theorieposition hinsichtlich der Bedeutung von Klassifikationen und Askriptionen als Diskriminierungsoptionen der Organisation Schule zu rekonstruieren.

2.3.2.1

Diskriminierungen im ›Prozess des Organisierens‹

Bommes und Radtke (1993) setzten sich im deutschsprachigen Raum erstmals mit den in den USA ab den 1970er-Jahren entwickelten Theorien des institutionellen Rassismus und der institutionellen Diskriminierung auseinander, kritisieren an diesen jedoch das Fehlen eines Begriffs »der organisatorischen Verfaßtheit der Institutionen […], in denen diskriminiert wird« (Bommes/Radtke 1993: 491). Dabei sei es nur durch eine Schärfung des Institutionenbegriffs möglich, »die Bedeutung von Diskriminierung für die Funktionsweise und den Bestand von Institutionen zu bestimmen.« (Ebd.) Anstatt ein Hauptaugenmerk auf die Handlungen von Individuen in Institutionen zu legen, verfolgen

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Bommes und Radtke das Ziel, Theorien der institutionellen Diskriminierung auf die Grundlage eines theoretisch tragfähigen Begriffs der Organisation zu stellen, um so diskriminierungsrelevante Folgen zu untersuchen, »die dem Prozeß des Organisierens geschuldet sind« (ebd.: 493). Die beiden Autoren beziehen sich nicht nur auf Luhmanns Systemtheorie, sondern lassen sich darüber hinaus auch durch die neo-institutionalistische Organisationstheorie von u.a. Weick (›loosly coupled systems‹) oder March und Olsen (›garbage-can-Modell‹) inspirieren (vgl. ebd.: 491ff.). Die Bedeutung von u.a. (rassistisch geprägten) historisch tradierten Vorurteilen, Normen und Strukturen, auf die die Theorien institutionellen Rassismus und institutioneller Diskriminierung verweisen, werden dabei von Bommes und Radtke insofern aufgegriffen, als die Autoren davon ausgehen, dass Mitglieder in Organisationen im Prozess des Organisierens (d.h. unter anderem in der konkreten Form von Entscheidungsfindungen) auf kulturalisierende, ethnisierende oder rassistische Deutungsangebote zurückgreifen (vgl. ebd.: 493f.).17   Den Perspektiven von Bommes und Radtke, Diehm und Radtke, Gomolla und Radtke folgend, und an Arbeiten von Hormel (2007) und Emmerich und Hormel (2013a) anknüpfend, scheint es mit Blick auf die theoretische Fundierung der Konzepte institutioneller Diskriminierung vielversprechend, die referierten Arbeiten von Carmichael und Hamilton, Feagin und Booher Feagin oder Alvarez mit organisationssoziologischen Theorien zu verknüpfen. Entsprechend wird im Folgenden – in Bezug auf die Vorschläge von den erstgenannten Autor:innen – näher betrachtet, wie Organisationen im Allgemeinen und die Organisation Schule im Speziellen theoretisch bestimmt werden können und welche Bedeutung Organisationen im Hinblick auf die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem zukommt. Zunächst wird dafür mit Rückgriff auf Luhmann grundsätzlich die Theorie gesellschaftlicher funktionaler Differenzierung beleuchtet (vgl. u.a. Luhmann 1975, 2002, 2004b, 2011, 2014, 2019). So kann in einer systemtheoretischen Perspektive im Anschluss an die von Luhmann erstmals in den 1970er-Jahren entwickelte »Ebenendifferenzierung« (Luhmann 2014) davon ausgegangen werden, dass die moderne Gesellschaft sich in die Sozialsysteme Gesellschaft (Funktionssysteme), Organisation und Interaktion ausdifferenziert hat (vgl. im Anschluss an Luhmann u.a. Nassehi 1999a, 2002; Kuper 2004, 2006, 2008; Heintz/ Münch/Tyrell 2005; Willke 2005; Emmerich/Hormel 2013a). ›Multiinklusion‹ in Funktionssysteme der Gesellschaft Funktionssysteme wie Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Recht, Medizin, Erziehung übernehmen jeweils spezifische, allein von diesem System auszufüllende Funktionen (vgl. Luhmann 2002: 116, 124). So können kranke Personen nur innerhalb des medizinischen Funktionssystems behandelt werden und nur im Rechtssystem können rechtlich

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Weiter ausgeführt werden die von Bommes und Radtke angestoßenen Überlegungen in dem von Radtke seit Anfang der 1990er Jahre geleiteten Forschungsprojekt »Institutionalisierte Diskriminierung – Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule« (vgl. Bommes/Radtke 1993: 494), welches durch Gomolla und Radtke fortgesetzt und als erste auf den deutschen Bildungskontext bezogene Studie zu institutioneller Diskriminierung Anfang der 2000er Jahre veröffentlicht wurde (vgl. Gomolla/Radtke 2002).

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bindende Verfahren verfolgt und Urteile gesprochen werden. Zur Unterscheidung der Zuständigkeiten besitzen alle Funktionssysteme »binäre Codes« als »beobachtungsleitende[…] Grundunterscheidungen« (Nassehi 1999b: 108). Auf der Grundlage dieser binären Codes generieren die Funktionssysteme »eine je eigene, sich wechselseitig ausschließende Form der Beobachtung von Welt« (ebd.: 109). So unterscheidet das Rechtssystem bspw. nach Recht/Unrecht und das medizinische System nach krank/gesund, um an diese Unterscheidungen Systemoperationen und Programme anschließen zu können. Der Perspektive der funktionalen Differenzierung folgend ist entsprechend »Gesellschaft […] in der Gesellschaft nicht nochmals durch ein eigenes, sozusagen genuin gesellschaftliches Teilsystem repräsentiert« (Luhmann 1981: 22), was gleichzeitig bedeutet, dass es keine zentrale Steuerungsinstanz, kein ›Zentrum‹ oder ein alle Teilsysteme übergreifendes Ganzes gibt (vgl. Luhmann 1981: 22; Bommes 1999: 96; Willke 2005: 220; Nassehi 2003: 98). Dies wiederum evoziert die Erkenntnis, dass Individuen nicht in die Gesellschaft inkludiert oder exkludiert werden können, sondern Inklusion/Exklusion in den verschiedenen Funktionsbereichen der Gesellschaft (und ihren Organisationen, s.u.) erfolgt (vgl. u.a. Schwinn 2000: 481; Stichweh 2009b: 363). Entsprechend ist die moderne Gesellschaft durch eine »Multiinklusion« (Nassehi 1999b: 113; Nassehi/Nollmann 1999: 136) von Individuen gekennzeichnet, da diese immer zugleich in mehreren Teilsystemen inkludiert sind (vgl. Bommes/Halfmann 1998: 22; Bommes 1999: 49). Charakteristisch für die moderne funktional differenzierte Gesellschaft ist demzufolge die Umstellung von der Inklusionsordnung nach dem ständischen Prinzip – d.h. einer stratifikatorischen Differenzierung nach dem Grundsatz der Zugehörigkeit aufgrund von ›Abstammung‹ – auf einen »Modus der Inklusion in Funktionssysteme auf der Basis der Exklusion als formelle Freiheit von allen persönlichen Bindungen« (Bommes 1999: 129) (vgl. Luhmann 2002: 70f.; Nassehi 2004: 345; Stichweh 2005: 49ff.). Für die Ebene der Funktionssysteme gelte somit, führt Bommes aus, formal ein »Inklusionsuniversalismus« (Bommes 1999: 49). Das bedeutet, dass jedes Individuum, wenn es die funktionsspezifischen Bedingungen erfüllt, prinzipiell einbezogen werden kann. Strukturtheoretisch betrachtet sind Verteilungsfragen in der Systemtheorie somit »sekundäre Problemstellungen« (Bommes 2001: 238), da funktionale Differenzierung keine Fragen der Verteilung regelt und »[i]hre Subsysteme […] auf Problemlösung und Ressourcenbeschaffung ausgerichtet [sind].« (Luhmann 1985b: 145) Dieser Perspektive folgend müsste auf der Ebene der Selbstbeschreibung der Gesellschaft davon ausgegangen werden, dass die moderne Gesellschaft keine »strukturierte soziale Ungleichheit« (Bommes 2001: 243) aufweise. Dass diese Selbstbeschreibung von der beobachtbaren Realität in der modernen Gesellschaft deutlich abweicht, beschreibt jedoch auch Luhmann. So führt er aus: »Modern society includes and excludes persons via function systems, but in a much more paradoxical way. Function systems presuppose the inclusion of every human being, but, in fact, they exclude persons that do not meet their requirements. Many individuals have to live without certified birth an identity cards, without any school education and without regular work, without access to courts and without the capacity to call the police. One exclusion serves as an excuse for other exclusions. At this level,

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and only at this level, society is tightly integrated, but in a negative way.« (Luhmann 2015: 43) Luhmann weist darauf hin, dass es faktisch zu (einer Verkettung von) Exklusionen auf der Ebene von Funktionssystemen kommen kann, die für die Frage nach sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft höchst relevant sind. Angenommen wird dabei von Luhmann, in Abgrenzung zur Klassentheorie nach Marx, dass Ungleichheiten nicht primär durch den Zugang zum Funktionssystem der Wirtschaft prädisponiert sind, sondern jeweils spezifisch in den Funktionssystemen selbst erzeugt werden (vgl. Luhmann 1985b: 119, 1992a: 23ff. s. hierzu auch Bommes 1999: 40ff.).   Mit einem differenzierungstheoretischen Blick auf Inklusion und Exklusion in Bezug auf Ungleichheitsfragen kann nicht davon ausgegangen werden, dass Inklusion Gleichheit und Exklusion Ungleichheit bedeutet (vgl. Bommes/Halfmann 1998: 23). Vielmehr wird angenommen, dass Ungleichheit und Gleichheit auf beiden Seiten – d.h. der Inklusion wie auch der Exklusion – produziert und reproduziert werden kann (vgl. Stichweh 2004). Es ist also danach zu fragen, wie Bildungsungleichheit im Wechselspiel zwischen Inklusion und Exklusion entstehen kann, bzw., welche Muster – mit Blick auf das Forschungsprojekt – jenseits der grundsätzlichen Inklusion aller schulpflichtigen neu migrierten Schüler:innen in das Erziehungssystem etabliert werden. So existieren, hält Stichweh fest, neben dem »speziellen Fall der Exklusion vielfältige Formen von Ungleichheit im Inklusionsbereich der Systeme« (ebd.: 355). Stichweh beschreibt u.a. Organisationen, die, wie das Gefängnis, »exkludierte[…] Personen verwalten und kontrollieren und die dies mit der erklärten Absicht verbinden, diese Personen in die Gesellschaft zurückzuführen« (ebd: 66) als »inkludierende Exklusion« (ebd.) und bezeichnet »Gruppenzusammenhänge […] wie kriminelle Banden« (ebd.), die »den von Exklusion bedrohten Personen eine Einbeziehung in den devianten Gruppenzusammenhang« offerieren als »exkludierende Inklusion« (ebd.). Selektive Inklusion in Organisationen Mit einer systemtheoretischen Perspektive wird davon ausgegangen, dass unter Bedingungen funktionaler Differenzierung keine einfache Reproduktion oder Übertragung von Inklusionen und Exklusionen innerhalb eines Funktionssystems auf ein anderes stattfindet. Als Grund hierfür werden insbesondere Organisationen ausgemacht, die in Funktionssystemen der »Interdependenzunterbrechung« (Luhmann 2019: 338) dienen. Organisationen sind soziale Systeme, die im Zuge der historisch spezifischen Ausdifferenzierung von Kommunikationssystemen entstanden sind (vgl. Luhmann 1975: 13). So entwickelt sich die Systemebene der Organisationen, »wenn Systeme über besondere Mitgliedsrollen ausdifferenziert werden, die durch Entscheidungen mit Personen besetzt werden, deren Verhalten durch die Organisation konditioniert werden kann.« (Luhmann 2019: 452) Interdependenzunterbrecher stellen Organisationen insofern dar, als sich bspw. Inklusionen/Exklusionen im Rechtssystem oder dem Erziehungssystem, in Abgrenzung zu Annahmen der klassischen Ungleichheitstheorien, nicht kausal aus der Teilhabe an Or-

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ganisationen des Wirtschaftssystems ableiten lassen und somit bspw. die Inklusion in die Organisation Schule in der Rolle als Schüler:in sich nicht aus der Inklusion in Organisationen des Wirtschaftssystems ergibt. Organisationen bearbeiten Aufgaben- und Problemstellungen der Funktionssysteme und machen sie gegenüber der Umwelt kommunizierbar (vgl. Bommes 1999: 158). Dabei gehen sie aber nie vollständig in einem Funktionssystem auf. Innerhalb des Erziehungssystems strukturiert bspw. das Schulsystem mit der durch Organisation ermöglichten Differenzierung in Schulen, Universitäten, Schultypen und Schulklassen die Bedingungen von Erziehung (vgl. Luhmann 2002: 161). Die Organisation Schule ist dabei mit so unterschiedlichen Aspekten wie der Aufnahme von Schüler:innen in Schulen, der Vergabe von Zertifikaten, sowie der Ausstattung mit räumlichen und personellen Ressourcen befasst (vgl. ebd.). Mit Blick auf den grundsätzlichen Befund, dass Organisationen niemals in einem Funktionssystem aufgehen, sondern zumeist Kommunikationen aus verschiedenen Funktionssystemen vereinen, kann in Bezug auf die Organisation Schule festgestellt werden, dass diese bei der Bewältigung der anfallenden Aufgaben nicht nur auf pädagogische, sondern gleichfalls auf politische und ökonomische Entscheidungen angewiesen ist (vgl. Luhmann 2004b: 222f.). So verlangen die Organisationen des Erziehungssystems, dass das politische System kollektiv verbindliche Entscheidungen hinsichtlich »der Schulorganisation, der Ressourcenzuweisung [und, J.J.] des relativen Gewichtes von Fächern und ›Stoffen‹« (ebd.: 224) trifft. Neben diesen schulrechtlichen Bestimmungen, die als politische Entscheidungen zutage treten, können aber auch Ereignisse in der Umwelt der Organisation Schule, wie bspw. die Veränderungen der Schüler:innenzahlen aufgrund von Migration oder die Etablierung neuer pädagogischer Programme Anpassungen evozieren. Die in den Organisationen entstehenden Adaptionen erfolgen jedoch nicht kausal, sondern sind vielmehr kontingent, da Anforderungen aus der Umwelt systemintern nach eigenen Regeln verarbeitet werden (vgl. Luhmann 2002: 119; s. hierzu auch: Gomolla/Radtke 2002: 91f.; Kuper 2004: 140; Emmerich/Hormel 2013a: 52 ff). Ebenso wie Funktionssysteme sind Organisationen gleichzeitig auf die Teilnahme bzw. Inklusion von Individuen angewiesen, ohne unterdessen von einzelnen Individuen abhängig zu sein. Vielmehr können Leistungs- und Publikumsrollen – unter der Voraussetzung, dass die jeweils geltenden Mitgliedschaftsbedingungen erfüllt werden – von unterschiedlichsten Individuen ausgefüllt werden, sodass Organisationen unabhängig vom Ausscheiden einzelner Individuen weiter bestehen (vgl. Luhmann 2019: 70ff. s. hierzu auch u.a. Bommes 1999: 148; Stichweh 2009a: 32). Ermöglicht wird diese Konstanz durch Mitgliedschaftsregeln wie »etwa Autoritätsunterwerfung gegen Gehalt […] [, die dazu beitragen, J.J.] trotz frei gewählter, variabler Mitgliedschaft hochgradig künstliche Verhaltensweisen relativ dauerhaft zu reproduzieren. […] Die Motivlage wird über Mitgliedschaft generalisiert: Die Soldaten marschieren, die Schreiber protokollieren, die Minister regieren – ob es ihnen in der Situation nun gefällt oder nicht.« (Luhmann 2019: 16) Individuen werden insofern durch Organisationen »entindividualisiert« (Nassehi 2002: 471, Herv. im Original). Das Sozialsystem der Organisation knüpft Inklusion – anders als die Funktionssysteme, die, wie ausgeführt, über einen Inklusionsuniversalismus

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verfügen – also an die Erfüllung von Mitgliedschaftsbedingungen. Die Inklusion von Individuen in Organisationen ist entsprechend eindeutig über Mitgliedschaften bzw. Mitgliedschaftsregeln organisiert. Dies bedeutet, dass es klare Regel für den Ein- und Austritt aus Organisationen gibt. Gleichzeitig sind mit der Etablierung von Mitgliedschaftsregeln formalisierte Erwartungen hinsichtlich des Verhaltens von Individuen verbunden (vgl. Luhmann 2019: 16, 69.f.; s. hierzu auch Stichweh 2009a: 32). Die spezifischen Mitgliedschaftsbedingungen von Organisationen führen dazu, dass sich die Inklusionsform der Funktionssysteme auf der Ebene von Organisationen gegensätzlich zeigt. So kann – im Kontrast zum ›Inklusionsuniversalismus‹ der Funktionssysteme – argumentiert werden, dass Organisationen sich mit der Etablierung von Mitgliedschaftsbedingungen als »Exklusionsmaschinen« (Nassehi/Nollmann 1999: 469) konstituieren, die für die Frage nach der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit hochgradig relevant erscheinen: »Sind die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft letztlich Inklusionsmaschinen, könnte man Organisationen als Exklusionsmaschinen bezeichnen, deren Grundstruktur in entscheidungsgestütztem selektivem Zugriff auf Menschen besteht und damit zugleich als Generator von Inklusion fungiert.« (Ebd.) Auf der Ebene der Organisationen werden Positionen in der Gesellschaft zugewiesen, sichtbar gemacht und benannt (vgl. ebd.). Gleichzeitig kann durch den Verweis, dass Inklusionen und Exklusionen in Organisationen ausschließlich an formalen Mitgliedschaftsregeln ausgerichtet werden, eine Legitimation der erzeugten unterschiedlichen »Lebenslagen« (ebd.: 468) stattfinden (vgl. ebd.: 468f.; Nassehi 2004: 339). So mache sich die Gesellschaft, führt Luhmann aus, über Organisationen »diskriminierungsfähig« (Luhmann 2019: 457), indem sie »[i]nnerhalb der Organisationen und mit ihrer Hilfe […] die Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit scheitern [lässt]« (ebd.). Besonderheiten der Organisation Schule Mit Blick auf Schule als Organisation scheinen an dieser Stelle einige Ergänzungen hinsichtlich der Besonderheit dieser Organisation notwendig (vgl. u.a. Kuper 2008; Emmerich/Hormel 2013a, 2013b). So ist hinsichtlich der Feststellung, dass Organisationen ihre Mitglieder in Abhängigkeit von ihren Mitgliedschaftsregeln eigenständig rekrutieren und über ihre (Nicht-)Aufnahme entscheiden können, auf einige Abweichungen hinzuweisen: Die Leistungsrolle der Lehrkräfte in der Organisation Schule ist zwar i.d.R. an die Mitgliedschaftsbedingung eines abgeschlossenen Hochschulstudiums im Lehramt geknüpft und an die Erwartung gebunden, dass die Lehrkräfte sich mit der Erziehung und Bildung von Schüler:innen befassen (vgl. Luhmann 2002: 150ff.). Gleichzeitig können die Einzelschulen jedoch nur bedingt eigenständig über die Einstellung von Lehrkräften entscheiden. Deutlich relevanter erscheint jedoch, dass für die Inklusion in der Publikumsrolle als Schüler:in zwar Mitgliedschaftsbedingungen gelten, wie bspw. ein bestimmtes Alter und die Erwartung, sich erziehen/belehren lassen zu wollen (vgl. ebd.: 57ff., 108, 154), Schulen aber, wie bei der Einstellung von Lehrkräften, jedoch nur in einem eng abgesteckten rechtlichen Rahmen über die (Nicht-)Aufnahme von Schüler:in-

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nen entscheiden können. So findet durch die Schulpflicht quasi eine Vollinklusion aller Kinder und Jugendlichen in die Organisation Schule statt (vgl. ebd.: 135ff.).18 Mit einer genaueren Betrachtung der Organisation Schule wird also deutlich, dass soziale Ungleichheit zunächst nicht durch Mitgliedschaftsbedingungen moderierte Inklusion/Exklusion in die Organisationen erzeugt wird, sondern Ungleichheit hier vielmehr im Inklusionsbereich der Organisation (re-)produziert wird. So werden zwar grundsätzlich alle Individuen (bei Erfüllung der Mitgliedschaftsbedingungen) inkludiert, innerhalb der Organisation Schule wird aber entschieden, mit welchem Erfolg sie die Organisation verlassen, d.h. mit welchem Zertifikat (Abschlusszeugnis) die Schüler:innen die Schule beenden bzw. mit welchen Bildungskarrieren die Schüler:innen ausgestattet werden (vgl. Luhmann/Schorr 1988: 287ff.; Luhmann 2004b: 29ff.; s. hierzu auch Brosziewski 2012: 383; Emmerich/Hormel 2013b: 144ff.). Die Erzeugung von Bildungskarrieren in der Organisation Schule Bevor auf Bildungskarrieren eingegangen wird, die sich vor allem in Form schulischer Abschlusszeugnisse manifestieren, und die das Ergebnis einer langen Kette von Selektionsentscheidungen in der Organisation Schule darstellen (vgl. Luhmann 2002: 70ff.), wird zunächst ein Blick auf die grundsätzliche Funktionsweise von Organisationen hinsichtlich der Erzeugung von Entscheidungen und Entscheidungsprämissen geworfen. Luhmann beschreibt Organisation als »rekursive[n] Entscheidungsverbund« (Luhmann 2000: 68), in dem »[a]lles, was überhaupt geschieht, [als] […] Kommunikation von Entscheidungen oder im Hinblick darauf [geschieht].« (Ebd.) Wie alle anderen sozialen Systeme sind auch Organisationen auf Selbsterhalt und Reproduktion durch eigene Operationen ausgelegt (vgl. ebd.: 145). Um Operationen fortzusetzen, muss die Organisation fortwährend »implizit oder explizit auf eigene Entscheidungen bezugnehmen – sei es auf vergangene Entscheidungen, sei es auf künftige Entscheidungen, die das System selbst produziert.« (Ebd.: 68) Durch die Kommunikation von Entscheidungen erzeugen Organisationen immer wieder neue Informationen, auf die dann weitere Entscheidungen Bezug nehmen können (vgl. ebd.: 69). Deutlich wird dies bei der Betrachtung von Entscheidungsprozessen. Entscheidungsprozesse in Organisationen werden von Luhmann als »bewußte Selektionsprozesse« (Luhmann 2019: 123) beschrieben, die sich durch »Entscheidungsprämissen« (ebd.) strukturieren, »die den bewußt erfaßten Vergleichsbereich einengen, bis er rational entscheidbar wird, und die deshalb selbst in den Prozessen, die sie strukturieren, nicht problematisiert werden können.« (Ebd.) Wenn vor dem Hintergrund einer Auswahl an möglichen Alternativen eine Entscheidung getroffen wird, dient die Kommunikation des Ergebnisses dieses Selektionsprozesses als Entscheidungsprämisse für weitere, daran anknüpfende Entscheidungen. Es findet also bspw. eine Selektion zwischen Alternativen statt, deren Ergebnis als Entscheidungsprämisse für weitere Entscheidungen dient usw. (vgl. ebd.: 123ff.). Entscheidungsprämissen dienen in Organisationen also dazu, zukünftig zu treffende Entscheidungen vorzustrukturieren, indem der Spielraum für Entscheidungen eingegrenzt wird. Gleichzeitig wird dadurch jedoch nicht festgelegt, wie Entscheidungen je18

Dass diese Vollinklusion faktisch nicht gegeben war und ist, wird in Kapitel 3 – bspw. hinsichtlich Schüler:innen ohne Papiere oder Asylsuchende – herausgearbeitet.

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weils getroffen werden, es besteht also keine Kausalität zwischen Entscheidungsprämissen und Entscheidungen. Als »sachlich richtig« (ebd.: 127) werden die solchermaßen vollzogenen Entscheidungen innerhalb des Systems dann anerkannt, wenn bei der Erzeugung der Entscheidungen bestimmte Entscheidungsprogramme zum Tragen gekommen sind. Von Bedeutung ist, dass diese Programme nicht in erster Linie für den Selektionsprozess an sich Relevanz besitzen, sondern vielmehr auf die Umwelt des Systems – also auf die Erzeugung von Legitimität für die getroffenen Entscheidungen – ausgerichtet sind (vgl. ebd.: 127f.).19 Bildungskarrieren stellen das Ergebnis einer langen Reihe an Selektionsentscheidungen der Organisation Schule dar und manifestieren sich in »harten binären Entscheidungen wie Aufnahme/Nichtaufnahme in weiterführende Schulen, Versetzung/Nichtversetzung oder Prüfungen bestanden/nichtbestanden« (Luhmann 2002: 73). Selektionsergebnisse werden durch das im Erziehungssystem etablierte Zensurensystem abgebildet, welches zwar auch in einer binären Struktur funktioniert (die Note 1 ist nie die Note 2 usw.) (vgl. ebd.), gleichzeitig aber – und dies scheint in Abgrenzung zu Luhmanns Perspektive deutlich relevanter zu sein – insbesondere eine graduelle Möglichkeit des Vergleichs im Hinblick auf frühere ›Leistungen‹ oder im Hinblick auf die ›Leistungen‹ anderer Schüler:innen in der Klasse oder im Jahrgang ermöglicht (vgl. Emmerich/Hormel 2013a: 79ff.).20 Zensuren werden (i.d.R. zweimal jährlich) in Form von Zeugnissen dokumentiert. Von besonderer Bedeutung sind erstens die Abschlusszeugnisse der Primarstufe, an die Entscheidungen hinsichtlich der Schulform im niveaudifferenzierten Sekundarschulsystem geknüpft werden, die wiederum unterschiedliche Bildungszertifikate ermöglichen; sowie zweitens Abschlusszeugnisse zur Beendigung der schulischen Laufbahn, durch die die Inklusion in andere Funktionssysteme der Gesellschaft, wie insbesondere das Wirtschaftssystem, moderiert wird. Zeugnisse können entsprechend als »symbolisch generalisierte Medien« (Luhmann 1975: 109f.; Luhmann/Schorr 1988: 54) beschrieben werden, mit denen die Schulen nicht nur intern, sondern gleichermaßen mit anderen Funktionssystemen kommunizieren (vgl. ebd.). Zeugnisse geben dem Lebenslauf Form, bzw. sie stellen Ereignisse dar, die jeweils auch anders hätten ausfallen können und zukünftige Möglichkeiten einschränken, aber auch erweitern können (vgl. Luhmann 2002: 92-101). Sich in Zeugnissen widerspiegelnde Selektionsentscheidungen in der Organisation Schule mögen dabei, so Luhmann »mehr oder weniger gut begründbar sein, aber sie […] [können, J.J.] nicht vermeiden, als Auswahl aus mehreren Möglichkeiten aufzutreten.« (Luhmann 2012: 295) Indem die in der Organisation Schule etablierten Selektionsprozesse zeitlich über mindestens neun Schuljahre (entsprechend der gesetzlich geregelten Schulpflicht) gestreckt werden, werden die für die Organisation entstehenden Belastungen insofern abgeschwächt, als rekursiv auf bereits zuvor erzeugte Entscheidungsprämissen (wie Noten oder Versetzungszeugnisse) zurückgegriffen werden kann. Insofern »arbeitet die

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Siehe hierzu ausführlich Luhmann (1983). Auf die hier aufscheinende meritokratische Selbstbeschreibung der Organisation Schule, dass ›Leistungen‹ graduell verglichen und in Noten abgebildet werden können, wird im Weiteren kritisch eingegangen.

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Selektion mit ihrem eigenen Gedächtnis.« (Ebd.: 295) (vgl. Luhmann/Schorr 1988: 250ff.; Luhmann 2002: 67). Als »pädagogische Selektion« bezeichnen Luhmann und Schorr eine Selektion, »die im Funktionssystem für Erziehung stattfindet, sich nach dessen Kriterien richtet und dessen Positionen bzw. Symbole für Erfolg/Mißerfolg zuteilt«. (Luhmann/Schorr 1988: 252, Herv. im Original) Um die auf Selektionen beruhenden leistungsbezogenen Differenzierungen der Schüler:innen in der Organisation Schule dem Erziehungssystem selbst zurechnen zu können (vgl. Luhmann 2002: 127), dient insbesondere die »Homogenisierung der Eintrittspopulation« (ebd.), die Luhmann als »eine[n] der markantesten Indikatoren für die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems« (ebd.) beschreibt.21 Gemeint ist damit die Inklusion aller Kinder ab einem bestimmten, zuvor festgelegten Alter in das Erziehungssystem, die in Deutschland über die Schulpflicht geregelt ist (vgl. ebd.: 137).22 Die solchermaßen erzeugten Jahrgangsklassen sind von besonderer Bedeutung im Erziehungssystem: So ist im Hinblick auf die Erzeugung von als ›legitim‹ anerkannten Karrieren das System der Jahrgangsklasse entscheidend, welches, so Luhmann, die »organisatorische Letzteinheit der Schule« (ebd.: 162) darstellt. Durch Jahrgangsklassen wird es möglich, eine Illusion von gleichen Startbedingungen für alle aufzubauen. Leistungsunterschiede zwischen Schüler:innen, die im Interaktionssystem des Unterrichts erzeugt werden, können auf Grundlage dieser Fiktion »intern zugerechnet, das heißt auf die Schule selbst zurückgeführt werden. Das Erziehungssystem behandelt also Ungleiches als gleich, um die darauf entstehenden Ungleichheiten sich selber zurechnen und mit den Mitteln seiner Selektionsverfahren markieren zu können.« (Ebd.: 127) In der Schule werde entsprechend versucht, so Luhmann, »alle vorgegebenen Begabungs- und Sozialisationsunterschiede zu neutralisieren« (Luhmann 2004b: 219). Schüler:innen würden daher »als gleich gesehen und behandelt, […] als homogenisierte Population vorausgesetzt (was strukturell auf Indifferenz gegenüber Herkunft und Umwelt hinausläuft)« (ebd.). Bezogen auf Luhmanns Zitat wäre insofern in Rechnung zu stellen, dass die Organisation Schule mit der zeit- und räumlichen Ermöglichung von Erziehung in Jahrgangsklassen und dem Prinzip der Gleichbehandlung aller – trotz ihrer (angenommen) ›Ungleichheiten‹ – die Möglichkeit schafft, Selektionsentscheidungen zu treffen, die dem (moralischen) Anspruch einer meritokratischen Gesellschaft entsprechen. So beruht die Bereitschaft, die durch u.a. unterschiedliche schulische Karrieren erzeugte soziale Ungleichheit in der Gesellschaft als ›gerecht‹ zu akzeptieren, auf der Vorstellung, dass diese Unterschiede innerhalb der Organisation Schule unter Beachtung des meritokratischen Prinzips (Entscheidungsprogramm) erzeugt werden. D.h. es wird angenommen, dass schulische Karrieren ›leistungsgerecht‹, also entsprechend der jeweiligen ›intellektuellen Fähigkeiten‹ der

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Siehe hierzu auch Luhmann (2004a). Da Bildung in Deutschland Ländersache ist, variieren die Zeitpunkte, zu denen die Schulpflicht einsetzt, von Bundesland zu Bundesland. Das Prinzip, alle Kinder eines bestimmten Jahrgangs zeitgleich in die Organisation Schule zu inkludieren, bleibt davon jedoch unberührt.

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Individuen und nicht aufgrund von bspw. diskriminierungsrelevanten Zuschreibungen und ›Ungleichbehandlungen‹, erzeugt werden.   Kritisch anzumerken ist an Luhmanns Ausführungen jedoch Folgendes: So deutet die Formulierung ›Ungleiches als gleich‹ darauf hin, dass es eine ›natürliche Ungleichheit‹ zwischen Schüler:innen bei Eintritt in die Organisation Schule gäbe. Mit Emmerich und Hormel (2013a) kann jedoch argumentiert werden, dass es weniger um die Frage geht, inwiefern Unterschiede zwischen Schüler:innen vorliegen, als vielmehr um die Frage, wie Ungleichheiten zugeschrieben werden (vgl. Emmerich/Hormel 2013a: 31f.). Entsprechend wird von Emmerich und Hormel zwischen ›Askription‹ (Bezeichnung/ Zuschreibung) und ›askriptiven Merkmalen‹ differenziert. Askription wird dabei als »ein Vorgang der sozialen Konstitution von Sichtbarkeit im Prozess der Zuschreibung gefasst.« (Ebd., Herv. im Original). Diese Auffassung unterscheidet sich deutlich von naturalisierenden Annahmen, die auch in Luhmanns Ausführungen aufscheinen und die von der Vorstellung einer ›natürlichen Sichtbarkeit‹ bzw. einem ›natürlichen Vorhandensein‹ von Merkmalen – zu denen in weiteren Theorieansätzen bspw. ›Intelligenz‹, ›Migrationshintergrund‹ oder ›Geschlecht‹ gezählt werden (vgl. bspw. Maaz/Baumert/ Trautwein 2011; Baumert/Maaz/Jonkmann 2010) – von Individuen ausgehen. Luhmann scheint also die meritokratische Selbstbeschreibung der Organisation Schule nicht zu hinterfragen, sondern diese vielmehr zu reifizieren. Wie Leistungsunterschiede zwischen den Schüler:innen erzeugt werden, bleibt damit jedoch zunächst offen und wird von Luhmann nicht umfassend bearbeitet. An dieser Stelle ist es entsprechend geboten, im Weiteren eine Ergänzung dieser Ausführungen vorzunehmen, indem im Anschluss an die Theorien institutioneller Diskriminierung/institutionellen Rassismus sowie Arbeiten von Autor:innen wie Emmerich und Hormel, Gomolla und Radtke, Diehm und Radtke oder Vanderstraeten die Bedeutung von Deutungsressourcen und Klassifikationen als Diskriminierungsoptionen der Organisation Schule näher betrachtet werden. Zunächst soll jedoch ein Blick auf Unterricht als Interaktion geworfen werden, da die Organisation Schule – so eine zentrale Argumentation von Emmerich und Hormel (u.a. 2013a, 2013b) – beim Treffen von Selektionsentscheidungen auf ›Leistungsunterschiede‹ angewiesen ist, die in der Unterrichtsinteraktion zuerst erzeugt werden (müssen) (vgl. ebd.).

2.3.2.2

Die Erzeugung von Leistungsunterschieden im Interaktionssystem Unterricht

Emmerich und Hormel argumentieren, dass die Organisation Schule Selektionsentscheidungen auf der Grundlage von in der Unterrichtsinteraktion hergestellten Leistungsunterschieden zwischen Schüler:innen trifft. Die Unterrichtsinteraktion muss die Organisation Schule also mit Entscheidungsprämissen versorgen, an die die Organisation dann Selektionsentscheidungen anknüpfen kann (vgl. u.a. Emmerich/Hormel 2015): »Erst die Existenz der Schule als Organisation lässt […] Entscheidungen über individuelle Bildungskarrieren zu, und erst die Erzeugung von guten und schlechten Lernleistungen in den Interaktionsprozessen des Unterrichtsgeschehens schafft die not-

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wendigen, auf individueller Leistungszuschreibung basierenden Prämissen für diese Entscheidungen, kurz: für Selektion.« (Ebd.: 235, Herv. im Original) Bevor diese Argumentation näher beleuchtet wird, scheint es auch an dieser Stelle sinnvoll, zunächst einen Exkurs zum sozialen System der Interaktion bzw. konkreter der Unterrichtsinteraktion vorzunehmen, um daraufhin auf die Frage der Erzeugung von Leistungsunterschieden in der Unterrichtsinteraktion zurückzukommen. Die Unterrichtsinteraktion Die Systemebene Interaktion stellt, ebenso wie Funktionssysteme und Organisationen, ein kommunikatives System dar, das exklusiv relevante gesellschaftliche Funktionen erfüllt. Interaktionssysteme unterscheiden sich von Organisationen u.a. dadurch, dass hier keine Mitgliedschaftsregeln gelten. So wird die Entscheidung darüber, wer zum Sozialsystem der Interaktion gehört und wer nicht, ausschließlich über Anwesenheit gebildet. Wer anwesend und kommunikativ adressierbar ist, gehört dazu, wer hingegen nicht anwesend ist, nimmt nicht am Interaktionssystem teil. Interaktionssysteme beruhen somit auf der Gegenwart sich gegenseitig wahrnehmender und kommunikativ verbundener Beteiligter (vgl. Luhmann 2002: 102f.). In gleicher Weise wie die Systemebenen Organisation und Gesellschaft stellt auch Interaktion ein selbstreferentielles System dar, das ausschließlich aus Kommunikation besteht und sich nur auf die Kommunikation im gleichen System beziehen kann (vgl. ebd.). Während sich jedoch in Organisationen eine Formalisierung von Kommunikation beobachten lässt, zeigt die Systemebene Interaktion diese nicht (vgl. Kuper 2008: 260). So weist Kuper darauf hin, dass die Kommunikation im Interaktionssystem von den jeweils Anwesenden abhängig ist und durch ihre Themensetzungen in spontanen Verläufen geprägt wird, wohingegen im System der Organisation »Regeln des Verhaltens zum Thema einer reflexiven Kommunikation« (ebd.) werden, indem »vorausgehende und nachfolgende kommunikative Ereignisse« (ebd.) thematisiert und »durch die Formulierung von Prämissen auf sie Bezug« (ebd.) genommen wird. Beispielhaft für das System Interaktion benennt Luhmann u.a. »das gemeinsame Mittagessen in der Familie (nicht die Familie selbst), die einzelne Kabinettsitzung (nicht die Regierung als solche) [oder] das Schlangestehen an der Theaterkasse« (Luhmann 1975: 11). Auch der Schulunterricht ist dem sozialen System der Interaktion zuzuordnen. Die Interaktion findet i.d.R. in nicht öffentlich zugänglichen Räumen statt und wird durch die gemeinsame Anwesenheit von Lehrkräften sowie Schüler:innen strukturiert (vgl. Luhmann 2002: 105ff.). Während zentrale Interaktionen in Organisationen in Entscheidungsstrukturen eingebunden sind, lässt sich mit Blick auf die Organisation Schule feststellen, dass die für das Ziel der Erziehung zentrale Instanz des Interaktionssystems Unterricht »gegenüber der Struktur der Organisation Schule eine in hohem Maße eigenständige Ordnung aus[bildet].« (Kuper 2008: 262f.) Durch die organisatorische Festlegung und Sicherung von möglichst einheitlichen Rahmenbedingungen, wie der Entscheidung über Curricula und Stundenpläne, der Bereitstellung von Ressourcen in Form von Ausstattung der Schulen und Klassen mit personellen und sächlichen Ressourcen und der Unterscheidung von Schultypen ermöglicht die Organisation Schule Unterrichtsinteraktionen, gleichzeitig bleibt das Erziehungssystem damit aber auf

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der Ebene der Interaktion autonom (vgl. Luhmann 2002: 131; s. hierzu auch Vanderstraeten 2006: 104; Kuper 2008: 262f.). Indem die Unterrichtsinteraktion weder vom Lehrer:innenhandeln, noch von der Organisation Schule gesteuert werden kann, stellt die Organisation Schule organisationstheoretisch einen Sonderfall dar. So hält Luhmann mit Blick auf die Unterrichtsinteraktion fest, dass eine direkte Einflussnahme oder Steuerung »sei es im Sinne eines Zweckprogramms als Auswahl von Mitteln für bestimmte Zwecke, sei es im Sinne eines Konditionalprogramms im Sinne des Schemas wenn/dann« (Luhmann 2002: 161) durch die Organisation Schule nicht möglich ist (vgl. ebd.: 160f.). Aber nicht nur die Organisation Schule hat keine Durchgriffsmöglichkeiten auf die Unterrichtsinteraktion. Auch die Lehrkräfte können – trotz ihrer »strukturell[…] garantierte[n] Überlegenheit« (ebd.: 108) – zwar u.a. Themen des Unterrichts beeinflussen, sie können aber dennoch nicht das Interaktionssystem selbst steuern. So wird »[a]lles, was der Lehrer im Unterricht aufgrund seiner Planung tut, […] von anderen Teilnehmern beobachtet, diese Beobachtung löst Reaktionen aus, die im voraus nicht geplant werden können. Der Unterschied von Operation und Beobachtung ist fundamental, er stellt sich immer wieder neu her und läßt sich durch keine wie auch immer geartete Konvention beseitigen. Jede Präzisierung eröffnet die Möglichkeit, sich entgegengesetzt zu verhalten.« (Luhmann 2004b: 18) Mit Blick auf den Unterricht weist Vanderstraeten aber darauf hin, dass diese Interaktion sich dennoch an »spezifische Regeln« (Vanderstraeten 2006: 101, Herv. im Original) halten müsse, um für das Erziehungssystem bearbeitbar bzw. nutzbar zu sein. So kann von einer »›grammar of schooling‹, d.h. relativ stabilen Regeln, die das Interaktionssystem Unterricht kennzeichnen« (ebd., Herv. im Original), gesprochen werden. Zu diesen spezifischen Regeln gehört u.a. die Rollendifferenzierung Lehrer:in/Schüler:in, die in besonderer Weise die Unterrichtsinteraktion prägt. So werden Schüler:innen und Lehrkräfte gewissermaßen unfreiwillig einander zugewiesen; einer Lehrkraft stehen i.d.R. zwanzig bis dreißig Schüler:innen gegenüber; die Lehrer:innen haben die Aufgabe, die Schüler:innen zu erziehen (und nicht andersherum); die Lehrkraft erhält mehr Redezeit und hat ein höheres Bestimmungsrecht als die Schüler:innen und die Kommunikation ist auf curriculare Inhalte konzentriert (vgl. Luhmann/Schorr 1988: 54, 115ff.; Luhmann 2002: 108; s. hierzu auch Vanderstraeten 2006: 101f.).   Neben diesen spezifischen Merkmalen des Interaktionssystems Unterricht in der Organisation Schule weisen Luhmann sowie Luhmann und Schorr auf ein mit diesen Besonderheiten zusammenhängendes Problem hin: Da Individuen keine »Trivialmaschinen [sind, J.J.], die, wenn man den richtigen Input gibt, die gewünschten Resultate liefern« (Luhmann 2002: 157), ist es im Interaktionssystem Unterricht nicht möglich, die Art der Verarbeitung und das Ergebnis dieser Verarbeitung der durch die Lehrkraft bereitgestellten Inhalte durch die Schüler:innen zu kontrollieren (vgl. ebd.). Entsprechend ist Wissensvermittlung im Unterricht »ein riskantes, mit doppelter Kontingenz belastetes Unternehmen, das seine Wirkungen nicht kausal zu kontrollieren vermag«

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(Radtke 2010: 146f.).23 Dieses Problem, wonach auch mit der organisatorischen Absicherung (möglichst einheitlicher) struktureller Bedingungen für die Unterrichtsinteraktion letztendlich nicht geklärt werden kann, welches Lehrer:innenhandeln und welches Verhalten zu welchen Lernergebnissen führen, wird von Luhmann und Schorr als »Technologiedefizit« (Luhmann/Schorr 1982: 120) beschrieben. »Was interessiert, sind die strukturellen Bedingungen und die strukturellen Konsequenzen einer unzureichenden Technologie [des Unterrichts, J.J.], und darunter vor allem: daß eine auf Metaebenen nicht behebbare Unsicherheit darüber besteht, ob falsch oder richtig gehandelt worden ist.« (Ebd.) Behoben wird dieses ›Technologiedefizit‹ in der Organisation Schule, so führen die beiden Autoren aus, durch Selektionsoperationen in Form von besser/schlechter, da, »[w]enn man die Wirkungen nicht in der Hand hat, muß man selektieren je nachdem, ob sie eingetreten sind oder nicht.« (Luhmann/Schorr 1988: 11). Emmerich und Hormel argumentieren nun, dass sich das von Luhmann und Schorr als Technologiedefizit beschriebene Problem als »strukturelles Beobachtungsdefizit reformulieren« (Emmerich/Hormel 2015: 237) lässt. Dieses ergibt sich dadurch, dass im Nachhinein nicht überprüft werden kann, inwiefern gute und schlechte Schulleistungen durch das Lehrer:innenhandeln, durch die Schüler:innen oder weitere Einflussfaktoren hervorgerufen werden, gleichzeitig von der Organisation Schule jedoch angenommen wird, dass schulische Differenzierungen in gute/schlechte Schüler:innen nach dem meritokratischen Prinzip, d.h. einer »sachlich richtigen Beobachtung erbrachter Leistungen und deren Zuschreibung auf die einzelnen SchülerInnen« (ebd.) erfolge (vgl. Emmerich/Hormel 2013a: 86). Zur Lösung dieses Technologie- bzw. Beobachtungsdefizits greife das Erziehungssystem auf ›Klassifikation‹ und ›Askription‹ zurück (vgl. ebd.: 82ff.).24 In diesem Zuge »erhalten soziale Differenzen wie ›soziale Herkunft‹ oder ›Migrationshintergrund‹ in der Erziehungskommunikation Relevanz, wenn aus diesen pädagogische – und selektionsrelevante – Sachverhalte und Problematisierungen abgeleitet werden können. Derart zur Sichtbarkeit gebrachte ›differenzielle Lernvoraussetzungen‹ stellen eine im System produzierte Realität dar.« (Emmerich/Hormel 2013b: 145f.) Kopplung von Interaktion und Organisation Welche Implikationen diese Annahme hinsichtlich einer theoretischen Beschreibung der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem der Migrationsgesellschaft hat, wird im Folgenden näher betrachtet. Zunächst soll jedoch noch einmal ein genauerer Blick auf die »Doppelstruktur von Organisation und Interaktion als Modi schulischer Kommunikation« (Emmerich/Hormel 2015: 236, Herv. im Original) geworfen werden, die zum einen darin besteht, dass das Interaktionssystem Unterricht durch die Organisation Schule überhaupt ermöglicht wird und zum anderen die Interaktion autonom von

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Siehe zur Entwicklung und Bearbeitung von Kontingenz im Erziehungssystem auch Luhmann und Schorr (1988: 58ff.). Siehe hierzu Kapitel 2.3.2.3.

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der Organisation stattfinde, was ein starkes Zusammenspiel und wechselseitige Abhängigkeit der Ebenen Interaktion und Organisation bzw. zu Kopplungen zwischen den Ebenen erzeugt (vgl. Luhmann 2002: 164; Vanderstraeten 2006: 107).   Im Hinblick auf die Frage, wie in sozialen Systemen Komplexität, die durch die Ausdifferenzierung und die »funktionale[…] Autonomie der Teilsysteme« (Luhmann 1987b: 35) Gesellschaft, Organisation und Interaktion erzeugt wird, reduziert werden kann, nimmt Luhmann Bezug auf Weicks (1976) verhaltenstheoretische und sozialkonstruktivistische Organisationstheorie (vgl. Luhmann 2000: 222ff.). Die Überlegungen Luhmanns können an dieser Stelle nicht ausführlich erörtert werden, es scheint diesbezüglich – sowie in Bezug auf weitere Autor:innen wie Gomolla und Radtke (2002) oder Emmerich und Hormel (2013a), welche ebenso auf Weick rekurrieren – aber sinnvoll, in groben Zügen die von Weick entwickelte Theorie zu skizzieren und auf zwei für die vorliegende Arbeit wichtige Theoriedispositionen hinzuweisen. Weick betrachtet das Zusammenspiel der Kommunikationssysteme Organisation und Interaktion und beschreibt die Organisation Schule als »loosely coupled system« (Weick 1976). Mit Blick auf die Organisation Schule stellt Weick dabei zunächst die grundsätzliche Frage, warum »despite variations in class size, format, locations, and architecture, the results are still recognized and can be labeled ›schools‹. How can such loose assemblages retain sufficient similarity and permanence across time that they can be recognized, labeled, and dealt with?« (Ebd.: 2) Mit dem Konzept der losen Kopplung richtet Weick das Augenmerk auf die Frage, wie komplexe Organisationen wie die Organisation Schule, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie aus lose gekoppelten Elementen, wie einer losen Kopplung zwischen Organisation und Interaktion, bestehen, dennoch eine gewisse Beharrlichkeit aufweisen. Die Organisation Schule ist, so Weick, durch lose und feste Kopplungen gekennzeichnet. Als feste Kopplung können bspw. klar vereinbarte Regeln für eindeutig zu umreißende Aufgabenbereiche beschrieben werden, deren Einhaltung überprüft und deren Ergebnisse evaluiert werden können. Bezogen auf die Organisation Schule nennt Weick das Beispiel des täglichen Bustransfers von Schüler:innen zur Schule, für den eindeutige Regelungen, wie der Transport ablaufen soll, festgehalten werden können und dessen reibungsloser Ablauf überprüft und ggf. in Absprache mit den beteiligten Individuen (Fahrer:innen, Eltern, Mechaniker:innen etc.) angepasst werden kann (vgl. Weick 1982: 674). Demgegenüber liegt eine lose Kopplung vor, wenn zwei Systeme wie Unterrichtsinteraktion und die Organisation Schule, in der der Unterricht stattfindet, nur schwach miteinander verbunden sind. »Praktisch bedeutet lose Kopplung, daß, wenn eine der Variablen gestört ist, die Störung eher begrenzt bleiben als sich verzweigen wird […]. Oder wenn sie sich verzweigt, wird sie lange brauchen, bis sie die anderen Variablen beeinflußt, und/oder die Auswirkungen werden gering sein.« (Weick 1995: 163) Neben dem Hinweis, dass Organisationen als lose gekoppelte Systeme beschrieben werden können, die durch die lose Kopplung von Organisation und Interaktion Komplexität

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reduzieren und dadurch handlungsfähig bleiben können, führt Weick einen zweiten, für die weiteren Überlegungen relevanten Aspekt aus. So weist er darauf hin, dass lose Kopplung sich auch darin ausdrücken kann, dass Entscheidungen und die Resultate der Entscheidungen unkontrolliert gelassen werden, es in der Darstellung der Entscheidungen aber dennoch zum »making sense»› (Weick 1976: 13) kommt. Es zeige sich, hält Weick fest, dass unter den Bedingungen lose gekoppelter Systeme deutliche Anstrengungen der Mitglieder auszumachen seien, (entgegen der Mehrdeutigkeit der losen Kopplung) eine soziale Realität zu erzeugen, in der die lose gekoppelten Elemente – wie Entscheidungen und das Resultat von Entscheidungen – sinnvoll in Bezug zueinander gestellt werden. Getroffene Entscheidungen werden in Organisationen also erst retrospektiv mit Sinn ausgestattet (vgl. ebd.). Die Organisation Schule gewinnt, so kann abschließend in Anknüpfung an Kuper festgehalten werden, ihre Bedeutung »vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Funktion von Erziehung […]. Sie gewährleistet Regelungen der Inklusion in pädagogische Interaktion; auf der Ebene der Organisation werden Entscheidungen über thematische Ausrichtungen der Interaktion und Bewertungen von Leistungen getroffen, die aus der Interaktion selbst nicht gefällt werden können; Organisation sorgt letztlich für den Aufbau von Karrieremustern, die Übergänge im Schulsystem bzw. vom Schulsystem in die Gesellschaft regulieren. Die Organisation bildet damit ein Systemgedächtnis mit großer Distanz zu faktischem Geschehen in der Interaktion. Gleichzeitig können viele der Ereignisse, die in der Interaktion im Hinblick auf Erziehung von Bedeutung sind, nicht in das Systemgedächtnis der Organisation übernommen werden.« (Kuper 2006: 184)

2.3.2.3

Wissensressourcen, Klassifikation und Askriptionen als Diskriminierungsoptionen der Organisation Schule

Bezug nehmend auf Gomolla und Radtke (2002) sowie Emmerich und Hormel (u.a. 2013a, 2013b, 2015) erfolgt nun eine Konkretisierung der Theorie institutioneller Diskriminierung im Hinblick auf die Frage, welche Bedeutung Wissensressourcen und Klassifikationen/Askriptionen als Diskriminierungsoptionen der Organisation Schule besitzen. Wissens- und Deutungsressourcen Wie Vertreter:innen der Theorien des institutionellen Rassismus und der institutionellen Diskriminierung herausgearbeitet haben, scheint es für die Analyse der (Re-)Produktion von sozialer Ungleichheit sinnvoll zu sein, die Bedeutung von Wissens- und Deutungsressourcen für das Handeln von Mitgliedern in Organisationen näher zu betrachten (vgl. u.a. Bommes/Radtke 1993; Diehm/Radtke 1999; Gomolla/Radtke 2002; Tourse et al. 2018). In ihrer Studie zur institutionellen Diskriminierung im Erziehungssystem nehmen Gomolla und Radtke Entscheidungsprozesse in der Organisation Schule in den Blick. Dabei geht es ihnen jedoch weniger darum, zu rekonstruieren, warum Entscheidungen in einer bestimmten Weise getroffen werden, als vielmehr darum, wie bereits getroffene Entscheidungen nachträglich von Organisationsmitgliedern plausibilisiert werden.

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Besondere Relevanz für die post festum erfolgende Ausstattung von Entscheidungen mit Sinn wird dem institutionellen Wissen in einer Organisation zugeschrieben (vgl. Gomolla/Radtke 2002: 77). Anders als in Luhmanns Theorieperspektive, die ohne einen Institutionenbegriff auskommt (vgl. Tacke/Lukas 2019: 496), richten Gomolla und Radtke ihren Fokus auf institutionalisierte Wissensbestände in der Organisation Schule und stellen die Frage, wie Entscheidungen mit Rückgriff auf diese Wissensbestände begründet und legitimiert werden. Sie folgen dabei neo-institutionalistischen Organisationstheorien (vgl. Gomolla/Radtke 2002: 77) und knüpfen an Weicks Konzept des ›sensemaking‹ in Organisationen an (vgl. ebd.: 74). Gomolla und Radtke gehen davon aus, dass von Organisationsmitgliedern getroffene Entscheidungen so mit Sinn ausgestattet werden, dass die Entscheidungen nach innen wie auch nach außen darstellbar werden. »Es handelt sich dabei um kollektiv erwirtschaftete, routinisierte Formen der Bewältigung der Praxis, in die Erfahrung unter Umständen von Generationen von Organisationsmitgliedern eingewandert sind. Diese Handlungsschemata enthalten implizites Wissen, das den Handelnden, die sich der Schemata und Muster bedienen, durchaus nicht verfügbar sein muß.« (Ebd.: 75) Dabei sei es jedoch nicht so, halten Gomolla und Radtke fest, dass institutionalisierte Deutungsressourcen die Organisation vollständig durchdringen und steuern. Vielmehr wird im Prozess des Organisierens auf diese nur dann zurückgegriffen, wenn sie funktional für die Entscheidungen der Organisation sind. Insofern sei von einem »Vorrang der organisationellen Logik« (ebd.: 257) auszugehen und festzustellen, dass die Organisation Schule »institutionelle Erwartungen/Ordnungen aus der Umwelt zum Thema Migration [eigenrational, J.J.] für ihre Ziele in Anspruch« (ebd.) nimmt. Entsprechend dieser theoretischen Perspektive beleuchten Gomolla und Radtke, nach welchen Kriterien in der Organisation Schule Bezug auf welche Klassifikationen genommen wird. Hinsichtlich der Frage, wie ›Leistungskriterien‹ oder ›askriptive Merkmale‹ zur Grundlage von organisatorischen Entscheidungen werden, referieren sie u.a. auf die sozial-konstruktivistische Arbeit von Cicourel und Kitsuse (2012 [1968]), die sich mit der Bedeutung klassifikatorischer Praktiken in Form »soziale[r] Typisierung« (ebd.: 140) von Jugendlichen in der Organisation Schule befasst (vgl. ebd.). Cicourel. Und Kitsuse führen aus, dass die Frage, wie Schüler:innen typisiert und anschließend klassifiziert werden, von den »Interpretationsregeln [abhängig sind, J.J.], die vom Personal in den alltäglichen Aktivitäten für die Bewertung der beobachteten und klassifizierten Verhaltenselemente eingesetzt werden« (ebd.: 147). Auf Grundlage dieser Regeln, so die Autor:innen, werde bestimmt, welches Verhalten von Schüler:innen bspw. als abweichend oder konform zur Organisation beurteilt wird und welche weiteren Organisationsmaßnahmen an diese Beobachtung geknüpft werden (vgl. ebd.: 146). Hinsichtlich der ›Interpretationsregeln‹ weisen Cicourel und Kitsuse darauf hin, dass diese nicht allein durch schulinterne Kriterien geprägt seien, sondern darüber hinaus gleichfalls durch schulexterne Aspekte beeinflusst werden könnten (vgl. ebd.: 140). So werden für die Beurteilung von möglichen zukünftigen Bildungskarrieren nicht nur Leistungsbeurteilungen herangezogen, sondern bspw. auch der soziale Status der Familie der:des Schülers:in, seine:ihre Kleidung oder seine:ihre Art zu sprechen (vgl. ebd.: 142ff.). Neben schulinternen Kriterien spielten also in der Organisation Schule, so Ci-

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courel und Kitsuse, auch bereits in der Gesellschaft verankerte Interpretationsregeln eine Rolle, die sich u.a. auf Annahmen hinsichtlich sozio-ökonomischer Familienhintergründe oder sozialer Milieus beziehen. Den Überlegungen Cicourel und Kitsuse folgend, wäre, so Gomolla und Radtke, zu analysieren, wie Lehrkräfte in der Organisation Schule auf der Grundlage welcher Wissens- und Deutungsressourcen Schüler:innen beurteilen. Als relevante Deutungsressourcen im Hinblick auf die Beurteilung von Schüler:innen mit sogenanntem ›Migrationshintergrund‹ machen Gomolla und Radtke – und hier unterscheiden sie sich u.a. von Cicourel und Kituse, die explizit auch Zuschreibungen hinsichtlich sozio-ökonomischer Hintergründe von Familien in den Blick nehmen – ›Ethnizität‹ und ›Kultur‹ aus, welche zu einer Typisierung und Klassifizierung der Schüler:innen beitrage (vgl. Gomolla/Radtke 2002: 57). Relevant werde diese Klassifizierung der Schüler:innen insbesondere dann, wenn auf diese regelmäßig zurückgegriffen wird und dadurch eine Benachteiligung der Schüler:innen entsteht, welche als institutionalisierte Diskriminierung beschrieben werden müsse (vgl. ebd.). Als Beispiel für einen für die Organisation Schule funktionalen Rückgriff auf eine in der Gesellschaft verankerte Deutungsressource beleuchten die Autor:innen u.a. die Kategorie ›Sprachanfänger:in‹: So führen sie aus, dass ein relevantes Mitgliedschaftskriterium der Organisation Schule zwar das Beherrschen der deutschen Sprache darstellt, Schüler:innen ohne ausreichende Deutschkenntnisse jedoch aufgrund der Vollinklusion aller schulpflichtigen Schüler:innen auf Grundlage des gesetzlich verankerten Rechts auf Bildung nicht grundsätzlich abgewiesen werden können. Infolgedessen könne empirisch beobachtet werden, dass – wenn keine entsprechenden Lösungen (wie bspw. die Möglichkeit der Beschulung der Schüler:innen in einer Vorbereitungsklasse) vorhanden sind – eine Transformation des als ›Problem‹ von Lehrkräften ausgemachten Kriteriums ›Sprachanfänger:in‹ stattfindet: So werden ›Sprachprobleme‹ als ›Entwicklungsrückstände‹ umgedeutet und auf dieser Grundlage sonderpädagogische Förderverfahren begründet (vgl. ebd.: 261). Dabei beruhe ein solches Verfahren darauf, dass »interne Unterscheidungen, die der Eigenrationalität und Pragmatik der Schule folgen, auf externe Unterscheidungen gestützt werden, die zur institutionellen Logik gesellschaftlicher Diskurse und tradierter Ordnungen gehören.« (Ebd.: 265) Institutionelle Diskriminierung kann hieran anknüpfend, halten Gomolla und Radtke fest, durch die »Analyse der engen Verknüpfung von Belohnungsdistribution und Organisationszwecken« (ebd.: 43) erfasst werden. Dabei könnten »[f]ür die Aufgabenerfüllung und die Bestandsinteressen von Organisationen […] askriptive Merkmale der Klientinnen ebenso funktional sein, wie Leistungskriterien, die Ansprüche begründen.« (Ebd.) Mit Gomolla und Radtke wird die Theorie institutioneller Diskriminierung auf ein analytisch tragfähiges Konzept von Schule als Organisation gestellt, ohne dabei die für die Theorie relevante Perspektive direkter und indirekter institutionalisierter Diskriminierungen zu vernachlässigen. Deutlich wird die Relevanz diskriminierungsbezogener interner und externer Unterscheidungen als Wissens- und Deutungsressourcen für die Bearbeitung von Aufgaben- und Problembeschreibungen der Organisation Schule

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herausgearbeitet. Besondere Bedeutung wird dabei auf ethnisierende und kulturalisierende institutionalisierte Wissensbestände gelegt, die in Entscheidungspraxen relevant gemacht werden. Klassifikationen Mit Hormel (2007) bzw. Emmerich und Hormel (u.a. 2013a, 2013b, 2015) wäre mit Blick auf die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem der Migrationsgesellschaft nicht von vornherein zu entscheiden, auf Grundlage welcher Deutungsressourcen Klassifikationen (und Askriptionen) in der Organisation Schule und dem Interaktionssystem Unterricht relevant werden. Während Gomolla und Radtke ein Augenmerk auf die Inanspruchnahme von ethnisierenden und kulturalisierenden institutionalisierten Wissensbeständen legen, plädiert Hormel dafür, zunächst »zu überprüfen, entlang welcher Kategorisierungen und Typisierungen Unterscheidungsoperationen als Benachteiligungen wirksam werden.« (Hormel 2007: 131) D.h. ohne vorherige Festlegungen zu untersuchen, welche Bezugnahmen – auch jenseits von ›Ethnie‹ und ›Kultur‹ – zutage treten. So sei davon auszugehen, dass in der Organisation Schule nicht nur ethnisierende oder kulturalisierende Wissensbestände, sondern darüber hinaus bspw. ebenfalls sozio-ökonomische Annahmen zum familiären Hintergrund von Bedeutung seien (vgl. ebd.: 132). Durch eine in solcher Weise ergebnisoffene Analyse kann zunächst danach gefragt werden, wie Schüler:innen in der Organisation Schule klassifiziert werden, bzw. auf welche Kategorien Bezug genommen wird, die die Grundlage einer auf Dauer gestellte ungleichheitsrelevante Adressierung darstellen können. Es wäre also, so halten Emmerich und Hormel fest, vor einer empirischen Untersuchung nicht zu bestimmen, inwiefern ethnisierende, kulturalisierende, rassistische oder bspw. sozioökonomische Zuschreibung eine Rolle spielten (vgl. Emmerich/Hormel 2013a: 70). Emmerich und Hormel nehmen eine theoretische Fundierung hinsichtlich der im Kontext der (Re-)Produktion von sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem bedeutsamen Klassifikationen und Askriptionen vor. Die Autor:innen knüpfen dabei an systemtheoretisch fundierte organisationstheoretische Perspektiven an und plausibilisieren, dass, ausgehend von der Funktion der Organisation Schule, leistungsbezogene Selektionsentscheidungen treffen zu müssen (vgl. Luhmann/Schorr 1988: 11), eine »Suche nach Anhaltspunkten motiviert [wird, J.J.], um ›Abweichungen‹ sichtbar machen [zu können, J.J.] und in der pädagogischen Kommunikation zur differenziellen Adressierung von SchülerInnen nutzen zu können.« (Emmerich/Hormel 2013a: 75) Dabei würden ›Abweichungen‹ erst vor der Hintergrundfolie von spezifischen Normalitätserwartungen sichtbar (vgl. ebd.: 81), die sich u.a. auf »personenbezogene Differenzkonstruktionen« (ebd.) beziehen. In der Organisation Schule finden entsprechend Beobachtungsoperationen statt, die auf Klassifikationen rekurrieren, um das Problem zu bearbeiten, wie Selektionsentscheidungen getroffen werden können (vgl. ebd.: 84ff.).   Grundsätzlich werden Individuen in Funktionssysteme, Organisationen und Interaktionen inkludiert, indem sie kommunikativ in Anspruch genommen und als relevant für weitere Kommunikationen befunden werden, oder exkludiert, indem sie kommunikativ nicht adressiert und für das Fortbestehen der Kommunikation als irrelevant

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erachtet werden (vgl. Bommes 1999: 44; Stichweh 2009a: 30). Wenn es zu einer Stabilisierung dieser Kommunikationsformen kommt und Individuen oder Gruppen dadurch dauerhaft oder über einen längeren Zeitraum hinweg Irrelevanz zugeschrieben wird, können »Exklusionsbereiche« (Bommes 1999: 165) erzeugt werden und strukturierte soziale Ungleichheiten entstehen (vgl. ebd.; Emmerich/Hormel 2013a: 71). Beispielhaft führt Emmerich (2016) dies an der Kategorie ›lernbehindert‹ in der Organisation Schule aus: Schüler:innen können im Zuge dieser organisationsinternen Beobachtungsoperation – die auf einer Unterscheidung ›Lernbehindert‹/›Regelschüler‹ beruht – eine Lernzielbefreiung erhalten, d.h. sie müssen am Ende einer Klassenstufe nicht vorweisen, dass sie die im ›Regelfall‹ zur Versetzung benötigten Inhalte der Jahrgangsstufe erlernt haben. Mit der Lernzielbefreiung werden die entsprechenden Schüler:innen daraufhin kommunikativ in einer spezifischen Weise – und zwar anders als ›Regelschüler‹ – eingebunden (vgl. Emmerich 2016: 49). So würden sie im Weiteren »kommunikativ [nur noch, J.J.] als ›förderbedürftig‹ berücksichtigt (Inklusion), nicht aber z.B. als ›leistungsstark‹ oder ›begabt‹ (Exklusion).« (Ebd.) Die Inklusion als Schüler:in in die Organisation Schule erfolgt dann also über einen sonderpädagogischen Status und der entsprechenden Adressierung, mit der gleichzeitig (bei Vorliegen einer Lernzielbefreiung) eine Exklusion aus den auf den ›Leistungsvergleich‹ mit Individuen der gleichen Jahrgangsklasse beruhenden Selektionsoperationen verbunden ist (vgl. ebd.). Diese ungleiche Adressierung bzw. die Inklusion über einen sonderpädagogischen Status führt dazu, dass die davon betroffenen Schüler:innen beim Verlassen der Organisation Schule mit einem sonderpädagogischen Zeugnis ausgestattet werden, welches als relevantes Ereignis im Lebenslauf/der Karriere den Zugang zu bspw. Organisationen des Wirtschaftssystems (negativ) prädisponiert. Es scheint entsprechend von Relevanz zu sein, genauer zu untersuchen, wie Schüler:innen in der Organisation Schule jeweils kommunikativ (nicht) in Anspruch genommen werden und welche potenziellen ungleichheitsrelevanten Folgen diese kommunikative Inanspruchnahme hat. In Anschluss an die Überlegungen von Emmerich und Hormel, sowie im Hinblick auf das oben genannte Beispiel, kann festgehalten werden, dass an die Unterscheidung von Schüler:innen ungleiche Adressierungen anknüpfen, die Inklusionen und Exklusionen innerhalb des Inklusionsbereichs der Organisation Schule sowie des Interaktionssystems Unterricht erzeugen. So beobachten Systeme, »indem sie eigenselektiv Unterscheidung und Bezeichnung zu festen kommunikativen Formen koppeln« (Emmerich/ Hormel 2013a: 82, Herv. im Original). Emmerich und Hormel fassen die hier deutlich werdende »Doppeloperation« mit dem Begriffspaar der »Klassifikation/Askription« (ebd.). Durch die Kopplung von (1) Klassifikationen – d.h. der (kategorialen) Unterscheidungen von Individuen – und (2) Askriptionen – d.h. der Bezeichnungen von Individuen auf der Grundlage von Klassifikationen – entstünden zeitlich dauerhafte Inklusions- und Exklusionsprozesse in Organisationen, die für die Etablierung beharrlicher gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen relevant scheinen (vgl. ebd.: 72, 84). Durch die enge Verknüpfung von Klassifikation und Askription (›Doppeloperation‹) ließen sich diese »nur analytisch dekomponieren« (ebd.: 82). Die von den Autor:innen plausibilisierte theoretische Perspektive wird im Folgenden näher betrachtet, bevor abschließend auf das Zusammenspiel von Klassifikation und Askription im Hinblick auf die Erzeugung sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem eingegangen wird.

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Kategoriale und graduelle Klassifikation Emmerich und Hormel greifen die organisationssoziologischen Arbeiten von Tilly auf, der argumentiert, dass insbesondere kategoriale Differenzierungen funktional für Organisationen sein können und dauerhafte gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen begründen (vgl. Emmerich/Hormel 2013a: 52ff.). Tilly geht der Frage nach, wie soziale Mechanismen wiederkehrend dazu beitragen, dass kategoriale Ungleichheiten manifestiert werden und beschreibt sein Vorhaben als Brückenschlag zwischen Max Weber und Karl Marx (vgl. Tilly 1999: 7). Tilly zielt mit seiner Arbeit auf eine Verknüpfung von Ungleichheits- und Diskriminierungstheorie und vertritt die These, dass »[l]arge, significant inequalities in advantages among human beings correspond mainly to categorical differences such as black/white, male/female, citizen/foreigner, or Muslim/Jew rather than individual differences in attributes, propensities, or performances.« (Ebd.) Tilly beschreibt also kategoriale – und nicht graduelle – Differenzierungen als essenziell für die Etablierung und Stabilisierung dauerhafter Ungleichheiten und Diskriminierungen in der Gesellschaft. Im Hinblick auf die Selbstreferenzialität von Organisationen führt Tilly aus, dass der Bezug auf kategoriale Klassifikationen Organisationen helfe, ihre internen Probleme zu lösen. Beispielhaft nennt Tilly die Unterscheidung zwischen Staatsbürger:in und Ausländer:in, welche organisationsintern insofern ›sinnvoll‹ erscheine, als diese Unterscheidung dazu dienen könne, »separating temporary from long-term employees, differentiating access to public benefits, managing rights to intervene in political processes, and so on« (ebd.: 12). Eine besondere Dauerhaftigkeit organisationsinterner Ungleichheitsstrukturen werde insbesondere dann erzeugt, wenn Klassifizierungen sich auf schon in der Gesellschaft verankerte Ungleichheitskategorien beziehen (vgl. ebd.: 11). Organisationsinterne Kategorien können also durch die Bezugnahme auf organisationsexterne, bereits gesellschaftlich etablierte Kategorien stabilisiert werden. Im Hinblick auf die Organisation Schule könnte es sich bei einer internen Kategorie um die bereits beispielhaft benannte Kategorie ›lernbehindert‹ handeln, die innerhalb der Organisation Schule Sinn erzeugt und unterschiedliche Positionen zuweist, außerhalb der Organisation aber keine Relevanz besitzt. Als externe Kategorien bezeichnet Tilly demgegenüber in der Gesamtgesellschaft etablierte kategoriale und asymmetrische Differenzierungen wie Schwarz/weiß oder Staatsbürger:in/ Ausländer:in (vgl. ebd.: 76f.), die für die so Bezeichneten diskriminierungsrelevant sind. Durch ein Matching (ebd.: 76ff.) interner Kategorien mit externen Kategorien, bspw. durch die Verknüpfung der externen Kategorie ›Ausländer‹ – an die in der Gesellschaft bereits eine ganze Reihe vermeintlichen ›Wissens‹ geknüpft ist – mit der internen Zuschreibung ›Lernbehindert‹, werden in der Gesellschaft bereits etablierte ungleichheitsrelevante Kategorien in die Organisationen hineingetragen und diskriminierungsrelevante Differenzierungen stabilisiert. Matching, so hält Tilly fest, »imports already established understandings, practices, and relations that lower the cost of maintaining the boundary. It borrows potent scripts and common knowledge.« (Ebd.: 76). Dabei entscheidet die Organisation aber nach eigenen rationalen Kriterien, welche Klassifikationen jeweils funktional sind. Warum in welchen Organisationen auf bestimmte externe

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Kategorien Bezug genommen wird, bliebe also zunächst offen, so halten Emmerich und Hormel fest. So »können zwar Organisationen als Ungleichheits-Operatoren erachtet werden, es lässt sich aber nicht anhand sozialstatistisch konturierter Ungleichheits-Kategorien auf die konkrete Askriptionspraxis von Organisationen schließen« (Emmerich/Hormel 2013a: 54f.). Ergänzend plausibilisieren Emmerich und Hormel, über den Ansatz von Tilly hinausgehend, dass Organisationen über eine »eigenständige Definitionsmacht« (ebd.: 57) hinsichtlich der Etablierung kategorialer Differenzierungen verfügten und nicht ausschließlich auf in der Umwelt der Organisation (d.h. in der Gesellschaft) bereits vorhandene Kategorien zurückgriffen. Als Beispiel hierfür wird die Klassifikation ›Gastarbeiter:innen‹ aufgeführt, welche zunächst nur innerhalb der Organisationen des Wirtschaftssystems (und, dies wäre zu ergänzen: des politischen Systems) als eine interne Kategorie zur Differenzierung von Statuspositionen Relevanz besaß. Im Laufe der Zeit lässt sich jedoch beobachten, dass die Klassifikation ›Gastarbeiter:innen‹ in anderen Funktionssystemen und Organisationen – wie der Schule, dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt – diskriminierungsrelevant wurde. Hieraus kann geschlossen werden, dass interne Klassifikationen neue Klassifikationsoptionen in anderen gesellschaftlichen Bereichen erzeugen können (vgl. ebd.: 56). Insofern seien es »Organisationen, die in der modernen Gesellschaft als eigensinnige Operatoren Ungleichheit erzeugende Klassifikationssysteme generieren und somit eine komplexe, global, national, regional und lokal differenzierte Phänomenologie sozialer Unterschiede mitkonstituieren. Sie treten damit als wirkmächtige, kategoriale Differenz erzeugende, jedoch eigensinnige Askripteure auf. Daraus lässt sich […] schließen, dass die komplexe Genese sozialer Ungleichheiten nicht aus Tableaus invarianter Strukturkategorien wie Geschlecht, Ethnizität oder Klasse/Schicht abgeleitet werden kann.« (Ebd.: 57, Herv. im Original) Mit dieser Perspektive kann also davon ausgegangen werden, dass sich in der Organisation Schule kein einheitlicher Zugriff auf bereits etablierte diskriminierende Klassifizierung (›externe Kategorien‹) ausmachen lässt und darüber hinaus im Auge behalten werden muss, dass Organisationen selbst interne ungleichheitsrelevante kategoriale Differenzierungen etablieren können.   Schließlich weisen Emmerich und Hormel auf einen weiteren Aspekt hin: So plausibilisieren die beiden Autor:innen mit Blick auf die Organisation Schule, dass Klassifikationen nicht nur in Gestalt von kategorialen Differenzierungen – im binären Sinne von entweder/oder, wie bspw. in Bezug auf die Unterscheidungen ›Lernbehindert‹/›Regelschüler‹, ›Migrationshintergrund‹/kein ›Migrationshintergrund‹ oder ›Mann‹/›Frau‹ – erfolgten, sondern auch in Form von graduellen Differenzierungen – im Sinne von mehr/weniger z.B. hinsichtlich Sprachkompetenz oder ›Begabung‹ – relevant gemacht werden könnten (vgl. ebd.: 25, 74ff.). Dabei schließen Emmerich und Hormel an klassifikatorische Ansätze von u.a. Berger (u.a. 1987, 2003) an, welcher »zwischen kategorial-exklusiven und graduell-quantitativen Semantiken« (Emmerich/Hormel

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2013a: 47) unterscheidet, sowie an Neckel und Sutterlüty (u.a. 2010), die an Berger anknüpfend kategoriale wie auch graduelle Klassifikationen in den Blick nehmen, unterziehen diese jedoch einer kritischen Diskussion. So führen Emmerich und Hormel (vgl. Emmerich/Hormel 2013a: 174f.) am Beispiel der Organisation Schule aus, dass Schüler:innen durch Lehrkräfte graduell nach organisationsinternen Kategorien beobachtet werden könnten, indem sie mit anderen Schüler:innen individuell im Hinblick auf ihre ›Leistungen‹, Motivation etc. verglichen werden. So kann ein:e Schüler:in bspw. etwas mehr oder weniger fleißig sein als ein:e andere:r Schüler:in. Dabei liegen in einer solchen Klassifikation Möglichkeiten potenzieller (gradueller) Veränderungen und Entwicklung. Gleichzeitig werden Schüler:innen in der Organisation Schule aber auch auf der Grundlage externer kategorialer Klassifikationen wie ›Geschlecht‹, ›Kultur‹, ›Ethnie‹ oder ›sozio-ökonomischer Hintergrund‹ unterschieden. Im Gegensatz zu graduellen Klassifikationen können an solche Gruppenkategorien »keine pädagogischen Entwicklungssemantiken angeschlossen werden, weil sie nicht Folge pädagogischer Kommunikation sind: Während Motivieren, Aufmerksamkeit erzeugen, Interesse wecken, Fleiß anregen usw. den Einfluss und die Verantwortung des pädagogischen Handelns sichtbar machen, klassifizieren derartige Gruppenmerkmale auch im pädagogischen Diskurs kategorial-exklusiv: Sie lassen sich nicht verändern. Soziale oder kulturelle ›Ungleichartigkeit‹ ist damit vor allem als Sachverhalt für die pädagogische Beobachtung ›real‹, die nach Möglichkeiten der Ungewissheitsabsorption und Erwartungsstabilisierung sucht.« (Ebd.: 174f., Herv. im Original) Auf was sich die Klassifikationen jeweils beziehen, ist, so wäre anzunehmen, jeweils von institutionalisierten Wissens- und Deutungsressourcen geprägt (vgl. ebd.: 83f.). Hier liegen also wiederum Anknüpfungspunkte zu Theorien institutioneller Diskriminierung vor. Askription Die Differenzierung zwischen ›Statusmerkmalen‹, welche Individuen entweder zugeschrieben (ascribed) oder durch diese erworbenen (achieved) werden25 , ist ein von Linton (1936) eingeführtes Konzept, welches in (soziologischen) Ungleichheitstheorien breit diskutiert und rezipiert wird.26

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Linton führt aus: »Ascribed statuses are those which are assigned to individuals without reference to their innate differences or abilities. They can be predicted and trained for from moment of birth. The achieved statuses are, as a minimum, those requiring special qualities, although they are not necessarily limited to these. They are not assigned to individuals from birth bur are left open to be filled through competition and individual effort. The majority of the statuses in all social systems are of the ascribed type and those which take care of the ordinary day-to-day business of living are partially always of this type.« (Ebd.: 115) So hält Müller bereits in den 1970er Jahren fest, dass die Unterscheidung von erworbenen und zugeschriebenen Merkmalen »von Talcott Parsons in erweiterter Form als pattern variable in seine Systemtheorie der Gesellschaft aufgenommen und von Autoren wie Smelser und Lipset (1966), Blau und Duncan (1967), Eisenstadt (1971) u.a. zur Charakterisierung der Art der Stratifikation einer Gesellschaft verwendet [wird]« (Müller 1975: 27).

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen

  Askribierte Statuspositionen werden Individuen also durch Geburt oder durch an bestimmte Erwartungen (bspw. wie sich ein ›Mädchen‹ zu verhalten habe) geknüpfte Sozialisation zugeschrieben, ohne dass diese von den Individuen ohne Weiteres negiert werden können. Als erlangte (achieved) Statuspositionen werden hingegen durch individuelle Anstrengungen erlangte Positionierungen in der Gesellschaft beschrieben (vgl. Linton 1936: 128). Obwohl askribierte Statuspositionen damit deutlich weniger als erlangte (›achieved‹) Statuspositionen den moralischen Ansprüchen einer auf Egalität und Meritokratie beruhenden modernen Gesellschaft entsprächen, hält Linton fest, dass ein Großteil der gesellschaftlichen Statuspositionen dennoch aufgrund askribierter Zuschreibungen eingenommen würde. Beispielhaft beschreibt Linton dies anhand von als askribiert zu beschreibenden ›Eigenschaften‹ von Männern und Frauen in verschiedenen Kulturen weltweit und den Auswirkungen dieser auf die Statuspositionen von Frauen in den jeweiligen Gesellschaften (vgl. ebd.: 116f.) oder in Hinblick auf die Bedeutung von ›race‹ hinsichtlich der zwar formal bestehenden gesellschaftlichen Möglichkeiten in den USA (bspw. in dieser Zeit als Schwarze Person Präsident:in zu werden), welche aber faktisch durch askribierte Statuspositionen verhindert werden (vgl. ebd.: 128f.). Emmerich und Hormel greifen die Unterscheidung ascribed/achieved auf, plausibilisieren aber, dass die Differenzierung (bzw. die wissenschaftliche Adaption von Lintons Theorieanlage in der soziologischen Ungleichheitsforschung) insofern problematisch sei, als dass die Reihe an diskriminierungsrelevanten zugeschriebenen (askribierten) Statusmerkmalen sich nicht – wie dies oftmals in Ungleichheitstheorien angenommen würde – ausschließlich auf phänotypisch konstruierte ›Merkmale‹ beziehe. Vielmehr könne davon ausgegangen werden, dass jegliche Merkmale Diskriminierungsrelevanz besitzen, wenn mit diesen die Zuschreibung von Gruppenzugehörigkeit einhergehe (vgl. Emmerich/Hormel 2013a: 31). Durch eine solchermaßen gefasste theoretische Perspektive ist, »die Idee des askriptiven Merkmals nicht länger an die Vorstellung seiner ›natürlichen‹ Sichtbarkeit geknüpft, sondern entnaturalisiert und konsequent als ein Vorgang der sozialen Konstitution von Sichtbarkeit im Prozess der Zuschreibung gefasst.« (Ebd.) Aus diesen Überlegungen leiten Emmerich und Hormel ab, dass es entsprechend der Betonung der sozialen Konstruktion von askriptiven ›Merkmalen‹ sinnvoll sei, »Askriptionen als Zuschreibungsakte[…]« (ebd.: 32) zu verhandeln und danach zu fragen, warum in Organisationen Askriptionen vorgenommen werden (vgl. ebd.: 33). So verfügen insbesondere Organisationen über »die Fähigkeit und Macht der Zuschreibung – Askription – von Kategorien auf Individuen« (ebd.: 14) und ihnen kommt somit in Hinblick auf die Erzeugung von sozialer Ungleichheit in der modernen Gesellschaft eine Schlüsselstellung zu. Emmerich und Hormel folgend ist es darüber hinaus sinnvoll, zwischen »individualistischen« (ebd.: 33) und »kollektivistischen Askriptionen« (ebd.) zu differenzieren. Mit Blick auf das Erziehungssystem und die Organisation Schule argumentieren sie, dass während ›individualistische Askriptionen‹, wie Schulnoten oder Zeugnisse, das Ergebnis von als legitim ausgewiesenen internen Entscheidungsprogrammen seien, deren ›Sinn‹ darin bestünde, »für legitime Ausschließung im Wettbewerb um Allokationschancen

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zu sorgen« (ebd.), kollektivistische Askriptionen, zu denen bspw. Zuschreibungen wie ›Migrant:in‹ oder ›sozial schwach‹ gezählt werden könnten, »gerade nicht als legitime Kriterien für Ausschließung [gelten], weil sie die bürgerlichen Werte der Gleichheit und Freiheit der Individuen, denen moderne Institutionen verpflichtet sind, unterlaufen.« (Ebd.). Mit Bezug auf Tilly ließe sich festhalten, so die Autor:innen, dass individualistische Askriptionen in der Organisation Schule also auf der Basis von internen Kategorien vorgenommen und entsprechend als ›legitim‹ verhandelt würden, während kollektivistische Askriptionen auf externen Kategorien beruhten und als ›illegitim‹ gelten. Für die empirische Ungleichheitsforschung sei es entsprechend aufschlussreich, wie die beiden Askriptionsmodi »verknüpft werden, sich überlagern oder auch ausschließen.« (Ebd.) Hinsichtlich der Erzeugung sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem schlagen Emmerich und Hormel vor, Askriptionen, die auf der Grundlage von Klassifikationen vollzogen werden, als »Nebenfolge der Bearbeitung systeminterner Probleme durch das Erziehungssystem« (ebd.: 69) zu analysieren. Dieser Annahme folgend wäre mit Blick auf das Erziehungssystem davon auszugehen, dass Klassifikationen und Askriptionen auf »Beobachtungsleistungen« (ebd.: 84) im System beruhen und lose oder fest miteinander gekoppelt werden können (vgl. ebd.). Wird nun das bereits skizzierte Technologiedefizit der Unterrichtsinteraktion in Rechnung gestellt, sei, so Emmerich und Hormel, davon auszugehen, dass in der Unterrichtsinteraktion kategoriale Differenzierungen eine Rolle spielen – auch wenn die Organisation Schule grundsätzlich alle Kinder und Jugendliche in einem bestimmten Alter inkludiert und die Organisation Schule damit grundsätzlich »gegenüber Askriptionen indifferent« (ebd.: 89) sei. So sei davon auszugehen, dass im Unterricht »mit den ersten Kontakten zwischen Lehrkräften und ihren Klassen der Beobachtungsmodus von Homogenität als verallgemeinerter Erwartungsstruktur beobachtungspraxeologisch auf die Sichtbarkeit ›kategorialer Heterogenität‹ umgestellt wird – mit dem Unterschied allerdings, dass entgegen der semantischen Selbstbeschreibung des Erziehungssystems kategoriale (askriptive) nicht von gradueller (leistungsbezogener) Heterogenität unterschieden werden kann, weil beide innerhalb des Systems und im Modus derselben Beobachtungsoperationen erster Ordnung erzeugt werden.« (Ebd.) Mit dem Theorieangebot folgend können Klassifikationen und Askriptionen in ihrem Zusammenspiel in der Organisation Schule und dem Interaktionssystem Unterricht vor dem Hintergrund ihrer Funktion für die sozialen Systeme analysiert werden. Dabei kann, anders als dies von Theorien des institutionellen Rassismus oder Theorien institutioneller Diskriminierung im Anschluss an Gomolla und Radtke nahegelegt wird, zunächst jedoch offen gehalten werden, welche externen (kollektivistischen) Klassifikationen (›Migration‹, ›Gender‹, ›Race‹, ›sozio-ökonomischer Status‹, ›Kultur‹, ›Ethnizität‹ o. ä.) in der Organisation Schule/dem Interaktionssystem Unterricht mit welchen internen (individualistischen) Klassifikationen (wie ›Leistung‹, Noten u. ä.) verknüpft und durch Askription sichtbar gemacht werden.

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen

2.4

Bildungsungleichheit als polykontexturales Phänomen

Soziologische Ungleichheitstheorien haben gemeinsam, dass sie soziale Ungleichheit als das Ergebnis von Verteilungskämpfen zwischen Individuen und Kollektiven konzipieren; alle weiteren sozialen Differenzierungen werden auf diese Probleme der Verteilung bezogen. Soziale Ungleichheit wird also als ein primäres Ordnungsprinzip der modernen Gesellschaft aufgefasst (vgl. Bommes 2001: 241). Eine differenzierungstheoretische Perspektive, die an Grundlagen der Systemtheorie nach Luhmann anknüpft, diese aber weiterentwickelt, wirft – wie in diesem Kapitel ausgearbeitet wurde – einen anderen Blick auf ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der modernen Gesellschaft. So wird davon ausgegangen, dass sich die »gesellschaftliche Bereitstellung von Inklusionschancen« (Bommes/Halfmann 1998: 23) auf andere Kriterien als Gleichheit/Ungleichheit und Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit bezieht und sich kein einheitliches Prinzip ausmachen lässt, auf welches sich Ausbeutungen und Unterdrückungen zurückführen lassen (vgl. ebd.). Vielmehr kommt es aufgrund der Ausdifferenzierung einer Vielzahl sozialer Systeme in der modernen Gesellschaft zu einer »Multiplikation von System/Umwelt-Differenzen« (Drepper 2003: 227f.) und damit »auf der Ebene ihrer Semantiken, Wissensformationen, Deutungsschemata, Symbol-, Weltdeutungsund Kausalitätsstrukturen […] zur Polykontexturalität« (Drepper 2003: 227f.). Dieser Aspekt ist für die Frage der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit insofern relevant, als soziale Ungleichheit dadurch jeweils »eine je systemspezifische Form annimmt und nach je systemtypischen Rationalitätsbedingungen erzeugt wird.« (Emmerich/Hormel 2013a: 69). Diese mit dem theoretischen Konzept der ›Polykontexturalität‹ verbundenen Annahmen hinsichtlich sozialer Ungleichheit werden nun abschließend mit Blick auf das vorliegende Forschungsprojekt konkretisiert.   Luhmann beschreibt die moderne Gesellschaft im Anschluss an Gotthard Günther als »polykontexturale Gesellschaft« (Luhmann 1992b: 666). Diese Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie »zahlreiche binäre Codes und von ihnen abhängige Programme bildet und überdies Kontextbildungen mit sehr verschiedenen Unterscheidungen (neuestens sogar wieder: Männer und Frauen) anfängt.« (Ebd.) Das, was in der Gesellschaft beobachtet werden kann und wie in der Gesellschaft beobachtet wird, ist entsprechend von der diesen Beobachtungen je vorangestellten Wahl des Kontextes – das heißt der den Beobachtungen zugrunde liegenden Unterscheidungen – abhängig (vgl. ebd.). Dabei bilden die jeweils (in den Funktionssystemen) gewählten Kontexte »Rejektionsgesichtspunkte für die Unterscheidungen anderer« (ebd.), d.h., dass Unterscheidungen anderer Kontexte (wie bspw. Unterscheidungen der Politik im Erziehungssystem) zwar wahrgenommen werden, jedoch offenbleibt, wie an diese angeknüpft wird (vgl. ebd.). Was mit dieser Perspektive »angeboten werden kann, ist eine rekursiv arrangierte Beobachtung des Beobachtens, ein Kontextieren von Kontexten, eine Unterscheidung von Unterscheidungen, also eine Kybernetik des Beobachtens zweiter Ordnung. Darauf kann eine erkenntnistheo-

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

retische Reflexion sich einlassen – zum Beispiel: indem sie sich von Was-Fragen auf Wie-Fragen umstellt.« (Ebd.: 668)27 Indem Luhmann die Gesellschaft in dieser Form, so Schimank, als »polykontexturalen Verdinglichungszusammenhang« (Schimank 2005: 51) begreift, können die »Konfigurationen« (ebd.) der Teilsysteme in den Fokus rücken.   Es wird erkennbar, dass Luhmann mit dem Begriff der Polykontexturalität auf eine höchst voraussetzungsvolle und komplexe Gesellschaftstheorie verweist, welche für die Frage nach der Erzeugung von Ungleichheit in der modernen Gesellschaft u.a. von Autor:innen wie Emmerich und Hormel oder Scherr theoretisch fruchtbar gemacht wird. Wie diese anspruchsvollen Theoriedispositionen für ein konkretes Forschungsfeld in Form eines praktischen Forschungsvorhabens übernommen werden können, stellt jedoch eine besondere Herausforderung dar. Denn »[w]as nun aus theoretischer Perspektive als Tugend erscheint, nämlich als angemessener Komplexitätsgrad der Beschreibung, der den Eigencharakter der jeweiligen Ebenen würdigt, wirkt […] aus Perspektive der empirischen Wissenschaften zunächst als methodologische Erschwernis. Man kann sich nun nicht mehr auf lineare, durch wenige Faktoren begrenzte Kausalitäten beschränken, sondern muss nun polykontexturale Verhältnisse in Rechnung stellen.« (Vogd 2005d: 113) Entsprechend ist es hinsichtlich des vorliegenden Forschungsprojekts sinnvoll, zu konkretisieren, was in dieser empirischen Arbeit (mit denen damit unweigerlich einhergehenden Einschränkungen) unter Kontexten, bzw. Kontexturen verstanden wird und welche Kontexte bei der Frage nach der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem in den Blick genommen werden (müssen).28   Polykontexturale Strukturbildungen in der modernen Gesellschaft beruhen grundsätzlich darauf, so führt Emmerich mit Bezug auf das Konzept der Polykontexturalität aus, dass »gesellschaftliche Phänomene immer zugleich ökonomisch, rechtlich, politisch, pädagogisch, moralisch usw. strukturiert sind, sich folglich empirisch immer ›überschneiden‹.« (Emmerich 2017: 109) Hinsichtlich der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit ist demnach davon auszugehen, dass diese innerhalb der unterschiedlichen Funktionssysteme, den Organisationen und Interaktionen als Folge der Wahl und Bear-

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Auf die hier bereits angedeuteten Implikationen für die Forschungspraxis wird im vierten Kapitel vertiefend eingegangen. An dieser Stelle kann nur eine eingeschränkte Auseinandersetzung mit den theoretisch höchst anspruchsvollen gesellschaftstheoretischen Prämissen der Polykontexturalität und den mit diesen verknüpften Annahmen hinsichtlich der Bedeutung von Kontexten und Kontexturen erfolgen. Ausführliche Auseinandersetzungen, in denen auch die verschiedenen Auslegungen und Anknüpfungspunkte der Theorie der Polykontexturalität erkennbar werden, finden bspw. bei Vogd (2011), Nassehi und Saake (2002), Hartung-Beck und Muslic (2015). Außerdem finden sich Theoretisierungen der Perspektive in Hinblick auf die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem bei Emmerich und Hormel (u.a. 2013a).

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen

beitung jeweils unterschiedlicher Kontexte systemspezifisch hergestellt werden. Dieser Perspektive folgend wäre soziale Ungleichheit »nicht als ein einheitliches und systemübergreifendes Moment der Verteilung von Zugangschancen zu gesellschaftlichen Ressourcen zu konzeptualisieren, sondern als ein polykontexturales Phänomen zu begreifen, dessen Genese jeweils systemrelativ zu analysieren wäre.« (Emmerich/Hormel 2013a: 64) Die Perspektive der ›Polykontexturalität‹ verweist also darauf, dass bei der Analyse sozialer Ungleichheiten im Erziehungssystem auch die Bearbeitung von Kontexten anderer Funktionssysteme in Form von relevant gemachten Unterscheidungen in den Blick genommen werden müssen. So ist es mit der Annahme, dass die moderne funktional differenzierte Migrationsgesellschaft als polykontextural beschrieben werden kann, erforderlich, »empirisch zu rekonstruieren, in welchen sozialen Kontexten welche diskriminierenden Unterscheidungen wie verwendet und relevant gesetzt werden sowie welche privilegierenden oder benachteiligenden Effekte dies jeweils nach sich zieht.« (Scherr 2010: 56) Bezogen auf die praktische Forschungsarbeit bedeute dies, so Scherr, »differenziert zu untersuchen, wie soziale Grenzziehungen, Benachteiligungen und Identitätszuschreibungen durch eine potenziell komplexe Verschränkung von [u.a., J.J.] sozioökonomischen Ungleichheiten mit formellen und informellen Teilnahmeregulierungen und Positionszuweisungen hervorgebracht und reproduziert werden sowie welche Bedeutung dabei diskriminierenden Unterscheidungen zukommt.« (Ebd.) Hinsichtlich der Frage, was in der konkreten Forschungsarbeit unter ›Kontexten/ Kontexturen‹ verstanden werden kann, benennt Scherr die »sozialen Kontexte« (ebd.) Betriebe, Schulen oder Hochschulen, wohingegen Emmerich mit »gesellschaftlichen Kontexten« (Emmerich 2017: 110) oder »sozialen Kontexten« (ebd.) abstrakter auf die Kommunikationssysteme »Funktionssysteme, Institutionen, Organisationen, Interaktionen« (ebd.) verweist. Goldmann führt schließlich aus, dass »[m]it den sehr allgemein gehaltenen Kontexten Interaktion, Organisation und Gesellschaft […] auch die konkreteren diversen Umwelten bzw. Kontexturen der Einzelschule gemeint [sind].« (Goldmann 2017b: 75) Zu diesen konkreten Kontexturen zählt der Autor u.a. Eltern oder Bildungsadministrationen, die von den Lehrkräften in ihrer Arbeit in Rechnung gestellt werden. Erkenntnisreich hinsichtlich der Frage, was als ›Kontext/ Kontextur‹ erfasst werden kann, sind darüber hinaus die Überlegungen von Nassehi und Saake (2002), welche ebenfalls mit Blick auf die empirische Forschungspraxis, ausführen, dass ›Kontexturen‹ (in Anlehnung an Günther) »diejenigen Wirklichkeiten [sind], in deren Perspektive Verweisungen auf die Welt als Kontexte erscheinen, deren kontextureller Ursprung der Beobachter selbst ist.« (Nassehi/Saake 2002: 81). In eine konkrete Forschungspraxis übersetzt bedeutet dies, dass es darum gehen muss, »jene Problem- und Problemlösungskontexte/-kontexturen beschreibbar zu machen, die von Interviewtexten selbst entfaltet werden« (ebd.). Dabei wird nicht davon ausgegangen, dass objektivierbare Kontexte, sondern vielmehr von den Akteur:innen selbst erzeugte

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Kontexturen in den Blick geraten, mit denen Kontingenz eingeschränkt und Bedeutung erzeugt wird (vgl. ebd.: 80). »Der soziologische Blick besteht dann nicht in der sklavischen Reproduktion irgendwelcher Regeln, sondern in der Frage, wie sich Einzelbeobachtungen in den Horizont von Strukturen des Gesellschaftssystems stellen lassen, wie sie sich letztlich als Folgen und Folgeprobleme gesellschaftlicher Kontexte, oder besser: Kontexturen darstellen lassen.« (Ebd.) Es muss in der Forschungspraxis also eine »polykontexturale Ordnung [in Rechnung gestellt werden, J.J.], in der nun je nach eingenommenem Beobachtungsstandpunkt die Verhältnisse entsprechend einer anderen Kausalität erscheinen können.« (Vogd 2011: 113) Hinsichtlich der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem, der Organisation Schule und dem Interaktionssystem Unterricht muss entsprechend in den Blick genommen werden, wie (bzw. zunächst: welche) diverse Umwelten als ›Kontexte/ Kontexturen‹ mit welchen Folgen bearbeitet werden. Beispielhaft auf das Erziehungssystem und die Organisation Schule bezogen halten Hartung-Beck und Muslic (2015) fest, dass in einem Interview mit einer Lehrkraft »ihre Perspektive […] eine Kontextur dar[stellt], die von anderen Kontexturen und deren Reflexionsperspektiven (wie Schulleitung, Schulaufsicht, Bildungssystem etc.) Kenntnis hat und sich aufgrund der Interviewsituation herausgefordert sieht, sich mit den anderen Kontexturen in Beziehung zu setzen. Durch andere (auch gesellschaftliche) Kontexturen wird somit der Möglichkeitsraum von Organisationen bzw. Systemen abgesteckt.« (Ebd.: 64) ›Kontexturen‹ können demnach als Bezugnahmen auf spezifische Systemreferenzen gefasst werden und es kann dann danach gefragt werden, »welchen Sinn andere Kontexturen aus dem Blickwinkel einer Kontextur ergeben.« (Ebd.: 65) So werden Entscheidungen in der Organisation Schule bspw. vor dem Hintergrund der Bearbeitung von rechtlichen und politischen ›Kontexten‹ sowie gleichzeitig durch die Bearbeitung von ›Kontexturen‹, die in der Interaktion mit anderen Lehrkräften z.B. in einer Schulkonferenz als persönliche Vorlieben oder Abneigungen gebildet werden, erzeugt. Folglich, so führen Jansen und Vogd aus, zeichne sich eine Polykontexturalität in Organisationen, dadurch aus, dass hier immerzu »inkommensurable Kontexturen« (vgl. Jansen/Vogd 2013: 93) bestehen, mit denen umgegangen werden müsse, bzw. die bearbeitet werden müssten. Als eine Rückwirkung entstehen daraufhin eine Vielzahl an Praxen, mit denen die Kontexturen jeweils in unterschiedliche Relation zueinander gesetzt werden (vgl. ebd.; Vogd 2011: 115). Empirisch in der Forschung sichtbar »erscheint dann nur die Kette von Lösungen, deren Glieder aus den Sequenzstellen bestehen, in denen die Kommunikation bereits eingerastet ist, um mit den für sie konstitutiven Mehrdeutigkeiten umzugehen. […] Unterschiedliche kommunikative Kontexturen erzeugen jeweils verschiedene Antworten und Lösungen.« (Vogd 2011: 104) Mit der Übersetzung der theoretischen Annahme – dass soziale Ungleichheit im Erziehungssystem als ein polykontexturales Phänomen zu beschrieben ist (vgl. Emmerich/ Hormel 2015) – in einen empirischen Forschungskontext können nicht nur ›Kontexte/

2 Bildungsbe(nach)teiligung neu migrierter Schüler:innen

Kontexturen‹ des Erziehungssystems, der Organisation Schule und des Interaktionssystems Unterricht in die Analyse miteingeschlossen werden.29 Vielmehr bietet diese Perspektive darüber hinaus die Möglichkeit, auch die Relevanz historisch tradierter Deutungsschemata und Beschulungspraxen ernst zu nehmen (Kap. 3). So ist es im Hinblick auf die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem relevant, Ungleichheiten als »im Modus polykontexturaler Inklusions- und Exklusionsmechanismen generiert« (Emmerich 2017: 103) zu begreifen, wodurch »die Art und Weise der Klassifizierung und Adressierung von Individuen in sozialen Systemen in den analytischen Fokus« (ebd.) rücken kann. Damit kann untersucht werden, wie innerhalb des Inklusionsbereichs der Organisation Schule Bildungskarrieren erzeugt werden und wie Individuen mit Bezug auf welche Klassifikationen und Askriptionen mit welchen Folgen unterschieden und adressiert werden. Mit einer solchermaßen gefassten Perspektive auf soziale Ungleichheit im Erziehungssystem kann schließlich eine deutliche Distanz zu Defizitzuschreibungen von neu migrierten Schüler:innen oder Schüler:innen ›mit Migrationshintergrund‹ vorgenommen und vielmehr die Frage gestellt werden, wie die beobachtbaren Ungleichheiten durch das Erziehungssystem, die Organisation Schule und das Interaktionssystem Unterricht selbst generiert werden. Es geht entsprechend darum, auf der Grundlage empirischer Forschung aufzuzeigen, inwiefern ungleichheitsrelevante Muster auf der Basis welcher Wissensund Klassifikationsressourcen dazu beitragen, dass innerhalb des Erziehungssystems – trotz der formalen Inklusion aller Schüler:innen unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht, Religion, Migrationsvorgeschichte o. ä. – strukturell ungleichverteilte Bildungsergebnisse (und -abschlüsse) erzeugt werden, die die Zugänge zu weiteren Organisationen der funktional differenzierten Gesellschaft prädisponieren. Dabei geht es insbesondere darum, auch Muster herauszuarbeiten, »in denen unter Inanspruchnahme des Prinzips formaler Gleichheit Entscheidungen getroffen werden, die zu Benachteiligungen führen.« (Hormel 2010: 177) Gleichzeitig müssen hinsichtlich der forschungspraktischen Umsetzung dieser anspruchsvollen Theoriedisposition, wie hier bereits skizziert, einige Klärungen vorgenommen werden, die im Weiteren (Kap. 4) spezifischer ausgeführt werden.

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Zu den hier bereits angerissenen forschungspraktischen Implikationen s. Kapitel 4 dieser Arbeit.

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3 Rekonstruktion bildungspolitischer Reaktionen auf Migration

Mit der historischen Rekonstruktion bildungspolitischer und bildungspraktischer Reaktionen auf Migration und Flucht in der Bundesrepublik Deutschland1 werden Routinen und historisch gewachsene Strukturen der Beschulung neu migrierter Kinder und Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland in den Blick genommen. Dabei wird der Fokus auf die Zeitspanne nach 1945 gelegt. Die Erkenntnisse bilden eine Hintergrundfolie für die Frage nach Kontinuitäten in der aktuellen Beschulungspraxis neu migrierter Kinder und Jugendlicher. Im Weiteren wird von ›ausländischen‹ Schüler:innen gesprochen, ohne zwischen a) selbst migrierten/geflüchteten und erst seit kurzer Zeit in Deutschland lebenden Kindern und Jugendlichen und b) solchen Kindern und Jugendlichen, die zwar in Deutschland geboren oder schon über viele Jahre in der Bundesrepublik ansässig sind, aber keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, zu unterscheiden. Verfügbare Statistiken lediglich hinsichtlich der Staatsangehörigkeit auszuwerten und keine zusätzliche Differenzierung nach der Aufenthaltsdauer vorzunehmen – mit der spezifischere Aussagen zu neu migrierten Schüler:innen vorgenommen werden könnten –, begründet sich durch fehlende oder nur spärlich vorhandene Zahlen zu Schüler:innen, die selbst migriert oder geflüchtet sind und als sogenannte ›Seiteneinsteiger‹ in die Organisation Schule inkludiert werden.2 Mit dem Blick auf die Bildungsbeteiligung ›ausländischer Schüler:innen‹ ist die Problematik der Homogenisierung einer sehr heterogenen Schüler:innenschaft verbunden. Es kann im Folgenden jedoch plausibilisiert werden, dass Bildungsstatistiken, die auf der Erfassung der Staatsangehörigkeit von Schüler:innen beruhen, dennoch relevante Erkenntnisse hinsichtlich der Bildungsbeteiligung von

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Zur Situation in der DDR siehe u.a. Hopf (1994: 381-387). Siehe zu dieser Problematik u.a. ausführlich Emmerich, Hormel und Kemper (2020a), die bezogen das Bundesland NRW eine spezifische Analyse der vorliegenden schulstatistischen Daten zu neu migrierten Schüler:innen im Zeitraum 1999 – 2015 vornehmen. Ebenso führen Massumi et al. (2015) und von Dewitz, Massumi und Grießbach (2016) Daten zu neu migrierten Schüler:innen bundesweit auf, ohne hier jedoch eine Differenzierung hinsichtlich unterschiedlicher Schulformen vornehmen zu können.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Schüler:innen ohne deutsche Staatsangehörigkeit an unterschiedlichen Schulformen bieten und damit differenzierte Aussagen über die Bildungsteilhabe dieser so erfassten Schüler:innen ermöglichen. Im Folgenden werden unterschiedliche Phasen der Migration und Flucht nach Deutschland skizziert und die jeweiligen bildungspolitischen Reaktionen rekonstruiert. Beginnend mit den ersten Anwerbeabkommen ausländischer Arbeitskräfte in den 1950er-Jahren und der Etablierung bildungspolitischer Maßnahmen zur Beschulung ›ausländischer Kinder und Jugendlicher‹ (Kap. 3.1) wird anschließend die Phase der Beendigung der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte und die Konsolidierung der bildungspolitischen Fiktion, dass es sich bei der Beschulung ›ausländischer‹ Schüler:innen um ein vorübergehendes Phänomen handele, beleuchtet (Kap. 3.2). Anschließend wird die bildungspolitische Reaktivierung der Annahme einer ›Integration auf Zeit‹ von ›ausländischen‹ Schüler:innen im Zuge vermehrter Flucht- und Migrationsbewegungen seit Beginn der 1990er-Jahre skizziert (Kap. 3.3). Schließlich werden die rekonstruierten historischen Strategien der Beschulung ›ausländischer‹ Schüler:innen im Spiegel aktueller Entwicklungen betrachtet (Kap. 3.4).

3.1

Wirtschaftsaufschwung und Anwerbeabkommen: Etablierung von Vorgaben für die vorübergehende Beschulung ›ausländischer Kinder‹ (1950er - 1970er-Jahre)

Von den 1950er-Jahren bis in die 1970er-Jahre hinein traute sich die bundesdeutsche Politik zu, die nationale Wirtschaft mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, welche die Etablierung einer konjunkturabhängigen, temporären und zirkulären Beschäftigung von Arbeitsmigrant:innen einschloss, umfassend zu steuern (vgl. Bommes 1999: 183). Diese Steuerungspolitik, die eine gezielte zeitlich befristete Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland beinhaltete und unter dem Schlagwort der ›Gastarbeiter:innenmigration‹3 bekannt ist, schien zunächst ›erfolgreich‹. So migrierten im Zuge der Anwerbeabkommen mit Italien, Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien zwischen den 1950er und 1970er-Jahren ca. 14 Millionen Menschen4 in die Bundesrepublik Deutschland, um in unterschiedlichsten industriellen und landwirtschaftlichen Tätigkeitsfeldern zu arbeiten und das Land nach mehreren Monaten oder Jahren wieder zu verlassen (vgl. Bade/Oltmer 2004: 71ff.; Bade 2004: 389ff.; Berlinghoff 2018: o.S.). Die Zahl derjenigen, die nicht dauerhaft in Deutschland verblieben, wird in diesem

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Die Bezeichnung ›Gastarbeiter:in‹ wird u.a. von Rass (2012) kritisiert, da dieser Begriff impliziert, dass es sich bei den Arbeitsmigrant:innen um ›Gäste‹ handele, die wieder in ihre Herkunftsländer zurückzukehren hätten und denen die Option auf Gemeinschaftszugehörigkeit abgesprochen wird. Bezeichnend ist darüber hinaus, dass der Begriff in der Zeit des Nationalsozialismus geprägt wurde (vgl. ebd.: 175ff.). Anders als die migrationswissenschaftliche Literatur bis in die 1980er Jahre hinein nahelegte, migrierten nicht ausschließlich ›männliche Arbeitsmigranten‹ nach Deutschland – vielmehr waren, so stellen Lutz und Huxel fest, »30 Prozent der in den 1950er und 1960er Jahren angeworbenen Arbeitskräfte […] weiblich.« (Lutz/Huxel 2018: 77)

3 Rekonstruktion bildungspolitischer Reaktionen auf Migration

Zeitraum auf ca. 11 Millionen geschätzt (vgl. Berlinghoff 2018: o.S.). Um eine Verstetigung des Aufenthaltes in Deutschland zu unterbinden, lautete das politische Credo, die temporären Arbeitsmigrant:innen von möglichst vielen Bereichen, wie bspw. dem Recht und der Bildung, zu exkludieren. Im Gegensatz zum Umgang mit Migrationsbewegungen im 19. Jahrhundert (vgl. Bommes 1999: 63f.) zeigte sich jedoch, dass die ›Steuerungsmöglichkeiten‹ des Wohlfahrtsstaates in Bezug auf die Exklusion von Arbeitsmigrant:innen aus zentralen gesellschaftlichen Funktionssystemen inzwischen stark eingeschränkt waren. Dies lag vor allem an der Funktionsweise des mittlerweile entwickelten Wohlfahrtsstaates, mit der eine Inklusion in verschiedene Funktionssysteme – insbesondere der arbeitenden Bevölkerung – gesichert wurde. So war in den Anwerbeabkommen ein Einbezug der Arbeitsmigrant:innen in die allgemeine Versicherungspflicht festgeschrieben, mit der ein Prozess des Hineinwachsens in Rechte einsetzte und (wohlfahrtsstaatliche) Leistungsverpflichtungen gegenüber den Arbeitsmigrant:innen entstanden (vgl. ebd.: 186; s. hierzu auch Bade 2004: 391; Bade/Oltmer 2004: 73f.).   Mit Blick auf die Beschulung neu migrierter Schüler:innen wurden ab den 1950er-Jahren auf der Ebene der Kultusministerkonferenz (KMK) erste Beschlüsse gefasst. Die Bundesländer wurden zu Beginn der 1950er-Jahre von der KMK aufgefordert, die allgemein geltende Schulpflicht auf »heimatlose Ausländer sowie Angehörige fremder Staaten und Staatenlose« (KMK v. 18.01.1952: o.S.) auszudehnen. Ausgenommen wurden hiervon lediglich Kinder von Angehörigen der Besatzungsmächte, sowie Kinder aus Militär- und Diplomatenfamilien (vgl. ebd.). Während sich dieser Beschluss ausschließlich mit der Schulpflicht ausländischer Schüler:innen befasst, wurde in den 1960er-Jahren, vor dem Hintergrund der bereits geschlossenen Anwerbeabkommen5 und den Bestrebungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft6 , den europäischen Arbeitsmarkt stärker miteinander zu verbinden, von der KMK erstmalig eine ausführliche Vereinbarung zum »Unterricht für Kinder von Ausländern« beschlossen (KMK v. 14.05.1964). Festgehalten wurde, dass den Schüler:innen »Grundkenntnisse im Deutschen« in Form eines zusätzlichen Unterrichts vermittelt werden sollten, damit diese sich besser in die deutsche Schule »eingewöhnen« könnten (vgl. ebd., Abs. 2: o.S.). Wenn aufgrund der Anzahl der Schüler:innen möglich, sollten die Kinder und Jugendlichen dafür »in besonderen Klassen (Vorklassen) zusammengefaßt werden, bis sie in der deutschen Sprache so weit gefördert sind, daß sie am normalen Unterricht teilnehmen können.« (Ebd.) Gleichzeitig wurde jedoch auch die Bedeutung der Förderung der jeweiligen »Muttersprache« (ebd., Abs. 3: o.S.) hervorgehoben. Betrachtet man die in diesem ersten ausführlichen Beschluss der KMK festgehaltenen ›Empfehlungen‹ an die Bundesländer, fallen zwei Aspekte besonders auf, welche

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Anwerbeabkommen wurden bis dahin mit folgenden Ländern getroffen: Italien (1955), Spanien (1960), Türkei (1961), Marokko (1963) und Portugal (1964) (vgl. Bade/Oltmer 2004: 72). Der 1957 gegründeten europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gehörten 1964 die folgenden Länder an: Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande und Deutschland (Vertrag zur Gründung der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Rom, v. 25. März 1957).

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

gleichzeitig die Ambivalenz im Umgang mit ›ausländischen‹ Schüler:innen deutlich machen: So wird durch den Hinweis auf die Relevanz der Förderung der ›Muttersprachen‹ der Annahme Rechnung getragen, dass der Aufenthalt der ›ausländischen‹ Schüler:innen im deutschen Bildungssystem aufgrund der als temporär angelegten Beschäftigung ihrer Erziehungsberechtigten nur vorübergehend sei und ihnen daher durch spezifische Sprachförderung in ihrer ›Muttersprache‹ die problemlose Rückkehr in ihr Herkunftsland ermöglicht werden sollte. Gleichzeitig sollte jedoch mit der Schulpflicht und der Vermittlung deutscher Sprachkenntnisse eine Inklusion der Schüler:innen in den »normalen Unterricht« (ebd., Abs. 2: o.S.) erfolgen. Auffällig ist, dass keine weiteren Empfehlungen zur Einrichtung und hinsichtlich der Besuchsdauer dieser »Vorklassen« (ebd.) gemacht wurden, also auch keine Kriterien vorgeschlagen wurden, wie zu erkennen sei, wann Schüler:innen ausreichende Deutschkenntnisse besitzen, um in die Regelklasse zu wechseln. Diese vagen Angaben können jedoch der Tatsache geschuldet sein, dass es sich bei den Empfehlungen der KMK tatsächlich nur um Empfehlungen an die Bundesländer handelte, welche diese nach eigenem Ermessen inhaltlich konkretisiert in bundeslandspezifische Beschlüsse und Vorgaben übersetzen. Der Beschluss der KMK kann insofern als Ausdruck widerstrebender politischer Anforderungen – der vorübergehenden Inklusion bei angestrebter dauerhafter Exklusion – gelesen werden, der auf eine temporäre Inklusion der ›ausländischen‹ Schüler:innen ins Erziehungssystem abzielte.  Als 1971 eine Überarbeitung des KMK-Beschlusses aus den 1960er-Jahren veröffentlicht wurde, hatte sich die Zahl der ›ausländischen‹ Schüler:innen an allgemeinbildenden Schulen deutlich erhöht (s. Abb. 1). Abbildung 1: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen 1960-1971 in Tausend.

Eigene Darstellung nach Daten des Statistischen Bundesamts, Fachserie 11, Reihe 1 (2019).

3 Rekonstruktion bildungspolitischer Reaktionen auf Migration

Auf diesen Anstieg der Zahl ›ausländischer‹ Schüler:innen Bezug nehmend sollte die Neufassung zum »Unterricht für Kinder ausländischer Arbeitnehmer« (KMK v. 03.12.1971) nicht nur dazu beitragen, die entstandenen bundeslandspezifischen Regelungen anzugleichen (vgl. ebd.: 1), sondern diese darüber hinaus »so weiterzuentwickeln, daß die im deutschen Schulsystem liegenden Bildungschancen von den Kindern ausländischer Arbeitnehmer in verstärktem Maße wahrgenommen werden können.« (Ebd.) Zentral war, dass mit dem Beschluss erstmals die Schulpflicht aller ›ausländischen Kinder‹ an ›deutschen Schulen‹ eingeführt wurde und damit die in den vorherigen Beschlüssen ermöglichte Beschulung an sogenannten »nationale[n] Schulen als Ersatzschulen« (ebd., Abs. 1.1: 1) abgeschafft wurde. Neben kurzen Ausführungen zur Vereinheitlichung der Rechtsgrundlagen hinsichtlich Schulpflicht, Schulaufsicht, Schülerfürsorge und Elternvertretung (vgl. ebd., Abs. 1: 1-2) wurden insbesondere Hinweise zur Aufnahme ›ausländischer‹ Schüler:innen in deutsche Schulen und zur Beschulung gegeben (vgl. ebd., Abs. 2-6: 2-6). Besonders interessant sind die Empfehlungen zur Zuweisung (neu) migrierter Schüler:innen auf Schulen sowie die Ausführungen zu Vorbereitungsklassen. So seien Schüler:innen mit ausreichenden Sprachkenntnissen bei Eintritt in die deutsche Schule in die »ihrem Alter oder ihren Leistungen« (ebd., Abs. 2.1: 2) entsprechenden Klassen zuzuweisen. Anders als bei ›Regelschülern‹ scheint sich hier – mit dem Wort »oder« – die Annahme zu manifestieren, dass ›ausländische‹ Schüler:innen nicht alters- und leistungsbezogen zugewiesen werden könnten, sondern vielmehr eine Entscheidung getroffen werden müsse, ob das Alter oder der Leistungsstand für die Zuordnung ausschlaggebend sein solle. Dies könnte darauf hindeuten, dass ein geringerer Leistungsstand der ›ausländischen‹ Schüler:innen im Vergleich zu ›Regelschülern‹ antizipiert wurde – so erscheint die Aufnahme einer solchen Formulierung andernfalls kaum notwendig. Auch wenn der Anlass für diesen Hinweis hier nicht geklärt werden kann, steht fest, dass den Schulen damit ermöglicht wurde, ›ausländische‹ Schüler:innen – anders als dies für ›Regelschüler‹ galt – unabhängig von ihrem Alter einer als adäquat erachteten Jahrgangsstufe zuzuweisen. Während Schüler:innen laut KMK-Beschluss in der ersten Jahrgangsstufe auch ohne deutsche Sprachkenntnisse »in der Regel« (ebd., Abs. 2.1: 2f.) wie alle anderen Schüler:innen in der ersten Klasse zu beschulen seien, sollten Schüler:innen ohne ausreichende Deutschkenntnisse in »Vorbereitungsklassen«7 (ebd., Abs. 2.1: 3) untergebracht werden. Festgehalten wird darüber hinaus, dass sich der Unterricht in der Vorbereitungsklasse u.a. an den »allgemein geltenden Lehrplanrichtlinien« (ebd., Abs. 3.1: 3) ausrichten sollte und die Schüler:innen darüber hinaus in Fächern wie Musik, Kunst, Werken oder Sport gemeinsam mit den ›Regelschülern‹ unterrichtet werden könnten (vgl. ebd.). Beendet werden könne der Unterricht in der Vorbereitungsklasse, wenn eine »ausreichende Förderung der deutschen Sprache« (ebd., Abs. 3.1: 3) vorliege. Ebenso wie im Hinblick auf die Zuweisung von Schüler:innen mit ausreichenden deutschen Sprachkenntnissen in eine Regelklasse (vgl. ebd., Abs. 2.1: 2), wird auch hier nicht spezifiziert, wie ausreichende Sprachkenntnisse festgestellt werden. Darüber hinaus wird beim Wechsel von 7

Die Einrichtung einer Klasse konnte mit 15 Schüler:innen erfolgen und der Klassenteiler sollte bei 24 liegen (vgl. KMK v. 03.12.1971: 3).

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

der Vorbereitungsklasse in die Regelklasse die Möglichkeit eröffnet, die Schüler:innen unabhängig von ihrem Alter einer Jahrgangsstufe zuzuweisen. Anders als noch im Beschluss von 1964 wird in der Überarbeitung des Beschlusses von 1971 nun jedoch eine Angabe hinsichtlich der Dauer der Sonderbeschulungsform in Vorbereitungsklassen angegeben. So solle diese »in der Regel ein Jahr« (ebd., Abs. 3.1: 3) betragen. Falls »ausländische Kinder« statt in Vorbereitungsklassen »in deutschen Klassen« (ebd., Abs. 3.2: 4) beschult werden, sollten sie zusätzlichen Deutschunterricht erhalten. Hinsichtlich der Ausgabe von Zeugnissen wird im Beschluss festgehalten, dass ›ausländische Kinder‹ unabhängig davon, ob sie in der Regelklasse oder der Vorbereitungsklasse beschult werden, »die gleichen Zeugnisse wie deutsche Schüler« (ebd., Abs.4: 4) erhalten.   Mit der Überarbeitung des ersten Beschlusses von 1964 im KMK-Beschluss von 1971 wurden u.a. mit Blick auf das Curriculum, die Vergabe von Zeugnissen für ›ausländische Kinder‹ und die Möglichkeit, ›muttersprachlichen Unterricht‹ an allen Sekundarschulformen wahrzunehmen, einige Konkretisierungen vorgenommen, die vermutlich auf eine Angleichung der Beschulungspraktiken für ›ausländische Kinder‹ an den Regelunterricht der Schulen hinwirken sollten. Darüber hinaus wurde erstmals ein Hinweis gegeben, dass die Beschulung in Vorbereitungsklassen ein vorübergehendes Instrument und die Zielperspektive (des zeitnahen) Übergangs in die Regelklasse anzustreben sei. Gleichzeitig fällt jedoch auch auf, dass die Wortlaute des Beschlusses wie »in der Regel«, »Sprachschwierigkeiten« oder »zu empfehlen« wenig konkret sind und weiterhin große Handlungsspielräume gewähren. Puskeppeleit und Krüger-Potratz (1999) stellten fest, dass nicht nur diese Formulierungen im KMK-Beschluss »in vielen Punkten zu allgemein gefaßt [waren], sondern auch die Erlasse in den einzelnen Bundesländern […] aufgrund der unpräzisen Vorgaben« (ebd.: 14) eine hohe Diversität aufwiesen, welche dann, je nach Auslegung des Beschlusses, zum Nachteil der davon betroffenen Schüler:innen gereichten (vgl. ebd.). Weiterhin wird gleichfalls in dem überarbeiteten Beschluss an der semantischen Differenzierung zwischen ›ausländischen Kindern‹ und ›deutschen Kindern‹ bzw. der ›deutschen Klasse‹ festgehalten. Überdies deutet der Hinweis, dass »der Anteil der ausländischen Kinder in einer Klasse […] ein Fünftel nicht übersteigen [soll]« (KMK v. 03.12.1971, Abs. 2.1: 2) darauf hin, dass der Regelunterricht vor einer als ›zu groß‹ klassifizierten Anzahl ›ausländischer‹ Schüler:innen geschützt werden sollte. Die Zuweisung zu einer Regelklasse erfolgte also nur dann, wenn hierdurch der Anteil der als ›deutsch‹ klassifizierten Schüler:innen nicht ›zu gering‹ würde. Hier werden assimilatorische Perspektiven hinsichtlich begrenzter Kapazitäten für die ›problemlose‹ Aufnahme ›ausländischer Kinder‹ sowie hinsichtlich der Annahme, dass Migration zu einer Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft führe oder führen sollte, deutlich, die seit den 1920er-Jahren ebenfalls in der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung weite Verbreitung fanden (vgl. Oswald 2007: 93f.). Mit der Empfehlung, dass auch zukünftig eine Teilnahme am ›muttersprachlichen Unterricht‹ möglich sein sollte, um »die Erhaltung der Verbindung der Schüler zur Sprache und Kultur ihrer Heimat« (KMK v. 03.12.1971, Abs. 6: 6) sicherzustellen, wird überdies weiterhin an der bereits im vorhergegangenen Beschluss formulierten ambivalenten Perspektive der Assimilation bei gleichzeitigem Erhalt der »Rückkehrfähig-

3 Rekonstruktion bildungspolitischer Reaktionen auf Migration

keit« (Czock 1993: 69) in das ›Herkunftsland‹ festgehalten. Hier spiegelt sich die herrschende Migrationssteuerungspolitik der beginnenden 1970er-Jahre wider.

3.2

Anwerbestopp und Familiennachzug: Konsolidierung der Beschulung ›ausländischer Kinder‹ als vorübergehendes Phänomen (1970er – 1990er-Jahre)

Viele der seit den 1950er-Jahren als temporäre Arbeitskräfte angeworbenen Menschen wurden über die kommenden Jahre bzw. Jahrzehnte aus betriebswirtschaftlichen Gründen längerfristig eingestellt und erlangten mit der Dauer ihres Aufenthaltes fortschreitende sozialrechtliche Leistungsansprüche (vgl. Bade 2004: 391f.; Bade/Oltmer 2004: 73f.; Bommes 1999: 186). Bommes weist darauf hin, dass »[m]it dem Einbezug der Arbeitsmigranten in die allgemeinen Sozialversicherungspflichten als Bedingung ihrer Anwerbung, die der Aufrechterhaltung der wohlfahrtsstaatlich durchgesetzten Inklusionsstandards auf dem Staatsterritorium diente, sowie der regelmäßigen Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen für Arbeitsmigranten […] von Beginn an ein Prozess der Erzeugung von Rechten der Migranten in Gang gesetzt worden [war].« (Bommes 1999: 186) Erst vor dem Hintergrund der solchermaßen erzeugten Rechtsansprüche der Arbeitsmigrant:innen können die weiteren Entwicklungen im Zuge des 1973 beschlossenen Anwerbestopps verstanden werden, mit dem der Zugang ausländischer Arbeitskräfte zum deutschen Arbeitsmarkt nur noch über Ausnahmeverordnungen ermöglicht wurde. So zeigte sich 1973 eine paradoxe Situation: Der Anwerbestopp zielte darauf ab, die Anzahl ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland zu verringern – anders als erwartet stiegen die Zahlen der ausländischen Wohnbevölkerung jedoch an. Grund hierfür war, dass der Anwerbestopp dafür sorgte, dass Ausländer:innen sich entscheiden mussten. Wollten sie in Deutschland leben oder – ohne eine Aussicht auf Rückkehr – in ihr Herkunftsland zurückgehen? Vor diese Wahl gestellt, beschlossen einige Arbeitsmigrant:innen, dauerhaft in Deutschland zu bleiben und ihre Partner:innen und Kinder nachzuholen (vgl. Bade/Oltmer 2004: 72; Meinhardt/Schulz-Kaempf 2015: 68f.). In den Folgejahren setzte sich die widersprüchliche Migrationspolitik in der Bundesrepublik weiter fort. So wurde bis in die 1990er-Jahre hinein am Ziel festgehalten, den Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung zu verringern und den Zuzug aus dem Ausland zu begrenzen. Gleichzeitig wurden aber auch Integrationspolitiken und -angebote verstärkt öffentlich diskutiert. So legte bspw. die 1976 eingerichtete Bund-Länder-Kommission im Jahr 1977 Vorschläge vor, die einerseits das Festhalten an restriktiven Einwanderungspolitiken vorsahen und andererseits die Bedeutung der ›sozialen Integration‹ der seit vielen Jahren bereits in Deutschland lebenden Menschen hervorhoben (vgl. Bade 2004: 392f.; Meinhardt/Schulz-Kaempf 2015: 69f.).8 8

Ein weiteres Beispiel ist die Einsetzung eines ›Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen‹ im Jahr 1978 und die Vorlage eines durch den Beauftragten erstellten Dokumentes über »Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Fami-

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Neben den Auseinandersetzungen mit Fragen der Rückkehrförderung oder Integration von angeworbenen ausländischen Arbeitskräften waren die Migrationspolitik und der öffentliche Diskurs um Migration seit den späten 1970er-Jahren zusätzlich durch steigende Asylbewerber:innenzahlen geprägt. Es kam zu einer Vermischung von Arbeitsmigrations- und Fluchtmigrationspolitiken, und rassistische Diskurse setzten sich immer stärker durch. In diesem Zuge wurde u.a. 1983 das ›Rückkehrförderungsgesetz‹ verabschiedet, mit dem Ausreisewillige durch die Zahlung finanzieller Prämien zur ›Rückkehr in ihr Heimatland‹ bewegt werden sollten (vgl. Bade/Oltmer 2004: 84; Meinhardt/Schulz-Kaempf 2015: 72ff.).   Durch die skizzieren Migrationsdynamiken, die im Zuge des 1973 beschlossenen Anwerbestopps entstanden, migrierte seit den 1970er-Jahren erstmals eine größere Zahl schulpflichtiger Kinder und Jugendlicher nach Deutschland. Erkennbar wird dies an den amtlichen Zahlen zu ›ausländischen‹ Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen.  

Abbildung 2: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen (1965-1991) in Tausend.

Eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 (2019).

lien« im Jahr 1979, welches weitreichende Forderungen hinsichtlich der Etablierung einer Integrationspolitik beinhaltete, in den Folgejahren jedoch kaum umgesetzt wurde und nach dem Regierungswechsel im Jahr 1982 (Regierungsübernahme durch die CDU) weitgehend ignoriert wurde (vgl. Meinhardt/Schulz-Kaempf 2015: 70ff.).

3 Rekonstruktion bildungspolitischer Reaktionen auf Migration

Vor diesem Hintergrund verabschiedete die KMK im Jahr 1976 die »Neufassung der Vereinbarung ›Unterricht für Kinder ausländischer Arbeitnehmer‹« (KMK v. 08.04.1976). In den einführenden Worten zur Neufassung spiegelt sich die skizzierte widersprüchliche Haltung der Politik in der Bundesrepublik zum Umgang mit der faktischen Einwanderungssituation in Deutschland wider. So sollte durch die getroffenen Vereinbarungen abermals einerseits ein »Beitrag zur sozialen Eingliederung der ausländischen Schüler« (ebd.: 3) geleistet werden. Andererseits wird zugleich einschränkend darauf verwiesen, dass sich dieser ›Beitrag‹ lediglich auf die »Dauer des Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland« (ebd.) beziehe und die Bildungsmaßnahmen gleichzeitig zur »Erhaltung ihrer [der ausländischen Schüler:innen, J.J.] sprachlichen und kulturellen Identität« (ebd.) dienen solle. Neben der erneuten Betonung der rechtlichen Gleichstellung ›ausländischer‹ und ›deutscher‹ Schüler:innen (vgl. ebd., Abs. 1: 3f.) wurden einige Änderungen im Vergleich zum vorherigen Beschluss vorgenommen.9 Es wurde nicht nur festgehalten, dass Vorbereitungsklassen nun bis zu zwei Jahren besucht werden könnten (vgl. ebd., Abs. 3.1.5: 5), sondern darüber hinaus wurden zwei weitere organisatorische Möglichkeiten zur Einrichtung von Vorbereitungsklassen eröffnet. So wurde u.a. festgelegt, dass, wenn der Anteil ›ausländischer‹ Schüler:innen in einer Klasse (unabhängig von ihren deutschen Sprachkenntnissen) ein Fünftel »wesentlich« überschreite, diese ›ausländischen‹ Schüler:innen in einer eigenen Klasse zusammengefasst und nach dem deutschen Lehrplan in deutscher Sprache unterrichtet werden könnten (vgl. ebd. Abs. 2.2: 4). Bei der Einrichtung von Klassen für ›ausländische‹ Schüler:innen sei es außerdem möglich, Schüler:innen »mit gleicher Muttersprache […] in Ballungsgebieten ausländischer Arbeitnehmer« in Klassen zu unterrichten, »in denen ggf. nach besonderen Lehrplänen, Lerninhalte der Jahrgangsstufe auch in der Muttersprache der Schüler vermittelt werden.« (Ebd., Abs. 3.2: 5) Hinsichtlich des Besuchs dieser Klassen wird keine zeitliche Begrenzung festgelegt, sondern lediglich ausgeführt, dass auch aus diesen Klassen ein Übergang in das deutsche Regelschulsystem möglich sei (vgl. ebd.). Mit der Neufassung des KMK Erlasses im Jahr 1976 wurde also nicht nur die Option eröffnet, Regelklassen vor einer ›zu hohen‹ Anzahl ›ausländischer‹ Schüler:innen zu ›schützen‹ – unabhängig davon, ob diese Verständnisschwierigkeiten in der deutschen Sprache aufwiesen –, sondern darüber hinaus wurde den Schulen die Möglichkeit eröffnet, auf Dauer angelegte Klassen für ausschließlich ›ausländische‹ Schüler:innen, ggf. nach ›Herkunftsnationen‹ getrennt, zu etablieren.10 Neu in die Verordnung aufgenommen wurde darüber hinaus erstmals ein ganzer Absatz zur Überweisung von ›ausländischen‹ Schüler:innen an Sonderschulen (vgl. ebd., Abs. 5: 6f.). In diesem wird nicht nur angemerkt, dass die Sonderschulverfahren auf den gleichen Bestimmungen wie denen für ›deutsche Schüler:innen‹ beruhe, sondern darüber hinaus wird festgehalten, dass erstens »[m]angelnde Kenntnisse in der deutschen Sprache […] kein Kriterium für Sonderschulbedürftigkeit [sind]« (Ebd.,

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Im Folgenden wird auf die für die Arbeit am wichtigsten erachteten Punkte spezifisch eingegangen. Gleiches galt für die Berufsschulen (vgl. KMK v. 08.04.1976, Abs. 6: 7).

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Abs. 5.2: 6), zweitens die Schüler:innen vor der Prüfung einer »Sonderschulbedürftigkeit« i.d.R. zehn Wochen unterrichtet worden sein sollten (vgl. ebd., Abs. 5.3: 6) und drittens für die Überprüfung nicht nur der deutsche Wortschatz, sondern auch der Wortschatz in der »Muttersprache« (ebd., Abs. 5.4: 6) beachtet und u.a. Schulkenntnisse in der ›Muttersprache‹ abgefragt und die »Intelligenz mit sprachfreien Tests« (ebd.) getestet werden sollte. Mit der Aufnahme dieses Absatzes wurden Sonderschulen – neben Grundschulen und Berufsschulen – als eine potenzielle Schulform für ›ausländische‹ Schüler:innen eingeführt, auch wenn den ›ausländischen‹ Schüler:innen an weiterführenden Schulen Hilfen so gewährt werden sollen, dass sie »die ihren Fähigkeiten entsprechenden Bildungsgänge durchlaufen können« (ebd., Abs. 4.1).11 Damit wurde von der KMK grundsätzlich eine Beschulung von ›ausländischen‹ Schüler:innen an allen Sekundarschulformen als möglich ausgewiesen. Bei einem Blick auf die Zahl ›ausländischer‹ Schüler:innen an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland wird jedoch deutlich, dass neu migrierte Schüler:innen faktisch auf die im Beschluss genannten niedrigqualifizierende Bildungsgänge verwiesen wurden. Deutlich sichtbar wird, dass die Gesamtzahl der ›ausländischen‹ Schüler:innen, welche an Grund- und Hauptschulen12 unterrichtet wurden, von der Anzahl an Realschulen, Gymnasien und Gesamtschulen eklatant abweicht (s. Abb. 3). Da die Politik noch immer davon ausging, wie im Vorwort der Neufassung des Erlasses von 1976 ausgeführt, dass die ›Arbeitsmigrant:innen‹ und ihre Familien in absehbarer Zukunft in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden, wurde an die Bildungsund Schulpolitik »[n]icht nur die Bearbeitung der Integrationsfrage […] delegiert, auch der zweite Eckpfeiler der Ausländerpädagogik, die Rückkehrförderung, war zu berücksichtigen. Daraus formulierte sich die Doppelaufgabe ›Integration‹ bei gleichzeitigem ›Erhalt der Rückkehrfähigkeit‹.« (Czock 1993: 67) Entgegen der Annahme, dass es sich bei der Beschulung von Migrant:innen lediglich um ein vorübergehendes Phänomen handle, verfestigte sich die ›ausländerpädagogische‹ Beschulungsstrategie in den darauffolgenden Jahren (vgl. Czock 1993; Diehm/Radtke 1999). Die Neufassung des Erlasses hatte, indem die Etablierung paralleler Beschulungsmodelle legitimiert wurde, damit weniger zu verstärkten Integrationsbemühungen ›ausländischer‹ Schüler:innen beigetragen, sondern vielmehr »lediglich den Ländern mehr Spielraum für die ihnen genehmen (d.h. auch segregative) Lösungen gege11

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Dabei sei auch eine Anerkennung der ›Muttersprache‹ als zweite Fremdsprache möglich (vgl. ebd., Abs. 4.2). Im Jahr 1979 wurde von der KMK eine »Abänderung der Neufassung der Empfehlung ›Unterricht für Kinder ausländischer Arbeitnehmer‹« (KMK v. 26.10.1979) veröffentlicht. Diese sah jedoch lediglich Änderungen im Hinblick auf die mögliche Anerkennung der »Muttersprache« auch als erste Pflichtfremdsprache in allen Bildungsgängen vor (vgl. ebd., Abs. 4). Auf die Bedeutung der Anerkennung der Herkunftssprache als Pflichtfremdsprache wird im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen. Es kann an dieser Stelle aber auf Arbeiten verweisen werden, welche sich spezifischer mit diesem Aspekt befassen: Massumi (2019), Dirim (2010, 2016), Dirim und Mecheril (2018). Vom statistischen Bundesamt wird keine Differenzierung zwischen Grund- und Hauptschulen vorgenommen, weshalb eine getrennte Darstellung an dieser Stelle nicht möglich ist.

3 Rekonstruktion bildungspolitischer Reaktionen auf Migration

Abbildung 3: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen nach Schulform (1960-1991), in Tausend.

Eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 (2019).

ben und damit letztlich der schulischen Segregation Vorschub geleistet« (Puskeppeleit/ Krüger-Potratz 1999: 22), welche sich nicht nur in parallelen Schulklassen, sondern auch in der bereits erwähnten systematischen Zuweisung von ›ausländischen‹ Schüler:innen an niedrigqualifizierende Schulformen zeigt.   Wie sich die vagen bildungspolitischen Vorgaben auf Bundesebene auf die bildungspolitischen Vorgaben auf der Ebene der Bundesländer auswirkte, kann beispielhaft mit Blick auf die landespolitischen Maßnahmen in NRW nachgezeichnet werden. So wurde in NRW auf den Runderlass der KMK vom 08.04.1976 mit dem Runderlass »Unterricht für Kinder ausländischer Arbeitnehmer« (KM NRW v. 24.05.1976) reagiert, mit dem die Landesregierung NRW die konfligierenden Orientierungen der Bundesregierung – Integration auf Zeit bei Erhalt der ›Rückkehrfähigkeit – übernahm (vgl. ebd., Vorwort). Neben der wortgetreuen Übernahme der Vorgaben zu sonderpädagogischen Feststellungsverfahren (vgl. ebd., Abs. 7) wurde im Runderlass festgehalten, dass die Beschulung der ›ausländischen‹ Schüler:innen an Grundschulen, Hauptschulen und Berufsschulen zu erfolgen habe (vgl. ebd., Abs. 1-4). Die Beschulung war damit ausschließlich

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

auf den Erwerb von niedrigqualifizierenden Bildungsabschlüssen ausgelegt. Zugleich wurden verschiedene Beschulungsmodelle für ›ausländische‹ Schüler:innen benannt. Zu diesen gehören: a) Regelklassen (vgl. ebd., Abs. 1), in denen ›ausländische‹ Schüler:innen vollständig am Regelunterricht teilnehmen sollten. b) Vorbereitungsklassen in Normalform (vgl. ebd., Abs. 2), in denen ›ausländische‹ Schüler:innen möglichst in national-homogenen Gruppen unterrichtet werden sollten und die in den Grundschulen maximal die Jahrgänge eins bis vier und an Hauptschulen jeweils maximal zwei Jahrgänge umfassen sollten (vgl. ebd., Abs. 2.1). Die Beschulung in diesen Klassen sah gemeinsame Unterrichtseinheiten mit ›deutschen Schüler:innen‹ vor (vgl. ebd., Abs. 2.4, 2.8) und sollte sich maximal über die Dauer von zwei Jahren erstrecken (vgl. ebd., Abs. 2.6). In den Klassen sieben und acht sollte den Schüler:innen an der Hauptschule ein Abschluss ihres ›Herkunftslandes‹ ermöglicht werden (vgl. ebd., Abs. 2.9). c) Vorbereitungsklassen in Langform (vgl. ebd., Abs. 3 und 4), die als national-homogene Klassen für ›ausländische‹ Schüler:innen vorgesehen waren (vgl. ebd., Abs. 3.1). Diese Beschulungsform sollte sich über die erste bis sechste Jahrgangsstufe erstrecken (vgl. ebd., Abs. 3.4); ein Übergang in die Regelklasse sollte nach der vierten oder der sechsten Jahrgangsstufe erfolgen (vgl. ebd., Abs. 4.1).

Insbesondere mit Modell c) schaffte das Land NRW die Möglichkeit, die zuvor auf den zügigen Übergang in den Regelbetrieb ausgerichtete Beschulung nun in Form von ›Vorbereitungsklassen in Langform‹ als eine parallel zum Regelbetrieb laufende Beschulungspraxis für ›ausländische‹ Schüler:innen auszubauen. Nach massiver Kritik an diesem Beschulungsmodell und einer Abmahnung durch die Europäische Gemeinschaft, die seit 1977 auf eine Beendigung »segregierender Sonderbeschulungsformen für Migrantenkinder« (Czock 1993: 120) drängte, wurden die Vorbereitungsklassen in Langform im Jahr 1982 durch einen Erlass des Kultusministeriums abgeschafft und die maximale Aufenthaltsdauer in diesen auf zwei Jahre begrenzt (KM NRW v. 23.03.1982, Abs. 2.1, Abs. 3). Festgehalten wird im neuen Vorwort, dass dem gemeinsamen Unterricht von ›deutschen‹ und ›ausländischen‹ Schüler:innen Vorrang vor »nationalhomogene[n] Klassen« eingeräumt werden solle – auch wenn nach wie vor die »Rückkehr in die Heimat ihrer Eltern« durch ›muttersprachlichen Unterricht‹ und ›Unterricht in der nationalen Kultur‹ ermöglicht werden sollte (vgl. ebd., Vorwort).   Die 1982 getroffenen Maßnahmen zur Abschaffung der Vorbereitungsklassen in Langform führten in NRW jedoch nicht dazu, dass neu migrierte Schüler:innen nun flächendeckend nach zwei Jahren in das Regelschulsystem übergingen. Erkennbar wird dies bei einem Blick auf den Anteil ›ausländischer‹ Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen in NRW, der in der folgenden Grafik veranschaulicht ist (s. Abb. 4).  Anhand der Grafik ist zu erkennen, dass sich parallel zum Bundesgebiet (s. Abb. 3) auch in NRW eine deutliche Erhöhung der Zahlen ›ausländischer‹ Schüler:innen seit Mitte der 1970er-Jahre nachzeichnen lässt und die in den Runderlassen des Landes

3 Rekonstruktion bildungspolitischer Reaktionen auf Migration

Abbildung 4: Anteil ausländischer Schüler:innen an allgemeinbildenden Schulen in NRW nach Schulform (1970-1991), in Prozent.

Eigene Darstellung nach MSB NTW Statistische Übersicht Nr. 404, Quantita Schuljahr 2018/19.

NRW als favorisierte Beschulungsorte genannten Hauptschulen als primäre Schulform statistisch sichtbar wird. So sind ›ausländische‹ Schüler:innen an Hauptschulen weiterhin unverkennbar überrepräsentiert, während sie gleichzeitig an Gymnasien und Gesamtschulen – trotz einer langsamen Annäherung – deutlich unterrepräsentiert sind. Auffällig ist darüber hinaus ein weiterer Aspekt: Nachdem ›ausländische‹ Schüler:innen bis 1982 an Förderschulen unterrepräsentiert waren, ändert sich dies in den 1980er-Jahren drastisch, sodass ab 1982 eine klare Überrepräsentation von ›ausländischen‹ Schüler:innen an Förderschulen sichtbar wird. Der deutliche Anstieg des Anteils ›ausländischer‹ Schüler:innen an Förderschulen seit Beginn der 1980er-Jahre könnte – darauf weisen verschiedene Autor:innen hin – mit der bildungspolitischen Maßnahme, die sogenannten ›Vorbereitungsklassen in Langform‹ abzuschaffen (vgl. KM NRW v. 23.08.1982), zusammenhängen. So zeichnen Gomolla und Radtke (2002) am Beispiel der Stadt Bielefeld nach, dass es ab 1982 zu einem eklatanten Anstieg von Sonderschulüberweisungen ›ausländischer‹ Schüler:innen auf Sonderschulen für Lernbehinderte kam. Sie führen als mögliche Erklärung an, dass durch die zeitliche Begrenzung des Besuchs von Vorbereitungsklassen in Langform und der damit zusammenhängenden Pflicht, ›ausländische‹ Schüler:innen in die Regelklassen zu

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

übernehmen, »eine interne Segregationsoption für die Grundschulen zu entfallen drohte« (Gomolla/Radtke 2002: 138), welche durch die Möglichkeit der externen Differenzierung – d.h. durch die Überweisung auf Sonderschulen – kompensiert wurde (vgl. ebd.: 136ff.). Auch Emmerich und Hormel nehmen in Bezug auf die von Gomolla und Radtke ausgemachte statistische Auffälligkeit in der Stadt Bielefeld an, dass mit der Möglichkeit, ›ausländische‹ Schüler:innen als ›lernbehindert‹ zu klassifizieren »eine ›neue‹ pädagogische Problembeschreibung mit Plausibilität ausgestattet und an die bestehenden schulorganisatorischen Differenzierungsstrukturen angepasst werden [konnte].« (Emmerich/Hormel 2013a: 127).

3.3

Europäische Fluchtbewegungen: Reaktivierung des Postulats ›Integration auf Zeit‹ (1990er – 2010er-Jahre)

Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er-Jahre sah sich Deutschland – bedingt u.a. durch den Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges, durch die postjugoslawischen Kriege sowie durch die Konflikte in den von Kurd:innen besiedelten Gebieten in der Türkei – mit neuen Migrations- und Fluchtbewegungen konfrontiert (vgl. Seifert 2012 o. S.). Die Aufnahme von Geflüchteten war dabei seit den 1980er-Jahren durch abwertende gesellschaftliche Diskurse über sogenannten ›Asylmissbrauch‹ geprägt (vgl. Bade/Oltmer 2004: 87; Meinhardt/Schulz-Kaempf 2015: 72-79). Über alle vertretenen Parteien im Bundestag hinweg lässt sich die Konstitution eines ›Ausländerproblems‹ nachzeichnen, bei dem das angebliche Erreichen einer ›Belastungsgrenze‹ in Hinblick auf den Zuzug von Geflüchteten und anderen Migrant:innen proklamiert wurde (vgl. Brandl 2005: 89). Bereits im Vorfeld der Bundestagswahl 1987 herrschten ausländerfeindliche und rassistische Agitationen vor. Zu Beginn der 1990er-Jahre wurden schließlich – vor dem Hintergrund der politisch unsicheren Lage sowie den einsetzenden Bürgerkriegen in Ländern der ehemaligen Sowjetunion – Szenarien von Millionen von Geflüchteten entworfen, die sich auf den Weg nach Deutschland machen würden. Zeitgleich kam es zu rassistischen Anschläge mit Todesfolgen u.a. auf Geflüchtetenund Migranten:innenunterkünfte in Hoyerswerda, Mölln und Solingen (vgl. Qunikert/ Jäger 1991: 3 ff; Bade/Bommes 2004: 460f.). Im Zuge des Schürens einer Angst vor ›massenhaften Einwanderungen‹ aus den ehemaligen Ostblockstaaten erfolgte 1992/93 eine Verschärfung der Asylpolitik, die im sogenannten ›Asylkompromiss‹ kulminierte und eine massive Einschränkung des Rechts auf Asyl im Artikel 16 des Grundgesetzes mit sich brachte (vgl. Bade/Bommes 2004: 459). Im weiteren Verlauf der 1990er-Jahre erhielten infolgedessen Geflüchtete aus Bürgerkriegsgebieten wie dem Kosovo lediglich einen kurzfristigen Schutzstatus während der besonders starken Zuspitzung der Gewalt (zwischen Mai und Juli 1999) zugesprochen. Direkt nach der Beendigung der schlimmsten Gewaltsituationen wurden die Geflüchteten in den Kosovo oder nach Mazedonien abgeschoben (vgl. Bade et al. 2004: 237, 241). Abermals wurde damit in den 1990er-Jahren – nun jedoch für Geflüchtete – eine ›Integration auf Zeit‹ postuliert, da eine dauerhafte Bleibeperspektive für (Bürger-)Kriegsflüchtlinge politisch nicht vorgesehen war. Besonders deutlich manifestierte sich dies in dem weiterhin vorherrschenden Selbstverständnis, dass Deutschland

3 Rekonstruktion bildungspolitischer Reaktionen auf Migration

kein Einwanderungsland sei und in der drastischen Einschränkung des politischen Rechts auf Asyl 1992/1993 (vgl. Bade 2004: 422f.; Bade/Bommes 2004: 462; Meinhardt/ Schulz-Kaempf 2015: 74ff.).   Blickt man auf die Anzahl ›ausländischer‹ Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen in den 1990er-Jahren wird zunächst ein Anstieg und ab den 2000er Jahren ein Rückgang deutlich (s. Abb. 5).   Abbildung 5: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen (1990-2016) in Tausend.

Eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 (2019).

Anzumerken ist zu den seit Beginn der 2000er Jahren sinkenden Zahlen jedoch, dass im Jahr 2000 eine Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts erfolgte, mit dem u.a. in Deutschland geborene Personen von Eltern ohne deutsche Staatsangehörigkeit eine doppelte Staatsangehörigkeit erhalten konnten. Statistisch erfasst wurden diese Kinder in der Folge als ›Deutsche‹ – was sich in einem deutlichen Rückgang des Anteils ›nicht-deutscher Schüler:innen‹ zeigte (s. Abb. 5) (vgl. Kemper 2015: 175ff.; Kemper/ Supik 2018: 229f.).   Bildungspolitisch wurden auf Bundesebene in den 1990er bis in die 2000er-Jahre hinein keine weitreichenden neuen Beschlüsse hinsichtlich der Organisation der Beschulung ›ausländischer‹ Schüler:innen verabschiedet.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Mit der KMK Empfehlung von 1996, »Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule« (KMK v. 25.10.1996), wurden ausschließlich auf konzeptionell-didaktischer Ebene Vorschläge zur Stärkung ›interkultureller Kompetenzen‹ gebündelt. Dabei erfolgt erstmals in der Darstellung der Ausgangslage (vgl. ebd., Abs. 1) der Hinweis, dass »viele von den in den vergangenen Jahrzehnten zugezogenen Migrantinnen und Migranten […] auf Dauer bleiben [wollen]« (ebd.) und sich die getroffenen Empfehlungen nicht nur an die ›ausländischen‹ Schüler:innen, sondern vielmehr an alle Schüler:innen richte (vgl. ebd.). Besonders betont wird, dass die Bundesrepublik dauerhaft durch Migration geprägt sei, und es wird auf die Bedeutung der Vermittlung von Wertschätzung und Akzeptanz der Gesellschaft als »in kultureller Hinsicht komplex und pluralistisch« (ebd.) hingewiesen. Durch eine »Auseinandersetzung zwischen Fremdem und Vertrautem« (ebd.) solle ein Perspektivwechsel angeregt, Selbstvertrauen und »Ich-Identität« (ebd.) gestärkt und damit die »gesellschaftliche[…] Integration« (ebd.) gefördert werden. Sichtbar wird hier ein Wechsel von einer Defizitperspektive auf ›Kultur‹ (›Ausländerpädagogik‹) hin zu einer Differenzperspektive auf ›Kultur‹ (›Interkulturelle Pädagogik‹). Beibehalten wird dabei jedoch weiterhin »die in der ausländerpädagogischen Praxis vorgefundene Unterscheidung von ›Kulturen‹ als Beobachtungs- und Beschreibungskategorie für Schülerinnen und Schüler und ihrer Lern- und Sozialverhalten« (Diehm/ Radtke 1999: 147), die sich in den Folgejahren als besonders wirkmächtig darstellte (vgl. Diehm/Radtke 1999: 125ff.; Diehm 2010: 201; Emmerich/Hormel 2013a: 131ff.).13   Die Empfehlungen der KMK von 1996 boten keine neuen organisatorischen Hinweise zur Beschulung von ›ausländischen‹ Schüler:innen. Die Inklusion neu migrierter Schüler:innen erfolgte in den 1990er-Jahren nach den weiterhin geltenden Empfehlungen aus den 1980er-Jahren, und es kann entsprechend in den 1990er-Jahren von einer Reaktivierung der bereits ›erprobten‹ Beschulungsmaßnahmen aus den 1970er und 1980er-Jahren gesprochen werden (vgl. Radtke 1996). Zu diesen Maßnahmen gehörte u.a. das Unterrichten der neu migrierten Schüler:innen in eigens eingerichteten Vorbereitungsklassen, mit oftmals neu eingestellten Lehrkräften in separaten Schulgebäuden (vgl. ebd.: 52).   Erst im Jahr 2013 erfolgte von der KMK eine Erneuerung des Erlasses von 1996 durch Bekanntgabe des Erlasses »Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule« (KMK v.

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Bereits seit den 1980er Jahren hat sich eine Reihe von Autor:innen kritisch mit den Grundannahmen der Ausländerpädagogik und der interkulturellen Erziehung mit Bezug auf Kinder mit sogenannten ›Migrationshintergrund‹ im deutschen Bildungssystem befasst und auch aktuell gibt es eine Reihe an Arbeiten, die sich kritisch mit den in der interkulturellen Pädagogik nach wie vor eingeschriebenen kategorialen Differenzkonstruktionen auseinandersetzen (vgl. u.a. Czock 1993, Diehm/Radtke 1999; Emmerich/Hormel 2013a). So halten Emmerich und Hormel (2013a) fest, dass auch aktuell in der pädagogischen Praxis weiterhin mit Diversity-Ansätzen ebenso wie mit Konzepten interkultureller Pädagogik – trotz des anderslautenden Anspruches – »das konkrete Bezeichnen von AdressatInnen« (ebd.) motiviert werde. So müssten auch »›kulturelle Ressourcen‹ und ›vielfältige Leistungspotenziale‹ […], bevor sie anerkannt und wertgeschätzt werden können, erkannt, d.h. beobachtet, differenziert, klassifiziert und individuell askribiert werden, was immer auch mit Exklusionsfolgen verbunden ist.« (Ebd.: 155f.)

3 Rekonstruktion bildungspolitischer Reaktionen auf Migration

05.12.2013). Neu ist an diesem – auch aktuell noch geltenden – Erlass, dass in der Überarbeitung von den kulturalisierenden/ethnisierenden Deutungsangeboten Abstand genommen wird und vielmehr betont wird, dass in der Schule »unterschiedliche[…] Orientierungen, Wertungen und Denkmuster [vermittelt werden sollten, J.J.] ohne Kinder und Jugendliche darauf zu reduzieren und durch die Zuschreibung spezifischer Eigenschaften zu etikettieren« (ebd., Abs. 3.2). Neben der inhaltlich-didaktischen Neuausrichtung im Hinblick auf die Vermittlung ›interkultureller Kompetenzen‹ finden sich nur wenige konkrete Hinweise zu Beschulungsmodellen für neu migrierte Schüler:innen. So wird im Erlass lediglich darauf verwiesen, dass neu migrierten Schüler:innen »ohne ausreichende Sprachkenntnisse« (ebd.) durch die »Entwicklung und Umsetzung eines geregelten Aufnahmesystems […] eine individuelle Unterstützung und […] schnellstmögliche Integration in das Schulleben« (ebd.) ermöglicht werden soll. Es bleibt offen, wie die Umsetzung dieser Empfehlungen, mit denen eine gleichberechtigte Teilhabe aller Kinder und Jugendlicher ermöglicht wird, organisatorisch erfolgen soll.   Betrachtet man die bundesweite Verteilung ›ausländischer‹ Schüler:innen auf die niveaudifferenzierten Sekundarschulformen in den 1990er und 2000er-Jahren, lässt sich parallel zu den 1970er und 1980er-Jahren ein Festhalten an Hauptschulen als primäre Beschulungsorte für ›ausländische‹ Schüler:innen erkennen (s. Abb. 6).  Erst seit Mitte der 2000er-Jahre zeichnet sich eine deutliche Entwicklung zur Verringerung der Anzahl ›ausländischer‹ Schüler:innen an Hauptschulen ab. Dieser Trend deckt sich dabei mit dem allgemein abfallenden Beschulungszahlen an Hauptschulen im Vergleichszeitraum14 und es kann die Vermutung aufgestellt werden, dass der Verlauf eher durch den verstärkten Abbau von Hauptschulen als Schulform und sinkende Zahlen ›ausländischer‹ Schüler:innen als durch eine neue Überweisungs-/Zuweisungspraktik insgesamt zu erklären ist (vgl. Emmerich/Hormel/Jording 2016, 2017). Gleiches kann für die sinkende Zahl von ›ausländischen‹ Schüler:innen an Förderschulen angenommen werden.15   In NRW veröffentlichte das Kultusministerium erst im Jahr 2009 wieder einen Beschluss zur Beschulung von ›ausländischen‹ Schüler:innen, der über didaktische Hinweise zur ›Interkulturellen Erziehung‹ in Schulen hinausging. In diesem Erlass wurde an den seit 1982 etablierten Möglichkeiten der Beschulung neu migrierter Schüler:innen festgehalten. Hierzu gehören a) Regelklassen mit zusätzlichem Förderunterricht Deutsch

14

15

So sind die Zahlen für alle Schüler:innen an Hauptschulen im Zeitraum von 1991 (mit 1076,4 Tausend) insbesondere seit 2005 von 1023,8 Tausend kontinuierlich bis auf 466,3 Tausend im Jahr 2015/2016 gesunken (vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 (2019)). Die Anzahl der Schüler:innen an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt ›Lernen‹ lag 1991 bei 203,1 Tausend, stieg dann in den Folgejahren weiter an, um ab 2002 (von 231,1 Tausend) auf 104,7 Tausend im Jahr 2015/2016 zu sinken (vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 (2019)).

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Abbildung 6: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen nach Schulform (1990-2016), in Tausend.

Eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 (2019).

(KM NRW v. 21.12.2009, Nr. 3, Abs.1), b) Vorbereitungsklassen für Schüler:innen ohne ›ausreichende‹ Deutschkenntnisse, deren Einrichtung an allen Schulformen möglich ist und die maximal zwei Jahre besucht werden sollen (vgl. ebd., Abs. 2.1) und c) Auffangklassen für Schüler:innen, die während des laufenden Schuljahres in die Schule inkludiert werden (vgl. ebd.). Ziel aller Beschulungsmaßnahmen, so wird in diversen Absätzen festgehalten, ist die schnelle Vermittlung von Deutschkenntnissen.16   Bei der Betrachtung der Verteilung ›ausländischer‹ Schüler:innen an allgemeinbildenden Schulen in NRW (s. Abb. 7) wird – parallel zu den beschriebenen Entwicklungen auf Bundesebene – erkennbar, dass der Anteil ›ausländischer‹ Schüler:innen an Hauptschulen zwischen Anfang der 1990er-Jahre bis zu Beginn der 2000er-Jahre sinkt, dann jedoch bis 2010 relativ stabil bleibt, sodass weiterhin eine deutliche Überrepräsentation ›ausländischer‹ Schüler:innen an Hauptschulen zu beobachten ist. Demgegenüber

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Darin zeigt sich, so führt Massumi aus, »[t]rotz vielfachen sprach- und erziehungswissenschaftlichen Plädoyers für die Öffnung von Mehrsprachigkeit im Unterricht […], dass der monolinguale Habitus resultierend aus der nationalstaatlichen Verfasstheit der Schule im Bildungssystem tief im Homogenitätsdispositiv verankert ist« (Massumi 2019: 88).

3 Rekonstruktion bildungspolitischer Reaktionen auf Migration

nähert sich in NRW der Anteil an Förderschulen dem Anteil ›ausländischer‹ Schüler:innen insgesamt an. Hier ist im Jahr 2015 eine geringer ausgeprägte Überrepräsentation zu verzeichnen. Auffällig ist darüber hinaus, dass der Anteil an Gymnasien über den Zeitraum von 25 Jahren gleichbleibend niedrig ist.   Abbildung 7: Anteil ausländischer Schüler:innen an allgemeinbildenden Schulen in NRW nach Schulform (1990-2015), in Prozent.

Eigene Darstellung nach MSB NRW Statistische Übersicht Nr. 404 – Quantita Schuljahr 2018/19.

Bis weit in die 2000er-Jahre hinein wurden ›ausländische‹ Schüler:innen auf Bundes- wie auch Landesebene (nicht nur durch die seit den 1970er/1980er-Jahren geltenden bildungspolitischen Beschlüsse und den darin verankerten Beschulungsmodellen) in Vorbereitungs- oder Auffangklassen »als eine spezifische Gruppe zur Sichtbarkeit gebracht« (Emmerich/Hormel/Jording 2016: 117). Es zeigt sich, dass (neu) migrierte Schüler:innen darüber hinaus durch die Zuweisung in niedrigqualifizierende Bildungsgänge des niveaudifferenzierten Sekundarschulsystems strukturell benachteiligt sind (vgl. ebd.).

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

3.4

Historisch etablierte Beschulungsstrategien für ›ausländische‹ Schüler:innen im Spiegel aktueller Entwicklungen

Seit Mitte der 2010er-Jahre lässt sich eine Zunahme von Migrations- und Fluchtbewegungen nach Europa nachzeichnen. Insbesondere seit 2014/15 erfolgte u.a. eine verstärkte Flucht von syrischen Kriegsgeflüchteten nach Deutschland. Erkennbar werden diese Migrations- und Fluchtbewegungen auch in der steigenden Anzahl ›ausländischer‹ Schüler:innen an deutschen Schulen. Abbildung 8: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen (2010-2019) in Tausend.

Eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 (2019).

Trotz der deutlichen Zunahme von ›ausländischen‹ Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen wurden neben dem Beschluss der KMK von 2013 auf Bundesebene keine weiteren Vorgaben an die Landesregierungen ausgesprochen.17

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An dieser Stelle kann bereits darauf verwiesen werden, dass sich bundesweit fünf verschiedene schulorganisatorische Modelle herausgebildet haben, die von einem ausschließlichen Unterricht der neu migrierten Schüler:innen in der Regelklasse mit allgemeiner Sprachförderung (submersives Modell), über das Modell additiver Sprachförderung bei gleichzeitigem Unterricht in der Regelklasse oder einem teilintegrativem Modell mit besonderer Sprachförderung im Klassenverband und einer sukzessiven Teilnahme am Regelunterricht bis hin zum parallelen Modell, bei dem der Unterricht ausschließlich für einige Monate oder bis zum Schulabschluss in speziell eingerichteten Klassen stattfindet, reichen (vgl. Massumi et al. 2015: 44).

3 Rekonstruktion bildungspolitischer Reaktionen auf Migration

Wirft man einen Blick auf die bundesweiten Zahlen ›ausländischer‹ Schüler:innen an allgemeinbildenden Schulen von 2009 bis 2019 (Abb. 9) fällt auf, dass ab 2015 parallel zu den Gesamtentwicklungen (Abb. 8) ein Anstieg an Gymnasien, Gesamtschulen, Realschulen und Förderschulen erkennbar ist, die Anzahl derjenigen ›ausländischen‹ Schüler:innen an Hauptschulen bundesweit jedoch weiter sinkt. Es scheint sich damit auf Bundesebene ein Trend fortzusetzen, der bereits in den 2000er-Jahren (s. Kap. 3.3) einsetzte.

Abbildung 9: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen nach Schulform (2009-2019), in Tausend.

Eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 (2019).

Rückt man nun jedoch das Bundesland NRW in den Fokus, werden Unterschiede zum bundesweiten Trend erkennbar (s. Abb. 10). Der Anteil ›ausländischer‹ Schüler:innen an Realschulen deckt sich fast vollständig mit dem Gesamtanteil ›ausländischer‹ Schüler:innen. An diesen Gesamtanteil nähert sich auch der Anteil an Förderschule und Gesamtschulen insbesondere seit 2015 noch einmal deutlich an (s. Abb. 10). Die Über- und Unterrepräsentation an den Schulformen Realschule, Förderschule und Gesamtschule scheinen sich hier also in den letzten Jahren zu verringern – wobei die Förderschulen noch am stärksten vom Gesamtanteil abweichen. Demgegenüber zeigt sich an Gymnasien auch nach 2015 nur eine geringfügige Erhöhung des Anteils ›ausländischer‹ Schüler:innen, und es bleibt weiterhin bei einer signifikanten Unterrepräsentation. Gleichzeitig kann eine deutlicher Zunahme des Anteils der an Hauptschulen beschulten ›ausländischen‹ Schüler:innen verzeichnet werden. Wie bereits in den Jahrzehnten zuvor, wird hier also beim Anstieg der Migrationszahlen eine verstärk-

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Abbildung 10: Anteil ausländischer Schüler:innen an allgemeinbildenden Schulen in NRW nach Schulform (2010-2018), in Prozent.

Eigene Darstellung nach MSB NRW Statistische Übersicht Nr. 404 – Quantita Schuljahr 2018/19.

te Zuweisung ›ausländischer‹ Schüler:innen an die niedrigstqualifizierende Schulform des niveaudifferenzierten Sekundarschulsystems erkennbar.   Mit Blick auf aktuelle Beschulungsstrategien vor dem Hintergrund historisch etablierter Strukturen und Routinen in der Beschulung neu migrierter Schüler:innen zeigt sich, dass seit den 1950er-Jahren bildungspolitische ›Strategien‹ entstanden sind, die durch drei Kontinuitätslinien gekennzeichnet sind: 1. Es werden keine langfristigen Beschulungsstrategien etabliert, sondern immer wieder wird primär mit schulorganisatorischen ad-hoc Lösungen reagiert: Nicht nur in der landes- und bundesweiten Bildungspolitik, sondern auch in den Schulen scheinen sich in Bezug auf das ›Problem‹ der Beschulung von neu migrierten Schüler:innen spezifische ›Lösungspraxen‹ etabliert zu haben. Zu diesen Lösungen gehört u.a. die Beschulung neu migrierter Schüler:innen nach unterschiedlichen Modellen – wie der Inklusion in die Regelklassen oder der zweijährigen Beschulung in Vorbereitungs- oder Auffangklassen. Anstatt langfristige schulorganisatorische Anpassungen hinsichtlich der Migrationsrealitäten in Deutschland vorzunehmen, wurde auch bei dem erneuten Anstieg ›ausländischer‹ Schüler:innenzahlen 2014/2015 wieder, wie Radtke bereits für die 1990er-Jahre festgestellt hat (vgl. Radtke 1996), primär mit schulorganisatorischen ad-hoc Lösungen reagiert. So kann mit Blick auf die Beschulung von neu migrierten Schüler:innen beobachtet werden, dass

3 Rekonstruktion bildungspolitischer Reaktionen auf Migration

es nicht nur in den 1990er-Jahren, sondern auch in den 2010er-Jahren zu einer Erneuerung der Figur des ›Typus Seiteneinsteiger‹ aus den 1970er-Jahren kam, der von Radtke als eine »fragwürdige Ikone der Schulpolitik« (Ebd.: 49) beschrieben wird. In der Konstruktion ›Seiteneinsteiger‹ verdichteten sich Irritationen, so Radtke, die ›ausländische‹ Schüler:innen in der Schule erzeugten: Auf bildungspolitischer Ebene ›störten‹ die neu hinzukommenden Schüler:innen unter anderem langfristige Schulentwicklungsplanungen; darüber hinaus stellten sie die Unterrichtspraxis vor Herausforderungen, da »die gängige Didaktik und Methodik mit möglichst homogenen Lerngruppen, die kontinuierlich entlang eines linear aufgebauten Curriculums unterrichtet werden können« (ebd.: 51), rechnet. 2. Bildungspolitische Erlasse richten sich primär auf eine Anpassung neu migrierter Schüler:innen an die Normalitätserwartungen der Schule aus: Es wird erkennbar, dass die Maßnahmen für ›ausländische‹ Schüler:innen – trotz der seit den 1990erJahren auszumachenden Betonung, dass die Vermittlung ›interkultureller Kompetenzen‹ für alle Schüler:innen besonders wichtig sei – weiterhin in erster Linie auf eine An- oder Einpassung dieser neu migrierten Kinder und Jugendlichen an die Normalitätserwartungen der Schule abzielen.18 Wie mit Verweis auf die jeweiligen Erlasse und Empfehlungen verdeutlicht werden konnte, wird dabei besonders das Erlernen der deutschen Sprache in den Fokus gestellt. 3. Zuweisung neu migrierter Kinder und Jugendlicher auf niedrigqualifizierende Schulformen wie der Hauptschule: Hinsichtlich des Bundeslandes NRW wird deutlich, dass scheinbar, wie bereits in den 1970er-Jahren, davon ausgegangen wird, dass eine Passung neu migrierter Schüler:innen insbesondere mit der niedrigqualifizierenden Schulform der Hauptschule bestünde, sodass ›ausländische‹ Schüler:innen an Gymnasien noch immer deutlich unterrepräsentiert sind. Es wird erkennbar, dass sich historisch erzeugte ›Problemlösungsstrategien‹ der Beschulung neu migrierter Schüler:innen ausmachen lassen. Es stellt sich entsprechend gegenwärtig die Frage, ob für die ›Lösung‹ des ›Problems‹ der Beschulung von neu migrierten Schüler:innen in der Bildungspolitik wie auch in der Bildungspraxis vor dem Hintergrund historisch erzeugter ›Problemlösungsstrategien‹ aktuell neue Perspektiven entwickelt werden, oder auf etablierte Muster zurückgegriffen wird.

18

Hinsichtlich des hier deutlich werdenden ›Homogenisierungsdispositiv‹ sei an dieser Stelle auf die ausführliche Arbeit von Massumi (2019) verwiesen.

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4 Anlage der Studie

Ausführungen zum Forschungsdesign, angefangen bei methodisch-methodologischen Grundannahmen und Orientierungen (Kap. 4.1) hin zur Darlegung des Samples und der Samplingstrategie (Kap. 4.3) sowie der Erläuterung der Datenerhebung und Reflexion (Kap. 4.4) sind Grundelemente eines methodisch informierten und nachvollziehbaren Forschungsprojektes. Entsprechend erfolgt in diesem Kapitel eine Zusammenfassung der für die vorliegende Forschungsarbeit getroffenen relevantesten forschungspraktischen Entscheidungen. Darüber hinaus wird vor dem Hintergrund der erarbeiteten Ergebnisse dieses Kapitels, wie auch der vorherigen Kapitel, eine Konkretisierung der in der Einleitung eingeführten Forschungsfragestellung vorgenommen (Kap. 4.2).

4.1

Methodisch-methodologische Grundannahmen

Das Forschungsprojekt basiert auf einer Reihe an metatheoretischen Annahmen, die die Grundlage für die Konkretisierung des Forschungsgegenstandes und der Forschungsfrage darstellen. Ausgeführt wird nun, wie mit der rekonstruktiv ausgerichteten, dokumentarischen Forschungsmethode Antworten auf die forschungsleitende Frage generiert werden können. Dafür wird zunächst die dokumentarische Methode als rekonstruktiver Forschungsansatz erläutert (Kap. 4.1.1), um daraufhin den Ansatz der dokumentarischen Organisationsforschung zu skizzieren (Kap. 4.1.2) und schließlich die dokumentarische Methode als funktionale Analyse zu beschreiben (Kap. 4.1.3). Es erfolgt keine ausführliche Darstellung der einzelnen Verfahrensschritte der dokumentarischen Methode, da dies bereits an anderen Stellen umfassend geschehen ist (s. hierzu u.a. Bohnsack 1999, 2014, 2017; Przyborski 2004; Bohnsack/Pfaff 2010; Bohnsack/Nohl 2013; Bohnsack/ Schäffer 2013). Stattdessen wird der Fokus auf die Erläuterung der für die Arbeit wichtigsten methodisch-methodologisch Annahmen gerichtet und für die weitere Auseinandersetzung hierzu auf jeweils entsprechende Quellen verwiesen.   Im Forschungsprojekt geht es hinsichtlich Organisationen darum, wie innerhalb dieser sozialen Systeme Ordnung erzeugt wird, oder auf die Forschungsfrage bezogen formuliert: Welche Strukturbildungen lassen sich im Erziehungssystem im Hinblick auf neu

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

migrierte Schüler:innen in der Organisation Schule und der Organisation Schulverwaltung nachzeichnen? Dabei wird, wie bereits plausibilisiert wurde (Kap. 2.3), an eine systemtheoretisch informierte Organisationsforschung angeknüpft und davon ausgegangen, dass Ordnung in Organisationen durch die autopoetische Verknüpfung von Entscheidungskommunikation gebildet wird (vgl. u.a. Luhmann 2011: 39ff.). Da die in den Organisationen getroffenen Entscheidungen i.d.R. nicht explizit als Entscheidungen kommuniziert werden (vgl. Amling/Vogd 2017: 22f.)1 und diese entsprechend durch die »Beobachtung von Interaktionen in Organisationen […] empirisch faktisch nicht beobachtbar [sind]« (von Groddeck/Siri/Mayr 2015: 173), scheint es plausibel, sich diesen Entscheidungsprozessen über eine rekonstruktive empirische Forschung anzunähern. Das rekonstruktive Verfahren der dokumentarischen Methode stellt sich hier nicht nur als gegenstandsangemessen dar, sondern darüber hinaus auch als anschlussfähig an die theoretische Ausrichtung des Forschungsprojekts. So schafft die Methode einerseits einen Zugang zur Handlungspraxis von Akteur:innen, indem »kollektive Prozesse der Konstruktion von theoretischem und handlungspraktischem Wissen in Gruppen und Organisationen« (Asbrand 2011: 13) rekonstruiert werden (vgl. Bohnsack/Pfaff 2010: 1f.). Andererseits bietet Bohnsacks Konzeption der »Mehrdimensionalität der Typenbildung« (Bohnsack 2017: 117) Anknüpfungspunkte hinsichtlich der Annahme, dass soziale Systeme nicht linear oder kausal miteinander verbunden sind, sondern die Gesellschaft vielmehr polykontextural gerahmt ist (vgl. ebd.: 120; Vogd 2005a: 113). So führt Vogd aus, dass »[d]ie unterschiedlichen semantischen Systeme und Logiken, die latent vorhanden und bei entsprechender Anregung sichtbar werden« (Vogd 2005a: 118) als Überschneidungen gefasst und mit Bohnsacks Ansatz der Mehrdimensionalität der Typenbildung beschrieben werden können (vgl. ebd.). Ebenso sieht Bohnsack hier Anknüpfungsmöglichkeiten an das theoretische Konzept der Polykontexturalität. So schaffe »die Kategorie des konjunktiven Erfahrungsraums und des Orientierungsrahmens (im weiteren Sinn) sowie die Methodik der mehrdimensionalen Typenbildung« (Bohnsack 2017: 120) einen »empirisch-methodischen Zugang« (ebd.) zu der Annahme, dass Praxen immerzu in Referenz zu und wechselseitiger Beeinflussung zwischen Interaktion, Organisation und Gesellschaft stattfinden (vgl. ebd.: 120f.).   Auch wenn die dokumentarische Methode grundlegend auf einer abduktiven Analyseeinstellung beruht, bedeutet dies nicht, dass grundsätzlich auf theoretische Vorannahmen verzichtet werden sollte (vgl. Bohnsack/Pfaff 2010: 3). Vielmehr muss hier – wie bereits im zweiten Kapitel ausgeführt wurde – deutlich zwischen metatheoretischen und gegenstandstheoretischen Annahmen unterschieden werden. Dies bedeutet, dass »die dem Forschungsprozess vorausgesetzten theoretischen Kategorien nicht inhaltlich-gegenstandsbezogener, sondern im Sinne einer formalen Grundbegrifflichkeit metatheoretischer Art« (Bohnsack 2014: 35) sind. Die bereits im Vorfeld getroffenen theoretischen Annahmen (Kap. 2) stehen also nicht im Widerspruch zur rekonstruktiven Logik der dokumentarischen Methode, sondern stellen vielmehr die Grundlage für einen fokussierten Forschungsprozess dar. So ist es für das Forschungsprojekt unabdingbar, zunächst zu klären, wie Organisationen grundsätzlich strukturiert sind und wie ungleichheitsrelevante 1

Die gilt insbesondere, wenn Entscheidungen wenig konflikthaft ausgehandelt werden.

4 Anlage der Studie

Strukturbildung in der Gesellschaft, in Organisationen und Interaktionen beschrieben werden kann. Deutlich gemacht werden kann damit gleichfalls, dass die im Weiteren dargelegten Beobachtungen und Analysen insofern »standortabhängig« (Amling/Vogd 2017: 12) sind, als »ein konzept- und voraussetzungsloses Beobachten nicht möglich ist.« (Ebd.) So scheint es überhaupt erst durch die Setzung metatheoretischer Grundlagen möglich zu sein, die in den Interviews vorzufindenden Konstruktionen handlungspraktischen Wissens als Konstruktionen ersten Grades zu beschreiben (vgl. hierzu auch Bohnsack 2014: 218f.). Die dokumentarische Methode bietet dabei ein regelgeleitetes Verfahren an, um von diesen Beobachtungen erster Ordnung zu Beobachtungen zweiter Ordnung überzugehen, also methodisch kontrolliert zu beobachten, wie die Interviewpartner:innen beobachten (s. hierzu auch Diehm/Radtke 1999: 66ff.). »Diese Beobachtung zweiter Ordnung setzt voraus, daß man den beobachteten Beobachter unterscheidet, also eine andere Unterscheidung verwendet als er selbst.« (Luhmann 1992a: 86) Die wissenssoziologischen Grundannahmen der dokumentarischen Methode stellen sich entsprechend, dies wird im Weiteren ausführlicher plausibilisiert, als anschlussfähig an die bereits getroffenen theoretischen Annahmen zur (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem der Migrationsgesellschaft dar.

4.1.1

Dokumentarische Methode als Zugang zum (Entscheidungs-)Handeln

Das Verfahren der dokumentarischen Methode wurde in den 1980er-Jahren, im Anschluss an die Wissenssoziologie von Karl Mannheim sowie die Ethnomethodologie nach Harold Garfinkel, federführend durch Bohnsack (weiter-)entwickelt (vgl. hierzu ausführlich u.a. Bohnsack 2017: 29-62). Im Zentrum der dokumentarischen Methode steht das Ziel, Zugang zum handlungsleitenden Wissen zu gewinnen und damit indirekt zur Handlungspraxis der Akteur:innen. Bohnsack baut bei dem Verfahren der dokumentarischen Methode insbesondere auf eine durch Mannheim etablierte spezifische Analyseeinstellung auf, die für diese Methode entscheidend ist: Der Wechsel der Analyseeinstellung vom ›Was?‹ zum ›Wie?‹. Begründet wird diese Analyseperspektive, die von Mannheim als genetische/soziogenetische Einstellung (vgl. Mannheim 2003) beschrieben wird, mit dem Hinweis, dass »die ›Welt selbst‹ oder ›die Realität‹, also das ›Was‹, […] unbeobachtet [bleiben]. Beobachtbar sind lediglich die Prozesse der Herstellung von Welt und Realität, also das ›Wie‹.« (Bohnsack 2013b: 177) Unterschieden wird, entsprechend der von Mannheim eingeführten Differenzierung, zwischen reflexivem/theoretischem Wissen auf der einen Seite und atheoretischem/inkorporiertem Wissen auf der anderen Seite. Während ersteres Wissen von den Akteur:innen in Form von ›um-zu‹ Motiven verbalisiert wird oder werden kann, wird letzteres im Kontrast dazu von den Akteur:innen nicht expliziert (vgl. ebd.: 181f., 2013a: 76f.). Im Anschluss an die Wissenssoziologie nach Mannheim wird mit der dokumentarischen Methode – in Abgrenzung u.a. zur objektiven Hermeneutik – dennoch nicht davon ausgegangen, dass mithilfe der Analysemethode ein Handlungssinn zum Vorschein gebracht werden könnte, der den Akteur:innen selbst (in Gegensatz zu den Wissenschaftler:innen) nicht zugänglich sei (s. hierzu u.a. Bohnsack 1999: 97ff.). Vielmehr wird angenommen, dass die Interviewpartner:innen »selbst nicht wissen, was sie da eigentlich (implizit) alles wissen« (Bohnsack

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

und Pfaff 2010: 4). Entsprechend wird auf der Basis des von den Akteur:innen explizit geäußerten Wissens ein Zugang zum darin zum Vorschein kommenden impliziten, ihre Handlungen leitenden, konjunktiven Wissen gesucht. Bohnsack bezieht sich dabei auf Mannheim, der von einer »Seinsgebundenheit« (Mannheim 1929: 35) des Wissens und Denkens ausgeht, also von der Annahme, dass das Wissen/Denken immer durch die äußeren gesellschaftlichen Bedingungen geprägt ist. So entstehe das Denken »nicht freischwebend im sozialen freien Raume, sondern ist im Gegenteil stets an einem bestimmten Orte in diesem verwurzelt.« (Ebd.: 35) Das bedeutet, dass »[d]ie Wirklichkeit, die uns von unserem Ort aus in den Blick gerät, […] die Wirklichkeit [ist], wie sie uns erscheint. Das Wissen, mit dem wir sie ordnen, ist Wissen, das sich für diesen Standort so ergeben hat.« (Abels 2010: 94) Mit der dokumentarischen Methode soll folglich nicht der jeweils subjektiv von den Akteur:innen geäußerte Sinn rekonstruiert werden, sondern analysiert werden, wie Sinn gemeinsam interaktiv hergestellt wird. Die Erzeugung von Sinn beruht auf Wissen, das, so die Annahme, kollektiv gebunden ist und in konjunktiven Erfahrungsräumen (vgl. Mannheim 2003) von Akteur:innen entsteht. Das Konzept des konjunktiven Erfahrungsraums wird von Przyborski beschrieben als eines, mit dem »von der konkreten Gruppe gelöste Kollektivität grundlagentheoretisch« (Przyborski 2004: 29) gefasst wird. Verwiesen wird damit auf die Annahme, dass alle Individuen in einer Gesellschaft immer Teil mehrerer, sich ergänzender und überlagernder konjunktiver Erfahrungsräume sind, zu denen bspw. geschlechtstypische, bildungsmilieutypische, migrationstypische etc. Erfahrungsräume gezählt werden (vgl. ebd.). Diese konjunktiven Erfahrungsräume sind nicht nur durch habitualisierte Wissensbestände (Orientierungsrahmen) geprägt, sondern auch durch kommunikative Wissensbestände, sodass bspw. im Hinblick auf den konjunktiven Erfahrungsraum ›Geschlechtstypik‹ bestimmte institutionalisierte Normen, Erwartungen und Rollen (Orientierungsschemata) relevant werden (vgl. Bohnsack 2017: 103). Während Orientierungsrahmen »tief in die Praxis eingewobene Sinnorientierungen« (Vogd 2009: 61) darstellen, die über die Rekonstruktion konjunktiven Wissen herausgearbeitet werden können, bestehen Orientierungsschemata aus »institutionalisierte[n] normative[n] Erwartungen und Rollen, […] Identitätsnormen [und] Common Sense-Theorien« (Bohnsack 2017: 103). Orientierungsschemata stellen also das »Wissen um institutionalisierte und normierte Verläufe [dar], mit denen Individuen sich auseinandersetzen und innerhalb derer sie handeln müssen« (Kleemann/Krähnke/ Matuschek 2013b: 157). Orientierungsrahmen und Orientierungsschema sowie die implizite Reflexion dieser ggf. in einem Spannungsverhältnis stehenden Wissensbestände, werden im Konzept des konjunktiven Erfahrungsraums gefasst, welche das Handeln von Akteur:innen prägt (vgl. ebd.). Konjunktive Erfahrungsräume sind damit, so Bohnsack, »nicht nur das Produkt des gemeinsamen Erlebens (im Falle interaktiver Erfahrungsräume) resp. des strukturidentischen Erlebens (im Falle gesellschaftlicher Erfahrungsräume) einer gemeinsamen oder strukturidentischen Handlungspraxis, sondern immer auch des gemeinsamen oder strukturidentischen Erlebens der ubiquitären oder notorischen Diskrepanz zwischen Regeln und Praxis, also zwischen den normativen Erwartungen – im

4 Anlage der Studie

Bereich von Organisationen auch: den Programmen und der Corporate Identity – einerseits und dem kollektiven Habitus, dem Orientierungsrahmen im engeren Sinne, andererseits.« (Bohnsack 2017: 104) Treffen nun in einem Gespräch verschiedene Menschen aufeinander, bedeutet dies, dass immer auch verschiedene konjunktive Erfahrungsräume zusammenkommen, die entweder in bestimmten Bereichen geteilt werden – oder nicht. In der Anwendung der dokumentarischen Methode geht es dann darum, herauszuarbeiten, inwiefern im Diskurs einer Gruppendiskussion die ggf. divergierenden oder gemeinsamen Erfahrungsräume und ihre Überlagerungen zum Ausdruck kommen (vgl. Przyborski 2004: 30f.). Die von Bohnsack angesprochene ›Diskrepanz zwischen Regeln und Praxis‹ deutet dabei auf ein Spannungsverhältnis hin, welches innerhalb eines gemeinsamen konjunktiven Erfahrungsraums einer fortwährenden »implizite[n] Reflexion« (Bohnsack 2017: 107, Herv. im Original) unterzogen ist.   Die für die dokumentarische Methode grundlegende Unterscheidung zwischen theoretischem/kommunikativem und atheoretischem/konjunktivem Wissen findet ihre Entsprechung in zwei Analyseschritten: So werden zunächst, in einer formulierenden Interpretation, die von den Akteur:innen explizit geäußerten Inhalte zusammengefasst und in Form von Ober- und Unterthemen strukturiert. In einem zweiten Schritt wird daraufhin in einer reflektierenden Interpretation der dokumentarische Sinngehalt der jeweiligen Äußerungen analysiert. In diesem zweiten Analyseschritt soll rekonstruiert werden, wie bestimmte Themen mit Bezug auf welche Orientierungsschema innerhalb eines Orientierungsrahmens entfaltet werden. Besondere Bedeutung kommt dabei dem ›ins Verhältnis setzen‹ unterschiedlicher, gemeinsam durch die Akteur:innen erzeugte Sprechsequenzen zu (vgl. Bohnsack/Schäffer 2013: 337). So werden die Interviewpassagen fallintern einerseits nach Bezugnahmen und Reaktionen auf Sprechbeiträge, und andererseits nach dabei deutlich werdenden impliziten Vergleichshorizonten analysiert. Dabei geht es um die Rekonstruktion von Regelmäßigkeiten, die sich »in der reflektierenden Interpretation derart [vollziehen], dass nach der Klasse von Reaktionen gesucht wird, die nicht nur als thematisch sinnvoll erscheinen, sondern die auch homolog oder funktional äquivalent zu der empirisch gegebenen Reaktion sind.« (Bohnsack/Nohl 2013: 325) Durch die fallexterne komparative Analyse werden schließlich »empirische Vergleichshorizonte an das Material herangetragen« (Asbrand 2011: 5). Das bedeutet, dass alternative Entscheidungen vor dem Hintergrund eines ähnlichen Bezugsproblems (als tertium comparationis) kontrastiert werden, um das Spezifische eines jeden Falls herausarbeiten und die Standortgebundenheit der Forscher:innen auszuklammern.2 2

Mit den der Methode zugrundeliegenden systematischen fallinternen und fallexternen Komparationen wird dabei dem Gütekriterium des ›kontrollierten Fremdverstehens‹ Rechnung getragen, indem aus dem empirischen Material selbst kommende Vergleichshorizonte in Form alternativer Praxen systematisch herangetragen werden und damit die Interpretationsfolien der forschenden Person auf Abstand gehalten werden. Methodische Kontrolle wird darüber hinaus dadurch ermöglicht, dass durch die Erzeugung möglichst selbstläufiger Kommunikationen den interviewten

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Ziel der dokumentarischen Methode ist die Generalisierung und Abstraktion der in den Interviews deutlich werdenden Orientierungen in Form von Typologien (sinngenetisch, soziogenetisch).3 Von einer Typenbildung wird dann gesprochen, wenn der in einer reflektierenden Interpretation rekonstruierte »Orientierungsrahmen als homologes Muster an unterschiedlichen Fällen identifizierbar ist, sich also von der fallspezifischen Besonderheit gelöst hat.« (Bohnsack 2010: 305)   Diese sogenannten praxeologischen Typenbildungen »konstituieren sich […] nach einer Logik der Reflexivität. Der Typus und seine Elemente stehen in einem Verhältnis von Teil und Ganzem zueinander: Die einzelnen Elemente, also beispielsweise Handlungen, formieren sich zu Kontexten und erhalten erst durch diese Kontextuierungen, deren Teile sie darstellen, wiederum ihre besondere Bedeutung.« (Ebd.: 304) Die für eine praxeologische Typenbildung durchzuführende komparative Analyse basiert zunächst darauf, bestimmte Themen als tertium comparationis herauszuarbeiten, also zu analysieren, wie ähnliche Themen in unterschiedlichen Fällen verhandelt werden (ebd.,: 307f.). Sobald in verschiedenen Fällen homologe Orientierungsrahmen sichtbar werden und diese fallübergreifend beschrieben werden können, kann von einem ersten Schritt Richtung sinngenetischer Typenbildung gesprochen werden. Um sinngenetische Typen herausbilden zu können, wird der sich als homolog darstellende abstrahierte Orientierungsrahmen als tertium comparationis genutzt, um einen Typus zu konstruieren, der gleichsam abstrakt wie auch spezifisch ist, und Rückschlüsse auf den »modus operandi eröffnet, welcher die Alltagspraxis in deren unterschiedlichen Bereichen in homologer Weise strukturiert« (ebd.: 309).   Wenn nun der Blick auf die Genese dieser Orientierungen gelenkt und danach gefragt wird, wie es zur Entstehung der sinngenetischen Typen kommt, wendet man sich der soziogenetischen Typenbildung zu. Dabei wird (themenübergreifend) auf eine Abstraktion der bereits rekonstruierten Orientierungsrahmen unter dem Hinzuziehen von zusätzlichem Kontextwissen wie bspw. dem Vorliegen von persönlichen Migrationserfahrungen, Genderrollen oder Milieuzugehörigkeiten fokussiert (vgl. Kleemann/Krähnke/ Matuschek 2013b: 166). Bei diesem Analyseschritt der soziogenetischen Interpretation wird dieses Kontextwissen dabei jedoch konsequent aus dem empirischen Material selbst rekonstruiert. »Der Forscher bzw. die Forscherin setzt also nicht die in der reflektierenden Interpretation rekonstruierten Orientierungen bzw. Orientierungsrahmen in einen Zusammen-

3

Personen die Gelegenheit geben wird, möglichst frei ihre eigenen Relevanzsysteme zu entfalten (vgl. Bohnsack 2014: 22f.). Hierdurch soll der Zugang zu »individuellen und kollektiven Erfahrungsräumen als selbstreferentiellen oder autopoetischen Systemen« (Bohnsack 2005b: 69) geschaffen werden. Zur Abgrenzung der hier skizzierten Typologien zur Idealtypik nach Weber siehe NentwigGesemann (2013) und Bohnsack et al. (2019).

4 Anlage der Studie

hang zu ›sozialen Lagerungen‹, welche über standardisierte Indikatoren identifiziert und damit gewissermaßen ›von außen‹ an die Fälle herangetragen werden, sondern rekonstruiert die Zusammenhänge mit Erfahrungsdimensionen, die von den Befragten selbst eröffnet werden.« (Amling/Hoffmann 2013: 189)

4.1.2

Dokumentarische Organisationsforschung

Die dokumentarische Methode beabsichtigt, mit dem Ziel der Erzeugung einer soziogenetischen Typenbildung, geteilte Orientierungsrahmen von gesellschaftlichen Milieus zu rekonstruieren, die sich »auf der Grundlage strukturidentischer Erlebnisschichtungen unter anderem im Bereich bildungsspezifischer, genderspezifischer und generationsspezifischer Sozialisationsprozesse [konstituieren]« (Bohnsack 2017: 121). Inwiefern dieser grundsätzliche Ansatz auf das hier vorliegende Forschungsprojekt zur (Re-)Produktion von sozialer Ungleichheit in den Organisationen des Erziehungssystems übertragen werden kann, soll im Weiteren im Mittelpunkt stehen. So ist es sinnvoll – wenn nun auf Grundlage der im bereits entfalteten metatheoretischen Annahmen Organisationen in den Blick genommen werden – im Anschluss an u.a. Vogd (2009, 2011), Vogd und Amling (2017) oder Goldmann (2017a, 2017b), einige Anpassungen hinsichtlich einer dokumentarischen Organisationsforschung vorzunehmen.   Zunächst gilt es sich noch mal zu vergegenwärtigen, dass grundsätzlich etliche mehr oder weniger stark voneinander divergierende metatheoretische Ansätze für eine sozialwissenschaftliche Erforschung von Organisationen vorliegen, welche sich in diversen empirischen Forschungsperspektiven widerspiegeln. Diese metatheoretischen Ansätze werden hier keiner eingehenden Betrachtung unterzogen, lassen sich aber u.a. in Anlehnung an Vogd (2009: 91ff.) – wenngleich in einer etwas überspitzt anmutenden Gegenüberstellung – in solche Perspektiven differenzieren, die Organisationen als auf die Erfüllung bestimmter Zwecke ausgerichtete Systeme erfassen und in solche Ansätze, die diese klassische zweckgerichtete, organisationstheoretische Perspektive infrage stellen.   Da bereits ausführlich auf die diese Arbeit leitende Organisationsperspektive eingegangen wurde (s. Kap. 2), wird der Fokus im Weiteren auf die Frage gerichtet, welche methodologischen und methodischen Konsequenzen die durch die Systemtheorie gesetzten metatheoretischen Annahmen für die rekonstruktive Forschung in Organisationen haben. So weisen Amling und Vogd auf forschungspraktische Konsequenzen hin, die sich jeweils aus den der Forschung zugrunde liegenden Organisationstheorien ergeben (vgl. Amling/Vogd 2017b: 9ff.). Mit klassischen organisationstheoretischen Ansätzen (wie bspw. der Rational Choice-Theorie) kann bereits vor der empirischen Überprüfung eindeutig entworfen werden, wie sich Organisationen darstellen – und diese Annahmen werden daraufhin i.d.R. durch quantitative hypothesenbasierte Forschungen überprüft. Demgegenüber zeichnen sich neo-institutionalistische und systemtheoretische Forschungsansätze dadurch aus, dass zwar auch hier gewisse Annahmen hinsichtlich des Systems der Organisation ex ante vorausgesetzt werden (vgl. ebd.: 9f.), die Forscher:innen aber gleichzeitig

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»in einer Haltung der Bescheidenheit nicht mehr davon ausgehen können, von vornherein zu wissen, worin der Zweck einer Organisation besteht oder auch die Struktur, die die diversen Praktiken zusammenhält, so dass sich tatsächlich von einer Organisation sprechen lässt.« (Ebd.: 10. Herv. im Original) Entsprechend dieser Perspektive müsse eine empirisch ausgerichtete Forschung, so Amling und Vogd, zunächst leisten können, »all jene Sinnbezüge zu rekonstruieren, welche die Organisation konstituieren.« (Ebd., Herv. im Original)   Innerhalb der rekonstruktiv ausgerichteten dokumentarischen Organisationsforschung lassen sich grundsätzlich zwei konzeptionelle Ansätze ausmachen. Diese nehmen entweder auf neo-institutionalistische oder auf systemtheoretische Annahmen Bezug. Anhand dieses Unterschieds kann die Bedeutung metatheoretischer Setzungen veranschaulicht und gleichzeitig auf die Implikationen einer systemtheoretisch informierten dokumentarischen Forschung für diese Arbeit verwiesen werden.   Im Anschluss an Nohl (2017: 284) können die von der dokumentarischen Methode angeleiteten Studien von Mensching zu organisationskulturellen Praktiken der Polizei (Mensching 2008), von Kubisch zur Organisation der freien Wohlfahrtspflege (Kubisch 2008) und Nohl zur Organisation Schule (Nohl 2014) als wegweisend für den Forschungsansatz der dokumentarischen Organisationsforschung beschrieben werden. Kubisch geht in ihrer Arbeit davon aus, dass Organisationen einen »konjunktiven Erfahrungsraum [bilden], innerhalb dessen die Organisationsmitglieder im gemeinsamen Handeln kollektive Orientierungen ausbilden. Dabei ist von einer Überlagerung organisationsbezogener und organisationsübergreifender Erfahrungsräume bzw. Milieus auszugehen« (Kubisch 2008: 93). Mensching hingegen argumentiert in ihrer Forschung, dass »soziale Milieus jenseits der Organisation nicht in diese ›importiert‹ werden können, sondern nur dann eigene organisationale Relevanz entfalten, wenn diese sozialen Milieus eigenständige organisationskulturelle Milieus etablieren, d.h. eigene Praktiken der Differenzbearbeitung zwischen Regelerwartungen und Regelpraxis etablieren.« (Mensching 2017: 63) Nohl indessen plausibilisiert, dass es innerhalb von Organisationen einerseits »Organisationsmilieus« (Nohl 2017: 288) gebe, die, vor dem Hintergrund einer Vielzahl von unterschiedlichen sozialen Milieus in der Gesellschaft, in der Organisation selbst »auf der Basis allmählich habitualisierter Anwendungen formaler Regeln« (ebd.) entstehen, gleichzeitig aber auch innerhalb von Organisationen soziale Milieus auszumachen sind, denen Organisationsmitglieder ›außerhalb‹ der Organisation angehören und die ihren Umgang mit formalen Regeln innerhalb der Organisation prägen. Ergänzend zu Nohls vorgenommener Sortierung und Ausweisung wegweisender Studien der dokumentarischen Organisationsforschung wären mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand ›Organisation Schule‹ die Arbeiten von Wagner-Willi und Sturm zu Inklusion in der Organisation Schule hinzuzufügen (vgl. Wagner-Willi/Sturm 2013).

4 Anlage der Studie

Diese knüpfen an Nohl (2010) an und gehen ebenso davon aus, dass sich in Organisationen ein Organisationsmilieu dort herausbildet, »wo die formalen Regeln in ihrer praktischen Umsetzung (in informelle Regeln) gemeinsam getragen und konkretisiert werden« (Wagner-Willi/Sturm 2013: o. S.) und diese Organisationsmilieus u.a. die Praxis der Lehrkräfte prägen. Entsprechend sei die »Alltagspraxis« (ebd.) in Schulen durch »die mehrdimensionalen, durch Herkunft und Professionserfahrungen bedingten Milieus von Lehrenden sowie ihre institutionalisierten Rollen, die mehrdimensionalen, durch Herkunft und Peerkultur bedingten Milieus der Kinder oder Jugendlichen, ihre institutionalisierten Rollen als Schüler/-innen und das je konkrete Organisationsmilieu [strukturiert, J.J.].« (Ebd.) Dabei machen die Autor:innen in der Unterrichtspraxis in der Verknüpfung verschiedener sozialer Rollen (Lehrkräfte/Schüler:innen) und unterschiedlicher Milieus (wie fachkulturelle oder sozio-ökonomische) ein »Unterrichtsmilieu« (ebd., Herv. im Original) aus. Trotz der sichtbar werdenden Differenzen ist den, an dieser Stelle nur grob skizzierten, Arbeiten gemein, dass sie von der – der dokumentarischen Methode inhärenten – Idee geleitet sind, Organisationen durch die Rekonstruktion habitualisierter Praktiken zu erfassen. Bezogen auf den Forschungsgegenstand der Organisation werden diese habitualisierten Praktiken als Organisationskulturen beschrieben. So hält bspw. Mensching mit Blick auf eine praxeologische dokumentarische Organisationsforschung fest, »dass eine Organisation eine Kultur ist (und keine Kultur hat) und sich damit organisationskulturelle Orientierungen in den alltäglichen organisationalen Kommunikationen dokumentieren« (Mensching 2008: 68) und auch Wagner-Willi und Sturm fassen Unterrichtsmilieus als »eine[…] spezifische[…] Kultur des Lernens« (Wagner-Willi/ Sturm 2013: o.S.) auf. Bohnsack verwendet den Begriff des Organisationsmilieus als »weitgehend synonym zu demjenigen des organisationalen konjunktiven Erfahrungsraums« (Bohnsack 2017: 129), der aus einer Vielzahl unterschiedlicher konjunktiver Erfahrungsräume besteht, »welche ihre je eigene (interaktive) Praxis haben« (ebd.: 130). Entsprechend sind organisationale konjunktive Erfahrungsräume immerzu mehrdimensional geprägt (vgl. ebd.: 133). Als Organisationskultur hingegen wird von Bohnsack die Verbindung der Organisationsmilieus »auf der (Oberflächen-)Ebene kommunikativer Wissensbestände« (ebd.) beschrieben.4 Deutlich werden an diesen Beispielen nicht nur Bezüge zum Ansatz des Neo-Institutionalismus, mit dem die Bedeutung ›kultureller Konstruktionen‹ in Organisationen beschrieben werden kann. Vielmehr zeigt sich auch, dass der für die dokumentarische Forschung als besonders relevant gesetzten Unterscheidung zwischen kommunikativem und konjunktivem Wissen eine besondere Rolle zugeschrieben wird. Jansen und Vogd weisen mit Blick auf diese Forschungen darauf hin, dass hier kommunikative Wissensbestände als »externes Phänomen interpretiert [werden]: Es ist etwas, das der Praxis gegenübersteht und mit dem irgendwie umgegangen werden muss. Implizite [konjunktive, J.J]

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Siehe zu Bohnsacks Konzept zu Organisation und Erfahrungsräumen ausführlich Bohnsack (2017: 128-138).

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Wissensbestände stellen die ›Übersetzung‹ her, sie gewährleisten Regelinterpretationen« (Jansen/Vogd 2017: 262) Die Forschungsperspektive zielt also darauf ab, geteilte Orientierungsrahmen zu rekonstruieren und die Genese dieser zu untersuchen. Offengehalten und als nur empirisch überprüfbar beschrieben, wird dabei die Frage, inwiefern die sozialen Milieus wie auch die Organisationsmilieus »in einer Organisation dominant werden, d.h. ob sie über die maßgeblichen Mitglieder auf die Organisation Einfluss üben können.« (Nohl/ Somel 2017: 194) Die Arbeiten von Vogd (Vogd 2005b, 2009, 2011), Jansen und Vogd (2017) oder Goldmann (Goldmann 2017a, 2017b) können von den oben genannten Arbeiten von u.a. Nohl, Mensching, Kubisch sowie Wagner-Willi und Sturm abgegrenzt werden, da diese sich noch stärker an systemtheoretischen Grundannahmen hinsichtlich der Funktionsweise von Organisationen orientieren bzw. diese voraussetzen und entsprechend weitere Anpassungen der dokumentarischen Methode vornehmen. So führt Vogd aus, dass mit der dokumentarischen Methode zwar Organisationskulturen in Organisationen ausgemacht werden könnten, die »für all jene Bemühungen und Geschäftigkeit stehen, die dazu dienen, eine organisationale Einheit zu zeigen« (Vogd 2009: 27, Herv. im Original), gleichzeitig aber im Auge behalten werden müsste, dass die einzelnen Organisationsmitglieder innerhalb solchermaßen präsentierter Erscheinungsbilder oder Verfahrensvorgaben eigenen Orientierungen folgen können. Von Vogd und anderen wird darauf verwiesen, dass Organisationen nicht nur durch die Rekonstruktion impliziter handlungsleitender Wissensbestände erfasst werden können, sondern darüber hinaus auch explizite Wissensbestände stärker berücksichtig werden müssten (vgl. Vogd 2005c, 2009, 2011; Jansen/Vogd 2017; Goldmann 2017a). So gehe es in Organisationen »in hohem Maße um (oftmals untereinander inkommensurable) Ziele, die einer Umzu-Architektur folgen, sowie um unterschiedliche Legitimationsbedürfnisse (z.B. Recht aber auch Gruppenloyalitäten), die Weil-Motive nahelegen.« (Jansen/Vogd 2017: 261) Entsprechend sollte, folgern Jansen und Vogd, in einer dokumentarischen Organisationsforschung berücksichtigt werden, dass oftmals auch explizite Wissensbestände innerhalb von Organisationen handlungsleitend sind. Beachtet werden muss dabei aber, dass Handlungen in Organisationen immer polykontextural eingebettet sind. Das bedeutet bspw., dass in Form von explizitem Wissen vorliegende Handlungsanweisungen nicht einfach nur eins-zu-eins umgesetzt, sondern vor dem Hintergrund unterschiedlichster (Umwelt-)Anforderungen realisiert werden (vgl. ebd.: 263ff.). Es wird also davon ausgegangen, dass es keinen trivialen Zusammenhang zwischen Wissen und Strukturen gibt, mit dem von einem auf etwas anderes geschlossen werden könnte (wie dies bspw. in der klassischen zweckrationalen Organisationstheorie angenommen würde). Explizites Wissen besteht nie ohne implizites Wissen sowie der Praxis des reflexiven Auseinandersetzens mit expliziten Wissensräumen (vgl. ebd.: 265f.). An dieser Stelle grenzen sich Jansen und Vogd deutlich von einer Organisationskulturforschung ab, in der der Fokus auf der Rekonstruktion homologer Orientierungen liege, und verweisen darauf, dass die Praxis in einer Organisation

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»schon immer in Spannung, in Unruhe bzw. in Bewegung und [damit] im Widerspruch zu einer Homogenisierung von Orientierungen, wie sie mit Begriffen wie ›Organisationskultur‹ oder ›Organisationsmilieu‹ suggeriert wird [erscheint]« (ebd.: 265). Sie folgern aus diesen Überlegungen, dass in einer rekonstruktiven Organisationsforschung »[o]rganisationale Praxis […] nicht mehr im Hinblick auf einen impliziten Orientierungsrahmen verstanden werden [darf], sondern […] vielmehr als Resultat des Arrangements verschiedener, sowohl impliziter wie auch explizit strukturierter sozialer Räume anzusehen [ist], als eine permanent neu erfolgende Verschachtelung, die immer schon außerhalb ihrer selbst ist und damit mehr in sich trägt, als die Organisation selbst (einschließlich ihrer Kultur) nahe zu legen scheint.« (Ebd.) Auch Goldmann argumentiert, dass – anstatt homologe Orientierungsrahmen zu rekonstruieren, um Milieus in Organisationen ausmachen zu können (wie von u.a. Nohl, Mensching und Kubisch vorgenommen) – vielmehr dem Ansatz von Vogd sowie Jansen und Vogd folgend eine »Erfassung widersprüchlicher und konflikthafter Aushandlungen von Unterschiedlichkeiten« (Goldmann 2017a: 146) mit dem Ziel erfolgen sollte, Organisationen als Systeme umfassender beschreiben zu können.   Mit Blick auf die von Jansen und Vogd oder Goldmann formulierte Perspektive auf die dokumentarische Organisationsforschung und vor dem Hintergrund des Forschungsinteresses der vorliegenden Arbeit, Problemkonstruktionen und Problembearbeitungsstrategien in der Organisation Schule zu fokussieren, wird dem Ansatz, mit der dokumentarischen Methode homologe Orientierungsrahmen (innerhalb einer Gruppe oder in einem Milieu) zu rekonstruieren, in dieser Arbeit nicht nachgegangen.5 Den »primäre[n] Bezugspunkt« (Jansen/Vogd 2017: 267) einer solchen Forschungspraxis stellt dann, im Anschluss an Jansen und Vogd, nicht die Rekonstruktion verschiedener Habitus dar, sondern die Ordnung in Organisationen, »in der sich unterschiedliche institutionelle und normative Ordnungen ineinander verschachteln und sich aneinander abarbeiten. Dabei werden die gesellschaftlichen Ordnungen nicht als etwas ›Externes‹ betrachtet, das der Praxis gegenüber steht, sondern Gruppe oder Habitus sind nur jeweils eine von vielen Referenzen, die in der Praxis und durch die Praxis arrangiert werden.« (Jansen und Vogd 2017: 267) Jansen und Vogd schließen aus dieser Annahme, dass es von besonderer Bedeutung sei, Räume (welche die Autor:innen in Bezug auf Gotthard Günther als »Kontexturen« (ebd.: 268) bezeichnen) zu rekonstruieren, die sich in »transjunktionalen Operationen« (Günther 1967, nach Jansen/Vogd 2017: 268) bilden, indem Orientierungen nach innen wie auch außen abgegrenzt werden, und damit für die Praxis prägend erscheinen (vgl. ebd.). 5

Auf die ausführliche Diskussion, inwiefern die dokumentarische Organisationsforschung von Bohnsack, Nohl, Mensching oder Kubisch tatsächlich zu stark auf ›homologe Orientierungen‹ fokussiere und damit konflikthafte Aushandlungsprozesse und ihre Bedeutungen tendenziell vernachlässigt werden, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden (s. hierzu u.a. aktuelle Diskussionen in der FQS).

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›Transjunktionale Operationen‹ dienen, so Jansen (2013) dazu, »einzelne Elemente aus dem eigenen Wertesystem auszuschließen, ganze Reflexionshorizonte auszuschließen oder aber komplette Kontexturen zu spiegeln.« (Ebd.: 52) Mit der entscheidungstheoretisch reformulierten, systemtheoretisch geleiteten Annahme, dass Ordnung in Organisationen durch die autopoetische Verknüpfung von Entscheidungskommunikation gebildet wird (vgl. Luhmann 2011: 39ff.), kann, an Vogd (2009) anknüpfend, ein Schwerpunkt auf die Analyse von Entscheidungskommunikationen in Organisationen gelegt werden (vgl. ebd.: 111ff.). Die Frage lautet dann, wie jeweils entschieden wird, wie Kontingenz jeweils eingeschränkt und damit Ordnungsbildung ermöglicht wird. Dabei ist davon auszugehen, dass Entscheidungen fortwährend eine Auswahl aus einer Reihe unterschiedlicher Möglichkeiten darstellen und daher immer auch anders hätten getroffen werden können. Dieser Annahme der Kontingenz von Entscheidungen kann dann insofern Rechnung getragen werden, als die Analyse neben dem fallinternen Vergleich grundlegend auf der fallexternen Komparation von Vergleichsfällen basiert (vgl. Vogd 2009: 111ff., 2011: 41f.; Nassehi 2012: 83f.). Diese Perspektive soll im Folgenden durch die Reformulierung der dokumentarischen Methode als funktionale Analyse näher betrachtet werden.

4.1.3

Dokumentarische Organisationsforschung als funktionale Analyse

Die funktionale Methode wurde von einer Reihe verschiedener Autor:innen entwickelt und geprägt. Nach John (2010) lässt sich hier eine Genealogie nachzeichnen, die den Ausgangspunkt der funktionalen Analyse in der Anthropologie u.a. vertreten durch die Wissenschaftler:innen Malinowski (1949) und Radcliffe-Brown (1952), verortet. Malinowski beschreibt die in der Anthropologie als kulturelle Phänomene beobachteten Handlungen, Institutionen oder Artefakte als »verschiedene Lösungen bestimmter Probleme […], die sich als Zwecke gegenseitig bedingen« (John 2010: 31). Er geht dabei davon aus, dass der Zweck in der Befriedigung von universellen Bedürfnissen (»basic needs«), wie dem Bedürfnis nach Nahrung oder Unterkunft, zu finden sei (vgl. Malinowski 1987). Radcliffe-Brown verweist hingegen noch stärker als Malinowski auf die funktionale Bedeutung von Leistungen für den Erhalt und die Existenz komplexer sozialer Systeme und führt aus: »By the definition here offered ›function‹ is the contribution which a partial activity makes to the total activity of which it is a part. The function of a particular social usage is the contribution it makes to the total social life as the functioning of the total social system.« (Radcliffe-Brown 1952: 181) Neben Autor:innen, die die funktionale Analyse in der Anthropologie weiter ausführen, entwickelte Parsons (Parsons 1954) die funktionale Analyse als ein Analyseinstrument sozialer Strukturen in Abgrenzung zu den von ihm kritisch beurteilten kulturwissenschaftlichen Analysen weiter (vgl. John 2010: 35ff.). Luhmann knüpft an die Überlegungen Parsons zur »Relationierung von Problemen und Lösungen« (Nassehi 2012: 83) in komplexen Systemen an und richtet mit der nun systemtheoretisch reformulierten Perspektive den Fokus auf die Analyse von »Systemzüge[n] in Hinblick auf äquivalente andere

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Möglichkeiten, also auch auf Möglichkeiten der Veränderung, des Austausches und Ersatzes und ihrer Rückwirkungen im System« (Luhmann 1974: 16). Dabei setzt Luhmann jedoch, so führt Nassehi aus, einen anderen Akzent als Parsons, indem er »einen Vorrang der Funktion vor der Struktur [betont]. […] Der systemtheoretische Blick [Luhmanns, J.J.] reagiert damit auf die Herausforderung, alles, was geschieht, als kontingent, aber keineswegs als beliebig anzusehen. Die systemtheoretische Methode sieht sich also ihren Gegenstand als eine Lösung an, bezieht diese Lösung auf systemrelative Probleme und entdeckt dabei Alternativen auf beiden Seiten. Diese Relationierung ermöglicht es dem Beobachter, Einzelereignisse als Systemereignisse aufzufassen.« (Nassehi 2012: 83) Der Erkenntnisgewinn der Analyse besteht also – anders als im traditionellen Funktionalismus von u.a. Malinowski angenommen –, so Luhmann, »nicht in der Gewißheit der Verknüpfung spezifischer Ursachen mit spezifischen Wirkungen, sondern in der Fixierung eines abstrakten Bezugsgesichtspunktes, nämlich des ›Problems‹, von dem aus verschiedene Möglichkeiten des Handelns, äußerlich ganz unterschiedlich anmutende soziale Tatbestände als funktional äquivalent behandelt werden können. Die Rationalisierung der Problemstellung durch abstrahierende Konstruktion von Vergleichsmöglichkeiten ist der eigentliche Sinn der funktionalen Methode.« (Luhmann 1974: 35) Kusche (2014) rekonstruiert Luhmanns Perspektive der funktionalen Analyse und zeigt auf, dass, indem die funktionale Methode als eine vergleichende Methode entworfen wird, mit der Handlungen vor dem Hintergrund anderer möglicher Handlungen beschrieben werden, zum einen Kontingenzen und zum anderen homologe Selektionsmuster herausgearbeitet werden können, die auf die Funktionalität dieser im System verweisen (vgl. ebd.: 202). Es geht mit der funktionalen Analyse, so Kusche, also nicht (mehr) darum, spezifische Ursache-Wirkungszusammenhänge zu benennen, sondern zu analysieren, welche funktional äquivalenten Lösungen für ein Bezugsproblem innerhalb eines Systems vorhanden sind oder sein können. Lösungen von Problemen erzeugen dabei in dieser Perspektive immer wieder aufs Neue weitere Bezugsprobleme, die wieder nach neuen Lösungen verlangen. Mit der systemtheoretisch gewendeten funktionalen Methode sollen also keine Gesetzmäßigkeiten zwischen Ursachen und Wirkungen beschrieben werden (vgl. ebd.: 202f.; Vogd 2010: 124f.). Vielmehr liegt der Erkenntnisgewinn, so hält Kusche fest, »in der Vergleichbarkeit von scheinbar höchst unterschiedlichen Phänomenen unter dem Gesichtspunkt ihrer funktionalen Äquivalenz für den Umgang mit einem bestimmten Bezugsproblem.« (Kusche 2014: 202) Gleichzeitig könnten von einem bestimmten Bezugsproblem ausgehend, wiederum nur aus dem empirischen Material selbst heraus abgeleitet werden, welche funktional äquivalenten Lösungen zum Tragen kommen (vgl. ebd.: 203). Indem Luhmann die theoretisch herzuleitende Problemkonstruktion als vorrangig zu lösende Frage festsetzt, grenzt er die systemtheoretische funktionale Analyse von frühen anthropologischen Analysen ab, welche ›das Problem‹ als eindeutig bestimmbares kulturelles Phänomen beschreiben. Die Bestimmung des zu beobachtenden ›Bezugsgesichtspunktes‹ stellt sich in einer solchen Perspektive als nicht trivial dar. So kann

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dieses nur mit Rückgriff auf metatheoretische Annahmen aus dem empirischen Material heraus entwickelt werden, indem verschiedene empirische Problemkonstellationen und damit alternative Problem- wie auch Lösungsoptionen in den Blick genommen werden. Der Untersuchungsgegenstand wird also »als ein Problem identifiziert, das auf verschiedene (ungleiche) Weise gelöst werden kann. Die Auflösung der Gegenstandsvorgabe wird dadurch auf die Spitze getrieben. Die Einheit des Gegenstandes wird auf ein Problem zurückgeführt, das auch anders gelöst werden könnte, und als dieses Problem wird die Komplexität identifiziert, deren Einheit der Gegenstand ›ist‹.« (Luhmann 2017: 1020) Mit einer solchermaßen vollzogenen Relationierung ist es möglich, empirisch zu beobachtende »Einzelereignisse als Systemereignisse« (Nassehi 2012: 83) zu fassen. Vogd führt aus, dass mit der funktionalen Analyse »in der Verkettung von mehreren sich perpetuierenden Problemlösungsschritten identifizierbare Muster oder Orientierungen entstehen, die dann ihrerseits eine gewisse Stabilität aufweisen und damit auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung als latente Strukturen entdeckt werden können.« (Vogd 2010: 124) So können bspw. homologe Problemlösungsansätze auf die Funktionalität dieser Strategien in der Organisation verweisen bzw. wird es auf der anderen Seite möglich, über die Setzung eines abstrakten Vergleichspunktes Verschiedenartiges als funktional äquivalent zu beschreiben (vgl. Luhmann 1974: 36; Nassehi 2012: 83). Handlungen stellen dabei, so lässt sich annehmen, selten die Lösung nur eines empirischen Bezugsproblems dar. Vielmehr scheinen sich Lösungen auf verschiedene soziale Systeme wie Gesellschaft, Organisation und Interaktion zu beziehen (vgl. Nassehi 2008: 98). Bezugsprobleme sollten also als eine Praxis erschlossen werden, die in der funktional differenzierten Gesellschaft verankert ist, »die Ordnung gleichzeitig als Gesellschaft, als Organisation, als Interaktion aufbaut« (Ebd.: 97f., Herv. im Original). Insofern geht es in einer funktionalen Analyse auch darum, zunächst zu bestimmen, was die jeweiligen Problemkontexte sind, in denen die beobachteten Handlungen Lösungen darstellen (können).   Auf die Perspektive der funktionalen Analyse rekurrierend erfolgt nun eine Verknüpfung von funktionaler Methode und dokumentarischer Organisationsforschung, die als forschungsleitend für das vorliegende Projekt beschrieben wird. Dabei sollen Redundanzen vermieden werden, indem in Form einer Auflistung ausschließlich auf die als besonders relevant erachteten Folgerungen für die eigene Forschungspraxis verwiesen wird. 1. Zunächst kann mit einer systemtheoretisch informierten dokumentarischen Forschung der Annahme Rechnung getragen werden, dass alle Entscheidungen in Organisationen zwar kontingent, nicht jedoch beliebig oder zufällig sind. So kann das grundsätzlich in den Blick zu nehmende zentrale Bezugsproblem in Organisationen mit Rückgriff auf die funktionale Analyse als »die Bewältigung von Kontingenz« (ebd.: 99) beschrieben werden. Aus dem empirischen Material herausgearbeitet werden muss dann mit Rückgriff auf die rekonstruktive dokumentarische Me-

4 Anlage der Studie

thode, wie Kontingenz jeweils eingeschränkt wird.6 Mit der Umstellung von der Darstellung kommunikativen Wissens, als Um-Zu-Motivbeschreibungen, auf die Rekonstruktion konjunktiven Wissens, mit dem implizite handlungsleitende Wissensbestände erfasst werden, kann eine Umstellung vom ›Was‹ zum ›Wie‹ erfolgen. Mit diesem Vorgehen wird der Annahme Rechnung getragen, dass keine Kausalbeziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen bestehen. Forschungspraktisch umgesetzt wird dieser Perspektivwechsel, indem die von den interviewten Personen entfalteten Problem- und Lösungskontexte im Sinne einer Beobachtung zweiter Ordnung beschrieben werden. Dabei mag die Tatsache, dass »alles auch ganz anders sein könnte, […] den Interviewpartnern meist verschlossen bleiben, aber wie diese Kontingenz eingeschränkt wird, lässt sich den Interviewtexten doch stets entnehmen: durch den Anschluss des nächsten Satzes. Die nichtbeliebige Einschränkung von Kontingenz ergibt sich im operativen Vollzug der Kommunikation und verdeutlicht, dass Kommunikation eine Welt jenseits der Kommunikation kennt: Kontexte oder genauer: soziale Systeme, die Kontexte und ihre Umwelten voneinander unterscheiden und sich in ihrer Koevolution gegenseitig stimulieren.« (Nassehi/Saake 2002: 83) Durch eine solchermaßen vollzogene Sichtbarmachung von Kontingenz am empirischen Material und der Infragestellung von simplen Ursache-Wirkungszusammenhängen kann die dokumentarische Methode als methodologisch-methodisches Gerüst einer funktionalen Analyse beschrieben werden. 2. Implizite Wissensbestände werden mit der dokumentarischen Methode durch die für diese Methode zentrale komparative Analyse herausgearbeitet. Durch die Verknüpfung der dokumentarischen Methode mit einer funktionalen Analyseperspektive wird die Analyse dabei durch die Frage, wie die beobachteten Praxen Lösungen für welche Bezugsprobleme darstellen, geleitet. Indem im Sinne einer dokumentarischen Organisationsforschung nach homologen, aber auch divergierenden Orientierungen gesucht wird, geraten funktional äquivalente Lösungsansätze in den Blick, die in ihren Kontrasten auf das Typische eines Falls verweisen können. Mit der in der dokumentarischen Methode grundlegend verankerten Komparation von Vergleichsfällen, die im Sinne einer rekonstruktiven Organisationsforschung auch den Vergleich konflikthafter und divergierender Aushandlungen umfasst, kann also rekonstruiert werden, dass »auf ein Bezugsproblem mehrere äquivalente Antworten möglich sind« (Vogd 2011: 108), auch wenn diese äquivalenten Lösungen den handelnden Personen nicht in dieser Weise erscheinen. 6

Die der dokumentarischen Methode zugrundeliegende Annahme, dass durch die Rekonstruktion impliziter Wissensbestände Zugang zum handlungsleitenden Wissen gewonnen werden kann, welches den Akteur:innen selbst in Form von kommunikativem Wissen nicht zugänglich ist, findet sich – in etwas anders akzentuierter Form – auch bei Luhmann wieder, der festhält, dass »[d]as Erleben des Handelnden […] selten rational [ist]. Nur wenige Handlungen des täglichen Lebens werden als Bewirken einer Wirkung bewußt und im Zweck-Mittel-Schema expliziert. […] Deshalb kann die wissenschaftliche Interpretation des Handelns sich nicht davon abhängig machen, daß der Handelnde selbst sein Handeln kausal-instrumental versteht.« (Luhmann 1974: 26)

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3. Der Darstellung expliziter Wissensbestände wird mit der dokumentarischen Methode i.d.R. weniger Beachtung geschenkt. Es konnte jedoch plausibilisiert werden, dass dieser Wissensformation in der dokumentarischen Organisationsforschung dennoch Relevanz zugesprochen werden sollte, da organisationale Praxen als Ergebnisse von Aushandlungsprozessen kommunikativen wie auch konjunktiven Wissens gelten können. So kann davon ausgegangen werden, dass bspw. rechtliche Vorgaben vor dem Hintergrund verschiedener organisationsinterner Anforderungen verhandelt werden und, in Abhängigkeit davon, ob sie als ›funktional‹ interpretiert werden, in unterschiedlicher Weise als Lösungsoptionen die Praxis prägen. 4. Auch für die in der Arbeit vorgenommenen Analysen erscheint es im Hinblick auf die Generalisierung der herauszuarbeitenden Ergebnisse erkenntnisversprechend, die dokumentarische (Organisations-)Forschung als funktionale Analyse zu (re-)formulieren. Mit Rekurs auf Vogd ist »[d]ie Beobachtung zweiter Ordnung […] hier synonym mit der funktionalen Perspektive zu sehen, das heißt, sobald man Systeme ›entdeckt‹, beobachtet man sie unter dem Blickwinkel, welche Funktionen aus einer bestehenden Struktur hervorgebracht werden, um dann diese oder eine sich verändernde Struktur zu generieren.« (Vogd 2011: 110) Aus dieser Annahme schlussfolgert Vogd, dass »[d]er systemtheoretische Blick […] damit ein soziogenetischer Blick [ist] (es wird nach dem wie, dem modus operandi gefragt).« (Ebd.). Indem – im Sinne einer funktionalen Analyse – die Analyse von der Frage geleitet wird, unter welchen Kontextbedingungen die rekonstruierten Praxen Lösungen für welche Bezugsprobleme darstellen (können), scheint es möglich, Rückschlüsse auf die Genese der Strukturen zu gewinnen. »Der Effekt einer derart rekursiven Praxis ist [dabei, J.J.] jedoch eine Vergrößerung der Unbestimmtheit im Beobachtungsbereich; denn man kann schließlich das, was ein anderer beobachtet, nur noch dadurch feststellen, daß man beobachtet, wie er beobachtet, das heißt: mit Hilfe welcher Unterscheidungen er beobachtet.« (Luhmann 1992b: 685, Herv. im Original) Vogd verweist auf den Mehrwert einer solchermaßen gefassten polykontexturalen dokumentarischen Methode. So entfalte sich ihr Potenzial dann, wenn Interviews und Gruppendiskussionen als polykontextural gerahmt und kontingent gefasst werden (vgl. Vogd 2011: 115ff.), weil sie aus »zirkulärer Kausalität« (ebd.: 118) bestehen. Es wäre somit (in einer soziogenetischen) Perspektive7 danach zu fragen, wie die Kontexte/Kontexturen jeweils zu beschreiben sind, mit denen Kontingenz eingeschränkt und Lösungen erzeugt werden. Angenommen werden kann dabei, darauf verweisen Jansen und Vogd, 7

Hier und im Weiteren wird aufgrund der vorgenommenen Anpassungen hinsichtlich einer dokumentarischen Methode als funktionale Analyse von einer ›soziogenetischen Perspektive‹ und nicht von einer ›soziogenetischen Typenbildung‹ gesprochen.

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»dass es eine begrenzte Anzahl an Lösungen gibt, mit denen die relevanten Kontexturen in ein Arrangement zu bringen sind. Das Zufallsmoment – oder wenn man so will: die Willkür – ist damit nicht aufgehoben, wird aber nun balanciert, indem die Kontexturen verschränkt sind.« (Jansen/Vogd 2013: 94, Herv. im Original) Mit einer solchermaßen vollzogenen soziogenetischen Perspektivierung ist auch ein Schritt Richtung Theoriegenerierung gemacht. 5. Schließlich verweist Pfaff auf die Anknüpfungspunkte der dokumentarischen Methode an Forschungen zu sozialer Ungleichheit (siehe eine ausführliche Auseinandersetzung bei Pfaff 2018). So führt Pfaff aus, dass es mit der soziogenetischen Interpretation der dokumentarischen Methode möglich ist – ohne vorherige Festlegungen auf spezifische Klassifikationen (wie z.B. kulturalisierende oder sozio-ökonomische Zuschreibungen) – zu untersuchen, welche Bedeutung bestimmten Kategorien bei der sozialen Positionierung von Akteur:innen zukommt. »Damit ist die Möglichkeit zur induktiven Erschließung ungleichheitsgenerierender gesellschaftlicher Bedingungen gegeben.« (Ebd.: 69). Dies bedeutet, dass – wie im Hinblick auf Klassifikationen und Askriptionen ausgeführt wurde (s. Kap. 2.3) – offengehalten werden kann, auf welche Klassifikationen in der Organisation Schule Bezug genommen wird, da diese zunächst induktiv aus dem Material selbst entwickelt werden können. Zusammenfassend bedeutet dies, dass in der vorliegenden Arbeit insbesondere an eine in den letzten Jahren unter anderem durch Vogd etablierte differenzierungstheoretisch ausgerichtete dokumentarische Organisationsforschung angeschlossen wird. Dabei ist es, von einer differenzierungstheoretischen Perspektive auf Organisationen ausgehend, sinnvoll – in Abgrenzung zur sonst üblichen Praxis der dokumentarischen Methode – Aushandlungsprozesse konjunktiven wie kommunikativen Wissens in die Analyse mit aufzunehmen. Das bedeutet, dass in der Analyse kein alleiniger Fokus auf die Rekonstruktion atheoretischen Wissens der Akteur:innen gelegt wird, sondern auch dem theoretischen Wissen, also den explizit geäußerten Inhalten, eine wichtige Bedeutung hinsichtlich der Frage beigemessen wird, welche Praxen in Organisationen funktional erscheinen. Mit einem entscheidungstheoretisch reformulierten Blick auf Organisationen kann dann gefragt werden, wie innerhalb der Organisationen jeweils entschieden wird und wie Muster entstehen, die eine gewisse Stabilität aufweisen. Indem die dokumentarische Methode mit einer funktionalen Analyseperspektive verbunden wird, wird Abstand zu gruppensoziologischen Annahmen genommen, die der dokumentarischen Methode sonst inhärent sind. Die Arbeit interessiert sich also explizit nicht dafür, welche Bedeutung geteilten Orientierungsrahmen aufgrund von Milieuzugehörigkeit zukommt. Vielmehr geht es in dieser funktionalen Analyseperspektive darum, Entscheidungshandeln auch jenseits kollektiver Erfahrungszusammenhänge zu rekonstruieren. Anders als von Vogd vorgenommen wird die dokumentarische Organisationsforschung hier mit Forschungen zur (Re-)Produktion von Bildungsungleichheit verknüpft. Dabei wird davon ausgegangen, dass keine Kausalität zwischen den, bspw. in Bezug auf neu migrierte Schüler:innen vorzufindenden Problembeschreibungen und Problemlösungen vorliegt. So können die in den Interviews angefertigten, verschiedenen Problem-Lösungsmuster als funktional äquivalent beschrieben werden und der An-

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nahme Rechnung getragen werden, dass soziale Ungleichheit immer das Resultat des Zusammenwirkens ökonomischer, rechtlicher, politischer und weiterer Kontexte ist. Dieses Vorgehen basiert auf der Perspektive, dass Klassifikationswissen der Gesellschaft, in Form von Ungleichheitsideologien, nicht gleichförmig in Organisationen wirkt. So wird angenommen, dass bspw. auch fehlende schulische Ressourcen zu ungleichheitsrelevanten Lösungen der Beschulung neu migrierter Schüler:innen beitragen könnten, die unabhängig von diskriminierungsrelevanten, bspw. kulturalisierenden oder ethnisierenden Klassifikationen in der Interaktion sind. Ziel eines solchen Vorgehens ist es schließlich, in einer soziogenetischen Perspektive danach zu fragen, unter welchen Kontextbedingungen die rekonstruierten Praxen der Beschulung neu migrierter Schüler:innen Lösungen für welche Bezugsprobleme darstellen. Und: wie die dabei entstehenden Muster zu Erzeugung bildungsbezogener Ungleichheit beitragen. Es wird nun erkennbar, dass die bereits im Vorfeld getroffenen theoretischen Annahmen nicht im Widerspruch zur rekonstruktiven Logik der dokumentarischen Methode stehen, sondern vielmehr die Grundlage für einen fokussierten Forschungsprozess darstellen.

4.2

Konkretisierung der Forschungsfragestellung

Ansatzpunkt des Forschungsprojekts ist die Annahme, dass ungleiche Bildungschancen nicht mit den (Kapital-)Ausstattungen und Eigenschaften der Schüler:innen und/oder ihrer Eltern zu erklären sind. Vielmehr wird im Gegensatz zu diesen akteur:innen- und ressourcenorientierten Ansätzen (vgl. u.a. Baumert/Maaz/Jonkmann 2010; Stocké 2012; Diehl/Hunkler/Kristen 2016; Dollmann 2016; Siegert/Olszenka 2016; Esser 2016) davon ausgegangen, dass die In- und Exklusionen des Erziehungssystems, der Organisation Schule und des Interaktionssystems Unterricht potenziell für die Erzeugung von sozialer Ungleichheit – die auch als Diskriminierung benannt werden kann – in Betracht gezogen werden sollten (Kap. 2). Vor dem Hintergrund der seit Jahrzehnten empirisch nachweisbaren Bildungsbenachteiligungen von Schüler:innen mit sogenanntem ›Migrationshintergrund‹ (Kap. 3) ist der Ausgangspunkt der Arbeit die Forschungsfragestellung: Wie werden neu migrierte Kinder und Jugendliche mit welchen Folgen in den Organisationen des Erziehungssystems differenziert? Motiviert ist diese Fragestellung durch die Beobachtung, dass es bis heute ungeklärt scheint, wie das Schulsystem in Deutschland trotz der meritokratischen Selbstbeschreibung und der Etablierung von (kompensatorischen) Fördermaßnahmen für ›ausländische‹ Schüler:innen dennoch beständig und in entscheidendem Maße Bildungsungleichheit produziert. Durch die Forschungsfragestellung soll ein Weg eingeschlagen werden, mit dem die Produktion ungleicher Bildungskarrieren von (neu) migrierten Schüler:innen in einer soziologischen Perspektive als Ordnungsbildung interpretiert wird. Mithilfe einer empirischen Studie wird demnach herausgearbeitet, welche Mechanismen im Erziehungssystem zu der Etablierung dieser ungleichheitsrelevanten Strukturen beitragen. Da die Forschungsfragestellung noch allgemein gefasst ist, wird nun – vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen hinsichtlich historischer Pfadabhängigkeiten (Kap. 3), systemtheoretischer Konkre-

4 Anlage der Studie

tisierungen (Kap. 2) und methodisch-methodologischer Überlegungen (Kap. 4.1) – eine Konkretisierung der Forschungsfragestellung vorgenommen.   Mit Blick auf die Differenzierung von neu migrierten Schüler:innen wird in der Arbeit weniger der Fokus darauf gerichtet, detailliert zu beschreiben, wie die Schüler:innen differenziert werden, als vielmehr darauf, den Prozess der Differenzierung zu rekonstruieren. Es wird also im Sinne einer »operative[n] Theorie der Inklusion/Exklusion« (Nassehi 2004: 335) nach den Operationen gefragt werden, »die dafür sorgen, dass Personen für relevant gehalten werden – oder eben nicht« (ebd.). Entsprechend wird analysiert, wie neu migrierte Kinder und Jugendliche im Erziehungssystem »kommunikativ berücksichtigt und dabei im Modus von Inklusion/Exklusion differenziert« (Emmerich 2016: 48) werden. Hinsichtlich organisatorischer und interaktioneller Differenzierungspraktiken wird die Frage (1) bearbeitet, wie es wann zu einer Differenzierung von neu migrierten Schüler:innen als ›Seiteneinsteiger‹ kommt. Fokussiert werden, vor dem Hintergrund dieser Frage und im Anschluss an die Forschungsarbeiten zur institutionellen Diskriminierung (vgl. Bommes/Radtke 1993; Gomolla/Radtke 2002), besonders relevante Entscheidungsstellen hinsichtlich der Beschulung neu migrierter Kinder und Jugendlicher, wie die Einschulung, der Übergang in die Regelklasse, die Einleitung von sonderpädagogischen Fördermaßnahmen oder der Wechsel von der Primar- in die Sekundarstufe. Abweichend von dem von Bommes und Radtke (1993) bzw. Gomolla und Radtke (2002) im deutschsprachigen Raum weiterentwickelten Ansatz der institutionellen Diskriminierung wird das Augenmerk jedoch weniger auf die (nachträglichen) Legitimationen der hinsichtlich der Beschulung neu migrierter Schüler:innen getroffenen Organisationsentscheidungen gelegt. Vielmehr wird mit der Frage (2), wie organisationsintern Entscheidungsprämissen für die Beschulung neu migrierter Schüler:innen zunächst überhaupt generiert werden, an zentral durch Emmerich und Hormel entwickelte Argumentationen angeknüpft (u.a. Emmerich/Hormel 2015, 2013a, 2013b). Eng mit diesem Erkenntnisinteresse verbunden ist die Frage (3), inwiefern welche Differenzierungspraktiken als Entscheidungsprämissen für das Handlungsproblem dienen, wie mit neu migrierten Schüler:innen organisationsintern verfahren werden soll/kann. Da, wie bereits ausführlich begründet wurde, nicht nur die Praxen in der Organisation Schule relevant erscheinen, sollen auch die Praxen in der Organisation Schulverwaltung rekonstruiert werden, um sich der Frage (4) anzunähern, inwiefern zwischen bildungspolitischen Reaktionen auf aktuelle Migrationsphänomene in der Organisation Schulverwaltung und bildungspraktischen Entscheidungen in der Organisation Schule und dem Interaktionssystem Unterricht Zusammenhänge bestehen. Ziel ist es also, kommunale bildungspolitische und bildungspraktische Problembeschreibungen in Bezug auf aktuelle Migrationsund Fluchtbewegungen und die damit zusammenhängenden Problembearbeitungsstrategien in den Blick zu nehmen. Getragen wird die Forschung durch eine funktionale Analyseperspektive, mit der eine Relationierung von Problemen und Lösungen in komplexen Sozialsystemen verfolgt wird, die darauf zielt, die Frage bearbeitbar zu machen, wie die rekonstruierten Praxen Lösungen für welche Bezugsprobleme darstellen. Schließlich wird sich auf der Grundlage der erarbeiteten empirischen Ergebnisse der Frage (5) zugewendet, welche potenziellen bildungs- und ungleichheitsrelevanten Folgen die rekonstruierten Orientierungen haben, die sich in divergenten Beschulungspraxen manifestieren.

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Damit soll abschließend die grundsätzliche Frage (6) bearbeitet werden, welche Mechanismen und welche Kontexte/Kontexturen für die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem relevant sein können.

4.3

Sampling

Vor dem Hintergrund (historisch tradierter) heterogener Praxen schulischer Inklusion von neu migrierten Kindern und Jugendlichen in das Erziehungssystem (s. Kap. 3) werden in der vorliegenden Forschungsarbeit8 zwei Kommunen in den Blick genommen, die mit ähnlichen Kontextbedingungen und gleichen landespolitischen Vorgaben hinsichtlich der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ konfrontiert sind. Mit einer funktionalen Analyseperspektive (s. Kap. 4.1.3) werden die Schulverwaltungen der zwei Kommunen ebenso wie jeweils drei Schulen pro Stadt insofern verglichen, als vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Bezugsproblems – der unterjährigen Inklusion neu migrierter Schüler:innen in das lokale Schulsystem – Gemeinsamkeiten und Differenzen von Lösungsansätzen rekonstruiert werden.   Den Mittelpunkt der komparativen Studie bilden die Schulsysteme in zwei Großstädten des Ruhrgebiets, einem dicht besiedelten Ballungsraum im Bundesland NordrheinWestfalen. In beiden Kommunen werden jeweils auf der Makro-Ebene die kommunale Schulverwaltung, d.h. konkret die mit der Organisation der Beschulung von neu migrierten Kindern und Jugendlichen befassten Organisationen, sowie auf der MikroEbene die Bildungspraxis an Grundschulen, die neu migrierte Schüler:innen unterrichten, untersucht. Die Ebene der Schulverwaltung ist insofern von Bedeutung, als im Bundesland Nordrhein-Westfalen alle neu migrierten Kinder und Jugendlichen durch die Schulverwaltung ›beraten‹ und einer Schule zugewiesen werden. Darüber hinaus werden dort auf aktuelle Migrationsphänomene bezogene Strukturentscheidungen getroffen, die u.a. die Einrichtung von neuen Klassen, die Zuteilung von zusätzlichen Ressourcen oder die Kontrolle der Einhaltung von Beschulungsstandards für neu migrierte Schüler:innen umfassen. Demgegenüber werden auf der Ebene der Schulen in der Organisation Schule in Form von Selektionsentscheidungen potenziell folgenreiche bildungsbiografische Weichen gestellt. Betrachtet man die Organisation Schule genauer, fällt auf, dass insbesondere die Grundschule den Bildungsweg von Schüler:innen nachhaltig beeinflusst: So ist die Grundschule nicht nur der Ort, an dem vermehrt Rückstufungen durchgeführt und sonderpädagogische Verfahren eingeleitet werden (vgl. Gomolla/Radtke 2002: 89), sondern hier findet gleichfalls der Übergang in das niveaudifferenzierte Sekundarschulsystem statt. Aufgrund der Bedeutung der Grundschule für die Bildungskarriere

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Die Forschungsarbeit ist Teil eines größeren Forschungsprojekts zum Thema ›Flucht und Migration als Bezugspunkt kommunaler Bildungspolitik und Bildungspraxis‹ unter der Leitung von Prof.‹in Dr. Ulrike Hormel (Pädagogische Hochschule Ludwigsburg) und Prof. Dr. Marcus Emmerich (Eberhard Karls Universität Tübingen). Das hier präsentierte Datenmaterial wurde im Rahmen des Forschungsprojekts durch die Autorin selbst erhoben.

4 Anlage der Studie

aller Schüler:innen kann angenommen werden, dass die Grundschule auch für neu migrierte Kinder eine wichtige Rolle in der Zuweisung von Bildungschancen darstellt. Entsprechend dieser Annahme werden in dieser Arbeit Schulen der Primarstufe fokussiert. Da aus forschungspraktischen Gründen im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur eine begrenzte Anzahl an Interviews auf den verschiedenen Ebenen und in den jeweiligen Kommunen durchgeführt und ausgewertet werden konnten, erschien es wichtig, dem Sampling eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Bei der Auswahl der Fälle sollten Vergleichshorizonte aufgemacht werden, die zur Entwicklung und Spezifizierung von Typen im Sinne der dokumentarischen Methode beitragen (vgl. Nohl 2013: 273). Darüber hinaus war bei der Festlegung von Sampling- und Beobachtungseinheiten stets »zu prüfen, ob die Beobachtungseinheit das, was an der Samplingeinheit von Interesse ist, adäquat erfasst« (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 176). Auf beide Aspekte wird in der folgenden Darstellung des Samples genauer eingegangen.

4.3.1

Die Städte

Für das Forschungsprojekt wurden zwei kreisfreie Städte im Ruhrgebiet gewählt, die hinsichtlich ihrer sozialstrukturellen Kontextbedingungen einige Gemeinsamkeiten aufweisen. Bei den ausgewählten Kommunen handelt es sich um Großstädte, die historisch eng mit der Montanindustrie verbunden sind und über eine lange Tradition von Arbeitsmigration verfügen (vgl. Bogumil et al. 2012). Die Arbeitslosenquote lag zum Zeitpunkt der Erhebung in beiden Städten bei etwas mehr als 10 Prozent und damit rund drei Prozentpunkte höher als der NRW-Durchschnitt und etwa fünf Prozentpunkte höher als der gesamtdeutsche Durchschnitt (vgl. BA 2017: o.S.). Die Empfänger:innenquote der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach SGB II lagen in beiden Städten bei knapp 20 Prozent. Im Vergleich zu NRW (11,9 %, 02/2017) sowie im Vergleich zu Deutschland (9,4 %, 02/2017) ist sie damit deutlich erhöht (vgl. ebd.). Bezogen auf das Ruhrgebiet weisen beide Städten jedoch durchschnittliche Werte auf. Bei der Betrachtung der sozialstrukturellen Daten ist darüber hinaus auffällig, dass beide Städte – ebenso wie für das gesamte Ruhrgebiet üblich – eine stark segregierte Stadtstruktur aufweisen, die sich unter anderem durch eine deutlich erhöhte Arbeitslosenund SGB II-Quote in nördlichen Stadtgebieten im Vergleich zu südlichen Stadtgebieten zeigt (vgl. El-Mafaalani/Strohmeier 2015: 24f.). Das Ruhrgebiet stellt durch die klare Nord-Süd-Segregation, die sich entlang der Autobahn A 40 nachzeichnen lässt, eine Besonderheit dar. So konzentrieren sich »die Stadtteile, in denen besonders viele Arme (und besonders viele Migranten) leben, […] nördlich der A 40, die als Sozialäquator das Revier in einen die Stadtgrenzen überschreitenden Gürtel ärmerer Stadtteile mit vielen Migranten und einen eher bürgerlich-wohlhabenden Süden teilt, in dem die Deutschen weitgehend unter sich geblieben sind.« (Bogumil et al. 2012: 24f.) Mit Blick auf die regionale Schullandschaft können deutliche Veränderungen in den 2010er-Jahren nachgezeichnet werden. So weisen die Städte des Ruhrgebiets, bezogen auf den Vergleichszeitraum 2019 gegenüber 2011, insgesamt einen stark negativen

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Trend bei der Entwicklung der Anzahl der Hauptschüler:innen mit einem Durchschnitt von -58,0 Prozent auf. Ebenso lässt sich an Realschulen ein Rückgang um -20,9 Prozent, an Gymnasien um -14,7 Prozent und an Grundschulen um -1,8 Prozent beobachten. Lediglich die Entwicklung der Schüler:innenzahlen an Gesamtschulen zeigt mit 4,3 Prozent einen positiven Trend. Zu beachten ist bei der Einordnung der Zahlen die Gesamtentwicklung der Schüler:innen im Vergleichszeitraum. So zeigt sich, dass insgesamt ein Rückgang von -9,1 Prozent erhoben wurde. Gleichzeitig fällt bei einem Blick auf die Zahlen jedoch auf, dass sich insbesondere die Schüler:innenzahlen an Hauptschulen mehr als halbiert haben – was sich in vielen Städten in der vermehrten Schließung von Hauptschulen auswirkte (vgl. RVR 2019: o.S.).

4.3.2

Die Schulverwaltungen

Mit der Samplingeinheit ›Schulverwaltung‹ sollen Einblicke in die Organisations- und Strukturentscheidungen bezüglich der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ in den ausgewählten Städten ermöglicht werden. Das entscheidende Kriterium für die Auswahl von Interviewpartner:innen auf der Ebene der Schulverwaltung stellte die direkte Beteiligung der Akteur:innen am ›Beratungs-‹ und Zuweisungsprozess neu migrierter Kinder und Jugendlicher dar. Über Internetrecherchen konnten Ansprechpartner:innen ausgemacht werden, die die von der Landespolitik im Jahr 2012 festgelegte Aufgabe koordinieren, »Kinder, Jugendliche und deren Eltern, […] beim Seiteneinstieg« (MSW NRW und MAIS NRW 2012: 3) zu ›beraten‹ und zu unterstützen. In beiden Städten wurde mit den Interviews in dem klar umrissenen Bereich der ›Beratung‹ und Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ eine Vollerhebung vorgenommen, d.h. mit allen in das Verfahren direkt eingebundenen Personen gesprochen. Insofern musste keine weitere Samplingstrategie zum Einsatz gebracht werden, um relevante Interviewpartner:innen auszuwählen. Die Schulverwaltung in Flurstadt9 In Flurstadt wurden für das hier vorliegende Forschungsprojekt insgesamt drei Interviews durchgeführt. Das erste Interview wurde mit der Person geführt, die in Flurstadt für die sogenannte ›Seiteneinsteigerberatung‹ zuständig ist. Darüber hinaus wurden zwei weitere Interviews mit den Menschen geführt, die für die Zuweisung der Schüler:innen auf Primar- wie auch weiterführende Schulen zuständig sind. Als eine Besonderheit von Flurstadt stellt sich heraus, dass das ›Beratungs- und Zuweisungsverfahren‹ in drei verschiedenen Fachbereichen von drei unterschiedlichen Personen durchgeführt wird. Die Schulverwaltung in Radstadt In Radstadt wurden zwei Interviews in dem Fachbereich durchgeführt, der – anders als in Flurstadt – in alleiniger Verantwortung für die sogenannte ›Seiteneinsteigerberatung‹ wie ebenfalls für die Zuweisung der neu migrierten Schüler:innen zuständig 9

Die Städtenamen wurden ebenso wie die Namen der Interviewpartner:innen anonymisiert. Siehe hierzu Kapitel 4.3.4.

4 Anlage der Studie

ist. Das erste Interview fand mit der Leitung des Fachbereichs statt, das zweite Interview wurde mit der Person geführt, die Kinder und Jugendliche im Bereich Primar- wie auch Sekundarstufe I ›berät‹ und vermittelt.

4.3.3

Die Schulen

Die Auswahl der Schulen erfolgte – wenn auch über unterschiedliche Samplingstrategien, die im Weiteren für Flurstadt und Radstadt genauer ausgeführt werden – »nach bestimmten, vorab festgelegten Kriterien« (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 180), d.h. also systematisch und nicht zufällig. Das wichtigste Kriterium für die Auswahl bestand darin, dass an den Grundschulen eine relevante Anzahl neu migrierter Kinder unterrichtet wird. Für eine kleine ein- bis zweizügige Schule mit bis zu 200 Schüler:innen konnten das bereits wenige, d.h. fünf bis zehn neu migrierte Schüler:innen sein, für eine mittelgroße zwei- bis dreizügige Schule mit 200-300 Schüler:innen oder eine große dreibis fünfzügige Schule mit über 300 Schüler:innen sollten sich mehr als zehn als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierte Schüler:innen an der Schule befinden. Hintergrund für dieses Auswahlkriterium war die Annahme, dass eine Etablierung von Strukturen zum Unterrichten von neu migrierten Schüler:innen nur dann zum Tragen kommt, wenn diese nicht den absoluten Ausnahmefall darstellen. Darüber hinaus wurde gezielt nach Schulen gesucht, die eine langjährige Erfahrung in der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ vorweisen sowie nach Schulen, die erst vor kurzer Zeit neu migrierte Kinder aufgenommen haben. Das Motiv für die Auswahl dieser Strukturdimension war die Annahme, dass Schulen mit einer langjährigen Erfahrung in der Beschulung von neu migrierten Kindern (mind. sechs Jahre) ggf. auf tradiertes Erfahrungswissen und Routinen zurückgreifen (können), während an Grundschulen, die ganz neu mit dieser Aufgabe befasst sind (max. eineinhalb Jahre), neue Strukturen etabliert werden mussten. Die Schulen wurden also durch ein gezieltes Sampling ausgewählt, das von einer Zufallsauswahl oder vom Theoretical Sampling abgegrenzt werden kann. Dabei wurde keine theoretische Sättigung angestrebt, sondern von Beginn an auf der Ebene der Bildungspraxis nach kontrastierenden Fällen in Bezug auf die Erfahrung mit der Beschulung neu migrierter Schüler:innen gesucht. Pro Stadt wurde jeweils eine Schule mit einer langjährigen sowie zwei Schulen mit wenig Erfahrung ausgewählt. In jeder Samplingeinheit, d.h. in jeder Schule, werden über die Beobachtungseinheiten ›Schulleitung‹ sowie ›Lehrkräfte, die mit der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ befasst sind‹ Problembeschreibungen und Problembearbeitungsstrategien in Bezug auf die Beschulung neu migrierter Kinder rekonstruiert. Die Beobachtungseinheit ›Schulleitung‹ soll Aufschlüsse darüber ermöglichen, inwiefern die Schulen auf administrativer Ebene mit Vorgaben aus der Bildungsverwaltung konfrontiert werden und ob und wie diese in die Handlungspraxis der Schule einfließen. Darüber hinaus sind Schulleitungen u.a. mit der Aufgabe betraut, vorhandene Ressourcen zu verwalten und schulinterne Strukturentscheidungen zu treffen. An kleinen und mittelgroßen Primarschulen sind Schulleitungen außerdem i.d.R. auch noch verstärkt in die Unterrichtspraxis eingebunden (vgl. MSB NRW 2019: o.S.). Die Gespräche mit Lehrkräften sollen überdies genauere Einblicke in konkrete Beschulungspraxen bieten. Die Beobachtungseinheit der Lehrkräfte aus Vorbereitungsklassen/-gruppen sollte, wenn möglich, durch Klassenlehrer:innen

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

von Regelklassen, in denen sich neu migrierte Schüler:innen befinden, ergänzt werden. Insbesondere an Schulen, an denen neu migrierte Kinder integrativ oder teilintegrativ in Regelklassen unterrichtet werden, erschien diese Ergänzung von besonderer Bedeutung, da ›Seiteneinsteiger‹ an diesen Schulen einen nicht unerheblichen Anteil ihrer Schulzeit in der Regelklasse verbringen. Klassenlehrer:innen treffen dabei durch das Aussprechen von Schulformempfehlungen beim Übergang in die Sekundarstufe, durch die Möglichkeit sonderpädagogische Förderverfahren einzuleiten und/oder durch das Zurückstufen von Schüler:innen relevante Entscheidungen hinsichtlich der Bildungsbiografien (neu migrierter) Schüler:innen. An Schulen, an denen neu migrierte Kinder ausschließlich parallel unterrichtet werden, nehmen Vorbereitungsklassenlehrer:innen die Rolle der Klassenlehrer:innen ein. Durch den Einbezug der Beobachtungseinheiten ›Schulleitung‹ und ›Lehrkräfte‹ soll die möglichst umfassende Rekonstruktion von handlungsleitendem Erfahrungswissen an unterschiedlichen Schulen ermöglicht werden, um so die darin zum Ausdruck kommenden »kollektive[n] Routinen und Orientierungen« (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013a: 156) in Bezug auf die Beschulung neu migrierter Schüler:innen herausarbeiten zu können. Die Beobachtungseinheiten auf der Ebene der Grundschulen mussten den forschungspraktischen Gelegenheitsstrukturen angepasst werden – so stellte sich für jede Schule die Frage, mit wem es jeweils möglich war, Gespräche in welchem Zeitrahmen führen zu können. Wie anhand des Datensatzes deutlich wird, konnte an allen Schulen mit der Schulleitung sowie der Vorbereitungslehrkraft gesprochen werden. Darüber hinaus konnten, bis auf eine Ausnahme, auch immer Klassenlehrer:innen für ein Interview gewonnen werden.10 Die Auswahl der Schulen in Flurstadt Für Flurstadt lag zum Zeitpunkt der Datenerhebung keine Auflistung derjenigen Grundschulen vor, die ›Seiteneinsteiger‹ unterrichten. Da darüber hinaus aus der Internetrecherche auf den Webseiten der einzelnen Grundschulen nicht immer ersichtlich wurde, ob diese Schulen neu migrierte Kinder unterrichten, musste für das angestrebte Sampling auf andere Informationsquellen zurückgegriffen werden. Genauere Einblicke hatten die Mitarbeiter:innen der Schulverwaltung, die daraufhin gebeten wurden, Schulen zu nennen, die schon lange oder erst seit kurzer Zeit ›Seiteneinsteiger‹ unterrichten. Auf der Grundlage dieser Auskünfte (durch zwei verschiedene Mitarbeiter:innen) erfolgten erste Kontaktaufnahmen zu den entsprechenden Schulen. Im Weiteren wurde das Sample in Form eines Snowball-Samplings sukzessive erweitert. So wurden Schulleitungen und Lehrkräfte bereits gewonnener Schulen gebeten, weitere Schulen zu nennen, die auch neu migrierte Kinder unterrichten. 10

Lediglich an einer Schule wurde neben der Schulleitung nur mit der zuständigen Vorbereitungslehrer:in gesprochen. An dieser Grundschule wird eine parallele Beschulungspraxis verfolgt und die übrigen Lehrkräfte stehen kaum mit den neu migrierten Schüler:innen in Kontakt. Darüber hinaus handelt es sich um eine Schule mit wenig Erfahrung mit der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹, sodass bisher nur vereinzelt Kinder von der Vorbereitungsklasse in den Regelbetrieb gewechselt sind. Ein Interview mit regulären Klassenlehrkräften war mit Verweis auf diese Gründe von der Schulleitung abgelehnt worden. Aufgrund der zum Interviewzeitpunkt zu vermutenden geringen Relevanz der Regelklassenlehrkräfte für die neu Migrierten erscheint dies jedoch vertretbar.

4 Anlage der Studie

Insbesondere die Schulleitung der Grundschule, die schon lange ›Seiteneinsteiger‹ unterrichtet, konnte eine ganze Reihe an Schulen nennen, die ebenfalls neu migrierte Kinder aufgenommen haben. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung handelte es sich bei dem Verfahren um die einzige bekannte Möglichkeit relevante Informationen zu den Schulen zu erhalten. Ein Nachteil des Snowball-Samplings liegt jedoch in der Gefahr, sich aufgrund dieses Vorgehens mit der Forschung lediglich in bestimmten Netzwerken zu bewegen. So wird der »Schneeball […] in der Regel nur zu denjenigen ›geworfen‹, den die Person, die die Empfehlung ausspricht, kennt« (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 180). Ein Nebeneffekt der Bekanntschaft könnte darüber hinaus sein, dass sich die Interviewpartner:innen über das Interview austauschen und hierdurch zum einen die Bereitschaft, sich am Forschungsprojekt zu beteiligen, beeinträchtigt wird und zum anderen Vereinbarungen bezüglich der Inhalte vorgenommen werden könnten (vgl. ebd.). Indem zu Beginn des Samplings eine ganze Reihe an Schulen kontaktiert wurden, die von zwei unterschiedlichen Mitarbeiter:innen der Schulverwaltung ohne vorherige Absprachen genannt wurden, und von den ersten gewonnenen Schulen ausgehend noch weitere Schulen angeschrieben wurden, sollten die genannten potenziellen Nachteile des Verfahrens eingegrenzt werden. Das Schneeballverfahren wurde also über verschiedene Zugänge gestartet, wodurch die Wahrscheinlichkeit, dass sich die jeweiligen Schulleitungen oder Lehrkräfte gut kennen, verringert wurde. Bezüglich des Samples fällt in Flurstadt auf, dass sich alle drei ausgewählten Schulen im Norden der Stadt befinden. Diese geografische Verteilung lässt sich dadurch erklären, dass die Zuordnung an Grundschulen in Flurstadt möglichst wohnortnah erfolgt. Da in den nördlichen Stadtgebieten im Zuge der verstärkten Flucht und Migration seit 2015 viele Erstaufnahmeeinrichtungen für Geflüchtete eingerichtet wurden und aufgrund der segregierten Quartiersstruktur darüber hinaus im Norden – anders als im Süden der Stadt – günstiger Wohnraum für neu migrierte Menschen zur Verfügung steht, konzentrierten sich die in Frage kommenden Schulen in diesen Stadtteilen. Ein Bustransfer von Kindern aus Stadtgebieten mit vielen ›Seiteneinsteigern‹ in Stadtgebiete mit weniger ›Seiteneinsteigern‹ fand in Flurstadt zum Erhebungszeitpunkt (noch) nicht statt. Südlich gelegene Grundschulen waren daher nur vereinzelt mit der Aufnahme von ›Seiteneinsteigern‹ betraut. Bei der Kontaktaufnahme mit diesen Schulen erklärte sich keine der angefragten Schule bereit, am Forschungsprojekt teilzunehmen. Als Begründung für die Absage wurde auf die geringe Anzahl an neu migrierten Kindern und die geringe Erfahrung mit dieser Beschulungspraxis verwiesen. Die Auswahl der Schulen in Radstadt In Radstadt wurden auf Nachfrage von der Schulverwaltung eine Liste mit Kontaktdaten von allen Grundschulen, die ›Seiteneinsteiger‹ beschulen, bereitgestellt. Die Liste enthielt auch Informationen darüber, an welchen Schulen ein Bustransfer mit ›Seiteneinsteigern‹ aus anderen Stadtteilen eingerichtet worden war. Letztere Informationen ließen die Vermutung zu, dass Schulen mit Bustransfer erst seit kurzer Zeit mit der Aufgabe konfrontiert waren, ›Seiteneinsteiger‹ zu unterrichten, da in den entsprechenden Einzugsgebieten der Schulen scheinbar wenig neu migrierte Kinder lebten. Im Gegenzug wurde vermutet, dass Schulen ohne Bustransfer bereits auf eine langjährige Erfah-

125

126

Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

rung zurückblicken können. Auf Grundlage dieser Annahme wurden gezielt Schulen mit Bustransfer sowie Schulen ohne Bustransfer kontaktiert. Durch die schriftliche wie auch telefonische Kontaktaufnahme konnten drei Schulen für die Interviews gewonnen werden. Die Annahme zum Zusammenhang zwischen Bustransfer und Erfahrung in der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ erwies sich als richtig. Das Sample besteht entsprechend in Radstadt aus einer Schule ohne Bustransfer mit langjähriger Erfahrung sowie zwei Schulen mit Bustransfer, die wenig Erfahrung aufweisen. Der Vorteil des gezielten Samplingverfahrens auf der Grundlage von Schuldaten in Radstadt ist, dass unabhängig von möglichen Bekanntschaften oder bestimmten Netzwerken gezielt unterschiedliche Schulen mit viel oder wenig Erfahrung angefragt werden konnten. Bezüglich der geografischen Verteilung der Schulen in Radstadt wird deutlich, dass die Schule mit viel Erfahrung im Norden der Stadt liegt, wohingegen die beiden Schulen mit wenig Erfahrung im Süden angesiedelt sind. Radstadt weist eine ähnlich segregierte Stadtstruktur wie Flurstadt auf. Auch hier lebt eine von höherer Arbeitslosigkeit und höheren SGB II-Quoten betroffene Bevölkerung im Norden der Stadt, in dem ausreichend günstiger Wohnraum vorhanden ist und zusätzlich viele Geflüchtetenunterkünfte eingerichtet wurden. Wie in Flurstadt befinden sich die Schulen mit wenig Erfahrung im Unterrichten von neu migrierten Schüler:innen in den südlichen Stadtvierteln. Anders als in Flurstadt waren in Radstadt seit kurzer Zeit jedoch auch diese Grundschulen durch die Einrichtung eines Bustransfers verstärkt in die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ eingebunden. Die Kontaktaufnahme und die Vereinbarung von Interviewterminen gestaltete sich in Radstadt auch mit Schulen in südlichen Stadtvierteln problemlos.

4.3.4

Überblick: Datensatz

In den Städten Flurstadt und Radstadt wurden im Zeitraum von Mai 2015 bis Januar 2017 18 Interviews mit 30 Personen erhoben (Flurstadt: Mai 2015 – April 2016; Radstadt: Juni 2016 – Januar 2017). In zwei kommunalen Schulverwaltungen wurden insgesamt fünf Einzelinterviews durchgeführt (zwei bzw. drei Interviews pro Kommune). In den insgesamt sechs Schulen (drei Grundschulen pro Kommune) wurden jeweils zwei bis drei Interviews erhoben, einerseits mit den Schulleitungen sowie andererseits mit Lehrkräften, die an der Beschulung der sogenannten ›Seiteneinsteiger‹ beteiligt sind. Es handelte sich um elf Einzelinterviews sowie sechs Gruppendiskussionen mit zwei bis sechs Personen. Folgende Grafik bietet einen Überblick über den Datensatz.

4 Anlage der Studie

Tabelle 1a: Datensatz Forschungsprojekt (eigene Darstellung) Kommune

Institution, Interviewpartner:innen

Dauer (Std.)

IP

Mitarbeiter:in Schmidt (Beratung von ›Seiteneinsteigern‹)

1:44:41

1

Mitarbeiter:in Weber (Vermittlung von ›Seiteneinsteigern‹ an Grundschulen)

1:17:19

1

Mitarbeiter:in Meyer (Vermittlung von ›Seiteneinsteigern‹ im Übergang Grundschule – Sekundarstufe)

1:06:38

1

Σ

Ebene Schulverwaltung

Flurstadt

Ebene Grundschulen Bergschule

Schulleiter:in Steinert

0:41:14

1

VK-Lehrer:in Tal, Klassenlehrer:in Koppe (4. Klasse)

1:03:28

2

Waldschule

Schulleiter:in Linde

1:11:17

1

VK-Lehrer:in Baumann, Klassenlehrer:in Fuchs (3. Klasse)

0:55:07

2

Flussschule

Schulleiter:in Moser

0:41:58

1

VK-Lehrer:in Mohn, VK-Lehrer:in Rosenthal, Klassenlehrer:in Heumann (1. Klasse)

1:06:14

3

VK-Lehrer:in Worm

0:57:34

1

Gesamt

14

10

127

128

Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Tabelle 1b: Datensatz Forschungsprojekt (eigene Darstellung) Ebene Schulverwaltung

Radstadt

Mitarbeiter:in Becker (Leitung des Fachbereichs, allgemeine Koordination)

0:53:19

1

Mitarbeiter:in Krause (Beratung und Vermittlung von ›Seiteneinsteigern‹)

1:08:49

1

Ebene Grundschulen Ostschule

Schulleiter:in Konrad

0:36:54

1

VK-Lehrer:in Solder

0:37:26

1

Westschule

Schulleiter:in Neumann, VK-Lehrer:in Wild

1:03:05

2

Klassenlehrer:in Wilhelm, Klassenlehrer:in Horn, Klassenlehrer:in Abel, Klassenlehrer:in Dietrich, Klassenlehrer:in Grimm, Klassenlehrer:in Jensen (1.-4. Klasse)

0:48:24

6

Schulleiter:in Ittel

0:53:04

1

VK-Lehrer:in Url, Klassenlehrer:in Sonnberg (4.Klasse), Klassenlehrer:in Boldt (4.Klasse)

0:57:49

3

Südschule

Gesamt Gesamt

16

8

30

18

VK-Lehrer:in: Lehrkraft, die ausschließlich oder hauptsächlich neu migrierte Schüler:innen unterrichtet (unabhängig davon, ob die Beschulung parallel in einer ›Vorbereitungsklasse‹ oder teilintegrativ für mehrere Stunden am Tag in einer ›Vorbereitungsgruppe‹ erfolgt). IP: Interviewpartner:innen pro Interview.

Anonymisierung Die ausgewählten Städte Flurstadt und Radstadt sollen – ebenso wie die Schulverwaltungen oder Grundschulen – nicht im strengen Sinne repräsentativ sein. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass die ausgewählten Kommunen keine Sonderfälle darstellen, insofern als sich die Rahmenbedingungen der Schulverwaltungen wie der Grundschulen bezüglich landesrechtlicher Vorgaben in NRW, sozialstrukturellen und kommunalen Bedingungen und dem vermehrten Zuzug migrierter Menschen im Zeitraum 2015-2017 ähnlich wie in anderen Städten (in NRW) darstellen. Ausgehend von dieser Annahme werden in dieser Arbeit keine konkreten Beschulungspraxen und besonderen Sachverhalte in den zwei untersuchten Städten, Schulverwaltungen und Schulen präsentiert. Vielmehr soll die Frage gestellt werden, wie grundsätzlich unterschiedliche Bildungschancen innerhalb von kommunalen Bildungsstrukturen verteilt werden. Durch die Anonymisierung der Städte, wie auch der Namen der Mitarbeiter:innen in der Schulverwaltung sowie der Anonymisierung der Grundschulen (inkl. der Namen von Lehrkräften und Schulleitungen) soll ein größtmöglicher Schutz personenbezogener Daten gewährleistet werden. Die von Beginn an zugesicherte Anonymität bildete die Grundlage für eine Vertrauensbeziehung zwischen der Forscherin und den Gesprächspartner:innen. So war diese Zusicherung für viele Interviewpartner:innen die Voraussetzung dafür, aus-

4 Anlage der Studie

führlich von ihrer Praxis, ihren Erfahrungen, Perspektiven und Problemlagen zu berichten. Mitarbeiter:innen der Schulverwaltung, Schulleitungen, Lehrkräfte sowie die Grundschulen selbst wurden von der Autorin mit frei gewählten Namen belegt. Für dieses Vorgehen (und damit gegen die Benennung der Interviewpartner:innen mit in der dokumentarischen Methode etablierten Kürzeln wie bspw. ›IP3w‹) spricht, dass der Lesefluss so weniger gestört wird, eine leichtere Wiedererkennung von Schulen und/oder Personen im Textverlauf ermöglicht wird und damit auch die Ergebnisdarstellungen besser nachvollzogen werden können. Da es nicht dem Erkenntnisinteresse der Arbeit entspricht, die Relevanz von (zugeschriebenen) Geschlechtszugehörigkeiten der Interviewpartner:innen in den Blick zu nehmen, wird die binäre Zuordnung der Interviewpartner:innen zu einem Geschlecht vollständig vermieden. Stattdessen wird die Kennzeichnung Lehrer:in oder eine genderneutrale Sprechweise wie ›Lehrkraft‹ gewählt. Im Rahmen der Interviews werden immer wieder Namen von Schüler:innen genannt. Auch diese sind selbstverständlich anonymisiert. Die von den Lehrkräften vorgenommene Geschlechtszuordnung wird dabei übernommen. Darüber hinaus werden die Namen durch möglichst äquivalente Namen derselben Sprach(-famili)e, ggf. Religion oder Region ersetzt. Ein solches Vorgehen erschien erforderlich, da mit der Nennung bestimmter Namen ethno-kulturelle bzw. ethno-nationale Unterscheidungen (vgl. Radtke 2008: 655) sowie hierarchische Geschlechterordnungen (vgl. Bereswill/Ehlert 2017) aufgerufen werden, die für die Analyse der Problembeschreibungen der Interviewpartner:innen von Bedeutung sein könnten.

4.4

Datenerhebung und Reflexion

Die dokumentarische Methode wird insbesondere für die Auswertung von Gruppendiskussionen genutzt bzw. wurde im Zusammenhang mit Gruppendiskussionsverfahren entwickelt. Die Methode ist jedoch nicht auf dieses Erhebungsinstrument beschränkt. Vielmehr bietet sich mit der dokumentarischen Methode gleichermaßen eine Methodentriangulation an, d.h. die Anwendung von unterschiedlichen Interviewformen wie narrativen oder biografischen Leitfadeninterviews, sowie von Bild- und Videointerpretationen oder teilnehmenden Beobachtungen (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 273f.). Die geführten Gruppendiskussionen (zwei bis sechs Personen, s. Tabelle 1 ›Datensatz‹) stellen – im Gegensatz zu Einzelinterviews – ein »performatives Ereignis« (Vogd 2009: 46) dar. Mit dieser Erhebungsmethode, die auf Mangold (1960) zurückgeht, soll den Teilnehmenden ermöglicht werden, eine selbstläufige »Eigenstrukturiertheit« (Bohnsack 2005a: 380) zu entfalten, indem die Gruppe die Themen ohne starke Eingriffe durch die:den Interviewer:in selbst bestimmen. Der Ansatz geht dabei auf die Annahme zurück, dass sich in solchermaßen ermöglichten Diskussionen »die Genese der Orientierungen von Gruppen in ihrem Erlebniszusammenhang« (Bohnsack/Pfaff 2010: 12) dokumentieren lassen. Bohnsack hat im Rahmen der Ausformulierung der dokumentarischen Methode eine Reihe an Prinzipien für die Leitung von Gruppendiskussionen entwickelt, die darauf zielen, möglichst detaillierte Beschreibungen und

129

130

Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Erzählungen zu erzeugen, auf deren Grundlage es möglich wird, den modus operandi der Gruppe zu rekonstruieren (s.u.a. Bohnsack 2005a: 380-382). Um eine Vergleichbarkeit der Diskussionen zu ermöglichen und um für das Forschungsprojekt relevante Themen zu initiieren, beginnen Gruppendiskussionen zum einen mit standardisierten Eingangsimpulsen und zum anderen können in einer späteren Phase der Diskussion Themen durch spezifische Nachfragen der:des Interviewer:in eingebracht werden (vgl. ebd.: 380f.). Entsprechend dient auch in der Durchführung einer Gruppendiskussion ein Leitfaden als Gedächtnisstütze für die:den Interviewer:in. Anzumerken sind im Hinblick auf die tatsächliche Durchführung der Gruppendiskussionsverfahren folgende Aspekte: So erwies es sich an fast allen Schulen als unmöglich, für die Diskussionen mehr als zwei bis drei Lehrkräfte zu gewinnen. Geschuldet war dies, so wurde es mehrfach gegenüber der Interviewerin kommuniziert, den engen Zeitplänen der Lehrkräfte und der ohnehin starken Belastung dieser im Arbeitsalltag. Die Interviews an den Schulen fanden daher fast ausschließlich während des Regelbetriebs am Vormittag statt. Entsprechend konnten nur diejenigen Lehrkräfte an der Erhebung teilnehmen, die entweder gerade keinen Unterricht geben mussten oder von der Schulleitung freigestellt wurden. Nur an einer Schule (der ›Westschule‹) konnte die Gruppendiskussion am Mittag, nach Beendigung des Unterrichts, stattfinden. Dieser Termin wurde von der Schulleitung veranschlagt und es nahmen, bis auf eine krankheitsbedingte Ausnahme, alle Lehrkräfte der Schule am Gespräch teil. Aufgrund der geringen Teilnehmendenzahlen der übrigen Interviews ist fraglich, ob diese tatsächlich als Gruppendiskussionen bezeichnet werden können und den Anforderungen entsprechen, die an diese Erhebungsmethode gestellt werden. So entwickelten sich zwar in allen Diskussionen selbstläufige Kommunikationen unter den Lehrkräften, in einigen Fällen wurde diese aber stark durch Eingriffe der Interviewerin in Form von Nachfrage und neuen Impulsen angeregt. Abgesehen davon trugen die i.d.R. durch die Unterrichtszeiten vorgegebenen engen Zeitpläne dazu bei, dass einerseits die Lehrkräfte weniger zu ausgiebigen und detaillierten Ausführungen ermuntert schienen und sich andererseits für die Interviewerin die Notwendigkeit ergab, frühzeitig zu immanenten und exmanenten Nachfragen überzugehen, um als wichtig erachtete Themengebiete einzubringen. Da in dieser Arbeit aber nicht die Rekonstruktion von Organisationskulturen in Organisationen im Fokus steht, sondern vielmehr die durch das Ineinandergreifen unterschiedlicher Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen entstehenden Ordnungen in Organisationen rekonstruiert werden sollen (s. Kap. 4.1), erscheinen die dadurch erzeugten, stärker durch die Interviewerin strukturierten Gruppendiskussionen weniger problematisch. Im Hinblick auf das Erhebungsinstrument ›Gruppendiskussion mit Lehrkräften‹ im Kontext der dokumentarischen Organisationsforschung ist darüber hinaus kritisch anzumerken, dass – wie auch Vogd ausführt – mit dieser Methode weniger die parallel in Organisationen ablaufenden Prozesse in den Blick geraten, die für Organisationen jedoch von besonderer Bedeutung sind. So spiele »genau die Tatsache, dass Organisationen gerade deshalb funktionieren, weil die ›linke Hand nicht weiß was die rechte tut‹ (Bateson/Bateson 1993: 103), […] für die rekonstruktive Organisationsforschung eine wichtige Rolle, denn die Verschränkung gleichzeitig

4 Anlage der Studie

stattfindender Prozesse in einem ›loose coupling‹ (Weick 1998) ist ein wesentliches Kennzeichen von Organisationen. Ein zentrales Merkmal modernen Organisationen ist, dass in parallel laufenden Veranstaltungen unter asynchronen Zeithorizonten verschiedene Akteursgruppen unterschiedliche Sachzwänge erzeugen, die dann für die jeweils anderen Gruppen neue Bezugsprobleme schaffen.« (Vogd 2009: 48) Um diesem grundsätzlichen Einwand entgegenzuwirken, wurden in den Schulen neben Gruppendiskussionen mit Lehrkräften auch Einzelinterviews mit Schulleitungen durchgeführt. Diese gaben Einblick in Sachzwänge auf der Verwaltungsebene, die sich ebenso auf die Beschulungspraxis aus wirken könnten. In diesen leitfadengestützten problemzentrierten Einzelinterviews wurden die Interviewten durch die Formulierung von offenen Frageimpulsen zu möglichst selbstläufigen Kommunikationen angeregt. Gleichzeitig wurden jedoch bestimmte, für das Forschungsprojekt relevante Problemstellungen immer wieder durch die Interviewerin in das Gespräch eingebracht. Die Interviewform des problemzentrierten Interviews wurde von Witzel (1985, 2000) entwickelt, der auf drei Grundpositionen dieser Erhebungsmethode verweist: 1. Die Problemzentrierung: dies bedeutet, dass der:die Forscher:in die Erhebung an einer zuvor festgelegten relevanten gesellschaftlichen Problemstellung ausrichtet. Hierfür sind Vorkenntnisse und Informationen notwendig, die insofern in den Erhebungsprozess einbezogen werden, als diese sowohl zur Präzisierung des Leitfadens als auch zum Verständnis der Explikationen der Interviewten beitragen. 2. Unter Gegenstandsorientierung versteht Witzel Methodenflexibilität oder auch Methodentriangulation: Der Gegenstand der Untersuchung wird durchgehend im Blick behalten und gegenüber dem Erhebungsinstrument klar priorisiert. 3. Prozessorientierung: Durch eine offene und vertrauensvolle Interviewführung sollen die interviewten Personen zu einer eigenständigen Entwicklung ihrer jeweils spezifischen Problemhorizonte angeregt werden (vgl. Witzel 1985, 2000).

Bei der Planung und Durchführung der Interviews wurde versucht, allen drei von Witzel formulierten Grundpositionen gerecht zu werden. Während für einige Einzelinterviews durchaus Orientierungen der Akteur:innen in selbstläufigen, detaillierten Beschreibungen und Erzählungen sichtbar werden, zeigte sich jedoch gleichzeitig, dass andere Interviews mit Mitarbeiter:innen der Bildungsverwaltung und mit Schulleitungen eher den Charakter von Expert:inneninterviews angenommen haben, die einem klaren Frage-Antwort-Schema folgen. Diese Interviewformate geben zwar weniger Einblicke in die zugrunde liegenden Orientierungen der Akteur:innen, bieten dafür aber auf der Ebene des kommunikativen Wissens eine Fülle an wertvollen Hinweisen über organisationsinterne Abläufe.   Für beide Interviewformate gilt, dass diese zwar auf Leitfäden beruhten, innerhalb der Gespräche von der Interviewerin gleichwohl in Form von spontanen ad-hoc Fragen in sich situativ als relevant ergebenden Passagen vom Leitfaden vollständig abgewichen oder Fragen umformuliert wurden. Dies ist jedoch auch mit einer gewissen Übung nicht

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

vollumfänglich vermeidbar. Die dokumentarische Methode bietet dabei allerdings eine Möglichkeit des Umgangs mit diesen ›Interviewfehlern‹, indem die Fragen und Kommentare der interviewenden Person immer mit interpretiert werden.11   Zusätzlich zur Erhebung von Einzelinterviews und Gruppendiskussionen wurden für den Zeitraum 2014-2017 öffentliche Dokumente erfasst und ausgewertet, die sich auf landes- und kommunalpolitischer Ebene mit der Beschulung neu migrierter Kinder und Jugendlicher befassen. Eine besondere Beachtung erfuhren dabei kommunalpolitische Beschlüsse, Vorlagen und Protokolle, die systematisch in den Ratsinformationssystemen der untersuchten Kommunen erhoben wurden. Aus forschungspraktischen Gründen, die die Anonymisierung der Kommunen, aber auch den Umfang der Arbeit betreffen, konnten diese erhobenen kommunalpolitischen Daten nicht ausführlich ausgewertet werden und in die Arbeit einfließen. Sie dienen bzw. dienten dennoch als ›Hintergrundwissen‹ für die Erstellung der Leitfäden wie auch der Kontextualisierung der in den Kommunen geführten Interviews. Die Dokumente der Landespolitik zur Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ werden hingegen in Kapitel 6 systematisiert dargestellt. Darüber hinaus werden auch für die Autorin bereitgestellte, fachbereichsspezifische Dokumente in anonymisierter Form in die Arbeit aufgenommen (bspw. Erhebungsbögen der ›Seiteneinsteigerberatung‹), da diese Dokumente nicht nur »als Dokumentation dessen, was in der Organisation gelaufen ist (›Abbildungs-‹ und ›Erinnerungsfunktion‹) [erscheinen], sondern […] selbst eine konstitutive Rolle für all jene Prozesse [spielen], in denen Organisationen Sinn erzeugen.« (Vogd 2009: 52) Auf diesen Dokumenten werden bspw. nicht nur bereits erhobene Informationen festgehalten – vielmehr können sie auch für sich anschließende Selektionen Entscheidungsprämissen bereitstellen.

11

Die für die Verschriftlichung der Interviews genutzten Transkriptionsregeln finden sich im Anhang der Arbeit.

5 Verwaltung von ›Seiteneinsteigern‹

Alle neu migrierten Kinder und Jugendlichen müssen in NRW vor Eintritt in das Bildungssystem zunächst eine sogenannte kommunale ›Seiteneinsteigerberatung‹ aufsuchen. Im Anschluss an die ›Beratung‹ werden die Schüler:innen daraufhin in Zusammenarbeit mit den jeweiligen kommunalen Schulämtern einer Schule zugewiesen, welche i.d.R. für die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ über zusätzliche Ressourcen in Form von Lehrer:innenstunden und finanzieller Unterstützung verfügt. Dies bedeutet, dass neu migrierte Kinder und Jugendliche sich nicht eigenständig an den von ihnen ausgewählten Schulen anmelden sollen. Diese ›Seiteneinsteigerberatung‹ findet in den Kommunen statt, in denen die Kinder und Jugendlichen gemeldet sind.1 I. d. R. wird die Beratung durch abgeordnete Lehrkräfte in den Kommunalen Integrationszentren (KI) – oder in wenigen Ausnahmen in enger Kooperation mit dem KI in anderen Fachbereichen der Schulverwaltung – durchgeführt. Diesen Stellen kommt darüber hinaus die Aufgabe zu, in Zusammenarbeit mit den Schulämtern die Zuweisungen der Kinder und Jugendlichen auf Schulen vorzunehmen.2 Die Schulverwaltungen in Flurstadt und Radstadt sind jedoch nicht nur dafür verantwortlich, neu migrierte Schüler:innen zu ›beraten‹ und Schulen zuzuweisen (Kap. 5.1), sondern sie sind darüber hinaus auch in die Organisation des Übergangs von ›Seiteneinsteigern‹ von der Vorbereitungsklasse in die Regelklassen bzw. den Regelbetrieb der Schulen zuständig (Kap. 5.2) sowie in den Wechsel der ›Seiteneinsteiger‹ von der Primar- in die Sekundarstufe eingebunden (Kap. 5.3). Indem die Schulverwaltungen diese bildungsbiografisch potenziell folgenreichen Entscheidungsstellen moderieren, kommt ihnen für die Frage nach der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem eine entscheidende Rolle 1

2

Schulpflichtig ist in NRW grundsätzlich, »wer in Nordrhein-Westfalen seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder seine Ausbildungs- oder Arbeitsstätte hat.« (SchulG NRW §34) Für Kinder von Asylbewerber:innen und für alleinstehende asylsuchende Kinder und Jugendliche beginnt die Schulpflicht »sobald sie einer Gemeinde zugewiesen sind und solange ihr Aufenthalt gestattet ist« (ebd). Wie die Kooperation mit den kommunalen Schulämtern jeweils ausgestaltet ist und inwiefern die KI oder die dem KI angelehnten Stellen die Zuweisung der Schüler:innen eigenständig vornehmen oder vollständig den Schulämter überlassen ist, ist von Kommune zu Kommune unterschiedlich (s. hierzu auch Emmerich et al. 2016, 2017).

136

Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

zu (Kap. 5.4). Auch wenn das zentrale Anliegen der vorliegenden Arbeit die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ an Primarschulen ist, wird in der weiteren Analyse ebenfalls die Zuweisungs- und Vermittlungspraxis an weiterführende Schulen näher betrachtet, da Handlungsorientierungen der Schulverwaltungen im Hinblick auf die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹, die für die Frage nach der (Re-)Produktion von Bildungsungleichheit relevant sind, hier besonders deutlich hervortreten.3 Durch die Interviews mit den Mitarbeiter:innen der Schulverwaltungen in Flurstadt und Radstadt4 werden Einblicke in die Entscheidungsprozesse in der Verwaltung neu migrierter Kinder und Jugendlicher gewonnen. Die Interviewpartner:innen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur ein besonderes Wissen über organisatorische Prozesse besitzen, sondern dieses Wissen im Zuweisungsprozess der neu migrierten Schüler:innen auf Schulen und in Regelklassen oder in der Organisation des Übergangs von der Primar- in die Sekundarstufe insofern relevant machen, als sie faktisch Entscheider:innen an diesen bildungsbiografisch bedeutsamen Entscheidungsstellen sind. Durch die Auswertung der Interviews ist es möglich, die Prozesshaftigkeit von Entscheidungskommunikation zu beobachten. Die Analyse der Interviews verbleibt dabei in weiten Teilen auf der Ebene der formulierenden Interpretation, da in diesem Kapitel die Rekonstruktion von Formalstrukturen und organisatorischen Abläufen im Mittelpunkt des Interesses steht.5

5.1

Kommunales Distributionsmanagement:  das ›Beratungs- und Zuweisungsverfahren‹

Alle neu migrierten Kinder und Jugendlichen werden in NRW, bei Meldung in oder Zuweisung zu einer Kommune, dazu aufgefordert, einen Termin in der für sie zuständigen ›Seiteneinsteigerberatung‹ wahrzunehmen. Welchen Zweck das ›Beratungsverfahren‹ erfüllt, wird in einem Leitfaden des Verbundes Kommunaler Integrationszentren NRW dargestellt.6 Neben organisatorischen Empfehlungen zur Kontaktaufnahme und Terminvereinbarung mit den neu migrierten Schüler:innen sowie zur Zusammenarbeit mit anderen Institutionen wie dem Gesundheitsamt, werden Hinweise zum Ablauf des ›Beratungsgesprächs‹ sowie zur ›Schulformempfehlung und -vermittlung‹ gegeben. So sollen im Beratungsgespräch

3 4

5 6

Eine differenziertere Auseinandersetzung mit den kommunalen Zuweisungsverfahren auf die niveaudifferenzierte Sekundarstufe findet sich bei Emmerich, Hormel und Jording (2016). In beiden Städten spielen neben den hier genannten Interviewpartner:innen noch weitere Personen und Fachbereiche eine Rolle, wenn es bspw. um die Zuweisung von räumlichen Ressourcen und Materialien oder um die Einstellung neuer Lehrkräfte für die Beschulung von neu migrierten Schüler:innen geht. Da der Einbezug dieser Verwaltungsstellen den Rahmen der Arbeit übersteigen würde, wurden ausschließlich die – mit Hinblick auf die zugrundeliegende Fragestellung – relevantesten Entscheidungsstellen in die Auswertung aufgenommen. Grundlage der Analysen bilden die vollständig transkribierten Interviews. Die folgenden Ausführungen zum Leitfaden beziehen sich auf den von der Landesweiten Koordinierungsstellte Kommunaler Integrationszentren (KI NRW o.J.) herausgegebenen »Leitfaden zu einem exemplarischen Ablauf eines Erstberatungskonzepts im Verbund der Kommunalen Integrationszentren« (KI NRW o.J.).

5 Verwaltung von ›Seiteneinsteigern‹

• • • • • •

persönliche Daten Bildungsbiografie Sprachkenntnisse Schulische Kompetenzen und Interessen Hobbys und Interessen (Freizeit und Sport) ggf. berufliche Vorerfahrungen und Interessen

erfasst werden. Darüber hinaus solle eine Auswertung der folgenden Angaben stattfinden: • • •

vorliegende Zeugnisse Angaben der Erziehungsberechtigten zum Bildungsstand des Kindes falls bereits vorhanden: Ergebnisse der schulärztlichen Untersuchung

Neben Auskünften zum Bildungssystem sollen den Erziehungsberechtigten außerdem Informationen über die »Kriterien der Schulformempfehlung (Schulform, Wohnortnähe, vorhandene Plätze an der Schule etc.)« (KI NRW o.J.: 2) zur Verfügung gestellt werden. Auffällig ist, dass im Leitfaden nicht konkretisiert wird, wie bei der Auswertung vorgegangen werden soll, wie eine Schulempfehlung getroffen wird und wie letztlich entschieden wird, auf welche Schule ein:e Schüler:in vermittelt wird. Die Vagheit der Vorgaben wird überdies durch den Hinweis verstärkt, dass »individuelle Abweichungen und Handhabungen aufgrund regionaler Gegebenheiten […] möglich [sind]« (ebd.: 1). Einblicke in die konkrete Ausgestaltung des jeweiligen kommunalen Distributionsmanagements und den diesen Praxen zugrunde liegenden Entscheidungsprämissen können – da die offiziellen Vorgaben hierzu, wie deutlich wird, wenig konkret erscheinen – für Flurstadt und Radstadt auf der Grundlage von Verwaltungsinterviews generiert werden. Zunächst wird das Verfahren in Flurstadt dargestellt, um daraufhin mit Blick auf die Praxis in Radstadt Gemeinsamkeiten oder Unterschiede herauszuarbeiten. Bei der Betrachtung des kommunalen Distributionsmanagements steht der vorgeschaltete Prozess, der vor der konkreten Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ in Schulen stattfindet, im Mittelpunkt. In Flurstadt sind drei Fachbereiche in das kommunale Distributionsmanagement eingebunden. Während in einem Fachbereich die ›Seiteneinsteigerberatung‹ für alle neu migrierten Schüler:innen durchgeführt und eine Entscheidung für eine Schulform und Klassenstufe getroffen wird, erfolgt in zwei weiteren Fachbereichen, auf der Grundlage dieser Daten, die Zuweisung der Schüler:innen in den Primaroder Sekundarschulbereich. In Radstadt hingegen werden neu migrierte Kinder und Jugendliche innerhalb eines Fachbereichs von jeweils einer Person beraten und von dieser anschließend an Primar- und weiterführende Schulen vermittelt.

5.1.1

Versuch der Herstellung einer Passung zwischen Schulform und ›Seiteneinsteigern‹ in der Schulverwaltung

In Flurstadt sind maßgeblich drei Personen in die schulorganisatorische Verwaltung von neu migrierten Schüler:innen eingebunden: Schmidt führt die ›Seiteneinsteigerbe-

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ratung‹ durch, Meyer vermittelt Sekundarschüler:innen und Grundschüler:innen werden durch Weber zugewiesen.   In Flurstadt werden in der sogenannten ›Seiteneinsteigerberatung‹ Daten der neu migrierten Kinder und Jugendlichen aufgenommen, eine Auswertung dieser Daten vorgenommen und im Anschluss wird eine Schulformentscheidung getroffen. Da in Flurstadt alle Schulformen in die Beschulung der neuen Schüler:innen eingebunden sind, steht Mitarbeiter:in Schmidt vor der Aufgabe, für jede:n Schüler:in zu entscheiden, ob er:sie zukünftig die Grundschule und im Bereich der Sekundarstufe eine Hauptschule, eine Realschule, eine Gesamtschule oder ein Gymnasium besuchen soll. Wie bei diesem Entscheidungsprozess vorgegangen wird und welche formellen und informellen Entscheidungsprämissen dabei zur Verfügung stehen, oder welche zunächst selbst generiert werden müssen, wird in einer Interviewpassage deutlich, in der Mitarbeiter:in Schmidt chronologisch erläutert, wie das Vermittlungsverfahren ablaufe. S: wenn die dann bei mir sind zur Beratung nehme ich erst mal gucke ich mir die nehme ich die persönlichen Daten auf Geburtsdatum und den ganzen Kram das ändert sich jetzt auch aufgrund der Datenbank weil wir da wird ein Abgleich mit der EWO haben mit der Einwohner- Einwohnermeldeamtsdatei das heißt ich habe dann die persönlichen Daten schon da stehen ich muss nicht mehr fragen wann geboren wo wohnen Sie das habe ich dann alles schon aber bisher war es halt immer so das erste dass ich so die persönlichen Fragen persönlichen Daten aufgenommen habe und als Nächstes frage ich ein bisschen zum schulischen Hintergrund von wann bis wann die welche Schulen besucht haben ich versuche so ein bisschen rauszukriegen wie die in der Schule gewesen sind wenn die Zeugnisse dabei haben ist das relativ einfach ansonsten muss man da manchmal ein bisschen nachfragen ich versuche mir so ein Bild von der gesamten familiären Situation zu machen das ist auch nicht immer so einfach ich gucke was die für einen Aufenthaltsstatus haben weil das manchmal für die Schulen von Bedeutung ist und weil das auch manchmal wird von Bedeutung ist ob die einen Integrationskurs machen können oder nicht ich (.) gebe dann ne Einschätzung ab was für eine Schulform ich für für angebracht halte und rufe dann beim Gesundheitsamt an und vereinbare den Termin in Anwesenheit das mache hier weil dann die Sprachmittler meistens noch anwesend sind und ich mit dem Sprachmittler dann auch gleich sagen können ob die dann auch Zeit haben damit dann auch jemand mit zum Gesundheitsamt geht dann erkläre ich denen noch in der Regel wie der weitere Weg abläuft jetzt (.) erkläre ein bisschen was zum deutschen Schulsystem wenn gewünscht und ja das war es dann eigentlich und dann habe ich das vorher vor dieser Datenbank dann per E-Mail an an die entsprechenden Kollegen weitergeleitet das ist jetzt nicht mehr nötig weil die dann gleich Einsicht haben und dann auch gleich sehen dass ich die Beratung gemacht habe und dann dementsprechend dann reagieren und die Schulen suchen und die Schulen ansprechen anschreiben und (.) dann bekommen die halt Post (Schulverwaltung, Flurstadt, Schmidt, Z.400-427) Im Modus einer detaillierten Beschreibung elaboriert Mitarbeiter:in Schmidt, wie im Gespräch Daten zur Schullaufbahn der Schüler:innen erzeugt werden, um diese, neben

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den ›persönlichen Angaben, auf dem als »Erhebungsbogen« bezeichneten Datenblatt7 verschriftlichen zu können. Auf diesem Bogen sind für die Erfassung der Schullaufbahn insgesamt drei Zeilen vorgesehen, in denen der jeweilige Zeitraum des Schulbesuchs, die besuchte Schulform und das Land in, der die Schule besucht wurde, festgehalten werden können. Darüber hinaus wird dort auch der ›Grad der Alphabetisierung‹ notiert.8 Auffällig sind die Formulierungen, die zur Beschreibung des Ablaufs des Beratungsgesprächs genutzt werden: Indem der Beginn des Beratungsgesprächs mit »nehme ich die persönlichen Daten auf«, »Abgleich mit der EWO« und »von wann bis wann die welche Schulen besucht haben« erläutert wird, erscheint das Vorgehen als ein kontrolliertes und transparentes Verfahren, das auf einer verwaltungsförmigen Erfassung relevanter Daten beruhe. Nachdem die grundlegenden persönlichen Daten der Kinder und Jugendlichen erfasst sind, muss in einem nächsten Schritt eine Schulformentscheidung getroffen werden. Wenn Zeugnisse vorliegen, wird die Einschätzung des schulischen Leistungsstandes als »relativ einfach« beschrieben. So stellen Zeugnisse eine eindeutige und gleichzeitig mit Legitimität ausgestattete Entscheidungsprämisse dar und mit der Beurteilung dieser kann an bereits in der Organisation Schule generierte leistungsbezogenen Selektionsentscheidungen angeknüpft werden. Wenn jedoch keine Zeugnisse vorliegen9 und entsprechend nicht auf diese Entscheidungsprämisse zurückgegriffen werden kann, müssen neue Entscheidungsprämissen generiert werden, um das Problem der Entscheidung – welche Kinder und Jugendliche welcher Schulformen zugewiesen werden sollen – zu lösen. Der:die Mitarbeiter:in beschreibt im weiteren Verlauf der Passage, wie unter diesen Bedingungen vorgegangen wird. Zum einen würde »ein bisschen« nachgefragt. Worauf sich diese Nachfragen beziehen, wird nicht weiter erläutert und bleibt daher sehr vage. Zum anderen würde versucht, sich »ein Bild von der gesamten familiären Situation« zu machen. An dieser Formulierung und der Betonung von ›familiären‹ wird deutlich, dass es nicht nur darum geht, leistungsbezogene Kategorisierungen der Schule zu rekonstruieren. Erkennbar ist an dieser Stelle, dass – gleichwohl die Einschätzung der Familien als »auch nicht immer so einfach« beschrieben wird – die 7 8

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Aufgrund der Anonymisierung der Städte kann der Bogen an dieser Stelle nicht abgebildet werden. Wie der ›Grad der Alphabetisierung‹ festgestellt wird, erläutert Mitarbeiter:in Schmidt in einer weiteren Interviewpassage: S: ich gucke ob die alphabetisiert sind wenn ich Zweifel daran habe ob die alphabetisiert sind dann lasse ich die auch schon mal einen Text schreiben oder einen Text lesen einen englischen Text wenn sie Englisch können ob die lateinisch alphabetisiert sind ne also es ist (.) (Schulverwaltung, Flurstadt, Schmidt, Z.571-574) Es wird hier nicht deutlich, ob die Kinder und Jugendlichen bei diesem informellen ›Test‹ die Wahl zwischen verschiedenen Sprachen haben. Da Schmidt jedoch in der Lage sein muss, die Lese- und Schreibfähigkeit selbst zu überprüfen, liegt die Vermutung nahe, dass Kinder nur in bestimmten, Schmidt bekannten Sprachen Texte lesen und schreiben sollen. Durch die Ergänzung »lateinisch alphabetisiert« wird darüber hinaus erkennbar, dass es nicht von Bedeutung ist, ob Kinder überhaupt alphabetisiert sind – vielmehr wird eine bestimmte Form der Alphabetisierung abgeprüft. Oder, hierauf wird in einer weiteren Passage verwiesen, diese Zeugnisse für die Mitarbeitenden aufgrund der ihnen nicht bekannten Sprache nicht lesbar sind (Schulverwaltung, Flurstadt, Schmidt, Z.618-628).

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Entscheidungsprämisse ›familiärer Hintergrund‹ generiert wird, indem – so ist zu vermuten – über Merkmale der sozialen Herkunft spekuliert und auf dieser ›Grundlage‹ die Wahrscheinlichkeit prognostiziert wird, mit der Kinder zukünftig eine erfolgreiche Schulkarriere verwirklichen – oder nicht. Deutlich wird hier, dass Mitarbeiter:in Schmidt auf der Suche nach Anhaltspunkten ist, die dabei helfen, eine Antwort auf die nicht entscheidbare Frage – welche:r Schüler:in soll auf welche Schule zugewiesen werden – zu finden. In Reaktion auf die immanente, erzählgenerierende Interviewerinnenfrage, wie Schmidt sich ein Bild von den Familien mache, elaboriert der:die Mitarbeiter:in im weiteren Verlauf des Interviews: S: Das das Bild kommt eigentlich also ich frage die Eltern jetzt nicht aus irgendwie also was die beruflich gemacht haben und und solche Dinge das Bild kommt eigentlich so das das setzt sich so zusammen wenn ich Eltern habe die sehr viel nachfragen zum Beispiel wenn ich Eltern habe die sich sehr früh melden um einen Platz in der Schule zu haben wenn ich Eltern habe die jetzt nicht unbedingt drei Mal angeschrieben werden müssen bevor sie sich um einen Schulplatz kümmern sondern zu mir kommen bevor bevor wir sie angeschrieben haben was wir auch sehr oft haben dann ist das schon ein Indiz dafür dass die Eltern sehr bildungsbeflissen sind und wollen dass ihre Kinder zur Schule gehen möglichst schnell dann habe ich Eltern die fragen halt sehr viel wie das jetzt aussieht mit dem Schulsystem und und welche weiteren Möglichkeiten es für die Kinder gibt und dann hat man manchmal Eltern die (.) dazu getrieben werden müssen ihre Kinder in der Schule anzumelden also das sind jetzt die beiden Extreme und das ist eigentlich eher so eine Sache die ich daraus die ich die ich daraus so ein bisschen bisschen bisschen schließe das sind auch einfach Erfahrungswerte wenn man das so seit eineinhalb zwei Jahren macht (.) man muss aufpassen weil Vorurteile sind nicht immer gut aber ma- es ist manchmal auch einfach so dass man so eine Familie sieht und einfach so irgendwie denkt (.) das ist (.) ne Familie die sich um die Kinder kümmert wo wo auch die Bildung wichtig ist oder oder das nicht (Schulverwaltung, Flurstadt, Schmidt, Z.666-684) Im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme beschreibt Mitarbeiter:in Schmidt, wie in Bezug auf das familiäre Umfeld ›Indizien‹ (»ein Indiz«), d.h. Beweismaterialien und Anhaltspunkte für die Beurteilung darüber gesammelt würden, ob die Familien eine positiv unterstützende und bildungsinteressierte Umgebung darstellen. Als Indikator für die Einschätzung wird das Frageverhalten der Eltern im Beratungsgespräch sowie die vorhandene oder nicht vorhandene Eigeninitiative der Erziehungsberechtigten im Hinblick auf den Schulbesuch ihrer Kinder genannt. Zur Legitimation der getroffenen Entscheidungen verweist Schmidt auf das eigene mehrjährige Erfahrungswissen in der ›Seiteneinsteigerberatung‹. In Form einer Konklusion wird die Ausführungen abgeschlossen und darauf verwiesen, dass »Vorurteile […] nicht immer gut« seien, aber dennoch teilweise mit einem Blick bereits eine Einschätzung der Familien hinsichtlich ihres Interesses für Bildung erfolgen könne. Die Konklusion schließt damit an den Beginn der Elaboration an, zu dem ausgeführt wird, dass das Bild einer Familie nicht durch Nachfragen nach beruflichen Hintergründen der Erziehungsberechtigten

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entstehen würde, sondern »das Bild […] eigentlich so« komme – d.h. also auf der persönlichen und nicht weiter überprüfbaren Beurteilung der Familien beruht. Die Bewertung des ›familiären Hintergrundes‹ scheint insbesondere bei der Entscheidung für eine hochqualifizierende Schulform von besonderer Bedeutung zu sein. So führt der:die Mitarbeiter:in aus: S: also Kinder sollen jetzt ja nicht irgendwie zum Gymnasium gehen weil die Eltern Akademiker sind sondern weil sie es selbst dazu in der Lage sind aber ich gucke einfach ob ob auch das Umfeld so ist dass dass dass dass die Kinder das dann auch auch schaffen können (.) (Schulverwaltung, Flurstadt, Schmidt, Z.567-571) Im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme elaboriert der:die Mitarbeiter:in, dass eine Empfehlung für das Gymnasium besonders geprüft werden müsse und nur Sinn ergebe, wenn das familiäre Umfeld tatsächlich passe.10 Die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ an Gymnasien wird damit als spezifischer Ausnahmefall konstruiert – wohingegen die Überweisung an Hauptschulen, Realschulen und Gesamtschulen scheinbar den Normalfall darstellt. Deutlich wird, dass in der ›Seiteneinsteigerberatung‹ zwar zum einen formale und objektivierte Daten (Schulbesuchsdauer, Zeugnisse) erfasst werden, zum anderen jedoch auch eine informelle und auf persönliche Bewertung beruhende Beurteilung der Familien erfolgt, die sich aus Vorstellungen darüber speist, wie ein unterstützendes Familienumfeld aussehe und wie nicht. Diese Einschätzung des ›Familienumfeldes‹ stellt für die:den Mitarbeiter:in – neben den formalen Angaben – ein wichtiges Selektionskriterium dar, um auf Grundlage dessen eine vermeintliche Bildungsbiografie zu rekonstruieren, die Aufschluss über zukünftige Leistungsfähigkeiten gebe. Im weiteren Verlauf des Interviews elaboriert Schmidt in Reaktion auf eine Interviewerinnenfrage, ob die Zuweisung der Schüler:innen vom vorhandenen Schulplatzangebot abhänge: S:       └ich weiß immer wo es besonders hakt also ich weiß zum Beispiel im Moment dass es an den Berufskollegs im Moment wieder besonders hakt das wechselt immer mal ein bisschen im Moment sind es die Berufskollegs trotzdem (.) lasse ich möchte ich mich nicht von davon beeinflussen lassen wo es hakt ich sage jetzt nicht die Gymnasien sind sowieso voll also empfehle ich die Gesamtschule sondern ich mache die Empfehlung danach was ich für angemessen halte  

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Deutlich wird diese Orientierung nochmals in einer weiteren Passage des Interviews: S: Die Chancen auf dem Gymnasium kann ich ja gar nicht kann ich gar nicht so kann ich gar nicht so einschätzen und das ist auch immer eine ganz schwierige Sache weil (.) ich bin ja eigentlich der Auffassung dass Schule oder schulischer Erfolg nicht abhängig sein sollte davon wie gebildet die Eltern sind was die Eltern beruflich machen und wo die Eltern herkommen (.) […] das heißt ich muss gucken wo der Schüler gerade steht der Hintergrund der Eltern ist eigentlich eher sekundär für mich oder sollte eigentlich sekundär sein aber es gibt manchmal so ein bisschen Aufschluss darauf wie die bisherige Schulkarriere gelaufen ist (Schulverwaltung, Flurstadt, Schmidt, Z.686690 + Z.698-701).

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JJ: Ok dann dann wird das quasi im Schulamt entschieden?   S:                                                                       └und was die dann damit machen ist letzten Endes deren Entscheidung und deren Verantwortung und nicht mehr meine (Schulverwaltung, Flurstadt, Schmidt, Z.802-811) Im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme plausibilisiert Mitarbeiter:in Schmidt, dass er:sie zwar über das jeweils verfügbare Schulplatzangebot Bescheid wüsste, dieses Wissen aber nicht in die Schulformentscheidungen einfließe. Neben dem Verweis auf das eigene Erfahrungswissen werden die in der ›Beratung‹ getroffenen Entscheidungen also zusätzlich dadurch legitimiert, dass sich explizit davon distanziert wird, dass getroffene Schulformentscheidungen von dem vorhandenen Schulplatzangebot an unterschiedlichen Schulen in Flurstadt beeinflusst sein könnten. Mit dem Hinweis, dass die letztlich Zuweisung der Schüler:innen auf das Sekundarschulsystem in der Verantwortlichkeit eines anderen Fachbereiches liege, kann die:der Mitarbeiter:in der ›Beratungsstelle‹ sich von den dort getroffenen Selektionsentscheidungen gewissermaßen entlasten. Dadurch also, dass das Distributionsverfahren in Flurstadt vorsieht, dass Schulformentscheidungen in der ›Seiteneinsteigerberatung‹ getroffen werden, die Umsetzung dieser Entscheidungen jedoch in einem anderen Fachbereich erfolgt, diffundiert die letztlich Verantwortung und die ›Beratungsstelle‹ kann sich von den in anderen Fachbereichen vorherrschenden Ressourcenzwängen im Hinblick auf das vorhandene Schulplatzangebot distanzieren. Abschließend kann festgehalten werden, dass die ›Seiteneinsteigerberatung‹ in Flurstadt auf eine Rekonstruktion von Bildungsbiografien in Form von schulformbezogenen Klassifikationen von ›Seiteneinsteigern‹ abzielt. Hierfür werden nicht nur formale Kriterien wie Schulbesuchszeiten und Zeugnisse, schulrelevante Leistungsmerkmale wie Mathematik- und Fremdsprachenkenntnisse sowie Lese- und Rechtschreibfähigkeiten überprüft11 , sondern auch informelle Einschätzungen bemüht, wie am ›familiären Hintergrund‹ rekonstruierte Schulkarrieren, die sich in erster Linie durch soziale Zuschreibungen ergeben. Um Entscheidungsprämissen zu

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So beschreibt Schmidt in einer weiteren Passage: S: das heißt ich frage zum Beispiel wie die in Mathematik gewesen sind weil das in der Regel recht (.) international ist das heißt wer in anderen Ländern in Mathematik gut gewesen ist der wird in Deutschland wahrscheinlich in Mathematik auch relativ gut sein dann gucke ich was die für Fremdsprachen schon gelernt haben schulisch gucke ob die die Fremdsprache dann auch können oder ob sie die jetzt nur irgendwie in der Schule mal hatten dann (.) (Schulverwaltung, Flurstadt, Schmidt, Z.559-565) Die Leistungen in Mathematik dienen dem:der Mitarbeiter:in als ein Indikator für das potentielle Abschneiden in diesem Fach in Deutschland. Inwiefern diese Vermutung nur für das Fach Mathematik gilt, wird von Schmidt hier nicht weiter ausgeführt. Die ›Internationalität‹ eines Faches wird positiv bewertet, da diese eine Vergleichbarkeit indiziere. Wie die sprachlichen Kenntnisse überprüft oder inwiefern Schmidt in der Lage ist, zu unterscheiden, auf welchem Niveau die Kinder und Jugendlichen die entsprechenden Sprachen sprechen, bleibt offen. Wenn der:die Mitarbeiter:in die Sprachkenntnisse jedoch eigenständig im ›Beratungsgespräch‹ überprüft, deutet dies darauf hin, dass es um Sprachkenntnisse von in Schulen anerkannten Fremdsprachen wie bspw. Englisch und Französisch gehen könnte, die Mitarbeiter:in Schmidt ggf. bekannt sind.

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generieren werden also einerseits objektivierte Daten erzeugt, andererseits scheinen darüber hinaus informelle Beurteilungen und Annahmen über die Bedeutung von Bildung in den Familien von ›Seiteneinsteigern‹ als Entscheidungs- und Selektionskriterien zu dienen. Grund für das Hinzuziehen der persönlichen Einschätzungen der Familienhintergründe ist – so wäre zu vermuten –, dass die Orientierung an den von der Organisation Schule in Form von Notenzeugnissen markierten individuellen Leistungen der Kinder und Jugendlichen für die Mitarbeitenden (aufgrund von teilweise fehlenden oder für sie nicht lesbaren Zeugnissen) nicht ausreichend für die zu treffenden Entscheidungen sind. Der Fachbereich ist in den ›Beratungsgesprächen‹ also mit Entscheidungssituationen unter Unsicherheitsbedingungen konfrontiert. Trotz dieser Unsicherheiten werden schließlich jedoch Selektionsentscheidungen getroffen, die abschließend auf dem Erhebungsbogen der Schüler:innen festgehalten werden. Das Entscheidungsverfahren des für die ›Seiteneinsteigerberatung‹ zuständigen Fachbereichs ist beendet, wenn auf dem Erhebungsbogen die jeweilige Schulformempfehlung notiert und der fertige Erhebungsbogen in der dafür vorgesehenen Datenbank gespeichert wurde. Die getroffenen Entscheidungen materialisieren sich somit in Form von Erhebungsbögen, die an zwei weitere Fachbereiche, die für die Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ an Grund- und weiterführende Schulen zuständig sind, weitergeleitet werden.   Zunächst wird im Weiteren die Zuweisung im Primarschulbereich näher betrachtet, um daraufhin auf das Verfahren im Sekundarschulbereich einzugehen. Mitarbeiter:in Weber ist im Fachbereich mit der Aufgabe befasst, neu migrierte Kinder an Grundschulen in Flurstadt zu vermitteln. Wie dabei vorgegangen wird, erläutert er:sie: W: Ja ((tiefes Ausatmen)) also hier ist es sch- ist es (.) ist es natürlich so ich kann nicht so locker einfach nach Aktenlage hier gucken Kind Schule rüberfaxen Feierabend ich versuch und das ist natürlich viel weil es weil Schmidt ja manchmal am Tag auch sehr viele Beratungen hat und dann sind am nächsten Tag sehr viele Kinder die ich vermitteln muss und das sind dann auch viele Telefonate nötig weil letztendlich schon die Schulleitung entscheidet und weil ich schon versuche das eben nicht von oben rauf zu verordnen sondern weil ich auch schon so lange im Geschäft bin und viele Schulleitungen kenne das so über Kommunikation laufen zu lassen und da ist auch immer sehr viel Fingerspitzengefühl gefragt also dass man eben nicht einfach sagt hier das Kind hast du und das weise ich dir zu sondern dass man sich auch eben die Sorgen und Nöte anhört […]   JJ: Und Sie können auch zuweisen? also (.) offiziell   W:                                                                                └ja letztendlich muss ich ehrlich sagen bis jetzt hat sich noch keiner gewehrt weil Schulr:ätin12 sagt in den Schulleiterdienstbespre-

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Das Gendern der Bezeichnung Schulrat/Schulrätin erfolgte durch die Autorin und soll zur Wahrung der Anonymität von Flurstadt beitragen.

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chungen wo ja alle Schulleiter hinkommen bis achtundzwanzig müssen sie aufnehmen und dann wissen die das ja und wenn ich dann anrufe sagen sie schon ja ich weiß ich kann das auch dann in der Datei nachgucken in Schild-Zentral13 ne wie viele Kinder die haben das ist auch neu vorher war das nicht so da haben die mich was ich ja auch verstehen kann oft so ein bisschen angeflunkert und gesagt wir sind voll und dann kamen wir aber überhaupt nicht mehr aus weil wir auf einmal war dann alles voll und dann haben wir gesagt wir brauchen die Datenbank wo die die Schüler haben dann können wir jetzt dann kann ich jetzt immer sagen Entschuldigung aber ich kann gerade gucken du bist noch nicht voll und musst das Kind noch aufnehmen   JJ:                                                                                                                └achso das können Sie direkt einsehen pro Schule dann?   W:                                           └ja ja das ist aber auch neu und und deswegen würden die dann ja auch nie sagen mache ich nicht (Schulverwaltung, Flurstadt, Weber, Z.193-202 + 211-225) Im Modus einer kontrastiv-vergleichenden Beschreibung elaboriert der:die Mitarbeiter:in in dieser Passage Unterschiede zwischen einem verwaltungstechnischen Zuweisungsverfahren und einem eher pädagogisch orientierten Vermittlungsverfahren von neu migrierten Schüler:innen an Grundschulen. Deutlich wird durch die sich wiederholende Gegenüberstellung, dass das als einfaches bürokratisches ›Arbeiten nach Aktenlage‹ skizzierte Zuweisungsverfahren den negativen Horizont darstellt, von dem die eigene Arbeitsweise abgegrenzt wird. Nachdem Weber festhält, dass trotz der hierarchisch höheren Handlungsposition vom Fachbereich keine Kinder an Schulen ›verordnet‹ werden sollen, wird zu einer Elaboration des positiven Gegenhorizonts angesetzt, wie stattdessen versucht würde zu handeln. Im Modus einer Argumentation elaboriert Weber außerdem, warum der Fachbereich in der Lage sei, anders arbeiten zu können. Dabei wird auf das langjährige Erfahrungswissen und den persönlichen Kontakt mit den Schulen verwiesen. Weber weist das Zuweisungsverfahren als ein pädagogisches Verfahren aus. Deutlich wird aber gleichzeitig u.a. in der weiteren Beschreibung in Reaktion auf die Erkundigung der Interviewerin, ob ›Seiteneinsteiger‹ auch zugewiesen werden könnten, dass es bei der Vermittlung von ›Seiteneinsteigern‹ auf Grundschulen letztlich nicht um pädagogische Fragen, sondern um Ressourcenfragen geht. So wird in einem digitalen Erfassungssystem nach freien Schulplätzen gesucht, die dann mit ›Seiteneinsteigern‹ besetzt werden. Durch die Einführung dieser ›Datenbank‹ hat die Schulverwaltung immer einen aktuellen Überblick über die freien Schulplätze und die Schulleitungen haben keine Möglichkeit, die ihnen zugewiesenen ›Seiteneinsteiger‹ abzuweisen. Die ›Datenbank‹ scheint also auch eine Kontrollfunktion zu erfüllen, da die Schulen die Schulverwaltung nun nicht mehr hinsichtlich der ihnen zur Verfügung stehenden Plätze für ›Seiteneinsteiger‹ »anflunkern« könnten. Auffällig ist, dass mit der Formulierung »oft

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Hierbei handelt es sich um ein von allen Schulen des Landes NRW genutztes Schulverwaltungsprogramm.

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so ein bisschen angeflunkert« zwar auf einen Regelverstoß verwiesen wird, dieser aber scheinbar als wenig gravierend verhandelt wird. Hierauf deutet auch die vorweg geschickte Aussage hin, dass für dieses Verhalten ›Verständnis‹ bestünde. Es zeigt sich, dass Probleme bei der Zuweisung weniger durch pädagogische Kommunikation und Erfahrungswissen gelöst wurden, als vielmehr durch die Einführung einer ›Datenbank‹, in der alle aktuell freien Schulplätze aufgeführt werden. Die Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ im Primarbereich in Flurstadt erfolgt somit in erster Linie nach den Kriterien der freien Schulplätze und der Wohnortnähe.   Wie ›Seiteneinsteiger‹ im Sekundarschulbereich an Schulen vermittelt werden, wird von Mitarbeiter:in Meyer erläutert, welche:r sich in einem weiteren Fachbereich befindet. Zur Veranschaulichung der Arbeit öffnet der:die Mitarbeiter:in während des Interviews ein Verwaltungsprogramm, in dem die bereits zuvor in der ›Seiteneinsteigerberatung‹ erstellten Erhebungsbögen abspeichert sind, und führt die einzelnen Schritte der Zuweisung beispielhaft aus. Nach einer allgemeinen Einführung zur Datenbank macht Meyer die Interviewerin auf einen »Fall« aufmerksam. Mit »Fall« ist hier der Erhebungsbogen eines ›Seiteneinsteigers‹ gemeint. Dieser kann in der Datenbank anzeigt werden. ME: den kann ich mir anklicken kann auf Dokumente gehen hinzufügen Erhebungsbogen und dann lasse ich mir den erstellen und früher habe ich eben genau diesen Erhebungsbogen einfach per Mail bekommen und jetzt erstelle ich ihn mir selber ich mache das mal ganz kurz weiter damit ich den schon mal habe @(.)@ sozusagen Arbeit während des Interviews den speichere ich mir in der Regel unter einem Ordner den ich selber nutzte nur ab wobei ich den Schulen wenn ich eine Schule gefunden habe diese Daten schon zukommen lasse und deswegen habe ich die in einem Ordner sodass ich da ganz schnell eine Mail schicken kann und das anhängen kann und hier sehen Sie ja auch schon dass Schmidt eben ne klar die Rohdaten ne? besonders nette Gegend ((zeigt auf die Adresse des Kindes auf dem Erhebungsbogen)) aber gut und hier steht eben schon ne? das sind weiß nicht Pi mal Daumen acht Jahre Gesamtschule ne und dann war der schon ab an einem Berufskolleg hat da dann irgendwann abgebrochen durchschnittliche bis gute Leistungen Englisch kann offensichtlich ein bisschen Deutsch ist lateinisch alphabetisiert klar wenn er Englisch hatte und soll an ein Berufskolleg weil das mit Jahrgang ’98 kaum anders geht ne? den Bogen drucke ich mir auch ein Mal aus damit ich den hier dann entsprechend in meine   JJ: Und dann gucken Sie einfach wenn wenn   ME:                                                                                      └Schulfächer   JJ:                                                                                                      └wenn Sie arbeiten gucken Sie einfach da rein   ME:               └genau  

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JJ:                        └was ist quasi   ME:                                                          └ich nehme mir was weiß ich am am Morgen meistens mache ich es so dass ich eben morgens einmal in die Datenbank gucke gibt es neue Fälle erstelle mir den Erhebungsbogen drucke mir die aus sortierte mir die in die verschiedenen Schulformen ein und gucke dann aber weil ich leider eigentlich immer hinterherhinke bei den älteren Fällen ne? mit welchem beginne ich jetzt? (Schulverwaltung, Flurstadt, Meyer, Z.118-147) Im Modus einer detaillierten Beschreibung elaboriert Mitarbeiter:in Meyer, wie ›Seiteneinsteiger‹ auf der Grundlage der Erhebungsbögen mithilfe eines Datenbankverwaltungsprogramms entsprechend des vorhandenen Schulplatzangebots auf unterschiedliche Schulformen und Schulen verteilt werden. Meyer erläutert sehr detailliert die einzelnen Arbeitsschritte, indem jeder Vorgang im Programm beschrieben und in seinem Sinn kommentiert wird. Nach der beispielhaften Erstellung eines Erhebungsbogens führt der:die Mitarbeiter:in aus, dass die Bögen nicht nur auf den Computer übertragen werden, sondern diese auch ausdruckt und im Weiteren – entsprechend der vermerkten Schulformempfehlung – in ein Ablagesystem eingeordnet werden, das sich neben dem Schreibtisch befindet.14 Meyer erläutert bezogen auf den Arbeitstag, an dem das Interview stattfindet, wie es dann weitergeht: So würden »die für die Realschule vorgesehenen Kinder« (Z.140) herausgenommen und die Schulen, der Fachbereich und die Erziehungsberechtigten informiert, dass die ›Seiteneinsteiger‹ zugewiesen würden (Z.144-147). Auffällig ist, dass auf die Frage der Vermittlung von neu migrierten Kindern und Jugendlichen auf das Sekundarschulsystem mit einer detaillierten Beschreibung eines Datenverarbeitungsprozesses geantwortet wird. Durch die ausführliche Beschreibung der einzelnen Arbeitsschritte wird scheinbar Transparenz hergestellt und das Vermittlungsverfahren als klar geregelter Verwaltungsakt präsentiert. Die zu vermittelnden Schüler:innen werden durch die Erhebungsbögen zu Fällen gemacht, mit denen auf eine bestimmte Art und Weise verfahren wird. Es entsteht in dieser Passage der Eindruck, als sei es für den Fachbereich kein Problem, die von Schmidt getroffenen Schulformentscheidungen umzusetzen.15 14

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Das Ablagesystem besteht aus verschiedenen Schubfächern, die mit unterschiedlichen Schulformen gekennzeichnet sind. Es gibt also jeweils einen Ablagestapel für Hauptschulen, Realschulen, Gesamtschulen und Gymnasien. Bei der Umsetzung der Schulformempfehlungen von Schmidt ist Meyer jedoch mit zwei Problemen konfrontiert. So führt Meyer im weiteren Verlauf des Interviews aus: Da die Hauptschulen in Flurstadt vermehrt geschlossen werden, würde es »zunehmend schwerer« (Z.280), Schulplätze an Hauptschulen zu vermitteln. Außerdem stellt Meyer einen Anstieg von Gesamtschulempfehlungen fest und vermutet, dass Schmidt »zurückhaltender ist sich da festzulegen« (Z.283-284). Dies führt für Meyer zu dem Problem, dass Schüler:innen mit Hauptschulempfehlungen und Schüler:innen mit Gesamtschulempfehlungen nicht ohne weiteres an die entsprechende Schulform vermittelt werden könnten. Die verfügbaren Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf vorhandene Ressourcen reichen also nicht aus, um das Problem der Verteilung zu lösen. Es müssen daher alternative Lösungen generiert werden und Meyer schlägt vor, eine spezifische Beschulungsvariante am Gymnasium zu etablieren, die vorsieht, dass ›Seiteneinsteiger‹ an Gymnasien auf Hauptschul-

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Im weiteren Verlauf des Interviews führt Meyer jedoch aus, dass die von Schmidt ausgesprochenen Schulformempfehlungen nicht immer die Grundlage für das Zuweisungsverfahren darstellen könnten. JJ: Ok ja ja und wenn Sie dann also sie kriegen dann von den Schulen immer rückgemeldet wie viele Möglichkeiten oder Plätze die haben und damit ist quasi die Bereitschaft   ME:                                                                                                                        └genau   JJ: verbunden von den Schulen auch aufzunehmen? also Sie müssen dann nicht sagen Sie müssen jetzt nehmen sondern das ist eher Sie haben ja einen Platz?   ME:                                                                                                                                                └wir haben wir haben neu ein eingerichtete Klassen (.) zum Schulhalbjahr eingerichtet und die konnte man im Prinzip sofort auffüllen diese Klassen waren dann aber in der Regel heterogen gemischt das heißt da gab es die unterschiedlichsten Empfehlungen innerhalb dieser Klasse einfach auch aus der Not heraus diesen Schülern überhaupt eine Beschulung zu ermöglichen und diese Klassen werden natürlich wenn Schüler aus welchen Gründen auch immer die Schule verlassen also meistens ist es so wenn sie abgeschoben werden oder von sich aus wieder andere Länder oder ihre Heimatländer aufsuchen dass die Klassen dann auch aufgefüllt werden (Schulverwaltung, Flurstadt, Meyer, Z.252-266) Meyer plausibilisiert hier mit dem Hinweis, dass lediglich so eine (zeitnahe) Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ erdenklich sei, warum im Schuljahr neu eingerichtete Klassen mit Schüler:innen unterschiedlichster Schulformempfehlungen besetzt würden. Deutlich wird an dieser Stelle, dass die Entscheidungsprämisse Schulformempfehlung nur so lange als Grundlage für das Zuweisungsverfahren herangezogen wird und handlungsleitend ist, wie dies organisatorisch möglich erscheint. Es deutet sich damit an, dass die Zuweisung in Flurstadt gleichzeitig schulformspezifisch wie auch schulformunspezifische erfolgt oder erfolgen kann.

niveau unterrichtet werden (Z.288-294). Inzwischen ist es in Flurstadt gängige Praxis, dass die Kopplung von Vorbereitungsklasse und Schulform für die Gymnasien aufgehoben ist, und genau diese spezifische Beschulungsvariante – von der hier gesprochen wird – beobachtet werden kann. Mit der Etablierung dieser separaten Beschulungspraxis wird dafür gesorgt, dass keine Schüler:innen in den regulären Gymnasialbetrieb gelangen, die für das Gymnasium – nach Entscheidung der ›Seiteneinsteigerberatung‹ – ›nicht geeignet‹ seien. Mit der Entkopplung soll also eine Passung zwischen Schüler:in und Schulform weiterhin sichergestellt werden. Und eine Passung wird dabei eher für Hauptschulen angenommen, als für Gymnasien. Da es im Weiteren ausschließlich um die Beschulung von neu migrierten Schüler:innen im Primarbereich geht, kann dieser Aspekt hier nicht weiter ausgeführt werden. Eine genauere Betrachtung dieser Praxis und die damit zusammenhängenden (diskriminierungsrelevanten) Dimensionen wurde u.a. in den im Rahmen des Forschungsprojektes »Flucht und Migration als Bezugspunkt kommunaler Bildungspolitik und Bildungspraxis« verfassten Artikeln Emmerich, Hormel und Jording (2016, 2017) sowie im Artikel Emmerich, Hormel, Jording und Massumi (2020) näher betrachtet.

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Der sich hier andeutende Pragmatismus im Zuweisungsverfahren wird auch hinsichtlich der Einrichtung neuer Vorbereitungsklassen deutlich. So hält Meyer darüber hinaus fest: ME: Genau es orientiert sich am Regelstundenplan wobei wir auch in der Not gesagt haben ok der Regelstundenplan sieht dreißig Stunden vor ihr könnt nur zwanzig geben aufgrund der personellen Situation na dann gebt die zwanzig das ist besser als wenn jetzt die zwanzig Schüler die jetzt zwanzig Stunden Deutsch oder Mathe Englisch kriegen gar nichts hätten also da ist man angesichts der steigenden Zahlen auch ein bisschen pragmatisch ne dass man sagt pfff geht halt einfach nicht anders (.) (Schulverwaltung, Flurstadt, Meyer, Z.561-567) Die Praxis, ›Seiteneinsteiger‹ auch an Schulen unterzubringen, die nur einen geringen Stundenumfang für die Beschulung dieser Schüler:innen zur Verfügung stellen können, wird mit dem Hinweis auf die »Not« legitimiert, in der sich der Fachbereich befunden hätten. Die Formulierung ›Not‹ bezieht sich an dieser Stelle vermutlich auf eine Ausführung im Vorlauf der Passage, in der Meyer festhält, dass es »die Not [gebe, J.J.] einfach vielen Schülern möglichst schnell auch die Möglichkeit zu geben an einem Regelunterricht teilzunehmen« (Z.505-506). Das durch den geringen Stundenumfang nur eingeschränkt verwirklichte Recht auf Bildung für ›Seiteneinsteiger‹ wird also paradoxerweise mit Problemen begründet, die aus dem Anspruch entstünden, ›Seiteneinsteiger‹ zeitnah im Regelunterricht zu beschulen. Dabei wird mit dem Ausspruch »geht halt einfach nicht anders« auf die Zwänge und die fehlenden Ressourcen verwiesen, die von dem Fachbereich nicht anders gelöst werden könnten. Als Lösung des Problems wird entsprechend die Kürzung von Unterrichtsstunden für ›Seiteneinsteiger‹ präsentiert. Der Fachbereich, der für die Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ an weiterführende Schulen zuständig ist, betreibt hier – so die Ausführungen – eine Notstandsverwaltung und greift dabei auf Lösungen zurück, die mit dem Hinweis auf fehlende Ressourcen wie auch auf den Sonderstatus der ›Seiteneinsteiger‹ legitimiert werden. So wäre die hier praktizierte schulformindifferente Zuweisungspraxis sowie die massive Kürzung von Unterrichtsstunden für ›Regelschüler‹ kaum denkbar. Am Ende des Verfahrens wird auf dem Erhebungsbogen der Namen der zugewiesenen Schule und das Datum der Zuweisung notiert. Die Akte ist damit vollständig und wird wegsortiert.   Mit der in Flurstadt bestehenden Aufteilung des kommunalen Distributionsmanagements neu migrierter Kinder und Jugendlicher auf drei verschiedene Fachbereiche der Schulverwaltung werden die in der ›Seiteneinsteigerberatung‹ getroffenen Entscheidungen als Entscheidungsprämissen für die konkrete Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ an Schulen in den weiteren beiden Fachbereichen (Primar- und Sekundarbereich) wirksam. Indem Mitarbeiter:innen der ›Seiteneinsteigerberatung‹ die von den anderen beiden Fachbereichen in Rechnung zu stellenden Ressourcenfragen nicht klären müssen, gewinnen diese Handlungsspielraum in der Entscheidung darüber, welche Schule oder Schulform als passend beurteilt wird. Unterdessen kann ebenfalls rekonstruiert werden, dass die für die Zuweisung zuständigen Fachbereiche nicht zwingend an die durch Mitarbeiter:innen der ›Seiteneinsteigerberatung‹ bereitgestellten Entscheidungen gebunden sind. Vielmehr wird an diese Entscheidungen nicht angeknüpft, wenn

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organisatorische oder ressourcenbezogene Gründen dagegen sprechen. Grundsätzlich ist das Zuweisungsverfahren in Flurstadt also daran orientiert, möglichst eine Passung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und Schule/Schulform herzustellen, da von einer Kopplung zwischen Vorbereitungsklasse und Schulform ausgegangen wird. Gleichzeitig zeigt sich aber, dass parallel zur schulformbezogenen Zuweisungspraxis auch eine schulformunspezifische Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ erfolgt, wenn dies aus organisatorischen Gründen für notwendig erachtet wird.

5.1.2

Verlagerung der Herstellung einer Passung zwischen Schulform und ›Seiteneinsteigern‹ in die Schulen

In Radstadt ist Becker in einer leitenden Position in organisatorischer Hinsicht für den gesamten Fach- und Aufgabenbereich ›Seiteneinsteiger‹ zuständig, Mitarbeiter:in Krause übernimmt die Beratung und Vermittlung neu migrierter Schüler:innen im Primarbereich und in der Sekundarstufe I und Mitarbeiter:in Möller führt die Beratung und Vermittlung von Kindern und Jugendlichen im Bereich der Sekundarstufe II durch.16 Anders als in Flurstadt erfolgt die ›Beratung‹ und Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ in Radstadt also innerhalb eines Fachbereichs.   Die Leitung des Fachbereichs erläutert im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme das grundsätzliche Zuweisungsprinzip von ›Seiteneinsteigern‹ in Radstadt: B: gucken wir eben nicht danach ist das ein Gymnasialkind weil wir sagen das können wir gar nicht leisten weil wenn die Kinder hier frisch ankommen kein Deutsch sprechen wer soll das wie überprüfen? sodass wir das den Schulen überlassen die könnendie Kinder können da ankommen erst mal Deutsch lernen und dann kann die Schule beurteilen ob das ein Gymnasialkind ist oder eben nicht und kann dann die Schulform wechseln später dann (Schulverwaltung, Radstadt, Becker, Z.166-171) Anstatt wie in Flurstadt in der ›Seiteneinsteigerberatung‹ eine niveaudifferenzierte Klassifizierung der ›Seiteneinsteiger‹ vorzunehmen, entlastet sich die Schulverwaltung in Radstadt von diesem Problem und weist die Schüler:innen schulformunspezifisch zu. Die Vorgehensweise, im Zuweisungsverfahren keine Leistungsdifferenzierung von neu migrierten Kindern und Jugendlichen durchzuführen, wird mit dem Hinweis begründet, dass eine solche Differenzierung von Schüler:innen, die nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügten, nicht möglich sei. Die Schulverwaltung verlagert mit diesem Vorgehen die Aufgabe, eine Passung zwischen den Bildungsvoraussetzungen der Schüler:innen und den potenziellen Sekundarschulformen herzustellen, in die Schulen. Legitimiert wird diese Praxis mit der konzeptionellen Idee, dass Vorbereitungsklassen ausschließlich zum Deutschlernen da seien und ›Seiteneinsteiger‹ beim Übergang in das Regelsystem, auf der Grundlage einer in den Schulen erfolgenden 16

Da der Fokus der Arbeit auf der Vermittlung von Primarschüler:innen liegt, wird im Weiteren ausschließlich auf die Interviews mit Becker und Krause eingegangen.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Leistungsdifferenzierung, die Schulform wechseln könnten. Das Distributionsmanagement in Radstadt, so macht die Leitung des Fachbereichs hier deutlich, beruht daher auf einer offenen, d.h. schulformunspezifischen Zuweisungspraxis. Dieser Ansatz wird im weiteren Verlauf des Interviews von Becker auf den Punkt gebracht: B: schulpflichtig sind alle und die bekommen alle denselben Schulplatz das Einzige wonach wir gucken ist spricht das Kind Deutsch oder nicht und wenn es nicht Deutsch spricht dann kommt es in irgendeine spezielle Klasse ja (Schulverwaltung, Radstadt, Becker, Z.249-251) Hier zeigt sich besonders deutlich, dass die Zuweisungspraxis in Radstadt auf einer kategorialen Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ beruht. So deutet die Verbalisierung, dass ›Seiteneinsteiger‹ zunächst in »irgendeine spezielle Klasse« eingeschult würden, – gemeinsam mit der Formulierung »alle denselben Schulplatz« – darauf hin, dass die zweijährige Erstförderung der ›Seiteneinsteiger‹ nicht niveaudifferenziert erfolgt und die Form der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ sich insofern deutlich von der Beschulungspraxis für ›Regelschüler‹ unterscheidet. Die Zuweisung durch den Fachbereich beruht also auf der Vorstellung einer parallelen Beschulungspraxis, in der die Vorbereitungsklassen vollständig vom Regelbetrieb der Schulen entkoppelt sind und von den Schulen lediglich verwaltet werden und entsprechend an die Zuweisung nicht zwangsläufig ein Übergang in die Regelstruktur der jeweiligen weiterführenden Schule angeschlossen wird. Legitimation erzielt das Zuweisungsverfahren in Radstadt also durch die offizielle Darstellung, dass keine Kopplung zwischen Vorbereitungsklasse und Schulform bestehe. Interessant ist, dass die Leitung antizipiert, dass die Praxis in den Schulen ggf. nicht dieser skizzierten konzeptionellen Idee entspricht und gleichwohl eine Kopplung zwischen Vorbereitungsklasse und Schulform besteht, indem ›Seiteneinsteiger‹ nach Beendigung der Erstförderung in den Regelbetrieb der Schule wechseln, der sie zunächst zugewiesen wurden. So führt die Leitung weiter aus, dass den Erziehungsberechtigten in der ›Beratung‹ auch mitgeteilt würde, dass in NRW an jeder Schulform »grundsätzlich alles möglich« sei, da Schüler:innen »immer weitergehen« könnten, d.h. auf höherqualifizierende Schulformen wechseln könnten. Entsprechend würde den Eltern vermittelt, »ist okay wenn dein Kind zu Hauptschule geht es kann auch da dann den Weg zum Abitur gehen« (Z.362-369). Indem das Sekundarschulsystem als ein vollständig durchlässiges Schulsystem beschrieben wird, in dem selbst an der niedrig qualifizierenden Schulform die Aussicht eines Schulformwechsels und damit die Gelegenheit bestünde, einen höchstqualifizierenden Schulabschlusses wie Abitur zu erreichen, wird die Bedeutung der schulformindifferenten Zuweisungspraxis für den weiteren Bildungsweg der ›Seiteneinsteiger‹ gänzlich relativiert – und damit die eigene wohnortbezogene Zuweisungspraxis legitimiert.   Nachdem zunächst die Darstellung des grundsätzlichen Zuweisungsprinzips von ›Seiteneinsteigern‹ in Radstadt durch die Leitung des Fachbereichs skizziert wurde, wird nun, anhand des Interviews mit Mitarbeiter:in Krause, welche:r die ›Seiteneinsteigerberatung‹ und Vermittlung für den Bereich Primar- und Sekundarstufe I durchführt, ein Blick auf die konkrete Praxis geworfen.

5 Verwaltung von ›Seiteneinsteigern‹

Als Antwort auf die beschreibungsgenerierende Interviewerinnenfrage zum Ablauf des Beratungsgesprächs, erläutert Krause das Verfahren: K: Diesen Bogen füllen die Familien schon mal aus im Beratungsraum bringen den mit hier hin (.) und wir beginnen dann in dem Gespräch nachdem wir uns vorgestellt haben (.) mit den Daten der Kinder und vor allen Dingen ist dann das ist ja eine sehr formale Sache dieser Bereich ist dann interessanter wie lange sind die schon zur Schule gegangen dass man darüber ins Gespräch kommt und auch eben welche Fremdsprachen die hatten und (.) welche Schwerpunkte sind sie alphabetisiert und so weiter (.) dann erklären wir den Familien anhand dieser Zuweisungstabelle (.) das sind die Grundschulkinder das sind die Sek eins Kinder das sind die Sek zwei Kinder […] dann sieht das so aus dass man guckt wo ist die Adresse (.) kann man an diese Karte gehen und sagen ah Sie wohnen da wir haben Schulen in dem Bereich und wir werden versuchen da einen Schulplatz zu finden (.) wir können das nie zusagen aber das ist so (.) zwischendurch immer Rückfragen ob die Familien (.) was wissen möchten das verstanden haben was wir erzählen wobei dieser Schulformbereich Sek eins der ist einfach so dass ist meine Erfahrung oft viel zu viel also entweder wissen die das schon oder (.) man kann das nicht in der Kürze sodass (.) zumal wir nicht sagen können welchen Platz sie genau bekommen (.) es ist eine reine Information das passiert anhand dieses Bogens (.) das ist das was wir erklären zum Gesundheitsamt das sind die Termine wo die Familien da hingehen können die bekommen einen Termin zur Schuleingangsuntersuchung wir sind hier und das ist da das ist ein kleines Stück Schulweg das ko- bekommen die auch mit die Zuweisungen funktionieren immer anhand der Schulgeber Schuljahrestabelle (.) hier (.)dann erkläre ich den Familien die Schokoticketgeschichte17 wie viel Kilometer müssen die wo wohnen was kostet ein Schokoticket zusätzlich pro Schulhalbjahr das passiert eigentlich so in diesem Gespräch hier (.) und dann natürlich das was die Familien wissen möchten (Schulverwaltung, Radstadt, Krause, Z.282-289 + 293-308) Im Modus einer detaillierten Beschreibung elaboriert Mitarbeiter:in Krause den Ablauf des Beratungsgesprächs und erläutert, wie die Angaben der neu migrierten Kinder und Jugendlichen auf einem Erhebungsbogen erfasst werden und welche Informationen den Familien bereitgestellt würden. Bei den aufzunehmenden Daten handelt es sich um Name, Vorname, Geburtsdatum, Geburtsort/-land, Geschlecht, Staatsangehörigkeit sowie Auskünfte zu den Erziehungsberechtigten oder Betreuer:innen/Vormündern. Darüber hinaus werden Einzelheiten zur bisherigen Bildungslaufbahn hinsichtlich der Anzahl der Schulbesuchsjahre und zu Sprachkenntnissen notiert.18 Die Datenerfassung wird als »sehr formale Sache« beschrieben. Mit dem Hinweis, dass der zweite Teil des Gesprächs »interessanter« sei, wird die Datenaufnahme von dem sich anschließenden

17

18

Das sogenannte »SchokoTicket« ist ein Abo basiertes Schüler:innenticket für den Regionalverkehr, welches für den Schulweg und für die Freizeit genutzt werden kann und dessen Kosten unter Umständen vom Schulträger übernommen werden. Zum Schutz der Anonymität von Radstadt kann der (der Autorin vorliegende) Beratungsbogen nicht abgedruckt werden.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Gespräch über die bisherige Schullaufbahn der ›Seiteneinsteiger‹ abgegrenzt. Wie genau das Gespräch über die bisherige Bildungsbiografie der Schüler:innen verläuft, in welcher Form die Informationen erfasst werden und welche Bedeutung diese Daten für den Zuweisungsprozess haben, wird nicht weiter ausgeführt; auch wenn Krause darauf verweist, dass weitere Informationen zu Schulbesuchszeiten, erlernten Fremdsprachen und zur Alphabetisierung erfasst werden. Auffällig ist, dass in dieser Passage zunächst keine Angaben zur Überprüfung von Zeugnissen gemacht werden und sich in dieser Hinsicht das Beratungsgespräch in Radstadt deutlich von dem Beratungsgespräch in Flurstadt unterscheidet. Nachdem die persönlichen Daten der ›Seiteneinsteiger‹ aufgenommen worden sind, werde, so Mitarbeiter:in Krause, den Familien auf einem Stadtplan gezeigt, in welchem Bereich in etwa eine Schule gesucht würde. Auffällig ist, dass zwar mehrfach festgehalten wird, dass auf Rückfragen der Erziehungsberechtigten eingegangen würde, gleichzeitig aber herausgestellt wird, dass Informationen zum Sekundarschulbereich in der Kürze des ›Beratungsgespräches‹ nicht vermittelbar seien. Was genau nicht zu erklären sei, wird nicht ausgeführt. Es könnte jedoch vermutet werden, dass sich die Aussage auf die niveaudifferenzierten Sekundarschulformen bezieht, die auf dem für alle sichtbar an der Wand hängenden Stadtplan von Radstadt als solche kenntlich gemacht sind. Die Tatsache, dass über das deutsche Schulsystem nicht aufgeklärten Erziehungsberechtigten nicht der Unterschied zwischen einer Hauptschule und einem Gymnasium erläutert wird, wird dabei mit dem Hinweis, dass ohnehin zum Zeitpunkt des Gesprächs nicht feststände, auf welche Schule und Schulform die Schüler:innen kämen, legitimiert (»zumal wir nicht sagen können welchen Platz sie genau bekommen (.) es ist eine reine Information«). Anhand eines Stadtplans von Radstadt sowie eines Informationsblattes werden den Familien abschließend noch weitere Informationen bereitgestellt, die sich zum einen auf die möglicherweise zu besuchenden Schulen, auf die Schuleingangsuntersuchung im Gesundheitsamt und die Konditionen des Schüler:innentickets (›Schokoticket‹) beziehen. Welche Entscheidungsprämisse bei der konkreten Zuweisung von neu migrierten Schüler:innen auf bestimmte Schulen zu tragen kommen, erläutert Mitarbeiter:in Krause: K: die Schulzuweisung erfolgt so dass wir schauen wo die Familien leben (.) ich bleibe jetzt mal hier stehen wir haben dort die große Radstadtkarte die ganzen gekringelten Felder das sind eben (.) die Schulen an die wir vermitteln zuweisen (.) die Schulen haben unterschiedliche viel- viele Klassen (.) Sie sehen das Stadtteil Radstadt I und Stadtteil Radstadt II ist sehr weit auseinander entfernt sodass wir immer gucken wo wohnen die Familien dass sie möglichst wohnortnah erst mal beschult werden auch wenn das noch nicht die richtige Schulform ist wenn deutlich ist dass das Kind mit Sicherheit ein gymnasiales Kind ist kann man das berücksichtigen aufgrund der Sprachkenntnisse und anderer Kriterien und so weisen wir an die Schulen zu (.) (Schulverwaltung, Radstadt, Krause, Z.67-75) Im Modus einer Beschreibung erläutert Krause, dass die Zuweisung in Radstadt sich an dem Wohnort der ›Seiteneinsteiger‹ ausrichte und begründet diese Praxis, indem anhand des an der Wand des Beratungsraumes hängenden Stadtplans auf die gro-

5 Verwaltung von ›Seiteneinsteigern‹

ße räumliche Distanz zwischen zwei weit voneinander entfernten Stadtteilen gedeutet wird. Durch die Formulierung »erst mal« und »noch nicht« wird – wie auch durch die Leitung des Fachbereichs bereits verdeutlicht wurde – darauf verwiesen, dass es zunächst nur darum gehe, wohnortnah einen Schulplatz zu Verfügung stellen zu können. Gleichzeitig wird an diese Ausführung jedoch direkt im Anschluss eine Einschränkung in Bezug auf die wohnortbezogene Zuweisungspraxis angeschlossen: Es wird deutlich, dass im Beratungsgespräch diejenigen ›Seiteneinsteiger‹, denen positive Leistungsprognosen zugesprochen werden, von den ›normalen Seiteneinsteigern‹ differenziert werden und diese intrakategoriale Leistungsdifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ im weiteren Zuweisungsprozess relevant wird. So werden ›Seiteneinsteiger mit positiver Leistungsprognose‹ gezielt auf höherqualifizierende Schulen zugewiesen, während alle anderen ›Seiteneinsteiger‹ wohnortnah an Schulen vermittelt werden. Die leistungsbezogene Differenzierungspraxis zeigt sich zusätzlich in einer weiteren Passage, in der der:die Mitarbeiter:in auf eine immanente Interviewerinnenfrage, inwiefern in der ›Seiteneinsteigerberatung‹ Zeugnisse überprüft und der schulische Kenntnisstand der Schüler:innen erfasst würde, erläutert: K:      └nein also wir wir schauen uns die Zeugnisse nicht an im Sek zwei Bereich schon da geht es ja darum ob die eine Anerkennung machen können für einen Schulabschluss den sie schon irgendwo erworben haben (.) im Ausland für uns ist das irrelevant für mich ist schon relevant (.) ob die Kinder eine gute Vorbildung haben in speziellen Fächern (.) um da nach einer entsprechenden Schulform zu gucken (.) aber in der Regel ist das so das die erst mal Schulform unabhängig Deutsch lernen (Schulverwaltung, Radstadt, Krause, Z.157-163) Nachdem zunächst betont wird, dass in der ›Beratung‹ im Primar- und Sek. I Bereich keine Zeugnisse betrachtet würden, verweist Mitarbeiter:in Krause dessen ungeachtet im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme darauf, dass die Information über gute schulische Leistungsstände in bestimmten Fächern dennoch ausschlaggebend für die Wahl einer »entsprechenden« Schulform sei. Die Formulierung »gute Vorbildung« und der Hinweis, dass es »in der Regel« nicht so verlaufe, deutet – wie bereits in der vorherigen Passage – darauf hin, dass der schulische ›Leistungsstand‹ nur dann für die Vermittlungspraxis relevant gemacht wird, wenn es sich um besonders gute Leistungen handele. Die ›entsprechende Schulform‹ würde in diesem Falle dann eine höherqualifizierende Schulform sein, die gezielt von Mitarbeiter:in Krause ausgewählt würde. Wie im ›Beratungsgespräch‹ festgestellt wird, ob ein ›Seiteneinsteiger‹ »mit Sicherheit ein gymnasiales Kind ist« (Z.74) oder eine »gute Vorbildung« (Z.164) habe, d.h. wie die leistungsbezogene Kategorisierung der neu migrierten Schüler:innen erfolgt, wird an keiner Stelle des Interviews weiter ausgeführt. Indem ›Seiteneinsteiger mit positiver Leistungsprognose‹ aus dem wohnortbezogenen Zuweisungsverfahren ausgenommen werden, welches eine zufällige Zuweisung der Schüler:innen auf das niveaudifferenzierte Sekundarschulsystem erzeugt, wird deutlich, dass Mitarbeiter:in Krause, ebenso wie die Leitung des Fachbereichs, antizipiert, dass eigentlich offen ist, ob eine Kopplung zwischen Vorbereitungsklasse und Schulform bestehe, oder nicht. Es scheint also Unklarheit darüber zu herrschen, ob ›Seiteneinsteiger‹ erstens in den unterschiedlichen Sekundarschulformen auf verschiedenen Leistungsniveaus unterrichtet werden,

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

und ob ›Seiteneinsteiger‹ zweitens langfristig in den Regelbetrieb der ihnen zu Beginn zugeteilten Schulen übergehen. Es deutet sich in beiden Interviews der Verwaltung also eine Ambivalenz an: Einerseits wird das praktizierte wohnortbezogene Zuweisungsverfahren mit dem Hinweis legitimiert, dass die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ in Vorbereitungsklassen schulformindifferent erfolge und ein Wechsel der Schulform nach Beendigung der Erstförderung möglich sei. Andererseits werden jedoch gleichzeitig ›Seiteneinsteiger mit positiven Leistungsprognosen‹ aus diesem Vorgang ausgenommen – was wiederum auf eine Mutmaßung der Mitarbeitenden verweist, dass doch eine Kopplung zwischen Vorbereitungsklasse und Schulform besteht oder bestehen könnte. Was genau das Motiv für das praktizierte Verfahren ist, kann anhand der Interviews nicht abschließend geklärt werden. Es kann jedoch vermutet werden, dass die Mitarbeitenden der Verwaltung entweder antizipieren, dass (a) an Gymnasien eine Kopplung zwischen Vorbereitungsklasse und Schulform vorliegt und Vorbereitungsklassen an diesen Schulformen ›Seiteneinsteiger‹ auf einem ›höheren Niveau‹ unterrichten, und/oder (b) davon ausgegangen wird, dass die ›Seiteneinsteiger‹ nach Beendigung der zweijährigen Erstförderung an den ihnen einmal zugewiesenen Schulen verbleiben, entsprechend also eine passgenaue Zuweisung wichtig sei. Deutlich wird in jedem Fall – wie auch bereits von der Leitung des Fachbereichs angedeutet – dass in der Schulverwaltung kein konkretes Wissen darüber vorliegt, ob eine Kopplung besteht. In Reaktion auf eine Interviewerinnenfrage, ob ›Seiteneinsteiger‹ nach Jahrgängen getrennt den Vorbereitungsklassen zugewiesen würden, erläutert Mitarbeiter:in Krause welche weiteren Kriterien bei der Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ in Vorbereitungsklassen eine Rolle spielen: K:   └wir versuchen wenn wir die Klassen neu zusammenstellen das (.) zu schaffen fünf bis sieben oder acht bis zehn zuzuweisen dadurch dass da aber so viel Umschwung drin ist können wir das nicht mehr verfolgen hinterher sodass da auf einmal eine ziemliche Breite entsteht (.) wenn die Schule nicht die Klasse zwei Jahr zusammen lässt (.) das kann passiert in Einzelfällen das fünfzehn Kinder als Stamm da sind die machen auch die zwei Jahre (.) aber der Regelfall ist das da ein ziemlicher Wechsel natürlich auch ist (.) weil Kinder in Regelklassen wechseln oder umziehen oder zurückgehen oder oder   JJ: Und dann melden die das sie einen Platz frei haben und dann weisen Sie quasi zu und   K:                                                                                                                                                                           └genau ja ja und dann geht das wieder neu ja (.) und dann beachten wir diese Altersspannen nicht mehr das kriegen wir gar nicht organisiert (.) und es gibt natürlich auch so wie (.) zum Beispiel hier unten da in Stadtteil Radstadt das liegt so am Ende (.) da kann es sein da ist eine Übergangseinrichtung und da kann es sein dass die uns eine Liste schicken mit zwanzig Namen wovon fünfzehn Sek eins Kinder sind (.) die aber von Klasse fünf bis zehn zugewiesen werden müssen und wenn wir dann gerade eine freie Klasse neun bekommen dann gehen die alle dorthin (.) das ist dann so (.) und das ist für die Lehrer sicher eine schwierige Situation (.) die wir im Moment aber aufgrund

5 Verwaltung von ›Seiteneinsteigern‹

von der hohen Anmeldezahlen so handhaben das wissen auch die Schulleitungen und ja (Schulverwaltung, Radstadt, Krause, Z.406-424) Im Modus einer Beschreibung erläutert Mitarbeiter:in Krause, dass das Alter der ›Seiteneinsteiger‹ zwar ein Kriterium in der Zuweisungspraxis darstellt, dieses von der Schulverwaltung aber nur dann (begrenzt) in Rechnung gestellt wird, wenn es sich organisatorisch anbietet. So werde bei neu eingerichteten Klassen versucht, maximal drei Jahrgänge zusammenzufassen. Sobald einzelne Plätze in Vorbereitungsklassen frei würden oder viele Kinder gleichzeitig untergebracht werden müssten, stellt das Alter oder der Jahrgang der ›Seiteneinsteiger‹ kein Zuweisungskriterium mehr dar. Es wird deutlich, dass nicht nur im Hinblick auf das Zuweisungsverfahren auf die niveaudifferenzierten Sekundarschulformen, sondern auch bezüglich der Zusammensetzung der Vorbereitungsklassen weniger pädagogische Grundsätze oder schulorganisatorische Prinzipien, als vielmehr pragmatische Überlegungen eine Rolle spielen, durch die eine zeitnahe Beschulung aller neu migrierten Schüler:innen ermöglicht werden soll.   In Radstadt ist das gesamte kommunale Distributionsmanagement in einem Fachbereich angesiedelt und die ›Beratung‹ wie ebenfalls die Zuweisung der ›Seiteneinsteiger‹ erfolgt in Personalunion. Das Verfahren in Radstadt beruht dabei nicht – wie in Flurstadt – auf dem Versuch, eine Passung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und Schulform herzustellen. Vielmehr werden neu migrierte Kinder und Jugendliche hier in erster Linie nach dem Prinzip der Wohnortnähe auf Schulen zugewiesen. Legitimiert wird dieses Verfahren mit dem Hinweis, dass keine Kopplung zwischen Schulform und Vorbereitungsklasse bestehe. Das Problem der Herstellung einer Passung, welches sich in Flurstadt stellt, wird damit in Radstadt in die Schulen verlagert, die nach Ende der zweijährigen Erstförderung eine Niveaudifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ vornehmen könnten. Herausgearbeitet werden konnte aber auch, dass bei den Mitarbeiter:innen der Schulverwaltung scheinbar eine Unsicherheit darüber herrscht, ob tatsächlich keine Kopplung von Vorbereitungsklasse und Schulform vorliege, und Kinder und Jugendliche, die als ›Seiteneinsteiger mit positiven Leistungsprognosen‹ beobachtet werden, daher vorsorglich von diesem Verfahren ausgenommen und gezielt einer höherqualifizierenden Schule zugewiesen werden. Möglich ist die Umgehung des offiziellen Verfahrens in diesen Fällen in Radstadt auch dadurch, dass die ›Beratung‹ und die Vermittlung von ›Seiteneinsteigern‹ von derselben Person durchgeführt wird.

5.1.3

Etablierung komplexer Entscheidungsprozesse

In beiden Städten können Verfahren beobachtet werden, die durch das Problem, neu migrierte Schüler:innen auf das niveaudifferenzierte Schulsystem zu verteilen, vorstrukturiert sind. Zur Lösung dieses Problems werden komplizierte Entscheidungsprozesse entwickelt, die sich dennoch als kontrollierte und legitime Verfahren ausweisen müssen. Im fallexternen Vergleich des Distributionsmanagements in Flurstadt und Radstadt fallen zunächst deutliche Unterschiede in der Interpretation der Funktion von Vorbereitungsklassen für ›Seiteneinsteiger‹ auf. So zielt die Zuweisungspraxis

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in Flurstadt darauf ab, eine Passung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und Schulform herzustellen, da von einer Kopplung von Vorbereitungsklasse und Schulform ausgegangen wird. Demgegenüber wird die schulformindifferente, auf den Wohnort der Schüler:innen bezogene, Zuweisungspraxis in Radstadt mit dem Hinweis legitimiert, dass keine Kopplung zwischen Schulform und Vorbereitungsklasse bestehe. Gleichzeitig deutet sich jedoch auch an, dass es in der konkreten Zuweisungspraxis in beiden Städten zu Abweichungen vom offiziellen Zuweisungsprinzip kommt. In Radstadt wird antizipiert, dass sich die Praxis in den Schulen – entgegen der offiziellen Legitimationsgrundlage – anders darstellt und vermutlich doch eine Kopplung zwischen Schulform und Vorbereitungsklasse bestehe. Aus diesem Grund scheinen ›Seiteneinsteiger mit positiven Leistungsprognosen‹ vorsorglich von der wohnortbezogenen Zuweisungspraxis ausgenommen und gezielt höherqualifizierenden Schulen zugewiesen zu werden. Und auch für Flurstadt konnte herausgearbeitet werden, dass trotz der Annahme eines dauerhaften Verbleibs der ›Seiteneinsteiger‹ an der ihnen zugewiesenen Schule, in der konkreten Zuweisungspraxis im Fachbereich, der für die Sekundarschüler:innen zuständig ist, das Prinzip der leistungsdifferenzierten Zuweisungspraxis nur so lange aufrechterhalten wird, wie dies als organisatorisch machbar beurteilt wird. So berichtet der:die Mitarbeiter:in des Fachbereichs bspw. davon, die Schulformdifferenzierungen zu übergehen, wenn es um die Einrichtung neuer Schulklassen im Laufe eines Schuljahres geht. In beiden Schulverwaltungen kommt es also zu Unterbrechungen der offiziellen Zuweisungspraxen. Sei es, dass von einer schulformdifferenten Zuweisung aufgrund von fehlenden Schulplätzen an bestimmten Schulformen abgewichen wird; oder sei es, dass bestimmte, als leistungsstark beobachtete ›Seiteneinsteiger‹ von einer wohnortbezogenen Zuweisungspraxis ausgenommen werden. Es kommt also in beiden Verwaltungen zu Abweichungen von den offiziellen Darstellungen, aus denen die Verfahren ihre Legitimation ziehen. Flurstadt kann trotz der von der Legitimationsgrundlage abweichenden Zuweisungspraxis jedoch offiziell an der Idee einer Kopplung festhalten, da die Schulformentscheidungen und die Umsetzung der Entscheidungen in unterschiedlichen Fachbereich erfolgen. In der ›Seiteneinsteigerberatung‹ wird also beharrlich – und unabhängig von ggf. vorhandenen Ressourcenproblemen – versucht, eine Passung zwischen Schüler:in und Schulform herzustellen – selbst wenn an die dort getroffenen Entscheidungen in der Zuweisungspraxis im anderen Fachbereich nicht angeknüpft wird. Radstadt hingegen weicht nach offiziellen Angaben gar nicht von dem Verfahren ab, was hier möglich ist, da die Schulformentscheidungen und die Schulzuweisungen in der Hand einer Person im Fachbereich liegen, welche autonom und nach eigenem Ermessen handeln kann.   Deutlich wird bei einem genaueren Blick, dass in beiden Schulverwaltungen schulische Ressourcenprobleme durchschlagen, die das Vermittlungsverfahren und die Vermittlungspraxis prägen. Zur Lösung dieser Probleme wird auf organisatorische und nicht pädagogische Lösungen rekurriert, wie bspw. die in beiden Städten erwähnte jahrgangsgemischte Zuweisung zufällig ausgewählter ›Seiteneinsteiger‹ in eine neu eingerichtete Vorbereitungsklasse. Trotz des auf den ersten Blick stark voneinander divergierenden Distributionsmanagements kann herausgearbeitet werden, dass die Praxis in beiden Schulverwaltungen auf einer kategorialen Differenzierung zwischen ›Seiten-

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einsteigern‹ und ›Regelschülern‹ beruht. So wird die schulressourcenorientierte Zuweisungspraxis, die in beiden Städten als eine Art ›Notstandsverwaltung‹ gerahmt wird, als vertretbares Vorgehen innerhalb der Schulverwaltung anerkannt – obwohl eine solche Maßnahme gänzlich von den etablierten Verfahren für ›Regelschüler‹ abweicht. Auch die Praxis in Flurstadt, innerhalb der sehr kurzen Zeitspanne im ›Beratungsgespräch‹ eine Leistungsdifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ vorzunehmen, wäre für ›Regelschüler‹ undenkbar. Gleiches gilt – auch wenn es sich hierbei um eine informelle Praxis zu handeln scheint – für die Selektion von als besonders leistungsstark beobachteten ›Seiteneinsteigern‹ im ›Beratungsgespräch‹ in Radstadt. Um den Anspruch, unter Zeitdruck Entscheidungen hinsichtlich der vermeintlichen schulischen Kenntnisstände und Fähigkeiten der ›Seiteneinsteiger‹ zu treffen, zu erfüllen, greifen die Mitarbeiter:innen in beiden Verwaltungen nicht nur auf bildungsbiografische Daten und Angaben der Schüler:innen zurück, sondern nehmen darüber hinaus auch eine Einschätzung des sozialen und familiären Umfeldes der ›Seiteneinsteiger‹ vor. Deutlich wird also, dass es hinsichtlich der Leistungsdifferenzierung von ›Seiteneinsteigern‹ in beiden Städten zu einem ›Matching interner und externer Kategorien‹ (vgl. Tilly 1999), d.h. der internen Kategorie ›Seiteneinsteiger‹ mit der externen Kategorie ›sozialer Hintergrund‹, kommt. Durch dieses Matching werden ungleichheitsrelevante Kategorien – an die in der Gesellschaft bereits eine Vielzahl vermeintlichen ›Wissens‹ geknüpft ist – in die Organisation hineingetragen und stabilisiert. Der Rückgriff auf die externe Klassifikation scheint insofern funktional zu sein, als mit dem Matching das organisationinterne Entscheidungsproblem gelöst werden kann, in einer kurzen Zeitspanne eine Passung zwischen Schüler:innen und Schulform herstellen zu müssen.   Schließlich kann festgehalten werden, dass in beiden Schulverwaltungen innerhalb der ›Seiteneinsteigerberatung‹ bildungsbiografisch schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden – auch wenn die konkreten Folgen der Zuweisungspraxis nicht abschließend beurteilbar sind, da kein Wissen darüber vorliegt, inwiefern in der Praxis eine Kopplung zwischen Vorbereitungsklasse und Schulform besteht.

5.2

Der Übergang in die Regelklasse

Alle als ›Seiteneinsteiger‹ in die Schulen in Flurstadt und Radstadt eingeschulten Schüler:innen sollen spätestens nach Beendigung der zweijährigen ›Seiteneinsteiger‹Förderung in das Regelsystem übergehen. Während der Wechsel für Schüler:innen im Primarschulbereich insofern unproblematisch erscheint als die Schüler:innen zumindest an der gleichen Schulform verbleiben19 , lässt sich im Hinblick auf den 19

In Flurstadt werden ›Seiteneinsteiger‹ im Primarschulbereich nur an Schulen vermittelt, die auch Plätze in den altersentsprechenden Regelklassen zur Verfügung stehen haben (Schulverwaltung, Flurstadt, Weber, Z.62-91). Der Übergang in das Regelsystem dürfte hier also keine Ressourcenprobleme an den jeweiligen Schulen erzeugen und unproblematisch verlaufen. In Radstadt werden ›Seiteneinsteiger‹ hingegen auch mit dem Bus von den nördlichen Stadtteilen in südlich gelegene Stadtteile gefahren. Diese Praxis ist darauf ausgelegt, dass ›Seiteneinsteiger‹ beim Übergang in das Regelsystem nicht zwingend an der Primarschule verbleiben, sondern ggf. beim Übergang in

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Übergang von Sekundarschüler:innen fragen, inwiefern dieser auch mit einem Wechsel der Schulform verbunden ist. Interessant ist diese Frage insbesondere vor dem Hintergrund der bereits zuvor erarbeiteten Erkenntnisse, dass in Flurstadt von einer Kopplung von Vorbereitungsklasse und Schulform ausgegangen wird, während das Distributionsmanagement in Radstadt auf der Annahme beruht, dass keine Kopplung bestehe.

5.2.1

Annahme einer dauerhaften Kopplung von Schulform  und Vorbereitungsklasse

In Flurstadt beruht das kommunale Distributionsmanagement grundsätzlich (abgesehen von den in Kap. 5.1 benannten Ausnahmen) auf der Annahme einer Kopplung von Vorbereitungsklasse und Schulform und es wird entsprechend von einer dauerhaften Eingliederung der ›Seiteneinsteiger‹ in die ihnen einmal zugewiesenen Schulen ausgegangen. Die Schulverwaltung entwirft den Wechsel von ›Seiteneinsteigern‹ von der Vorbereitungsklasse in die Regelklasse entsprechend als einen internen schulischen Prozess, der keine Unterstützung durch die Schulverwaltung benötige. Während die Mitarbeitenden Meyer und Weber den Übergang in die Regelklasse thematisch nicht erwähnen, weist die:der Mitarbeiter:in der ›Seiteneinsteigerberatung‹ lediglich in Bezug auf die Frage, was über die schulische Zukunft der ›Seiteneinsteiger‹ bekannt sei, auf Folgendes hin: S: bei manchen kriege ich was mit von der Entwicklung ein bisschen weil die dann nach einem Jahr noch mal kommen weil ein Schulwechsel ansteht oder sonst irgendwas in der Regel ist die Sache für mich aber nach dem Beratungsgespräch gelaufen (Schulverwaltung, Flurstadt, Schmidt, Z.826-829) Es wird deutlich, dass es nach Besuch der Vorbereitungsklassen zu Schulformwechseln kommen kann, auch wenn dies für Mitarbeiter:in Schmidt scheinbar nicht die Regel darstellt. Inwiefern Schulen sich intern – ohne die Einbindung der Schulverwaltung – um einen Schulformwechsel bemühen, kann damit gleichwohl nicht geklärt werden.   Interessanterweise wird in Flurstadt im Hinblick auf den Verbleib der ›Seiteneinsteiger‹ im Regelsystem kein Bezug auf diejenigen ›Seiteneinsteiger‹ genommen, welche nicht schulformdifferenziert, sondern ausschließlich in Abhängigkeit von vorhandenen Ressourcen an eine Schule vermittelt werden (s. Kap. 5.1). Aufgrund der – der Vermittlungspraxis inhärenten – Legitimationsgrundlage, dass eine Kopplung zwischen Schulform und Vorbereitungsklasse bestehe, müssten diese Schüler:innen – davon wäre auszugehen – neu vermittelt werden. Indem hierfür jedoch strukturell keine Zuständigkeit

die Regelklasse auf eine wohnortnahe Schule im nördlichen Stadtgebiet wechseln (Schulverwaltung, Radstadt, Krause, Z.229-237). Wie dies genau abläuft wird jedoch nicht weiter ausgeführt. Grund hierfür könnte sein, dass der Bustransfer zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht lange Bestand hatte und insofern bisher erst wenig Erfahrung mit dieser Praxis gesammelt wurde.

5 Verwaltung von ›Seiteneinsteigern‹

(in Form von bspw. einer zuständigen Instanz oder einer klaren Zuständigkeitszuweisung) etabliert ist, scheint ein Schulformwechsel – ebenso wie bei allen anderen ›Seiteneinsteigern‹ – wenig wahrscheinlich zu sein. Entsprechend kann angenommen werden, dass die einmal vorgenommene Zuweisung i.d.R. auf Dauer Bestand hat. Damit wird auch deutlich, wie potenziell bildungsbiografisch folgenreich das in Kapitel 5.1 rekonstruierte Distributionsmanagement ist.

5.2.2

Unterlaufen der kommunalen Zuweisungspraxis durch dauerhafte Kopplung von Schulform und Vorbereitungsklasse

Anders als in Flurstadt stellt sich die Situation in Radstadt dar. Hier wird die praktizierte wohnortbezogene Zuweisungspraxis damit legitimiert, dass keine Kopplung zwischen Schulform und Vorbereitungsklasse bestehe, also nach der Beendigung der Erstförderung in der Vorbereitungsklasse eine leistungsdifferenzierte Neuzuweisung der Schüler:innen erfolge. Entsprechend der sich an diese Legitimationsgrundlage anschließenden Annahme, dass nach der zweijährigen Erstförderung ein Schulformwechsel wahrscheinlich sei, entwirft die Schulverwaltung in Radstadt die Organisation des Übergangs von ›Seiteneinsteigern‹ in das Regelsystem als einen eigenständigen Aufgabenbereich der Schulverwaltung. Die:der Mitarbeiter:in der Schulverwaltung erläutert zunächst, dass in Radstadt unterschiedliche Modelle für den Übergang von der Vorbereitungsklasse in die Regelklasse bestünden. So gebe es Schulen, in denen ›Seiteneinsteiger‹ sukzessiv in den Regelunterricht eingebunden würden und auch schon vor Beendigung der zweijährigen Erstförderung vollständig in das Regelsystem übergehen könnten. Wie diese Praxis des langsamen Übergangs in das Regelsystem der zugewiesenen Schule mit der, der Zuweisungspraxis der Verwaltung zugrunde liegenden Annahme, dass keine Kopplung von Vorbereitungsklasse und Schulform vorliege, in Einklang gebracht werden kann, wird an dieser Stelle nicht von der:dem Mitarbeiter:in thematisiert oder problematisiert. Die Ausführungen deuten jedoch bereits darauf hin, dass in der Schulpraxis doch eine Kopplung besteht. Mitarbeiter:in Krause führt weiter aus, dass die ›Seiteneinsteiger‹ an anderen Schulen volle zwei Jahre in der Vorbereitungsklasse blieben, bevor ein Wechsel in eine Regelklasse anstehe. Die Entscheidung, ob beim Übergang in das Regelsystem dann ein Schulwechsel notwendig sei, würde jeweils von den Klassenlehrer:innen getroffen werden (Z.347-353). Auf die Interviewerinnenfrage, inwiefern die Schulverwaltung in das Verfahren eingebunden sei, führt Krause aus: K: Nein wir de- die Entscheidung haben die Klassenlehrer wir vermitteln nur dann an die neuen Schulformen also wir machen eine Abfrage an alle Schulen bekommen die Daten zurück (.) zu welcher Schulform das Kind empfohlen wird und empfehlen es dann weiter   JJ: Und wenn das Kind aber an der gleichen Schule bleibt dann dann haben Sie da nicht   K:     └dann haben wir gar nichts damit zu tun nein

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme   JJ:                                                                                                          └dann dann organisiert das die Schule   K:       └das ist ist für ist der beste Fall also für die Kinder und für uns natürlich auch ne? und insofern wäre natürlich ganz gut wenn man schon vorher die richtige Richtung in der Schulform hat (.) damit die Kinder (.) nicht die Schule wechseln müssen (.) alle- in Radstadt ist es allerdings so wir haben in Stadtteil Radstadt eine Hauptschule und eine Gesamtschule mit jeweils drei und vier Klassen (.) wenn die Kinder dann hier wohnen und da oben Stadtteil Radstadt- in Gesamtschulen Plätze frei sind dann macht das eben auch keinen Sinn also wir können das nicht eins zu eins umsetzen aber hätten wahrscheinlich eine effektivere Zuweisungspraxis (Schulverwaltung, Radstadt, Krause, Z.382-397)

Wenn mit dem Übergang in das Regelsystem ein Schulformwechsel verbunden ist, vermitteln die Mitarbeiter:innen der Schulverwaltung die ›Seiteneinsteiger‹ entsprechend der von den Klassenlehrer:innen empfohlenen Schulformen an andere Schulen. Der Hinweis »machen eine Abfrage« deutet dabei darauf hin, dass es ein fest etabliertes Verfahren gibt, bei dem die Schulen regelmäßig danach gefragt werden, ob ›Seiteneinsteiger‹ für einen Wechsel anstehen. Auffällig ist, dass Krause im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme daraufhin jedoch elaboriert, dass es für alle beteiligten Akteur:innen besser wäre, wenn die Schüler:innen auf der ihnen zu Beginn zugewiesenen Schule verbleiben könnten. Interessant ist außerdem, dass an dieser Stelle nun deutlich wird, dass Krause scheinbar nicht daran zweifelt, dass eine Leistungsdifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ vor der Zuweisung auf eine Schule vorgenommen werden könnte. Mit dem Hinweis auf die Größe der Stadt und die unterschiedlichen schulischen Platzangebote für ›Seiteneinsteiger‹ begründet Krause jedoch, warum eine gezieltere, d.h. schulformspezifische Zuweisungspraxis, in Radstadt dennoch nicht möglich sei. Die Formulierung »wir können das nicht eins zu eins umsetzen« könnte hier – ebenso wie bereits zuvor rekonstruiert wurde (Kap. 5.1) – darauf verweisen, dass nicht alle ›Seiteneinsteiger‹ ausschließlich nach dem Kriterium der Wohnortnähe an Schulen untergebracht werden, sondern bestimmte ›Seiteneinsteiger‹ von dieser Praxis ausgenommen werden. Mitarbeiter:in Krause führt die hier angerissenen Aspekte im weiteren Verlauf des Interviews nicht weiter aus. Es kann die Vermutung aufgestellt werden, dass dies darin begründet liegt, dass hier die Widersprüchlichkeit des Distributionsverfahrens besonders deutlich wird, wodurch die offizielle Legitimationsgrundlage infrage gestellt wird. Besonders aufschlussreich ist in Radstadt außerdem ein Aspekt, der von der Abteilungsleitung als Antwort auf die Frage der Interviewerin nach den Erfahrungen bezüglich des Übergangs von ›Seiteneinsteigern‹ in die Regelklasse elaboriert wird: B: Das ist tatsächlich ein bisschen schwierig weil es einfach wenig Plätze gibt in den Regelklassen zumindest ist das in Radstadt so dass die Regelklassen auch schon ziemlich voll sind und dann eben es schwer wird Kinder aufzunehmen von einer anderen Schule oder auch Schulform sodass die Prämisse dieses Jahr war das hat die Schulaufsicht ausgerufen die Bezirksregierung XYZ dass möglichst alle Kinder da verbleiben

5 Verwaltung von ›Seiteneinsteigern‹

sollen wo sie auch sind und da in die Regelklasse wechseln sollen das widerspricht natürlich so ein bisschen diesem Wohnortnäheprinzip ansonsten ist es tatsächlich ein munteres Auf- und Abgewechsel also die die wechseln sowohl von Gymnasium Richtung Hauptschule als auch von Hauptschule zu Gymnasium da gibt es keinen Trend das ist tatsächlich n- sehr durchmischt Gesamtschule ist heiß begehrt na klar das ist eben das System was für alle alles möglich macht aber da gibt es auch die wenigsten Plätze insofern ist da die Chance auch am geringsten aber ich glaub es gibt keine Tendenz dass man sagen kann die Abschulungen sind mehr als die Aufschulungen wenn man das so sagen kann (Schulverwaltung, Radstadt, Becker, Z.372-384) Die Leitung weist in dieser Passage darauf hin, dass es in Radstadt nicht nur ein Ressourcenproblem in Bezug auf Kapazitäten in Vorbereitungsklassen, sondern auch im Hinblick auf Plätze in Regelklassen gebe (»auch schon ziemlich voll«). Da in den Regelklassen nur wenig freie Plätze zur Verfügung stehen, erzeugt ein Schulwechsel von ›Seiteneinsteigern‹ beim Übergang in das Regelsystem für die Schulverwaltung ein Vermittlungsproblem. Das Einschalten der höherrangigen Schulaufsicht/Bezirksregierung deutet dabei darauf hin, dass die Ressourcenprobleme, die sich bei einem Schulformwechsel im Übergang in das Regelsystem zeigen, auch in anderen Städten anfallen. Die zuständige Bezirksregierung habe daher, so Becker, dazu aufgerufen, keine Schulwechsel beim Übergang vorzunehmen, sondern alle ›Seiteneinsteiger‹ an den ihnen zu Beginn zugewiesenen Schulen einzugliedern. Dies widerspräche, so hält Becker fest, »ein bisschen diesem Wohnortnäheprinzip«. Obwohl mit der Umsetzung der Vorgabe der Bezirksregierung die Legitimationsgrundlage des Vermittlungsprinzips in Radstadt, dass keine Kopplung von Vorbereitungsklasse und Schulform bestünde, vollständig unterlaufen wird, wird dieser Aspekt von der Leitung nicht weiter ausgeführt. Dies ist insofern bemerkenswert, als die als vorübergehend markierte wohnortbezogene Vermittlung von ›Seiteneinsteigern‹ auf das Sekundarschulsystem mit der Umsetzung der Vorgabe der Bezirksregierung zu einer faktischen Zuweisung der Schüler:innen auf eine Sekundarschulform wird. Ohne auf die Implikationen der Vorgaben der Bezirksregierung weiter einzugehen, erläutert die Leitung stattdessen, dass sich kein Trend ausmachen lasse, ob mehr ›Seiteneinsteiger‹ beim Wechsel in das Regelsystem ›aufgeschult‹ oder ›abgeschult‹ würden. Da im weiteren Verlauf des Interviews jedoch ergänzt wird, dass nicht systematisch nachverfolgt werde, wo die einmal zugewiesenen ›Seiteneinsteiger‹ verbleiben, und dies auch bei Schulformwechslern nicht nachgehalten würde (Z.615-625), liegt die Vermutung nahe, dass der Verweis auf die (vermeintliche) Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems zur Relativierung der bildungsbiografischen Bedeutung einer potenziellen ›Fehlzuweisung‹ von ›Seiteneinsteigern‹ dient. Das Sekundarschulsystem als ein vollständig durchlässiges Schulsystem zu beschreiben, wurde bereits im Hinblick auf die von der Leitung ausgedrückte Skepsis, ob an den Schulen tatsächlich keine Kopplung zwischen Schulform und Vorbereitungsklasse vorliege, als Legitimation bemüht (s. Kap. 5.1). Indem auch an dieser Stelle auf die Durchlässigkeit verwiesen wird, werden alle Entscheidungen hinsichtlich der Relevanz der Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ auf niveaudifferenzierte weiterführende Schulen re-

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

lativiert, wodurch sich die Verwaltung von den potenziellen Konsequenzen entlasten kann.   Die Ausführungen der Mitarbeiter:innen der Schulverwaltung in Radstadt legen die Vermutung nahe, dass die Annahme, dass keine Kopplung von Schulform und Vorbereitungsklasse bestehe, in der Schulpraxis regelmäßig dadurch unterlaufen wird, dass ›Seiteneinsteiger‹ doch an den ihnen einmal zugewiesenen Schulen verbleiben. Verstärkt wird dieser Prozess dabei vermutlich durch ein Beschulungsmodell, bei dem viele Schulen einen sukzessiven Übergang von ›Seiteneinsteigern‹ in das Regelsystem anstreben. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die von der Bezirksregierung ausgesprochene Vorgabe, sowie das generelle Ressourcenproblem hinsichtlich freier Schulplätze in Regelklassen in Radstadt zusätzlich dazu beitragen, dass sich die einmal vorgenommene wohnortnahe Zuweisung verstetigt und ein Schulformwechsel nach zwei Jahren die Ausnahme und nicht die Regel darstellt. Die von den Mitarbeiter:innen etablierte Praxis, ›Seiteneinsteiger‹ mit positiven Leistungsprognosen gezielt auf Gymnasien zu vermitteln (s. Kap. 5.1) und von der wohnortnahen Zuweisung auszunehmen, erfährt vor diesem Hintergrund noch mal eine besondere Bedeutung.

5.2.3

Verstetigung von Zuweisungen

Betrachtet man den Übergang von ›Seiteneinsteigern‹ in das Regelsystem in Flurstadt und Radstadt wird deutlich, dass in beiden Städten davon ausgegangen werden kann, dass die einmal vorgenommenen Zuweisungen i.d.R. auf Dauer gestellt werden und die ›Seiteneinsteiger‹ an der ihnen durch die Verwaltung zugewiesenen Schule in die Regelklasse übergehen. Entsprechend dieser Annahme wird die Bedeutung des kommunalen Distributionsmanagements für die Bildungsbiografien von ›Seiteneinsteigern‹ noch mal besonders deutlich. In Radstadt widerspricht die Praxis an den Schulen damit vollständig der Annahme, dass keine Kopplung zwischen Schule/Schulform und Vorbereitungsklasse bestünde. Dies wird jedoch nicht weiter problematisiert, sondern mit dem Hinweis auf die vermeintliche Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems relativiert bzw. legitimiert. Auffällig ist dieser Verweis insbesondere vor dem Umstand, dass verschiedene Studien die Undurchlässigkeit des deutschen Bildungssystems belegen und generell bei der ohnehin geringen Anzahl an Schulformwechseln Abschulungen sehr viel wahrscheinlicher als Aufschulungen sind (vgl. Bellenberg/Hovestadt/Klemm 2004: 80; Berkemeyer et al. 2017).

5.3

Der Wechsel von der Primar- in die Sekundarstufe

Wenn neu migrierte Schüler:innen während ihrer zweijährigen Erstförderung von der Grundschule in die Sekundarstufe wechseln, bieten die Schulverwaltungen von Flurstadt und Radstadt den Grundschulen an, diesen Übergang zu organisieren. Interessant ist dieser Zuweisungsprozess insofern, als die als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen dabei einen Verteilungsprozess auf das niveaudifferenzierte Sekundarschulsystem durchlaufen, der – ebenso wie die bereits beschriebene direkte Zuweisung

5 Verwaltung von ›Seiteneinsteigern‹

(Kap. 5.1) – insbesondere vor dem Hintergrund, dass tendenziell eine Kopplung zwischen Vorbereitungsklasse und Schulform besteht (Kap. 5.2), als bildungsbiografische Weichenstellung potenziell folgenreich ist.

5.3.1

Ressourcenorientierte Zuweisung ohne Schulformdifferenzierung I

In Flurstadt sind in das Übergangsverfahren in die Sekundarstufe die beiden Fachbereiche eingebunden, die auch für die Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ an Schulen zuständig sind. In Reaktion auf mehrere Interviewerinnenfragen, führt Mitarbeiter:in Meyer, welche:r für den Sekundarschulbereich zuständig ist, aus: JJ: Und wie ist es mit de- mit dem Wechsel von den Grundschulen zu den weiterführenden Schulen gehen die Kinder dann noch mal zu Schmidt   ME:                                                                                                                            └nein   JJ:                                                                                                                                              └und werden noch mal beraten oder   ME:                         └nein nein   JJ:                                                   └geben die Klassenlehrerinnen da eine Empfehlung oder?   ME:                                                                                                                                                                           └also wenn wenn es denn tatsächlich so sein sollte dass man das Kind tatsächlich beurteilen kann und eine Empfehlung geben kann dann geben die eine Empfehlung   JJ:                                                                                                                                                                            └die Lehrerinnen Lehrer?   ME:                               └die ist aber natürlich genauso wie die Grundschulempfehlung für Re- ich sage mal hier geborene Kinder ja nicht bindend wobei ich da tatsächlich aber noch nicht Widersprüche von Widersprüchen gehört habe also da geht es den Eltern viel eher um Wohnortnähe auch bei der weiterführenden Schule als darum dass das die falsche Schule oder Schulform ist das ist ja auch wenn man das vergleicht in Deutschland ein recht komplexes System im Vergleich zum europäischen Ausland (.) ja (.) hatte ich bisher noch nicht hier dass dann Widerstand kommt nach dem Motto mein Kind soll aber auf das Gymnasium und nicht auf eine Hauptschule (Schulverwaltung, Flurstadt, Meyer, Z.329-349) Im Modus einer Beschreibung erläutert Meyer, welche Akteur:innen in das Übergangsverfahren eingebunden seien und wie die Erziehungsberechtigten das Verfahren wahrnehmen würden. Deutlich wird an dieser Ausführung, dass die Möglichkeit einer – auf einer Schulformempfehlung beruhenden – gezielten Überweisung von ›Seiteneinsteigern‹ auf das Sekundarschulsystem für wenig realistisch beurteilt wird. Als Grund hierfür wird auf das Problem verwiesen, dass die Lehrkräfte oftmals keine Beurteilungen

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

der ›Seiteneinsteiger‹ vornehmen könnten. Besonders deutlich wird diese Perspektive in der zweifachen Betonung von »kann« sowie in der Formulierung »wenn es denn tatsächlich so sein sollte«. Schulformempfehlungen könnten im Vermittlungsverfahren also berücksichtigt werden, dies scheint aber nicht die Regel zu sein. Auffällig ist, dass direkt im Anschluss darauf verwiesen wird, dass nicht bekannt sei, dass sich Eltern von ›Seiteneinsteigern‹ jemals über die Zuweisung auf eine Schule beschwert hätten. Mitarbeiter:in Meyer erklärt sich dieses Verhalten dadurch, dass das Schulsystem in Deutschland »recht komplex« sei und es den Erziehungsberechtigten wichtiger sei, dass die Kinder wohnortnah eine Schule besuchen könnten. Bevor die Praxis des Übergangverfahrens genauer erläutert wird, wird hier bereits auf die Schwierigkeiten verwiesen, valide Schulformempfehlungen für ›Seiteneinsteiger‹ auszusprechen, sowie auf das Interesse der Eltern, ihre Kinder auf einer wohnortnahen Schule unterzubringen. Wie das Übergangsverfahren genau organisiert werde, erläutert Meyer im weiteren Verlauf der Passage: ME: also zunächst haben wir uns Gedanken gemacht im Vorfeld des des Halbjahres das war so also kurz nach den Weihnachtsferien dass wir die Schulen die Grundschulen abgefragt haben also die beiden Kolleg:innen Grundschulen abgefragt haben wer steht hier für den Übergang an? haben daraus eine Liste gemacht und haben dann Schulen im Prinzip festgelegt an die die Schüler ging in Absprache mit den mit der Konferenz der Gesamtschulen beziehungsweise Gymnasien Realschulen und das war aber tatsächlich dann offensichtlich nicht unbedingt so zielführend weil ganz oft dann die Schulen nicht angenommen wurden wahrscheinlich aus unterschiedlichsten Gründen also wir haben dann zum Anmeldetermin im Februar schon auch die Rückmeldung bekommen dass der das und das Kind jetzt an einer anderen Schule ist was ja dann auch in Ordnung ist (Schulverwaltung, Flurstadt, Meyer, Z.365-376) Um einen reibungslosen Wechsel der als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen in die Sekundarstufe zu gewährleisten, haben Mitarbeiter:innen der beiden für die Zuweisung zuständigen Fachbereiche alle Grundschulen um die Nennung der Namen der zum Übergang anstehenden ›Seiteneinsteiger‹ gebeten. Daraufhin wurde jedem:jeder Schüler:in – entsprechend der jeweils von den unterschiedlichen weiterführenden Schulen zugesagten Plätze – eine Schule zugewiesen. Bezogen auf die Frage, wie ›Seiteneinsteiger‹ beim Wechsel von der Primar- in die Sekundarstufe auf je konkrete Schulen, also auf das niveaudifferenzierte Sekundarschulsystem verteilt werden, lässt sich somit feststellen, dass der Übergang von der Schulverwaltung in Flurstadt – anders als bei der direkten Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ (Kap. 5.1) – schulformunspezifisch organisiert wird. So werden die als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Kinder, ohne dass ihnen ein schulischer Leistungsstand zugeschrieben wurde, einer beliebigen weiterführenden, möglichst wohnortnahen Schule zugewiesen. Dies bedeutet, dass auf eine Leistungsdifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ verzichtet wird und diese ausschließlich nach dem Prinzip der Wohnortnähe (in Verbindung mit freien Schulplätzen) an eine weiterführende Schule vermittelt werden. Diese Zuweisungspraxis unterläuft damit, wie bereits auch in Kapitel 5.1 rekonstruiert werden konnte, das Legitimationsprinzip des kommunalen Distributionsmanagements, das darauf beruht, eine Kopplung zwi-

5 Verwaltung von ›Seiteneinsteigern‹

schen Schulform und Vorbereitungsklasse – und damit einen dauerhaften Verbleib der ›Seiteneinsteiger‹ an der ihnen einmal zugewiesenen Schule – anzunehmen. Obwohl Mitarbeiter:in Meyer zu Beginn festhält, dass die Erziehungsberechtigten der Zuweisungspraxis nicht widersprächen, wird abschließend ausgeführt, dass die Vermittlung durch die Schulverwaltung nicht »so zielführend« gewesen sei, da sich viele ›Seiteneinsteiger‹ an anderen Schulen angemeldet hätten als an denen, die ihnen zugewiesen wurden. Das Umgehen der Vermittlungsbemühungen der Schulverwaltung wird jedoch nicht problematisiert, sondern vielmehr als »in Ordnung« beurteilt. Grund hierfür könnte sein, dass durch die eigenständigen Vermittlungsbemühungen keine weitere Arbeit (und Verantwortung) für die Schulverwaltung entsteht. Auch die:der Mitarbeiter:in des Fachbereichs, die:der für die Primarschulen zuständig ist, verweist im Interview darauf, dass es bei vielen ›Seiteneinsteigern‹ für die Lehrkräfte nicht möglich sei, eine Einschätzung ihres potenziellen Leistungsstandes vorzunehmen und auf dieser Grundlage eine Schulformempfehlung für den Wechsel in die Sekundarstufe auszusprechen. So elaboriert Weber, in Reaktion auf die Interviewerinnenfrage, wie für ›Seiteneinsteiger‹ eine Schulformentscheidung getroffen werde: JJ: Wonach wird das entschieden?   W:                                                                └ja ((Ausatmen))   JJ: Gehen die dann noch mal zu Schmidt oder?   W:                                                            └so ein bisschen nach- ja genau Schmidt guckt dann meistens noch mal in meinen Bögen was haben die für ne Schulbildung aber wenn die von der Grundschule kommen kann man ja nicht viel sagen dann kann man ja nur sagen der ist jetzt ein halbes Jahr in der Grundschule und der wird ein halbes Jahr Deutsch gelernt haben also fragen Sie mich nicht Meyer guckt dann glaube ich fast nur noch wo ist irgendwas frei und dann rein damit ne? (Schulverwaltung, Flurstadt, Weber, Z.410-418) Erkennbar wird hier, dass Weber davon ausgeht, dass mit einem halben Jahr ›Deutschförderung‹ noch keine Markierung von ›Seiteneinsteiger‹ mit individuellen Leistungsmerkmalen möglich sei. Für eine schulformspezifische Differenzierung fehlt hier also Klassifikations- und Selektionswissen. Der Vorgang wird schließlich so zusammengefasst, dass ausschließlich entsprechend der jeweils vorhandenen schulischen Ressourcen zugewiesen wird.   Für die Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ beim Wechsel von der Primar- in die weiterführende Schule scheinen in Flurstadt somit weder schulleistungsbezogene Differenzierungen im Sinne der meritokratischen Selbstbeschreibung der Organisation Schule noch sonstige pädagogische Kriterien relevant zu sein. Für die jeweilige Verteilung ist in Flurstadt damit die Zahl der ›Seiteneinsteiger‹-Schulplätze entscheidend, die von den unterschiedlichen Schulen, bzw. Schulformen, zur Verfügung gestellten werden. Auffällig ist, dass damit im Zuweisungsverfahren im Übergang auf die weiterführende Schule vollständig auf eine leistungsbezogene Niveaudifferenzierung der ›Seitenein-

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

steiger‹ mit dem Ziel der Herstellung einer Passung zwischen ›Seiteneinsteiger‹ und Schulform verzichtet wird – wohingegen bei der direkten Zuweisung auf die Sekundarstufe von Mitarbeiter:innen der ›Seiteneinsteigerberatung‹ große Anstrengungen betrieben werden, um das damit zusammenhängende Passungsproblem zu lösen. Ebenso wie bei der Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ bei der Einrichtung neuer Schulklassen wird auch beim Wechsel von der Primar- in die Sekundarstufe pragmatisch nach dem Prinzip der Wohnortnähe und der schulischen Ressourcen zugewiesen und dieses Vorgehen mit dem Hinweis, dass es keine Beschwerden durch die Eltern gebe und eine Klassifikation ohnehin nicht möglich sei, legitimiert.

5.3.2

Ressourcenorientierte Zuweisung ohne Schulformdifferenzierung II

Auch in Radstadt ist die Schulverwaltung in den Übergang von ›Seiteneinsteigern‹ von der Primar- in die Sekundarstufe eingebunden. Krause erläutert das Verfahren: JJ: Und der Wechsel von der Grundschule zur weiterführenden Schule sind Sie da auch noch mal eingebunden? oder   K:                                                         └zum Teil ja wenn die Kinder (.) aus einer Vorbereitungsklasse Grundschule in eine Vorbereitungsklasse Sekundarschule eins wechseln dann läuft das über uns (.) und dann werden die hier gemeldet auch einmal im Jahr (.) Klasse Vier zu Fünf und wir suchen die entsprechenden Plätze weil nicht alle Grundschulen wissen welche weiterführenden Schulen (.) Plätze haben das machen wir wenn die Schüler ins Regelsystem der Sekundarstufe eins wechseln haben wir da nichts mit zu tun die melden sich also im Februar wie alle anderen Kinder eben an einer weiterführenden Schule an (Schulverwaltung, Radstadt, Krause, Z.190-199) Solange neu migrierte Schüler:innen den Status ›Seiteneinsteiger‹ besitzen, d.h. sich bei dem Wechsel in die Sekundarstufe noch in der zweijährigen Erstförderung befinden, werden sie von der Schulverwaltung vermittelt. Begründet wird dieses Vorgehen damit, dass die abgebenden Grundschulen kein Wissen über mögliche Plätze an weiterführenden Schulen hätten. Nach welchen Kriterien sich die Zuweisung richtet, erläutert Krause im weiteren Verlauf der Passage: JJ: Und wenn Sie mit eingebunden sind in das Verfahren wie wird dann entscheiden auf welche Schule die Kinder wechseln?   K:                                                                               └möglichst wohnortnah (.) wieder und nach Schulformempfehlung wenn die Grundschulen schon sagen können das wird mal ein Hauptschüler Realschüler Gymnasiast dann versuchen wir die Schulform zu berücksichtigen (.) wir gucken aber schon auch dass sie möglichst wohnortnah eingebunden werden weil das sind ja auch noch die Fünftklässler sind ja auch noch nicht so ganz groß und die sind es ja gewohnt erstmal ihre Grundschule vor Ort zu haben und auch die können nicht durch Radstadt fahren (.) ich glaube das ist auch für die Eltern ein Problem dann wenn die von dieser doch relativ beschützten nahen Grundschule in

5 Verwaltung von ›Seiteneinsteigern‹

die Sek eins müssen aber immer noch nicht richtig Deutsch können (.) da müssen wir gucken dass wir auch wohnortnah (.) das ist so das erste Kriterium (Schulverwaltung, Radstadt, Krause, Z.203-214) Das Aussprechen einer Schulformempfehlung für ›Seiteneinsteiger‹ wird zwar als prinzipiell möglich beurteilt, dabei wird aber, ebenso wie von den Mitarbeiter:innen der Schulverwaltung in Flurstadt, durch die Betonung »können« eine gewisse Skepsis ausgedrückt. Gleichzeitig deutet sich in der Formulierung »das wird mal ein« eine stark essentialistische Sicht auf die Bildungsbiografien von Schüler:innen an. Trotz dieser sich hier andeutenden Orientierung hinsichtlich des Aussprechens von Schulformempfehlungen verweist Krause darauf, dass das »erste Kriterium« die Wohnortnähe darstelle. Legitimiert wird diese Praxis mit dem Hinweis, dass die ›Seiteneinsteiger‹ »noch nicht ganz so groß« seien und »noch nicht richtig Deutsch könnten« und eine nicht wohnortnahe weiterführende Schule für sie und ihre Eltern daher ein Problem darstellen würde. Die Zuweisungspraxis wird hier also als Rücksichtnahme auf die angenommenen Bedürfnisse der ›Seiteneinsteiger‹ und ihrer Familien gerahmt. Im Verlauf der Passage kommt Krause auf einen weiteren Aspekt zu sprechen, warum die Schulformempfehlungen nicht immer berücksichtigt werden könnten: K: die wir vermitteln die haben in der Regel eine Schulformempfehlung die können wir aber nicht nur berücksichtigen es sind sehr sehr viele Stadtteil Radstadt-Kinder (.) dass liegt daran dass wir auch Busverkehre haben aus Stadtteil Radstadt20 wir haben dort zehn Grundschulen die können aber nicht alle Kinder aufnehmen sodass wir Schneun Schulbusverkehre haben in die umliegenden Ortsteile die kommen jetzt zurück und wir versuchen die natürlich in der Stadtteil Radstadt auch weiter zu beschulen wenn die alle dort die Schulformempfehlung Gesamtschule haben dann können wir die dort nicht unterbringen (.) dass da muss man eben so gucken (Schulverwaltung, Radstadt, Krause, Z.229-237) Insbesondere für diejenigen ›Seiteneinsteiger‹, die täglich mit dem Bus von ihrem Wohnviertel im Norden von Radstadt in den Süden von Radstadt gebracht werden, gestalte sich die Umsetzung der von den Lehrkräften ausgesprochenen Schulformempfehlungen als schwierig. Als Grund wird das begrenzte Schulplatzangebot an bestimmten weiterführenden Schulen im nördlichen Stadtgebiet genannt. Im Norden von Radstadt ergibt sich also das Problem, dass ›Seiteneinsteiger‹, die bisher mit Bussen an Grundschulen in andere Stadtteile gebracht wurden, beim Wechsel in die Sekundarstufe in ihrem Wohnviertel oder in der Nähe ihres Wohnortes untergebracht werden sollen. Das Prinzip der wohnortnahen Beschulung wird hier als deutlich wichtiger gewertet als die Umsetzung der Schulformempfehlungen. Ebenso wie bei der schulformindifferenten direkten Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ auf das Sekundarschulsystem wird auch beim Übergang von der Primar- auf die Sekundarstufe keine leistungsdifferenzierte Kategorisierung der ›Seiteneinsteiger‹ vorgenommen. Diese Praxis wird nicht als besonders legitimationsbedürftig gerahmt. Dies könnte darauf zurückgeführt werden, dass in Radstadt ohnehin davon ausgegangen wird, dass keine

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Der Stadtteil befindet sich im Norden von Radstadt.

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Kopplung zwischen Schulform und Vorbereitungsklasse besteht und die Herstellung einer Passung in die Schulen verlagert wird.

5.3.3

Status ›Seiteneinsteiger‹ als maßgebliche Entscheidungsprämisse

Für beide Schulverwaltungen stellt der Status ›Seiteneinsteiger‹ nicht nur eine eigenständige, sondern die maßgebliche Entscheidungsprämisse im Übergangsverfahren von der Primar- in die Sekundarstufe dar. Es deutet sich hier eine kategoriale Differenzierung in entweder ›Seiteneinsteiger‹ oder ›Regelschüler‹ an, die auf einem »zeitlich stabilen ›Entweder-Oder‹-Schema« (Emmerich/Hormel 2013a: 25) beruht. So werden ›Seiteneinsteiger‹ in beiden Städten – ohne eine Leistungsdifferenzierung vorzunehmen – entsprechend jeweils vorhandener Ressourcen einer möglichst wohnortnahen weiterführenden Schule zugeordnet. Wenn nun in Rechnung gestellt wird, dass die Zuweisungspraxis in Flurstadt darauf beruht, dass ›Seiteneinsteiger‹ dauerhaft auf der ihnen zugewiesenen Schule verbleiben und auch für Radstadt herausgearbeitet werden konnte, dass sich an die zweijährige Erstförderung – trotz anderslautender offizieller Legitimationen – i.d.R. kein Schulformwechsel anschließt (s. Kap. 5.1 und 5.2), wird deutlich, dass die schulformindifferente Zuweisungspraxis beim Übergang in die Sekundarstufe vermutlich eine dauerhafte Zuweisung zu einer Sekundarschulform darstellt und entsprechend bildungsbiografisch folgenreich ist.

5.4

Interpretation des Status ›Seiteneinsteiger‹ durch die Schulverwaltungen von Flurstadt und Radstadt

Die Schulverwaltungen sind dafür zuständig, zunächst dafür zu sorgen, dass neu migrierte schulpflichtige Kinder und Jugendliche an Schulen gelangen. Bei der Betrachtung des kommunalen Distributionsmanagements steht also ein vorgeschalteter Prozess im Mittelpunkt, der vor der konkreten Beschulung der ›Seiteneinsteiger‹ stattfindet. Es konnte herausgearbeitet werden, dass die Vermittlungsverfahren in Flurstadt und Radstadt darauf zielen, alle schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen, die neu aus dem Ausland nach NRW migriert sind, in die Organisation Schule zu inkludieren. Durch die Rekonstruktion der Verfahren wird jedoch auch erkennbar, dass die Inklusion der neu migrierten Kinder und Jugendlichen in die Organisation Schule über die Adressierung als ›Seiteneinsteiger‹ geschieht. So ist es für die als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen nur unter erschwerten Bedingungen möglich, über eine eigenständige Schulanmeldung als ›Regelschüler‹ in die Organisation Schule aufgenommen zu werden (siehe hierzu die ausführlichen Ergebnisse der empirischen Studie von Massumi 2019). Vielmehr muss i.d.R. das Verfahren der kommunalen Schulverwaltung in Anspruch genommen werden, durch das eine Inklusion als ›Seiteneinsteiger‹ in die Schule vermittelt wird.   Anhand der Interviews in der Schulverwaltung lassen sich jeweils eigene »Entscheidungsgeschichte[n]« (Luhmann 1983: 40; Nassehi 2002: 458) im Hinblick auf das kommunale Distributionsmanagement rekonstruieren.

5 Verwaltung von ›Seiteneinsteigern‹

Diese Entscheidungsgeschichte ist in Flurstadt dadurch gekennzeichnet, dass in der ›Seiteneinsteigerberatung‹ Entscheidungen hinsichtlich zukünftig zu besuchender Schulen und Jahrgangsstufen getroffen werden, die für die beiden weiteren Fachbereiche Entscheidungsprämissen schaffen, die die Komplexität des Zuweisungsverfahrens bereits stark reduzieren. Dabei orientieren sich die Entscheidungen nicht nur an der durch die Organisation Schule erzeugten Entscheidungsprämisse ›Notenzeugnis‹, sondern darüber hinaus auch an der Entscheidungsprämisse ›sozialer Hintergrund‹. Mit den in der ›Beratung‹ getroffenen Schul(form)entscheidung haben die Mitarbeiter:innen der anderen Fachbereiche Entscheidungsprämissen vorliegen, die wiederum ihrerseits Entscheidungen vorstrukturieren und Wahlmöglichkeiten reduzieren. Bei einer genaueren Betrachtung wird jedoch ebenfalls deutlich, dass bei der konkreten Zuweisung auf weiterführende Schulen nur dann sinnvoll an die Schulformentscheidungen angeschlossen werden kann, wenn das Verfahren der Schulplatzzuweisung aufgeht – d.h. wenn an den jeweils empfohlenen Schulformen auch genügend Schulplätze zur Verfügung stehen. Wenn aufgrund fehlender Kapazitäten nicht an die Entscheidungsprämisse ›Schulformentscheidung‹ angeknüpft werden kann, müssen Entscheidungen auf Grundlage anderer Prämissen getroffen werden. Durch die Strategie, bei der unterjährigen Einrichtung neuer Klassen die Vorbereitungsklassen von der Schulform zu entkoppeln, schaffen die Mitarbeiter:innen der Fachbereiche, die für die Zuweisung zuständig sind, die Möglichkeit, diejenigen neu migrierten Schüler:innen unterzubringen, für die sie sonst keinen Platz finden können. Für die Zuteilung von Schüler:innen ist in diesen Fällen entsprechend lediglich die kategoriale Differenzierung ›Seiteneinsteiger‹/›Regelschüler‹ relevant. In Radstadt hingegen liegt das Entscheidungsverfahren vollständig in der Hand von jeweils einem:einer Mitarbeiter:in. Es konnte rekonstruiert werden, dass dies für die Mitarbeiter:innen die Möglichkeit eröffnet, von der offiziellen Entscheidungsprämisse ›Wohnortnähe‹ abzuweichen und, ebenso wie in der ›Seiteneinsteigerberatung‹ in Flurstadt, auf der Grundlage der Entscheidungsprämisse ›sozialer Hintergrund‹ ›Seiteneinsteiger mit positiven Leistungsprognosen‹ zielgerichtet auf höherqualifizierende Schulen zuzuweisen. Mit Blick auf die Verfahren beim Übergang von ›Seiteneinsteigern‹ in die Regelklasse fällt auf, dass sich die Schulverwaltung in Flurstadt (fast) vollständig herauszieht, während die Schulverwaltung in Radstadt die Schulen um Mitteilung bittet, wenn beim Übergang ein Schulformwechsel notwendig sei, um daraufhin die Vermittlung zu leisten. Interessant ist dabei jedoch, dass die von den Schulen ausgesprochenen Empfehlungen für den Wechsel scheinbar nur so lange die Entscheidungsprämissen für die Zuweisung der Schulverwaltung darstellen, wie an den jeweiligen wohnortnahen Schulformen Ressourcen für die Beschulung (d.h. Schulplätze in Regelklassen) zur Verfügung stehen. Wenn an der entsprechenden Schulform kein Platz frei ist, erfolgt die Zuweisung ausschließlich im Hinblick auf vorhandene Ressourcen. Gleiches gilt für die Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ im Übergangsprozess von der Primar- in die Sekundarstufe I. Hier stellt die Klassifikation ›Seiteneinsteiger‹ in beiden Städten die maßgebliche Entscheidungsprämisse dar. In Flurstadt bedeutet dies, dass ›Seiteneinsteiger‹ von der Schulverwaltung ausschließlich auf der Grundlage vorhandener Ressourcen wohnortnah einer weiterführenden Schule zugewiesen

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

werden, ohne eine leistungsbezogene Schulformdifferenzierung durch die Schulen abzufragen/vorauszusetzen. In Radstadt können die abgebenden Schulen zwar Schulformempfehlungen mitteilen, diese dienen der Schulverwaltung aber – ebenso wie beim Übergang in die Regelklasse – nur so lange als Entscheidungsprämisse, wie diese mit den vorhandenen Ressourcen in Einklang gebracht werden können.   Es zeigt sich deutlich, dass in beiden Schulverwaltungen – trotz der auf den ersten Blick deutlichen Unterschiede in den Verfahren – bei der Verwaltung von ›Seiteneinsteigern‹ Ressourcenprobleme durchschlagen, die mit organisatorischen Lösungen bearbeitet werden. Hierzu zählen bspw. die zufällige jahrgangsgemischte Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ in eine Vorbereitungsklasse oder die Praxis, nicht an die durch Schulen oder der ›Seiteneinsteigerberatung‹ erzeugten Entscheidungsprämissen der schulformbezogenen Leistungsdifferenzierung anzuknüpfen, sondern eine Zuweisung ausschließlich im Hinblick auf vorhandene Ressourcen vorzunehmen. Legitimiert werden können diese Verwaltungsverfahren dabei nur dadurch, dass eine kategoriale Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ vorgenommen wird.   Mit Blick auf die hier erarbeiteten Ergebnisse wird deutlich, dass auch die formale Inklusion in die Organisation Schule nicht vor Selektion schützt, unter anderem deshalb, weil in beiden Städten eine erste Selektion bereits vor Eintritt in die Organisation Schule, beim Übergang in das Regelsystem und beim Wechsel von der Primar- in die Sekundarstufe stattfindet. Hierdurch werden von Anfang an unterschiedliche Partizipationschancen ermöglicht und es stellt sich für die weitere Arbeit die Frage, welche strukturbildenden ungleichheitsrelevanten Folgen und Nebenfolgen der institutionellen Praxis kommunaler Allokation sich in der Bildungspraxis ausmachen lassen. Um die bisherigen Überlegungen zu prüfen, schließt sich daher nun eine genauere Betrachtung der Beschulungspraxis von ›Seiteneinsteigern‹ in der Organisation Schule an.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Im Konstrukt ›Seiteneinsteiger‹ verdichten sich Irritationen, die ›ausländische‹ Schüler:innen im Erziehungssystem in Deutschland erzeugen (s. Kap. 3). So stellen neu migrierte Schüler:innen die Organisation Schule, bspw. durch fehlende Zeugnisse oder ungeklärte Schulbesuchszeiten, vor Unsicherheiten, da sie in Bezug auf ihren aktuellen Leistungsstand gewissermaßen schulisch ›unmarkiert‹ sind. Neu migrierte Kinder und Jugendliche werden entsprechend über die Adressierung als ›Seiteneinsteiger‹ in spezifischer Art und Weise in die Organisation Schule inkludiert (s. Kap. 5). Auf der Ebene der Bildungspraxis wird an dieser Stelle der Arbeit nun geklärt, welche Bedeutung die Adressierung als ›Seiteneinsteiger‹ in der alltäglichen organisatorischen Routine des Unterrichtens hat, und ob oder inwiefern an die Klassifikation(en) der Schulverwaltung angeschlossen wird. Nach einem kurzen Überblick über die bildungspolitischen Vorgaben zur Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ (Kap. 6.1) und der Skizzierung der formalen Organisationsprinzipien der Beschulung an den sechs untersuchten Grundschulen (Kap. 6.2) erfolgt eine Analyse der Differenzierungspraxis ›Seiteneinsteiger‹ (Kap. 6.3). An die Ergebnisse dieses Kapitels anknüpfend werden daraufhin Beschulungspraxen an vier relevanten Entscheidungsstellen in den Blick genommen: die Ausgestaltung der Unterrichtspraxis (Kap. 6.4), die Zuweisung zu einer Regelklasse (Kap. 6.5), die Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs (Kap. 6.6) sowie der Wechsel von der Primar- in die qualifikationsdifferenzierte Sekundarstufe (Kap. 6.7).

6.1

Überblick: Bildungspolitische Erlasse zur Beschulung  von ›Seiteneinsteigern‹ in NRW

Die Beschulung von neu migrierten Kindern und Jugendlichen wird im Schulgesetz NRW nur allgemein in Bezug auf alle »Schülerinnen und Schüler, deren Muttersprache nicht Deutsch ist,« (SchulG NRW v. 16.12.2016, § 2, Abs.10) thematisiert, indem festgehalten wird, dass diese Schüler:innen »gemeinsam mit allen anderen Schülerinnen und Schülern unterrichtet und zu den gleichen Abschlüssen geführt werden« (ebd.) sollen. Darüber hinaus finden sich in verschiedenen Erlassen des Ministeriums für Schule und

172

Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (MSW) jedoch weitere Regelungen zur Beschulung neu migrierter Schüler:innen, die im Folgenden skizziert werden.1   Zentral ist der Runderlass »Unterricht für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler« (BASS 13-63, Nr. 3 v. 28.06.2016).2 Dieser Erlass stellt eine im Zuge der verstärkten Migration nach Deutschland vorgenommene Überarbeitung des Erlasses »Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte, insbesondere im Bereich der Sprache« (BASS 13-63 Nr.3 v. 21.12.2009, danach mehrfach überarbeitet) dar.3 Neu ist, dass sich die Überarbeitung explizit auf »neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler« bezieht. Der Grund für die Erneuerung war, so äußert sich die Referatsleiterin Schüßler für ›Integration durch Bildung‹ des MSW, dass die vorherige Fassung »nicht für die Herausforderungen konzipiert [war], die mit der aktuellen neuen Zuwanderung von geflüchteten Menschen und Menschen aus südosteuropäischen Ländern verbunden sind« (Schüßler 2016: 8). Laut Schüßler soll der neue Erlass dazu beitragen, die Arbeit der involvierten Akteur:innen zum einen zu »erleichtern« (ebd.) und »zugleich pragmatische und vor Ort bewährte Ansätze« (ebd.) in Zukunft weiterhin zu ermöglichen (vgl. ebd.). Als ›neu zugewanderte‹ Schüler:innen werden in dem Erlass Kinder und Jugendliche erfasst, »die erstmals eine deutsche Schule besuchen und noch nicht über die notwendigen Deutschkenntnisse verfügen, um dem Unterricht zu folgen, oder die bei einem Wechsel der Schulstufe (von der Primarstufe zur Sekundarstufe I oder von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II) oder der Schule aufgrund ihrer kurzen Verweildauer in der abgebenden Schule die notwendigen Deutschkenntnisse noch nicht ausreichend haben erwerben können.« (BASS 13-63 Nr.3 v. 28.06.2016, Abs. 1.1) Für diese Schüler:innen gilt, dass sie ab dem Zeitpunkt der Aufnahme an einer Schule auch Schüler:innen dieser Schule sind. Bezogen auf den Unterricht sollen sie »in der Regel in einer Klasse der ihrem Alter entsprechenden Jahrgangsstufe und nach deren Stundentafel unterrichtet (Regelklasse)« (ebd., Abs.2.1) werden. Bei der Einrich1

2

3

Eine Auseinandersetzung mit spezifischen rechtlichen Vorgaben hinsichtlich der untersuchten Entscheidungsstellen finden sich darüber hinaus jeweils zu Beginn der folgenden Unterkapitel (Kap. 6.4-6.7). Zum Zeitpunkt der Durchführung der empirischen Studie waren die Fassungen vom 01.04.2015 sowie die überarbeitete Fassung vom 28.06.2016 aktuell. Die in der Neufassung 2016 festgelegten Regelungen sollten von den Schulen mit einer Frist bis zum 01.08.2017 umgesetzt werden. Inzwischen liegt eine erneute Überarbeitung des Erlasses vor, die zum 15.10.2018 in Kraft getreten ist. Neu an diesem Erlass ist u.a., dass den Schulen nun die Möglichkeit gegeben wird, bereits innerhalb der i.d.R. zweijährigen Erstförderung neu migrierter Schüler:innen bei »Anhaltspunkten für einen Bedarf an zieldifferenter sonderpädagogischer Förderung bei der Schulaufsichtsbehörde einen Antrag auf Eröffnung des Verfahrens zur Ermittlung des Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung« (BASS 13-63 Nr.3 v. 15.10.2018, Abs. 4.2) zu stellen. Diese Möglichkeit war in den vorherigen Erlassen nicht gegeben (s. hierzu auch Kap. 6.6 in dieser Arbeit). Der herkunftssprachliche Unterricht, der zuvor im Erlass 13-63 Nr.3 (v. 01.05.2014) geregelt wurde, wird nun nach dem Erscheinen des neuen Erlasses in einem eigenen Erlass geregelt (BASS 13-63 Nr.2).

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

tung neuer Klassen sollen Klassen mit ausschließlich ›neu zugewanderten Schüler:innen‹ vermieden werden. Wenn Kinder und Jugendliche noch nicht ausreichend deutsche Sprachkenntnisse für die Teilnahme am Regelunterricht besitzen, kann eine individuelle Sprachförderung – neben dem Besuch der Regelklasse – entweder in innerer oder äußerer Differenzierung stattfinden. Die äußere Differenzierung außerhalb der Regelklassen kann in »Lerngruppen« erfolgen. Diese ›Lerngruppen‹ wurden im früheren Erlass als »Vorbereitungsklassen« (BASS 13-63 Nr.3 v. 01.05.2014, Abs.2,) betitelt, im neuen Erlass wird dieser Begriff durch die Bezeichnung »Sprachfördergruppe«4 (BASS 13-63 Nr.3 v. 28.06.2016, Abs. 2.2.3) ersetzt.5 Diese ›Sprachfördergruppen‹ können auch jahrgangsübergreifend organisiert werden und sollen »in der Regel« (ebd.) nicht länger als zwei Jahre besucht werden – eine bindende Obergrenze für den Besuch einer Vorbereitungsgruppe wird jedoch nicht genannt. Neu migrierte Schüler:innen sollen zehn bis zwölf Stunden Deutschunterricht in der Woche erhalten und den Rest der Wochenstunden am »stundenplanmäßigen Unterricht ihrer Klasse« (ebd.) teilnehmen. Wenn es nicht möglich ist, die ›neu zugewanderten‹ Kinder und Jugendlichen in einer Regelklasse mit ggf. zusätzlicher Sprachförderung in einer Sprachfördergruppe unterzubringen, kann die Schulaufsichtsbehörde auch »Klassen zur vorübergehenden Beschulung« (ebd.) an allen Schulformen einrichten.6 Neben der Festlegung, wie viele Stunden Deutsch-Sprachförderung in der Woche stattfinden sollen und dem Hinweis, dass sich der restliche Unterricht i.d.R. nach der Stundentafel der jeweiligen Schulform und Jahrgangsstufe richten soll, werden keine weiteren Angaben zum Curriculum für neu migrierte Schüler:innen gemacht.   Bei diesem kurzen Blick auf den grundlegenden bildungsrechtlichen Rahmen deutet sich an, dass die Erlasse maßgeblich darauf abzielen, den Schulen flexible und individuelle Optionen der Beschulung zu ermöglichen und nur wenige konkrete Vorgaben gemacht werden. Es ist davon auszugehen, dass sich die Praxis in den Schulen entsprechend divers darstellt.

4 5

6

Der Begriff wurde 2015 von der KMK erstmals verwendet. Diese Änderung der Bezeichnung sorgte im Landtag wie auch in den Schulen kurz vor den Sommerferien 2016 für großen Unmut. So wurde befürchtet, dass mit dem neuen Erlass die bis dahin bestehenden Vorbereitungsklassen aufgelöst werden müssten und ›Seiteneinsteiger‹ damit zum einen ausschließlich (teil-)integrativ unterrichtet werden dürften und den Schulen dadurch zum anderen Ressourcen (in Form von Lehrer:innenstunden) gestrichen werden könnten. Schulministerin Löhrmann widersprach diesen Vermutungen: So handele es sich lediglich um eine Präzisierung von Begrifflichkeiten, nach der ›Auffang- bzw. Vorbereitungsklassen‹ nun als ›Sprachfördergruppen‹ bezeichnet werden (vgl. MSW NRW v. 08.07.2016). Während Klassen, die zu Beginn eines neuen Schuljahres eingerichtet werden, als ›Vorbereitungsklassen‹ bezeichnet werden, werden Klassen, die unterjährig neu hinzugekommen sind, als ›Auffangklassen‹ bezeichnet. Mit Beginn eines neuen Schuljahres sollen die Schüler:innen einer Auffangklasse entweder einer Vorbereitungsklasse oder einer Regelklasse zugewiesen werden (vgl. BASS 13-63 Nr.3 v. 28.06.2016, Abs.2).

173

174

Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

6.2

Skizzierung der formalen Organisationsprinzipien zur Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ an sechs Grundschulen in NRW

In einem ersten Schritt werden – als Einstieg in das umfangreiche Material – auf der Grundlage der vollständig transkribierten Interviews und Gruppendiskussionen mit Schulleitungen und Lehrkräften die Formalstrukturen der Beschulung von neu migrierten Kindern und Jugendlichen an den sechs Grundschulen skizziert. Dabei geht es noch nicht um eine dokumentarische Rekonstruktion impliziter Wissensbestände; vielmehr sollen zunächst grundlegende Informationen zur Beschulungspraxis an den Grundschulen im Hinblick auf als besonders relevant erachtete grundsätzliche Organisationsprinzipien skizziert7 werden. Zu diesen zählen: • • • • • •

das Beschulungsmodell die täglichen/wöchentlichen Unterrichtsstunden das Curriculum für ›Seiteneinsteiger‹ die Teilnahme am Fachunterricht der Regelklasse die jahrgangsübergreifende Unterrichtsorganisation der Vorbereitungsklassen der ggf. stattfindende Bustransfer von ›Seiteneinsteigern‹ in andere Stadtteile

Hinsichtlich der Zuordnung der Beschulungsmodelle wird an die Systematisierung von Massumi et al. angeknüpft, die eine Differenzierung entlang der Achse ›vollständige Teilnahme am Unterricht der Regelklassen‹ und ›keine Teilnahme am Unterricht der Regelklassen‹ sowie der Achse ›spezifische Sprachförderung für ›Seiteneinsteiger‹ und ›allgemeine Sprachförderung‹ vorgenommen haben (vgl. Massumi et al. 2015: 43f.). An den in der vorliegenden Arbeit untersuchten Grundschulen können zwei der fünf von Massumi et al. rekonstruierten Modelle aufgezeigt werden. Zum einen handelt es sich um das ›parallele Modell‹, bei dem neu migrierte Schüler:innen ausschließlich in einer speziell eingerichteten Vorbereitungsklasse für ›Seiteneinsteiger‹ unterrichtet und hinsichtlich ihrer deutschen Sprachkompetenzen gefördert werden. Zum anderen wird die Beschulung in einigen Schulen des Samples nach dem ›teilintegrativen Modell‹ organisiert. Dies bedeutet, dass die als ›Seiteneinsteiger‹ kategorisierten Schüler:innen von Beginn an einer Regelklasse zugeordnet sind und am Unterricht dieser Klasse teilnehmen, gleichzeitig aber für einige Stunden am Tag oder in der Woche in einer Vorbereitungsgruppe oder -klasse eine spezifische Deutsch-Sprachförderung erhalten. An einer Schule des Samples werden beide Beschulungsmodelle praktiziert, da manche ›Seiteneinsteiger‹ vom täglichen Übergang in die Regelklasse ausgenommen werden und ausschließlich in der Vorbereitungsklasse verbleiben, während andere ›Seiteneinsteiger‹ täglich eine Unterrichtsstunde in der ihnen zugeordneten Regelklasse verbringen.       7

Die im Hinblick auf diese Organisationsprinzipien erstellte Übersicht (Tab. 2) soll den Leser:innen als Orientierungspunkt für das Nachvollziehen der in den anschließenden Kapiteln folgenden dokumentarischen Interpretationen dienen.

Schulgröße*   Anzahl SE

Klein   10 SE

Groß   30 SE

Klein   20 SE

Klein   20 SE

Groß   20 SE

Groß   > 20 SE

Schule (Stadt)

Waldschule (Flurstadt)

Flussschule (Flurstadt)

Bergschule (Flurstadt)

Westschule (Radstadt)

Ostschule (Radstadt)

Südschule (Radstadt)

25

1,5

1

1,5

6

1,5

Beschulung von SE seit X Jahren

parallel

parallel

teilintegrativ

teilintegrativ

teilintegrativ

teilintegrativ/ parallel**

Beschulungsmodell

5 Std. 25 WS

4 Std. 20 WS

5 Std. + OGS 8 Std./Woche in der VG 25 WS

5-6 Std. 2 Std. in der VG 25-30 WS

5 Std. 2-3 Std. in der VK 25 WS

3-4 Std.** 3 Std. in der VK 15-20 WS**

Unterrichtsstunden - täglich - davon in VK/VG - Wochenstd.

Orientierung am Curriculum für Grundschulen

Schwerpunkt Deutsch/Kunst, andere Fächer begrenzt

Orientierung am Curriculum für Grundschulen

Orientierung am Curriculum für Grundschulen

Schwerpunkt Deutsch, andere Fächer begrenzt

Schwerpunkt Deutsch, andere Fächer begrenzt

Curriculum für SE

---

---

nein

ja

nein

nein

Teilnahme am Fachunterricht der RK (nur teilintegratives Modell)

Zwei VKs: Jahrgangsstufe 1-2 Jahrgangsstufe 3-4

Eine VK: Jahrgangsstufe 1-4

VGs: Teilw. Jahrgangsstufen übergreifend, teilw. getrennt

Drei VGs: Jahrgangsstufe 1-2 Jahrgangsstufe 2-3 Jahrgangsstufe 4

Drei VKs: Jahrgangsstufe 1 Jahrgangsstufe 2-4 Jahrgangsstufe 2-4

Eine VK: Jahrgangsstufe 1-4

Jahrgangsstufenübergreifende Unterrichtsorganisation der VKs

Tabelle 2: Formale Organisationsprinzipien zur Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ an sechs untersuchten Grundschulen (eigene Darstellung)

nein

ja

ja

nein

nein

nein

Bustransfer

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ 175

176

Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme * Kleine Grundschulen (1-2 zügig; bis ca. 300 Schüler:innen); große Grundschulen (3-5 zügig; über ca. 300 Schüler:innen) ** Für manche ›Seiteneinsteiger‹ wird der Unterricht nach drei Stunden in der VK beendet, ein Wechsel in die RK findet nicht statt SE: ›Seiteneinsteiger‹ RK: Regelklasse, denen ›Seiteneinsteiger‹ im teilintegrativen Modell zugeordnet sind VK: Vorbereitungsklasse (Unterricht für ›Seiteneinsteiger‹ findet parallel im eigenen Klassenverband durch jeweils ein:e eigene VK-Lehrer:in statt) VG: Vorbereitungsgruppe (Unterricht für ›Seiteneinsteiger‹ findet nacheinander in unterschiedlichen Vorbereitungsgruppen durch ein:e VK-Lehrer:in statt

  Hinsichtlich der Anzahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden deutet sich bereits eine hohe Varianz an: Während einige ›Seiteneinsteiger‹ an der Waldschule lediglich fünfzehn Stunden wöchentlich unterrichtet werden, erhalten ›Seiteneinsteiger‹ an der Bergschule doppelt so viele Unterrichtsstunden. Auch mit Blick auf das Curriculum in den Vorbereitungsklassen und den Regelklassen (›Teilnahme am Fachunterricht der RK‹) zeigt sich, dass zwischen Schulen, die ›Seiteneinsteiger‹ fast ausschließlich im Fach Deutsch unterrichten, und Schulen, die ›Seiteneinsteiger‹ nach dem regulären Curriculum für Grundschulen in allen Fächern unterrichten und in den Fachunterricht in der Regelklasse einbinden, unterschieden werden kann. Ebenso variiert die Organisation der Vorbereitungsklassen und -gruppen in Bezug auf die in den Gruppen jeweils zusammengefassten Jahrgangsstufen. In der Kategorie ›Bustransfer‹ wird festgehalten, ob die an den Schulen unterrichteten ›Seiteneinsteiger‹ als Gruppe mit einem Bus aus einem anderen Stadtteil zur Schule gebracht werden oder aus dem Stadtteil der Schule (und angrenzenden Gebieten) eigenständig zur Schule kommen

6.3

Die Praxis der Differenzierung von neu migrierten Schüler:innen

Mit einer komparativen Analyse von sechs Grundschulen in zwei Kommunen wird herausgearbeitet, wie die Aufgabe der Beschulung von neu migrierten Schüler:innen durch die Schulen jeweils selektiv beobachtet wird, welche Problembeschreibungen in diesem Zusammenhang vorgenommen werden und wie oder inwiefern ›Seiteneinsteiger‹ als Gruppe(n) entworfen werden, die von ›Regelschülern‹ unterschieden werden. Nach der Rekonstruktion von in den Eingangspassagen aufgebrachten fünf Beobachtungsdimensionen neu migrierter Schüler:innen (Kap. 6.3.1) werden die Ergebnisse abschließend im Hinblick auf die Differenzierungspraxis ›Seiteneinsteiger‹ zusammengeführt (Kap. 6.3.2).

6.3.1

Beobachtungsdimensionen neu migrierter Schüler:innen

Mit der Analyse der Eingangspassagen (Kap. 6.3.1.1) können erste Hinweise gewonnen werden, wie neu migrierte Schüler:innen beobachtet, differenziert und klassifiziert werden. An die Erkenntnisse dieser Analyse anknüpfend werden fünf in den Eingangs-

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

passagen hinsichtlich neu migrierter Schüler:innen thematisierten Beobachtungsdimensionen genauer betrachtet (Kap. 6.3.1.2 – 6.3.1.6).

6.3.1.1

Über ›Seiteneinsteiger‹ sprechen

Für die Verbalisierung der Einstiegsimpulse stellte sich die forschungspraktische Frage, wie das für die Arbeit im Mittelpunkt stehende Thema neu migrierter Schüler:innen in einer offenen Formulierung aufgebracht werden kann. So soll, den Leitgedanken der dokumentarischen Methode folgend, mit der Eingangsfrage ein Impuls zu einer möglichst selbstläufigen Erzählung gegeben werden, ohne dass durch die interviewende Person Orientierungen vorgegeben werden. Der Terminus ›Seiteneinsteiger‹ wurde vermieden, da dieser in der Recherche als ein verwaltungsbasierter Begriff in Erscheinung getreten ist, der klar auf den durch die Schulverwaltung zugewiesenen formalen Status ›Seiteneinsteiger‹ verweist. Statt nach der Arbeit mit ›Seiteneinsteigern‹ wurde daher im Eingangsimpuls nach der »Arbeit mit Sprachanfängern« gefragt. Es folgt zunächst eine Analyse der Einstiegsimpulse, um daraufhin im fallexternen Vergleich zu rekonstruieren, wie die Schulleitungen und Lehrkräfte in den Eingangspassagen den Begriff »Sprachanfänger« interpretieren und in ein eigenes Vokabular übersetzen. Einstiegsimpulse Die Eingangsfragen für die Gruppendiskussionen mit Lehrkräften wurden mit wenigen sprachlichen Varianzen, immer gleich formuliert. Exemplarisch wird im Folgenden die Einstiegsfrage an der Südschule analysiert.   Der Einstiegsimpuls für die Gruppendiskussionen mit Lehrkräften lautete: JJ: Ja mich würde interessieren wie Ihre Arbeit mit Sprachanfängern hier an der Schule aussieht können Sie einen für Sie typischen Tag beschreiben? wie erleben Sie Ihre alltägliche Arbeit? welche Erfahrungen machen Sie? (Südschule, Radstadt, LK, Z.1-3) Der Einstiegsimpuls für die Interviews mit den Schulleitungen lautete: JJ: Also mich würde interessieren wie Ihre Arbeit mit Sprachanfängern hier an der Schule aussieht (.) können Sie die pädagogische Praxis an Ihrer Schule beschreiben? wie hat sich die in den letzten Jahren entwickelt? welche Erfahrungen machen Sie? (Südschule, Radstadt, SL, Z.1-3) Indem die Interviewerin in beiden Eingangsfragen zunächst nach der »Arbeit mit Sprachanfängern« fragt, wird eine Unterscheidung von Schüler:innen der Schule hinsichtlich ihrer Sprachfähigkeit eingeführt. Auf welche Sprache sich die vorhandene oder nicht vorhandene Sprachfähigkeit bezieht, bleibt offen. Da an den Schulen des Samples ausschließlich auf Deutsch unterrichtet wird, kann die Formulierung als Hinweis auf Deutsch-Sprachanfänger:innen gelesen werden. Während die Lehrkräfte mit einer beschreibungsgenerierenden Frage nach einem typischen Tag sowie zwei erzählgenerierenden Fragen nach den Erfahrungen und Erlebnissen in der Arbeit gefragt werden, werden die Interviews mit den Schulleitungen mit zwei beschrei-

177

178

Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

bungsgenerierenden Fragen nach der pädagogischen Praxis und der Entstehung der Praxis sowie einer erzählgenerierenden Frage nach ihren Erfahrungen eingeleitet. Nicht nur durch die Benennung als »Sprachanfänger« werden die so bezeichneten Schüler:innen von der Interviewerin als eine Gruppe konstruiert, die von den ›Regelschülern‹ differenziert werden kann. Auch die sich anschließenden beschreibungsund erzählgenerierenden Fragen legen den Schluss nahe, dass sich die Beschäftigung mit diesen Schüler:innen von der Arbeit mit ›Regelschülern‹ unterscheidet. Diese forschungspraktischen Entscheidungen hinsichtlich der Formulierung der Einstiegsimpulse, mit der eine kategoriale Zuordnung neu migrierter Kinder und Jugendlicher zu einer Gruppe erfolgt, welche sich durch geringe Sprachkenntnisse auszeichnet, kann kritisch beurteilt werden. So schließt diese Formulierung an einen auf Sprache fokussierten Diskurs an, der bspw. von Dirim einer ausführlichen Kritik unterzogen wurde, indem sie u.a. darauf verweist, dass »Aktivitäten der Thematisierung und Bearbeitung von Migrationssprachen dilemmatisch [sind], weil darüber Sprache als migrationsgesellschaftliches Differenzmerkmal virulent wird« (Dirim 2016: 323). Durch die so formulierten Fragen werden Lehrkräfte und Schulleitungen also dazu aufgefordert, von einem besonderen Arbeitsbereich – dem Unterrichten von Deutsch-Sprachanfänger:innen – zu berichten. Wie die Interviewpartner:innen auf die einleitenden Fragen der Interviewerin Bezug nehmen, wie sie an die eingebrachte Differenzierung anknüpfen und wie sie die Bezeichnung ›Sprachanfänger‹ interpretieren, wird im Folgenden in einer fallexternen Komparation rekonstruiert. Differenzierung I: (Nicht-migrierte) ›Regelschüler‹ und ›Seiteneinsteiger‹ In einer Reihe an Interviews wird die von der Interviewerin im Einstiegsimpuls aufgebrachte Differenzierung zwischen Deutsch-Sprachanfänger:innen und anderen Schüler:innen aufgegriffen und als kategoriale Differenzierung zwischen (nicht-migrierten) ›Regelschülern‹ und ›Seiteneinsteigern‹ elaboriert.   Die Vorbereitungslehrkraft der Ostschule reagiert auf den Einstiegsimpuls mit einem ausführlichen Bericht vom Tagesablauf in ihrer:seiner Vorbereitungsklasse: SO: Also grundsätzlich ist es so dass ich Flüchtlingsklassen immer so jetzt die letzten drei Jahre kennengelernt habe dass es jahrgangsübergreifend war was jetzt bei mir auch der Fall ist sodass ich ja gucken muss dass der Unterricht alle Kinder von sechs bis meistens sogar elf Jahren anspricht das ist also wirklich bunt gemischt (.) und ja so r- Rituale r- r- ritualisierter Ablauf ist das wir anfangen mit dem Datum und dem Kalender also man meint irgendwie die irgendwann muss es doch mal langweilig sein aber es ist wirklich sogar auch die Kinder die ich jetzt seit fast zwei Jahren bei mir also einen Jungen den habe ich fast zwei Jahre jetzt bei mir in der Klasse (.) die hängen da total dran und üben das auch nach der Zeit immer noch ne?8 […] dann geht es weiter mit einer Tagestransparenz das ist im Grunde was was im Grundschulbereich sowieso gerne genommen wird (.) das die Kinder den den Tagesablauf kennen und da ist es nur

8

Die Zeilen 4-7 der Eingangspassage werden in Bezug auf die Beobachtungsdimension ›Alter‹ noch mal in Kapitel 6.3.1.3 analysiert.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

jetzt bei mir im Speziellen in der Auffangklasse in der Flüchtlingsklasse so dass man dann (.) in Situationen immer den identischen Satz verwendet und die Kinder greifen es auf sie haben das als Melodie im Ohr und das ist dann jedes Mal die Frage vor jeder Stunde stehe ich dann vorne mit so einer Wäscheklammer an der Tagestransparenz mit den Bildern und den Stundenwörtern da drunter wie geht es weiter? was machen wir jetzt? und dann melden sich für gewöhnlich von dreiundzwanzig Kindern mindestens die Hälfte und alle wollen diese blöde @Wäscheklammer zum x-ten mal@ hinhängen und dann steht das Kind eben vorne und sagt wir machen jetzt Deutsch wir machen jetzt Kunst (.) das ist halt ganz wichtig das ist so das sind so diese drei Eckpfeiler schon mal am am Morgen im Grunde und im Verlauf des Tages dann mit der Tagestransparenz (.) ja (.) […] ja (.) ich glaube das das wäre jetzt erst mal so das was mir zu dem typischen Täglichen ne? inhaltlich ist es natürlich sowieso jeden Tag irgendwie was anderes aber das sind so die und als Abschlussritual aber das ist auch was was viel gerade so Erstklässler Lehrerinnen dann noch machen was aber dann für Flüchtlingskinder noch mal so diesen Halt gibt und den Rahmen (.) dass wir uns im Kreis treffen ganz zum Schluss und das stumme Tschüss auf die Reise schicken dass sie nochmal runterkommen dann vor den Ferien habe ich jetzt nochmal was anderes gemacht aber das fällt glaube ich da nicht in die Frage rein (.) genau (Ostschule, Radstadt, LK, Z.4-12 + Z.22-34 + Z.39-46) Solder führt in der Eingangspassage im Modus einer Beschreibung aus, wie ein typischer Tagesablauf in der Vorbereitungsklasse gestaltet ist. Auffällig ist, dass die von der Interviewerin eingebrachte Formulierung ›Sprachanfänger‹ nicht aufgegriffen wird. So spricht Solder, bezogen auf ihre:seine Schüler:innen in der Vorbereitungsklasse, fast ausschließlich von Kindern oder Jungen und Mädchen, ohne sie darüber hinaus hinsichtlich ihrer Nationalität oder ihrer (deutschen) Sprachkenntnisse zu klassifizieren. Überdies bezeichnet Solder ihre:seine Klasse als »Flüchtlingsklasse« und die Schüler:innen als »Flüchtlingskinder«. Interessant ist – über die rein semantische Benennung der Schüler:innen hinaus – jedoch insbesondere die sich in der Eingangspassage andeutende Orientierung, ›Seiteneinsteiger‹ als Schüler:innen zu beobachten, die sich klar von ›Regelschülern‹ unterscheiden und entsprechend eine andere Unterrichtspraxis benötigten. Deutlich kann diese Orientierung in der Beschreibung zum Ablauf der Tagestransparenz und dem Abschlussritual rekonstruiert werden: Zunächst stellt Solder fest, dass die Tagestransparenz häufig in Grundschulen genutzt werde und daher nicht ungewöhnlich sei. In der Beschreibung zeigt sich jedoch, dass sich die Umsetzung dieses didaktischen Mittels in der Vorbereitungsklasse deutlich vom dem in der Regelklasse unterscheidet. So ist dieses stark vereinfacht und liefert nicht nur einen Überblick über den Tag, sondern dient gleichermaßen dem Erlernen des Deutschen. Es handelt sich um einen stark routinierten Ablauf, der auf der Wiederholung von zuvor auswendig gelernten Sätzen beruht. Dies wird auch in der weiteren Beschreibung deutlich. So nutzt nicht nur Solder feste Frageformulierungen, sondern auch die Schüler:innen wenden vorformulierte Sätze an, die sie entsprechend der jeweilig anstehenden Stunde reproduzieren. Indem Solder lachend davon spricht, dass alle Kinder »diese blöde @Wäscheklammer zum x-ten mal@« an die richtige Stelle hängen wollen, verweist sie:er zum einen darauf, dass die Tagestransparenz sehr häufig wiederholt wird und drückt gleich-

179

180

Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

zeitig Erstaunen über das große Interesse der Schüler:innen aus. Die ›Seiteneinsteiger‹ werden hier als Schüler:innen beschrieben, die mit großem Eifer einfache Reproduktionsaufgaben nach einem fest vorgegebenen Muster erledigen, ohne dass ihnen dabei langweilig wird. Diese Orientierung wird auch am Ende der Eingangspassage noch mal deutlich. Neben den bereits in chronologischer Reihenfolge genannten Ritualen zu Beginn und während des Schultages beschreibt Solder abschließend, wie der Tag beendet wird. Bevor sie:er genauer benennt, wie das Abschlussritual abläuft, ergänzt sie:er, dass dieses Ritual auch in ersten Jahrgangsstufen angewendet würde. Mit dem »noch« und dem Hinweis auf »Erstklässler-Lehrerinnen« wird deutlich, dass es sich um eine pädagogische Praxis handelt, die nur bei sehr jungen Schüler:innen genutzt wird. Mit einem »aber« fügt Solder eine Erklärung an, warum sie:er dieses Abschlussritual dennoch auch in ihrer:seiner Klasse, mit Schüler:innen zwischen sechs und elf Jahren, durchführt. So würde es »diesen Halt« und »den Rahmen« für »Flüchtlingskinder« geben. Der explizite Bezug auf besondere Bedürfnisse von ›Flüchtlingskindern‹ könnte darauf hinweisen, dass die Schüler:innen der Vorbereitungsklasse als vulnerable Kinder entworfen werden, die entsprechend eine spezifische Unterrichtsgestaltung mit festen Tagesstrukturen und einfachen Aufgabenstellungen benötigten. Erkennbar wird in dieser Eingangspassage, dass die Vorbereitungsklasse als eine besondere Schulklasse beschrieben wird, deren Unterrichtsgestaltung von derjenigen in einer Regelklasse klar zu unterscheiden ist. So scheinen für die Schüler:innen der Vorbereitungsklasse (unabhängig ihres Alters) emotionale Unterstützung und einfache Reproduktionsaufgaben von großer Bedeutung, die für ›Regelschüler‹ höherer Grundschulklassen zu wenig anspruchsvoll und unterfordernd wären. Auch in der Eingangspassage mit der Schulleitung der Ostschule deutet sich die Orientierung einer kategorialen Differenzierung an. So wird unterschieden zwischen ›Regelschülern‹, die keine familiäre Migrationsgeschichte aufweisen und schon lange im Einzugsgebiet der Ostschule leben, und ›Seiteneinsteigern‹, die zum Großteil aus anderen Stadtgebieten kommen und Deutsch nicht als Erstsprache erlernt haben. Ohne die Schüler:innen der Vorbereitungsklasse semantisch durch einen Begriff wie ›Seiteneinsteiger‹ zu klassifizieren, zeigt sich in beiden Eingangspassagen der Ostschule die Orientierung, eine klare Differenzierung zwischen den ›Regelschülern‹ der Ostschule und den neu hinzugekommenen ›Seiteneinsteigern‹ vorzunehmen, die auch im Unterricht der als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen handlungsleitend erscheint. Eine homologe Orientierung deutet sich in der Eingangspassage des Lehrkräfteinterviews an der Waldschule an (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.9-20 + Z.27-33). Hier weist die Vorbereitungslehrkraft Fuchs die Aufforderung der Interviewerin, einen typischen Tag zu beschreiben, als unmöglich zurück und elaboriert im Modus einer Beschreibung, inwiefern sich der Unterricht mit ›Seiteneinsteigern‹ vom Regelunterricht unterscheide. Dabei bildet der ›Seiteneinsteiger‹-Unterricht einen Gegenhorizont zum strukturierten Regelunterricht, in dem nach einem vorgegebenen Curriculum gearbeitet würde und in dem ›Regelschüler‹ sich auch eigenständig Wissen erarbeiten könnten. Es deutet sich homolog zur Ostschule die Orientierung an, dass sich ›Seiteneinsteiger‹ aufgrund fehlender Deutschkenntnisse, aber auch aufgrund ihrer Konstitution, ihrer Stimmungen und Probleme kategorial von ›Re-

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

gelschülern‹ unterscheiden. Ebenfalls deutet sich an, dass diese Orientierung in der Unterrichtsgestaltung für ›Seiteneinsteiger‹ handlungspraktisch relevant wird. Auch die Schulleitung der Westschule verweist darauf, dass es sich bei den neu migrierten Schüler:innen an der Westschule nicht um Kinder aus dem Schuleinzugsgebiet handele, sondern um Schüler:innen, die aus einem anderen Stadtteil mit dem Bus gebracht werden (Westschule, Radstadt, SL/VKL, Z.5-39). Interessant ist, dass dabei ebenfalls an der Westschule keine semantische Unterscheidung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ vorgenommen wird, sondern, ähnlich wie an der Ostschule und im Lehrkräfteinterview der Waldschule, ausschließlich von »Kindern« gesprochen wird. Dennoch kann auch hier eine eindeutig Differenzierung zwischen neu hinzukommenden Schüler:innen und ›Regelschülern‹ rekonstruiert werden, die nicht nur auf der Zuschreibung vollständig fehlender oder unzureichender deutscher Sprachkenntnisse beruht, sondern sich auch auf die Ungewissheit hinsichtlich der Leistungsund Wissensstände der neuen Schüler:innen bezieht. Es findet darüber hinaus eine klare Zuständigkeitszuweisung für die neuen Schüler:innen an Vorbereitungslehrkraft Wild statt. Eine homologe Orientierung lässt sich in der Eingangspassage mit den Regellehrkräften der Westschule rekonstruieren, die ebenso elaborieren, dass für Beschulung der neuen Schüler:innen Fachwissen notwendig sei, das sie als Regellehrkräfte nicht besäßen (Westschule, Radstadt, LK, Z.5-22). Das nicht vorhandene Wissen wird dabei insbesondere in Bezug auf ›Deutsch als Zweit-/Fremdsprache‹ thematisiert. Weitere Zuschreibungen finden – anders als bspw. in der Eingangspassage mit den Vorbereitungslehrkräften der Ostschule und der Waldschule – nicht statt und es bleibt offen, inwiefern die Differenzierung sich in der Unterrichtsgestaltung für ›Seiteneinsteiger‹ niederschlägt.   Wie anhand der Rekonstruktionen deutlich wird, zeichnen sich diese Eingangspassagen dadurch aus, dass kategorial zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ unterschieden wird, die Bezeichnung ›Seiteneinsteiger‹ jedoch scheinbar nicht zum üblichen Sprachgebrauch gehört. So wird, bis auf eine Ausnahme, durchgängig von ›den Kindern‹ gesprochen. Differenzierung II: Schüler:innen mit und ohne Migrationshintergrund Interessant ist, dass – im Kontrast zu den ersten Rekonstruktionen an der Waldschule, der Ostschule und der Westschule (Differenzierung I) – neu migrierte Schüler:innen von den Lehrkräften der Südschule zwar von ›Regelschülern‹ differenziert werden, diese Differenzierung aber nur als vorübergehend verhandelt wird. SON: Da kannst du wahrscheinlich am meisten dazu sagen @(.)@ gedacht also (.)   UR:                          └soll ich                                                                       └@(.)@ genau das habe ich mir ich ja leite hier die Auffangklasse die auch die Willkommensklasse Willkommensklasse   BOL:                   └@(.)@ 

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 UR: zwei (.)dort haben wir die älteren Schüler also hauptsächlich Dritt- und Viertklässler und das sieht so aus wir haben einen offenen Anfang die Kinder kommen alle so um viertel vor acht langsam in die Klasse […] wir lesen als erstes den Tagesplan vor und das sieht so aus dass wir das vier Mal tun also wir lesen vier Mal das gleiche vor (.) einfach damit andere Kinder einfach dieses Sprachvorbild bekommen wie sie bestimmte Formulierungen äußern müssen und damit sich das so einspielt das wird dann jeden Tag auch gemacht jeden Tag vier Mal vorgelesen zwei Jungs zwei Mädchen damit es fair bleibt ne? sonst gibt es ein großes Trara (.) und dann starten wir meistens mit dem (.) Sitzkreis mit dem Gesprächskreis es sei denn wir haben an dem Tag Sport dann gehen wir direkt in die Sporthalle so und im T- im Sitzkreis gibt es auch einen festen Ablauf (.) […] genau dann geht es weiter mit dem Satz des Tages (.) das ist eigentlich auch fest hier an unserer ganzen Schule und   BOL:                                                                                                              └auch das was du gerade sagtest mit dem Morgenkreis bei uns auch   UR:                                      └das ist eigentlich auch generell in allen Klassen so ne?   BOL:                                                                                                                            └läuft bei uns genauso genau   SON: └in etwas abgespeckter Form meistens ne?   UR:                                                                                  └also  ihr  wiederholt  nicht  viermal  das  Datum  oder  den  Kalender  ne?   SON: └wir machen das jetzt nicht viermal   BOL:                                                                    └bei uns wird das dann nur einmal genannt ne? aber ich sage mal wenn die Kinder jetzt zum Beispiel aus der Auffangklasse oder Willkommensklasse irgendwann zu uns in die Regelklasse kommen kennen die dieses diese Rituale auch schon oder diese Strukturen die wir da haben ne? das ist für die jetzt nicht fremd sondern sie kennen das schon von früher und wir führen das halt so fort (Südschule, Radstadt, LK, Z.4-10 + 14-22 + Z.34-50) Die Lehrkräfte elaborieren im Modus einer kontrastiv-vergleichenden Beschreibung die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Unterrichtsgestaltung in den Vorbereitungsund Regelklassen. Deutlich zeigt sich dabei, dass die Vorbereitungsklasse als ein Übergangsort entworfen wird, in dem neu migrierte Schüler:innen auf den Unterricht in den Regelklassen vorbereitet werden. Das Einüben von Ritualen und das Erlernen von Tagesabläufen wird als besonders relevant ausgewiesen, da sich dadurch der Übergang in die Regelklasse unproblematisch gestalte. Auffällig ist, dass die Vorbereitungslehrkraft und die Regelklassenlehrkräfte gemeinsam die Ähnlichkeiten in der Unterrichtsgestal-

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tung elaborieren (»generell in allen Klassen so«, »bei uns genauso«). Ein Unterschied gegenüber dem Unterricht in der Vorbereitungsklasse sei, dass der Regelunterricht ein ›abgespeckter‹ Unterricht sei. Die Formulierung weist den Vorbereitungsunterricht als umfangreicher gegenüber dem Regelunterricht aus. Im Gegensatz zu den Eingangspassagen der Lehrkräfteinterviews an der Ostschule und Waldschule wird der Vorbereitungsunterricht dabei aber nicht als anspruchslos dargestellt. Die Beschulung von neu migrierten Schüler:innen wird darüber hinaus als eine Selbstverständlichkeit verhandelt und nicht problematisiert. Ähnlich beschreibt die Schulleitung der Bergschule die Beschulung von Kindern mit geringen Deutschkenntnissen als eine besondere Aufgabe, die spezielle Konzepte benötige (Bergschule, Flurstadt, SL, Z.1-9 + 13-21). Gleichzeitig deutet sich auch hier die Orientierung an, die Beschulung dieser Schüler:innen als selbstverständliche Aufgabe der Schule zu entwerfen. So wird von der Schulleitung betont, dass die Bergschule schon immer einen sehr hohen ›Migrationsanteil‹ aufgewiesen habe und daher bereits seit geraumer Zeit mit spezifischen Konzepten arbeite, die sich auf alle Schüler:innen der Bergschule beziehen. Die Bergschule wird als eine Schule in einem besonderen Stadtteil entworfen und eine Unterscheidung zwischen Kindern mit und ohne ›Migrationshintergrund‹ vorgenommen. Zusätzlich wird jedoch keine weitere Differenzierung hinsichtlich neu migrierter Schüler:innen artikuliert. Differenzierung III: Intrakategoriale Differenzierung neu migrierter Schüler:innen Die Vorbereitungslehrkraft der Bergschule elaboriert abweichend von der Schulleitung, wie neu migrierte Schüler:innen in verschiedene Alters- und Leistungsniveaus differenziert und entsprechend in unterschiedlichen Gruppen unterrichtet werden (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.5-30). Eine Differenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ in niveaudifferenzierte Deutschgruppen scheint dabei einerseits durch die altersbezogene Zuteilung zu den Jahrgangsstufen überlagert zu sein, gleichzeitig weist die Vorbereitungslehrkraft darauf hin, dass auch ältere ›Seiteneinsteiger‹ selbst in der ›einfachsten Gruppe‹ nicht zurechtkämen. Es bleibt an dieser Stelle damit zunächst offen, wie die alters- und leistungsbezogenen Differenzierungen organisatorisch und praktisch umgesetzt werden. Spezifischer wird die intrakategoriale Differenzierung von neu migrierten Schüler:innen an der Flussschule ausformuliert. Im Modus einer Beschreibung elaboriert Schulleitung Moser, dass die Flussschule auf eine langjährige Erfahrung in der Aufnahme von ›Seiteneinsteigern‹ zurückblicken könne. MO: Also wir sind jetzt seit Längerem eine sogenannte Seiteneinsteigerschule (.) seit fünf sechs Jahren schon und natürlich die Zahlen der sogenannten Seiteneinsteigerkinder also die diesen Status haben steigt kontinuierlich das sieht jetzt also so aus also momentan haben wir etwas über dreißig Seiteneinsteigerkinder […] also im ersten Jahr sind über fünfzehn wirklich absolut Sprachanfänger sind im zweiten Jahrgang eben auch also das ist die Masse und dann im dritten vierten Jahrgang sind es also von der Zahl her weniger ja so zwei Drittel im ersten zweiten Jahrgang kann man sagen wir machen es immer noch so bislang konnten wir uns diesen Luxus also erlauben dass die Kinder also wir haben keine spezielle Förderklasse (.) wir die Kinder werden bei uns also direkt einer sogenannten Stammklasse zugewiesen und erhalten dann

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allerdings noch einen besonderen Plan eine ganz intensive Deutschförderung […] (.) mit dem System sind wir sehr gut gefahren weil die Kinder sehr sehr schnell den Anschluss an ihre Klasse finden weil sie fühlen sich auch von Anfang an jetzt nicht als Sondergruppe sondern schon mehr weil sie der Hauptunterricht der Masse und der halt der größte Teil der Unterricht findet schon in der Klasse statt so dass also von Anfang an sich ihrer Klasse zugehörig fühlen und nicht erst danach peu à peu dann da eingegliedert werden müssen und da haben wir also sehr gute Erfolge mit es läuft also sehr gut also bei Kindern die normal begabt sind die lernen das also recht schnell die sind innerhalb von zwei drei Monaten finden die also schon den Anschluss an die Klasse das geht sehr schnell bei Kindern klar es gibt eben je nachdem wie ein Kind also von der von wirklichen Begabung ist haben welche Langsamlerner die brauchen eben auch in dem Bereich dann eben länger ist aber jetzt ganz egal welches Kind das ist das hängt eben von der jeweiligen ja Begabung eines Kindes ab es gibt die Schnelllerner und eben die Langsameren da gibt es eben weil wir an der Grundschule eben Kinder aller Begabungsstufen haben und wirkliche Gesamtschule sind ja ist da eben großer Differenzierungsbedarf ne (.) (Flussschule, Flurstadt, SL, Z.5-8 + Z.14-20 + Z.28-42) Während Moser bezogen auf die Anzahl der neu migrierten Schüler:innen sowie der jahrelangen Erfahrung mit diesen Schüler:innen von »sogenannten Seiteneinsteigerkindern« und einer »sogenannte[n] Seiteneinsteigerschule« berichtet, werden diese Begriffe hinsichtlich der Beschreibung der an der Schule etablierten Beschulungspraxis nicht mehr benutzt. So spricht Moser im weiteren Verlauf der Passage ausschließlich von »Sprachanfängern« und »Kindern« und führt aus, dass die ›Seiteneinsteiger‹ zwar entsprechend ihrer jeweiligen ›Begabung‹ schneller oder langsamer den Anschluss an ihre Klasse finden würden, die unterschiedliche ›Begabung‹ der Kinder jedoch kein Spezifikum dieser Schüler:innen sei, sondern Grundschulen generell mit einer großen Varianz an »Begabungsstufen« konfrontiert seien. Dabei drückt sich in der Formulierung »Schnelllerner« und »Langsamlerner« eine kategoriale Differenzierung aus, die mit Annahmen über differente ›Begabungen‹, mit denen Schüler:innen an die Grundschule kämen, begründet wird. Hier deutet sich ein auch heute wieder aktueller wissenschaftlicher Diskurs an, in dem u.a. von Herrnstein und Murray (1994) die These vertreten wird, dass insbesondere die genetische Ausstattung, die sich in verschiedenen Intelligenzquotienten zeige, schulische Leistungen beeinflusse (vgl. Herrnstein/Murray 1994; s. hierzu kritisch u.a. Rhyn 1995). Diese naturalistischen Thesen richten sich damit gegen die seit den 1950er-Jahren u.a. durch Roth und Aebli (1980) gestärkten lern- und umwelttheoretischen Annahmen, die sich von der Vorstellung, Begabung sei genetisch veranlagt deutlich abgrenzen.9 Es zeigt sich damit zum einen, dass der Begriff ›Seiteneinsteiger‹ von der Schulleitung nur im Zusammenhang mit der Benennung offizieller Zahlen und Verwaltungsaspekten genutzt wird und mit den Formulierungen ›sogenannte Seiteneinsteiger‹ eine

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Inwiefern diese Orientierung einer kategorialen Differenzierung in Anknüpfung an einen naturalisierten Begabungsbegriff im Unterrichten von Schüler:innen handlungspraktisch relevant wird, wird im Weiteren (Kap. 6.4-6.7) genauer untersucht.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

gewisse Distanz zu dem offiziellen Sprachgebrauch hergestellt wird. Zum anderen deutet sich in den weiteren Ausführungen an, dass Moser neu migrierte Schüler:innen zwar hinsichtlich ihrer Beherrschung der (deutschen) Sprache von ›Regelschülern‹ unterscheidet, darüber hinaus aber keine kategoriale Differenzierung vornimmt. Vielmehr verweist Moser darauf, dass alle Schüler:innen bezogen auf ihre jeweilige ›Begabung‹ kategorial entsprechend ihrer Begabung differenziert werden könnten (»Schnelllerner« vs. »Langsamlerner«). Es findet entsprechend eine Normalisierung des ›Seiteneinsteiger‹-Status statt, indem die neu migrierten Schüler:innen genauso wie ›Regelschüler‹ beobachtet und klassifiziert werden. Die Orientierung an einer intrakategorialen Leistungsdifferenzierung von (neu migrierten) Schüler:innen sowie gleichzeitig einer Normalisierung des Status ›Seiteneinsteiger‹ deutet sich auch in der Eingangspassage mit den Lehrkräften der Flussschule an. MOH: Soll ich anfangen? (.) ja wir haben erst mal die Gruppen nach Jahrgängen und nach Leistung sortiert wir haben so ca. sieben bis acht Kinder pro Gruppe manche haben auch mehr das hängt immer darauf an kommt immer darauf an wie viel Schüler wir halt haben und im Moment hat haben wir das sodass in der ersten und zweiten Stunde immer Seiteneinsteigerunterricht ist und dann werden die Kinder aus der Klasse gesondert gefördert in Kleingruppen und danach arbeiten sie ganz normal im Klassenverband wieder mit in anderen Fächern zum Beispiel Kunst Mathematik (.) ne? Sport   ROS: Ja ich hab die Seiteneinsteigergruppe mit den Erstklässlern das heißt die werden da läuft Alphabetisierung und Spracherwerb parallel genau wie die Kollegin schon sagte in den ersten beiden Stunden und danach werden die Kinder in die normale Klasse geschickt (Flussschule, Flurstadt, LK 3, Z.4-13) Vorbereitungslehrkräfte Mohn und Rosenthal elaborieren im Modus einer Beschreibung, dass die Zuweisung der ›Seiteneinsteiger‹ zu den leistungsdifferenzierten Vorbereitungsgruppen nach Jahrgangszuordnung und Leistungsstand erfolge. Für die neu migrierten Schüler:innen wird zwar ein spezieller »Seiteneinsteigerunterricht« abgehalten, interessant ist aber der Hinweis, dass die Kinder danach »normal im Klassenverband« bzw. »in die normale Klasse« zurückkehren würden. Hier deutet sich an, dass die ›Seiteneinsteiger‹ mit dem täglichen Übergang in die Regelklassen zu ›Regelschülern‹ werden, die im Klassenunterricht mitarbeiten – wie alle anderen Schüler:innen auch. Für die Deutschförderung werden neu migrierten Schüler:innen von ›Regelschülern‹ differenziert, die Zuweisung zu den niveaudifferenzierten Unterrichtsgruppen erfolgt daraufhin jedoch entsprechend der in der Organisation Schule etablierten Differenzierungspraxis nach Alter und vermuteten Leistungsstand. Sie unterscheidet sich damit nicht von der Klassifizierung von ›Regelschülern‹, die ebenfalls entsprechend ihres Alters und ihres angenommenen Leistungsstandes in Klassen eingeteilt sind. Darüber hinaus scheinen ›Seiteneinsteiger‹ nicht von ›Regelschülern‹ unterschieden zu werden, wie sich auch in der Eingangspassage der Schulleitung andeutet. Auch die an der Flussschule beschäftigte Vorbereitungslehrkraft Worm elaboriert in der Eingangspassage im Modus einer Beschreibung, dass die ›Seiteneinsteiger‹ entlang ihrer deutschen Sprach-

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kenntnisse, ihrem Grad der Alphabetisierung und ihrem Alter in drei verschiedene niveaudifferenzierte Gruppen eingeteilt würden (Flussschule, Flurstadt, LK 1, Z.4-22). An der Flussschule deutet sich entsprechend in allen drei Interviews in den Eingangspassagen eine intrakategoriale Differenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ nach Leistung bzw. nach ›Begabung‹ an, die Grundlage für die Organisation der Beschulung zu sein scheint.   Die Schulleitung der Südschule und die Schulleitung der Waldschule nehmen ebenfalls eine intrakategoriale Differenzierung neu migrierter Schüler:innen vor, diese beruhen jedoch auf anderen Beobachtungsdimensionen als an der Flussschule. So elaboriert die Schulleitung der Südschule zunächst im Modus einer Argumentation, dass die Südschule aufgrund des hohen Anteils an neu migrierten Schüler:innen eine außergewöhnliche Schule sei und präsentiert die Schule als einen Ort, an dem ›deutsche Kinder‹ in der absoluten Minderheit seien und auch diese Kinder darüber hinaus – genauso wie die ›Seiteneinsteiger‹ – keine ausreichenden Deutschkenntnisse aufweisen würden. Auffällig ist in den Ausführungen, dass Ittel den (angenommenen) Nationalitäten der Schüler:innen Relevanz zuschreibt: ITT: man muss natürlich dazu sagen dass bei uns in den Klassen ja sowieso auch alles Sprachförderung ist also in jedem Fach weil ja alle Kinder das brauchen nicht nur die neu Zugewanderten (.) das hat sich im Laufe der Jahre so ein bisschen verändert also wir haben eine ganz bunt gemischte Bevölkerungsgruppe (.) aber wir haben so einen Hauptbestandteil und das sind die Kinder aus Rumänien also Romafamilien die einen ganz großen Prozentsatz unserer Kinder ausmachen (.) und da haben wir eben das Gefühl die kommen zu uns sind auch manchmal schon acht oder neun waren nie in der Schule und haben auch keine vorschulischen Erfahrungen also da fehlt es jetzt nicht nur an Sprache (.) und da haben wir manchmal das Gefühl dass da auch einfach vier oder fünf Jahre bei uns gar nicht mehr reichen und jetzt haben wir so seit einem dreiviertel Jahr (.) viele syrische Familien die zu uns kommen und da erleben wir das ganz anders also da erleben wir Kinder sind sechs Wochen in der Willkommensklasse und können dann eigentlich in der Regelklasse gut mitarbeiten und sind oft schon fitter auch sprachlich fitter als Kinder die ja schon deutlich länger hier sind ne? (.) (Südschule, Radstadt, SL, Z.Z.32-45) Die Schulleitung differenziert hier nicht nur zwischen ›deutschen Kindern‹ und ›Seiteneinsteigern‹, sondern – bezogen auf die aktuellen ›Seiteneinsteiger‹ an der Schule – auch zwischen ›Rumänen/Roma‹ und ›Syrern‹. Während ›die Rumänen/Roma‹ den negativen Horizont bilden, da für diese Schüler:innen auch eine verlängerte Grundschulzeit kaum ausreiche, um alles aufzuholen, was ihnen ›fehle‹, stellen ›Kinder aus Syrien‹ einen positiven Gegenhorizont dar, indem sie als Schüler:innen mit ›guten Voraussetzungen‹ und ›schneller Auffassungsgabe‹ präsentiert werden. Hier deutet sich nicht nur die Orientierung an, ›Seiteneinsteiger‹ als selbstverständlich zugehörig zur Schule anzusehen, sondern darüber hinaus zeigt sich in der Eingangspassage auch eine intrakategoriale Differenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ nach ihren (angenommenen) Nationalitäten, die mit unterschiedlichen Erwartungen hinsichtlich ihrer schulischen Fähigkeiten verknüpft werden.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Ebenso wie im Schulleitungsinterview an der Südschule wird auch von der Schulleitung der Waldschule eine intrakategoriale Differenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ hinsichtlich ihrer jeweiligen Herkunft und ihres Migrationsanlasses eingeführt und diese Differenzierung gleichzeitig als besonders relevant für die »Praxis« ausgewiesen (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.4-16). Worauf genau sich die dabei benannte Unterscheidung von »EU-Flüchtlinge […] aus dem EU-Ausland«, »welche aus sicheren Drittstaaten« und »aus Kriegsgebieten« bezieht, erscheint nicht ganz klar. So gelten Norwegen und die Schweiz z.B. als ›sichere Drittstaaten‹, werden aber – neben allen EU-Mitgliedsstaaten – gleichzeitig auch unter der Bezeichnung ›EU-Ausland‹ gefasst. In der Differenzierung könnte sich jedoch eine im öffentlichen, politischen und medialen Diskurs präsente kontrastive Gegenüberstellung zwischen ›echten Flüchtlingen‹ aus Kriegsgebieten mit legitimen Aufenthaltsanspruch in Deutschland und ›unechten Flüchtlingen‹ ohne legitimen Anspruch auf einen dauerhaften Aufenthalt dokumentieren (vgl. Scherr 2015a: 5; für den medialen Diskurs insbesondere Jäger/Wamper 2017). Es deutet sich hier die handlungsleitende Orientierung an, dass mit den ›Seiteneinsteigern‹ entsprechend ihrer Herkunft und ihres Migrationsgrundes unterschiedlich verfahren werden müsste. Fallübergreifende Zusammenführung Die Rekonstruktionen der Eingangspassagen zeigen, dass alle Interviewpartner:innen die von der Interviewerin im Eingangsimpuls eingebrachte Differenzierung zwischen ›Regelschülern‹ und ›Schüler:innen mit geringen (deutschen) Sprachkenntnissen‹ aufgreifen. Gleichzeitig konnten jedoch unterschiedliche Orientierungsgehalte rekonstruiert werden: An der Südschule und der Waldschule konnte in den Eingangspassagen der Schulleitungen neben einer kategorialen Unterscheidung eine intrakategoriale Differenzierung rekonstruiert werden. ›Seiteneinsteiger‹ werden von den Schulleitungen hinsichtlich ihrer angenommenen Herkunft differenziert, die mit unterschiedlichen schulischen Fähigkeiten verknüpft wird. Auffällig ist, dass sich diese intrakategoriale Differenzierung an beiden Schulen nur bei den Schulleitungen, nicht aber in den Eingangspassagen der Lehrkräfteinterviews rekonstruieren lässt. Gleichzeitig zeigt sich in den Lehrkräfteinterviews, dass die kategoriale Unterscheidung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ genauso wie an der Ostschule und der Westschule in der Unterrichtsgestaltung für ›Seiteneinsteiger‹ handlungspraktisch relevant wird. In den Eingangspassagen an der Ostschule und der Westschule – die beide erst seit weniger als zwei Jahren neu migrierte Schüler:innen unterrichten – wird die Orientierung erkennbar, kategorial zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ zu unterscheiden, ohne dass semantisch die Bezeichnung ›Seiteneinsteiger‹ genutzt wird. Auch an der Bergschule deutet sich eine intrakategoriale Differenzierung von ›Seiteneinsteigern‹ entsprechend ihres deutschen Sprach- und Leistungsstandes an. Gleichzeitig werden die neu migrierten Schüler:innen unter die Gruppe der ›Kinder mit Migrationshintergrund‹ subsumiert, die zwar von ›Kindern ohne Migrationshintergrund‹ unterschieden werden, dabei aber – anders als bspw. an der Ostschule – zum regulären Schüler:innenklientel der Bergschule gezählt werden. Auch in den Eingangspassagen der Flussschule zeigt sich eine intrakategoriale Differenzierung von ›Seiteneinsteigern‹ nach Leistung. Anders als an den anderen Schulen finden an der Bergschule und der Flussschule eine Normalisierung des ›Seiteneinsteiger‹-Status statt, indem ›Seiteneinsteiger‹ genauso wie ›Regelschüler‹ entsprechend der in der Organisation Schule

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etablierten Differenzierungspraxis nach Alter und angenommenen Leistungsstand beobachtet werden. Gleichzeitig deutet sich im Einzelinterview mit der Vorbereitungslehrkraft Worm (der Flussschule) die Orientierung an, geringere schulische Erwartungen an ›Seiteneinsteiger‹ zu richten.   Erkennbar wird in den Eingangspassagen, dass neu migrierte Schüler:innen in Bezug auf die Beobachtungsdimensionen ›Sprache‹, ›Alter‹, ›Leistung‹, ›Sozialisation‹ und ›Kultur‹ beobachtet und zum Teil als different vom ›normalen Schüler:innenklientel an einer deutschen Schule‹ charakterisiert werden. Auf diese fünf Aspekte wird im Folgenden auf der Grundlage weiterer Passagen detaillierter eingegangen und es werden die in der Beobachtung von ›Seiteneinsteigern‹ deutlich werdenden Orientierungen an den Schulen rekonstruiert.

6.3.1.2

Sprache

Wie bereits in der Analyse der Eingangspassagen dargelegt, werden ›Seiteneinsteiger‹ in allen Interviews des Samples von den Schulleitungen und Lehrkräften als Schüler:innen mit keinen oder geringen deutschen Sprachkenntnissen beobachtet. Im fallexternen Vergleich zeigt sich jedoch, dass diese Beobachtungen sehr unterschiedlich gerahmt werden. So werden ›Seiteneinsteiger‹ an der Bergschule und der Südschule hinsichtlich der beobachteten geringen deutschen Sprachkenntnisse nicht vom restlichen Schüler:innenklientel der Schulen unterschieden. Demgegenüber werden ›Seiteneinsteiger‹ (und ihre Eltern) an der Westschule, der Ostschule, der Waldschule und der Flussschule hinsichtlich (nicht) vorhandener Deutschkenntnisse kategorial von ›Regelschülern‹ differenziert. Normalisierung Im Anschluss an die Eingangspassage wird im Interview mit der Schulleitung der Südschule von der Interviewerin eine erzählgenerierende immanente Frage nach den Erfahrungen mit den Deutsch-Sprachförderkonzepten für ›Seiteneinsteiger‹ gestellt. JJ: Ahja ok ok (.) und welche Erfahrung machen Sie mit (.) dieser Praxis?   ITT: Ja also wie gesagt (.) ich glaube für uns ist das gar nicht so ungewöhnlich weil alle unsere Kinder das brauchen ich halte diese separierten Systeme von Willkommensklassen nicht für geeignet also schon gar nicht an Schulen die jetzt an anderen Standorten sind wo jetzt in den Regelklassen gutes Deutsch gesprochen wird glau- halte ich das für völlig falsch Kinder zu separieren eine Gruppe wo alle Kinder kein Deutsch sprechen (.) ich glaube die würden viel viel schneller Deutsch lernen wenn sie einfach direkt in die Regelklassen gehen bei uns ist das ein bisschen anders weil @(.)@ (.) wir keine Sprachvorbilder haben außer die Lehrperson (.) (Südschule, Radstadt, SL, Z.49-57) Ittel elaboriert im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme die bereits in der Eingangspassage entfaltete Perspektive, dass die Südschule nicht erst durch die Aufnahme von ›Seiteneinsteigern‹ mit Deutsch-Sprachförderkonzepten befasst sei. Deutsche Sprachförderung wird als integraler Bestandteil der Bildungspraxis an der Südschule beschrieben und alle Schüler:innen der Südschule werden als ›Kinder mit

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Deutsch-Sprachförderbedarf‹ entworfen. Mit dem Hinweis, dass es neben den Lehrkräften keine anderen Sprachvorbilder an der Südschule gebe, knüpft Ittel an die zu Anfang getätigte Aussage an, dass alle Kinder an der Südschule Deutschförderkonzepte benötigten. Dabei wird durch Ittels Lachen wie auch der kontrastiv-vergleichenden Gegenüberstellung zu Schulen, in deren Regelklassen »gutes Deutsch« gesprochen werde, die Spezifität der Situation an der Südschule nochmals hervorgehoben. Fehlende oder als nicht ausreichend eingeschätzte deutsche Sprachkenntnisse werden nicht als eine Eigenheit von ›Seiteneinsteigern‹ verhandelt, vielmehr wird die Südschule als eine Schule präsentiert, die in dieser Hinsicht ein ›besonderes‹ Schüler:innenklientel unterrichtet. Unter diesem ›besonderen‹ Schüler:innenklientel werden die ›Seiteneinsteiger‹ von Ittel bezüglich ihrer deutschen Sprachkenntnisse nicht als eine spezifische Gruppe beobachtet und es finden nicht nur nicht in dieser Passage, sondern auch im weiteren Verlauf des Interviews keine Problembeschreibungen hinsichtlich des deutschen Sprachstandes von ›Seiteneinsteigern‹ statt. Ähnlich werden fehlende Deutschkenntnisse von ›Seiteneinsteigern‹ auch von den Lehrkräften der Südschule nicht als Problem beschrieben, sondern auf die positiven Entwicklungen der Schüler:innen verwiesen: BOL: Ja und die leisten ja auch wirklich einiges wenn man überlegt dass die hier hin kommen und wirklich kein Wort Deutsch sprechen und wie nicht im Kindergarten waren auch in den ersten Jahren nicht in der Schule und dann kommen die zu uns also was die ja in der Kürze der Zeit auch leisten das darf man ja auch nicht vergessen was die dann schaffen in bestimmte Fällen   UR: Ja ich sehe das auch bei mir also diejenigen die wirklich regelmäßig kommen die kommen auch gerne und die haben auch eine unheimlich große Motivation das muss man sagen ne? und die freuen sich über jeden Fortschritt also hier meinen Lorenzo der jetzt die Buchstaben kann nicht alle aber schon gut die Hälfte der der ist ich sehe das Strahlen in den Augen dass er mal ein kurzes Wort erlesen kann und das freut einen dann auch ne? (Südschule, Radstadt, LK, Z.718-727) Regelklassenlehrkraft Boldt zeichnet im Modus einer Beschreibung das Bild von ›Seiteneinsteigern‹, die aufgrund vollständig fehlender Deutschkenntnisse und fehlender (vor-)schulischer Erfahrungen mit schwierigen Voraussetzungen in die Schule kämen. Es zeigt sich gleichwohl, dass auch für Schüler:innen ohne deutsche Sprachkenntnisse gute schulische Erfolge als realisierbar entworfen werden. Mit dem Einschub »in bestimmten Fällen« wird gleichzeitig jedoch eine Einschränkung eingeführt. So wird verdeutlicht, dass diese positive Entwicklung nur von manchen ›Seiteneinsteigern‹ geleistet würde. Vorbereitungslehrkraft Url validiert Boldts Aussage mit einem »Ja« und elaboriert im Modus einer exemplifizierenden Erzählung die von Boldt eingebrachte Orientierung, dass diejenigen ›Seiteneinsteiger‹, die Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Motivation an den Tag legten, schnelle Fortschritte im Deutschen zeigen würden. Fehlende Deutschkenntnisse werden von den Lehrkräften nicht als besonders außergewöhnliches Merkmal erörtert, sondern vielmehr als ein ›Merkmal‹ unter vielen verhandelt. Wie in Kapitel 6.5 herausgearbeitet wird, stellen ausreichende deutsche

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Sprachkenntnisse dennoch an der Südschule ein wichtiges Kriterium für den Wechsel von ›Seiteneinsteigern‹ in die ›Regelklasse‹ dar. Eine homologe Orientierung, ›Seiteneinsteiger‹ auf Grundlage ihrer (wenigen) Deutschkenntnisse als ›normales‹ Schüler:innenklientel der Schule zu entwerfen, lässt sich ebenfalls an der Bergschule rekonstruieren. Auch hier elaborieren die Lehrkräfte, dass ›Seiteneinsteiger‹ an der aufgrund ihrer (geringen) Deutschkenntnisse nicht als eine besondere Schüler:innengruppe in Erscheinung treten würden. Begründet wird dies – homolog zur Südschule – mit den übrigen Schüler:innen der Bergschule. So gebe es ›Regelschüler‹, die noch weniger Deutsch sprechen könnten als die ›Seiteneinsteiger‹.   Die Interviews an der Südschule und der Bergschule zeichnen sich dadurch aus, dass die Lehrkräfte und die Schulleitungen, die als ›Seiteneinsteiger‹ an die Schule kommenden neuen Schüler:innen hinsichtlich ihrer Deutschkenntnisse nicht als different von der übrigen Schüler:innenschaft beobachten. So werden an beiden Schulen allen Schüler:innen fehlende deutsche Sprachfähigkeiten attestiert und die Schulen als Bildungsorte mit einem besonderen Schüler:innenklientel entworfen. Kategoriale Differenzierung I: ›Fehlende Deutschkenntnisse der ›Seiteneinsteiger‹‹ An der Ostschule werden ›Seiteneinsteiger‹ genauso wie an der Südschule im parallelen Modell unterrichtet. KON: aber sie nehmen halt vom ersten Tag an dann auch (.) regulär an dem Unterricht in der Klasse teil egal wie die Sprachkenntnisse sind (.) es wird bei uns nur Deutsch gesprochen mit den Kindern allerdings können sie sich zum Teil untereinander helfen weil es immer Spanisch sprechende Kinder gibt Arabisch sprechende Kinder und (.) so können sie sich untereinander ein bisschen stützen (.) (Ostschule, Radstadt, SL, Z.56-60) Im Modus einer Beschreibung elaboriert Schulleitung Konrad, dass der deutsche Sprachstand der ›Seiteneinsteiger‹ für die Teilnahme am Unterricht in der Vorbereitungsklasse keine Relevanz besitze. Auch im weiteren Verlauf des Interviews findet keine Problematisierung fehlender deutscher Sprachkenntnisse statt – solange sich die ›Seiteneinsteiger‹ in der Vorbereitungsklasse befänden. Da ›unzureichende‹ Deutschkenntnisse beim Wechsel in die Regelklasse hingegen als ›Problem‹ beschrieben werden (s. Kap. 6.5.), deutet sich hier eine auf Sprachkenntnisse rekurrierende kategoriale Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ an. Die Vorbereitungslehrkraft der Ostschule weist darüber hinaus die große Heterogenität hinsichtlich der deutschen Sprachkenntnisse der ›Seiteneinsteiger‹ innerhalb der Vorbereitungsklasse – welche durch Fluktuationen und unterjährige Zuweisungen entstünden – als eine Herausforderung in der Unterrichtsgestaltung aus. So werden unterschiedliche Niveaustufen in Deutsch zu einem Differenzierungsanlass im Unterricht. SO: dann kriegt man noch so einen Schwung Neue da waren auch Arabisch sprechende große Kinder dabei zehn Jahre die mussten ja erst mal das lateinische Alphabet

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

lernen ne? und also so es wird auf mehreren Stufen da muss man da wirklich differenzieren ne? (Ostschule, Radstadt, LK, Z.163-166) Gleichzeitig deutet sich die Orientierung an, fehlende Deutschkenntnisse als eine Eigenschaft unter vielen (u.a. unterschiedliche (angenommene) Nationalitäten und Altersgruppen) zu entwerfen, die insgesamt dazu führten, dass in den Vorbereitungsklassen nur bedingt eine systematische Wissensvermittlung stattfinden könne. Eine ähnliche Orientierung kann an der Waldschule rekonstruiert werden. Hier elaborieren Vorbereitungslehrkraft und Regelklassenlehrkraft gemeinsam die Orientierung, dass (deutsche) Sprachkenntnisse lediglich einen Aspekt unter vielen darstelle, die den ›Seiteneinsteigern‹ zunächst erst mal vermittelt werden müssten, und entsprechend nur eine Herausforderung neben anderen sei (»ja also es ist sehr viel mehr als Sprachenlernen«, Waldschule, Flurstadt, LK, Z.271-272). Es deutet sich an, dass ›Seiteneinsteiger‹ nicht nur als Schüler:innen ›mit einem Förderbedarf in der deutschen Sprache‹, sondern darüber hinaus auch als Schüler:innen ›mit Bedarfen‹ in einer ganzen Reihe weiterer ›Fähigkeiten und Kompetenzen‹ beobachtet werden.10   Etwas anders stellt sich die Situation an der Westschule dar. So werden fehlende deutsche Sprachkenntnisse von den Lehrkräften sowie der Schulleitung als ein spezifisches Problem mit handlungspraktischer Relevanz in der Unterrichtsgestaltung beschrieben: DIE: Also Emilia versteht auch ganz viel nicht in Sport auch und so ne? also es ist also merkt man dann auch dann machen die was ganz anderes und (.) das Problem ist wenn man nicht so irgendwas hat so wie Englisch oder so oder irgendeine Sprache wo man   ABE:                                                             └hmhm ja   DIE: da ga- manchmal habe ich sogar einen Translator haben wir dann mit dem Handy uns auch praktische Hilfe geholt wenn wir dann so organisatorische Sachen haben   ?:                 └hmhm (zustimmend)   ?:                                └hmhm (zustimmend)   DIE: hatten die zu regeln war wie zum Beispiel jetzt werdet ihr aufgeteilt und ihr müsst in eine andere Klasse das ist einfach auch nicht mit Händen und Füßen zu erklären und und da haben wir uns dann auch Hilfe mit dem Handy genomm- geholt und haben das 10

An der Waldschule wird von der Schulleitung das Sprechen der Herkunftssprache von ›Seiteneinsteigern‹ im Unterricht problematisiert, da hierdurch das Lernziel, die deutsche Sprache zu erlernen, nicht erreicht werden könne (»haben wir […] Kindern gehabt die dann oft untereinander rumänisch gesprochen haben was wir natürlich eigentlich gar nicht wollen sondern die sollen ja Deutsch lernen«, Waldschule, Flurstadt, SL, Z. 80-85). Abgesehen von Schwierigkeiten bei Maßregelungen der Schüler:innen findet sich im Interview jedoch keine weitere Problematisierung oder Thematisierung fehlender deutscher Sprachkenntnisse in Bezug auf den Unterrichts- oder Schulalltag.

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da oder ich ha- oder morgen erst zur zweiten Stunde oder das das einfach dann ging es schneller   ABE: Aber das stimmt schon was du anfangs gesagt hast die die die laufen jetzt mehr oder weniger so mit ne? das ist nicht zu schaffen mehr im im ersten wahrscheinlich in   DIE:                                        └ja   ABE: der anderen Stufe auch nicht wenn (.) das ist Wahnsinn (.) (Westschule, Radstadt, LK, Z. 284-300) Lehrkraft Dietrich elaboriert im Modus einer exemplifizierenden Erzählung, welche Probleme fehlende deutsche Sprachkenntnisse der ›Seiteneinsteiger‹ erzeugten. Auffällig ist das von Dietrich gewählte Beispiel ›Emilia im Sportunterricht‹: Hier wird deutlich, dass auch in einem anschaulichen Unterrichtsfach, in dem eine Teilnahme vielfach durch reines Nachahmen möglich ist, die Sprachbarriere zu groß sei, um die ›Seiteneinsteiger‹ in das Unterrichtsgeschehen einzubinden. Ohne dass weitere Hinweise notwendig wären, weist dieses Beispiel damit auf potenziell noch größere Probleme in anderen, stärker sprachbasierten Unterrichtsfächern hin. In einer Zwischenkonklusion im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme bestätigt Abel den von Dietrich eingebrachten Orientierungsgehalt, dass ›Seiteneinsteiger‹ aufgrund fehlender Deutschkenntnisse in der Regelklasse nicht angemessen unterrichtet werden könnten. Die an der Westschule praktizierte teilintegrative Beschulung wird dabei von Abel als etwas beschrieben, das »nicht zu schaffen« und »Wahnsinn« sei. Mit diesen Formulierungen wird herausgestellt, dass eine angemessene Beschulung der ›Seiteneinsteiger‹ nicht am fehlenden Willen der Lehrkräfte scheitere, sondern in den Rahmenbedingungen und den ungenügenden Deutschkenntnissen der ›Seiteneinsteiger‹ begründet läge. Durch die Betonung der besonderen Herausforderung und der Formulierung »die laufen jetzt mehr oder weniger so mit«, die sich auf eine zuvor getätigte Feststellung von Dietrich bezieht11 , deutet sich an, dass fehlende Deutschkenntnisse der ›Seiteneinsteiger‹ von den Lehrkräften der Westschule zur Legitimation des Ausschlusses der ›Seiteneinsteiger‹ von der Unterrichtskommunikation in der Regelklasse herangezogen werden (könnten). Im Weiteren muss diese These einer genaueren Prüfung unterzogen werden (s. hierzu Kap. 6.4). Interessant ist in dieser Passage darüber hinaus die von Dietrich im Modus einer Erzählung elaborierte Problemlösungsstrategie, welche von zwei weiteren Lehrkräften einfach validiert wird – was darauf hinweist, dass es sich hierbei um eine gängige Praxis an der Schule handelt. So werde zur Überwindung von Sprachbarrieren auf ein Übersetzungsprogramm auf dem Handy zurückgegriffen. Auffällig ist, dass diese Über11

Die Aussage von Dietrich, auf die sich Abel hier wahrscheinlich bezieht, lautet: DIE: Aber es ist also bei uns in der Klasse eins ist es schon so die drei Kinder die jetzt gekommen sind die sprechen kein Wort Deutsch und (.) also ganz ehrlich ich habe keine Zeit da mit denen noch separat irgendwelche Sprachübungen oder Wortschatzerweiterungen zu machen geht nicht (.) kann ich nicht und (.) die sind sitzen da jetzt und versuchen irgendwie da (.) zurecht zu kommen (Westschule, Radstadt, LK, Z.75-79)

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

setzungsprogramme nicht für Erläuterungen in der Unterrichtskommunikation eingesetzt werden, sondern um schulorganisatorische Aspekte zu vermitteln. Dies könnte darauf hinweisen, dass ›Seiteneinsteiger‹ zwar ohne direkte Folgen für die Lehrkräfte von der Unterrichtskommunikation exkludiert werden können, es aber gleichzeitig für die reibungslose Organisation des Schulalltages unabdingbar ist, den ›Seiteneinsteigern‹ bestimmte Informationen über Klassenzuweisungen oder den Unterrichtsbeginn zukommen zu lassen. Auch die Schulleitung der Westschule und die Vorbereitungslehrkraft elaborieren, dass insbesondere bei der Vermittlung schulorganisatorischer Informationen Unterstützung notwendig sei. Ebenso wie die Regelklassenlehrkräfte benennt auch sie im Zusammenhang mit problematischen Sprachbarrieren interessanterweise ausschließlich schulorganisatorische Aspekte, wie den Ausfall einer Unterrichtsstunde – Übersetzungen scheinen für die normale Unterrichtskommunikation nicht notwendig zu sein. Über diese Passage hinaus wird von der Schulleitung und der Vorbereitungslehrkraft keine weitere Problematisierung hinsichtlich nicht vorhandener Deutschkenntnisse vorgenommen.   ›Seiteneinsteiger‹ werden an der Ostschule und der Waldschule durch die Zuschreibung einer Vielzahl von ›Defiziten‹ – im Gegensatz zur Bergschule und Südschule – kategorial von den ›Regelschülern‹ der jeweiligen Schule unterschieden. An der Westschule werden darüber hinaus fehlende Deutschkenntnisse der ›Seiteneinsteiger‹ insbesondere hinsichtlich der Vermittlung schulorganisatorischer Inhalte als Problem beschrieben. Kategoriale Differenzierung II: ›Fehlende Deutschkenntnisse der Erziehungsberechtigten‹ Von den Schulleitungen der Bergschule und der Flussschule sowie den Lehrkräften der Flussschule werden fehlende deutsche Sprachkenntnisse weniger hinsichtlich der Unterrichtskommunikation thematisiert als vielmehr Kommunikationsschwierigkeiten mit den Erziehungsberechtigten in Bezug auf schulorganisatorische Aspekte im Anmeldeverfahren oder in der Elternarbeit benannt. Während von der Schulleitung der Bergschule Probleme bei der Vermittlung schulorganisatorischer Informationen an Erziehungsberechtigte im Erstaufnahmegespräch an der Schule im Mittelpunkt stehen (Bergschule, Flurstadt, SL, Z.64-72), werden Sprachbarrieren an der Flussschule in Bezug auf die Elternarbeit bei der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ problematisiert. Schulleitung Moser führt aus: MO: und da ist es jetzt mittlerweile jetzt auch anfangs ganz schwierig überhaupt sag ich mal einen Bezugspunkt zu haben zu Eltern die dann wenigstens ein bisschen Deutsch verstehen ist für uns immer schwierig (Flussschule, Flurstadt, SL, Z.282-284) Hier deutet sich an, dass fehlende Deutschkenntnisse der Eltern als Hindernis für den Aufbau eines persönlichen Kontakts problematisiert werden. Dabei verweist der Begriff ›Bezugspunkt‹ darauf, dass das persönliche Kennenlernen der Eltern von der Schulleitung als relevante Basis für die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ entworfen wird. Ein homologer Orientierungsgehalt deutet sich auch im Lehrkräfteinterview an der Fluss-

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schule an. So elaboriert Vorbereitungslehrkraft Rosenthal im Modus einer exemplifizierenden Erzählung: ROS: nutzt auch nichts wenn ich da anrufe um denen zu sagen dass ihr Kind nicht da ist die verstehen mich eh nicht ne? ja das ist so ne? dass da mal wirklich so vielleicht jetzt nicht   MOH:                                                              └@(.)@              └ja   ROS: von jetzt auf gleich aber dass man irgendwo ne Stelle hätte wo man sagt nächsten Dienstag hätten wir gerne oder sagen Sie uns in der nächsten Woche einen Termin wo wir einen Dolmetscher kriegen und dass man die dann zusammenführt das wäre    JJ:                                                                                                                                                                              └um mit den Eltern in besser Kontakt?   ROS:                                                           └mit den Eltern ja für die Schüler brauch ich die nicht die sollen Deutsch lernen @(.)@ die müssen nicht in ihrer Muttersprache sprechen aber ne? um den Elternkontakt enger zu knüpfen (Flussschule, LK 3, Z.938-949)12 Dadurch, dass die Eltern der ›Seiteneinsteiger‹ die Lehrkräfte nicht verstünden, könnten die Erziehungsberechtigten nicht für die Bearbeitung, auch gravierender schulischer Probleme – wie dem Nicht-Erscheinen von Schüler:innen –, hinzugezogen werden. Der Aufbau einer Erziehungspartnerschaft mit den Erziehungsberechtigten, der an Schulen eine wichtige Bedeutung zugeschrieben wird (vgl. KMK 2018), wird hier durch zugeschriebene fehlende deutsche Sprachkompetenzen der Eltern als nicht durchführbar beschrieben. Die verabsolutierende Aussage, dass keine Verständigung mit den Eltern möglich sei und diese daher gar nicht erst kontaktiert werden müssten, wird von Mohn mit einem Lachen und einem »Ja« validiert. Dabei kann das Lachen darauf hindeuten, dass die von Rosenthal beschriebene Situation bekannt ist, aber dennoch als besonders ungewöhnlich und ausschließlich auf ›Seiteneinsteiger‹ bezogen eingeschätzt wird. In einem schulischen Problem-/Konfliktfall könne von den Lehrkräften bei ›Seiteneinsteigern‹ nicht so verfahren werden, wie es bei ›Regelschülern‹ üblich und rechtlich vorgeschrieben wäre. So sind »Lehrerinnen und Lehrer, Schulleiterinnen und Schulleiter« laut SchulG NRW (v. 16.12.2016), §41, Abs.3 »verpflichtet, Schulpflichtige, die ihre Schulpflicht nicht erfüllen, zum regelmäßigen Schulbesuch anzuhalten und auf die Eltern sowie auf die für die Berufserziehung Mitverantwortlichen einzuwirken.« (Ebd.) Während von den Lehrkräften für die konkrete Unterrichtspraxis mit neu migrierten Schüler:innen Übersetzungshilfen als nicht notwendig oder sinnvoll benannt werden (»brauch ich die nicht die sollen Deutsch lernen«), würden, so führen die Lehrkräfte aus, Dolmetscher:innen hingegen eine 12

Im Interview mit Lehrkraft Worm von der Flussschule werden fehlende Deutschkenntnisse interessanterweise, anders als von anderen drei Lehrkräften, weder im Hinblick auf die Einbindung von den Erziehungsberechtigten, noch im Hinblick auf die Unterrichtsgestaltung problematisiert.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Möglichkeit darstellen, mit den Eltern in Beziehung zu treten. Es dokumentiert sich hier die Annahme, dass durch einen Kontakt zu den Eltern der Schüler:innen schulorganisatorische Probleme, wie die Einhaltung der Schulpflicht, gelöst werden könnten. Gleichzeitig wird aber davon ausgegangen, dass eine Kontaktaufnahme mit den Eltern von ›Seiteneinsteigern‹ aufgrund fehlender Deutschkenntnisse nicht möglich sei. Da darüber hinaus keine Informationen über die Möglichkeit, Dolmetscher:innen anzufordern, vorliegen, wird die Zusammenarbeit mit den Eltern der ›Seiteneinsteiger‹ als ein unmögliches Unterfangen skizziert. Die im Zusammenhang mit der Überwachung der Schulpflicht stehende Verpflichtung, auf die Eltern einzuwirken, wird – so lässt sich vermuten – von den Lehrkräften trotz anderslautender rechtlicher Vorgaben auch in gravierenden Fällen zwar in Betracht gezogen, aber nicht praktiziert. Fallübergreifende Zusammenführung ›Seiteneinsteiger‹ als Schüler:innen zu beobachten, die ›unzureichende deutsche Sprachkenntnisse‹ mitbringen, um problemlos am Regelunterricht teilzunehmen, zieht sich als Beobachtungsperspektive durch alle Interviews, wird aber – und das stellte im Auswertungsprozess eine Überraschung dar – nur in wenigen Passagen als Problem der Beschulungspraxis beschrieben. So werden Sprachbarrieren in vielen Schulen ausschließlich in Bezug auf die Vermittlung schulorganisatorischer Informationen oder im Elternkontakt problematisiert. Deutlich unterschieden werden kann zwischen der Bergschule und der Südschule auf der einen Seite sowie der Westschule, der Waldschule, der Flussschule und der Ostschule auf der anderen Seite. So werden ›Seiteneinsteiger‹ mit ›geringen Deutschkenntnissen‹ an den beiden erstgenannten Schulen als normales Schüler:innenklientel adressiert und nicht von den restlichen Schüler:innen, denen ebenfalls ›geringe deutsche Sprachkenntnisse‹ zugeschrieben werden, unterschieden. An beiden Schulen lässt sich eine Normalisierung des Status ›Seiteneinsteiger‹ hinsichtlich der damit verknüpften ›geringen Sprachkenntnisse‹ beobachten. Demgegenüber deutet sich in den Interviews der letztgenannten Schulen eine kategoriale Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ an, die unter anderem auf der Beobachtung von ›Seiteneinsteigern‹ als Schüler:innen ›ohne deutsche Sprachkenntnisse‹ bzw. als Kinder von Eltern ›ohne ausreichende Deutschkenntnisse‹, beruht. Interessant ist, dass mit der kategorialen Differenzierung ebenso wie mit der Normalisierung des Status ›Seiteneinsteiger‹ auf den »monolingualen Habitus« (Gogolin 2008) des deutschen Bildungssystems Bezug genommen wird: Im Fall der ›Normalisierung‹ wird die Relevanz für die Bergschule und die Südschule im Hinblick auf neu migrierte Schüler:innen relativiert, wohingegen die Rekonstruktionen im Fall der ›kategorialen Differenzierung‹ darauf verweisen, dass der ›monolinguale Habitus‹ als Orientierung im Unterrichten sowie im Hinblick auf schulorganisatorische Entscheidungen und der Zusammenarbeit mit den Erziehungsberechtigten handlungspraktisch relevant wird.13 Mit Dirim (2010) könnte die hier deutlich werdende Orientierung an ›deutschen Sprachkenntnissen‹ im ersten Fall (d.h. an der Westschule, der Waldschule, der Flussschule und der Ostschule) und die daran anknüpfenden Praxen als »Neo-Linguizismus« (ebd.: 96) benannt werden. Dirim beschreibt ›Neo-Linguizismus‹ als eng mit »einem bestimmten nationalstaatlichen Konstruktionsprinzip […] [verknüpft, J.J.], das von der Einheit von Nation, Staat und Sprache ausgeht« (ebd.). Mit dem Prinzip erfolgen bewusste oder unbewusste Diskriminierungen von Menschen, »die nicht die Nationalsprache eines Staates in monolingualer Form und als ›native speaker‹ sprechen« (ebd.: 97). 13

Dieser Aspekt wird in Kapitel 6.4 noch mal genauer analysiert.

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Dirim et al. weisen, dieser Argumentation folgend, auf die »mehrfache und aktuelle Bedeutsamkeit von Sprache und Sprachen als Mittel und Objekt der Konstruktion von Differenzordnungen in der Migrationsgesellschaft« (Dirim/Mecheril 2018: 51) hin. Wie diese Orientierung an den untersuchten Entscheidungsstellen tatsächlich relevant gemacht wird, wird in den folgenden Kapiteln (Kap. 6.4-6.7) näher betrachtet.

6.3.1.3

Alter

An der Ostschule sowie an der Waldschule werden ›Seiteneinsteiger‹ in Vorbereitungsklassen unterrichtet, die die Jahrgangsstufen eins bis vier umfassen. An der Westschule findet der Unterricht in der Vorbereitungsklasse sowohl jahrgangsstufengemischt als auch nach Jahrgangsstufen getrennt statt. An der Flussschule, der Bergschule sowie an der Südschule werden die als ›Seiteneinsteiger‹ kategorisierten Schüler:innen in Vorbereitungsklassen beschult, die nach Jahrgangsstufen getrennt sind und maximal zwei Jahrgänge umfassen. Die Ostschule und die Waldschule sind demzufolge die einzigen beiden Schulen mit einer großen Altersheterogenität in der Vorbereitungsklasse. Bei der komparativen Analyse der beiden Schulen stellt sich interessanterweise heraus, dass die Altersspanne an der Ostschule als Problem beobachtet wird, auf das mit Differenzierung reagiert werden muss, während dieser Aspekt an der Waldschule lediglich am Rande thematisiert wird und keinen Differenzierungsanlass darstellt. Altersheterogenität als Differenzierungsanlass An der Ostschule weist Solder direkt zu Beginn des Interviews wiederholt auf die große Altersheterogenität in der Vorbereitungsklasse hin und markiert damit die Altersspanne als ein zentrales Handlungsproblem. Gleichzeitig wird die Vorbereitungsklasse damit bereits in der Eingangspassage als eine besondere Grundschulklasse gekennzeichnet. SO: Also grundsätzlich ist es so dass ich Flüchtlingsklassen immer so jetzt die letzten drei Jahre kennengelernt habe dass es jahrgangsübergreifend war was jetzt bei mir auch der Fall ist sodass ich ja gucken muss dass der Unterricht alle Kinder von sechs bis meistens sogar elf Jahren anspricht das ist also wirklich bunt gemischt (.) (Ostschule, Radstadt, LK, Z.4-7) Mit dem Hinweis auf die Altersspanne ›sechs bis elf‹ macht die Vorbereitungslehrkraft deutlich, dass es sich in ihrer:seiner Klasse um eine besonders immense Altersheterogenität handele, die sogar über die reguläre Altersspanne an Grundschulen – die von sechs bis zehn Jahren reicht – hinaus geht. Die große Altersspanne deutet außerdem darauf hin, dass sich regelmäßig Schüler:innen in der Klasse aufhalten, die ›überaltert‹ sind. Es wird als eine Herausforderung formuliert, einen Unterricht zu gestalten, der den altersabhängigen unterschiedlichen Ansprüchen der ›Seiteneinsteiger‹ entspricht. Während Solder die Altersdifferenzen zunächst in einer positiven Formulierung als ›bunte Mischung‹ – im Sinn von ›schöne Vielfalt‹ – beschreibt, wird im weiteren Verlauf das Verhalten der älteren Schüler:innen im Modus einer exemplifizierenden Erzählung als problematisch elaboriert.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

JJ: Und wie erleben Sie Ihre Arbeit? Was für Erfahrungen machen Sie da?   SO: Anstrengend es ist wirklich eine große Herausforderung die mir dennoch immer noch viel Spaß macht ich freue mich auf die Kinder jeden Morgen also es ist nicht einmal so dass ich aufstehe und mir denke @oh heute muss ich hin@ (.) aber es fordert schon wirklich arg ne? also vor den Ferien14 hatte ich viele Wochen die volle Zahl von dreiundzwanzig Kindern im Alter von sechs bis elf und da waren große pubertierende Jungs dazwischen die mir teilweise die Stunden versucht haben zu zerlegen obwohl die einen offensichtlich mögen (Ostschule, Radstadt, LK, Z.47-53) Die Vorbereitungslehrkraft knüpft in dieser Passage an entwicklungspsychologische Annahmen an, die davon ausgehen, dass Jugendliche in ihrer Pubertät ein auffälliges, konfrontatives und ggf. auch delinquentes Sozialverhalten an den Tag legen, Grenzen überschreiten und Regeln austesten. Das Verhalten der älteren ›Seiteneinsteiger‹ wird zwar – auch wenn sie damit den Unterricht stören – als ihrem Alter entsprechend ›normal‹ beschrieben, gleichzeitig wird es aber auch als etwas beurteilt, das wegen der regulären ›Altersgrenze‹ normalerweise nicht in Grundschulen auftritt. Aber auch die Altersheterogenität an sich wird als ein Problem in der Unterrichtspraxis beschrieben. Dies wird im weiteren Verlauf der Passage deutlich: SO: (.) ja dadurch eine Herausforderung auch durch die Differenzierung ne? nicht nur so dieses Zwischenmenschliche sondern wenn natürlich Differenzierung ich kann jetzt nicht ich habe jetzt grade wieder ein neues Kind heute bekommen einen zehnjährigen Jungen (.) ich habe jetzt Raupe Nimmersatt vorbereitet da weiß ich jetzt schon wieder der Junge wird mir leidtun weil Raupe Nimmersatt ist natürlich jetzt nicht was Große anspricht und das ist immer so die Grätsche ne? ich kann jetzt auch nicht für die Kleinen die ja auch Deutsch lernen wollen dann irgendwie sowas Großes machen das hilft niemandem (.) (Ostschule, Radstadt, LK, Z.57-64) Zur Erläuterung, was mit ›Differenzierung‹ gemeint ist, berichtet die Vorbereitungslehrkraft im Modus einer exemplifizierenden Erzählung von einer konkreten Situation, mit der sie:er im Unterricht konfrontiert wurde. Hier zeigt sich, dass für Solder die große Altersheterogenität einen Differenzierungsanlass in der Unterrichtsgestaltung darstellt und große Altersspannen zu einem Problem werden, da stets verschiedene Unterrichtsinhalte für die unterschiedlichen Altersgruppen bereithalten werden müsste. Der Ausdruck ›Grätsche‹ deutet in diesem Kontext auf eine besondere Herausforderung in der Unterrichtspraxis hin – Solder scheint sich ›zweiteilen‹ zu müssen, um allen Schüler:innen gerecht werden zu können. Hier dokumentiert sich die Orientierung, das gleichzeitige Unterrichten aller Schüler:innen als eine Unmöglichkeit anzusehen – Unterrichtsinhalte können entweder auf jüngere oder auf ältere Schüler:innen ausgerichtet sein – und es müssen dementsprechend Prioritäten gesetzt werden.

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Hier sind entweder die Herbstferien oder die Sommerferien gemeint.

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Altersheterogenität als kein Differenzierungsanlass Anders als an der Ostschule wird das Thema Altersheterogenität an der Waldschule lediglich kurz erwähnt – obwohl auch hier nur eine Vorbereitungsklasse an der Schule besteht und in dieser Klasse alle Jahrgangsstufen gemeinsam unterrichtet werden. BAU:   └genau also das wir können sagen dass das eben der Bericht der (.) von Fuchs der über die Auffangklasse sozusagen war das sind glaube ich acht Kinder die sich in der Auffangklasse befinden im Moment und zwar Kinder die eben bunt gemischt sind   FU:                                  └ja   BAU: von Klasse Eins bis Klasse Vier und von dir betreut werden (.) dass dieser Unterricht findet eben in der Regel am Vormittag statt von der ersten bis zur vierten Stunde die Klassenlehrer(.)innen   FU:                                            └eigentlich bis zur Dritten im Moment    BAU:                                                                                                                           └bis zur dritten Stunde genau   FU: └ja (Waldschule, Flurstadt, LK, Z. 43-53) Nachdem Vorbereitungslehrkraft Fuchs im Modus einer Beschreibung von seiner:ihrer Arbeit in der Klasse berichtet, hebt die Regelklassenlehrkraft mit »Klasse Vier« hervor, dass es sich bei der Vorbereitungsklasse um eine besondere altersheterogene Klasse handelt. Darüber hinaus wird die Schüler:innenschaft – genauso wie von Solder an der Ostschule – in einer positiv konnotierten Art und Weise als »bunt gemischt« charakterisiert. Die Lehrkräfte nehmen jedoch – anders als Solder – keine anschließenden Problembeschreibungen vor oder knüpfen an die Beschreibung Thesen über notwendige Differenzierungen in der Unterrichtspraxis an. Ebenso wird im weiteren Verlauf der Passage nicht mehr auf den jahrgangsübergreifenden Unterricht in der Vorbereitungsklasse verwiesen und auch Fuchs äußert sich hierzu erst sehr viel später in einer Passage zum Thema ›Lehrmaterialien für Seiteneinsteiger‹, welche in den Regelklassen genutzt werden könnten. BAU: das notwendige Material wir bräuchten noch viel mehr Mittel um den Kindern Anschauung der oder die Stoffe den den Unterricht anschaulich zu machen viel mehr als anderen Kindern und es gibt keine Lehrwerke für Seiteneinsteiger das gibt es nicht wir erarbeiten uns vieles selbst stellen Dinge zusammen ja (.) ja   FU:                                                                                      └es ist natürlich auch schwierig es ist auch schwierig weil man muss ja immer davon ne wie du schon sagtest wir haben Kinder Klasse Eins   BAU:                                                                                                                                      └hmhm

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

 FU: bis Vier darauf müsste man ja dann eingehen in den Lehrwerken wie sollen die   BAU:                                                                                                                               └ja   FU: denn zusammen ne? lernen und dann manchen können lesen andere nicht aber ne   BAU:                                       └ja   FU: was sie lesen müssen sie auch verstehen und also das ist generell   BAU:                                                                                                                                             └ja gut dann sagen wir aber trotz allem im sprachlichen Bereich könnte man sicher auch selbsterklärendes Material uns anbieten mit dem die Kinder arbeiten können das also ganz viel Anschauung mit Bildern arbeitet (Waldschule, Flurstadt, LK, Z. 304-319) Die von Baumann eingebrachte Idee, für den Regelunterricht Material zur Verfügung gestellt zu bekommen, an dem alle ›Seiteneinsteiger‹ selbstständig arbeiten können, wird von Fuchs mit der Formulierung »wie sollen die denn zusammen ne? lernen« als unmöglich zurückgewiesen und von Baumann mit einem »Ja« validiert. Begründet wird diese Einschätzung mit der Diversität der Klasse, die von der sonst üblichen Organisationsstruktur der Schule, Jahrgangsstufen möglichst alters- und leistungshomogen zu bilden, deutlich abweicht. Eine systematische Wissensvermittlung auf der Grundlage von Lehrbüchern wird, mit diesem Verweis, für ›Seiteneinsteiger‹ (im impliziten Gegensatz zu ›Regelschülern‹) von der Vorbereitungslehrkraft als nicht realisierbar beurteilt. Gleichzeitig findet jedoch keine weitere Problematisierung dieser Einschätzung statt. Regelklassenlehrkraft Baumann drückt zwar mit »ja gut« eine grundlegende Übereinstimmung mit der Einschätzung von Fuchs aus, modifiziert diesen Orientierungsgehalt jedoch mit »aber trotz allem« dahingehend, dass es auch für ›Seiteneinsteiger‹ möglich sein müsse, mit nicht sprachbasierten Materialien eigenständig zu lernen. Die hier von der Regelklassenlehrkraft vorgenommene Differenzierung könnte ein Hinweis darauf sein, dass der selbstständigen Beschäftigung von ›Seiteneinsteigern‹ in der Regelklasse eine besondere Bedeutung zugesprochen wird. Fallübergreifende Zusammenführung Während die Altersheterogenität in der Vorbereitungsklasse an der Ostschule als ein zentrales Handlungsproblem markiert wird, auf das mit Differenzierungen in der Unterrichtsgestaltung reagiert werden müsse, wird der jahrgangsübergreifende Unterricht an der Waldschule nur am Rande erwähnt und durch die Lehrkräfte im Verlauf des Interviews nicht weiter elaboriert. Dies ist insofern ein interessantes Ergebnis, als beide Schulen mit einem ähnlichen Phänomen konfrontiert sind, nämlich einer klaren Abweichung von einem zentralen Aspekt der Homogenisierungsbestrebungen im schulischen Unterricht – dem Prinzip der Herstellung von altershomogenen Schulklassen (vgl. Luhmann 2002: 127) –, diese Abweichung jedoch nur von einer der beiden Schulen problematisiert und als Differenzierungsanlass in der Unterrichtsgestaltung verhandelt

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

wird. Warum die Altersheterogenität an der Waldschule nur hinsichtlich der Frage nach selbsterklärendem Unterrichtsmaterial für die Regelklasse und darüber hinaus gar nicht in Bezug auf die Unterrichtsgestaltung in der Vorbereitungsklasse thematisiert wird, muss in weiteren Analysen geklärt werden – einen ersten Hinweis kann die im folgenden Kapitel rekonstruierte Beobachtungsperspektive in Bezug auf das ›Leistungsvermögen‹ von ›Seiteneinsteigern‹ an der Waldschule liefern.

6.3.1.4

Leistung

An fast allen Schulen des Samples wird – abgesehen von der Bergschule – über das mögliche ›Leistungsvermögen‹ von ›Seiteneinsteigern‹ gesprochen und eine ›Leistungsgrenze‹ ausgemacht, die von diesen Schüler:innen nicht überwunden werden könnte. Diese ›Leistungsgrenze‹ wird dabei insofern als ein Problem beschrieben, als die ›Seiteneinsteiger‹ dadurch nicht die Anforderungen an den Regelunterricht erfüllen würden. Während die Westschule, die Waldschule und die Ostschule kategorial zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ unterscheiden und eine Verabsolutierung einer ›Leistungsgrenze‹ für neu migrierte Schüler:innen vornehmen, kann an der Flussschule und der Südschule zwar auch eine kategoriale Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ rekonstruiert werden, diese wird an den beiden Schulen aber durch eine intrakategoriale Leistungsdifferenzierung ergänzt. So wird an diesen beiden Schulen nicht für alle ›Seiteneinsteiger‹ eine Leistungsgrenze aufgezeigt – vielmehr wird ein Teil der neu migrierten Schüler:innen hiervon ausgenommen. Die Bergschule stellt eine Ausnahme dar, da hier keine kategoriale Leistungsdifferenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ vorgenommen wird. Kategoriale Leistungsdifferenzierung Die Regelklassenlehrkräfte der Westschule elaborieren – bezogen auf den Regelunterricht – gemeinsam die Orientierung einer kategorialen Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹, die auch für ›leistungsstarke Seiteneinsteiger‹ gelte: GRI: Das Problem ist einfach auch je älter die sind umso schwieriger ist es glaube ich also ich habe ein Kind dem der ist vor (.) etwas mehr als einem Jahr aus Indien gekommen spricht schon ganz gut Deutsch also kann sich super verständigen ist auch integriert in der Klasse alles super kann su- gut rechnen kann Grammatikaufgaben in Deutsch lösen aber das was jetzt im dritten Schuljahr erwartet wird im Grunde Texte schreiben das kann man   ?:                                                                                                                                       └hmhm (zustimmend)   ?:                                                                                                                                                   └nee   GRI: von ihm nicht erwarten und das ist einfach schwierig dann auch damit umzugehen und zu gucken dass die dann da nicht sich ja frustriert zurückziehen oder (.) ja einfach das Gefühl haben sie können nichts und das finde ich einfach schwierig also  

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

DIE:                                                                              └ja gerade bei diesen                                └gerade bei diesen sage ich mal leistungsbewussten Kindern ne? die ja auch dann die Brille auch aufsetzen auf oh   GRI:                                                                         └ja genau   DIE: das kann ich auf einmal nicht mehr ne? und den Ehrgeiz haben aber es nicht können   GRI:                                                                                   └genau   GRI: Ja das finde ich manchmal ein bisschen schade so wobei dass der ist eigentlich zufrieden glaube ich aber und und macht seine Sache super gut aber er w- er kann es nicht können er kann nicht nicht da die Erwartung erfüllen können jetzt ne? (Westschule, Radstadt, LK, Z. 308-325) Im Modus einer exemplifizierenden Erzählung berichtet Regelklassenlehrkraft Grimm von einem ›Seiteneinsteiger‹, der zwar in vielen Bereichen gute Lernergebnisse vorweise, aber dennoch irgendwann realisieren müsse, dass er nicht die geforderten Leistungen erreichen könne. Der hier deutlich werdende Orientierungsgehalt, dass selbst die ›Seiteneinsteiger‹, die die besten Voraussetzungen mitbrächten, den jahrgangsstufenbezogenen Erwartungen des Regelunterrichts nicht gerecht werden könnten, wird durch andere Lehrkräfte einfach validiert und durch Regelklassenlehrkraft Dietrich weiter ausgeführt und bestätigt. Bildungsstandards der dritten Jahrgangsstufe (»das was jetzt im dritten Schuljahr erwartet wird«), werden von den Lehrkräften absolut gesetzt und es deutet sich ein Orientierungsschema an, auch bei neu migrierten Schüler:innen keine Flexibilität im Umgang mit diesen Normen zu zeigen. Durch die mehrmaligen – durch Grimm und Dietrich vorgenommenen und gegenseitig validierten – Wiederholungen, dass der ›Seiteneinsteiger‹ es nicht »könne« – selbst wenn er ›leistungsbewusst‹ und ehrgeizig sei, wird eine auf jahrgangsbezogene Bildungsstandards bezogene Verabsolutierung einer Leistungsgrenze eingeführt. Die Regelklassenlehrkräfte sprechen in dieser Passage prognostisch über die Leistungserwartungen von ›Seiteneinsteigern‹ und halten gemeinsam fest, dass ›Seiteneinsteiger‹ bestimmte Leistungen niemals erreichen könnten, egal wie engagiert sie seien. Durch die Formulierung »nicht da die Erwartungen erfüllen« wird deutlich, dass keine Passung zu den durch rechtliche Rahmenvorgaben hinsichtlich Curricula und Lehrplänen geprägten Normalitätserwartungen im Regelunterricht angenommen wird. Es deutet sich entsprechend an, dass ›Seiteneinsteiger‹ hinsichtlich der an sie gerichteten Leistungserwartungen kategorial von ›Regelschülern‹ unterschieden werden. Eine andere Perspektive mit differenten Zuschreibungen, die aber ebenso auf einer kategorialen Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ beruht, kann an der Waldschule rekonstruiert werden. Hier wird von Vorbereitungslehrkraft Fuchs prognostisch über die Grenze des Leistungsvermögens der ›Seiteneinsteiger‹ gesprochen und die Annahme eines gewissen ›Intellekts‹ der ›Seiteneinsteiger‹ formuliert.

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FU:└also es ist eigentlich so gut wie kaum realisierbar dass diese Kinder am normalen Klassenunterricht so teilnehmen dass sie direkt einsteigen können also man sagt ja nach zwei Jahren hört diese offizielle Zeit auf und wir hatten das bei einem Mädchen die war so fit die hat so schnell die Sprache gelernt aber auch intellektuell (.) dass die ganz schnell einsteigen konnte und ne die dann auch aufs Gymnasium gehen konnte so- sogar nach der vierten Klasse und sonst ist es einfach sodass es unglaublich schwierig ist das überein zu bringen oder überhaupt man hat im Grunde zwei parallele Welten da sitzen (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.138-145) Zunächst validiert Fuchs die im Vorlauf der Passage15 von Baumann eingebrachte Proposition, dass ›Seiteneinsteiger‹ im Unterricht der Regelklasse Probleme hätten, teilzunehmen. Mit der Formulierung, es sei für ›Seiteneinsteiger‹ »so gut wie kaum realisierbar«, zieht Fuchs eine deutliche Grenze zwischen dem, was von ›Seiteneinsteigern‹ – im Gegensatz zu ›Regelschülern‹ – erwartet werden könnte. ›Seiteneinsteiger‹ könnten zwar im Klassenunterricht anwesend sein, das bedeute aber nicht, dass sie an regulären Unterrichtsinhalten teilhaben. Homolog zur Westschule deutet sich auch hier an, dass jahrgangsbezogene Normalitätserwartungen im Hinblick auf Curricula und Bildungsstandards absolut gesetzt werden. Im Modus einer exemplifizierenden Erzählung elaboriert Fuchs diese Orientierung und erzählt von »einem Mädchen”– einem positiven und besonderen Ausnahmefall. Das Mädchen zeichne sich nicht nur durch eine schnelle Auffassungsgabe (schnelles Lernen ›der Sprache‹), sondern auch durch besondere kognitive Fähigkeiten aus. Diese ›Eigenschaften‹ befähigten sie, schnell ›einzusteigen‹. Im Gegensatz zu den zuvor benannten ›normalen Seiteneinsteigern‹ stellt das Mädchen einen positiven Gegenhorizont dar. Indem der Wechsel der Schülerin auf das Gymnasium von Fuchs durch die Worte ›sogar‹ als Ausnahme und besondere Leistung markiert wird, wird ein Orientierungsschema deutlich, mit dem (im Gegensatz zum positiven Ausnahmefall) i.d.R. davon ausgegangen wird, dass ›Seiteneinsteiger‹ nicht auf höherqualifizierende weiterführende Schulen wechseln können.16 Durch die exemplifizierende Erzählung des positiven Falles macht Fuchs implizit deutlich, dass ›normale Seiteneinsteiger‹ dem Regelunterricht nicht folgen könnten und Schwierigkeiten hätten, weil sie nicht so schnell die deutsche Sprache lernen würden und nicht so ›intellektuell‹ seien. Die Erzählung des positiven Ausnahmefalls könnte hier dazu dienen, die unterrichtende Lehrkraft der ›Seiteneinsteiger‹ von einer möglichen Verantwortung für den ›mangelnden Erfolg‹ der anderen ›Seiteneinsteiger‹ zu entlasten. So kann ›das Mädchen‹ hier einen Beleg dafür darstellen, dass es an den ›Seiteneinsteigern‹ selbst liege, wenn sie dem Unterricht nicht folgen könnten. Deutlich wird hier die Orientierung, dass jedes Kind eine zu bestimmende ›Begabung‹ habe und entsprechend dieser gefördert werden müsse. Die ›Seiteneinsteiger‹ werden insgesamt als weniger ›begabt‹ – im Vergleich zu ›Regelschülern‹ – wahrgenommen. Bei der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ entstehen also in der Perspektive der Lehrkräfte durch die ›Seiteneinsteiger‹ an sich Probleme. Diese Orientierung wird auch in der abschließenden

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Der Vorlauf zu dieser Passage wird unter Kapitel 6.4.2.1 eingehend analysiert. Siehe hierzu ausführlich Kapitel 6.7.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Formulierung, man habe »im Grunde zwei parallele Welten da sitzen« deutlich. Es sind zwei Welten, die nicht überein gebracht werden können. Eine klare Grenze trennt die beiden so konstruierten Gruppen der ›Seiteneinsteiger‹ und der ›Regelschüler‹ voneinander. ›Seiteneinsteiger‹ werden dadurch aus der sonst an Schulen dominanten Beobachtung unter Leistungsaspekten herausdefiniert und nicht mehr unter diesem Aspekt beobachtet. Deutlich wird diese sich hier andeutende Orientierung noch mal in einer weiteren Passage: BAU: ein anderes Mädchen die Ani die hat also uns Kunststücke vorgemacht mit dem Seilchen das ist unwahrscheinlich die konnte mehrmals hintereinander das Seil rückwärts überkreuz also diesen Kreuzschlag machen und das im Rückwärtssprung es ist unwahrscheinlich also die hätte damit im Zirkus auftreten auftreten können das sind wieder so so Highlights auch für anderen Kinder man da haben wir applaudiert und die fühlte sich also toll und das war auch wirklich gerechtfertigt das ist sowas   FU:                                                                                                                                                       └es gibt halt auch zu wenig Möglichkeiten die Kompetenzen die die Kinder vielleicht auch haben überhaupt zu   BAU:                                                                                                                                                                            └ja   FU: würdigen oder herauszufinden was können die eigentlich? Das ist ja generell   BAU:                                       └ja                                                                            └ja    FU: unser Schulsystem bietet ja kaum Möglichkeiten dass die Kinder auch andere Dinge hier lernen und entwickeln und und vielleicht ja können sind die mehr handwerklich oder können irgendwas anderes gut und da bietet aber zum Beispiel der Nachmittagsbereich auch Möglichkeiten ne? (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.279-293) Im Modus einer exemplifizierenden Erzählung illustriert Regelklassenlehrkraft Baumann, welche besonderen Fähigkeiten eine ›Seiteneinsteiger‹-Schülerin im Sportunterricht gezeigt habe. Mit den Formulierungen »Kunststücke«, »unwahrscheinlich« und »so Highlights« stellt Baumann heraus, dass der Umgang mit dem Springseil außergewöhnlich gut sei und attestiert der Schülerin, dass sie mit diesen Fähigkeiten Auftritte im »Zirkus« bestreiten könne. Auffällig ist diese Passage insbesondere dadurch, dass nicht nur in der Erzählung durch die Regelklassenlehrkraft die Orientierung angedeutet wird, dass ›Seiteneinsteiger‹ zwar besondere Fähigkeiten vorweisen könnten, diese aber im Kontext der Schule als nicht besonders relevant eingeschätzt werden, sondern dass diese Orientierung darüber hinaus auch durch die Bezugnahme auf die Erzählung durch Vorbereitungslehrkraft Fuchs weiter elaboriert und durch Baumann validiert wird. So wird von der Vorbereitungslehrkraft noch mal deutlicher ein Passungsproblem zwischen den ›Seiteneinsteigern‹ und der Regelschule aufgemacht. Den ›Seiteneinsteigern‹ werden sportliche Begabungen zugesprochen und es wird von Fuchs vermutet, dass sie auch »handwerklich« geschickt seien. Indem die Regelschule dafür

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kritisiert wird, dass sie diese Befähigungen nicht erkennen und fördern würde, wird die Orientierung deutlich, dass ›Seiteneinsteiger‹ als in bestimmten Bereichen kompetent beurteilt, diese Kompetenzen aber gleichzeitig als im Kontext der Regelschule nicht relevant eingeschätzt werden. Dabei verweist die Erzählung auf eine Differenzierung zwischen handwerklicher und kognitiver ›Begabung‹ und zwischen ›intellektueller‹ und ›nicht-intellektueller Begabung‹, die darüber hinaus von einer statischen Annahme hinsichtlich der Möglichkeiten getragen scheint, diese durch pädagogisches Handeln zu beeinflussen. Auch an der Waldschule werden, wie bereits an der Westschule, Fähigkeiten von ›Seiteneinsteigern‹ (zunächst) wertgeschätzt, gleichzeitig aber eine kategoriale Differenzierung zwischen dem, was ›Seiteneinsteiger‹ leisten (können) und dem, was ›Regelschüler‹ leisten, vorgenommen. An der Ostschule, an der ›Seiteneinsteiger‹ ausschließlich parallel unterrichtet werden, wird, anders als an der Waldschule und der Westschule in Bezug auf den teilintegrativen Unterricht, von der Vorbereitungslehrkraft kein direkter Vergleich zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ gezogen. Vielmehr leitet die Vorbereitungslehrkraft aus der Altersheterogenität sowie der Anzahl unterschiedlicher Nationalitäten und Sprachen in der Vorbereitungsklasse die Erkenntnis ab, dass diese Trias eine »Konstellation« darstelle, in der nicht systematisch Unterrichtsziele erreicht werden könnten (Ostschule, Radstadt, LK, Z.421-426). Ebenso wie bei den Lehrkräften der Waldschule und Westschule deutet sich auch bei der Lehrkraft der Ostschule ein Orientierungsschema an, mit dem Lehrpläne und Curricula zwar als handlungsrelevant konzipiert werden, die Anwendung dieser in Bezug auf die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ jedoch relativiert wird. Der Versuch, in der Vorbereitungsklasse bestimmte Lerninhalte zu vermitteln, wird grundsätzlich infrage gestellt. Homolog wird auch von der Schulleitung der Ostschule, bezogen auf den Übergang von ›Seiteneinsteigern‹ in die Regelklasse einer Regelschule17 , eine klare Leistungsdifferenzierung vorgenommen, die zu dem Zeitpunkt des Verlassens der Vorbereitungsklasse deutlich werde: KON: naja und ich hoffe dass sie immer auf (.) Lehrer stoßen die total geduldig mit ihnen sind und nicht so den Leistungsgedanken ansetzen denn davon muss man sich frei machen die man kann die- muss diesen Kindern andern anders begegnen also mit v- viel mehr (.) Zeit und Ruhe und Geduld und andere Maßstäbe ansetzen (.) wir f- können nicht verlangen dass sie die gleichen Kompetenzen erwerben wie an- wie Regelschüler (.) deutscher Muttersprache (.) (Ostschule, Radstadt, SL, Z.218-223) In Form einer kontrastiv-vergleichenden Elaboration im Modus einer Beschreibung umreißt die Schulleitung Konrad, dass der Umgang mit und die Erwartungshaltung gegenüber ›Seiteneinsteigern‹ ein anderer sein müsse als sonst üblich. Durch die Formulierungen, es sollten keine »Leistungsgedanken«, sondern »andere Maßstäbe« bei ›Seiteneinsteigern‹ angesetzt werden, wird eine kategoriale Differenzierung zwischen

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Da die ›Seiteneinsteiger‹ an der Ostschule mit dem Bus aus einem anderen Stadtteil gebracht werden, besteht an der Schule die Annahme, dass die ›Seiteneinsteiger‹ nach Beendigung der Erstförderung auf eine Schule in ihrem Stadtgebiet – also wohnortnah und nicht in die Regelklasse der Ostschule – wechseln werden.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ deutlich, die, homolog zur an der Waldschule und Westschule rekonstruierten Orientierung, darauf beruht, ›Seiteneinsteigern‹ die Fähigkeiten, den Normalitätserwartungen im Regelunterricht zu entsprechen, abzuerkennen.   Trotz der in den Rekonstruktionen deutlich werdenden Unterschiede kann an allen drei Schulen eine handlungsleitende Orientierung rekonstruiert werden, ›Seiteneinsteiger‹ im Hinblick auf ihre möglicherweise zu erreichenden Leistungen im Regelschulsystem kategorial von ›Regelschülern‹ zu unterscheiden und anzunehmen, dass ›Seiteneinsteiger‹ in Regelklassen nicht die erwartbaren (u.a. jahrgangsbezogenen) Ergebnisse erbringen könnten. Intrakategoriale Leistungsdifferenzierung An der Flussschule und der Südschule wird neben der kategorialen Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ zusätzlich eine intrakategoriale Leistungsdifferenzierung vorgenommen. An diesen Schulen wird also nicht für alle ›Seiteneinsteiger‹ eine verabsolutierte Leistungsgrenze gezogen. So werden einige ›Seiteneinsteiger‹ von den ›normalen Seiteneinsteigern‹ – die ähnlich wie an der Ostschule, der Waldschule und der Westschule als ›leistungsschwach‹ beobachtet werden – unterschieden, indem für diese eine positive Leistungsprognose ausgesprochen wird.   Die Flussschule kann exemplarisch für eine intrakategoriale Differenzierungspraxis herangezogen werden, da die Leistungsdifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ hier besonders deutlich vollzogen wird und als handlungsleitende Orientierung insofern wirksam wird, als die neu migrierten Schüler:innen an dieser Schule in drei, nach Alter und Leistung differenzierten, Vorbereitungsklassen beschult werden. So werden die jüngeren ›Seiteneinsteiger‹ (1./2. Klasse) von Rosenthal unterrichtet, während die älteren ›Seiteneinsteiger‹ (3./4. Klasse) die Vorbereitungsklassen von Mohn und Worm besuchen. Besonders aufschlussreich ist die Zuteilung der älteren ›Seiteneinsteiger‹ auf die Klassen von Worm und Mohn. ›Seiteneinsteiger‹, denen ›positive Leistungsprognosen‹ attestiert werden, werden von Mohn unterrichtet, ›Seiteneinsteiger‹, für die ›negative Leistungsprognosen‹ ausgesprochen werden, kommen in Worms Vorbereitungsklasse. Aus der Organisationsform – zwei leistungsdifferenzierte Vorbereitungsgruppen für ältere ›Seiteneinsteiger‹ – ergibt sich ein Zuteilungsproblem. So muss bei der Zuweisung zu einer der beiden Gruppen – anders als bei den jüngeren ›Seiteneinsteigern‹, die alle in der Klasse von Rosenthal unterrichtet werden – zunächst eine Binnendifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ nach ›Leistung‹ vorgenommen werden. Die Flussschule zeichnet sich also durch ein Organisationsprinzip der äußeren Differenzierung in Form der Einrichtung von drei Vorbereitungsgruppen aus, für deren Zuweisung – anders als an Schulen, die nur eine Vorbereitungsklasse betreiben – eine intrakategoriale Leistungsdifferenzierung praktiziert wird. Wie diese Binnendifferenzierung nach ›Leistung‹ vollzogen wird, wird in der folgenden Passage gemeinsam durch Vorbereitungslehrer:in Mohn, Vorbereitungslehrer:in Rosenthal und Klassenlehrer:in

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Heumann (1. Klasse) elaboriert. In der Passage geht es zunächst um das Zuteilungsprinzip von ›Regelschülern‹ bei der Bildung neuer erster Klassen. JJ: Und sie hatten es jetzt schon häufig angesprochen aber wie würden Sie die Kinder beschreiben die Sie unterrichten? (.) wie sind Ihre Gruppen oder auch Klassen zusammengesetzt?   HEU: Wie sind die Klassen zusammengesetzt? ja wir haben ja das Prinzip dass die Klassenlehrerin der zukünftigen Erstklässler sich immer gemeinsam zusammensetzen die Kinder sind ja schon bei der Anmeldung im Rahmen der Starterbox ein wenig überprüft worden auf auf unterschiedliche Fähigkeiten Fertigkeiten sie kommen noch mal zu einem sogenannten Schnupperunterricht zwei Stunden an einem Morgen vor Schuleintritt noch in in in die Schule und haben auch so ein kleines Unterrichtsprogramm wo man auch noch mal intensiv beobachten kann ja und dann setzen die Klassenlehrerinnen sich erst einmal zusammen und versuchen auch wirklich heterogene Klassen zu bilden dass nicht nur eine leistungsstarke Klasse existiert sondern dass es wirklich ausgewogen ist ja und eben so ist es dann bei den Seiteneinsteigern dass man die die schon angemeldet hat auch aufteilt dass jede Klasse halt gleich viele Seiteneinsteigerkinder hat nicht dass es da auch ein Übergewicht gibt dass es einseitig wird (Flussschule, Flurstadt, LK, Z.398-412) Es wird deutlich, dass die Einschätzung des Leistungspotenzials von Schüler:innen ein generelles Organisationsprinzip für die Zusammenstellung von Lerngruppen darstellt. So werde bei der Zuweisung der Erstklässler:innen darauf geachtet, dass die Klassen leistungsheterogen zusammengesetzt werden. Der Vorgang der Leistungseinschätzung von Erstklässler:innen wird durch die Hinweise auf die verschiedenen Verfahrensschritte, wie der Durchführung der ›Starterbox‹ und des ›Schnupperunterrichts‹, als ein kontrolliertes Verfahren ausgewiesen. In dieser Beschreibung des Verfahrens dokumentiert sich eine erste handlungsleitende Orientierung, die auf die Annahme verweist, dass Kinder beim Eintritt in die Schule ein ›Leistungsvermögen‹ aufweisen würden, das mittels Testung und Beobachtung eindeutig zu bestimmen sei. Es zeigt sich, analog zur kategorialen Differenzierung nach angenommenen Leistungspotenzialen an der Waldschule, Ostschule und Westschule, eine Vorstellung von Begabung, die konstant (›gut‹ oder ›schlecht‹) bleibt. Die Zuteilung der Schüler:innen in ›leistungsstark‹ und ›leistungsschwach‹ ermöglicht entsprechend gleichfalls eine Auskunft über den zukünftigen Schulerfolg dieser Schüler:innen. Das Ziel der Differenzierung ist es, »ausgewogen[e]« Klassen zu erzeugen – also innerhalb der Klassen, wie auch zwischen den Klassen eines Jahrgangs, ein Gleichgewicht zwischen ›Leistungsstarken‹ und ›Leistungsschwachen‹ herzustellen. Das Prinzip der Klassenbildung scheint weniger pädagogisch begründet zu werden als vielmehr praktischen Prinzipien – nach dem Gesichtspunkt einer möglichst fairen Verteilung von ›Belastungen‹ für die Lehrkräfte – zu folgen. Anders als ›Regelschüler‹ werden ›Seiteneinsteiger‹, welche eine erste Klasse besuchen sollen, nicht in der gleichen Form getestet und beobachtet, sondern ausschließlich aufgrund ihres ›Seiteneinsteiger‹-Status einer Klasse zugeordnet. Als ›ausgewogen‹ wird die Verteilung beschrieben, wenn in jeder Regelklasse »gleich viele Seiteneinsteigerkinder« seien. Bei der Zuteilung von ›Seiteneinsteigern‹ zu Regelklassen wird also

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

das Organisationsprinzip unterbrochen, das ansonsten für die Zuweisung von Erstklässler:innen angewendet wird. Es findet in Bezug auf ›Seiteneinsteiger‹ eine Umstellung von einer Leistungsdifferenzierung hin zu einer Statusdifferenzierung (an die Annahmen über ›Leistungsvermögen‹ der ›Seiteneinsteiger‹ geknüpft werden, s.u.) statt. Es geht nicht mehr um die Differenzierung in ›leistungsstark‹ oder ›leistungsschwach‹, sondern um die Verteilung von ›Belastungen‹, als welche ›Seiteneinsteiger‹ beobachtet werden. Die kategorialen Differenzierungen zwischen ›Regelschülern‹ und ›Seiteneinsteigern‹ werden im weiteren Verlauf des Interviews jedoch – anders als an den ersten drei Schulen mit der Beobachtungsperspektive der Niveauverschiebung – durch eine intrakategoriale Leistungsdifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ ergänzt. Deutlich wird diese an der Flussschule in der Erzählung darüber, wie mit ›Seiteneinsteigern‹ verfahren wird, die während des Schuljahres in die Vorbereitungsgruppe kommen. ROS: Ja und das ist auch bei mir bei denen die noch später kommen dass immer jetzt so Kinder nachgekleckert kommen die anderen sind schon stolze Besitzer von zwölf oder vierzehn Buchstaben und dann kommt wieder ein Kind was noch nicht einen Buchstaben   HEU:                                  └hmhm    MOH:                                                  └@(.)@    ROS: hat und das heißt ich such dann wieder die alten Arbeitsblätter raus um erst mal  MOH:                                                                                                                                     └hmhm    ROS: zu gucken wie steht der denn? oder wie wie clever ist der denn? wie schnell lernt der denn? ne wie kann ich dem muss ich dem jetzt das ganze Pensum oder reicht das bruchstückartig? oder lass ich den gleich in einer anderen normalen Gruppe mitlaufen? gebe dem dann noch nachher nur in der Ruhephase extra Material? und das ist schon ne? also die Kinder sind lieb und nett und denkt man ach wie kriegst du den jetzt wieder noch integriert? in den Rahmen das ist manchmal sehr sehr mühsam und ja dann kommt   MOH:                                                   └hmhm   HEU:                                                                        └hmhm hmhm    ROS: man sich so wirklich vor wie Sisyphos ne?    HEU:                                                                                           └hmhm   MOH:                                                                                                       └hmhm 

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme   ROS:                                                                                                                       └das ist schwierig obwohl es ist ganz klar zu sehen welche aus welchen Nationalitäten welche Kinder kommen ne? welche so sehr bemüht sind und sehr regelmäßig ordentlich die ihre Hausaufgaben machen und bei welchen wo man genau weiß der kommt wieder ohne Hausaufgaben aber er kommt wenigstens heute ist er mal da so (.) (Flussschule, Flurstadt, LK, Z.423-445)

In dieser Passage zeigt sich – analog zu der von Heumann beschriebenen Leistungsdifferenzierung von ›Regelschülern‹ – auch in Hinblick auf ›Seiteneinsteiger‹ eine Binnendifferenzierung nach ›Leistung‹. Grundlage der Differenzierung bildet die Einschätzung darüber, wie »clever« ein ›Seiteneinsteiger‹ sei, »wie schnell« er:sie lerne und wo er:sie stehe. Es deutet sich hier die handlungsleitende Orientierung an, dass ›Seiteneinsteiger‹ mit einer gewissen ›Intelligenz‹, ›Leistungsfähigkeit‹ und einem festen ›Wissensstand‹ in die Schule kommen, welche zunächst festgestellt und überprüft werden müssten, um daraufhin entscheiden zu können, in welcher Lerngruppe die Kinder in welchem Tempo an welchem Material arbeiten sollen. Es dokumentiert sich in Bezug auf ›Seiteneinsteiger‹ also grundsätzlich die gleiche Orientierung wie in Bezug auf ›Regelschüler‹: Es wird davon ausgegangen, dass Kinder eine gewisse Intelligenz und Fähigkeiten, sowie einen bestimmten Wissensstand besitzen, die sie zu ›guten‹ oder ›schlechten‹ (zukünftigen) Schüler:innen machen. Es deutet sich in dieser Beobachtungsperspektive entsprechend eine Normalisierung der Beobachtung von ›Seiteneinsteigern‹ an. Diese Binnendifferenzierung ist zur Herstellung von Handlungsfähigkeit notwendig, da es durch die intrakategoriale Leistungsdifferenzierung für die Lehrkräfte möglich wird, neue ›Seiteneinsteiger‹ auf die unterschiedlichen Vorbereitungsgruppen zu verteilen. Interessant ist, dass die Leistungseinschätzung der ›Seiteneinsteiger‹ zunächst (ebenso wie bei den ›Regelschülern‹) als ein kontrolliertes Verfahren ausgewiesen wird (der Leistungsstand wird überprüft), daraufhin aber Aspekte wie die jeweilige ›Nationalität‹ der ›Seiteneinsteiger‹ als weitere Anhaltspunkte hinzugezogen werden, die das erstere Prinzip wiederum unterlaufen. Deutlich zeigt sich hier, dass nicht nur nach dem jeweiligen Leistungsstand, sondern auch entlang von ›Nationalität‹ und den Annahmen, welches Verhalten die ›Seiteneinsteiger‹ aufgrund ihrer ›Herkunft‹ zeigen würden, differenziert wird. Homolog zur Flussschule deutet sich auch im Schulleitungsinterview der Südschule die Orientierung an, der ›Herkunft‹ von ›Seiteneinsteigern‹ eine besondere Relevanz zuzuschreiben. So macht Schulleitung Ittel im Modus einer exemplifizierenden Erzählung einen positiven Horizont auf und illustriert anhand des Beispiels eines Kindes aus Syrien, wie eine positive Leistungsentwicklung aussehe. Als Gegenhorizont wird daraufhin ein negativer Horizont aufgemacht. Es werden Schüler:innen beschrieben, die sogar nach zwei Jahren kaum Deutsch gelernt hätten und aus Familien kämen, die selbst keine formelle Bildung vorweisen würden. Auffällig ist, dass der positive und negative Horizont von Ittel mit unterschiedlichen geografischen ›Herkünften‹ verbunden wird. So stellt ein ›Seiteneinsteiger‹ aus Syrien den positiven Horizont eines leistungsstarken ›Seiteneinsteigers‹ dar, wohingegen ›Seiteneinsteiger‹ aus Osteuropa den negativen Horizont bilden und als ›leistungsschwaches‹ Schüler:innenklientel beschrieben werden (Südschule, Radstadt, SL, Z.241-259).

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Eine hiervon abweichende Orientierung kann im Lehrkräfteinterview der Südschule rekonstruiert werden. Hier wird die kategoriale Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ anhand der Unterscheidung zwischen »die jetzt hier groß werden« und denen, die »gerade frisch hier ankommen« (Südschule, Radstadt, LK, Z.263, Z.266-267) vorgenommen. Dabei zeigt sich die gemeinsame Annahme der Lehrkräfte, dass es neu migrierten Kindern an Wissen über allgemeine Verhaltensregeln in der Schule und der Gesellschaft sowie an einfachen Basiskompetenzen, wie z.B. eine Schere halten zu können, mangele (ebd., Z.259-271). Zusätzlich zur kategorialen Differenzierung zwischen Schüler:innen, die schon länger in Deutschland lebten, und ›Seiteneinsteigern‹, die ganz neu gekommen seien, werden ›Seiteneinsteiger‹ an der Südschule aber auch intrakategorial nach Leistung differenziert. SON: Und dann glaube ich es sind zum einen die äußeren Umstände und zum anderen aber auch eben ist es auch noch mal eine Typfrage des Kindes ne? wenn du jetzt sagst    BOL:                                                                                                                                 └hmhm (zustimmend)   SON: ne? also es gibt Kinder die (.) ich sage mal unter ähnlich schwierigen Bedingungen leben und auch keine Sprachvorbilder haben und das trotzdem super hinkriegen   BOL:                                                                                                        └hmhm (zustimmend)   SON: und einen unheimlichen Ehrgeiz haben und die Sprache unbedingt lernen wollen und dann gibt es eben auch Kinder die sagen die von vornherein dicht machen und sagen verstehe ich sowieso nicht da mache ich jetzt auch nichts also das das ist glaube   BOL:                                                                                                                                                         └hmhm (zustimmend)   SON: ich zum einen eben der das das das Umfeld zum anderen aber auch so so die innere Einstellung zum zum Lernern ne? (Südschule, Radstadt, LK, Z.161-172) Regelklassenlehrkraft Sonnberg elaboriert im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme die Annahme, dass ›Seiteneinsteiger‹ unter Bedingungen leben würden, die wenig förderlich für eine erfolgreiche Bildungskarriere seien. Was die »schwierigen Bedingungen« ausmachen, wird – abgesehen von dem Hinweis, dass die Schüler:innen keine »Sprachvorbilder« hätten – nicht weiter ausgeführt. Die zweimaligen einfachen Validierungen (»hmhm«) von Regelklassenlehrkraft Boldt weisen jedoch darauf hin, dass die Lehrkräfte den hier deutlich werdenden Orientierungsgehalt teilen und es an dieser Stelle keinen weiteren Klärungsbedarf gibt. Wie an der Flussschule werden daraufhin auch von den Regelklassenlehrkräften der Südschule ›Seiteneinsteiger‹ hinsichtlich ihrer unterschiedlichen schulischen Leistungen, die sie trotz gleicher Ausgangsbedingungen vorweisen würden, differenziert. Anders als an der Flussschule werden die Leistungsdifferenzen von ›Seiteneinsteigern‹ jedoch nicht mit unterschied-

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lichen Begabungen begründet, sondern vom ›Typ‹ abhängig gemacht. So macht Sonnberg eine Typisierung der ›Seiteneinsteiger‹ auf und unterscheidet zwischen ehrgeizigen ›Seiteneinsteigern‹ – die den positiven Horizont darstellen, da sie trotz schwieriger Bedingungen gute schulische Leistungen aufweisen würden, – und ›Seiteneinsteigern‹, die der ersten Gruppe als negativer Horizont gegenübergestellt werden, da sie sich von Beginn an nicht auf die Schule und das Lernen einlassen würden. Die hier vorgenommene Differenzierung von ›Seiteneinsteigern‹ hinsichtlich ihrer Motivation und der Annahme, dass sich diese in unterschiedlichen Schulleistungen niederschlage, verweist auf einen pädagogischen Diskurs um Begabung und Motivation. Deutlich wird in Sonnbergs Hinweis auf »ähnlich schwierige[…] Bedingungen«, dass den äußeren Umständen hier wenig Bedeutung zugesprochen wird und Motivation vielmehr auf die Schüler:innen selbst zurückgeführt wird. Es zeigt sich hier eine Leistungsdifferenzierung von ›Seiteneinsteigern‹, die auf einer Individualisierung schulischer Leistungen beruht.   An der Südschule und der Flussschule werden ›Seiteneinsteiger‹ in Bezug auf ihre ›Leistung‹ nicht ausschließlich kategorial von ›Regelschülern‹ unterschieden. Vielmehr wird hier zusätzlich eine intrakategoriale Leistungsdifferenzierung vorgenommen. Dies kann insofern als eine Art ›Normalisierung‹ des ›Seiteneinsteiger‹-Status beschrieben werden, als sich in der leistungsdifferenzierenden Beobachtung von neu migrierten Schüler:innen ein grundlegendes schulisches Organisationsprinzip widerspiegelt, das darauf beruht, Schüler:innen entlang von Leistungsbeurteilungen zu differenzieren und mit unterschiedlichen Bildungszertifikaten auszustatten. Die an der Südschule vorgenommenen Leistungsdifferenzierungen werden von der Schulleitung und den Lehrkräften – im Gegensatz zur Flussschule – jedoch weniger definitiv verhandelt und müssen darüber hinaus nicht als ein legitimes Verfahren ausgewiesen werden, da an die Leistungsdifferenzierungen an der Südschule keine Organisationspraxis, wie die Zuteilung von ›Seiteneinsteigern‹ auf unterschiedliche Lerngruppen, geknüpft ist. Normalisierung Die Bergschule in Flurstadt ist die einzige Schule im Sample, die in Bezug auf mögliche zu erreichende Leistungen keine kategoriale Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ vornimmt. In der folgenden Passage berichten Vorbereitungslehrer:in Tal und Regelklassenlehrer:in Koppe von ihren Erfahrungen in der alltäglichen Unterrichtspraxis. JJ: Genau ansonsten war auch die Frage wie wie Sie so Ihre alltägliche Arbeit erleben oder wie so ein typischer Tag ist oder welche Erfahrungen Sie machen   KOP: @(.)@ ja ich sage immer Zuckerbrot und Peitsche Don- Dompteur irgendwie man muss sich (.) eigentlich zerreißen alle haben so ein Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom gerade hier jetzt speziell an dieser Schule ist das so (.) ganz viele unterschiedliche Nationen so eine Schere in den Leistungen also es ist eher so dass ich nicht mehr diesen Unterricht mache (.) alle zur gleichen Zeit das Gleiche das geht gar nicht also die müssen schon individuell gefördert werden (.) ich gebe jetzt hier Mathe und Englisch und

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

dass die sich auch untereinander helfen (.) also wenn einer das schon gelernt dass der dann zum anderen geht und sagt hör mal ich sehe da soll ich dir helfen? (.) und das klappt ganz gut   TAL: Ja und gerade auch den Seiteneinsteigern gegenüber finde ich sind die immer sehr hilfsbereit und versuchen dann irgendwie mit auch wenn wirklich ein Kind dann noch kein Wort Deutsch spricht dann irgendwie (.) können sie sich trotzdem verständigen ne?   KOP:                                                                              └mit Händen und Füßen ne? ja irgendwie können die sich verständigen (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.332-347) Koppe reagiert auf die Frage der Interviewerin mit einem scherzhaft übertriebenen Sprachbild des »Dompteur[s]«. Mit dieser Formulierung werden die Schüler:innen an der Bergschule als eine besondere Herausforderung dargestellt, die einen speziellen Umgang vonseiten der Lehrkräfte benötigten. Indem sie:er pauschal allen Schüler:innen die Diagnose »Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom« zuschreibt, wird gleichzeitig die gesamte Schule als besonders markiert. Dies ist interessant, da es sich beim Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS) um ein medizinisch zu bestimmendes »klinisches Störungsbild« (Hücker 2005: 41) handelt, das sich, so der Psychologe Hücker, durch »oftmals situativ unangemessenes Verhalten […] eine dauernde Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität und Impulsivität« (ebd.) äußere. Koppe beschreibt hier also ein als problematisch und pathologisch auffällig wahrgenommenes Schüler:innenverhalten. Durch diese Charakterisierung der Schüler:innen sowie durch den Verweis auf große Leistungsdifferenzen und unterschiedlichste Nationalitäten, begründet Regelklassenlehrkraft Koppe das pädagogische Prinzip der Bergschule, welches auf der individuellen Förderung aller Schüler:innen entsprechend ihrer unterschiedlichen Leistungen beruhe. Auffällig ist, dass in Bezug auf die Schüler:innen der Bergschule zunächst keine Differenzierung zwischen ›Regelschülern‹ und ›Seiteneinsteigern‹ vorgenommen wird, sondern verallgemeinernd von »alle« gesprochen wird. Erst in der validierenden Elaboration der Proposition im Modus einer Beschreibung führt Tal die Unterscheidung zwischen »die« und »den Seiteneinsteigern« ein und verweist auf die Hilfsbereitschaft der ›Regelschüler‹ gegenüber den als hilfsbedürftig konstruierten ›Seiteneinsteigern‹. Im weiteren Verlauf der Passage greift die Interviewerin – entgegen der von Koppe und Tal nur einmal vorgenommenen semantischen Unterscheidung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ – in ihrer erzählgenerierenden Frage diese Differenzierung wieder auf und fragt nach Erfahrungen mit »den Kindern oder mit den Seiteneinsteigern« (Z.359-360). Interessant ist Koppes und Tals Reaktion. So elaborieren die beiden Lehrerkräfte gemeinsam im Modus einer Beschreibung, dass die ›Seiteneinsteiger‹ (»die«, Z.363) schnell integriert seien und nicht auffallen würden: KOP:  └also ich finde die sind immer gerade weil es hier so viel Nationen gibt sind die immer sehr schnell integriert  

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

TAL:                                            └ja das finde ich auch   KOP:                                                                                    └die fallen gar nicht auf die fallen gar nicht auf irgendwie ne?   TAL: Nee ich meine es gibt ja auch so genug Kinder die irgendwie nicht (.) so gut Deutsch sprechen also es ist auch teilweise muss man auch sagen dass die Seiteneinsteiger es ist jetzt nicht so dass die unbedingt irgendwie die Schwächsten dann in Deutsch sind oder so das könnte man nicht sagen dass die da großartig rausfallen oder auffallen oder so (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.362-371) Die Integration von ›Seiteneinsteigern‹ an der Bergschule wird hier nicht als etwas verhandelt, das besonders fokussiert werden müsse, vielmehr erfolgt die Integration scheinbar automatisch. Als integriert gelten diejenigen, die nicht auffallen. Warum die ›Seiteneinsteiger‹ an der Bergschule nicht auffallen, wird mit dem Verweis auf die ›anderen Schüler:innen‹ der Schule begründet. Da (fast) alle Schüler:innen der Bergschule als ›mit geringe/keine Deutschkenntnisse‹ ausgestattet und ›aus einer anderen Nation stammend‹, beobachtet werden, würden die ›Seiteneinsteiger‹ nicht als eine besondere Schüler:innengruppe hervortreten. Wie bereits in Kapitel 6.3.2 herausgearbeitet wurde, werden ›Seiteneinsteiger‹ dabei auch nicht hinsichtlich ihrer deutschen Sprachkenntnisse als eine besondere Gruppe differenziert. ›Seiteneinsteiger‹ werden also, bezogen auf ihre ›Leistungspotenziale‹, nicht von den ›Regelschülern‹ der Bergschule differenziert, da alle Schüler:innen der Bergschule als eher ›leistungsschwache Schüler:innen‹ beobachtet werden. Diese an der Bergschule rekonstruierte Orientierung, den Status ›Seiteneinsteiger‹ lediglich als einen formalen Status zu verhandeln und keine kategoriale Leistungsdifferenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ vorzunehmen, unterscheidet sich deutlich von den herausgearbeiteten Orientierungen der übrigen Schulen. Im Kontrast zu den anderen Schulen des Samples werden ›Seiteneinsteiger‹ an der Bergschule hinsichtlich ihrer antizipierten ›Leistungspotenziale‹ genauso beobachtet wie die ›Regelschüler‹ der Schule. Noch deutlicher als an der Flussschule und der Südschule kann hier entsprechend von einer ›Normalisierung‹ des Status ›Seiteneinsteiger‹ – inklusive aller auch mit dieser Beobachtungsweise verbundenen potenziellen negativen Konsequenzen – gesprochen werden. Fallübergreifende Zusammenführung Hinsichtlich der Beobachtung von neu migrierten Schüler:innen bezüglich ihrer antizipierten ›Leistungen‹ zeigen sich in den Schulen Bezugnahmen auf zwei unterschiedliche Begabungstheorien. Mit der Annahme, dass Schüler:innen mit einer eindeutig bestimmbaren Veranlagung in die Schule kommen, auf die nur in begrenzten Maße schulisch/pädagogisch Einfluss genommen werden könne, wird Bezug auf essentialistische Begabungstheorien genommen (vgl. Hoyer 2012: 19). Besonders deutlich zeigt sich diese Bezugnahme in der Differenzierung zwischen handwerklich, nicht-intellektuell begabten ›Seiteneinsteigern‹ und kognitiv, intellektuell begabten ›Regelschülern‹ und der Annahme, dass diese Fähigkeiten in den Kindern bereits veranlagt seien. Auch ohne Ausführungen, wie diese Veranlagung jeweils entstanden seien, wird darauf

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

geschlossen, dass keine Möglichkeit bestehe, diese Fähigkeiten durch schulische/pädagogische Einflussnahmen zu verändern. Ziel müsse es vielmehr sein, die Kinder entsprechend der ›erkannten‹ Begabung zu fördern. Eine solch essentialistische ›Feststellung‹ ermöglicht es gleichfalls, (vermeintliche) Aussagen über die zukünftig zu erwartenden Leistungen und Bildungserfolge der Schüler:innen im Schulsystem zu treffen. Deutlich wird, dass sich hier auch eine Wertschätzung von ›nicht-kognitiven‹ Fähigkeiten zeigen kann, welche gleichzeitig jedoch als nicht zur Schule passend entworfen werden. Es deutet sich darüber hinaus an der Waldschule und der Flussschule sowie im Schulleitungsinterview der Südschule an, dass eine Verknüpfung zwischen den als statisch angenommenen Begabungen und der antizipierten ›Herkunft‹ oder ›Nationalität‹ der Schüler:innen vorgenommen wird – dabei wird jedoch nicht genauer begründet, in welcher Form hier ein Zusammenhang bestehe. Es bleibt also offen, ob ›genetische‹, ›kulturelle‹ und/oder ›milieubezogene‹ Prädispositionen angenommen werden. Eine andere theoretische Bezugnahme zeigt sich in der Hypothese, Schulleistungen nicht von unterschiedlichen ›Begabungen‹, sondern vom ›Motivationstyp‹ abhängig zu machen. So verweist die Annahme, ›Leistungen‹ seien von der Motivation der Schüler:innen abhängig, auf motivationale Theorien. Innerhalb des motivationalen Diskurses wird dabei davon ausgegangen, dass (Schul-)Leistungen in einem hohen Maß von der Motivation der Schüler:innen und nur zu einem geringen Teil von ihren genetischen Prädispositionen abhängen (vgl. u.a. Gaspard/Trautwein/Hasselhorn 2019; Bak 2019). Innerhalb unterschiedlicher Motivationstheorien wird dabei auch der Lernumwelt ein entscheidender Einfluss auf die Motivation von Schüler:innen zugeschrieben. Dabei wird – wie auch in den Interviews deutlich wird – davon ausgegangen, dass nicht nur die Schule mit ihren Lehrkräften, sondern auch Erziehungsberechtigte und Gleichaltrige die Motivation der Schüler:innen anregen oder stören können (vgl. Gaspard/Trautwein/Hasselhorn 2019: 7f.).   Wie diese hier deutlich werdenden Orientierungen mit Annahmen hinsichtlich der Sozialisation im Sozialraum und der Beobachtung von ›Kultur‹ verknüpft und an schulisch bedeutsamen Entscheidungsstellen in der Praxis relevant werden, wird im Weiteren untersucht.

6.3.1.5

Sozialisation

An (fast) allen Schulen des Samples werden von den Lehrkräften unterschiedliche Sozialisationsbedingungen in verschiedenen städtischen Sozialräumen verhandelt und darüber spekuliert, inwiefern das Verhalten neu migrierter Schüler:innen durch diese Sozialisation geprägt sei. Die Ostschule und die Westschule befinden sich in südlich gelegenen Stadtgebieten. Neu migrierte Schüler:innen werden an diesen beiden Schulen täglich mit dem Bus aus dem Norden von Radstadt abgeholt und zu den beiden Schulen in den Süden gebracht (sowie nach Schulschluss wieder kollektiv zurückgefahren).18 Neu migrierte Schüler:in18

Im US-Amerikanischen Kontext wird eine so organisierte Beschulungspraxis seit den 1970er Jahren unter dem Schlagwort ›busing‹ verhandelt. Während der Bustransfer von Schüler:innen in andere Stadtteile in den USA zu einer De-homogenisierung ›weißer‹ Schüler:innenschaften beitragen sollte (vgl. Delmont 2016), geht es in Radstadt um die pragmatische Lösung eines Organisationsproblems. So sind im Norden der Stadt nicht genug Schulplätze für neu migrierte Schüler:innen vorhanden. Gleichzeitig kann jedoch für Flurstadt und Radstadt sowie das Ruhrgebiet insgesamt nachgezeichnet werden, dass auch diese stark von einer sozialräumlichen Segregation geprägt sind (s. Kap. 4.3). Hinweise auf diese Stadtstruktur finden sich auch im Interviewmaterial und wer-

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

nen kommen an beiden Schulen also jeweils gemeinsam als Gruppe an den Schulen an und sind i.d.R. die einzigen Kinder, die in den nördlich gelegenen Stadtbezirken wohnen und nicht aus den Schuleinzugsgebieten der Schulen stammen. An der Ostschule wie auch an der Westschule lässt sich in Hinblick auf das nördliche Wohngebiet der Schüler:innen mit ›Seiteneinsteiger‹-Status rekonstruieren, dass dieser als ein problematischer Sozialraum imaginiert wird, in dem ›migrantische Familien‹ leben, die sich eindeutig von den als bildungsinteressiert entworfenen ›deutschen Familien‹ im Süden der Stadt unterscheiden würden. Anders stellt sich die Situation an der Bergschule, der Südschule und der Flussschule dar, die sich alle eher in strukturell benachteiligten nördlichen Stadtgebieten befinden. An den drei Schulen wird das Schuleinzugsgebiet, aus dem neben den ›Regelschülern‹ auch alle ›Seiteneinsteiger‹ kommen, als problematischer Sozialraum thematisiert, der sich negativ auf die Bildungssituation aller Schüler:innen der Schule auswirke. Lediglich an der Waldschule wird der Sozialraum und/oder das Schuleinzugsgebiet der Schule in den Interviews nicht thematisiert. Entsprechend wird im Weiteren zunächst nicht explizit auf diese Schule eingegangen. Die Nicht-Thematisierung ist jedoch insofern dennoch eine interessante Erkenntnis, als sich die Bezugnahme auf den Sozialraum – auch für eine Schule wie die Waldschule, die sich ebenfalls im Norden von Flurstadt in einem eher sozial benachteiligten Stadtgebiet befindet, – damit als kontingent darstellt. Kategoriale Differenzierung ›Seiteneinsteiger‹ werden an der Ostschule und der Westschule als besonderes Schüler:innenklientel beobachtet, welche vom ›normalen Schüler:innenklientel‹ der schulischen Einzugsgebiete unterschieden werden könnten. In Form einer kontrastiv-vergleichenden Beschreibung elaboriert die Schulleitung der Ostschule den Unterschied der Schulen im südlichen und im nördlichen Stadtgebiet von Radstadt. JJ: Und wie würden Sie die Situation an Ihrer Schule im Vergleich mit anderen Grundschulen in Radstadt sehen?   KON: Wir sin- befinden uns ja noch auf so einer Insel der @Glückseligkeit@ würde ich   JJ:                                                                                                                                          └@(.)@   KON: sagen (.) wenn ich vergleiche wie viele also wie hoch der Anteil von ZuwanderZuwandererkinder jetzt im Radstadter Norden in den meisten Schulen ist in den Regelklassen auch ein Anteil von siebzig achtzig Prozent Kinder nicht deutscher Herkunftssprache ist (.) auch das ist ein schönes Arbeiten ohne Frage aber es bringt natürlich auch die ein oder andere Schwierigkeit mit sich und Herausforderung und (.) das ist

den entsprechend analysiert. Der pragmatische Grund, einen Bustransfer in Radstadt einzurichten, unterscheidet sich dennoch deutlich von der politischen Agenda in den USA der 1970er Jahre.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

bei uns noch ein ja ein sehr (.) einfaches oder leichtes Arbeiten würde ich sagen dagegen (.) (Ostschule, Radstadt, SL, Z.360-370) Auffällig ist, dass die positive Bewertung der Situation an der Ostschule über eine Kontrastierung zu Schulen im Norden von Radstadt erfolgt, an denen viele mit Kindern ›mit familiärer Migrationsgeschichte‹ oder einer ›anderen Herkunftssprache als Deutsch‹ unterrichtet werden müssten. Während die Arbeit in nördlichen Stadtgebieten als schwierig und herausfordernd beschrieben wird, wird die Arbeit an der Ostschule als einfach und leicht dargestellt. Wie bereits in der Eingangspassage des Schulleitungsinterviews erkennbar wurde, findet auch in dieser Passage keine Unterscheidung zwischen Kindern ›mit familiärer Migrationsgeschichte‹ oder ›nicht deutscher Herkunftssprache‹ und ›Seiteneinsteigern‹ statt. Vielmehr werden diese zu einer Gruppe zusammengefasst, kategorial von ›Regelschülern‹ differenziert und als eine Herausforderung und ein Mehraufwand in der Arbeit von Lehrkräften dargestellt. Eine homologe Orientierung lässt sich im Interview mit der Vorbereitungslehrkraft der Ostschule rekonstruieren. Im Modus einer exemplifizierenden Erzählung elaboriert Solder den Gegensatz zwischen dem Sozialraum der Ostschule und dem Sozialraum der ›Seiteneinsteiger‹ im Norden von Radstadt. Nachdem die Vorbereitungslehrkraft von der breiten Altersheterogenität in der Vorbereitungsklasse berichtet und den Aspekt, dass in der Klasse ›große pubertierende Jungs‹ seien (Z.51-54), als besonders problematisch für den Unterricht ausweist19 , ergänzt Solder im weiteren Verlauf der Passage, dass ein zusätzlicher Grund für das negative und störende Verhalten der ›Seiteneinsteiger‹ im Unterricht dem vorherrschenden Erziehungsstil in den Familien geschuldet sei. SO: aber es ist auch nun mal so dass viele mit sechs sieben Geschwistern zu Hause aufwachsen und Erziehung da ganz anders offensichtlich ausfällt als man das in einer typisch deutschen Familien vielleicht kennt (.) und ja wenn man das nicht persönlich nimmt geht es dann irgendwie aber es ist schon (.) ja dadurch eine Herausforderung (Ostschule, Radstadt, LK, Z.54-57) Die ›typisch deutsche Familie‹ bildet hier den Gegenhorizont zur ›migrantischen Familie‹, ohne dass weiter benannt wird, was die Erziehung in diesen Familien jeweils ausmache. Durch den Zusammenhang, in dem die ›ganz andere Erziehung‹ in den Familien der ›Seiteneinsteiger‹ benannt wird (Unterrichtsstörungen), wird jedoch erkennbar, dass diese als nicht förderlich gekennzeichnet wird. Deutlich zeigt sich hier die Orientierung, Probleme bei der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ mit dem Hinweis zu begründen, dass diese Schüler:innen – anders als Schüler:innen aus ›typisch deutschen Familien‹ – zu Hause nicht erlernt hätten, wie sie sich in der Schule verhalten müssten. Nachdem zunächst eine Differenzierung zwischen den ›Familien der ›Seiteneinsteiger‹ und ›typisch deutschen Familien‹ aufgemacht wird, nimmt Solder im weiteren Verlauf der Passage eine Verortung der ›Seiteneinsteiger‹-Familien im nicht zur Ostschule zugehörigen Sozialraum von Radstadt vor.

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Siehe hierzu auch Kapitel 6.3.1.3.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

SO: Elternarbeit ist vielleicht noch so ein Punkt wobei das auch zwiegespalten ist auf der einen Seite bin ich nicht unbedingt der Typ der jetzt gerne Eltern Gespräche führt ne? und in einer typischen Radstadter Schule im Süden jeden Morgen eine Mutter mit einem aufgeschlagenen Matheheft ne? warum gibt es da denn nicht noch den halben Punkt? und man sich da ständig auseinandersetzt also es hat auch seine Vor- und Nachteile oft ist es natürlich so dass ich gerne mit den Eltern sprechen möchte ob es das gesunde Frühstück ist wie halt seit drei Wochen es nicht geschafft wurde einfach mal das Schokocroissant zu Hause zu lassen (.) ja das ist bestimmt auch noch eine Schwierigkeit ne? dass dass man da ständig noch für die Eltern auch mitdenkt was sonst in anderen Klassen vielleicht eher Routine also ne? wo man sich als Lehrer:in keine Gedanken machen müsste (.) (Ostschule, Radstadt, LK, Z.64-74) Solder erläutert im Modus einer exemplifizierenden Erzählung, wie die Elternarbeit an einer typischen Schule im Süden von Radstadt – zu der die Ostschule gehört –, normalerweise abläuft. Es wird das Bild von sehr am Schulerfolg ihrer Kinder interessierten Eltern im Süden der Stadt gezeichnet, die nicht die Mühe scheuen, wegen einer vermeintlichen Kleinigkeit, wie einem »halben Punkt« in einer Mathematikarbeit, in die Schule zu kommen. Den Gegenhorizont zu den interessierten und kontrollierenden Eltern im Süden bilden die Eltern der ›Seiteneinsteiger‹, die im Norden von Radstadt leben. Mit Letzteren bestehe kein oder kaum Kontakt, sodass sich die Elternarbeit hier schwierig gestalte. Im Modus einer exemplifizierenden Erzählung elaboriert Solder das negative Beispiel, dass von Schüler:innen in der Vorbereitungsklasse jeden Tag ein »Schokocroissant« als Frühstück mitgebracht würde. Solder führt nicht weiter aus, welche negativen Konsequenzen sich aus dem Konsum eines Schokocroissants ergeben. Dadurch, dass sie:er dies als problematisch kennzeichnet, kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der Verzehr eines Schokocroissants zum Frühstück negativ bewertet wird. Vermutlich bezieht sich diese negative Bewertung auf einen öffentlichen Diskurs, in dem ein ›ausgewogenes‹ Frühstück mit wenig Zucker die Basis für eine gute Konzentrationsfähigkeit darstelle und eine wichtige Bedeutung für die Leistungsfähigkeit von Kindern habe. Demgegenüber wird im Rahmen dieses Diskurses gleichzeitig davon ausgegangen, dass der Konsum von zuckerhaltigen Lebensmitteln bei Kindern zu einem auffälligen Sozialverhalten beitrage. Ein ungesundes Frühstück, für das die Eltern verantwortlich gemacht werden, führe in dieser Perspektive entsprechend potenziell zu einem negativen Verhalten im Unterricht (vgl. Schick 2015; Joosten o.J.). Solder hält in Bezug auf dieses exemplarische Beispiel fest, dass die Zusammenarbeit mit den Eltern der ›Seiteneinsteiger‹ problematisch sei, da diese die »Routine« störten. Problematisch sei das Verhalten der ›Seiteneinsteiger‹-Eltern also nicht nur, weil es zu einem negativen Lernverhalten der Schüler:innen beitrage, sondern auch, weil die Lehrkräfte für die Eltern ›mitdenken‹ müssten und entsprechend einen größeren Arbeitsaufwand hätten. Anschließend führt Solder in einer zweiten exemplarischen Erzählung ein weiteres Beispiel ›problematischer Elternarbeit‹ an, die dazu führe, dass für Solder Mehrarbeit entstünde. Auch hier wird das Verhalten des Vaters einer neu migrierten Schülerin mit der Formulierung »sonst für gewöhnlich nicht« (ebd., Z.86) als ein Benehmen gekennzeichnet, das sichtlich von den Erfahrungen abweicht, die sonst an der

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Ostschule in der Elternarbeit gemacht würden. Durch die zwei exemplifizierenden Erzählungen wird die Arbeit mit den Eltern der ›Seiteneinsteiger‹ als grundsätzlich von der ›normalen‹ Elternarbeit an der Ostschule abweichend und problematisch beschrieben. Indem Solder deutlich zwischen den Eltern im Süden von Radstadt – der ›typisch deutschen Familie‹ – und den Eltern der ›Seiteneinsteiger‹, die im Norden der Stadt leben, unterscheidet, generalisiert sie:er ein Bild des Sozialraums ›Norden von Radstadt‹, das einen negativen Einfluss auf die Schulleistungen der Kinder habe und Probleme in den Gewohnheiten und Routinen einer typischen Radstadter Schule im Süden erzeuge. Die Differenzierung zwischen ›Regelschülern‹ und ›Seiteneinsteigern‹ manifestiert sich hier in der Unterscheidung zwischen Familien aus dem ›positiv unterstützenden Sozialraum im Süden von Radstadt‹ und Familien aus dem ›negativ beeinflussenden Sozialraum im Norden von Radstadt‹.   Eine homologe Orientierung lässt sich an der Westschule rekonstruieren, die, ebenso wie die Ostschule, ›Seiteneinsteiger‹ unterrichtet, die aus dem Norden der Radstadt mit dem Bus zur Schule gebracht werden. In der folgenden Passage wird die Konstruktion des ›negativ beeinflussenden nördlichen Sozialraums‹ der Radstadt besonders deutlich elaboriert. ABE: Die sprechen ja also a- soviel ich weiß spricht da keiner zu Hause Deutsch also die Eltern ist ja klar ne? die (.) die sprechen in in ihrer Heimatsprache   ?:                     └hmhm (zustimmend)   ?:                               └hmhm (zustimmend)   DIE: Ja und ich sage mal sie leben natürlich auch also jetzt die Kinder aus dem Norden   ABE:                                                                                                                                                            └ja   DIE: in einem Gebiet wo natürlich auch auf der Straße glaube ich nicht Deutsch   HOR:                                                                                                 └wenig Deutsch gesprochen wird   WIL: gesprochen wird ne?   ABE:                                └nee   DIE: Also es ist halt so ein bisschen Stadtteil Radstadt in Radstadt da ist auch also selbst   ABE:                          └aus der Stadtteil Radstadt kommen die   DIE: auf den Straßen oder auf den Spielplätzen werden die auch ihre Muttersprache sprechen (Westschule, Radstadt, LK, Z.326-338)

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Die Lehrkräfte Dietrich, Abel und Horn elaborieren hier gemeinsam im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme, dass nicht nur die Familien der ›Seiteneinsteiger‹ wenig unterstützend beim Einüben der deutschen Sprache seien, sondern dass gleichermaßen der Stadtteil, in dem die Schüler:innen aufwachsen, ein Problem darstelle. So wird der Norden von Radstadt als Sozialraum konstruiert, in dem auch in öffentlichen Bereichen kein Deutsch gesprochen werde und in dem entsprechend keine Möglichkeit zum Erlernen von Deutsch gegeben sei. Geschlussfolgert wird, dass die aus diesem Stadtteil stammenden ›Seiteneinsteiger‹ durch den Sozialraum, in dem sie leben, in ihren schulischen Erfolgsmöglichkeiten gehemmt würden (s. auch Kap. 6.3.1.5). Auffällig ist dabei, dass die nördliche Radstadt den Lehrkräften nicht aus eigenen Erfahrungen bekannt scheint (»soviel ich weiß«, »glaube ich«) und als ein fremder Stadtteil gekennzeichnet wird, zu dem keine persönlichen Verbindungen bestehen.   Insbesondere dadurch, dass ›Seiteneinsteiger‹ an beiden Schulen gemeinsam mit einem Bus aus den nördlichen Stadtteilen in den südlichen Stadtteil zur Schule gefahren werden, werden sie als eine Gruppe sichtbar, die aus einem abweichenden Sozialraum stammt. Die für beide Schulen rekonstruierte Orientierung, dass es sich bei den Stadtteilen, aus denen die ›Seiteneinsteiger‹ stammen, um problematische Sozialräume handele, scheint sich zum Teil aus einem abwertenden medialen Diskurs zum nördlichen Ruhrgebiet zu speisen, kann sich aber auch auf (wissenschaftliche) Daten berufen, die eine starke Nord-Süd Segregation im Ruhrgebiet belegen und darauf hinweisen, dass das nördliche Ruhrgebiet im Gegensatz zum südlichen Gebiet verstärkt durch migrantische Communities, prekäre Wohn- und Arbeitsverhältnisse und einen hohen Bezug von Transferleistungen geprägt ist (vgl. u.a.; Bogumil et al. 2012; El-Mafaalani/Strohmeier 2015). An beiden Schulen wird eine Verbindung zwischen dem als problematisch beschriebenen Verhalten der Schüler:innen im Unterricht und dem ›Sozialraum im Norden von Radstadt‹ hergestellt. Da die Lehrkräfte auf diese Sozialisationsbedingungen nur begrenzt Einfluss ausüben können, kann der Verweis gleichzeitig als eine Verantwortungsentlastung der Lehrkräfte dienen. Es deutet sich hier eine handlungsleitende Orientierung an, nach der ›Seiteneinsteiger‹ auch aufgrund ihrer außerfamiliären Sozialisation im nördlichen Stadtteil von Radstadt als in ihrem (schulischen/bildungsrelevanten) Verhalten negativ determiniert entworfen und aufgrund dessen zusätzlich von den ›Regelschülern‹ der Schulen kategorial differenziert werden. Normalisierung Anders stellt sich die Situation an der Bergschule, der Südschule und der Flussschule dar. Hier werden ›Seiteneinsteiger‹ als ›normales Schüler:innenklientel‹ der als problematisch entworfenen Schuleinzugsgebiete skizziert. Im Gegensatz zur Ostschule und Westschule befinden sich die Bergschule, die Südschule und die Flussschule also selbst in den als schwierig konstruierten nördlichen Stadtgebieten von Flurstadt und Radstadt. An der Bergschule elaborieren die Lehrkräfte Koppe und Tal gemeinsam die Besonderheit des nördlichen Schuleinzugsgebiets der Bergschule (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.794-799). Das Einzugsgebiet der Bergschule wird dabei als ein Sozialraum beschrie-

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ben, der sich von den Einzugsgebieten anderer Grundschulen durch ›fehlende Kindergartenzeiten‹, ›kinderreiche Familien‹ und ›nicht integrierte Eltern, die kein Deutsch sprechen‹ unterscheide. Die sich andeutende Orientierung, dass die Bergschule keine ›normale‹ Schule mit einem ›normalen‹ Schüler:innenklientel darstelle, wird im weiteren Verlauf der Passage von Koppe und Tal weiter elaboriert. KOP:ich war ich b- ich selber war an an zwei anderen Grundschulen noch wobei eine im Flurstadter Süden war und da war das ein ganz anderes Arbeiten also da da ging es wirklich mehr um Konkurrenzkampf und (.) also jetzt wirklich alles hinein in die Kinder damit die alle zum Gymnasium gehen so also da durfte gar kein Kind ein Defizit haben (.) und hier ist es eben genau anders rum wir haben ganz viele Kinder mit Defiziten hier muss man aufpassen dass man auch die Kinder fördert die eben kein Defizit haben sondern (.) die mal gefordert werden müssen   TAL: Ja ich war in Stadt XY20 vorher hatte da auch ein ganz anderes Einzugsgebiet das war eher ein sozial (.) höheres oder stärkeres Einzugsgebiet es ist schon eine komplettalso ich will nicht sagen dass man da keine Probleme hatte da hatte man andere Probleme zum Beispiel mit den Eltern was man jetzt hier nicht hat weil im Grunde v- viel hast du ja mit den Eltern jetzt hier nicht zu tun wenn sich mal einer vernünftig kümmert ist das schon eher da kann man ja @sich schon glücklich schätzen@   KOP:                                               └@sehr positiv@ (Bergschule, Flurstadt, LK, Z. 817-831) In dem kontrastiven Vergleich zwischen verschiedenen Einzugsgebieten von Flurstadt wird der Norden, in dem die Bergschule liegt, – ebenso wie bereits an der Westschule und der Ostschule – deutlich vom Süden differenziert. Die südlichen Stadtteile stellen – auch wenn das Verhalten der Eltern kritisch betrachtet wird (»Konkurrenzkampf«) – einen positiven Horizont dar und werden (wie an der Ostschule) als Gebiete beschrieben, in denen ›bildungsnahe Mittelschichtsfamilien‹ lebten, die viel Wert auf eine erfolgreiche Bildungskarriere ihrer Kinder legten. Tal knüpft mit dem Verweis auf ein »ganz anderes Einzugsgebiet«, das ein vollständig anderes Arbeiten ermöglichte, an Koppes Elaboration an. Das Einzugsgebiet der Bergschule wird dabei im Kontrast zur Schule in Stadt XY, welche »sozial höher[…]« bzw. »stärker[…]« gewesen sei, implizit als ›sozial niedriger‹ bzw. ›schwächer‹ und damit als weniger förderlich für eine erfolgreiche Bildungskarriere charakterisiert. Der Norden der Stadt wird hier weiter als negativer Gegenhorizont zum Süden skizziert. Auffällig ist, dass die in dieser Passage von der Regelklassenlehrkraft vorgenommene Problembeschreibung weniger darauf beruht, dass die Schule aufgrund des Schuleinzugsgebietes viele Schüler:innen mit ›Defiziten‹ unterrichten müsse, sondern sich vor allem darauf bezieht, dass die hohe Anzahl an Kindern mit besonderen Unterstützungsbedarfen dazu führe, dass sich der Regelunterricht an diesen Schüler:innen ausrichte und Schüler:innen, die keine ›Defizite‹ hätten, dadurch gegebenenfalls nicht ausreichend gefördert würden.

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Anonymisierte Stadt, die sich ebenfalls im Ruhrgebiet in NRW befindet.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Auch die Leitung der Bergschule nimmt eine klare Unterscheidung zwischen dem nördlichen Stadtteil und den südlichen Stadtteilen von Flurstadt vor. Bezogen auf eine immanente Interviewerinnenfrage, wie die Situation an der Bergschule »im Vergleich zu anderen Grundschulen in Flurstadt« (Z.343-344) beschrieben werden könne, elaboriert Schulleitung Steinert: STE: Ich höre das von anderen die sagen mein Gott wie schrecklich wie könnt ihr da arbeiten? ich muss sagen ich arbeite unheimlich gerne hier die Kolleginnen und Kollegen die momentan hier sind da habe ich auch den Eindruck die sind sehr sehr gerne hier an der Schule es macht Spaß diese Kinder zu unterrichten es ist sicherlich nicht ein Unterricht wie in Stadtteil Flurstadter Süden oder sonst wo wo ich sage das ist heute mein Stoff den kriege ich auch durch (.) es ist einfach ein anderes Arbeiten es ist auch ein anderes Miteinander mit den Eltern natürlich ich finde es toll wir haben aber auch immer wieder Lehrkräfte die sagen nach zwei Jahren sehe ich zu dass ich hier wieder wegkomme (Bergschule, Flurstadt, SL, Z.346-353) Schulleitung Steinert verweist in dieser Passage durch die wörtliche Wiedergabe einer Frage an Lehrkräfte der Schule darauf, dass das Schuleinzugsgebiet der Bergschule in der öffentlichen Wahrnehmung als besonders problematisch und schwierig beschrieben werde. Im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme erläutert die Schulleitung daraufhin jedoch, dass das Arbeiten an der Schule – im Kontrast zur zuvor dargestellten allgemeinen Wahrnehmung – allen Lehrkräften »Spaß« mache. Gleichzeitig wird herausgestellt, dass sich das Arbeiten an der Bergschule klar von der Arbeit an anderen Schulen unterscheidet, die in südlichen Stadtgebieten liegen. Homolog zur Orientierung der Lehrkräfte wird auch von der Schulleitung das Schüler:innenklientel der Bergschule als besonders markiert und ein Zusammenhang zwischen dem Sozialraum der Bergschule und den geringeren Schulleistungen der Schüler:innen hergestellt. Ebenso wie von den Lehrkräften werden ›Seiteneinsteiger‹ dabei nicht als eine spezifische Gruppe erwähnt, sondern scheinbar unter die ohnehin besonderen, ›weniger leistungsstarken‹ Schüler:innen der Schule subsumiert. Genauso wie die Bergschule in Flurstadt liegt auch die Südschule in Radstadt in einem Einzugsgebiet, das von der Schulleitung und den Lehrkräften als ›besonders‹ bezeichnet wird. So führt die Schulleitung der Südschule auf die Interviewerinnenfrage nach der Beurteilung von Unterschieden zwischen der Südschule und anderen Schulen in Radstadt aus: ITT: Besonders @(.)@ also einfach besonders ich glaube es kann sich auch wirklich keiner vorstellen wenn ich das manchmal erzähle was hier so los ist also auch Menschen die in Radstadt leben vermeiden ja oft den Stadtteil Südschule und die wissen einfach überhaupt nicht was hier los ist und wenn andere Schulen jammern dann werde ich manchmal (.) verdrehe ich innerlich die Augen weil ich denke hu ihr euch gehts echt gut und ich will gar nicht jammern ich bin gerne hier und meine Kollegen auch wir haben das ja auch ausgesucht aber es ist einfach total anstrengend das sind ganz große Herausforderungen und ganz viel Flexibilität die wir hier aufbringen müssen (.) ja und und es ist auch anstrengend also alleine diese Schulpflichtüberwachung das ist ein-

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

fach also das können Sie sich ja vorstellen auch was das für Ressourcen bindet wenn immer zwei Menschen die Kinder aus den Wohnungen holen   JJ: Sie gehen dann wirklich (.) los?   ITT:                                                            └wir gehen hin und klopfen und gehen durchs ganze Haus und sammeln alle Kinder ein die da sind das ist ein Erlebnis also es ist wirklich ein Erlebnis weil so die Häuser der Straße Stadtteil Südschule hier vorne auch Häuser sind die man so nicht kennt in seinem Alltag wenn man da rein geht das ist schon (.) eine andere Welt das ist auch sehr erschreckend und es gibt durchaus auch Kollegen die davon träumen wie das da drin aussieht (.) (Südschule, Radstadt, SL, Z.639-656) Im Modus einer Beschreibung grenzt Ittel die Südschule durch die zweifache Wiederholung und Betonung, dass diese »besonders« sei und mit der Bemerkung, dass sich kein Mensch die Situation an der Schule vorstellen könne, deutlich von Schulen in anderen Stadtteilen von Radstadt ab. Ähnlich wie von der Schulleitung der Bergschule wird auch die Arbeit an der Südschule mit dem Hinweis auf den als problematisch skizzierten Stadtteil als schwierig und herausfordernd beschrieben. Besonders deutlich tritt in der Elaboration von Ittel der Orientierungsgehalt hervor, den Stadtteil der Südschule als einen Ort zu beschreiben, der gänzlich von den Alltagserfahrungen von Menschen, die nicht in dem Stadtteil der Südschule leben, abweicht. Das Wohn- und Familienumfeld der Schüler:innen der Schule wird als schockierend und als den Normalitätserwartungen der Lehrkräfte entgegengesetzt beschrieben. Um dieser als außergewöhnlich gekennzeichneten Situation Rechnung zu tragen, greife die Schule zu ungewöhnlichen Maßnahmen, wie z.B. dem Abholen der Schüler:innen von zu Hause. Eine homologe Orientierung deutet sich auch in einer Elaboration der Regelklassenlehrkraft Boldt an, welche im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme den Unterschied zwischen der Arbeit an der Südschule und der Arbeit an Schulen in anderen Teilen von Radstadt erläutert (Südschule, Radstadt, LK, Z.874-885). Dabei werden eine Reihe an Aufgaben aufgeführt, die die Lehrkräfte an der Südschule aufgrund ihrer geografischen Lage zusätzlich zum Unterrichten erfüllen müssten. Der Grund für die Mehrarbeit wird bei den Familien des Schuleinzugsgebiets der Südschule verortet. BOL: das sind alles so so Dinge die noch dazu kommen die vielleicht in anderen Stadtteilen so jetzt nicht sind ne? also die es dann (.) also es ist halt noch mal so eine andere Arbeit vielleicht drumherum (.) und wie gesagt die vielleicht mit anderen Vorerfahrungen kommen (.) auch schon wirklich sozialisierter sind als manche die zu uns kommen so (Südschule, Radstadt, LK, Z.881-885) Deutlich wird hier die bereits im Interview mit der Schulleitung der Südschule hervorgetretene Orientierung, die Arbeit an der Südschule als stark durch den als problematisch skizzierten Stadtteil geprägt zu entwerfen, ohne eine Differenzierung der Schüler:innenschaft in ›Seiteneinsteiger‹ und ›Regelschüler‹ vorzunehmen. Vielmehr werden alle Schüler:innen der Südschule – wie auch in der Eingangspassage in Kapitel

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

6.3.1 rekonstruiert werden konnte – als Kinder beschrieben, die aus einem mit vielen Schwierigkeiten assoziierten Stadtteil stammen. Eine homologe Orientierung lässt sich im Schulleitungsinterview der Flussschule rekonstruieren, in dem Schulleitung Moser auf das Schuleinzugsgebiet der Flussschule zu sprechen kommt und im Modus einer Beschreibung das Bild eines schulischen Sozialraums zeichnet, in dem Familien lebten, die zum Teil bereits seit mehreren Generationen ALG-II Empfänger:innen seien und ihren Kindern wenig Struktur und schulische Unterstützung bieten könnten (Flussschule, Flurstadt, SL, Z.75-89). Die Flussschule wird vor diesem Hintergrund als ein relevanter Bildungsort beschrieben und die Förderung von Schüler:innen aus dem als weniger privilegiert entworfenen Sozialraum der Schule – ebenso wie an der Bergschule und der Südschule – als Teil des Selbstverständnisses der Schule präsentiert. Moser nimmt in der Beschreibung des Schuleinzugsgebiets zwar eine Differenzierung zwischen »Kinder[n] mit Migrationshintergrund« und »Kinder[n] deutscher Herkunft« vor und weist der Herkunft der Schüler:innen damit Bedeutung zu, gleichzeitig wird diese Differenzierung aber mit dem Hinweis verbunden, dass sich alle Schüler:innen der Flussschule in schwierigen Lebenssituationen befinden würden und die Unterrichts- und Förderpraxis an allen ausgerichtet sei. ›Seiteneinsteiger‹ werden in dieser Passage nicht als spezifische Gruppe benannt – dies könnte darauf hindeuten, dass sie unter die Kinder »in schwierigen Lebenslagen« subsumiert werden und die Beschulung dieser Schüler:innen ebenso als eine selbstverständliche Aufgabe der Schule entworfen wird. Fallübergreifende Zusammenführung Im fallexternen Vergleich zeigt sich, dass nicht nur Begabungstheorien (Kap. 6.3.1.4) zur Plausibilisierung von leistungsbezogenen Differenzierungen neu migrierter Schüler:innen herangezogen werden, sondern auch auf ›Theorien‹ rekurriert wird, die sich mit der Bedeutung der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in spezifischen Sozialräumen befassen. So kann in allen Fällen die Orientierung rekonstruiert werden, dass die Sozialstruktur des Wohnortes unterschiedliche Sozialisationsbedingungen erzeuge, die das (schulische) Verhalten der (neu migrierten) Schüler:innen mindestens stark prägen, wenn nicht sogar determinieren. An der Bergschule, der Südschule und der Flussschule kann die Orientierung, ›Seiteneinsteiger‹ als normales Schüler:innenklientel in dem ohnehin als ›problematisch‹ entworfenen Schuleinzugsgebiet zu beobachten, rekonstruiert werden. Demgegenüber werden neu migrierte Schüler:innen an der Ostschule und der Flussschule klar von den ›Regelschülern‹ der Schulen differenziert, da sie in einem vom schulischen Einzugsgebiet ›abweichenden‹ und als ›wenig bildungsförderlich‹ assoziierten Sozialraum wohnen. Indem der Sozialraum der ›Seiteneinsteiger‹ als ›problematisch‹ entworfen wird, werden schulische ›Probleme‹ der neu migrierten Schüler:innen plausibilisiert. Die hier deutlich werdende Orientierung scheint sich dabei u.a. auf einen pädagogischen Diskurs zu beziehen, in dem Sozialräume und ihre Bedeutung für (schulische und außerschulische) Bildungsprozesse diskutiert werden (vgl. hierzu u.a. Fölker/Hertel/Pfaff 2016, 2015b; El-Mafaalani/Strohmeier 2015).

6.3.1.6

Kultur

An zwei Schulen des Samples, der Westschule und der Ostschule in Radstadt, lassen sich keine Orientierungen rekonstruieren, die auf einer Annahme einer spezifischen ›national-kulturellen Prägung‹ neu migrierter Schüler:innen verweisen. Dies ist insofern

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

ein interessantes Ergebnis, als für beide Schulen u.a. in Hinblick auf die Beobachtungsdimensionen ›Leistung‹ und ›Sozialisation‹ kategoriale Differenzierungen zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ rekonstruiert werden konnten, die auf der Zuordnung von neu migrierten Schüler:innen zur ›Gruppe der Kinder mit Migrationshintergrund‹ beruhen und ohne die semantische Unterscheidung ›Seiteneinsteiger‹ auskommen (s. Kap. 6.3.1.1, 6.3.1.4 und 6.3.1.5). Es wird an beiden Schulen also eine kategoriale Differenzierung zwischen den Konstrukten ›typisch deutsche Familie‹ und ›Migrantenfamilie‹ aufgemacht, mit denen Annahmen über bildungsbezogene Leistungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen verbunden werden. Neben der Unterscheidung in ›deutsch‹/›migrantisch‹ beinhalten diese jedoch keine weiteren Verweise auf vermeintlich spezifische national-kulturelle Prägungen. Demgegenüber lässt sich an allen weiteren Grundschulen des Samples die Orientierung rekonstruieren, dass angenommene national-kulturelle Prägungen zu einem problematischen Verhalten von Schüler:innen im Unterricht beitragen. Dabei wird nicht nur – wie an der Westschule und der Ostschule – die ›migrantische Familie‹ der ›deutschen Familie‹ gegenübergestellt, sondern auch ausführlich auf ein vermeintliches Passungsproblem zwischen der ›Kultur‹ der ›Seiteneinsteiger‹ und der ›deutschen Schule‹ eingegangen. Auffällig ist, dass sich die kulturalisierenden Zuschreibungen dabei nicht auf alle ›Seiteneinsteiger‹ beziehen. Vielmehr zeigt sich im fallexternen Vergleich, dass an allen vier Schulen eine ›kulturelle Gemeinschaft der Rumänen/Roma‹ entworfen wird, die besondere Probleme verursachen würde.   An der Bergschule fällt auf, dass zu Beginn des Interviews keine negativen Zuschreibungen in Bezug auf die Zugehörigkeit von Schüler:innen zu vermeintlich unterschiedlichen ›Kulturkreisen‹ vorgenommen werden. In dieser Passage führt Tal im Modus einer Beschreibung zunächst die Unterscheidung zwischen ›Regelschülern‹ und ›Seiteneinsteigern‹ ein. Koppe validiert Tals Beschreibung und verweist auf die Hilfsbereitschaft zwischen den beiden ›Schüler:innengruppen‹, die insbesondere für ›Seiteneinsteiger‹, die aus »ganz anderen Kulturkreisen« stammten, wichtig sei: KOP:und es ist natürlich super schön wenn ein Kind die Sprache spricht (.) denn das neue Kind kann das für das Kind auch sehr sehr hilfreich ne? dann fühlen die sich nicht ganz so alleine gerade wenn sie aus ganz anderen Kulturkreisen kommen so ist Sarmina unser unser einziges Kind an dieser Schule die ein Kopftuch trägt das war für die anderen auch wieder was ganz Neues (.) auch im Schwimmunterricht hat die ja den ganzen (.) Burkini (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.343-357) Es wird das Bild von sich gegenseitig unterstützenden, solidarischen Schüler:innen gezeichnet und die Bedeutung einer gemeinsamen Sprache hervorgehoben, da diese das Gefühl von Einsamkeit abfangen könne, das sich einstelle, wenn ein Kind aus einem »ganz anderen Kulturkreis« komme. In dieser Formulierung dokumentiert sich die Annahme, dass die Welt in unterschiedliche ›Kulturkreise‹ aufgeteilt sei, die sich ähnlich oder weniger ähnlich sein könnten. Im Modus einer exemplifizierenden Erzählung wird der ›Kulturkreis‹ von Sarmina mit dem Verweis, dass Sarmina arabisch spreche, ein »Kopftuch trägt« und einen »ganzen (.) Burkini« im Schwimmunterricht anziehe, als

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

ein differenter, ›islamischer Kulturkreis‹ gekennzeichnet. Auffällig ist, dass Koppe keine Bewertung des ›ganz anderen Kulturkreises‹ vornimmt und darüber hinaus durch die Formulierung »für die« deutlich macht, dass es für die Schüler:innen etwas Neues darstellte, nicht aber für die Lehrkräfte. Es wird also die Orientierung entfaltet, dass es vonseiten der Lehrkräfte der Bergschule einen routinierten Umgang mit ›Neuem‹ gibt und Verhaltensweisen oder Ausdrücke, die als kulturelle und/oder religiöse Phänomene beobachtet werden, selbstverständlich anerkannt werden. Mit dem Hinweis, dass es »auch wieder« neu gewesen sei, knüpft Koppe darüber hinaus an ihre vorherige Ausführung an, dass das Schüler:innenklientel sehr divers sei. Dies erzeuge jedoch keine Probleme, sondern nur Erstaunen bei den Schüler:innen, die sich untereinander dennoch solidarisch und unterstützend zeigten. Darüber hinaus wird durch die Formulierung »unser einziges Kind« der Einschluss von Sarmina in die Schulgemeinschaft deutlich gemacht, auch wenn sie aus einem ›anderen Kulturkreis‹ komme. Kultur wird hier mit Religion in Verbindung gebracht, aber nicht mit einem bestimmten Lernverhalten in Zusammenhang gestellt oder in anderer Weise problematisiert. Im weiteren Verlauf der Passage (Z.363-371)21 wird daraufhin zunächst ein positiver Horizont aufgemacht und beschrieben, wie problemlos und schnell ›Seiteneinsteiger‹ an der Bergschule eingebunden werden könnten. Diesem Bild wird daraufhin jedoch von Vorbereitungslehrkraft Tal ein negativer Horizont gegenübergestellt: TAL: Ja gut aber wer sich ich habe es gerade schon gesagt mit der rumänischen Familie wie die Lernfortschritte sind hängt einfach auch immer viel von der Einstellung der Eltern ab ne? ob die Eltern die Kinder hier (.) morgens hinbringen oder ob die Kinder mal alle zwei Wochen kommen (.) ja wer sich die die sich nicht die die Sprache nicht lernen wollen oder wo die Eltern das eben auch dann nicht so genau halten mit den Regeln die hier gelten dann (.) sieht man eben nach einem dreiviertel Jahr auch noch keinen Lernfortschritt […]   KOP: └nee ich hatte vorher so eine ganze (.) Familie (.) und dann hat man sie gerade integriert dann ziehen die wieder weg   JJ: Also die sind nicht abgegangen von der Schule sondern (.) weg?   KOP:                                                                                                                   └die sind nicht abgegangen die sind dann umgezogen dann ist erst der Erste umgezogen und dann ist die ganze Großfamilie dann mit- mitgezogen (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.400-406 + Z.409-414) Im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme nimmt die Vorbereitungslehrkraft eine Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›rumänischen Kindern‹ vor. Während ›Seiteneinsteiger‹ – wie u.a. bereits hinsichtlich der Beobachtungsdimensionen ›Leistung‹ und ›Sozialisation‹ (s. Kap. 6.3.1.4 und 6.3.1.5) rekonstruiert werden konnte – nicht vom restlichen Schüler:innenklientel der Bergschule

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Siehe die Analyse der Passage in Kapitel 6.3.1.4.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

unterschieden werden, werden ›rumänische Kinder‹ von den ›regulären Seiteneinsteigern‹ differenziert und es wird ausgeführt, dass diese durch ihre familiäre Erziehung negativ beeinflusst und im Lernen eingeschränkt würden. Der Grund dafür sei nicht nur die Einstellung der Eltern zur Schule, sondern auch ihr sonstiges Verhalten: So sei den ›rumänischen Eltern‹ der regelmäßige Schulbesuch ihrer Kinder nicht wichtig, sie würden selbst kein Deutsch lernen wollen, sie würden Regeln nicht so genau beachten, die in Deutschland oder der Schule gelten, und mit ihrer »Großfamilie« umziehen, sobald die Kinder in der Schule integriert seien. Dieses Verhalten ›der Rumänen‹ führe dazu, dass die ›rumänischen Kinder‹ auch innerhalb eines langen Zeitraums von mehreren Monaten keinen Lernfortschritt zeigten. In Bezug auf ›rumänische Seiteneinsteiger‹ findet also – im Kontrast zur Orientierung hinsichtlich anderer ›Kulturen‹ (s. Beispiel der Schülerin Sarmina) – eine Verknüpfung von vermeintlich ›kultureller Prägung‹ und (negativen) Schulverhalten statt. Während ›Seiteneinsteiger‹ generell von den Lehrkräften22 nach kurzer Zeit – aufgrund der Charakterisierung der Bergschule – nicht mehr als eine besondere ›Schüler:innengruppe‹ beobachtet werden, werden ›rumänische Seiteneinsteiger‹ kategorial von den restlichen Schüler:innen der Bergschule unterschieden. Auffällig ist, dass eine homologe Orientierung auch an der Flussschule, der Waldschule und der Südschule rekonstruiert werden kann. Auch hier werden ›rumänische Kinder‹ von anderen ›Seiteneinsteigern‹ differenziert und als eine ›Gruppe‹ adressiert, die besondere Probleme mitbrächte und im Schulalltag verursachte. So zeigt sich an der Flussschule in der folgenden Passage – analog zur Bergschule – deutlich die Konstruktion einer ›problematischen Gruppe der Roma/Rumänen‹: ROS: ja und ob man das nun gerne auffangen möchte oder nicht es bilden sich auch da so gewisse unter den Kindern man merkt das schon so Abneigungen oder Ressentiments bilden so bestimmte Gruppen denn die Kinder spüren das auch ne? und sei es nur diese Sachen dass sie was weiß ich neben bestimmten Kindern nicht stehen wollen im Gruppenkreis ne und das weniger wegen Junge oder Mädchen ist    JJ: Und wie kommt das? Wie erklären Sie sich das?   ROS: Ich weiß jetzt nicht welches Kind irgendein Kind sagte sogar neulich wirklich dieses böse böse Wort Zigeuner zum Beispiel wo immer es her ist ich weiß nicht wer es war aber es war irgendeiner von deinen ich mein es wäre Katharina gewesen (.) die so wollte den nicht anfassen nein Zigeuner (.) und das versuche ich natürlich schon ein bisschen zu unterbinden weil ich das nicht in Ordnung finde denn auch da sind Kinder dabei die durchaus gut lernen wenn sie denn dann mal regelmäßig kämen aber es ist halt der Kulturkreis anders das muss man auch mal so sehen ne? das ist für die so eine Hundertachtziggradwendung zu dem was sie aus ihrem Bereich gewohnt sind und oft ist bestimmt der Wille da aber die Eltern haben es ja auch nie gelernt und nie gesehen die setzen andere Prioritäten als wir oder wenn ich dann höre ein Kollege war bei

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Im Interview mit der Schulleitung der Bergschule findet sich kein Hinweis auf diese Differenzierung.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

denen zu Hause da ist noch nicht mal ein Tisch wo soll das Kind die Schularbeiten machen? oder eben man gibt Arbeitsmaterial denen raus was weiß ich Stifte Mäppchen und so weiter was dann wieder verschwindet ja gut wenn da zu Hause noch fünf kleinere Geschwister sind ist natürlich klar die wollen alle haben und da muss man sich immer wieder dran erinnern dass die Kinder können da   HEU:                                                                                                               └hmhm    ROS: am wenigsten dazu ne (.) aber auch die gehören dazu und auch die sollen es lernen    MOH: Ja ich hab hier jetzt die totale Ausnahme ne? meine Tanja ist ja Rumänin wie gesagt in Kanada geboren ist glaub ich auch Roma und Sinti soweit ich informiert bin aber die ist ganz anders die ist ja super leistungsorientiert deshalb hab ich ja auch   ROS:                                                                                                                 └hmhm   MOH: gesagt ich will die in meiner Gruppe halten die lernt schneller (Flussschule, Flurstadt, LK, Z.445-472) Im Modus einer exemplifizierenden Erzählung berichtet Vorbereitungslehrkraft Rosenthal von einem Erlebnis, das vor Kurzem in der Vorbereitungsgruppe stattgefunden habe. Dabei wird nicht nur deutlich, dass ›Kultur‹ als etwas entworfen wird, das das Lernverhalten präge, sondern gleichermaßen etwas sei, dass ›erspürt‹ werden könne. Auffällig ist, wie Rosenthal nach dieser Feststellung auf die Verwendung des Ausdruckes »Zigeuner« sowie auf das Auftreten der Schüler:innen gegenüber der mit dieser Formulierung bezeichneten Gruppe eingeht. So wird die Benutzung des Wortes nicht mit dem Hinweis auf ein Diskriminierungsverbot verurteilt, sondern mit dem Verweis darauf, dass nicht alle dieser Gruppe zugerechneten Schüler:innen schlecht lernen würden. Es dokumentiert sich hier die Annahme, dass die betroffenen Kinder selbst dazu beitragen könnten, nicht diskriminiert zu werden, wenn sie sich nur anders verhielten. Das diskriminierende Verhalten der Schüler:innen wird hier also über die zugeschriebenen Eigenschaften der diskriminierten Schüler:innen plausibilisiert. Warum es für sie jedoch nicht so einfach sei, ihr Verhalten, das zu ihrer Diskriminierung beitrage, zu ändern, wird mit dem Hinweis auf den ›ganz anderen Kulturkreis‹ erläutert, der als negativer Gegenhorizont zum ›Kulturkreis‹ der Lehrer:innen entworfen wird: Die Familien der diskriminierten Schüler:innen werden als gering gebildet und wenig an Bildung interessiert, arm und kinderreich charakterisiert und mit den Formulierungen »für die« oder »bei denen« als Gruppe gekennzeichnet, die das Gegenteil zur ›WirGruppe‹ darstelle und nicht kompatibel mit der ›deutschen Schule‹ und dem ›deutschen Kulturkreis‹ sei. Durch die exemplifizierende Erzählung über eine besondere Schülerin, die sich trotz der zugeschriebenen Zugehörigkeit zu der Gruppe der ›Rumänen/ Roma‹ anders als erwartet – und zuvor von Rosenthal beschrieben – verhalte, validiert Mohn die von Rosenthal entfaltete Orientierung. So bildet die Schülerin Tanja den positiven Horizont einer leistungsorientierten Schülerin mit schneller Auffassungsgabe, die

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

sich aufgrund dieser ›Eigenschaft‹ deutlich von ›den anderen Rumänen/Roma‹ unterscheide. Obwohl die Schülerin aus dem zuvor als problematisch gekennzeichneten ›Kulturkreis‹ der ›Rumänen/Roma‹ stamme, soll sie – aufgrund ihrer positiven Eigenschaften – in Mohns Vorbereitungsgruppe bleiben. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Differenzierungspraxis zwischen ›Roma/Rumänen‹ und ›Seiteneinsteigern‹ eine handlungsleitende Orientierung in der Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ in die niveaudifferenzierten Vorbereitungsgruppen der Flussschule darstellt. Ersichtlich ist, dass Mohn eigentlich keine als ›Rumänen/Roma‹ beobachteten ›Seiteneinsteiger‹ in ihrer Vorbereitungsklasse für ›leistungsstärkere Seiteneinsteiger‹ unterrichtet. Der Grund, warum Tanja trotz dieser Differenzierungs- und Zuweisungspraxis dennoch anfänglich Mohns Gruppe zugeteilt wurde, könnte in dem Hinweis liegen, dass sie in Kanada geboren wurde. So könnte dies ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die als ›Seiteneinsteiger‹ an der Schule eingeschulte Schülerin nicht von Anfang an als ›Roma/Rumänin‹ identifiziert wurde und somit ›versehentlich‹ bei Mohn eingeordnet wurde. Deutlich wird in dieser Passage eine handlungsleitende Orientierung, die sich auf die Differenzierung ›Roma/Rumänen‹ und ›Seiteneinsteiger‹ bezieht und bei der die als ›Rumänen/Roma‹ klassifizierten Schüler:innen kollektiv in die Gruppe der ›leistungsschwachen Seiteneinsteiger‹ eingeordnet werden. Eine homologe Orientierung kann im Interview mit der Vorbereitungslehrkraft Worm, die die Gruppe der ›Seiteneinsteiger mit negativer Leistungsprognose‹ unterrichtet, rekonstruiert werden (Flussschule, Flurstadt, LK 1, Z.79-87). Was Worms Ausführungen von der Elaboration der anderen Lehrkräfte der Flussschule unterscheidet, ist jedoch, dass sie:er das Verhalten der ›rumänischen Eltern‹ nicht als eine intentionale Handlung dargestellt, sondern das Bild von Familien entwirft, die aus Unwissenheit ihre Kinder in schulischen Belangen nicht unterstützten. Ebenso wie für die anderen Lehrkräfte kann aber auch hier die Orientierung rekonstruiert werden, dass ›rumänische Seiteneinsteiger‹ im Schulalltag aufgrund ihrer Differenz zur ›deutschen Gesellschaft‹ Probleme hätten oder verursachen würden. Homolog zu den Lehrkräfte-Interviews kann auch im Schulleitungsinterview der Flussschule die Orientierung rekonstruiert werden, dass ›rumänische Familien‹ kategorial von allen anderen Schüler:innen unterschieden werden. MO: das ist dann eben nicht einfach weil (.) ein Teil also zum Beispiel bei rumänischen Kindern und Mitbürgern ist das eben so dass die auch aus Familien kommen die auch dort schon ganz unterprivilegiert waren und zum Teil Kinder die zehn Jahre alt sind und auch dort noch keine Schule gesehen haben (.) die sind auch da in keiner Weise sage ich mal so sozialisiert wie wir es kennen und das ist natürlich schwierig (.) und das ist natürlich schwierig auch den Eltern eben klar zu machen oder deutlich zu machen dass Schule eben ganz ganz wichtig ist für ihre Kinder (.) ganz argen und häufig finde ich dass also Kinder also von Romanes die eben Schulbildung auch als nicht so wichtig in ihrem Kulturkreis eben angesehen wird ne? ja (Flussschule, Flurstadt, SL, Z.358-366) Im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme elaboriert Moser die Proposition, dass ›rumänische Kinder‹ vor dem Eintritt in die Flussschule keine schulisch relevanten Erfahrungen gemacht hätten. Durch die Wiederholungen »auch dort« bzw. »auch da« weist die Schulleitung zunächst die Lebensbedingungen in Rumänien (»un-

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

terprivilegiert«) als ursächlich für schulische Probleme aus, verknüpft diese Feststellung aber im direkten Anschluss mit Annahmen über vermeintlich kulturelle Prägungen ›der Rumänen/Roma‹, wonach schulische Bildung als nicht relevant angesehen würde. Durch die Formulierung »in keiner Weise […] wie wir es kennen« wird ein negativer Horizont aufgemacht und eine kategoriale Differenzierung zwischen ›der Kultur der Roma/Rumänen‹ und ›der deutschen Kultur‹ vorgenommen. Interessant ist, dass Moser die Bezeichnung »Kinder also von Romanes« nutzt. So bezeichnet ›Romanes‹ zwar eine Sprache von Roma und Sinti23 , nicht jedoch die Sprecher:innen dieser Sprache (vgl. Franz 2018: 34). Zusammen mit der zu Beginn der Passage genutzten Formulierung »rumänischen Kindern und Mitbürgern« könnte die Bezeichnung ›Romanes‹ als ein Versuch eines anerkennenden und trotz der benannten Differenz wertschätzenden und verständnisvollen Sprechens über ›Roma‹ gelesen werden. Die Orientierung, schulische Schwierigkeiten bei den als ›Roma‹ oder ›Rumänen‹ adressierten Kinder und Familien auszumachen, diese aber nicht als ›böse Absicht‹ zu beschreiben, sondern die Schüler:innen in gewisser Weise als ›Opfer‹ ihrer kategorial von der ›deutschen Kultur‹ abweichenden ›rumänischen/Roma-Kultur‹ zu entwerfen, konnte bereits in den anderen Interviews an der Flussschule rekonstruiert werden. Die Verknüpfung von negativen Schulleistungen aufgrund vermeintlicher ›kultureller Prägung‹ wird auch an der Südschule, insbesondere in Bezug auf ›Familien aus Rumänien‹, vorgenommen. Auf die immanente Interviewerinnenfrage, warum manche ›Seiteneinsteiger‹ nicht regelmäßig zur Schule kämen, elaborieren Vorbereitungslehrkraft Url und Regelklassenlehrkraft Boldt gemeinsam im Modus einer exemplifizierenden Erzählung, dass der Grund für die Fehlzeiten in der ›Kultur‹ der ›Seiteneinsteiger‹ liege. JJ: Können Sie sich das irgendwie erklären warum das so ist? oder warum manche da nicht kommen?   UR: Das ist sehr oft kulturell bedingt   SON:                                                └hmhm   BOL:                                                                 └das ist kulturell bedingt genau also die fahren dann in den Ferien mit der ganzen Family nach Rumänien oder wo auch immer hin das ist jetzt nur ein Beispiel @(.)@ ja   UR:                                                                         └Schule ist einfach nicht so wichtig ne?   BOL:                                                                                                                                                         └nein genau  

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Dabei, so hält Franz mit Blick auf die Sprachenvielfalt fest, »unterscheidet sich die zweite Muttersprache der Sinti, das deutsche Romanes, sehr deutlich vom Romanes der rumänischen oder aus Ex-Jugoslawien kommenden Roma.« (Franz 2018: 34)

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

SON: └es hat keinen Stellenwert   UR:                                                               └und  wenn  man  die  Eltern  darauf  anspricht  auf  auf  das  Problem  das  haben  wir  auch  schon  gehört  dann  bekommen  wir  als  Antwort  zu  hören  (.)  ich  bin  auch  nie  zur  Schule  gegangen  und  ich  habe  es  auch  geschafft  ne?  also  was  das  auch  immer  heißen  mag  ne?  ich  also  ich  habe  hi jeden  Tag  was  im  Topf  und  ich  habe  ein  Dach  über  dem  Kopf  und  ich  lebe  gut  ne?  und  deshalb  muss  mein  Kind  jetzt  auch  nicht  sich  abmühen  in  der  Schule  ne?   BOL:                                                                                                                                                         └ja so ist das leider (Südschule, Radstadt, LK, Z.173-190) In Anknüpfung an das von Boldt zu Beginn eingebrachte Beispiel führt Vorbereitungslehrkraft Url aus, dass die Erziehungsberechtigte keine sachlich vorgebrachten Begründungen durch die Lehrkräfte verstünden und – im Gegensatz zu den Lehrer:innen – wegen der Fehlzeiten ihrer Kinder nicht beunruhigt seien. In der Erzählung dokumentiert sich die Orientierung, dass die ›rumänischen Eltern‹ die Lehrkräfte nicht ernst nehmen würden und nicht ›belehrbar‹ seien. Es wird das Bild von einem unüberbrückbaren kulturellen Graben zwischen ›den Rumänen‹ und der ›deutschen Schule‹ gezeichnet. Probleme entstünden in dieser Perspektive nicht nur durch das Fehlen der ›Seiteneinsteiger‹, sondern auch durch das unkooperative und uneinsichtige Verhalten der Eltern, welches kulturell bedingt sei. Dabei findet eine Verdinglichung des Kulturbegriffs statt: Kultur wird (wie sich bereits auch an der Flussschule und Bergschule andeutet) als eine Faktizität entworfen, die außerhalb menschlicher Einflüsse stehe und klar voneinander abgrenzbare homogene Gemeinschaften begründe. Diese Orientierung wird im Verlauf der Passage weiter ausgeführt. So weisen die Lehrkräfte nicht nur darauf hin, dass die rumänischen Eltern eine andere Einstellung zur Schule hätten (Z.194), sondern halten auch fest, dass die ›Seiteneinsteiger‹ aufgrund ihrer ›Kultur‹ – in der Schulbildung keinen Stellenwert habe – oft dem Unterricht fernblieben. BOL: also (.) das (.) die haben da einfach die verst- so verstehen nicht dieses diese Bedeutung von Schule wie wir die jetzt verstehen einfach (.) ja also es ist das müssen sie halt hier so machen sage ich mal wie du gerade schon gesagt hast in ihrem Land würde sie vielleicht sowieso nicht zur Schule gehen oder sie sagen selbst ich war nicht in der Schule so eine Mutter hatte ich auch schon mal da habe ich gesagt ja (.) wir haben hier die Möglichkeit ihr Kind kann so eine Förderung bekommen Sie müssen das noch nichtmals bezahlen also es war wirklich alles tipptopp und die sagte auch zu mir puhh ist mir egal wenn Sie wollen machen Sie das weil in Rumänien würde die jetzt sowieso nicht zur Schule gehen und so (.) das ist einfach ein ganz eine ganz andere Kultur (Südschule, Radstadt, LK, Z.204-213) Nicht nur durch die mehrmalige Wiederholung der Formulierung »verstehen«, sondern auch durch die Betonung »nicht« verleiht Boldt der Aussage Nachdruck, dass

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

die rumänischen Eltern – im Gegensatz zur ›Wir-Gruppe‹ – nicht die Bedeutung von Schule verstünden. Dabei wird die Annahme formuliert, dass die Kinder in Rumänien wahrscheinlich nicht zur Schule geschickt würden und in Deutschland nur unter Zwang – und nicht freiwillig – kämen. Entsprechend dieser Orientierung kann auch ein (regelmäßiger) Schulbesuch nicht als ein Zeichen gelesen werden, dass ›den Rumänen‹ die Bildung ihrer Kinder wichtig wäre. Die so als eine Gruppe konstruierten ›Rumänen‹ werden kategorial von anderen Schüler:innen differenziert und es wird das Bild unüberbrückbarer kultureller Differenzen gezeichnet, die auch durch das Engagement der Lehrkräfte nicht überwunden werden könnten. Es findet hierbei eine Verabsolutierung von Differenz statt (hier zeigt sich ein paralleles Muster zur Verabsolutierung von Leistungsgrenzen, s. Kap. 6.3.1.4). In einer anschließenden exemplifizierenden Erzählung über die Erziehung von jungen Mädchen in ›rumänischen Familien‹ wird diese Orientierung noch einmal zugespitzt auf den Punkt gebracht. BOL:                  └und ich glaube auch gerade bei den älteren Mädchen zum Beispiel auch (.) die kommen total gerne zur Schule und dass was die zu tun haben und ihre Aufgaben erledigen die auch gerne das machen die gerne und die sind da auch auch häufig ehrgeizig dabei   UR:                                       └ja die Kinder sind motiviert   BOL:                                                                                          └ja auf jeden Fall total motiviert aber trotzdem wissen die glaube ich schon insgeheim im Hinterstübchen ok ich bin jetzt irgendwie elf zwölf Jahre alt aber in spätestens zwei drei Jahren wird das passieren was immer bei uns passiert in dem Alter dann geht es nach Rumänien dann werde ich verheiratet und dann (.) ist das Thema Schule erledigt das ne? ich glaube das wissen die auch teilweise schon und deswegen ist vielleicht auch manchmal so dieserdiese Einstellung vielleicht auch schon so mitgegeben so von zu Hause irgendwie ne? dass sie da nicht so emsig und so (.) ehrgeizig sind die Sprache richtig zu lernen dass sie auch wirklich ein Ziel für sich haben für später was mache ich in der Zukunft soweit denken die dann glaube ich gar nicht was man ihnen auch irgendwie gar nicht verübeln kann weil es wird ihnen ja so vorgelebt auch ne? (Südschule, Radstadt, LK, Z.219-234) Mit der Formulierung »gerade bei den älteren Mädchen« führt Regelklassenlehrkraft Boldt eine weitere Komponente zur vorher bereits entfalteten Proposition ein, dass schulische Probleme ›der Roma/Rumänen‹ kulturell bedingt seien. Durch die Betonung hebt Boldt das Geschlecht hervor und macht deutlich, dass die Situation für Mädchen besonders problematisch sei. Durch die mehrfache Wiederholung des Ausdrucks »gerne« wird zunächst von Boldt hervorgehoben, dass die Mädchen die Schule sehr mögen. Es wird ein positiver Horizont der fleißigen, motivierten und ambitionierten rumänischen Mädchen, die gerne in der Schule seien, aufgespannt, der von Url validiert und von Boldt mit »total motiviert« nochmals bestätigt wird. Boldt modifiziert daraufhin jedoch im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme den zuvor entfalteten Orientierungsgehalt und verweist darauf, dass die Mädchen ab einem gewissen Alter ihren zukünftigen

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Lebensweg – in dem schulische Bildung keine Rolle spiele – antizipieren und entsprechend dieser Vorstellungen ihre schulischen Ambitionen verlieren würden. Interessant ist, dass Boldt die unausgesprochenen Gedanken der Mädchen, die »im Hinterstübchen« vorhanden seien, in direkter Rede formuliert. Die Regelklassenlehrkraft stellt sich damit als eine Person dar, die sich sehr gut mit der ›Kultur der Rumänen‹ und deren Auswirkungen auf die Schülerinnen auskenne. Die Mädchen werden als passive Subjekte und – homolog zur rekonstruierten Orientierung an der Flussschule (dort: in Bezug auf alle ›Angehörigen der Kultur‹) – als ›Opfer‹ ihrer Kultur beschrieben. Mit der Formulierung »passiert was immer bei uns passiert« wird auf eine Tradition hingewiesen, in der Mädchen kein Mitspracherecht hätten. Auffällig ist der starke Kontrast in den Beschreibungen. Während die Schülerinnen zu Beginn der Passage als »ehrgeizig« bezeichnet werden, werden sie im weiteren Verlauf als »nicht so emsig und so (.) ehrgeizig« beschrieben. Gleichzeitig werden die Schülerinnen mit den Beschreibungen »nicht verübelt« und »wird ihnen ja so vorgelebt« aber auch entlastet und ihr negatives Lernverhalten mit Hinweis auf ›ihre Kultur‹ und den ›in der Kultur verankerten Traditionen‹ begründet. Die Konklusion kann als eine Generalisierung der Orientierung, ›die rumänische Kultur ist (insbesondere für Mädchen) ein Problem‹, gelesen werden. Die zuvor immer wieder angedeuteten ›problematischen‹ Aspekte werden hier nochmals gebündelt und direkt auf das Verhalten der Schülerinnen bezogen. Auch die Schulleitung der Südschule verweist zur Erklärung des unregelmäßigen Schulbesuchs der ›Seiteneinsteiger‹ auf ihre Zugehörigkeit zur ›Gruppe der Roma‹. Dabei wird von ihr:ihm jedoch nicht (nur) auf eine ›Kultur der Roma‹, sondern auf ›prekäre‹ und ›schwierige‹ Lebensbedingungen der Familien verwiesen. JJ: Und haben Sie da irgendeine Erklärung warum das so ist?   ITT: Ich glaube also es ist tatsächlich das tut mir auch immer leid dass ich das dann so sage weil ich das nicht mag aber es ist tatsächlich die Bevölkerungsgruppe der Roma wo das das Problem ist und ich glaube das hat einfach damit zu tun dass Schule nicht so einen Stellenwert hat ne? die Eltern können in der Regel nicht lesen und schreiben (.) die Familien (.) ja haben auch einfach andere Sorgen hier die brauchen ihre Kinder auch um Geld zu beschaffen oder auf die kleinen Geschwister aufzupassen und dann ist Schule einfach nicht so wichtig (.) (Südschule, Radstadt, SL, Z.664-671) Anders als die Lehrkräfte der Südschule, die die ›rumänischen/roma‹ Schüler:innen als Leidtragende ihrer ›Kultur‹ entwerfen, beschreibt die Schulleitung der Südschule die Schüler:innen als Opfer ihrer ›prekären sozialen Lebenssituation‹, die sich jedoch ebenso durch ihre Zugehörigkeit zur »Bevölkerungsgruppe der Roma« ergebe. An der Waldschule wird der Verweis auf ›rumänische Schüler:innen‹ von der Vorbereitungslehrkraft zunächst als ein beliebiges, zufälliges Beispiel für negatives Schulverhalten von ›Seiteneinsteigern‹ eingeführt. FU: also im Moment mit den acht Kindern habe ich wirklich auch die Möglichkeit Kindern auch zu helfen und bei denen zu bleiben wobei auch das Gleiche auftritt das

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

permanent Störungen sind also die Kinder haben auch Probleme sich zu konzentrieren und ja so bei ihrer Sache zu bleiben und diese Haltung der Schule des Lernens gegenüber ist sowieso schwierig oder gestört ich weiß nicht was die teilweise erlebt haben manchmal kommen die zu uns und haben ihren ersten Schulkontakt hier also die die die Eltern sind zusagen gewandert ne? von von einem Land ins andere bis die dann sagen wir mal jetzt von Rumänien aus letztlich hier bei uns in Deutschland angekommen sind also wir haben viele rumänische Kinder im Moment und oft haben die Kinder in der Zeit gar nicht wirklich Schulen besucht und haben überhaupt nicht gelernt wie man eigentlich sich in der Schule verhält in einer Gruppe mit anderen wo es darauf ankommt ne sich auch zurückzunehmen das müssen natürlich alle Kinder die in die Schule kommen lernen aber ich sag mal wenn vielleicht auch so der familiäre Hintergrund das nicht schon @erarbeitet hat@ wird es schwierig ja (Waldschule, Flurstadt LK, Z.149-162) Fuchs validiert die im vorherigen Verlauf der Passage von Baumann benannten ›Probleme mit den Seiteneinsteigern‹ im Regelunterricht und hält fest, dass diese Schwierigkeiten auch in der Vorbereitungsklasse auftreten. Das als problematisch beschriebene Verhalten der ›Seiteneinsteiger‹ wird also nicht dem Unterrichtssetting (Regelklasse oder Vorbereitungsklasse) angelastet, sondern auf die ›Seiteneinsteiger‹ selbst zurückgeführt. Nicht nur die ›Konzentrationsunfähigkeit‹ der ›Seiteneinsteiger‹ wird als Problem beschrieben, auch die ›Haltung gegenüber der Schule/dem Lernen‹, d.h. also die innere Grundeinstellung, die das Handeln der ›Seiteneinsteiger‹ in der Schule prägt, wird als ›schwierig/gestört‹ dargestellt. Während die Formulierung ›schwierige Haltung‹ stark auf die Verantwortung der ›Seiteneinsteiger‹ selbst verweist, externalisiert die Formulierung ›gestört‹ die Schuld für das problematische Verhalten. Diese Formulierung könnte so gelesen werden, dass die Haltung durch Einflüsse von außen ›gestört‹ wurde. In dieser Lesart wurde die ggf. positiv vorhandene Einstellung zur Schule durch bestimmte Umstände oder Ereignisse belastet. Die Formulierung ›gestört‹ könnte auch, im Sinne von ›krankhaft‹, als pathologisch gelesen werden. Die weiteren Ausführungen von Fuchs deuten aber eher auf die erste Lesart hin, nach der die Einstellung der ›Seiteneinsteiger‹ durch äußeres Einwirken gestört wurde. Dabei wird das Erlebte jedoch nicht als etwas Positives charakterisiert, sondern das Erleben kann vielmehr im Sinne von ›erleiden‹ gelesen werden. Deutlich wird diese negative Konnotation insbesondere durch den Zusammenhang mit der zuvor als ›gestört‹ beschriebenen Haltung der ›Seiteneinsteiger‹ zur Schule. Sie haben also etwas Negatives erlebt, das ihre Einstellung gegenüber der Schule schwierig gestalte. Was dies unter anderem sein könnte, erläutert Fuchs, indem sie:er darauf verweist, dass »manchmal« der erste »Schulkontakt« bei ihnen in der Schule stattfinde. Nachteilig waren also nicht negative Schulerfahrungen, sondern das Ausbleiben von Schulerfahrungen. Warum kein Schulbesuch stattgefunden habe, erläutert Fuchs im Weiteren. So seien die Eltern der ›Seiteneinsteiger‹ »gewandert«. Auffällig ist, dass Fuchs nicht davon spricht, dass die Familien oder die ›Seiteneinsteiger‹ selbst ›gewandert‹ sind, sondern lediglich die Eltern benennt. Was unter ›wandern‹ verstanden wird, wird im folgenden Satz konkretisiert. So seien die Eltern »von einem Land ins andere« gewandert. Mit »sagen wir mal jetzt« führt Fuchs ein Beispiel für eine solche ›Wanderung‹ an: So würden die Eltern von Rumänien aus

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

so lange wandern, bis sie »letztlich hier bei uns in Deutschland angekommen sind«. Aufschlussreich ist, dass nicht von Reisen, Migrieren oder Flüchten gesprochen wird, sondern der Begriff ›Wandern‹ verwendet wird. Da der Begriff nicht im Zusammenhang mit einer Wanderung in den Bergen o.ä. genutzt wird, kann das ›Wandern‹ hier als ›umherziehen‹ ohne klares Ziel gelesen werden. Der Wechsel des Wohnortes der Familien, von Rumänien nach Deutschland, wird also nicht als eine gezielte Migration oder Flucht beschrieben. Vielmehr wird auf ein im öffentlichen Diskurs weitverbreitetes Bild von ›umherziehenden, nicht sesshaften rumänischen Familien‹ Bezug genommen, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken würden. In Form einer Konklusion hält Fuchs fest, was die Folgen des ›Wanderns‹ und damit des fehlenden Schulbesuchs seien. Im Zusammenhang mit dem ›familiären Hintergrund‹ könnte das von Fuchs lachend ausgesprochene ›erarbeitet‹ so gelesen werden, dass Fuchs nicht von einem konkreten Lernprozess, sondern eher von der Sozialisation in einem bestimmten Milieu ausgeht, dem die Familien angehörten und in dem sie nicht erlernen würden, wie man sich in der Schule verhält. Der Begriff ›familiärer Hintergrund‹ ist sehr viel weiter gefasst als die Bezeichnung ›Familie‹ und kann als ein Hinweis auf das Bildungsniveau der Eltern, die finanziellen Ressourcen und eine (nicht) vorhandene Migrationserfahrung gelesen werden. Auffällig ist, dass Fuchs mit der Zwischenkonklusion – wie bereits zuvor – an die Aussage von Baumann anknüpft (Z.127128) und die Formulierungen von Baumann fast wortgleich paraphrasiert (›Regeln beachten lernen‹ = ›Verhalten lernen‹; ›zurückzustecken‹ = ›zurückzunehmen‹). Hier zeigt sich ein geteilter Orientierungsgehalt, dass Kinder vor Eintritt in die Schule in ihren Familien bereits ein schulkompatibles Sozialverhalten erlernt haben sollten – dieses jedoch insbesondere bei den ›Seiteneinsteigern‹ aus Rumänien nicht der Fall sei. Die ›rumänischen Seiteneinsteiger‹ hätten nicht gelernt, wie sie sich in der Schule verhalten müssten, sie hätten keine Geduld, wollten zu viel Aufmerksamkeit und würden keine Rücksicht auf andere nehmen. Dieser Orientierungsgehalt wird noch mal in der anschließenden Passage von Fuchs präzisiert: FU: die Kinder müssen erst mal ankommen und sich hier zurechtfinden mit Regeln Strukturen Umgang miteinander ich hab am Anfang als dann eine größere Gruppe rumänischer Kinder kam ging es erst mal darum wie spielen wir miteinander?   BAU:                                                                                                                                                       └ja   FU: ohne Schreien den anderen Hauen sofort irgendwie riesen Theater veranstalten wie wie wie spielen wir zusammen Memory? ohne Schummeln ohne irgendwie das Spiel ständig zerstören sondern (.) ne? einfach dabei bleiben auch Konzentration also da sind unheimlich viele Sachen also insofern (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.251-258) Ebenso wie in der vorherigen Passage zeigt sich auch hier die Konstruktion einer Gruppe der ›rumänischen Seiteneinsteiger‹ sowie deren negative Bewertung. Die ›rumänischen Seiteneinsteiger‹ müssten, so die Vorbereitungslehrkraft, zunächst ganz grundlegendes Sozialverhalten erlernen, z.B. nicht verbal oder physisch aggressiv zu werden. Wenn selbst – wie von der Vorbereitungslehrkraft dargestellt – das gemeinsame Spie-

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len nach Regeln und ohne Gewalt eine Herausforderung sei, lege dies den Schluss nahe, dass ein regulärer Klassenunterricht wie in einer Regelklasse mit diesen Schüler:innen nicht möglich sei. Eine homologe Orientierung, dass es ›rumänischen Seiteneinsteigern‹ an grundlegenden schulischen Voraussetzungen und Sozialkompetenzen fehle, wird auch von der Schulleitung der Waldschule geteilt: LIN: da haben wir vornehmlich eben diese diese rumänischen Familien bei uns die (.) uns deswegen große Sorgen machen weil (.)die (.) einfach was so (.) ja Sozialkompetenz und überhaupt Thema Gesundheit und Hygiene und so weiter ganz weit unten angesiedelt sind ne und ganz große Schwierigkeiten haben und auch was das Lernen angeht ganz große Schwierigkeiten haben (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.181-186) Der negative Horizont wird von der Schulleitung noch weiter aufgespannt als von den anderen Lehrkräften und die ›rumänischen Familien‹ werden grundsätzlich – und nicht nur in Bezug auf den schulischen Bereich – als eine problematische ›Bevölkerungsgruppe‹ entworfen. So werden von Lindemann neben fehlenden Sozialkompetenzen und Lernschwierigkeiten zusätzlich die Bereiche »Gesundheit und Hygiene und so weiter« benannt. Die Problemzuschreibungen werden dabei mit den Formulierungen »ganz weit unten angesiedelt« oder »ganz große Schwierigkeiten« absolut gesetzt. Fallübergreifende Zusammenführung Im fallexternen Vergleich lässt sich herausarbeiten, dass ›Seiteneinsteiger‹, die von den Lehrkräften dem ›Kulturkreis der Roma/Rumänen‹ zugeordnet werden, systematisch als besonders ›leistungsschwach‹, ›problematisch‹ und mit der ›deutschen Schule‹ und/oder der deutschen Gesellschaft oder Kultur inkompatibel markiert werden24 . Begründet wird dies mit dem Hinweis darauf, dass die Familien sich nicht an geltende Regeln halten wollten, die Eltern ein unkooperatives Verhalten zeigen würden, die Familien ständig ›umherzögen‹ und daher Brüche in den Bildungsbiografien ihrer Kinder erzeugen würden und die so klassifizierten Schüler:innen in ›rückständigen‹ und ›kinderreichen‹ Großfamilien lebten, in der Bildung keine Bedeutung habe und in der über Mädchen patriarchal bestimmt würde. Die hier noch mal zusammengefassten, von den Lehrkräften aufgerufenen, Zuschreibungen hinsichtlich ›Roma/Rumänen‹ scheinen sich – dies wird zusammenführend deutlich – aus antiziganistischen25 Konstruktionen zu speisen. So führt Severin aus, dass die Basis des Antiziganismus in der Zuschreibung von Nicht-Sesshaftigkeit, einer Unfähigkeit und dem Unwillen einer geregelten Arbeit nachzugehen, einer »Unfähigkeit zu produktiver Arbeit« (Severin 2011: 69), mit der eine Ausnutzung der Mehrheitsgesellschaft einhergehe, einer differenten Kultur 24

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In dieser Orientierung deutet sich eine Parallele zu der kulturalistisch argumentierenden Defizitorientierung der bundesdeutschen Ausländerpädagogik an, mit der ›schulische Probleme‹ von migrierten Schüler:innen mit Hinweisen auf ›kulturelle Andersartigkeit‹, ›Kulturkonflikte‹ und Identitätsschwierigkeiten ausgemacht wurden (vgl. Czock 1993: 74ff., 84ff.). Der Begriff ›Antiziganismus‹ wird aufgrund seiner Bezugnahme auf die abwertende Fremdbezeichnung »-zigan« von verschiedenen Stellen kritisiert (vgl. u.a. Radjelović 2014; Jakupi 2019). Es wird in dieser Arbeit im Anschluss an End (2014) und Messerschmidt (2019b) dennoch an dem Begriff festgehalten und darauf verwiesen, dass sich hier um einen analytischen Begriff in Anlehnung an das theoretische Konzept ›Rassismus‹ handelt.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

und eines »Agieren als Kollektiv« (ebd.: 70), mit dem die so klassifizierten »fast nie als Individuen, sondern als Teil eines Kollektivs/einer Gruppe konstruiert und dargestellt« (ebd.) werden, liege. Ergänzend kann mit Bezug auf Autor:innen wie Eulberg oder Winter hinzugefügt werden, dass antiziganistische Konstruktionen oft mit diskriminierenden Geschlechtszuschreibungen verknüpft werden (vgl. u.a. Eulberg 2009; Winter 2020). So deutet sich in den Ausführungen der Lehrkraft der Südschule ein Bezug auf öffentliche und mediale, aber auch wissenschaftliche Diskurse an, in denen Frauen als ›Opfer‹ ihrer als ›patriarchal‹ und ›rückständig‹ beobachteten Kultur entworfen werden. Die dort rekonstruierte Orientierung verweist auf homologe Muster, die hinsichtlich der Zuschreibung von als ›muslimisch‹ klassifizierten Mädchen und Frauen bereits herausgearbeitet wurden (s. hierzu u.a. Attia 1994, 2011, 2017; Höhne 2001; Wagner 2011; Benz 2017, 2019).26 So führt Scharathow aus, »dass Mädchen, die als Musliminnen identifiziert werden, […] u.a. in der Schule immer wieder als handlungsunfähige Opfer unterstellter patriarchaler Strukturen angesprochen werden, die nicht in der Lage seien, begründet eigene Entscheidungen zu treffen. Sie werden etwa gefragt, wann sie die Schule verlassen würden, um zu heiraten bzw. verheiratet zu werden« (Scharathow 2016: o.S.). Homolog kann in Bezug auf das Lehrkräfteinterview der Südschule vermutet werden, dass (rassistische) Zuschreibungen und Diskriminierungen, in denen Mädchen/Frauen als ›Opfer‹ ihrer ›Kultur‹ entworfen werden, sich auch auf andere Personen beziehen, die einer als ›rückständig‹ und ›patriarchal‹ konstruierten ›kulturellen Gruppe der Roma/Rumänen‹ zugeordneten werden. Insofern scheint die Klassifikation nach Geschlecht hier ein Brennglas für kulturalisierende Zuschreibungen darzustellen. Deutlich zeigt sich insgesamt die Annahme, dass die Welt in verschiedene ›Kulturkreise‹ aufzuteilen sei, mit der davon ausgegangen wird, dass Kulturen homogene Gemeinschaften darstellen, die klar voneinander abgegrenzt werden könnten. Hier deutet sich ein »totalitätsorientierter Kulturbegriff« (Reckwitz 2001: 185) der Tradition Herders folgend an, der von Reckwitz wie folgt beschrieben wird: »Gleich einer Kugel erscheint die Kultur im Sinne der Totalität einer Lebensweise, wie sie von einem Kollektiv (bevorzugt einem nationalen Kollektiv) praktiziert wird, immanent geschlossen und nach außen durch eine eindeutige Differenz zu anderen Lebensweisen bestimmt.« (Ebd.) Antiziganistische Argumentationen zeigen sich in den Interviews also insbesondere in der Bezugnahme auf einen statischen ›totalitätsorientierten‹ Kulturbegriff. Die als ›Roma‹/›Rumänen‹ adressierten Schüler:innen werden dabei weniger als ›Seiteneinsteiger‹, sondern vielmehr als eine besondere Gruppe der ›Roma‹ konstruiert und von anderen ›Seiteneinsteigern‹ kategorial differenziert. Es wird damit das Bild einer unüberbrückbaren ›kulturellen Differenz‹ gezeichnet, welche auch durch das Engagement der Lehrkräfte nicht überwunden werden könne. In der deutlich werdenden Verabsolutierung von Differenz zeigen sich dabei Parallelen zu den rekonstruierten Verabsolutierungen im Hinblick auf Leistungsgrenzen von ›Roma/Rumänen‹. Diese handlungsleitende

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Demgegenüber werden als ›migrantisch‹ beobachtete Jungen »häufig mit bedrohlichen oder unruhestiftenden Fremdzuschreibungen in Verbindung gebracht und unter Verdacht gestellt, ›bildungsferne‹ Einstellungen und Verhaltensweisen in Verbindung mit männlichen Geschlechtstypiken herauszubilden.« (Westphal/Kämpfe 2017: 17)

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Orientierung, bestimmte ›Seiteneinsteiger‹ als ›Roma/Rumänen‹ zu beobachten und als eine besonders problematische Gruppe zu adressieren, kann an der Ostschule und der Westschule nicht rekonstruiert werden. Es kann vermutet werden, dass an beiden Schulen solche national-kulturellen Zuschreibungen weniger üblich sind. Dass die rekonstruierten negativen Zuschreibungen an allen anderen vier Schulen ausschließlich in Bezug auf ›Roma‹ oder ›Rumänen‹ vorgenommen werden, ist auffällig. Gleichzeitig weisen unterschiedliche Arbeiten zum Antiziganismus in der deutschen Gesellschaft jedoch deutlich auf die aktuelle Wirkmächtigkeit dieser Diskriminierungsform hin, sodass sich die hier herausgearbeiteten Orientierungen mit den Ergebnissen weiterer Studien decken, die sich explizit mit dem Thema Antiziganismus befassen (vgl. hierzu u.a. Strauß 2011; Hornberg/Brüggemann 2013; Scherr 2013, 2017; End 2014; Cudak 2016; Stender 2016; Lohse 2016; Bukow 2016; Fings 2019; Messerschmidt 2019a, 2019b; Soremsky et al. 2020).

6.3.2

Die Klassifikation ›Seiteneinsteiger‹

In einem ersten Schritt konnte in einer komparativen Analyse herausgearbeitet werden, wie neu migrierte Schüler:innen von Lehrkräften beobachtet, als ›Seiteneinsteiger‹ klassifiziert und von ›Regelschülern‹ differenziert werden. Dabei wird erkennbar, dass neu migrierte Kinder an den untersuchten Grundschulen durch die dort arbeitenden Lehrkräfte und Schulleitungen in unterschiedlicher Weise als eine ›besondere Schüler:innengruppe‹ konstruiert werden und keine einheitlichen Problembeschreibungen vorliegen – auch wenn Bezugsprobleme zunächst ähnlich erscheinen (s. bspw. Kap. 6.3.1.3).   Durch die Rekonstruktionen wird deutlich, dass unterschiedliche handlungsleitende Orientierungen in Bezug auf die Kategorie ›Seiteneinsteiger‹ vorliegen. So lässt sich als auffälligster Unterschied festhalten, dass diese einerseits als ein vorübergehender Status verhandelt wird, der schnell an Relevanz verliert, während andererseits kategoriale Differenzierungen zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ vorgenommen werden. Grundlage der dieser letzteren Unterscheidungspraxis inhärenten kategorialen Differenzierung ist die Auffassung, dass es eine fehlende Passung zwischen den ›Seiteneinsteigern‹ und der ›deutschen Schule‹ gäbe. Interessant sind an dieser Stelle die Bergschule und die Südschule: So wird deutlich, dass auch dort die skizzierte These einer fehlenden Passung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und der ›deutschen Schule‹ existiert, diese Annahme aber nicht ›exklusiv‹ für die als ›Seiteneinsteiger‹ markierten Schüler:innen gilt, sondern auf alle Schüler:innen der Schulen übertragen wird. An diesen Schulen wird also jeweils die gesamte Schule als ›besonders‹ markiert und von der ›normalen deutschen Schule‹ unterschieden. Darüber hinaus wurde herausgearbeitet, dass auch eine kategoriale Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ ohne eine semantische Unterscheidung ›Seiteneinsteiger vs. Regelschüler‹ zum Tragen kommen kann. So zeigt sich, dass an der Ostschule wie auch der Westschule ausschließlich von Kindern gesprochen wird, die implizit von anderen Kindern an der Schule differenziert werden, während an der Waldschule auch semantisch zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ unterschieden wird. Deutlich wird die nicht semantische kategoriale Differenzierung

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

exemplarisch an dem Satz »obwohl das zum Beispiel bei den Kindern an die bei mir in der Klasse sind ich habe ja vier« (Westschule, Radstadt, LK, Z.369-370). Während Solder an der Ostschule ausschließlich ›Seiteneinsteiger‹ in der Vorbereitungsklasse beschult und insofern eindeutig ist, dass es sich um ›Seiteneinsteiger‹ handele, sobald von ›den Kindern in der Klasse‹ berichtet wird, werden neu migrierte Schüler:innen an der Westschule teilintegrativ unterrichtet. Wenn von ›Schülern‹ oder ›Kindern‹ gesprochen wird, können hier also potenziell immer ›Regelschüler‹ oder ›Seiteneinsteiger‹ gemeint sein. Dennoch deuten sich in der Diskussion mit den sechs Regelklassenlehrkräften keine Verständnisschwierigkeiten hinsichtlich der Frage an, über wen hier gesprochen wird. Die Formulierung »ich habe ja vier« ist für alle verständlich und damit anschlussfähig. Eine kategoriale Differenzierung kann somit auch ohne semantische Unterscheidung vorgenommen werden und, so ist anzunehmen, handlungspraktisch im Unterricht wirksam werden. Schließlich wird erkennbar, dass neben kategorialen Differenzierungen zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ auch zusätzlich intrakategoriale Differenzierungen, d.h. innerhalb der konstruierten ›Gruppe‹ ›Seiteneinsteiger‹, vorgenommen werden, mit denen diese Schüler:innen nach Leistung unterschieden werden. An der Flussschule wird die zusätzliche Binnendifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ nach Leistung dabei bspw. insofern handlungspraktisch relevant, als die Beschulung der ›Seiteneinsteiger‹ hier in niveaudifferenzierten Vorbereitungsgruppen erfolgt.   Trotz der herausgearbeiteten Unterschiede in den handlungsleitenden Orientierungen hinsichtlich der Differenzierungspraxen zwischen ›Regelschülern‹ und ›Seiteneinsteigern‹ kann für alle Schulen festgestellt werden, dass die Klassifikationspraxis durch Normalitätserwartungen an die Mitgliedschaftsrolle von Schüler:innen in der Organisation Schule vorstrukturiert ist. Es lässt sich darüber hinaus zeigen, dass Kinder, die als ›Roma‹ oder ›Rumänen‹ klassifiziert werden, kategorial von den ›normalen Seiteneinsteigern‹, wie auch von den ›Regelschülern‹, differenziert werden. Dieser so konstruierten ›Gruppe‹ wird die Fähigkeit abgesprochen, erfolgreich am Bildungssystem teilhaben zu können – sie wird als eine besonders problematische ›Schüler:innengruppe‹ konstruiert. Wenn neu migrierte Schüler:innen bei Eintritt in die (deutsche) Schule hinsichtlich ihres Alters, ihrer Deutsch-Sprachkenntnisse, ihrer Leistungen, ihrer Sozialisation und ›Kultur‹ kategorial von ›Regelschülern‹ differenziert werden und darauf verwiesen wird, dass auf diese ›Eigenschaften‹ von der Schule nur bedingt Einfluss genommen werden könne, kann die Schule sich von an diese Beobachtung anschließenden Entscheidungen entlasten und die Verantwortung für diese auf die Schüler:innen und ihre Familien verlagern. Zu diesen kollektivistischen Askriptionen können – wie gezeigt wurde – bspw. (nationale) ›Kulturen‹ oder die ›Sozialisation in bestimmen Sozialräumen‹ gezählt werden – welchen mit Blick auf neu migrierte Schüler:innen besondere Relevanz zugesprochen wird. Deutlich kann hier ein Matching (Tilly 1999) der (schul-)internen (individualistischen) Kategorien wie ›Leistung‹, ›Begabung‹ oder ›Motivation‹ mit externen (kollektivistischen) Kategorien wie ›Nationalität‹, ›Kultur‹ oder ›Sozialisation‹ sichtbar gemacht werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass dieses Matching u.a. relevant

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

für die Etablierung von spezifischen Lösungen für die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ ist.   Durch die komparative Analyse wurde rekonstruiert, wie neu migrierte Schüler:innen durch die Schulen jeweils differenziert werden. Wie die Klassifikationen in der Beschulungspraxis weiter relevant gemacht werden, ist damit zunächst jedoch noch nicht geklärt. Im Folgenden werden daher Partizipationsbedingungen neu migrierter Schüler:innen näher betrachtet und der Fokus auf die kommunikativen Anschlüsse an die rekonstruierten Klassifikationen an den folgenden potenziell bildungsbiografisch relevanten Entscheidungsstellen gelegt: • • • •

die Ausgestaltung der Unterrichtspraxis (Kap. 6.4) die Zuweisung zu einer Regelklasse (Kap. 6.5) die Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs (Kap. 6.6) der Wechsel von der Primar- in die niveaudifferenzierte Sekundarstufe (Kap. 6.7)

6.4

Die Ausgestaltung des Unterrichts für neu migrierte Schüler:innen

Im Folgenden steht die Gestaltung des Unterrichts für neu migrierter Schüler:innen im Fokus. Ausgehend von unterschiedlichen bildungspolitischen Vorgaben bezüglich der Ausgestaltung der Stundentafeln/Curricula sowie der Leistungsbewertung von ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ (Kap. 6.4.1) wird in einer fallexternen komparativen Analyse rekonstruiert, welche Orientierungen hinsichtlich der In- und Exklusionen neu migrierter Schüler:innen in den curricularen (Regel-)Unterricht der Primarstufe erkennbar werden (Kap. 6.4.2) und welche Orientierungen sich an den Schulen hinsichtlich der Leistungsmessung sowie Leistungsmarkierung von ›Seiteneinsteigern‹ zeigen (Kap. 6.4.3). Abschließend werden die Ergebnisse mit Blick auf die Frage diskutiert, inwiefern die rekonstruierten Praxen darauf hinweisen, dass das verbriefte Recht auf Bildung für als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierte Schüler:innen tatsächlich umgesetzt wird (Kap. 6.4.4).

6.4.1

Bildungspolitische Vorgaben in NRW

Stundentafel und Curriculum Zum Zeitpunkt der Durchführung der Studie lagen vom Land NRW für die Beschulung von neu migrierten Schüler:innen keine verbindlichen bildungspolitischen Vorgaben hinsichtlich eines einzuhaltenden Curriculums und den zu unterrichtenden Stunden bzw. einer einzuhaltenden Stundentafel vor. Vielmehr wurde vom MSW NRW festgehalten, dass sich die Stundentafel für neu migrierte Schüler:innen ›in der Regel‹ nach den Stundentafeln der Jahrgänge richten solle (BASS 13-63 Nr.3 v. 13.06.2016). Gleichzeitig wurden darüber hinaus Hinweise gegeben, die den Gestaltungsspielraum der Schulen hinsichtlich der Konzeption von Stundentafeln und Curricula betonten. Im Runderlass heißt es dazu:

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

»Die Schule entscheidet auf der Basis von entwicklungspsychologischen und pädagogischen Gesichtspunkten sowie den Förderbedarfen in der deutschen Sprache über den individuellen Stundenplan einer Schülerin oder eines Schülers.« (BASS 13-63 Nr. 3 v. 13.06.2016, Abs. 2) Während den Schulen in Bezug auf die Ausgestaltung der Stundentafeln und Curricula für ›Seiteneinsteiger‹ ein eigener Gestaltungsspielraum eingeräumt wird, sind die Stundentafeln für ›Regelschüler‹ demgegenüber durch bildungspolitische Beschlüsse für alle Schulen in NRW verbindlich festgelegt. So wird in den Stundentafeln festgehalten, welche Fächer in welchen Jahrgangsstufen unterrichtet werden und wie viele Stunden Unterricht die Schüler:innen in den verschiedenen Jahrgangsklassen erhalten. Die Unterrichtsfächer in der Grundschule bestehen dabei aus Deutsch, Mathematik, Sachunterricht, Englisch, Kunst, Musik, Sport, Religionslehre und Förderunterricht. Darüber hinaus wird für Schüler:innen, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist, auch ein herkunftssprachlicher Unterricht angeboten. Die veranschlagte Wochenstundenzahl beträgt für die Jahrgänge eins und zwei zwischen 21 und 23 Stunden und für die Jahrgänge drei und vier 25 bis 27 Stunden (vgl. MSB NRW o.J., Stundentafel). Leistungsbewertung Im Runderlass 13-63 Nr. 3 »Unterricht für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler« wird in Bezug auf die Ausstellung von Zeugnissen für ›Seiteneinsteiger‹ festgehalten, dass Schüler:innen, die eine ›Sprachfördergruppe‹ oder eine ›Klasse zur vorübergehenden Beschulung‹ besuchen, keine regulären Zeugnisse, sondern Lernstandsberichte erhalten. Diese Lernstandsberichte können auch Noten in den Fächern, »in denen eine Benotung bereits möglich ist« (Bass 13-63 Nr.3 v. 13.06.2016, Abs.4), umfassen. Vom MSB NRW wird darüber hinaus ausgeführt: »Diese Lernstandsberichte enthalten Angaben zur Sprachförderung und zu einer etwaigen Teilnahme am Regelunterricht […] sowie Beschreibungen der innerhalb des Unterrichts erbrachten Leistungen.« (MSB NRW o.J., Lernstandsberichte für neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler) Die Lernstandsberichte sind nicht mit einem regulären Notenzeugnis gleichzustellen und sie dienen nicht zur Vergabe von Bildungsabschlüssen (vgl. ebd.). Für die Erstellung von Lernstandsberichten sind vom MSB NRW allgemeine Auskünfte und ein Muster-Lernstandsbericht veröffentlicht. Bezüglich dieser Informationen wird jedoch auf Folgendes verwiesen: »Sie [die Informationen und der Muster-Lernstandsbericht, J.J.] dienen als unverbindliches Unterstützungsangebot der Weiterentwicklung und Hilfestellung. Insofern sollen sie als Angebot auch für die innerschulische weitere Diskussion verstanden werden. Im Sinne einer interkulturellen Unterrichts- u. Schulentwicklung werden langfristig auch die mitgebrachten Sprachen der Schülerinnen und Schüler als Potenzial in die Leistungsbeurteilung einfließen. Aufgrund der in den kommenden Jahren zu erwartenden Erfahrungen können daher die Lernstandsberichte im Laufe der Zeit ergänzt, variiert, überarbeitet und sicherlich auch mit weiteren pädagogischen Hinweisen versehen werden.« (Ebd.)

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Während ›Seiteneinsteiger‹ innerhalb der zweijährigen Erstförderung also keine Notenzeugnisse erhalten und es keine verbindlichen Regelungen zur Erstellung von Lernstandsberichten gibt, wird in Bezug auf die Beschulung von ›Regelschülern‹ festgehalten: »Eine systematische, nachvollziehbare Leistungsfeststellung bietet die notwendige Grundlage für eine individuelle Förderung. Grundlage der Leistungsbewertung sind die Festlegungen in der Verordnung über den Bildungsgang in der Grundschule (§ 5 AO-GS). Die Leistungsbewertung orientiert sich dabei grundsätzlich an den verbindlichen Anforderungen der Richtlinien und Lehrpläne und am erteilten Unterricht.« (Vgl. MSB NRW o.J., Stundentafel) Die Vergabe von Noten bzw. die ›systematische Leistungsfeststellung‹ wird entsprechend dieser Formulierung als eine relevante Aufgabe in der Beschulungspraxis an Grundschulen ausgewiesen. Als wichtige Elemente der Leistungsbeurteilungen werden, neben der mündlichen Beteiligung der Schüler:innen, schriftliche Arbeiten oder Klassenarbeiten und Hausaufgaben gewertet. Während in der ersten und zweiten Klasse keine schriftlichen Arbeiten geschrieben werden, werden in der dritten und vierten Klasse »in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch schriftliche Klassenarbeiten geschrieben, die nur in den Fächern Deutsch und Mathematik auch benotet werden.« (Ebd.)   Mit Blick auf die bildungspolitischen Vorgaben hinsichtlich der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ kann für das Bundesland NRW nachgezeichnet werden, dass sich – im Kontrast zu den spezifischen Vorgaben zur Beschulung von ›Regelschülern‹ – kaum verbindliche Vorgaben ausmachen lassen. Vielmehr werden den Schulen durch vage Vorschriften große Gestaltungsspielräume eingeräumt. Eine autonome und vom Regelbetrieb abweichende Beschulungspraxis für ›Seiteneinsteiger‹ wird dabei explizit durch den vom Schulministerium geäußerten Hinweis eröffnet, dass die Schulen ›pragmatisch‹ vorgehen können (vgl. Schüßler 2016: 8).

6.4.2

In- und Exklusion neu migrierter Schüler:innen in den curricularen (Regel-)Unterricht

Hinsichtlich der In- und Exklusion neu migrierter Schüler:innen in den curricularen (Regel-)Unterricht in Grundschulen lassen sich drei verschiedene Praxen – die inkludierende Exklusion, die selektive Exklusion und die exkludierende Inklusion rekonstruieren, die im Weiteren vorgestellt und hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Beildungsteilhabe von als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen diskutiert werde.

6.4.2.1

Inkludierende Exklusion neu migrierter Schüler:innen

An der Waldschule, der Flussschule und der Westschule werden ›Seiteneinsteiger‹ teilintegrativ unterrichtet. Das bedeutet, dass sie neben dem Unterricht in der Vorbereitungsgruppe/-klasse wöchentlich einige Schulstunden in der ihnen zugewiesenen Regelklasse verbringen. Im Hinblick auf letztere Unterrichtsstunden wird allerdings erkennbar, dass neu migrierte Schüler:innen zwar durch den räumlichen Einschluss in den

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Klassenraum in den Regelunterricht inkludiert, gleichzeitig jedoch – indem sie parallel zum Regelunterricht an eigenem Material arbeiten und/oder sich selbst überlassen werden – vom Unterrichtsgeschehen exkludiert werden. Es kann hier von einer inkludierenden Exklusion neu migrierter Schüler:innen im Regelunterricht gesprochen werden.   An der Waldschule verbringen die ›Seiteneinsteiger‹ täglich die ersten drei Unterrichtsstunden in der Vorbereitungsklasse und wechseln für eine vierte Stunde in die Regelklasse. Regelklassenlehrerkraft Baumann elaboriert in der folgenden Passage im Modus einer Beschreibung, wie die ihrer:seiner Klasse zugeordneten neu migrierten Schüler:innen den Raum betreten und wie der Unterricht anschließend abläuft: BAU: nach der dritten Stunde klopft es dann bei mir in der Regel und dann kommen die vier inzwischen recht leise und recht gelassen rein wir haben also das eben auch erarbeitet diese Rituale die dann da ablaufen sollen die Kinder haben ihren bestimmten Tisch an dem sie die vier gemeinsam arbeiten es ist Arbeitsmaterial vorhanden das die Auffangklassenlehrerin teilweise zusammengestellt hat in Form von Mappen ich habe auch noch einen Teil dazugelegt und die Kinder wissen in der Regel was zu tun ist es muss im ersten Teil der Stunde an einem sogenannten Tischheft gearbeitet werden möglichst selbstständig und im letzten Teil die letzten zehn Minuten dürfen die Kinder dann sozusagen als Belohnung sich ein Malbild holen oder auch ein kleines Ausmalbüchlein das du uns auch zur Verfügung gestellt hast so dass eben beides Arbeiten und ja schöne Ausgleich eben gegeben ist und diese Rituale einzuhalten ist ganz wichtig für die Kinder weil das auch Sicherheit gibt es gibt also sowohl der:dem Lehrer:in Sicherheit dass man eben weiß man kann die Kinder größtenteils sich schon selbst überlassen aber auch den Kindern sie haben einen gewissen Rahmen an den sie sich halten und müssen dann auch nicht fragen wie geht es weiter sondern haben ihre Aufgaben mit den sie in der Regel auch klar kommen natürlich bekommen sie auch Hilfe Unterstützung wenn sie Fragen haben bei uns gibt es eben solche Fragesäulen in Form einer kleinen Holzsäule die dann aufgestellt wird so dass ich dann sehe wer Hilfe braucht hat dann diese Säule aufgestellt und dann schau ich wenn es möglich ist wenn die Zeit das zulässt was dann da zu tun ist wo Hilfe benötigt wird so in dieser Form läuft es ab (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.59-78) Die Ausführung der Regelklassenlehrkraft weist darauf hin, dass es für die Teilnahme der neu migrierten Schüler:innen am Klassenunterricht bestimmte Verhaltensregeln gibt, die darauf abzielen, dass der Regelunterricht möglichst wenig durch das Hinzustoßen und die Anwesenheit der ›Seiteneinsteiger‹ beeinträchtigt wird. Gleichzeitig wird die primäre Zuständigkeit für die Wissensvermittlung an ›Seiteneinsteiger‹ auch im Regelunterricht weiterhin bei der Vorbereitungslehrkraft verortet. So bekommen die ›Seiteneinsteiger‹ für ihren Aufenthalt im Regelunterricht von der Vorbereitungslehrkraft Material zum Selbstlernen zur Verfügung gestellt, welches durch die Regelklassenlehrer:in lediglich ergänzt wird. Die Bildungspraxis scheint entsprechend so gestaltet zu sein, dass sich die Regelklassenlehrkräfte im Unterricht nicht intensiver mit den ›Seiteneinsteigern‹ befassen müssen, bzw. dass durch das selbstständige Bearbeiten der Arbeitsmaterialien und das Ausmalen von Bildern keine Ressourcen der Lehrkraft

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

in Anspruch genommen werden. Analog könnte die von der:dem Klassenlehrer:in elaborierte Praxis, dass ›Seiteneinsteiger‹, wenn sie Fragen haben, als ein Signal an die Lehrkraft eine kleine ›Holzsäule‹ aufstellen, gelesen werden: Durch das Aufstellen der Säule müssen sich die neu migrierten Schüler:innen nicht melden oder die Lehrkraft ansprechen. Es handelt sich hier also um ist ein sehr dezentes und den regulären Unterrichtsablauf nicht unterbrechendes Hinweisen auf eine Frage.27 Durch die Formulierung, dass Hilfestellungen nur dann zu geben seien, wenn die Zeit es zulasse, wird darüber hinaus eine klare Priorisierung der Realisierung des Regelunterrichts zum Ausdruck gebracht. Das Unterrichten der ›Seiteneinsteiger‹ in der Regelklasse wird hier als ein Ressourcenproblem gerahmt. Dabei wird nicht nur auf fehlende personelle Ressourcen, sondern auch auf fehlende Wissensressourcen in Form von Expertise bezüglich angemessener Unterrichtsinhalte für die ›Seiteneinsteiger‹ verwiesen. Gelöst werden diese Ressourcenprobleme dadurch, dass durch die Vorbereitungslehrkraft Unterrichtsinhalte für die ›Seiteneinsteiger‹ vorbereitet werden und diese dazu angehalten werden, möglichst eigenständig und ruhig an ihrem Tisch zu arbeiten. Im weiteren Verlauf der Passage wird die Praxis, ›Seiteneinsteiger‹ nicht in den Regelunterricht zu integrieren, sondern eigenständig zu beschäftigen, weiter elaboriert. BAU: und (.) es gibt wirklich Tage an denen man denkt ja dieses zweigleisige Fahren es geht natürlich das zehrt an den Nerven weil (.) es immer an verschiedenen Stellen brennt es brennt einmal in der Klasse die Kinder arbeiten dann und brauchen viel Hilfe natürlich auch noch und da ist dann der Tisch mit den Seiteneinsteigern die auch Tausend Fragen haben und auch noch nicht so die Geduld vor allem haben zu warten abzuwarten (.) es ist immer wieder erfreulich wie wissbegierig die Kinder sind aber auch andererseits wieder wie viel Zuwendung sie brauchen und auch teilweise einfordern und da muss man häufig also auch sehr viel Geduld aufbringen und auch mal sagen Stopp es geht jetzt nicht auch wenn es einem in der Seele weh tut aber die Kinder müssen vor allem eben auch lernen diese Regeln zu beachten da zurückzustecken und ja Geduld zu haben (.) aber häufig ist man auch schon sehr belastet und wie gesagt es wechselt und (.) (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.119-129) Baumann erläutert im Modus einer Beschreibung das bereits erwähnte Ressourcenproblem beim Unterrichten von ›Seiteneinsteigern‹ im Regelunterricht. Dabei wird durch die Differenzierung »in der Klasse die Kinder« und »der Tisch mit den Seiteneinsteigern« deutlich, dass die neu migrierten Schüler:innen nicht als Teil der Klasse, sondern als eine eigenständige, von der Klassengemeinschaft getrennte ›Gruppe‹ beobachtet werden. Diese Differenzierung findet ihren Ausdruck auch durch die räumliche Zuweisung aller ›Seiteneinsteiger‹ an einen gemeinsamen Gruppentisch. Auffällig ist das von Baumann genutzte Vokabular bzw. die Metaphern »zehrt an den Nerven«, »brennt«, »in der Seele weh tut«, »sehr belastet«, mit dem das Unterrichten

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Es bleibt offen, ob das Aufstellen der ›Fragesäule‹ eine Regelung ist, die für alle Schüler:innen der Klasse gilt, oder nur für die ›Seiteneinsteiger‹ eingeführt wurde.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

der ›Seiteneinsteiger‹ als eine besondere didaktische, aber auch emotionale Herausforderung für die Lehrkraft beschrieben wird. Probleme der teilintegrativen Beschulung der ›Seiteneinsteiger‹ werden dabei insbesondere auf nicht ausreichende Ressourcen der Lehrkraft im Hinblick auf die auf alle Schüler:innen zu verteilende Zeit und Zuwendung zurückgeführt. So bräuchten nicht nur die ›Seiteneinsteiger‹ »Zuwendung« und hätten viele Fragen, sondern auch die ›Regelschüler‹ bräuchten Unterstützung durch die Lehrkraft. Aufgrund der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Ressourcen der Lehrkraft hält Baumann fest, dass die ›Seiteneinsteiger‹ lernen müssen, »Regeln zu beachten« und »Geduld zu haben«. Um welche Regeln es sich handelt, wird nicht weiter elaboriert. Die Ausführung lässt sich aber im Hinblick auf den Vorlauf der Passage (Z.54-78) so lesen, dass es darum geht, dass die ›Seiteneinsteiger‹ sich daran halten, im Unterricht abzuwarten bis sie dran sind – d.h. also bis die Lehrkraft Zeit hat, sich um ihre Anliegen zu kümmern. Deutlich wird in dieser Ausführung die Orientierung, dass sich der Regelunterricht nicht in erster Linie an die ›Seiteneinsteiger‹, sondern an die ›Regelschüler‹ richtet und die ›Seiteneinsteiger‹ insofern nur dann unterstützt werden, wenn die ›Regelschüler‹ versorgt sind. Interessant ist darüber hinaus die Unterscheidung in »viel Hilfe« für die arbeitenden ›Regelschüler‹ und »viel Zuwendung« für die fragenden ›Seiteneinsteiger‹. So erscheint der Begriff bzw. das Konzept (individueller) ›Zuwendung‹ in der Schulliteratur eher sozialpädagogisch im Hinblick auf Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf oder in anderer Weise als ›sozial auffällig‹ beobachtete Schüler:innen (u.a. Labhart 2019; Moser 2019, vgl. bereits Höcker 1978) oder in Bezug auf Kinder mit sprachlichen Schwierigkeiten (aufgrund einer Lese- und Rechtschreibschwäche, aber auch aufgrund von Mehrsprachigkeit) (u.a. Hasselhorn/Sallat 2014) verhandelt zu werden, und nicht als grundlegender didaktischer Anspruch an Lehrkräfte. Die sprachliche Unterscheidung könnte entsprechend auf eine Differenzierung zwischen einer inhaltlichen Betreuung der ›Regelschüler‹ und einer emotional-sozialen (Einzel-)Betreuung der ›Seiteneinsteiger‹ hindeuten. Die sich hier andeutenden Orientierungen hinsichtlich der Beschäftigung mit den Schüler:innen vor dem Hintergrund der (nicht) vorhandenen Ressourcen ›Personal‹ und ›Wissen‹ und der Differenzierung in inhaltliche Arbeit und (emotional-soziale) Zuwendung werden im weiteren Verlauf der Passage noch mal elaboriert: BAU: ja wir versuchen natürlich jedem gerecht zu werden und man muss aber sehr genau abwägen wer braucht heute mehr meine Unterstützung? Wenn ich für die Klassenarbeit übe dann muss ich mich mehr auf die andere Gruppe konzentrieren und muss dann die anderen Kinder mal sich überlassen es ist einfach so ja an anderen Tagen kann es umgekehrt sein dann bekommt dann die Seiteneinsteigergruppe mehr Zuwendung und die anderen die arbeiten dann am Wochenplan und wissen dann auch wie sie alleine klar kommen ohne mich also man würde sich es natürlich wünschen zu zweit in dieser Klasse zu arbeiten um sich eben auch diese Anforderungen aufzuteilen aber so ist es (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.129-137) Indem Baumann im Modus einer exemplifizierenden Erzählung am Beispiel des Übens für eine Klassenarbeit ausführt, wie im Unterricht jeweils abgewogen wird, wer ge-

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

rade mehr Unterstützung braucht – die ›Seiteneinsteiger‹ oder »die andere Gruppe« –, zeigt sich, woran das – bereits zuvor von Baumann angesprochene (Z.77-78) – Abwägen orientiert ist: Es wird versucht, die vorhandenen personellen Ressourcen der Lehrkraft »gerecht« auf alle Schüler:innen zu verteilen. Die kategoriale Differenzierung der Schüler:innen in ›Seiteneinsteiger‹ und ›Regelschüler‹ dient der Lehrkraft im Unterricht dabei dazu, Entscheidungen treffen zu können. Dabei stellen die ›Regelschüler‹ den Orientierungspunkt beim Abwägen dar: wenn die ›Regelschüler‹ sinnvoll beschäftigt sind und am Wochenplan arbeiten (und nicht bspw. für eine Lernstandsmessung in Form einer Klassenarbeit üben müssen) erhalten die ›Seiteneinsteiger‹ Aufmerksamkeit durch die Lehrkraft. Wenn die Klasse für die Klassenarbeit übt, werden die ›Seiteneinsteiger‹ »sich überlassen«. Die Lehrkraft führt nicht weiter aus, was die ›neu migrierten Schüler:innen in diesem Zeitabschnitt tun und es bleibt entsprechend offen, ob sie in dieser Zeit arbeiten. Die Formulierung ›überlassen‹ und die von Baumann geäußerten Bedenken könnten jedoch darauf hindeuten, dass diese Schüler:innen aufgrund ggf. fehlender Unterstützung durch die Lehrkraft nicht immer einer sinnvollen Lerntätigkeit nachgehen (können). Deutlich kann in dieser Passage eine Kontinuität der Separierung der ›Seiteneinsteiger‹ im Regelunterricht der Waldschule herausgearbeitet werden. Die Unterscheidung zwischen ›Regelschülern‹ und ›Seiteneinsteigern‹ wird dabei nicht nur semantisch erkennbar, durch die Bezeichnungen der Klasse als die »andere Gruppe« und der ›Seiteneinsteiger‹ als »Seiteneinsteigergruppe«, sowie durch die Beschreibung der praktischen Arbeit in Gestalt von inhaltlicher Unterstützung für ›Regelschüler‹ und emotional-sozialer Zuwendung für ›Seiteneinsteiger‹, sondern wird darüber hinaus auch in der räumlichen Anordnung in Form einer separierenden Sitzordnung deutlich. ›Seiteneinsteiger‹ nehmen zwar physisch am Regelunterricht teil, werden in diesem aber kommunikativ ausschließlich als ›Seiteneinsteiger‹ adressiert und aus dem Fachunterricht in der Regelklasse exkludiert. Es dokumentiert sich dabei die Orientierung, dass Regelklassenlehrkräfte vor dem Hintergrund ihrer nur begrenzt verfügbaren Ressourcen nicht primär für neu migrierte Schüler:innen zuständig sind und das Unterrichten dieser als eine Zusatzaufgabe verhandelt wird, während der Fokus auf der Wissensvermittlung an ›Regelschüler‹ liegt. Die Praxis der teilintegrativen Beschulung kann hier als inkludierende Exklusion beschrieben werden, als eine Kontinuität der Separierung mit dem zusätzlichen Problem, dass in der Regelklasse noch weniger Ressourcen (der Lehrkräfte) vorhanden sind als im Unterricht in der Vorbereitungsklasse. Eine ähnliche Praxis lässt sich an der Flussschule rekonstruieren, an der neu migrierte Schüler:innen ebenfalls täglich für einige Stunden in Regelklassen beschult werden. So hält Vorbereitungslehrkraft Worm, welche alle ›Seiteneinsteiger‹ unterrichtet, die als Schüler:innen mit negativen Leistungsprognosen beobachtet werden (s. Kap. 6.3.1.4), fest, dass diese nicht an den Unterrichtsinhalten der Regelklasse teilnehmen – also ebenso wie an der Waldschule zwar physisch anwesend sind, aber nicht in die reguläre Unterrichtskommunikation inkludiert werden. Dabei wird die bereits an der Waldschule rekonstruierte Orientierung, dass Regelklassenlehrkräfte nicht für das Unterrichten von ›Seiteneinsteigern‹ zuständig seien, erkennbar (Flussschule, Flurstadt, LK 1, Z.467-485). In einer weiteren Passage elaboriert die Vorbereitungslehrkraft überdies, dass die neu migrierten Schüler:innen aufgrund begrenzter eigener personel-

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

ler Ressourcen derzeit ausschließlich in Deutsch und nicht zusätzlich in Mathematik unterrichtet würden (Flussschule, Flurstadt, LK 1, Z.206- 211 + Z.215-218). Diese Praxis wird daraufhin problematisiert, da die ›Seiteneinsteiger‹ durch das teilintegrative Modell auch regelmäßig den Mathematikunterricht in der Regelklasse verpassen würden. Gleichzeitig wird jedoch eine Relativierung des benannten Problems erkennbar: So deutet die Formulierung, dass die ›Seiteneinsteiger‹ ohnehin »hinterher« hängen und nicht an den gleichen Inhalten arbeiten wie die ›Regelschüler‹, darauf hin, dass die Nicht-Teilnahme am Mathematikunterricht als wenig gravierend beurteilt wird. Durch die Relativierung der Relevanz des Mathematikunterrichts für neu migrierte Schüler:innen, findet eine Handlungsentlastung der Lehrkräfte der Regelklasse ebenso wie der Vorbereitungslehrkraft statt. Es zeigt sich, dass ›Seiteneinsteiger‹ auch an der Flussschule zwar in den Regelunterricht inkludiert werden, dabei aber genauso wie an der Waldschule eine Kontinuität der Separierungspraxis für ›Seiteneinsteiger‹ rekonstruiert werden kann. Interessant ist im Fall der Flussschule jedoch, dass diese Praxis nicht für alle ›Seiteneinsteiger‹ der Schule gilt, sondern scheinbar nur für die spezifische Gruppe der als ›leistungsschwach‹ klassifizierten Schüler:innen, die der Vorbereitungslehrkraft Worm zugeordnet sind. Entsprechend der intrakategorialen Leistungsdifferenzierung an der Flussschule (s. Kap. 6.3.1.4) betrifft die inkludierende Exklusion also insbesondere ›Seiteneinsteiger‹ mit negativen Leistungsprognosen.   Anders als an der Waldschule und der Flussschule, an denen ›Seiteneinsteiger‹ im Regelunterricht mit eigenem Material beschäftigt werden, werden diese an der Westschule vollständig von der Unterrichtskommunikation der Regelklasse ausgeschlossen. So berichtet zunächst die Lehrkraft Dietrich, Klassenlehrer:in einer ersten Jahrgangsstufe: DIE: Aber es ist also bei uns in der Klasse eins ist es schon so die drei Kinder die jetzt gekommen sind die sprechen kein Wort Deutsch und (.) also ganz ehrlich ich habe keine Zeit da mit denen noch separat irgendwelche Sprachübungen oder Wortschatzerweiterungen zu machen geht nicht (.) kann ich nicht und (.) die sind sitzen da jetzt und versuchen irgendwie da (.) zurecht zu kommen (Westschule, Radstadt, LK, Z.75-79) In dieser Passage wird – ähnlich wie durch Baumann an der Waldschule – in Bezug auf die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ im Regelunterricht ein personelles Ressourcenproblem thematisiert. Interessant ist die Formulierung und Betonung »kein Wort Deutsch«, mit der eine Verabsolutierung nicht vorhandener deutscher Sprachkenntnisse neu migrierter Schüler:innen erfolgt. Während diese Zuschreibung in den ersten Tagen an einer neuen Schule ggf. noch plausibel erscheinen könnte, deutet diese Beschreibung, die auf einer Aberkennung jeglicher Deutschkenntnisse beruht, hier eher darauf hin, dass die Verantwortung für die Vermittlung von Deutschkenntnissen durch die Regelklassenlehrkraft vollständig zurückgewiesen und in den Zuständigkeitsbereich der Vorbereitungslehrkraft verwiesen wird. Die Lösung für fehlende personelle Ressourcen ist in diesem Fall – hier zeigt sich eine Parallele zur Waldschule und Flussschule – sich nicht mit den ›Seiteneinsteigern‹ zu befassen. In der Absolutheit der Aussagen »geht nicht (.) kann ich nicht« und »die

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sind sitzen da jetzt und versuchen irgendwie da (.) zurecht zu kommen« unterscheidet sich die Westschule jedoch von den ersten beiden Schulen. So wird an der Waldschule und der Flussschule noch besonderes Material für ›Seiteneinsteiger‹ bereit gelegt – dies scheint an der Westschule nicht so zu sein. Genauso wie an den anderen beiden Schulen scheinen die ›Regelschüler‹ im Unterricht klare Priorität zu haben. Im weiteren Verlauf des Interviews bezieht sich die:der Klassenlehrer:in Abel noch mal auf die von Dietrich eingebrachte Äußerung des ›Mitlaufens‹. ABE: Aber das stimmt schon was du anfangs gesagt hast die die die laufen jetzt mehr oder weniger so mit ne? das ist nicht zu schaffen mehr im im ersten wahrscheinlich in   DIE:                                      └ja   ABE: der anderen Stufe auch nicht wenn (.) das ist Wahnsinn (.) (Westschule, Radstadt, LK, Z.297-300) Auch hier wird herausgestellt, dass die ›Seiteneinsteiger‹ zwar teilintegrativ am Regelunterricht teilnehmen, sie aber kein besonderes Angebot oder eine spezielle Förderung durch die Lehrkräfte erhalten. Die Aufgabe der Förderung der ›Seiteneinsteiger‹ wird dabei – nochmals gesteigert – als »Wahnsinn«, also als eine nicht zu bewältigende Aufgabe, und als »das ist nicht zu schaffen mehr« gekennzeichnet. Die mangelnde Hilfestellung für die neu migrierten Schüler:innen im Regelunterricht wird von den Lehrkräften der Westschule als ein Problem markiert, welches durch den Ausschluss der ›Seiteneinsteiger‹ von der Unterrichtskommunikation im Regelunterricht gelöst wird. Die Unterstützung der ›Seiteneinsteiger‹ scheitert jedoch, so die Lehrkräfte, nicht am fehlenden Willen des Lehrpersonals, sondern ist den nicht ausreichend vorhandenen personellen Ressourcen und der Tatsache, dass die ›Seiteneinsteiger‹ keinerlei Deutschkenntnisse hätten, geschuldet. Der Regelunterricht wird als nicht passender Lernort für die Förderung von ›Seiteneinsteigern‹ entworfen und die neu migrierten Schüler:innen werden in der Folge gar nicht mehr als Schüler:innen adressiert. Hier zeigt sich eine Kontinuität der separierenden Beschulungspraxis in der Regelklasse durch den vollständigen Ausschluss der ›Seiteneinsteiger‹ aus der Unterrichtskommunikation. Dadurch kommt es an der Westschule zu einer vollständigen Vorenthaltung von Lerngelegenheiten für ›Seiteneinsteiger‹.28 Homolog zu der bereits im Lehrkräfteinterview rekonstruierten Orientierung zeigt sich auch im Interview mit der Schulleitung und der Vorbereitungslehrkraft der Westschule, dass ›Seiteneinsteiger‹ nicht explizit als Lernende im Unterricht adressiert werden und mit dem zurechtkommen müssen, was die Lehrkräfte im Regelunterricht für ›Regelschüler‹ anbieten (Westschule, Radstadt, SL/VK-L, Z.466-478). Indem die Schulleitung darauf hinweist, dass die Lehrkräfte sich zwar hinsichtlich der Zukunft der ›Seiteneinsteiger‹ ›Druck machen‹ würden, dies aber nicht notwendig sei, wird deutlich, dass die Schulleitung – anders als bei ›Regelschülern‹ – keine Leistungs- oder Lernzie28

Darüber hinaus kann eine Verlagerung des Unterrichts der ›Seiteneinsteiger‹ in den Zuständigkeitsbereich der sonderpädagogischen Lehrkraft rekonstruiert werden, auf welche in Kapitel 6.6 eingegangen wird.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

le für ›Seiteneinsteiger‹ ausmacht. Vielmehr könne oder müsse vor dem Hintergrund begrenzter personeller Ressourcen in der Unterrichtspraxis die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ flexibel gehandhabt werden. Ebenso wie an den anderen Schulen zeigt sich auch an der Westschule in der Beschreibung der (erwünschten) Unterrichtspraxis eine klare Priorisierung des Unterrichtens von ›Regelschülern‹ bzw. eine Orientierung an den angenommenen (Lern-)Bedürfnissen der ›Regelschüler‹. Fallübergreifende Zusammenführung Durch die Rekonstruktionen an der Waldschule, der Flussschule und der Westschule wird deutlich, dass auch ein teilintegrativer Unterricht von ›Seiteneinsteigern‹ nicht vor einer Exklusion dieser aus dem Regel-/Fachunterricht schützt. So nehmen neu migrierte Schüler:innen an diesen Schulen zwar wöchentlich für einige Stunden am Regelunterricht teil, werden also räumlich inkludiert, gleichzeitig aber kommunikativ von der Unterrichtskommunikation exkludiert. Dabei deutet sich an allen drei Schulen an, dass die inkludierende Exklusion von ›Seiteneinsteigern‹ als eine Lösung von wahrgenommenen Ressourcenproblemen – d.h. zu wenig personelle Lehrer:innenkapazitäten für alle Schüler:innen und zu wenig Wissensressourcen für die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ – dient. Entsprechend dieser Beobachtung lässt sich festhalten, dass auch eine Inklusion von ›Seiteneinsteigern‹ in den Regelunterricht nicht automatisch zu mehr Bildungsbeteiligung beiträgt. So scheint es, wie an den obigen Rekonstruktionen deutlich wird, relevanter zu sein, auch die Form der Adressierung der neu migrierten Schüler:innen im Modus Inklusion/Exklusion innerhalb des Inklusionsbereichs der Regelklasse in den Fokus zu rücken.

6.4.2.2

(Selektive) Exklusion neu migrierter Schüler:innen

An der Waldschule, der Flussschule und der Ostschule wird elaboriert, dass im Vorbereitungsunterricht in erster Linie Basiskompetenzen erlernt und Erfahrungen, die normalerweise im Kindergarten gemacht würden, nachgeholt werden müssten – es also nicht darum gehe, gezielt Fachwissen zu vermitteln. Diese Unterrichtspraxis in Vorbereitungsklassen/-gruppen kann als Exklusion von neu migrierten Schüler:innen von schulisch relevanten Lerngelegenheiten beschrieben werden. An der Waldschule, wie auch an der Südschule und der Ostschule werden darüber hinaus (selektive) Exklusionen erkennbar, die auf den Ausschluss von bestimmten neu migrierten Schüler:innen vom Regelunterricht (Waldschule, Südschule), oder auf der Reduzierung der wöchentlichen Unterrichtsstunden für alle ›Seiteneinsteiger‹ (Ostschule) beruhen. Exklusion von schulisch relevanten Lerngelegenheiten im Vorbereitungsunterricht Die Exklusion neu migrierter Schüler:innen von schulisch relevanten Lerngelegenheiten zeigt sich nicht nur dadurch, dass ›Seiteneinsteiger‹ im Regelunterricht vollständig von der Unterrichtskommunikation ausgeschlossen werden (s. Kap. 6.4.2.1), sondern dokumentiert sich an der Waldschule, der Flussschule und der Ostschule auch darin, dass neu migrierte Schüler:innen im Vorbereitungsunterricht keine fachliche und systematische Wissensvermittlung erfahren.   An der Waldschule elaboriert die Vorbereitungslehrkraft zu Beginn der folgenden Passage, dass es kaum möglich sei, in der Vorbereitungsgruppe »einen geschlossenen Un-

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

terricht zu machen« (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.13-17). Grund hierfür sei, dass die ›Seiteneinsteiger‹ täglich etwas »Neues« brächten. Worauf sich dieses ›Neue‹ bezieht, wird nicht weiter ausgeführt. Durch die Verknüpfung mit der Aussage zur Verunmöglichung eines »geschlossenen Unterricht[s]« scheint es sich aber nicht um etwas zu handeln, dass den Unterricht ›bereichert‹ und positiv bewertet wird. Im weiteren Verlauf der Passage elaboriert die Vorbereitungslehrkraft Fuchs im Modus einer Beschreibung, was die Schüler:innen der Vorbereitungsklasse kennzeichne und welche Inhalte diesen Schüler:innen in der Vorbereitungsklasse wie auch der Regelklasse vermittelt würden. FU: also das ist so erst mal grob kann ich sagen muss ich ma- offen sein für das was an dem Tag dann kommt ne wie die Kinder (.) gestimmt sind mit welchen Themen die kommen und ob irgendwas vorgefallen ist ja also das spielt finde ich insgesamt bei der Arbeit eine ganz große Rolle also erst mal zu gucken wie es den Kindern geht was überhaupt möglich ist an dem Tag also ist nich- es ist nicht möglich einfach (.) ein Programm durchzuziehen und zu sagen so jetzt machen wir das und das und ne dann kontrollieren wir ob sie das gelernt haben sondern man muss sich sehr individuell darauf einstellen die kommen ja mit so vielen (.) ja zum Teil auch schwierigen nicht nur familiären Biografien sondern eben auch Migrations(.)hintergründen und und bis die hier bei uns angekommen sind haben so viel Schule verpasst da spielen auch so viele andere Schwierigkeiten noch mit eine Rolle die das Sprachenlernen durchaus auch erschweren (.) @(.)@ (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.29-40) Laut der Vorbereitungslehrkraft geht es vorerst darum, die ›Gemütslage‹ der Kinder zu eruieren, um auf dieser Grundlage zu entscheiden, was im Unterricht gemacht werden könne. Gleichzeitig scheint dabei mit dem Verweis auf schwierige ›familiäre Biografien‹ und ›Migrationshintergründe‹ sowie nicht vorhandene Schulerfahrungen und ›andere Schwierigkeiten‹ auch die Orientierung auf, dass grundsätzlich infrage gestellt wird, dass im Unterricht mit ›Seiteneinsteigern‹ ein bestimmtes Wissen vermittelt und daraufhin abgefragt/kontrolliert werden könne (»ein Programm durchzuziehen«). Die Beschreibung des Unterrichts in der Vorbereitungsklasse verweist hier entsprechend eher auf eine psychosoziale Betreuung als auf regulären Schulunterricht. Diese Orientierung wird nochmals in einer weiteren Passage (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.263-272) deutlich, in der die Lehrkräfte ausführen, dass es im Unterricht mit ›Seiteneinsteigern‹ um die Vermittlung von ›Basiskompetenzen‹, wie ›Stift halten‹ und ›anspitzen‹, sowie ›Stifte unterscheiden‹ und ›Scheren benutzen‹ gehe. Dies seien Fähigkeiten, die zunächst erst mal erlernt werden müssten, bevor Kompetenzen wie »Ausdauer« eingeübt werden könnten. Es kann die geteilte Orientierung rekonstruiert werden, dass ›Seiteneinsteiger‹ zunächst grundsätzliche Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernen müssten, bevor ›richtige‹ Inhalte, wie Mathematik oder Deutsch, gelernt werden könnten. Im Unterricht mit ›Seiteneinsteigern‹ stehen also nicht die am Curriculum der Grundschule orientierten Inhalte im Mittelpunkt, sondern ›Kompetenzen‹, die normalerweise in der Vorschule/im Kindergarten vermittelt werden. Neu migrierte Schüler:innen werden hier, mit der Annahme eines Passungsproblems zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und der deutschen Schule und dem Hinweis, dass fehlende vorschulische Erfahrungen zu-

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

nächst kompensiert werden müssten, bevor herkömmlicher Schulunterricht stattfinden könne, von der auf die Vermittlung von inhaltlichem Wissen zielenden regulären Unterrichtskommunikation exkludiert. Eine homologe Orientierung kann im Schulleitungsinterview der Waldschule rekonstruiert werden (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.102-109). Hier elaboriert die Schulleitung im Modus einer Beschreibung, dass ›Seiteneinsteiger‹ ohne vorschulische und/oder schulische Erfahrung zunächst, durch die Einübung von Sozial- und Regelverhalten, in die Lage versetzt werden müssten, Wissen aufzunehmen. Bestimmte neu migrierte Schüler:innen werden dabei als »Straßenjungs« bezeichnet und als Kinder charakterisiert, die sich kategorial von ›Regelschülern‹ unterscheiden, indem sie sich nicht nach den Regeln der Schule und der Autoritätspersonen richten und die Schule als Lernort nicht ernst nehmen. Im Verlauf der Passage führt Lindemann im Modus einer exemplifizierenden Erzählung ein weiteres Beispiel aus, mit dem darauf verwiesen wird, dass es nicht nur um das Erlernen von sozialen Kompetenzen gehe: LIN: wir hatten auch Kinder dabei die kamen dann morgens und haben sich erst mal anderthalb Stunden in der Ecke gelegt und geschlafen weil sie nachts nicht geschlafen haben in ihrem lauten Heim wo sie da waren oder so ne dann haben wir auch irgendwann gesagt ok dann ist das eben so (.) eine Voraussetzung zum Lernen ist auch ausgeschlafen sein (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.109-113) Auch die Ermöglichung, in der Schule (den nachts vermeintlich verpassten) Schlaf nachzuholen, wird von der Schulleitung in einem kompensatorischen Verständnis als notwendige Voraussetzung für den Schulunterricht entworfen. Die Formulierung »irgendwann gesagt ok« verweist darauf, dass sich der Umgang mit dem Schlafbedürfnis der Schüler:innen über die Zeit geändert hat. Ebenso wie das Beispiel »Straßenjungs« deutet auch diese Erzählung – homolog zur Ausführung der Lehrkräfte – auf die Orientierung hin, ›Seiteneinsteiger‹ kategorial von ›Regelschülern‹ zu unterscheiden und mit dem kompensatorischen Hinweis auf als problematisch entworfene vorschulische Erfahrungen oder aktuelle Lebensbedingungen vom Regelunterricht bzw. der Vermittlung von Lerninhalten entsprechend der für Grundschulen vorgeschriebenen Stundentafeln zu exkludieren. Unterlegt wird diese Orientierung mit der im weiteren Verlauf des Interviews vorgenommenen Feststellung, dass man mit der Aufnahme von ›Seiteneinsteigern‹ »Ansprüche runterschrauben« (Z.747-748) müsse. Schließlich bringt die Schulleitung die Orientierung noch einmal deutlich auf den Punkt: LIN: ne dann wird an der Stelle wird werden wir eben zu Sozialarbeitern sag ich jetzt mal um denen hier erst mal überhaupt einen Raum zu schaffen wo sie erst mal sein können am Vormittag so (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.752-754) Durch die Feststellung, Lehrkräfte seien im Zusammenhang mit der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ eher »Sozialarbeiter[…]«, zeigt sich noch einmal besonders deutlich die Annahme eines Passungsproblems zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und der (deutschen) Schule und die damit zusammenhängenden geringen schul-/leistungsbezogenen Erwartungen in Bezug auf neu migrierte Schüler:innen. Erkennbar wird darüber

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hinaus die Praxis, ›Seiteneinsteiger‹ – in einem kompensatorischen Verständnis – vom Regelunterricht zu exkludieren. Auffällig ist, dass auch an der Flussschule hinsichtlich des Unterrichtens neu migrierter Schüler:innen von einem Professionswechsel der Lehrkräfte gesprochen wird. So führt Vorbereitungslehrkraft Rosenthal aus, warum so viele Spielphasen in den Unterricht integriert werden: ROS: Ja aber ich find das schon wirklich fast auch so vom Verhalten her empfinde ich die Kinder anders als die deutschen Kinder ich finde sie sind noch mehr Kind die sind noch mit kleinen Dingen wirklich zu begeistern ohne dass man öhhhh oder sonst was also wenn ich jetzt so @(.)@ immer wenn ich dann erzähle auch zu Hause denke ich mir bin ich jetzt Kindergärtner:in geworden? Aber es funktioniert ich geh wirklich bis auf Kindergartenspiele zurück wie zum Beispiel in dem Wald da steht ein Haus oder so so Sachen die eigentlich   MOH:                                                                                                                                                        └@(.)@    HEU:                                                                                                                                                              └@(.)@    ROS: in der Grundschule längst hinter den Kindern liegen die haben aber keinen Kindergarten gesehen die Sachen sind einfach die sind eingängig und das macht denen Spaß wenn ich das in einem ersten Schuljahr machen würde würde die Hälfte maulen ne so was des ist doof ne? also ich greif jetzt wieder auf die ganz alten Spielchen zurück   MOH:                                        └@(.)@    HEU:                                         └@(.)@    ROS: und die Kinder sind glücklich (Flussschule, Flurstadt, LK 3, Z.715-729) Während ›Seiteneinsteiger‹ als kindlich und schnell zu begeistern charakterisiert werden, unterschieden sich ›Regelschüler‹ von ihnen dadurch, dass sie sich nicht so verhielten und bei ggf. zu simplen Aufgaben protestierten (»dass man öhhhh«), also ihrem Alter entsprechend anspruchsvoller seien. Die hier bereits angedeutete Orientierung bringt Rosenthal im nächsten Satz weiter auf den Punkt, indem sie:er ihre:seine Tätigkeit mit den ›Seiteneinsteigern‹ lachend mit der Arbeit einer:s Kindergärtner:in vergleicht.29 Diese Gleichsetzung ist erstaunlich, da es im Kindergarten weniger um die Vermittlung von konkreten und überprüfbaren Wissensbeständen geht, als vielmehr um das Erlernen sozialer Kompetenzen. Kindergartenspiele werden als »einfach« und »eingängig« beurteilt und mit dem Verweis, dass darauf ›zurückgegangen‹ würde, als wenig anspruchsvoll beschrieben. Das zweimalige Lachen von Mohn und Heumann könnte als 29

Auffällig ist die Formulierung »Kindergärtner:in«, welche, im Gegensatz zum offiziellen Begriff der ›(staatlich geprüften) Erzieher:in‹, noch stärker auf den fachlichen Unterschied zwischen der vorschulischen und schulischen Arbeit mit Kindern verweist.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Ratifizierung oder einfache Validierung gelesen werden – deutlich wird in jedem Fall, dass die Elaboration als amüsant kommentiert wird und nicht durch Nachfragen oder Widerspruch abgelehnt wird. Während Mohn, die an der Flussschule ›Seiteneinsteiger mit positiver Leistungsprognose‹ unterrichtet, zunächst nur mit Lachen auf die Erzählung von Rosenthal reagiert, validiert sie:er im weiteren Verlauf der Passage (Flussschule, Flurstadt, LK 3, Z.750-756) die Orientierung an der kompensatorischen Erziehung von ›Seiteneinsteigern‹ und hält ebenfalls fest, dass sie:er viele »Gesellschaftsspiele« im Unterricht spiele, da diese den neu migrierten Schüler:innen nicht bekannt seien. Eine homologe Orientierung lässt sich ebenfalls an der Ostschule rekonstruieren, an der die Vorbereitungslehrkraft im Modus einer Beschreibung elaboriert, dass im Unterricht der ›Seiteneinsteiger‹ ein besonderer Schwerpunkt auf das Fach Kunst gelegt werde. Grund für diese Schwerpunktsetzung sei zum einen, dass die Vorbereitungslehrkraft in diesem Bereich ausgebildet ist und zum anderen, dass ›Seiteneinsteiger‹ im Kunstunterricht Erfolge erlebten, die ihnen sonst verwehrt bleiben würden (Ostschule, Radstadt, LK, Z.459-465). Auffällig ist, dass es auch in dieser Passage weniger um die Vermittlung von Fachwissen zu gehen scheint, als vielmehr um ein spielerisches Lernen und eine künstlerische Betätigung.   An allen drei Schulen wird die Orientierung deutlich, dass Schüler:innen vor der Schule den (deutschen) Kindergarten besucht haben sollten und, wenn sie dies nicht hätten, Erfahrungen aus der Kindertagesstätte in der Schule zunächst erst mal nachgeholt werden müssten. Auffällig ist dabei, dass ebenso wie an der Waldschule auch an der Flussschule eine Umdeutung des Lehrer:innenberufs stattfindet, indem das Unterrichten von ›Seiteneinsteigern‹ mit der Arbeit von ›Kindergärtner:innen‹ oder Sozialarbeiter:innen verglichen wird. Der Verzicht auf eine auf das Curriculum bezogene Wissensvermittlung wird mit einem Passungsproblem zwischen den ›Seiteneinsteigern‹ und der Schule begründet und es findet eine deutliche Niveauverschiebung statt, die – so kann vermutet werden – zu einer Exklusion der ›Seiteneinsteiger‹ aus dem regulären Schulunterricht führt. Selektive Exklusion durch Reduzierung der Wochenstundenzahl für bestimmte ›Seiteneinsteiger‹ Die Schulleitung an der Waldschule elaboriert im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme, dass nicht alle ›Seiteneinsteigern‹ in den Regelunterricht eingebunden würden. LIN: ich weiß auch dass die alltägliche Arbeit mit denen da natürlich schwer ist das ist anstrengend deswegen muss ich als Schulleitung auch immer gucken dass ich das Kollegium da auch im Blick hab das ich die auch nicht überfordere und deswegen da müssen wir dann eben flexible Lösungen finden und dann können wir sagen ja wir haben auch einige Kinder die haben wir dann die schicken wir nach drei Stunden wieder nach Hause weil es nicht anders geht so dann sind die auch voll die kommen von acht bis elf und dann ist gut dann reicht es für die das ist mehr als sie jemals gehabt haben bisher so und das muss man dann auch mal so klar machen ne? ne die sagen die müssten doch eigentlich noch viel mehr nee die haben schon viel mehr als sie bisher

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

gehabt haben also immer wieder ja flexibel bleiben und immer wieder gucken (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.759-768) Erkennbar wird hier, dass einige neu migrierte Schüler:innen an der Waldschule bereits nach drei Unterrichtsstunden in der Vorbereitungsklasse, und damit vor dem täglichen Wechsel in die ihnen zugewiesene Regelklasse, nach Hause geschickt werden. Begründet wird diese Praxis mit der Belastung, die ›Seiteneinsteiger‹ im Regelunterricht darstellen würden. Dabei deutet sich in der Formulierung, dass einige ›Seiteneinsteiger‹ nicht in den Regelunterricht eingebunden würden, »weil es nicht anders geht«, die Orientierung an, bestimmte Schüler:innen als unzumutbar für Regelklassenlehrkräfte zu beobachten. Auffällig ist, dass das frühzeitige Beenden des Schulunterrichts für (manche) ›Seiteneinsteiger‹ mit der Bemerkung, dass diese damit ohnehin schon mehr Unterricht bekämen »als sie bisher gehabt haben«, als nicht problematisch verhandelt wird. Während die Legitimität der Praxis, neu migrierte Schüler:innen aufgrund der von ihnen ausgehenden Belastung für Lehrkräfte vorzeitig nach Hause zu schicken, im pädagogischen Kontext kaum haltbar erscheint, wird mit dem Hinweis auf das begrenzte Aufnahmevermögen der ›Seiteneinsteiger‹ zusätzlich eine pädagogische Begründung eingeführt: So seien diese Schüler:innen nach drei Stunden nicht mehr aufnahmefähig (sie seien dann »auch voll«, es ›reiche‹ für sie). Es wird in dieser Passage erkennbar, dass die Leitung sich hier nicht auf alle, sondern auf bestimmte ›Seiteneinsteiger‹ bezieht, die als besonders schwierig beobachtet und daraufhin vollständig vom Unterricht in der Regelklasse exkludiert werden.30 Eine ähnliche Praxis deutet sich auch an der Südschule an, an der die Schulleitung ausführt, dass nicht alle ›Seiteneinsteiger‹ volle sechs Stunden am Tag unterrichtet werden könnten (Südschule, Radstadt, SL, Z.597-600). Wie dabei verfahren wird, wird jedoch nicht weiter erläutert und findet auch im Interview der Lehrkräfte keine Erwähnung. Exklusion durch Reduzierung der Wochenstundenzahl für alle ›Seiteneinsteiger‹ Auch an der Ostschule, an der die ›Seiteneinsteiger‹ den gesamten Unterricht in der Vorbereitungsklasse verbringen und neben ein paar Stunden Sportunterricht und Mathematikunterricht ausschließlich durch die Vorbereitungslehrkraft Solder unterrichtet werden, berichtet Solder von einer Reduzierung der Wochenstundenzahl. Anders als an der Waldschule und der Südschule wurden die Wochenstunden hier jedoch für alle ›Seiteneinsteiger‹ um eine Stunde pro Tag reduziert: SO: (.) wir mussten jetzt mit den Stunden runterstauchen für unseren vorher vor den Sommerferien waren es noch fünf Stunden da war noch diese Doppelbesetzung von der ich gerade sprach immer mit drin (.) und dadurch dass sie abgezogen wurde und meine Stunden ich habe auch ein kleines Kind und da passt es eben nicht dass ich eine volle Stelle mache und da hat meine Chefin gesagt ok dann müssen wir jetzt die

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Hier könnte vermutet werden (ohne dies weiter belegen zu können), dass es sich bei diesen Schüler:innen um die als ›rumänisch‹ gekennzeichneten ›Seiteneinsteiger‹ handelt, die an der Waldschule als besonders ›problematisch‹ entworfen werden (s. Kap. 6.3.1.6). Hierfür würde auch der Hinweis auf ›kriegen hier mehr, als sie jemals hatten‹ sprechen, da in Bezug auf ›rumänische Seiteneinsteiger‹ die Annahme deutlich wurde, dass diese keine Schulerfahrungen mitbrächten.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Stunden so stauchen dass das bei dir passt und bei der Klasse passt und jetzt haben die Kinder jeden Tag vier Stunden wodurch sich bei mi- mir so dieses ganze mit oh jetzt muss ich noch Sachunterricht jeden Tag irgendwie ne? damit ich die sch- fünf Stunden vollkriege das hat sich jetzt ein bisschen verlagert (Ostschule, Radstadt, LK, Z.445-453) Erkennbar wird hier, dass die Anzahl der Unterrichtsstunden für die neu migrierten Schüler:innen an die verfügbaren zeitlichen Ressourcen der Vorbereitungslehrkraft angepasst wurden. Statt zuvor 25 Stunden werden ›Seiteneinsteiger‹ seit den Sommerferien nun nur noch 20 Stunden in der Woche unterrichtet. Hierbei handelt es sich um eine deutliche Abweichung von der regulären Stundentafel, die für die Klassen eins bis zwei 21-23 Stunden und für die Klassen drei bis vier 25-27 Wochenstunden vorsieht (s. Kap. 6.4.1). Da ›Seiteneinsteiger‹ an der Ostschule nicht nur mehr Deutschund Kunstunterricht als Regelschüler erhalten, sondern gleichzeitig deutlich weniger Stunden pro Woche unterrichtet werden, bedeutet dies, dass für den restlichen Fachunterricht (Sachunterricht, Mathematik, Englisch, Musik, Religion, Sport) nur noch sehr wenige Unterrichtsstunden zur Verfügung stehen. Die Stundenreduzierung trägt also zusätzlich dazu bei, dass ›Seiteneinsteiger‹ deutlich weniger Fachunterricht als in der Stundentafel für Grundschulen vorgesehen, erhalten. Auffällig ist, dass die Stundenreduzierung nicht als ein pädagogisches Problem, sondern als eine logische organisatorische Entscheidung verhandelt wird. Der Unterricht neu migrierter Schüler:innen scheint entsprechend nicht an den Erwartungen an Regelunterricht gemessen zu werden und die Entscheidung, Stunden angesichts reduzierter personeller Ressourcen zu kürzen, keine Widersprüche (bspw. von der Schulverwaltung) hervorzurufen. Fallübergreifende Zusammenführung An drei Schulen – der Waldschule, der Südschule und der Ostschule – lässt sich zeigen, dass (einige) ›Seiteneinsteiger‹ in der Woche deutlich weniger Unterricht erhalten als die ›Regelschüler‹ der Schule. Die Begründungen für die verkürzten Schulzeiten sind an den Schulen jedoch unterschiedlich. So wird der Unterricht an der Ostschule verkürzt, da die Vorbereitungslehrkraft aus persönlichen Gründen begrenzte zeitliche Kapazitäten hat, während an der Waldschule und der Südschule gezielt bestimmte Kinder vollständig vom Unterricht in der Regelklasse oder stundenweise vom Unterricht in der Vorbereitungsklasse ausgeschlossen werden, um die Lehrkräfte zu entlasten. An allen drei Schulen lässt sich also eine Exklusion von ›Seiteneinsteigern‹ von den ihnen regulär zustehenden Unterrichtseinheiten nachzeichnen. Dabei stellt die Praxis, Unterrichtsstunden zu reduzieren, die Lösung für personelle wie auch ›emotional-kognitive‹ Ressourcenprobleme der Lehrkräfte dar. Getragen und legitimiert wird die Praxis durch eine kategoriale Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ und einer damit verbundenen Orientierung, schulische Ansprüche und Rechte von ›Seiteneinsteigern‹ als weniger klar und eindeutig zu entwerfen. Doch nicht nur die Reduzierung der Unterrichtsstunden für neu migrierte Schüler:innen, sondern auch die Praxis, keine systematische und fachliche Wissensvermittlung im Vorbereitungsunterricht durchzuführen, kann als (selektive) Exklusion von ›Seiteneinsteigern‹ von schulisch relevanten Lerngelegenheiten beschrieben werden. So lässt sich für die Ostschule, die Flussschule und die Waldschule eine Orientierung rekonstruieren, die auf ein kompensatorisches Verständnis in Bezug auf das Unterrichten von ›Seiteneinsteigern‹ verweist. In dieser Perspektive müssen die als

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

›Seiteneinsteiger‹ kategorisierten Kinder durch die Vermittlung von Basiskompetenzen zunächst dazu befähigt werden, überhaupt am Unterricht in der Schule teilhaben zu können. Es wird also ein grundsätzliches Passungsproblem zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und der (deutschen) Schule ausgemacht, auf welches zunächst von den Schulen reagiert werden müsse. Eine Orientierung an regulären Unterrichtszielen scheint weniger relevant.

6.4.2.3

(Exkludierende) Inklusion neu migrierter Schüler:innen

Konträr zu den zuvor vorgestellten Beispielen elaborieren die Lehrkräfte an der Südschule und der Bergschule, dass der Unterricht der ›Seiteneinsteiger‹ an der regulären Stundentafel für Grundschulen ausgerichtet sei. Darüber hinaus halten auch die Lehrkräfte aus der Flussschule, die ›Seiteneinsteiger‹ in drei unterschiedlichen Altersund Niveaugruppen unterrichten, fest, dass der Vorbereitungsunterricht für die als ›leistungsstark‹ markierten ›Seiteneinsteiger‹ größtenteils an der normalen Stundentafel des jeweiligen Jahrgangs orientiert sei. Entsprechend deutet sich hier eine Inklusion neu migrierter Schüler:innen an, die – wenn diese in Form einer äußeren Differenzierung in Vorbereitungsklassen/-gruppen erfolgt – auch als exkludierende Inklusion beschrieben werden kann.   An der Südschule werden ›Seiteneinsteiger‹ nach dem parallelen Modell ausschließlich in der Vorbereitungsklasse von Url unterrichtet. Bezogen auf die Unterrichtsinhalte führt Url aus (Südschule, Radstadt, LK, Z.102-107), dass es keinen großen Unterschied zwischen der Vorbereitungsklasse und der Regelklasse gebe. Hervorgehoben wird dies durch die mehrmaligen Wiederholungen »ganz normalen Stundenplan« sowie »sonst ist alles gleich« und »ganz normal«. Eine Ausnahme sei, so die Vorbereitungslehrkraft, lediglich das Fehlen des Englischunterrichts. Dies wird jedoch als eine nicht relevante Abweichung von der Stundentafel markiert und inhaltlich begründet (»erst mal Deutsch lernen«). Eine homologe Praxis zeigt sich an der Bergschule: Auch hier verweist die Vorbereitungslehrkraft darauf, dass die ›Seiteneinsteiger‹ – abgesehen von der besonderen Deutschförderung – einen ganz regulären Stundenplan hätten und am Fachunterricht der Regelklassen teilnehmen würden (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.7-11). An der Bergschule findet die Deutschförderung in der Vorbereitungsklasse immer parallel zum Deutschunterricht in der Regelklasse statt, sodass die ›Seiteneinsteiger‹ keinen weiteren Fachunterricht der ihnen zugewiesenen Regelklasse verpassen. Im weiteren Verlauf des Interviews elaboriert die Vorbereitungslehrkraft im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme nochmals, dass sich der Unterricht von ›Seiteneinsteigern‹ im Vergleich zu ›Regelschülern‹ zwar zu Beginn aufgrund der mangelnden Deutschkenntnisse und der fehlenden Kenntnisse der Schule unterscheide, diese Unterschiede jedoch »im Laufe der Zeit« immer geringer und die ›Seiteneinsteiger‹ immer stärker an den Unterricht in der Regelklasse herangeführt würden (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.591-598). Interessant ist, dass auch die Begründung, warum sich der Unterricht mit ›Seiteneinsteigern‹ an der Stundentafel für ›Regelschüler‹ orientieren würde, an beiden Schulen gleich lautet. So lässt sich für die Bergschule ebenso wie für die Südschule die Orientierung rekonstruieren, dass auch in den Regelklassen eine sehr große Leistungshetero-

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

genität herrsche und ohnehin alle Schüler:innen der Schule individuelle Förderung und Unterstützung bräuchten. Exemplarisch wird dies in der folgenden Passage der Bergschule deutlich, in der die Regelklassenlehrer:in Koppe im Modus einer Beschreibung elaboriert, wie der Unterricht mit den ›Seiteneinsteigern‹ in der Regelklasse ablaufe: KOP: Aber es ist schon schwierig zu Anfang ne? die brauchen eigentliche eine eins zu eins Betreuung wie viele andere ja auch es sind ja viele schwache Kinder jetzt gerade hier in dieser Klasse die brauchen auch die eins zu eins Betreuung wenn die sehen ah ich bin die ganze Zeit dann da dann fordern die das auch irgendwie ein indem sie Blödsinn machen oder weiß ich nicht irgendwas um die Aufmerksamkeit zu bekommen also das meinte ich mit Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom das die hier alle haben zu Hause werden die ja nicht so versorg das holen die sich alles hier und ich sage mal (.) ob ich jetzt ein ein lernschwaches Kind fördere oder noch einen Seiteneinsteiger wenn ich da Material zu habe die Arbeit ist die gleiche ne? die lernen einfach individuell nicht jeder zur gleichen Zeit das Gleiche (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.599-610) Koppe hält zunächst, in Reaktion auf Tals Feststellung, dass der Unterricht der Regelklasse und der Vorbereitungsklasse immer weiter zusammenlaufe, fest, dass der Unterricht mit ›Seiteneinsteigern‹ zu Beginn »schon schwierig« sei. Im weiteren Verlauf wird die Differenz zwischen den ›Seiteneinsteigern‹ und den ›Regelschülern‹ jedoch wieder relativiert. So weist Koppe hier nochmals (wie bereits in Kapitel 6.3.1.4 analysiert wurde) darauf hin, dass alle Schüler:innen der Schule ein »Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom« hätten. Es mache in der Beschulungspraxis daher keinen Unterschied, ob »ein lernschwaches Kind« oder ein »Seiteneinsteiger« gefördert werden müsse – die Arbeit sei die gleiche. Ähnlich wird an der Südschule argumentiert. Gleichermaßen elaborieren die Lehrkräfte hier gemeinsam im Modus einer Beschreibung, dass die Schüler:innen der Vorbereitungsklasse wie auch der Regelklassen nicht nur hinsichtlich fehlender Sprachkenntnisse, sondern auch in Bezug auf »sämtliche Lernvoraussetzungen« an ihrer Schule »bunt gemischt« seien (Südschule, Radstadt, LK, Z.249-250).   Etwas anders stellt sich die Situation an der Flussschule dar. An der Flussschule werden ›Seiteneinsteiger‹, wie in Kapitel 6.3.1.4 herausgearbeitet werden konnte, nach ihren angenommenen potenziellen ›Leistungsfähigkeiten‹ differenziert beschult (Flussschule, Flurstadt, LK, Z.56-65). Die Vorbereitungslehrkraft der ersten Klasse erläutert, wie im Unterricht an diese intrakategoriale Leistungsdifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ angeknüpft wird. So werden bereits in der ersten Jahrgangsstufe unterschiedliche Lerngruppen gebildet, die an drei unterschiedlichen Leistungsständen arbeiten. Hier müsse nun aber, so die Vorbereitungslehrkraft im weiteren Verlauf der Passage, interveniert werden: ROS: (.) also ganz auf dem Klassenstand bin ich nicht ich glaub ich häng einen Buchstaben hinterher aber ich musste jetzt mal bisschen bremsen sonst wäre die Kl- der Spalt zwischen den beiden oder drei Gruppen zu groß geworden (Flussschule, Flurstadt, LK, Z.192-194)

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Während in Bezug auf die ›Leistungsstarken‹ festgehalten wird, dass diese fast auf dem Klassenstand seien, wird dies für die als ›mittel oder schwächer‹ bezeichnete Gruppe nicht formuliert. Hier könnte sich – wie auch in der Formulierung »ich glaub ich häng einen Buchstaben hinterher«, der sich ausschließlich auf den Lernstand der ›Seiteneinsteiger‹ in der ›leistungsstarken‹ Gruppe bezieht – eine Priorisierung dieser andeuten. Auffällig ist aber gleichzeitig, dass das Lerntempo aller ›Seiteneinsteiger‹, bei zu großen Unterschieden zwischen den Gruppen, an das Tempo der als nicht leistungsstark markierten Schüler:innen angepasst wird. Auch wenn im Unterricht an eine intrakategoriale Leistungsdifferenzierung angeknüpft wird, wird also nicht grundsätzlich infrage gestellt, dass alle ›Seiteneinsteiger‹ gemeinsam unterrichtet werden sollten und ein Übergang der ›leistungsstarken Seiteneinsteiger‹ in die Regelklasse scheint nicht in Betracht gezogen zu werden. Vielmehr scheint die kategoriale Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ die intrakategoriale Differenzierung zu überlagern.   Interessant ist, dass das Unterrichten neu migrierter Schüler:innen nach der regulären Stundentafel für unterschiedliche Beschulungsmodelle rekonstruiert werden kann. So werden ›Seiteneinsteiger‹ an der Südschule ausschließlich parallel unterrichtet, während ›Seiteneinsteiger‹ an der Bergschule nur wenige Stunden in der Woche in der Vorbereitungsklasse unterrichtet werden und die restliche Zeit am Regelunterricht teilnehmen und die ›Seiteneinsteiger‹ der Flussschule jeden Tag knapp die Hälfte der Schulstunden in der Vorbereitungsklasse verbringen. An der Bergschule und an der Südschule wird die Tatsache, dass keine Unterscheidung im Lehrplan vorgenommen wird, mit dem Hinweis begründet, dass ohnehin eine große Leistungsheterogenität bestehe, bzw. an der Bergschule alle Schüler:innen als förderbedürftig beschrieben werden. Demgegenüber werden neu migrierte Schüler:innen an der Flussschule scheinbar nur dann entsprechend der regulären Stundentafel unterrichtet, wenn sie zuvor als ›Seiteneinsteiger mit positiven Leistungsprognosen‹ klassifiziert wurden. Zusammenfassend lassen sich die hier rekonstruierten Praxen als (exkludierende) Inklusion neu migrierter Schüler:innen beschreiben. Von einer exkludierenden Inklusion kann dann gesprochen werden, wenn das Unterrichten nach dem Curriculum der Regelklasse in Form einer äußeren Differenzierung in einer Vorbereitungsklasse/-gruppe erfolgt. Fallübergreifende Zusammenführung An drei der sechs untersuchten Grundschulen – der Waldschule, der Ostschule und der Westschule – wird deutlich, dass sich der Unterricht für die als ›Seiteneinsteiger‹ kategorisierten Schüler:innen nicht an der regulären Stundentafel für Grundschulen orientiert. An der Südschule, der Bergschule und (für bestimmte ›Seiteneinsteiger‹) an der Flussschule hingegen richtet sich der Unterricht am Curriculum der Grundschule aus. Auffällig ist, dass sich die unterschiedlichen Orientierungen unabhängig davon zeigen, ob parallel oder teilintegrativ unterrichtet wird. So kann sich eine Abweichung von der Stundentafel – ebenso wie deren Einhaltung – bspw. dadurch ergeben, dass ›Seiteneinsteiger‹ nach dem parallelen Modell in einer Vorbereitungsklasse unterrichtet werden, und die Ausgestaltung des dort stattfindenden Unterrichts vollständig in den Händen einer autonom handelnden Lehrkraft liegt. Im teilintegrativen Modell, bei dem neu migrierte Schüler:innen

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

in der Vorbereitungsklasse in erster Linie eine Vermittlung von Deutschkenntnissen erfahren und Fachkenntnisse anderer Unterrichtsfächer in der Regelklasse erlernt werden müssen, wird darüber hinaus erkennbar, dass die Teilnahmebedingungen für den Regelunterricht von Schule zu Schule sehr unterschiedlich sind. So lässt sich zeigen, dass ›Seiteneinsteiger‹ entweder vollständig am Regelunterricht teilnehmen oder vom Regelunterricht exkludiert werden. Dementsprechend sind auch die Fachinhalte, die ›Seiteneinsteiger‹ in diesem Modell erlernen, sehr verschieden. Schulen scheinen entsprechend bei der Konzipierung der Stundentafel für ›Seiteneinsteiger‹ unabhängig davon, nach welchem Modell die Beschulung organisiert ist, eigenständig über Unterrichtsinhalte entscheiden zu können.

6.4.3

Leistungsmessung und Leistungsmarkierung neu migrierter Schüler:innen

Mit Blick auf neu migrierte Schüler:innen finden sich keine bildungspolitischen Hinweise zur Durchführung von Leistungsmessungen. Analog zu diesen fehlenden bildungspolitischen Vorgaben liegen ebenfalls keine konkreten Regelungen hinsichtlich der Form und der Inhalte von Zeugnissen oder Lernstandsberichten vor (s. Kap. 6.4.1). Wie und in welcher Form Leistungsmessungen bei und Leistungsmarkierung von neu migrierten Schüler:innen durchgeführt werden, obliegt entsprechend den Einzelschulen.   Im Hinblick auf den Umgang mit ›Leistungsmessern‹, wie Hausaufgaben und Klassenarbeiten, können an den untersuchten Schulen zwei unterschiedliche Orientierungen rekonstruiert werden: Zum einen deutet sich in einigen Schulen die Orientierung an, differente Leistungskriterien für ›Seiteneinsteiger‹ zu etablieren. Zum anderen lässt sich gegensätzlich zu dieser Orientierung eine Praxis der Leistungsbewertung rekonstruieren, die auf einer Normalisierung des Status ›Seiteneinsteiger‹ beruht, insofern ›Seiteneinsteiger‹ von einer Lehrkraft der Flussschule nach gleichen Leistungskriterien beobachtet werden wie ›Regelschüler‹.   Bezüglich der Praxis der Erstellung von Lernstandsberichten/Zeugnissen können ebenfalls zwei verschiedene Praxen rekonstruiert werden: die vollständige Vermeidung schulfachbezogener Leistungsmarkierungen durch die ausschließliche Bewertung des sozialen (Arbeits-)Verhaltens der ›Seiteneinsteiger‹ in Textform und die graduelle Leistungsmarkierung von ›Seiteneinsteigern‹ in Form eines ›Ankreuzbogens‹, die sich jedoch exklusiv auf den deutschen Sprachstand der Schüler:innen bezieht.

6.4.3.1

Leistungsmessung

Hinsichtlich der Leistungsbewertung von ›Seiteneinsteigern‹ wird der Fokus im Folgenden auf zwei für Regelklassen als relevante ›Leistungsmesser‹ verhandelte Praktiken gelegt: die Anfertigung von Hausaufgaben und das Durchführen von Klassenarbeiten. Die Anfertigung von Hausaufgaben stellt an Schulen, die diese Praxis grundsätzlich für die Schüler:innen der Schule etabliert haben31 , zum einen eine Form der selbst31

An Ganztagsschulen werden i.d.R. keine Hausaufgaben gestellt.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

ständigen Arbeits- und Übungsphase dar, zum anderen dient die Kontrolle der Hausaufgaben darüber hinaus zur Beurteilung der Schüler:innen hinsichtlich ihres aktuellen ›Leistungsstandes‹ (vgl. MSB NRW, Hausaufgaben, o.J.). Klassenarbeiten werden, so die bildungspolitischen Vorgaben hierzu in NRW, grundsätzlich erst nach Beendigung der ersten zwei Jahrgangsstufen der Grundschule durchgeführt und dienen dann ebenfalls zur regelmäßigen Beurteilung des ›Leistungsstandes‹ der Schüler:innen. Es soll hier nicht darum gehen, zu diskutieren, inwiefern mit diesen Formaten ›Leistungen‹ angemessen abgebildet oder überprüft werden können. Vielmehr liegt der Fokus auf der Frage, wie neu migrierte Schüler:innen mit Bezug auf diese Praktiken von den Lehrkräften beurteilt werden und inwiefern sich diese Beurteilung im Hinblick auf ›Regelschüler‹ unterscheidet – oder nicht.   An der Bergschule, der Waldschule und der Südschule wird das Thema Hausaufgaben nicht angesprochen. Dies könnte darauf hindeuten, dass an diesen Schulen grundsätzlich keine Hausaufgaben aufgegeben werden, ›Seiteneinsteiger‹ von Hausaufgaben ausgenommen werden oder das Thema der Anfertigung von Hausaufgaben durch ›Seiteneinsteiger‹ aus anderen Gründen keine Relevanz für die Lehrkräfte besitzt. Diese Hypothesen können mit dem vorliegenden Interviewmaterial nicht abschließend geklärt werden und werden daher an dieser Stelle nicht weiterverfolgt. Auch die Erledigung von Klassenarbeiten durch ›Seiteneinsteiger‹ wird an einigen Schulen (Ostschule, Südschule, Westschule) nicht thematisiert. Dies könnte u.a. darauf verweisen, dass die Schüler:innen hier nicht an den Arbeiten teilnehmen. Ebenso wie in Bezug auf die Anfertigung von Hausaufgaben kann jedoch auch diese Vermutung nicht endgültig geklärt werden. Exklusion neu migrierter Schüler:innen vom Leistungsprinzip der Regelschule Mit Blick auf den Leistungsmesser ›Hausaufgaben‹ zeigt sich an der Ostschule, der Westschule und der Flussschule, dass ›Seiteneinsteiger‹ an diesen Schulen grundsätzlich Hausaufgaben erledigen sollen. Die Bewertung der Hausaufgaben scheint jedoch nach anderen Maßstäben als bei ›Regelschülern‹ zu erfolgen. An der Bergschule und der Waldschule wird ferner formuliert, dass ›Seiteneinsteiger‹ nicht an den Klassenarbeiten der Regelklassen (denen sie im teilintegrativen Modell zugewiesen sind) teilnehmen. Es wird zunächst die Praxis der Etablierung differenter Leistungskriterien für ›Seiteneinsteiger‹ – welche auch als Exklusion neu migrierter Schüler:innen aus dem Leistungsprinzip der Regelschule beschrieben werden kann – mit Blick auf die Anfertigung von Hausaufgaben dargestellt und anschließend die (Nicht-)Teilnahme an Klassenarbeiten fokussiert. Hausaufgaben An der Ostschule wird das Problem beschrieben, dass ›Seiteneinsteiger‹ – ebenso wie alle anderen Schüler:innen – manchmal keine Hausaufgaben anfertigen würden. Interessant ist in Bezug auf das Thema ›Leistungsbewertung‹ jedoch, wie die Vorbereitungslehrkraft Solder auf die fehlende Bearbeitung der Hausaufgaben durch ›Seiteneinsteiger‹ reagiert.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

SO: und (.) gut es sind letzten Endes halt Kinder ne die wenn ich die machen genauso wenig mal die Hausaufgaben dass es vorkommt ne? dass eben dass man in der Regelklasse weiß oh wenn ich da einmal die Mutter anrufe dann fluppt das danach und das ist ne? so wieder die (Chose) an der Sache das ist dann hier eben nicht so und (.) aber da bin ich auch entspannter geworden von daher (.) (Ostschule, Radstadt, LK, Z.105-109) Solder elaboriert im Modus einer Beschreibung, dass in der Regelklasse ein Anruf zu Hause genüge, damit Hausaufgaben wieder regelmäßig erledigt würden. Warum sich die Situation in der Vorbereitungsklasse konträr darstelle, führt Solder nicht weiter aus. Die Formulierung »eben nicht so« deutet jedoch darauf hin, dass es sich dabei um eine Tatsache handele, an der Solder nichts ändern könne. Begründet wird dies mit dem Hinweis, dass es nicht möglich sei, mit den Eltern der ›Seiteneinsteiger‹ über die Schwierigkeiten zu sprechen.32 Die Lösung dieses Problems – hält Sonder fest – sei, »entspannter« zu sein. Diese Formulierung kann als ein Hinweis darauf gelesen werden, dass in der Vorbereitungsklasse andere Bewertungsmaßstäbe angesetzt werden als in der Regelklasse. Deutlich wird in dieser Passage, dass an der Ostschule in Bezug auf die (un-)regelmäßige Erledigung von Hausaufgaben durch ›Seiteneinsteiger‹ ein anderer Umgang erfolgt, bzw. damit auch eine andere Bewertung der Nicht-Erledigung vorgenommen wird als bei ›Regelschülern‹. Auch die Lehrkräfte der Westschule elaborieren im Modus einer Beschreibung, dass die ›Seiteneinsteiger‹, bevor sie an der offenen Ganztagsschule (OGS) teilgenommen haben, nur vereinzelt Hausaufgaben erledigt hätten und mitgegebenen Materialien nicht wieder in die Schule mitgebracht worden wären (Westschule, Radstadt, LK, Z.350-360). Zur Lösung dieser Probleme sind die Lehrkräfte dazu übergegangen, keine Hausaufgaben mehr aufzugeben und keine Arbeitsmaterialien mehr mitzugeben. Inzwischen, hält Horn fest, nähmen die neu migrierten Schüler:innen an der OGS teil und »versuchen« die Hausaufgaben »mitzumachen«. Auch hier wird noch mal die Orientierung, dass ›Seiteneinsteiger‹ nicht die ›regulären‹ Schulleistungen erbringen können, deutlich. Die Formulierung »jetzt versuchen die zumindest« kann so gelesen werden, dass es für alle Anwesenden klar ist, dass die ›Seiteneinsteiger‹ sich hier an Aufgaben erproben, die nicht für sie – sondern für die ›Regelschüler‹ der Klasse – gemacht sind und dementsprechend von ihnen nicht sinnvoll erledigt werden können. Auffällig ist auch, dass die nicht korrekte Erledigung der Aufgaben von den Lehrkräften nicht als Problem verhandelt wird. So deutet sich hier nochmals die Orientierung an, Leistungen der ›Seiteneinsteiger‹ anders als die Leistungen von ›Regelschülern‹ zu bewerten. Erkennbar wird, dass damit an der Westschule eine ähnliche Praxis wie an der Ostschule vollzogen wird, indem mit einer Veränderung der Bewertung fehlender Hausaufgaben reagiert wird. Deutlich wird dabei die Orientierung, von ›Seiteneinsteigern‹ weniger Leistung zu erwarten als von ›Regelschülern‹ und das Nicht-Erfüllen von regulären Leistungsanforderungen (Hausaufgaben) entsprechend nicht (mehr) als Problem zu beschreiben. 32

Bereits in Kapitel 6.3.1.5 konnte herausgearbeitet werden, dass die Arbeit mit den Eltern der ›Seiteneinsteiger‹ von der Vorbereitungslehrkraft der Ostschule deutlich von der Arbeit mit den Eltern der ›Regelschüler‹ unterschieden wird und die Elternarbeit in der Vorbereitungsklasse als besonders problematisch entworfen wird.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Eine homologe Orientierung wird an der Flussschule von Vorbereitungslehrkraft der ersten Jahrgangsstufe formuliert. So wird in Bezug auf die ›Seiteneinsteiger‹ in der ersten Klasse festgehalten, dass es ›problematische Seiteneinsteiger‹ gebe »bei welchen wo man genau weiß der kommt wieder ohne Hausaufgaben aber er kommt wenigstens heute ist er mal da so« (Flussschule, Flurstadt, LK 3, Z.446-447). Diese Formulierung deutet darauf hin, dass es schon zu genügen scheint, wenn Schüler:innen überhaupt in der Schule erscheinen. Der Erledigung der Hausaufgaben wird hier, wie an der Ostschule und der Westschule, keine Priorität eingeräumt und das Fehlen der Aufgaben anders bewertet als bei ›Regelschülern‹. Eine homologe Orientierung wird in einer Passage mit der Vorbereitungslehrkraft der Flussschule, welche die ›Seiteneinsteiger mit negativen Leistungsprognosen‹ unterrichtet, erkennbar, in der Worm ausführt, warum viele ›Seiteneinsteiger‹ nicht die erforderlichen Leistungen erbringen könnten: WO: ich denke mal dass das sehr häufig so ist wenn die Unterstützung zu Hause fehlt und das ist ja in dem Fall ja noch mehr notwendig (.) dann sind die Kinder ja auf sich selber gestellt und (.) ja die können das ja alleine gar nicht schaffen ne? (.) sie können ja das leisten was man ihnen anbietet aber ich sag mal von alleine setzt sich so ein Kind jetzt nicht hin in der Regel und fängt an da irgendwas zu rechnen ne so (.) oder ja es zu lernen also das ne Hausaufgaben machen ist auch ein Problem ne? also aber nicht bei allen aber soll(Flussschule, Flurstadt, LK 1, Z.229-235) Im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme beschreibt die Vorbereitungslehrkraft, dass die Anfertigung von Hausaufgaben aufgrund der familiären Bedingungen, in denen die ›Seiteneinsteiger‹ aufwachsen, nicht geschafft werden könne. Es wird hier jedoch nicht weiter ausgeführt, wie mit den fehlenden Hausaufgaben umgegangen wird. Es lässt sich aber vermuten, dass die Erläuterung von Worm, dass die Lehrkräfte auf diese Bedingungen keinen Einfluss nehmen können,– ebenso wie bereits an der Ostschule – zu einer Handlungsentlastung der Lehrkräfte beiträgt und eine andere Leistungsbewertung für ›Seiteneinsteiger‹ vorgenommen wird.33 Klassenarbeiten Neben dem Verfassen von Hausaufgaben wird an der Bergschule und der Waldschule auch die Nicht-Teilnahme an Klassenarbeiten thematisiert. So erläutert die Vorbereitungsklassenlehrkraft der Bergschule, in welchen Stunden die ›Seiteneinsteiger‹ jeweils in der Vorbereitungsgruppe seien. Dabei hält Lehrkraft Tal fest, dass es wichtig sei »flexibel« zu sein, da auf das, was in den Regelklassen von den Regelklassenlehrkräften geplant werde, spontan eingegangen werden müsse: Tal: dann muss man irgendwie flexibel sein und dann auf einmal morgens die rausnehmen obwohl man es anders geplant hatte dafür muss man dann woanders Bescheid sagen ich kann die jetzt nicht eine Doppelstunde abholen weil der und der eine Klassenarbeit schreibt (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.746-749) 33

Anders stellt sich die Situation in der Vorbereitungsklasse von Mohn dar, die an der Flussschule ›Seiteneinsteiger mit positiven Leistungsprognosen‹ unterrichtet, s. Kapitel 6.3.1.4.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Deutlich wird an dieser Ausführung zum organisatorischen Ablauf, dass ›Seiteneinsteiger‹ zwar aufgrund des teilintegrativen Modells am Unterricht der Regelklasse teilnehmen, diese Teilnahme aber unterbrochen wird, wenn eine schriftliche Leistungsbewertung in Form einer Klassenarbeit ansteht. Die Nicht-Teilnahme der ›Seiteneinsteiger‹ an den Klassenarbeiten wird dabei als eine Selbstverständlichkeit und nicht als Problem verhandelt. Probleme entstünden vielmehr erst dadurch, dass die ›Seiteneinsteiger‹ aus der entsprechenden Klasse in der Zeit anders beschäftigt oder beaufsichtigt werden müssten. Die Nicht-Teilnahme wird hier also weniger als ein inhaltliches, sondern vielmehr als ein organisatorisches Problem gerahmt. Es zeigt sich darüber hinaus, dass der Stundenplan der ›Seiteneinsteiger‹ flexibel an die organisatorischen Bedingungen in den Regelklassen angepasst wird. Dabei wird nicht geprüft, was die ›Seiteneinsteiger‹ lernen müssen oder welche Fächer sie nicht verpassen dürfen, sondern im Rahmen der vorhandenen personellen Ressourcen werden die jeweiligen Unterrichtsstunden, die sie in der Regelklasse verbringen, angepasst. Eine homologe Orientierung lässt sich an der Waldschule rekonstruieren, an der Regelklassenlehrkraft Baumann elaboriert, dass im Regelunterricht vor dem Hintergrund knapper personeller Ressourcen und der Bedeutung von Klassenarbeiten für ›Regelschüler‹ permanent abgewogen werden müsse, ob die ›Seiteneinsteiger‹ oder die ›Regelschüler‹ jeweils mehr Unterstützung benötigen (s. auch Kap. 6.4.2.2). BAU: wenn ich für die Klassenarbeit übe dann muss ich mich mehr auf die andere Gruppe konzentrieren und muss dann die anderen Kinder mal sich überlassen es ist einfach so ja an anderen Tagen kann es umgekehrt sein dann bekommt dann die Seiteneinsteigergruppe mehr Zuwendung (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.131-134) Am Beispiel des Übens für eine Klassenarbeit wird ausgeführt, dass in diesen Momenten die ›Regelschüler‹ im Fokus der Aufmerksamkeit stünden, da die ›Seiteneinsteiger‹ nicht an der Klassenarbeit teilnehmen. Es zeigt sich eine deutliche Priorisierung der ›Regelschüler‹, die mit der Bedeutung der Leistungsbeurteilung dieser (u.a. durch Klassenarbeiten) begründet wird, von der die ›Seiteneinsteiger‹ exkludiert sind. Interessant ist jedoch, dass an der Waldschule nicht nur für den Zeitraum der Erstförderung in der Vorbereitungsklasse davon ausgegangen wird, dass ›Seiteneinsteiger‹ nicht nach den regulären Maßstäben zur Leistungsmessung in Grundschulen bewertet werden können. Vielmehr elaborieren die Lehrkräfte im weiteren Verlauf des Interviews: FU: aber ja also mit den zwei Jahren finde ich persönlich zu kurz weil was ist danach?   BAU:                                                                                              └ja da sind wir uns glaub ich einig   FU: danach geht es dann ganz normal weiter ne dann soll irgendwie ganz klassisch benotet werden die ganzen Lernzielkontrollen sa- sollen alle mitgeschrieben werden und so weiter das ist ja sehr unrealistisch (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.295-299)

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Hier zeigt sich die Orientierung, dass für ›Seiteneinsteiger‹ auch nach Beendigung der Erstförderung grundsätzlich keine Leistungsbeurteilungen wie für ›Regelschüler‹ möglich seien. Die Formulierung »unrealistisch« verweist darauf, dass die Leistungsbewertung der ›Seiteneinsteiger‹ nach den regulären Kriterien in der Grundschule als aussichtslos und nicht durchführbar angesehen wird. Warum dies nicht realistisch sei, führen die Lehrkräfte hier nicht weiter aus. Wie jedoch bereits rekonstruiert werden konnte, wird an der Waldschule eine kategoriale Differenzierung zwischen ›Regelschülern‹ und ›Seiteneinsteigern‹ vorgenommen, die sich auch in der (selektiven) Exklusion der neu migrierten Schüler:innen von schulisch relevanten Lerngelegenheiten zeigt (s. Kap. 6.4.2.2).   Insgesamt besteht in den rekonstruierten Praxen hinsichtlich der Leistungsbewertung von ›Seiteneinsteigern‹ eine kategoriale Differenzierung von ›Regelschülern‹, die dazu führt, dass neu migrierte Schüler:innen vom Leistungsprinzip der Regelschule exkludiert werden: An der Waldschule und der Bergschule wird kein Zweifel daran gelassen, dass ›Seiteneinsteiger‹ nicht an Klassenarbeiten als Form der Leistungsmessung teilnehmen (können). Während diese Praxis an der Bergschule jedoch ausschließlich im Hinblick auf die Zeit, die ›Seiteneinsteiger‹ in der Vorbereitungsgruppe verbringen, thematisiert wird, kann im Lehrkräfteinterview der Waldschule die Orientierung rekonstruiert werden, ›Seiteneinsteiger‹ auch nach Beendigung der zweijährigen Erstförderung weiterhin von der regulären Leistungsbeurteilung auszunehmen. Die NichtErledigung von Hausaufgaben wird an der Westschule, der Flussschule wie ebenfalls an der Ostschule zwar als Schwierigkeit beschrieben, gleichzeitig wird aber darauf verwiesen, dass dieses Problem durch die Lehrkräfte nicht gelöst werden könne. Damit entlasten sich die Lehrkräfte zum einen selbst, zum anderen wird deutlich, dass an ›Seiteneinsteiger‹ im Vergleich zu ›Regelschülern‹ andere Leistungsanforderungen gestellt werden. Welche potenziell ungleichheitsrelevanten Folgen sich daraus ergeben, wird abschließend in Kap. 6.4.4 diskutiert. Selektive Inklusion neu migrierter Schüler:innen in das Leistungsprinzip der Regelschule An der Flussschule kann im Interview mit der Vorbereitungslehrkraft Mohn, die die ›Seiteneinsteiger mit positiver Leistungsprognose‹ unterrichtet, eine divergente Orientierung rekonstruiert werden, die anders als die zuvor genannten Schulen auf eine (selektive) Inklusion neu migrierter Schüler:innen in das Leistungsprinzip der Regelschule verweist. Zunächst elaboriert Mohn im Modus einer Beschreibung, wie die ›Seiteneinsteiger‹ hinsichtlich der Anfertigung von Hausaufgaben unterstützt würden (Flussschule, Flurstadt, LK 3, Z.609-613). Wie bereits rekonstruiert werden konnte, nehmen die ›Seiteneinsteiger‹ in Mohns Klasse am Regelunterricht teil und sind inhaltlich fast auf dem gleichen Stand wie die ›Regelschüler‹ (s. Kap. 6.4.2.3). Mit der Teilnahme am Regelklassenunterricht scheint für die Schüler:innen auch die Erledigung der Klassenhausaufgaben einherzugehen. Indem Mohn darauf verweist, dass er:sie die Mathematikhausaufgaben erkläre und korrigiere, wird deutlich, dass die fehlerfreie Anfertigung der Aufgaben für relevant erachtet wird. Hier deutet sich also – im Gegensatz zu den vorherigen Rekonstruktionen – an, dass keine andere Leistungsbewertung der

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

›leistungsstark‹ klassifizierten ›Seiteneinsteiger‹ vorgenommen wird. Darüber hinaus berichtet die Vorbereitungslehrkraft, dass die ›Seiteneinsteiger‹ ihrer:seiner Vorbereitungsgruppe zwar auch nicht an den Klassenarbeiten der Regelklasse teilnehmen, dafür aber in der Vorbereitungsklasse selbst Arbeiten geschrieben würden, um den jeweiligen ›Leistungsstand‹ zu überprüfen. Im Kontrast zur Waldschule und Bergschule elaboriert Mohn im Modus einer exemplifizierenden Erzählung, dass er:sie – im Gegensatz zur ›Seiteneinsteiger‹-Gruppe einer:s ehemaligen Kolleg:in – mit den ›Seiteneinsteigern‹ in ihrer:seiner Gruppe bereits Klassenarbeiten schreiben könne: MOH:   └hmhm ja ja und ein:e Kolleg:in von mir auch ein:e Ehemalige:r also die hat da auch ne rei- eine Seiteneinsteigerklasse und (.) da hab ich das war noch da hatte ich noch die Gruppe mit Tamir Amani und Iasmina und da war ich auch schon in der Lage mit denen selber Klassenarbeiten zu schreiben da hat die gesagt das würdest du bei ihr nie hinkriegen ja wie denn auch wenn das wenn die alle irgendwie kunterbunt gemischt sind ne? (Flussschule, Flurstadt, LK 3, Z.813-818) Mit dem Verweis auf drei ehemalige Schüler:innen hält Mohn fest, dass sie:er mit dieser Gruppe »schon in der Lage« gewesen sei, Klassenarbeiten zu schreiben. Diese Formulierung deutet darauf hin, dass die Möglichkeit, Klassenarbeiten schreiben zu können, als positiv bewertet wird. Darüber hinaus wird deutlich, dass die Teilnahme an der regulären Leistungsbewertung Ziel des Unterrichtens von ›Seiteneinsteigern‹ zu sein scheint – selbst wenn die Leistungsbewertung noch nicht in der Regelklasse, sondern ggf. nur in der Vorbereitungsklasse stattfindet (»selber Klassenarbeiten zu schreiben«). Interessant ist an dieser Passage auch der Hinweis, dass die Leistungsbeurteilung durch Klassenarbeiten zwar bei Mohn möglich sei, dies aber in einer »kunterbunt« gemischten ›Seiteneinsteigerklasse‹ nicht möglich erscheint. Dies wird von Mohn mit der exemplifizierenden Erzählung einer ehemaligen Kollegin belegt. Das Erreichen des Ziels, ›Seiteneinsteiger‹ nach regulären Leistungskriterien zu bewerten, wird damit als nur in leistungshomogenen Vorbereitungsklassen möglich beschrieben. Mit der Erzählung wird die entsprechende Praxis an der Flussschule, ›Seiteneinsteiger‹ in leistungsdifferenzierten Vorbereitungsgruppen zu unterrichten, nochmals als sinnvoll belegt. Fallübergreifende Zusammenführung Ebenso wie in Bezug auf die Anfertigung von Hausaufgaben zeigt sich an der Flussschule in der Vorbereitungsgruppe für ›Seiteneinsteiger mit positiven Leistungsprognosen‹ auch in Bezug auf die Durchführung von Klassenarbeiten die Orientierung, ›Seiteneinsteiger‹ hinsichtlich ihrer schulischen Leistungsbewertung nicht von ›Regelschülern‹ zu differenzieren. Mit der hier erkennbar werdenden Normalisierung des Status ›Seiteneinsteiger‹ unterscheidet sich die Praxis der Leistungsbewertung in der Vorbereitungsgruppe für ›Seiteneinsteiger mit positiver Leistungsprognose‹ nicht nur deutlich von den Leistungsbewertungen der anderen ›Seiteneinsteiger‹ der Flussschule, sondern auch von den Praxen an der Waldschule, Bergschule, Westschule und Ostschule, die ›Seiteneinsteiger‹ mit der Etablierung differenter Leistungskriterien kategorial von ›Regelschülern‹ unterscheiden und damit von der leistungsbezogenen Bewertungspraxis der Regelschulen exkludieren.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

6.4.3.2

Leistungsmarkierung

Bezogen auf die Erstellung von Lernstandberichten und/oder Notenzeugnissen werden an den untersuchten Schulen zwei Praxen erkennbar, die beide durch die bildungspolitischen Vorgaben in NRW zur Beschulung neu migrierter Schüler:innen ermöglicht werden (vgl. Kap. 6.4.1). Hierbei handelt es sich einerseits um den Verzicht auf graduelle (notenbasierte) Leistungsmarkierungen und andererseits um graduelle Leistungsmarkierungen, die sich jedoch ausschließlich auf den deutschen Sprachstand der neu migrierten Schüler:innen beziehen. Lediglich an der Flussschule wird in beiden Interviews mit den Lehrkräften sowie im Interview mit der Schulleitung an keiner Stelle erwähnt, wie Lernstandsberichte oder Zeugnisse für ›Seiteneinsteiger‹ aussehen, bzw. ob ›Seiteneinsteiger‹ Zeugnisse bekommen. Dies könnte entweder darauf hindeuten, dass ›Seiteneinsteiger‹ an dieser Schule keine Zeugnisse erhalten, oder die Vergabe von oder der Verzicht auf Zeugnisse als wenig relevant verhandelt und daher nicht thematisiert werden. Es ist auf der Grundlage der vorhanden empirischen Daten an dieser Stelle nicht möglich festzustellen, welche der Hypothesen zutreffend sein könnte. Verzicht auf Notengebung An der Ostschule, der Südschule, der Waldschule und der Westschule findet bei der Erstellung von Lernstandsberichten oder Zeugnissen keine notenbasierte Beurteilung der Lernentwicklung bzw. des Leistungsstandes in den Unterrichtsfächern statt. Welche Begründungen für diese Praxis benannt werden und welche Orientierungen dabei sichtbar werden, wird im Folgenden rekonstruiert. Im fallexternen Vergleich wird zunächst die Praxis an der Ostschule rekonstruiert und daraufhin auf homologe Orientierungen an weiteren Schulen verwiesen. An der Ostschule werden im Lernstandsbericht keine Noten festgehalten, sondern die Leistungen der ›Seiteneinsteiger‹ in Form von ausformulierten Texten durch die Vorbereitungslehrkräfte beschrieben. So hält die Vorbereitungslehrkraft fest: SO: also es gibt halt keine Noten ne? das ist halt wirklich auch für die Großen im Fließtext komplett geschrieben und ganz ausformuliert (Ostschule, Radstadt, LK, Z.266-267) Die Formulierung »auch für die Großen« bezieht sich hier vermutlich auf ›Seiteneinsteiger‹, die sich kurz vor dem Wechsel in der Sekundarstufe befinden. Auch für diese Schüler:innen werden also beim Übergang in die Sekundarstufe keine Notenzeugnisse, sondern Berichtszeugnisse erstellt, die ausschließlich aus ausformulierten Texten bestehen (s. hierzu auch Kap. 6.7.2.3). Neben dem Hinweis, welche Form die Zeugnisse haben (»Fließtext«), wird von der Vorbereitungslehrkraft nicht weiter ausgeführt, welche Inhalte die Leistungsberichte umfassen. Auch die Schulleitung der Ostschule äußert sich zur Leistungsbewertung von ›Seiteneinsteigern‹ und der Frage, wie diese Beurteilungen in Berichts- oder Notenzeugnissen festgehalten werden könnten. KON: und f- ich finde es ist ein toller Fortschritt wenn ein Kind am Ende des Schuljahres hier (.) sich verständigen kann im Schulalltag dann hat es ganz viel gelernt (.) deswegen ist auch so dieses die Frage der Noten dann ja eine die sich stellt (.) wo ich

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

auch sage da müssen wir ganz behutsam drangehen und einfach auch was Benotung angeht bei diesen Kindern noch mal uns Gedanken machen wie (.) wie man es in Noten ausdrücken kann was das Kind gemacht hat   JJ: Müssen Sie denn Noten geben oder? wie ist das?   KON:                                                                         └ja wenn die Kinder in den Regelklassen sind schon dann bekommen sie dann Notenzeugnisse in der solange sie bei uns in der internationalen Klasse sind schreiben wir Berichtszeugnisse (…) aber irgendwann kommt das natürlich   JJ: Und haben Sie da schon Ideen zu? wie sie das machen?   KON: Wir s- reden da einfach drüber und (.) weil mich Kollegen fragen wie soll ich das denn jetzt beurteilen so eine so einen Text den das Kind schreibt oder (.) da finde ich muss man sehr großzügig mit umgehen (Ostschule, Radstadt, SL, Z.223-237) Die Schulleitung schließt hier an eine Passage über die zukünftigen schulischen Möglichkeiten neu migrierter Schüler:innen an, in der ›Seiteneinsteiger‹ kategorial von ›Regelschülern‹ hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, den leistungsbezogenen Normalitätserwartungen der Regelschule zu entsprechen, differenziert werden.34 Auch in dieser Elaboration im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme werden ›Seiteneinsteiger‹ hinsichtlich ihrer Leistungserwartungen kategorial von ›Regelschülern‹ unterschieden. Deutlich wird dies insbesondere durch die Hinweise, dass mit der zukünftigen Benotung der ›Seiteneinsteiger‹ »behutsam« und »sehr großzügig« umgegangen werden müsse. Hier zeigt sich die Vermutung, dass eine reguläre Benotung nach jahrgangsbezogenen Leistungskriterien eine negative Erfahrung für die ›Seiteneinsteiger‹ darstellen würde, vor der diese geschützt werden müssten. Weil neu migrierte Schüler:innen ohnehin nicht das leisten könnten, was ›normalerweise‹ zu erwarten wäre, müssten sie, so argumentiert die Schulleitung hier, anders als ›Regelschüler‹ beurteilt werden. Es wird hier also ein Passungsproblem von ›Seiteneinsteigern‹ in Bezug auf die ›normalerweise‹ zu erwartenden Leistungen an einer (deutschen) Schule aufgemacht. Auffällig ist dabei, dass dieses Passungsproblem nicht nur für die Phase in der Vorbereitungsklasse angenommen wird, sondern sich die Überlegungen insbesondere auf die Zeit nach der Beendigung der zweijährigen Erstförderung bezieht – wenn Noten vergeben werden müssen. So scheint sich der ›Seiteneinsteiger‹-Status gleichermaßen auf die Zukunft, nach dem Wechsel in die Regelklasse, auszuwirken und es deutet sich die Orientierung an, ›Seiteneinsteiger‹ auch dann weiterhin kategorial von ›Regelschülern‹ zu differenzieren. Konrad führt aus, dass sich um die Notenvergabe Gedanken gemacht werden müsse und sich dabei gefragt werden müsse, wie das, »was das Kind gemacht hat«, in einem Notensystem abgebildet werden könne. Diese Formulierung deutet auf ein Beobachtungsproblem hin, mit dem grundsätzlich infrage gestellt wird,

34

Siehe hierzu Kapitel 6.3.1.4.

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wie ein Leistungsstand oder Lernzuwachs von ›Seiteneinsteigern‹ mit einem Notensystem, welches sich auf ›Regelschüler‹ bezieht, bewertet werden kann. Auffällig ist darüber hinaus, dass nicht von dem, was die Schüler:innen gelernt, sondern von dem, was sie gemacht hätten gesprochen wird. Dies deutet, ebenso wie die Feststellung, es sei ein »toller Fortschritt«, wenn sich ein Kind »im Schulalltag« verständigen könne, darauf hin, dass es im Hinblick auf die Leistungen und demgemäß auch die Leistungsbewertungen von ›Seiteneinsteigern‹ nicht um im Curriculum für Grundschulen festgelegtes Fachwissen geht. Die Perspektive, dass ›Seiteneinsteiger‹ nicht das Lernen würden, was ›Regelschüler‹ lernen, untermauert gleichzeitig nochmals die bereits skizzierte Problembeschreibung eines Beobachtungsproblems, das darin besteht, dass Leistungen von ›Seiteneinsteigern‹ nicht mit Leistungen von ›Regelschüler‹ verglichen und entsprechend auch nicht mit Noten markiert werden können. In dieser Perspektive werden neu migrierte Schüler:innen prinzipiell und auf Dauer von der leistungsbezogenen Beobachtungsweise exkludiert.   An der Südschule wird die Tatsache, dass ›Seiteneinsteiger‹ noch keine Noten bekommen müssen, von den Lehrkräften im Modus einer argumentativen Stellungnahme positiv evaluiert. URL: wir haben den Luxus in der Willkommensklasse dass die Kinder dort noch keine Noten bekommen dass sie eigentlich noch ganz viel Zeit haben um um alles zu lernen (.) und das ist in den anderen Klassen dann ja ein bisschen anders ne?   BOL:                                                                                                                                            └ja richtig (Südschule, Radstadt, LK, Z.290-294) Warum es sich bei dem Verzicht auf Noten um einen »Luxus« handele, wird mit dem Hinweis begründet, dass die ›Seiteneinsteiger‹ dadurch »ganz viel Zeit« zum Lernen hätten. Interessant ist diese Erläuterung insofern, als damit ein Zusammenhang zwischen Lerngelegenheit und Notenvergabe hergestellt wird, wobei die Möglichkeit, etwas zu lernen, positiv durch den Notenverzicht beeinflusst werde. Warum ein Notenverzicht den ›Seiteneinsteiger‹ mehr Zeit verschaffe, führen die Lehrkräfte nicht aus. Darüber hinaus könnte die Formulierung »wir haben den Luxus« darauf hindeuten, dass es trotz der anderslautenden Begründung eher für die Lehrkräfte eine positive Situation darstellt, da sie durch diese Regelung von der Notenvergabe befreit werden. Dieser Lesart folgend würde der Verzicht auf eine notenbasierte Leistungsmarkierung eine Entlastung für die Lehrkräfte – und nicht unbedingt ein ›Lernvorteil‹ für die ›Seiteneinsteiger‹ – darstellen. Beide Aspekte werden jedoch nicht weiter ausgeführt. Ähnlich wie von Vorbereitungslehrkraft Url wird auch von der Schulleitung der Südschule darauf verwiesen, dass ein Verzicht auf Noten im Sinne der ›Seiteneinsteiger‹ sei: ITT: das ist natürlich ein ein schulsystembedingtes Problem die leidigen Noten ne? also wenn man Neunjährige hat die dann eigentlich in die dritte Klasse gehören aber nie in der Schule waren müsste man die ja benoten die würden ja nur Fünfen und Sechsen schreiben (.) […] man muss eigentlich die Kinder benoten wir versuchen das

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

dann zu vermeiden und versuchen andere Taktiken zu wählen aber eigentlich müssen wirs (.) was natürlich Kinder total demotiviert ganz schwierig ist […]   JJ: Und was sind dann da so Strategien damit umzugehen?   ITT:                                                                                                   └@(.)@ also wir vermeiden Benotung für diese Kinder erst mal wir setzen die Deutschnote meist komplett raus und schreiben dann ins Zeugnis beispielsweise ne? dass die Kinder erst seit kurzer Zeit in Deutschland sind und aufgrund der kurzen Verweildauer keine Note gegeben wird (.) ja ne? so versuchen wir uns so ein bisschen durchzuschlingen ja (Südschule, Radstadt, SL, Z.107-110 + 113-115 + 119-124) Anders als die Lehrkräfte der Südschule weist die Schulleitung Ittel in dieser Passage im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme jedoch darauf hin, dass sich aus der Vorgabe, den ›Seiteneinsteigern‹ Noten geben zu müssen, Probleme ergeben. Homolog zur Ostschule wird auch von der Schulleitung ein Verzicht auf Noten nahegelegt, um den Schüler:innen Frust zu ersparen. Getragen wird diese Praxis von der Annahme, dass die ehemaligen ›Seiteneinsteiger‹ nicht die in den jeweiligen Jahrgangsstufen zu erwartenden Leistungen aufweisen würden – also ein Passungsproblem zwischen den ›Seiteneinsteigern‹ und den ihnen zugeordneten Jahrgängen bestünde. Um die Vorgabe der als nicht sinnvoll bewerteten Notenvergabe zu umgehen, würden, so Ittel, »Taktiken« gewählt, es werde ›vermieden‹ und ›versucht‹ sich »durchzuschlingen«. Insbesondere die Formulierung »durchzuschlingen« (die hier vermutlich im Sinne von ›durchzuschlängeln‹ gebraucht wird) deutet darauf hin, dass der Verzicht auf Noten an der Schule nicht formal geregelt ist, sondern die Schule hier vielmehr eigenständig, spontan und nach eigenem Ermessen gegen anderslautende Vorgaben handelt. Da Ittel im Vorlauf der Passage im Modus einer Beschreibung elaboriert, wie ›Seiteneinsteiger‹ die Grundschule bis zum Wechsel in die Sekundarstufe durchlaufen, liegt die Lesart nahe, dass die Schulleitung sich hier nicht auf diejenigen Schüler:innen bezieht, die offiziell den ›Seiteneinsteiger‹-Status besitzen und sich in der Vorbereitungsklasse befinden, sondern auf Schüler:innen, die bereits in der Regelklasse beschult werden und offiziell keine ›Seiteneinsteiger‹ mehr sind. Dies würde bedeuten, dass bestimmte neu migrierte Schüler:innen mit wenig Schulerfahrung auch nach Beendigung der Erstförderung als nicht durch reguläre Noten beurteilbar beobachtet werden und ein dauerhaftes Passungsproblem angenommen wird. So konnte bereits herausgearbeitet werden, dass an der Südschule von der Schulleitung ebenso wie von den Lehrkräften als ›rumänisch‹ beobachtete Schüler:innen u.a. aufgrund fehlender Schulbesuchszeiten kategorial von anderen Schüler:innen differenziert werden und als besonders ›leistungsschwach‹ und ›problematisch‹ entworfen werden (s. Kap. 6.3.1.6).   Eine homologe Orientierung kann an der Waldschule rekonstruiert werden. Die exemplifizierende Erzählung der Vorbereitungslehrkraft Fuchs bezieht sich hier auf den Lernstandsbericht eines bestimmten ›Seiteneinsteigers‹ beim Wechsel von der Primarstufe in die Sekundarstufe.

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FU: und also für die Seiteneinsteiger ist es weiterhin so dass Textzeugnisse geschrieben werden weil man einfach sehr viel individueller auf das Kind auch eingehen kann und ich habe mit diesem Jungen einfach auch versucht für meine Kollegen die das dann lesen ein bisschen zu beschreiben wie seine Entwicklung bisher war in der kurzen Zeit in dem Jahr in dem ich ihn dann jetzt hatte und auch eine kleine Perspektive aufzuzeigen wie ich ihn menschlich wahrgenommen habe ich hab gedacht ich versuch mal ein Signal zu setzen dass sie ihn erst mal aus dieser Sicht sehen und nicht aus ihrer sehr ja leistungsorientierten Sicht (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.468-475) Von Vorbereitungslehrkraft Fuchs wird positiv hervorgehoben, dass Textzeugnisse für ›Seiteneinsteiger‹ individueller seien als Notenzeugnisse und es wird exemplarisch ausgeführt, worauf sich der Text für einen bestimmten Schüler bezogen habe. Fuchs stellt heraus, dass es wichtig sei den künftigen Lehrkräften ihre Perspektive auf den ›Seiteneinsteiger‹ zu vermitteln und damit zu vermeiden, dass der Schüler aus einer »sehr ja leistungsorientierten Sicht« beobachtet wird. Fuchs zielt mit den Lernstandsberichten also darauf ab, dass die zukünftigen Lehrkräfte den ›Seiteneinsteiger‹ nicht bezüglich seiner Leistungen, sondern im Hinblick auf seine persönliche Entwicklung und Persönlichkeit beobachten.35 Warum die Sekundarschullehrkräfte die ›Seiteneinsteiger‹ nicht aus der leistungsorientierten Sicht beurteilen sollen, führt Fuchs nicht aus. Es konnte aber bereits zuvor an der Waldschule die Orientierung, eine kategoriale Leistungsdifferenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ vorzunehmen, rekonstruiert werden, die hier scheinbar auch in Bezug auf die Leistungsmarkierung der ›Seiteneinsteiger‹ handlungsleitend ist (s. Kap. 6.3.1.4). Ebenso wie an der Ostschule und der Südschule wird an der Waldschule die leistungsorientierte Beurteilung von ›Seiteneinsteigern‹ (ggf. auch nach Beendigung der Erstförderung) von der Vorbereitungslehrkraft grundsätzlich infrage gestellt, da zum einen von einem Passungsproblem zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und der (deutschen) Schule und zum anderen von einem Beobachtungsproblem (dessen, was ›Seiteneinsteiger‹ leisten) ausgegangen wird. Eine homologe Orientierung kann im Schulleitungsinterview der Waldschule rekonstruiert werden (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.754-759). Auch hier wird elaboriert, dass es in den Berichtszeugnissen für ›Seiteneinsteiger‹ weniger um eine Leistungsbeurteilung wie bei ›Regelschülern‹ gehe, sondern stattdessen um die Beschreibung sozialer Verhaltensweisen oder Kompetenzen, die außerhalb des schulischen Lernstoffs liegen. Interessant ist überdies der von der Schulleitung betonte ›entspannte Umgang‹ mit den nicht vorhandenen Vorgaben hinsichtlich der Zeugnisse für ›Seiteneinsteiger‹, den Lindemann mit dem Hinweis begründet, dass man keine Angst haben müsse, et-

35

Deutlich wird überdies, dass die ›Textzeugnisse‹ nicht für die ›Seiteneinsteiger‹ oder ihre Erziehungsberechtigten verfasst werden, sondern für die Lehrkräfte der aufnehmenden Schulen. Anders als an der Ostschule und der Südschule wird also nicht über die Bedeutung von Leistungsmarkierungen für die Schüler:innen selbst gemutmaßt. Dies könnte darauf hindeuten, dass ein geringes Interesse der Schüler:innen und ihrer Eltern hinsichtlich ihrer schulischen Zukunft angenommen wird. Diese Vermutung würde sich mit den im Kapitel zu Sozialisation und Kultur herausgearbeiteten Orientierungen an der Waldschule decken (s. Kap. 6.3.1.5 und 6.3.1.6), kann an dieser Stelle aber nicht weiter belegt werden.

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was falsch zu machen, da ohnehin niemand nachfrage. Die Situation, dass es keine Vorgaben der Schulverwaltung zur Leistungsmarkierung von ›Seiteneinsteigern‹ gibt (s. hierzu auch Kap. 6.4.1), wird von der Schulleitung positiv bewertet, da die Schulen dadurch nach eigenem Ermessen und ohne langfristige Planungen vorgehen können (»gucken wir mal nach und nach«).   Anders wird die Situation, dass es keine Vorgaben zur Erstellung von Lernstandsberichten für ›Seiteneinsteiger‹ gebe, von den Lehrkräften an der Westschule diskutiert.

HOR: ich denke das Problem ist ab dem dritten Schuljahr auch noch größer wir haben ja noch so ein bisschen Spielraum wir müssen zum Glück zwar ein Zeugnis schreiben aber keine Noten geben weder am Ende der Eins noch am Ende der Zwei   JEN:                                                                                                                                                  └das weiß ich sowieso nicht wie ich das machen soll   WIL:                                                                        └ja da sind   HOR:                                                                                               └und deswegen   GRI:                                                                                                                                    └können wir nicht   ?:                                                                                                                                                                                  └ja   GRI: da ist                                                                                                                                                       auch so was was machen wir da?   ABE:                                                                         └den Kindern da den Kindern wird man gar nicht gerecht oder (mein) für die Kinder   DIE:                                 └da gibt es keine klare Instruktion oder? gibt es da irgendwie ganz klare?   DIE/HOR(?):                                                          └ja                                       └ja   JEN: └nee ich weiß es nicht ich wüsste nicht was ich da schreiben soll oder benoten soll weiß ich   DIE:                                                                                                                                                          └das ist irgendwie   JEN: nicht   DIE: └man behilft sich so wie macht ihr das an eurer Schule? man fragt rum aber von oben

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme   HOR(?):                                                                                                                      └das ist einfach so   DIE: hört man auch nicht klar so und so sieht es aus jetzt das ist (        )   GRI:                                                                                                                                    └ja da gibt es diese Probleme einfach nicht   DIE:                                        └ja das steht euch zur Verfügung so sieht ein Zeu- so hat ein Zeugnis auszusehen und das und das und das einfach das ist irgendwie so jeder schlägt sich so da durch @(.)@ (Westschule, Radstadt, LK, Z.612-638)

In dieser dichten Passage elaborieren die Lehrkräfte der Westschule gemeinsam die Orientierung, dass es nicht möglich sei, ›Seiteneinsteiger‹ mit Noten oder in Form von Lernstandsberichten zu beurteilen (»schreiben soll oder benoten soll«). Homolog zur Waldschule und Ostschule wird eine leistungsbezogene Beurteilung der ›Seiteneinsteiger‹ grundsätzlich infrage gestellt, was hier gleichfalls auf die Annahme eines Passungsproblems hindeutet. Außerdem wird ebenfalls ein Beobachtungsproblem formuliert, indem infrage gestellt wird, wie das, was ›Seiteneinsteiger‹ in der Schule leisten würden, bewertet werden könne. Die hier deutlich werdende kategoriale Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ deckt sich dabei mit den bereits in den vorherigen Kapiteln rekonstruierten Orientierungen an der Westschule (s.u.a. Kap. 6.3.1.4, 6.3.1.6 oder 6.4.2.1). Konträr zur Waldschule wird in dieser Passage jedoch auch problematisiert, dass es »von oben« keine Vorgaben oder Vorlagen zur Erstellung der Lernstandsberichte gebe. Ob sich ›oben‹ auf die Schulleitung oder die Schulverwaltung bezieht, wird nicht weiter ausgeführt. Da jedoch im Laufe des Interviews mehrfach über die Vorgaben und fehlenden Hinweise durch die Schulverwaltung von Radstadt diskutiert wird und dabei problematisiert wird, dass die Schulen durch die Schulverwaltung ›alleine gelassen‹ würden, ist der Verweis auf ›oben‹ hier wohl als eine Andeutung auf fehlende Vorgaben von der Schulverwaltung in Radstadt zu lesen. Hierfür spricht auch der Hinweis von Lehrkraft Grimm, dass ›die oben‹ »diese Probleme« nicht hätten. Um in Erfahrung zu bringen, wie die Lernstandsberichte aussehen könnten, würde an anderen Schulen ›rumgefragt‹. Diese Formulierung deutet nicht auf einen gezielten und koordinierten Austausch mit anderen Schulen hin. Vielmehr scheint es sich hier um eine informelle Praxis auf der Ebene von Lehrkräften zu handeln, worauf auch die Zwischenkonklusion von Dietrich, dass jeder sich so durchschlage, hindeutet. Auch wenn die Situation der fehlenden Vorgaben der Schulverwaltung zur Erstellung von Zeugnissen für ›Seiteneinsteiger‹ an der Westschule und der Waldschule sehr unterschiedlich verhandelt wird, scheint der konkrete Umgang mit der Situation ähnlich zu sein. Es wird deutlich, dass an beiden Schulen nach eigenem Ermessen entschieden wird, wie die Zeugnisse formal wie auch inhaltlich ausgestaltet werden. Im weiteren Verlauf der Passage zeigt sich dabei an der Westschule bezüglich der inhalt-

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

lichen Schwerpunktsetzung eine ähnliche Orientierung, wie bereits an der Waldschule herausgearbeitet wurde, indem festgehalten wird, dass in den Zeugnissen weniger zum Leistungsstand der ›Seiteneinsteiger‹ geschrieben, sondern das ›soziale Arbeitsverhalten‹36 der Schüler:innen beschrieben würde (Westschule, Radstadt, LK, Z.649-651).   Homolog zur Ostschule und der Waldschule scheint die Erstellung der Zeugnisse für ›Seiteneinsteiger‹ auch an der Westschule von der Idee getragen zu werden, ›Seiteneinsteiger‹ hinsichtlich ihrer persönlichen Merkmale und den daraus abgeleiteten Fähigkeiten zum Lernverhalten in der Schule einzuschätzen. Während Aussagen zum Arbeits- und Sozialverhalten an Grundschulen in NRW grundsätzlich in Zeugnisse aufgenommen werden sollen (vgl. MSW NRW o.J., Arbeits- und Sozialverhalten), weicht die hier rekonstruierte Praxis dennoch deutlich von der Erstellung regulärer Zeugnisse ab, da scheinbar vollständig auf eine Leistungsmarkierung im Hinblick auf schulisches Wissen/Unterrichtsfächer verzichtet wird. Ausschließlich auf den deutschen Sprachstand bezogene Leistungsmarkierung Die Bergschule ist die einzige Schule des Samples, die für die Erstellung der Zeugnisse auf eine Vorlage der kommunalen Schulverwaltung zurückgreift. Diese Vorlage enthält eine Bewertungsskala, welche von den Lehrkräften angekreuzt werden kann. KOP: Und das mit den Zeugnissen finde ich auch sehr erleichternd   TAL:                                                                                                                                       └ja genau es gibt jetzt neue Zeugnisformulare vorher ihr habt Berichte geschrieben vorher ne?   KOP:                                                                                                                                                            └mhm   TAL: Ja genau Berichtzeugnisse jetzt (.) haben wir vom Kommunalen Integrationsbüro oder so Ankreuzbögen bekommen wo dann wirklich auch der Sprachstand so ein bisschen differenzierter aufgeschlüsselt ist und es ist auf jeden Fall auch eine Arbeitserleichterung ne? das man da das dann ankreuzen kann und für die Eltern auch auf jeden Fall verständlicher als ein Fließtext den wir vielleicht viele Eltern   KOP:                                                                                                                                                 └gar nicht lesen   TAL: └gar nicht verstehen können und dann ist ein Ankreuzbogen wo man dann gucken kann eher rechts eher links oder in der Mitte noch mal auf jeden Fall eine EErleichterung zu sehen wo die vom sch- oder wie die Sprachentwicklung ist (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.318-331)

36

Unter diesem Stichwort werden in der Organisation Schule Verhaltensweisen wie Lern- und Leistungsbereitschaft, Sorgfalt in der Erledigung von Aufgaben, Konzentrationsfähigkeit und Selbstständigkeit verhandelt (vgl. MSW NRW 2011).

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272

Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Die Lehrkräfte Tal und Koppe elaborieren gemeinsam im Modus einer theoretischargumentativen Stellungnahme, welche Vorteile das neu eingeführte Zeugnisformular habe. Dabei wird darauf verwiesen, dass das Formular nicht nur eine Arbeitserleichterung für die Lehrkräfte darstelle, sondern darüber hinaus auch für die Eltern der ›Seiteneinsteiger‹ verständlicher sei als ein Berichtszeugnis. Interessant ist, dass zunächst vom ›Zeugnis‹ und vom ›Zeugnisformular‹ gesprochen wird, das Schriftstück daraufhin jedoch mehrfach als ›Ankreuzbogen‹ bezeichnet wird. Durch diese Bezeichnung, wie auch durch den Hinweis, dass die Beurteilungen einem sehr simplen Schema (einem skalierten Schema ›links/mittig/rechts‹) folgen, wird das ›Seiteneinsteiger‹-Zeugnis zwar als ein offizielles Dokument charakterisiert, gleichzeitig wird aber eine klare Unterscheidung zu den regulären Notenzeugnissen für ›Regelschüler‹ gezogen. Unterschieden werden kann das Zeugnis für die ›Seiteneinsteiger‹ dabei nicht nur durch seine Darstellungsform, sondern auch hinsichtlich dessen, was bewertet wird. So scheinen sich die Beurteilungen ausschließlich auf den ›Sprachstand‹ oder die Sprachentwicklung der Schüler:innen zu beziehen. Erstaunlich ist die Tatsache, dass keine Leistungsstände der ›Seiteneinsteiger‹ in einzelnen Unterrichtsfächern festgehalten werden, insbesondere vor dem Hintergrund, dass bereits herausgearbeitet werden konnte, dass die ›Seiteneinsteiger‹ an der Bergschule täglich viele Stunden am Unterricht in der Regelklasse und damit am regulären Curriculum teilnehmen (s.u.a. Kap. 6.4.2.3). Da das Zeugnisformular der kommunalen Schulverwaltung bloß eine Bewertung des Sprachstandes vorsieht und die Zeugnisse scheinbar ausschließlich von der Vorbereitungslehrkraft verfasst werden (»ihr habt Berichte geschrieben vorher«), und nicht – wie sonst üblich – in einer Zeugniskonferenz beschlossen werden, könnten pragmatische oder organisatorische Überlegungen diese Praxis begründen. Funktional wäre das spezielle Zeugnisformular für ›Seiteneinsteiger‹ dann insofern, als die Lehrkräfte dadurch entlastet würden. Dies Arbeitsentlastung bezöge sich dabei aufgrund des teilintegrativen Unterrichtsmodells nicht nur auf die Vorbereitungslehrkraft, sondern auch auf alle anderen Lehrkräfte der Schule. Trotz der Inklusion der ›Seiteneinsteiger‹ in den Regelunterricht zeigt sich an der Bergschule also die Praxis, ›Seiteneinsteiger‹ von der regulären Leistungsbewertung durch Klassenarbeiten und Leistungsmarkierung durch Notenzeugnisse zu exkludieren.   Während der Aspekt der Verständlichkeit von Zeugnissen für die Erziehungsberechtigten an den übrigen Schulen nicht thematisiert wird, wird an der Bergschule davon ausgegangen, dass die Eltern der ›Seiteneinsteiger‹ nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügten, um einen Lernstandsbericht in Form eines ›Berichtszeugnisses‹ zu verstehen. Interessant ist die Nicht-Thematisierung an den anderen Schulen insofern, als in Bezug auf den Elternkontakt mehrfach nicht oder kaum vorhandene Deutschkenntnisse als Problem verhandelt werden (s. bspw. Kap. 6.3.1.2). Dies deutet nochmals darauf hin, dass Verständigungsschwierigkeiten dann als Problem beschrieben werden, wenn sie die Arbeit der Lehrkräfte tangieren und für diese bspw. einen Mehraufwand erzeugen. Wenn Erziehungsberechtigte die Zeugnisse nicht verstehen, wird dies nicht als Problem beschrieben. Erklärt werden könnte dies dadurch, wie an der Waldschule ausgeführt wurde, dass die Zeugnisse (im Übergang zur weiterführenden Schule)

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

grundsätzlich für die zukünftigen Lehrkräfte – und nicht für die Eltern der ›Seiteneinsteiger‹ – verfasst seien. Fallübergreifende Zusammenführung Mit dem fallexternen Vergleich wird deutlich, dass an den untersuchten Grundschulen sehr unterschiedliche Handhabungen mit Lernstandsberichten und Zeugnissen vorherrschen. So scheint es hinsichtlich der Form und Inhalte der Zeugnisse keine einheitlichen Regelungen zu geben – abgesehen von der Gemeinsamkeit, dass alle Schulen (möglichst lange) auf die Vergabe von Noten verzichten. Während an der Bergschule ausschließlich die Sprachentwicklung beurteilt wird, werden an der Westschule und der Waldschule in erster Linie persönliche Eigenschaften und soziale Verhaltensweisen bewertet. Auffällig ist, dass an allen Schulen die Entscheidung, keine Noten zu vergeben, positiv beurteilt wird. Dies deutet darauf hin, dass die Lehrkräfte durch die Vermeidung von notenbasierten Leistungsbewertungen von der der Organisation Schule inhärenten Aufgabe, Selektionsentscheidungen zu treffen, entbunden werden, was zu einer Handlungsentlastung im Schulalltag führt. Gleichzeitig werden ›Seiteneinsteiger‹ dadurch – teilweise über die Zeit der Erstförderung hinaus – von einer leistungsbasierten Beobachtung exkludiert.

6.4.4

Recht auf Bildung?

Die Art und Weise, wie der Unterricht für als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierte Schüler:innen an den regulären Stundentafeln und Curricula für Grundschulen orientiert ist, wie die so klassifizierten Schüler:innen hinsichtlich ihrer ›Leistungen‹ beobachtet werden und wie diese Bewertungen durch Leistungsmarkierungen kondensiert werden, scheinen in einem engen Verhältnis zueinanderzustehen und für die Frage entscheidend zu sein, inwiefern mit den rekonstruierten Beschulungspraxen das gesetzlich verankerte Recht auf Bildung für neu migrierte Schüler:innen erfüllt wird.   Hinsichtlich der Ausrichtung des Unterrichts für ›Seiteneinsteiger‹ an den für ›Regelschüler‹ geltenden Stundentafeln und Curricula konnten drei Praxen herausgearbeitet werden. Bei der inkludierenden Exklusion von als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen nehmen neu migrierte Schüler:innen zwar am Regelunterricht teil, werden aber kommunikativ von der Unterrichtskommunikation exkludiert. Die Exklusion von der Unterrichtskommunikation zeigt sich u.a. darin, dass ›Seiteneinsteiger‹ an der Waldschule, der Flussschule und der Westschule in den Unterrichtsstunden in der Regelklasse eigenständig an – von den Vorbereitungslehrkräften zur Verfügung gestelltem – Selbstlernmaterial arbeiten, vollständig sich selbst überlassen und/oder – wenn möglich – von der sonderpädagogischen Lehrkraft unterrichtet werden. In allen drei Schulen zeigt sich eine klare Priorisierung des Regelunterrichts und eine damit zusammenhängende Orientierung, das Unterrichten von ›Seiteneinsteigern‹ als (nicht zu leistende) Zusatzaufgabe zu entwerfen.37 Deutlich wird anhand der Rekonstruktionen, dass eine inklusive Beschulung von als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen 37

Wie das Beispiel der Flussschule zeigt, sind besonders als ›leistungsschwach‹ klassifizierte neu migrierte Schüler:innen von dieser Beschulungspraxis betroffen.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

diese nicht vor einer Exklusion vom Regelunterricht schützt. Vielmehr werden neu migrierte Schüler:innen an diesen Schulen unter Bedingungen geringer Ressourcen (u.a. im Verhältnis Lehrkräfte zu Schüler:innen) in den Regelunterricht inkludiert, wodurch sich eine Kontinuität separierender Beschulungspraxen etabliert. Eine (selektive) Exklusion von neu migrierten Schüler:innen vom Unterricht kann an der Waldschule, der Südschule und der Ostschule nachgezeichnet werden. So zeigt sich an der Waldschule und der Südschule insofern eine selektive Exklusion von ›Seiteneinsteigern‹ als bestimmte – als besonders ›problematisch‹ klassifizierte ›Seiteneinsteiger‹ – vom Regelunterricht ausgeschlossen werden, indem sie nach der täglichen Beendigung des Unterrichts in der Vorbereitungsklasse oder grundsätzlich frühzeitig nach Hause geschickt werden. An der Ostschule werden hingegen alle neu migrierten Schüler:innen aufgrund fehlender personeller Ressourcen seit geraumer Zeit lediglich vier, anstelle fünf Stunden täglich unterrichtet und erhalten dadurch nur reduziert Fachunterricht. Die Praxis der (selektiven) Exklusion von neu migrierten Schüler:innen aus dem Regelunterricht ist eine systematische Exklusion von Lerngelegenheiten, wird aber an keiner der drei Schulen als problematisch verhandelt. In einem kompensatorischen Verständnis werden neu migrierte Schüler:innen an der Waldschule, der Flussschule und der Ostschule darüber hinaus von schulisch relevanten Lerngelegenheiten im Vorbereitungsunterricht exkludiert. So wird der Unterricht von ›Seiteneinsteigern‹ an diesen drei Schulen nicht an der Vermittlung von fachspezifischem Wissen ausgerichtet. Stattdessen erfolgt eine Umdeutung des Lehrer:innenberufs, indem Vorbereitungslehrkräfte als ›Kindergärtner:innen‹ oder ›Sozialarbeiter:innen‹ charakterisiert werde, deren Aufgabe darin bestehe, gewisse ›Basiskompetenzen‹ zu vermitteln. Durch den Fokus auf die Vermittlung von Kompetenzen, die eigentlich in der vorschulischen Erziehung erlernt werden, findet eine deutliche Niveauverschiebung statt, die von der Intention getragen zu sein scheint, die als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen zunächst dazu zu befähigen, überhaupt an Schulunterricht zu partizipieren. Als (exkludierende) Inklusion kann die Praxis beschrieben werden, neu migrierte Schüler:innen vollständig zu inkludieren, indem sie nach dem Curriculum für ›Regelschüler‹ beschult werden. An der Bergschule wird dies im teilintegrativen Beschulungsmodell durch die Inklusion aller ›Seiteneinsteiger‹ in den Fachunterricht der ihnen zugewiesenen Regelklasse realisiert, während im parallelen Modell an der Südschule und im teilintegrativen Modell an der Flussschule (bezogen auf die als ›leistungsstark‹ klassifizierten ›Seiteneinsteiger‹) in der Vorbereitungsklasse alle relevanten Unterrichtsfächer unterrichtet werden.       Trotz der sichtbar werdenden Varianz der Beschulungspraxen in der Orientierung an oder der Zurückweisung von curricularen Fachinhalten für neu migrierte Schüler:innen, deuten sich über die Fälle hinweg einige ungleichheitsrelevante Muster an. Es zeigt sich, dass neu migrierte Schüler:innen in vielen Fällen innerhalb der zweijährigen ›Seiteneinsteiger‹-Förderung keine Vermittlung von Fachinhalten erfahren oder systematisch von Lerngelegenheiten ausgeschlossen werden. Dies bedeutet – so kann vermutet werden –, dass diese Schüler:innen beim vollständigen Wechsel in die Regelklasse i.d.R. nicht auf die

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Unterrichtsinhalte der Primar- oder Sekundarschulklasse vorbereitet sind und damit mit einem massiven Nachteil hinsichtlich der Etablierung einer erfolgreichen Bildungskarriere konfrontiert werden. So kann hier – analog zu Überlegungen von Hormel hinsichtlich möglicher institutioneller Diskriminierung von Migrant:innen entlang sozialer Herkunft – davon ausgegangen werden, dass »sich die Benachteiligung spezifischer Teilgruppen in und durch das Bildungssystem auch dadurch realisiert, dass unter dem Paradigma der Chancengleichheit vermeintlich neutrale Erwartungen und Regeln zur Anwendung kommen und dass Schulen Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen voraussetzen und bewerten, die sie selbst nicht vermitteln.« (Hormel 2010: 185) Mit Blick auf die Leistungsbewertung von neu migrierten Schüler:innen wird deutlich, dass als ›Seiteneinsteiger‹ unterrichtete Schüler:innen – so wie in den bildungspolitischen Vorgaben festgehalten – nicht an Klassenarbeiten der Regelklassen teilnehmen. Auffällig ist jedoch, dass neu migrierte Schüler:innen darüber hinaus auch keine Hausaufgaben erledigen müssen. Begründet wird dies an der Ostschule, der Westschule und der Flussschule mit dem Hinweis darauf, dass diese Aufgaben ohnehin nicht regelmäßig angefertigt worden seien. Die Verantwortung für diese Praxis wird in die Familien der neu migrierten Schüler:innen verschoben und es wird festgehalten, dass die Lehrkräfte lediglich die Möglichkeit hätten, ihr eigenes Verhalten anzupassen – indem sie den Hausaufgaben keine Relevanz mehr zusprechen – nicht jedoch Einfluss auf die ›Seiteneinsteiger‹ und ihre Familien nehmen könnten. Eine Ausnahme stellt die Flussschule dar, an der als ›leistungsstark‹ klassifizierte ›Seiteneinsteiger‹ nicht nur die Hausaufgaben der Regelklasse erledigen (müssen), sondern darüber hinaus auch an Klassenarbeiten teilnehmen. Diese Schüler:innen werden in eine leistungsbasierte Beobachtung inkludiert, welche von dem Ziel getragen scheint, diese ›leistungsstarken Seiteneinsteiger‹ systematisch auf einen vollständigen Übergang in die Regelklasse vorzubereiten.   Insgesamt zeigt sich, dass neu migrierte Schüler:innen an vielen Schulen des Samples im Hinblick auf ihre Leistungsbewertungen kategorial von ›Regelschülern‹ unterschieden werden. Dabei wird, bspw. an der Waldschule, auch hinsichtlich der Zukunft der neu migrierten Schüler:innen, nach Beendigung der Erstförderung, keine Möglichkeit einer auf einen Vergleich mit ›Regelschülern‹ beruhenden Leistungsbeurteilung antizipiert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Aspekt ›Leistung‹ hinsichtlich der Beobachtung von ›Seiteneinsteigern‹ keine Bedeutung besitzt. Vielmehr verweist die Exklusion der Schüler:innen aus der, der Schule inhärenten, Leistungsbeurteilung vielmehr auf eine Verstetigung einer Sonderrolle hin, die – so konnte bereits herausgearbeitet werden – in vielen Fällen mit geringeren schulischen Erwartungen verknüpft ist. So werden die als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen nicht gar nicht hinsichtlich angenommener Leistungen beobachtet, vielmehr zeigt sich die Etablierung differenter Leistungskriterien, für die an dieser Stelle noch offen ist, wie sich diese auf die weiteren Bildungswege der Schüler:innen auswirken (u.a. beim Übergang in die Regelklasse, der Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderstatus und dem Wechsel in die Sekundarstufe).

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

  Deutlich wird die Etablierung differenter Leistungskriterien auch in der leistungsbezogenen Markierung der neu migrierten Schüler:innen in Zeugnissen. So konnte rekonstruiert werden, dass an allen Schulen auf eine notenbasierte Beurteilung der neu migrierten Schüler:innen in den Zeugnissen verzichtet wird. Begründet wird diese Praxis dabei mit den Vorteilen, die dies für die Schüler:innen habe (Schutz vor Frustration) und der Annahme, dass das, was die Schüler:innen in der Schule leisten würden, ohnehin nicht auf der Grundlage eines Leistungsvergleichs mit ›Regelschülern‹ bewertet werden könne. Es zeigt sich hier eine Argumentationskette, die – ausgehend von der differenten Beschulungspraxis für ›Seiteneinsteiger‹ – Leistungsbewertungen als besonders schwierig beschreibt und eine Leistungsmarkierung damit als unmöglich entwirft. Entsprechend der in vielen Fällen rekonstruierten nicht vorhandenen Ausrichtung des Unterrichts für ›Seiteneinsteiger‹ an den für ›Regelschüler‹ geltenden Stundentafeln und Curricula, werden auf den Zeugnissen für ›Seiteneinsteiger‹ soziale Verhaltensweisen beschrieben, nicht jedoch Lernfortschritte in bestimmten Fächern. Die Bergschule weicht hier in gewisser Weise von den Praxen der anderen Schulen ab, da an dieser Schule skalenbasierte Zeugnisse ausgegeben werden, auf denen Entwicklungen beim Erwerb der deutschen Sprache markiert werden. Auffällig sind die Ergebnisse hinsichtlich der Leistungsmarkierung von ›Seiteneinsteigern‹ insofern, als auch an Schulen, an denen neu migrierte Schüler:innen in den Regel-/Fachunterricht inkludiert werden (Bergschule und Südschule), ›Seiteneinsteiger‹ nicht in den unterrichteten Fächern hinsichtlich ihrer beobachteten Leistungen markiert werden. Darüber hinaus zeigt sich, dass an der Waldschule, der Südschule (im Hinblick auf bestimmte ›Seiteneinsteiger‹) und der Ostschule ebenfalls für die zukünftige Beschulung der neu migrierten Schüler:innen nach Beendigung der zweijährigen ›Seiteneinsteiger‹-Förderung angenommen wird, dass die Schüler:innen weiterhin nicht durch reguläre Noten beurteilbar seien.   Die durch die bildungspolitischen Vorgaben ermöglichten Handlungsspielräume hinsichtlich der Ausgestaltung der Unterrichtspraxis, der Leistungsbewertung und Leistungsbeurteilung von neu migrierten Schüler:innen werden an allen Schulen positiv bewertet. Es konnte rekonstruiert werden, dass sich den Schulen dadurch die Möglichkeit ergibt, pragmatisch und autonom zu handeln. Dabei wird die Praxis nicht an pädagogischen Anforderungen ausgerichtet – vielmehr scheinen in erster Linie die jeweils vorhandenen Ressourcen, die organisationsinternen Abläufe und die Möglichkeit der Handlungsentlastung der Lehrkräfte Relevanz zu besitzen. An vielen Stellen scheint die Praxis dabei nicht von bestimmten strategischen Ideen, sondern vielmehr von einem sich irgendwie ›durchschlagen‹ geprägt zu sein. Diese Praxis wurde organisationssoziologisch erstmals von Lindblom als »muddling through« (Lindblom 1959) benannt und beschreibt ein in Organisationen zu beobachtendes Phänomen, pragmatische Lösungen für unklare Problemlagen zu etablieren. Die als Fördermaßnahmen gerahmten Praxen an den Schulen stellen sich weniger als pädagogisch durchdachte Konzepte dar, sondern vielmehr als Praxen, die aus einer Reihe bildungspolitisch ermöglichter Lösungsoptionen ausgewählt wurden. Die herausgearbeiteten potenziellen (u.a. langfris-

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

tigen) ungleichheitsrelevanten Folgen der Praxen scheinen dabei an den untersuchten Schulen nicht in den Blick zu geraten. Als ein weiteres Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Frage, inwiefern neu migrierte Schüler:innen entsprechend der für Regelklassen vorgegebenen Fachinhalte unterrichtet, beurteilt und markiert werden, in keinem Zusammenhang mit dem jeweils praktizierten Beschulungsmodell steht. Dieses Ergebnis deckt sich mit Erkenntnissen von Massumi (2019), die ebenfalls Formen inkludierender Exklusion und exkludierender Inklusion in der Beschulung neu migrierter Schüler:innen in der Sekundarstufe ausmacht (vgl. ebd.: 247-257). So stellt die Autorin heraus, dass sich durch die »Heterogenität in Bezug auf die Lern- und Leistungsvoraussetzungen […], bspw. in Bezug auf die Bildungsvorerfahrungen oder Deutschkenntnisse,« zwischen (neu) migrierten Schüler:innen und nicht migrierten Schüler:innen für erstere »die Wahrscheinlichkeit [erhöht], im Unterricht nicht adressiert zu werden; dies gilt unabhängig ihrer schulorganisatorischen Einbindung.« (Ebd.: 255). Im Hinblick auf die schulorganisatorischen Modelle wäre es insofern trügerisch, wenn in einer simplifizierten Weise angenommen würde, dass ›Inklusion‹ zwangsläufig »zur Erhöhung der Bildungsteilhabe marginalisierter und unterprivilegierter Gruppen beiträgt« (Emmerich 2016: 47).   Die Frage, ob mit den beschriebenen Beschulungspraxen an den untersuchten Schulen das verbriefte Recht auf Bildung für neu migrierte Schüler:innen tatsächlich erfüllt wird, muss hinsichtlich der rekonstruierten ungleichheitsrelevanten Muster an dieser Stelle zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden. So zeigt sich an der Westschule, der Waldschule und der Ostschule die Orientierung, Bildung nicht als ein Recht zu verhandeln, das allen Kindern und Jugendlichen zusteht, sondern vielmehr als eine Gabe, die ihnen gewährt wird.

6.5

Die Zuweisung in eine Regelklasse

Die Zuweisungen von neu migrierten Schüler:innen in Regelklassen unterscheiden sich an den untersuchten Schulen dadurch, dass an Schulen mit teilintegrativem Modell die Entscheidung für eine Regelklasse und Jahrgangsstufe zu einem Zeitpunkt erfolgt, an dem die Schüler:innen ganz neu oder erst seit wenigen Tagen an der Schule sind, während ›Seiteneinsteiger‹ an Schulen mit parallelem Beschulungsmodell i.d.R. mindestens ein Jahr in der Vorbereitungsklasse unterrichtet wurden, bevor sie einer Regelklasse zugewiesen werden. Unabhängig vom Beschulungsmodell stellt sich grundsätzlich für alle Schulen die Frage, wann der vollständige Übergang in die Regelklasse – und damit die Beendigung der ›Seiteneinsteiger‹-Förderung – stattfindet. Im Anschluss an die Ausführungen zu den bildungspolitischen Vorgaben hinsichtlich der Zuweisungen in Regelklassen (Kap. 6.5.1) werden die jeweiligen Entscheidungspraxen mit Blick auf den Zeitpunkt und die Zuordnung (Kap. 6.5.2) in einer fallübergreifenden Komparation rekonstruiert und die Erkenntnisse abschließend hinsichtlich der Frage zusammengeführt, inwiefern (ungleichheitsrelevante) Strukturbildungen erkennbar werden (Kap. 6.5.3).

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

6.5.1

Bildungspolitische Vorgaben in NRW

Das deutsche Bildungssystem ist dadurch gekennzeichnet, dass Schüler:innen in der Organisation Schule grundsätzlich in (möglichst) alters- und leistungshomogenen Jahrgangsklassen unterrichtet werden (s. Kap. 2). Für die Grundschule in NRW zeigt sich dieses Prinzip zum einen in der verbindlich geregelten Einschulung, die vorsieht, dass alle Kinder38 , »die bis zum Beginn des 30. September das sechste Lebensjahr vollendet haben, am 1. August desselben Kalenderjahres« (SchulG NRW, v. 16.12.2016, § 35) eingeschult werden (›Altershomogenität‹), sowie zum anderen an Klassenwiederholungen, wenn die von den Schüler:innen erbrachten Leistungen von den Lehrkräften als nicht ausreichend für eine Versetzung beurteilt werden (›Leistungshomogenität‹). Die bildungspolitischen Vorgaben hinsichtlich der Zuweisung von neu migrierten Schüler:innen zu einer Regelklasse oder hinsichtlich des Übergangs in die Regelklasse sind zum Zeitpunkt der Durchführung dieser Studie im Erlass 13-63 Nr.3 (v. 28.06.2016) festgeschrieben. Auch für ›Seiteneinsteiger‹ soll die Entscheidung, in welche Regelklasse diese wechseln, von »der Leistungsfähigkeit und dem Alter« (ebd.) der Schüler:innen abhängig sein und durch die Klassenkonferenz bestimmt werden. Wenn in der Sekundarstufe für den Übergang in die Regelklasse ein Wechsel der Schulform beschlossen wird, wird die Schulaufsicht in das Verfahren eingebunden (vgl. ebd.). Die Dauer der spezifischen Beschulung als ›Seiteneinsteiger‹ soll an den »individuellen Lernfortschritten« (ebd.) der Schüler:innen ausgerichtet werden und ein Übergang in die Regelklasse schrittweise geschehen. Wann ein vollständiges Ende der ›Seiteneinsteiger‹-Förderung erfolgt, soll von der Klassenkonferenz unter Hinzuziehen der Vorbereitungslehrkräfte bestimmt werden und ›Seiteneinsteiger‹ sollen möglichst nicht länger als zwei Jahre im Förderstatus verweilen (vgl. ebd.). Es kann jedoch mit Blick auf den Erlass festgestellt werden, dass die bildungspolitischen Vorgaben zur Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ in eine Regelklasse – oder für den vollständigen Übergang von der Vorbereitungsklasse in die Regelklasse – für die Schulen lediglich ›Soll-Vorgaben‹ darstellen. So werden die Ausführungen mit den Begrifflichkeiten »möglichst«, »in der Regel« und »ist anzustreben« (ebd.) versehen.   Da es keine rechtlich verbindlichen Vorgaben hinsichtlich der Beendigung des ›Seiteneinsteiger‹-Status sowie hinsichtlich der Zuweisungspraxis in Jahrgangsstufen gibt, 38

Ausnahmen von dieser Regel gelten nur in zwei bestimmten Fällen: »(2) Kinder, die nach dem in Absatz 1 genannten Zeitpunkt das sechste Lebensjahr vollenden, können auf Antrag der Eltern zu Beginn des Schuljahres in die Schule aufgenommen werden, wenn sie die für den Schulbesuch erforderlichen körperlichen und geistigen Voraussetzungen besitzen und in ihrem sozialen Verhalten ausreichend entwickelt sind (Schulfähigkeit); sie werden mit der Aufnahme schulpflichtig. Die Entscheidung trifft die Schulleiterin oder der Schulleiter unter Berücksichtigung des schulärztlichen Gutachtens. (3) Schulpflichtige Kinder können aus erheblichen gesundheitlichen Gründen für ein Jahr zurückgestellt werden. Die Entscheidung trifft die Schulleiterin oder der Schulleiter auf der Grundlage des schulärztlichen Gutachtens. Die Eltern sind anzuhören. Die Prüfung kann auch auf Antrag der Eltern erfolgen. Die Zeit der Zurückstellung wird i.d.R. auf die Dauer der Schulpflicht nicht angerechnet. Das Schulamt kann in Ausnahmefällen auf Antrag der Eltern die Zeit der Zurückstellung auf die Dauer der Schulpflicht anrechnen.« (SchulG NRW, v. 16.12.2016, § 35)

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

wird erkennbar, dass den Schulen ein Gestaltungsspielraum gewährt wird. Es stellt sich daher nicht nur die Frage, wann der Übergang ins Regelsystem stattfindet, sondern auch, inwiefern in Bezug auf die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ das schulische Organisationsprinzip der Erzeugung alters- und leistungshomogener Klassen als obligatorisch betrachtet wird, bzw. ob und an welchen der Prinzipien (Alters- und/oder Leistungshomogenität) sich maßgeblich orientiert wird. Darüber hinaus wird untersucht, inwiefern hinsichtlich dieser Entscheidungsstelle(n) an Entscheidungen aus der Schulverwaltung in Bezug auf die Zuordnung der neu migrierten Schüler:innen in eine Jahrgangsstufe (s. Kap. 5) angeknüpft wird.

6.5.2

Übergang in und Zuordnung zu einer Regelklasse & Jahrgangsstufe

Die Zuweisung zu einer Regelklasse findet an Schulen, die als ›Seiteneinsteiger‹ kategorisierte Schüler:innen teilintegrativ beschulen, unmittelbar bei der Aufnahme in die Grundschule statt (Bergschule, Flussschule, Westschule und teilweise Waldschule), während die Zuweisung an Schulen, die ›Seiteneinsteiger‹ nach dem parallelen Modell unterrichten, erst nach Beendigung der ›Seiteneinsteiger‹-Förderung erfolgt (Ostschule, Südschule und teilweise Waldschule) (Kap. 6.5.2.1). Darüber hinaus orientieren sich die Schulen an unterschiedlichen Entscheidungsprämissen in Hinblick auf die Frage, welcher Klasse und insbesondere auch welcher Jahrgangsstufe die neu migrierten Schüler:innen zugewiesen werden sollen (Kap. 6.5.2.2).

6.5.2.1

Zeitpunkte des Übergangs

Hinsichtlich des Zeitpunkts des vollständigen Übergangs von ›Seiteneinsteigern‹ in die Regelklasse lassen sich zwei unterschiedliche Praxen ausmachen, die im Weiteren näher betrachtet werden. Während an der Bergschule alle ›Seiteneinsteiger‹ grundsätzlich nach zwei Jahren in die Regelklasse inkludiert werden, erfolgt der Übergang der ›Seiteneinsteiger‹ an den übrigen Schulen auf der Grundlage einer Selektion nach Leistung; d.h. nur diejenigen ›Seiteneinsteiger‹, denen positive Leistungsprognosen zugeschrieben werden, werden vorzeitig (oder überhaupt) in den Regelbetrieb inkludiert. Vollständiger Übergang nach zwei Jahren mit additiver Deutsch-Sprachförderung Vorbereitungsklassenlehrerin Tal von der Bergschule elaboriert – als Antwort auf eine immanente Interviewer:innenfrage zum Verlauf der ›Seiteneinsteiger‹-Förderung – im Modus einer Beschreibung, wann die ›Seiteneinsteiger‹-Förderung beendet wird. TAL: Also regulär wenn die jetzt die Kinder die jetzt im ersten Schuljahr sind die hätten ja theoretisch das ganze erste und zweite Schuljahr dies- also den Anspruch auf die Seiteinsteigerförderung wir versuchen es allerdings bei denen die Seiteneinsteigerföroder der Anspruch auf diese Deutschförderung bei denen das ausläuft nehmen wir trotzdem immer noch ein bisschen mit rein dass es nicht von einem auf von einem auf den anderen Tag ganz aufhört sondern dass wir irgendwie das versuchen so ein bisschen flexibel den Ajith von der Birgit zum Beispiel nehme ich ja noch mit rein dass man dann guckt wo ist noch Platz? wo könnte man dann trotzdem noch für ein paar

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Stunden in der Woche das irgendwie weitermachen? (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.489-497) Tal beschreibt, wie die offiziellen Regelungen zur ›Seiteneinsteiger‹-Förderung in Flurstadt lauten. Durch die Formulierungen »regulär … theoretisch« wird eine gewisse Distanz zu den offiziellen Vorgaben deutlich, was darauf verweisen könnte, dass an der Bergschule von diesen bildungspolitischen Vorgaben abgewichen wird. Ebenfalls bestärkt das Beispiel des Schülers Ajith, bei dem versucht würde, ›flexible‹ Übergangslösungen bis zur Beendigung der zweijährigen Erstförderung zu finden, diese Perspektive. Deutlich wird an den Ausführungen der Vorbereitungslehrkraft, dass ›Seiteneinsteiger‹ an der Bergschule, wenn möglich, auch nach Ende der zweijährigen ›Seiteneinsteiger‹-Förderung für ein paar Stunden in der Woche weiter im Fach Deutsch gefördert werden. Entsprechend lässt sich hier die Orientierung rekonstruieren, die Deutschförderung als einen allgemeinen Förderanspruch zu entwerfen, auf den alle ›Seiteneinsteiger‹ Anspruch hätten, solange sie diesen benötigen (auch über die offiziellen zwei Jahre hinaus). Entsprechend der Orientierung an einem globalen Förderanspruch wird keine Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ vorgenommen und eine frühzeitige Beendigung der ›Seiteneinsteiger‹-Förderung scheint an der Bergschule nicht praktiziert zu werden. Vielmehr wird die Förderung so lange wie möglich für ein paar Stunden in der Woche fortgeführt und ein langsamer Übergang angestrebt. Hier deutet sich zwar an, dass auch über die zweijährige Erstförderung ein Unterstützungsbedarf von ›Seiteneinsteigern‹ antizipiert wird, dieser Bedarf dabei jedoch – deutlich anders als dies in den nachfolgenden Fällen erkennbar wird – ausschließlich auf die deutschen Sprachkenntnisse bezogen wird. Selektive Einbindung in den Regelschulbetrieb An der Waldschule, der Südschule, der Ostschule und der Flussschule kann die Praxis rekonstruiert werden, bei der Gestaltung des vollständigen Übergangs von der Vorbereitungsklasse in die Regelklasse entsprechend einer intrakategorialen Leistungsdifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ die Schüler:innen – abhängig von der Differenzierung in ›Seiteneinsteiger mit positiven‹ oder ›negativen Leistungsprognosen‹ – unterschiedlich lange im ›Seiteneinsteiger‹-Status, und damit in der ›Seiteneinsteiger‹-Förderung, zu belassen.   An der Waldschule wird die Praxis erkennbar, neu migrierte Schüler:innen regelmäßig über die empfohlene zweijährige Erstförderung hinaus im ›Seiteneinsteigerstatus‹ zu halten. Da der Unterricht für neu migrierte Schüler:innen an der Waldschule fast vollständig nach dem parallelen Modell stattfindet,39 bedeutet eine Verlängerung des ›Seiteneinsteiger‹-Status hier gleichzeitig eine Verlängerung der separierenden Beschulungspraxis. Die Orientierungen, warum ein längerer Verbleib der Schüler:innen in der ›Seiteneinsteiger‹-Förderung für notwendig erachtet wird, unterscheiden sich deutlich von der Orientierung, die an der Bergschule rekonstruiert werden konnte. Erkennbar

39

Siehe Kapitel 6.2 und 6.4.2

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

wird dies an der folgenden exemplifizierenden Erzählung der Lehrkräfte Baumann und Fuchs zum ›Ausnahmefall Liana‹: BAU:    └ja also für den Großteil der Kinder reicht es ganz sicher nicht aus es gibt mal Einzelfälle so wie du eben geschildert hast ich habe auch ein Mädchen die Liana die eben jetzt inzwischen sich an die Spitze gesetzt hat das ist ist ein Mädchen das jetzt inzwischen (.) ja drei Jahre bei uns ist   FU:                                                                       └ach noch nicht mal   BAU:                                                                                                └noch nicht mal ne?   FU:                                                                                                                                       └ich g- die ist immer noch auch in ihren zwei Jahren    BAU:                                                       └sie ist aber hat den Status nicht mehr den Seiteneinsteigerstatus nicht mehr   FU:          └ja   BAU: Liana ne? und hat das ist wohl denke ich mal ein Kind bei dem man sagen können die ist den normalen Weg gegangen und auch den den man sich vorstellt also sie hat es eigentlich geschafft sich so zu integrieren in jeder Hinsicht von der Regel vom Regelverhalten her als auch vom vom Aufnehmen der Lerninhalte dass (.) ja sie (.) so lernt wie wie man das sich auch wünscht und vorstellt und die Fortschritte macht (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.180-195) Als Gegenhorizont zu dem negativen Horizont derjenigen ›Seiteneinsteiger‹, für die eine zweijährige Erstförderung nicht ausreiche, wird anhand einer exemplifizierenden Erzählung des ›Einzelfalls‹ Liana ein positiver Horizont aufgemacht. Liana wird durch die Betonung »ein Mädchen« als ein besonderes und positives Beispiel präsentiert, die die Erwartungen erfülle, die an sie gestellt werden. Den positiven Horizont bilden entsprechend ›Seiteneinsteiger‹, die frühzeitig den ›Seiteneinsteiger‹-Status verlassen können und nicht nur besonders gute Lernfortschritte aufweisen, sondern sich darüber hinaus auch an die schulischen Regelungen anpassen. Indem der Werdegang der Schülerin als ›normal‹ und »wie man das sich […] vorstellt« beschrieben wird, wird die kategoriale Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ in diesem positiven Fall aufgelöst. Gleichzeitig zeigt sich dadurch aber auch die für alle anderen Fälle fortbestehende Persistenz der kategorialen Differenzierung und des angenommenen Passungsproblems zwischen den so konstruierten Schüler:innengruppen über die Beendigung der zweijährigen Erstförderung hinaus. Nachdem im weiteren Verlauf der Passage die Fähigkeiten und positiven Eigenschaften der Schülerin Liana in einzelnen Fächern weiter ausgeführt werden, wird von Fuchs nochmals festgehalten, dass der zuvor elaborierte positive Horizont des Werdegangs der Schülerin Liana nicht die Regel sei:

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FU:   └ja das sind dann so Ausnahmekinder man muss einfach ich mein man kann es   BAU:                                                                                   └ja   FU: ja auch auf den Punkt bringen wenn gewisse intellektuelle Fähigkeiten vorhanden sind haben die Kinder oder auch ne einfach der Background von der Familie her andere   BAU:                                                                                                                                                              └ja   FU: Möglichkeiten auch die Sprache zu lernen und hier anzukommen aber bisher is(.) Großteil der Kinder die jetzt hier zu uns gekommen sind haben das eben nicht und sind teilweise wirklich ja (.) was man so ich weiß nicht ob man das so sagen kann aber wie wie Förderschulniveau ne? also die die könnten genauso gut jetzt von einer Förderlehrkraft betreut werden und natürlich ist es dann auch schwierig eine neue Sprache in so kurzer Zeit also zwei Jahre (.) sind für viele Kinder einfach zu kurz weil so viele andere Kompetenzen noch überhaupt erworben werden müssen die müssen ja erst mal ankommen und sich hier zurechtfinden auch emotional (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.202-215) Fuchs betont, dass das zuvor elaborierte Beispiel der Schülerin Liana eine absolute Ausnahme darstelle, die darin begründet sei, dass sich »gewisse intellektuelle Fähigkeiten« und der familiäre »Background« positiv auf das Lernvermögen und die Fähigkeit, sich an die Schule anzupassen, ausgewirkt habe. Die Feststellung wird von Baumann validiert. Es scheint hier folglich eine geteilte Orientierung vorzuliegen, dass für einen ›normalen‹ Bildungsweg nicht nur passende persönliche Fähigkeiten vorhanden sein, sondern zusätzlich die Familien der Schüler:innen unterstützend einwirken müssten. Wie genau der familiäre Beitrag aussehen solle, wird nicht weiter erläutert. Im Weiteren wird aber verdeutlicht, dass die meisten Familien der ›Seiteneinsteiger‹ an der Waldschule diese Eigenschaft nicht mitbrächten und sich die ›Seiteneinsteiger‹ darüber hinaus auch intellektuell auf »Förderschulniveau« bewegten.40 Das exemplifizierende Beispiel des Sonderfalls verweist also auf die angenommene Regelhaftigkeit der Nicht-Erlangung ausreichender Kenntnisse und Fähigkeiten der ›Seiteneinsteiger‹ innerhalb von zwei Jahren Förderung. Es deutet sich die Orientierung an, dass ›Seiteneinsteiger‹ zunächst einiges nachholen müssten, bevor sie sich überhaupt als Schüler:innen in der Schule mit regulären Lerninhalten befassen könnten (Passungsproblem). Diese Orientierung kann auch im Interview mit der:m Schulleiter:in Lindemann rekonstruiert werden, die:der festhält, dass ›Seiteneinsteiger‹ regelmäßig (»weniger als die Hälfte der Kinder« schaffen es früher) über die zwei Jahre hinaus im ›Seiteneinsteiger‹-Status verbleiben (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.136-140). Hier zeigt sich homolog zum Lehrkräfteinterview die Orientierung, ›Seiteneinsteiger‹ auch nach zwei Jahren Erstförderung weiterhin kategorial von

40

Eine Analyse der kollektiven Adressierung von ›Seiteneinsteigern‹ als ›Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ findet sich im nachfolgenden Kapitel 6.6.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

›Regelschülern‹ zu unterscheiden, indem ›Seiteneinsteigern‹ auch nach diesem Zeitraum die Fähigkeit abgesprochen wird, am Unterricht der Regelklassen teilzunehmen. Zur Lösung des Passungsproblems werden die neu migrierten Schüler:innen auch nach offizieller Beendigung des ›Seiteneinsteiger‹-Status nicht als ›Regelschüler‹, sondern als ›Seiteneinsteiger‹ adressiert und erhalten weiterhin »zusätzliche Förderung«. Worin die ›Förderung‹ besteht, bzw. ob die entsprechenden Schüler:innen weiter wie alle anderen ›Seiteneinsteiger‹ parallel unterrichtet werden, wird hier nicht ausgeführt. Da aber an keiner Stelle der Interviews an der Waldschule auf eine abweichende Praxis verwiesen wird, ist nicht auszuschließen, dass die Parallelbeschulung weiterhin stattfindet. Ebenso wie an der Bergschule wird die zweijährige Erstförderung für ›Seiteneinsteiger‹ auch an der Waldschule als nicht ausreichend beurteilt. Im Kontrast zur Bergschule wird dies an der Waldschule jedoch nicht mit der Notwendigkeit weiterer zusätzlicher Deutschförderung für alle ›Seiteneinsteiger‹ begründet, sondern mit dem Verweis darauf, dass ein generelles Passungsproblem bestünde und die meisten ›Seiteneinsteiger‹ auch nach zwei Jahren ›intellektuell‹ und aufgrund ihres ›familiären Hintergrundes‹ nicht wie ›Regelschüler‹ erfolgreich am regulären Unterricht teilnehmen könnten. Deutlich wird, dass an der Waldschule zwischen ›Seiteneinsteigern mit positiven‹ und ›Seiteneinsteigern mit negativen Leistungsprognosen‹ unterschieden wird. Während Erstere bereits vorzeitig aus dem ›Seiteneinsteiger‹-Status entlassen werden (Beispiel ›Liana‹) und vollständig am Regelunterricht teilnehmen, verbleiben Letztere länger als zwei Jahre in der Vorbereitungsklasse und nehmen dadurch – auch nach der offiziellen Beendigung der zweijährigen Erstförderung – vermutlich weiterhin stundenweise am Regelunterricht teil. Handlungsleitend ist dabei die Orientierung, ›Seiteneinsteiger mit negativer Leistungsprognose‹ nicht als Regelschüler:innen zu beobachten. Auch wenn sich die Praxis der Verlängerung der ›Förderung‹ an beiden Schulen ähnelt, wird deutlich, dass an der Waldschule eine Selektion betrieben wird und allein diejenigen Schüler:innen als ›Regelschüler‹ inkludiert werden, die als besonders positiv bewertet werden. Dies bedeutet, dass ›Seiteneinsteiger‹ an der Waldschule nach zwei Jahren nur selektiv in die Regelschule inkludiert werden. Es kann vermutet werden, dass die an der Waldschule vorgenommene Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern mit positiver Leistungsprognose‹ und ›Seiteneinsteigern mit negativer Leistungsprognose‹ an die Differenzierung zwischen ›Roma‹ und ›Seiteneinsteigern‹ anknüpft, die in Kapitel 6.3.1.6 herausgearbeitet wurde. Dies würde bedeuten, dass insbesondere Schüler:innen, die als ›Roma‹ beobachtet und adressiert werden, dauerhaft von einem regulären Unterricht ausgeschlossen würden.   Anders als an der Waldschule und der Bergschule wird an der Flussschule der vorzeitige vollständige Übergang der ›Seiteneinsteiger‹ in die Regelklasse als ein klares Ziel formuliert. MOH: Ja wir sehen eigentlich zu dass ein Kind ziemlich schnell in den normalen Klassenverband integriert werden kann (.) also der Seiteneinsteigerförderunterricht sollte ja eigentlich nur ein anfängliches zusätzliches Unterstützungsprogramm für das Kind sein Ziel ist ja der Klassenunterricht (.) und dann haben die Kinder ja zwei Jahre Zeit diesen Förderunterricht zu bekommen und in der Regel schaffen die das aber vorher

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(.) ganz normal an Klassenarbeiten auch in der Klasse teilzunehmen   ROS: Ja (.) es gibt welche die schlaff- schaffen es sogar noch schneller (.) wo man dann   MOH:                                                                                                                                         └hmhm   ROS: einfach sagt ja der hätte zwar noch Anspruch aber es gibt andere die haben es nötiger und der die dann dann fangen die aber von selber an dann werden die n bisschen maulig wenn sie raus müssen dann wollen die lieber in ihren Klassen bleiben das merkt man   MOH:                    └hmhm ja   ROS: dann (.) und ja bei anderen reichen auch die zwei Jahre nicht ne? das muss man   MOH:                                                                                                                               └hmhm   ROS: dann wirklich dann individuell sehen also wir versuchen schon soweit das im Rahmen unserer Vorgaben liegt das etwas flexibel zu handhaben und schon das einzelne Kind zu sehen und deswegen tauschen wir uns auch untereinander dann aus über die   MOH:                   └hmhm   ROS: einzelnen Kinder über deren Fortschritte oder wo noch Bedarf oder so ist   JJ: Und haben sie da irgendwie Strategien oder Ideen wenn wenn Sie sagen dass reichen da reichen die zwei Jahre eigentlich nicht?   ROS: Dann behalten wir die in den Gruppen also in den Seiteneinsteigergruppen solange das machbar ist   MOH:                               └das sind aber auch in der Regel GL Kinder ja (.) also zwei Jahre müssten eigentlich (.) dicke (Flussschule, Flurstadt, LK 3, Z.618-642) Die Vorbereitungslehrkräfte Mohn und Rosenthal elaborieren im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme, dass es keine festen Kriterien gäbe, wann der Übergang in die Regelklasse stattfinde. Dabei wird die ›Seiteneinsteiger-Förderung‹ als eine vorübergehende Unterstützungsmaßnahme entworfen, die nur so lange notwendig sei, bis die ›Seiteneinsteiger‹ es in die Regelklasse schafften. Interessant ist an dieser Stelle der Hinweis, dass es nicht nur um die vollständige Teilnahme am Regelunterricht gehe, sondern darum, »normal an Klassenarbeiten« teilzunehmen. Ziel ist also nicht nur die Teilnahme am Regelunterricht, sondern die vollständige Inklusion in das reguläre Bewertungssystem der Regelklasse. Der Zeitpunkt des vollständigen Wechsels wird durch die reguläre Teilnahme an den für die schulische Leistungsmessung beson-

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

ders relevanten Klassenarbeiten markiert. Indem Mohn zweimal formuliert, dass es »eigentlich« bzw. »in der Regel« keine zwei Jahre dauere, bis der Wechsel erfolge, wird deutlich, dass ein vorzeitiger Wechsel zwar häufig stattfindet, aber scheinbar nicht für alle ›Seiteneinsteiger‹ möglich ist. Diese Perspektive wird von Rosenthal im Modus einer Differenzierung weiter elaboriert und durch Mohn mehrfach ratifiziert. So gebe es zum einen ›Seiteneinsteiger‹, die schnell in die Regelklasse wechseln könnten und dies auch gerne wollten und zum anderen ›Seiteneinsteiger‹, die auch nach zwei Jahren Förderung noch nicht fähig seien, am Regelunterricht teilzunehmen. Die Entscheidungen über den Zeitpunkt des Wechsels der ›Seiteneinsteiger‹ in die Regelklassen werden von Rosenthal mit dem Verweis legitimiert, dass jedes Kind individuell betrachtet und gemeinsam besprochen würde. Es gäbe – auch wegen der Möglichkeit, Vorgaben ›flexibel‹ auszulegen – keine pauschalen Lösungen. Deutlich zeigt sich hier – im Gegensatz zur Bergschule und ähnlich wie an der Waldschule – die Orientierung, die Dauer der ›Seiteneinsteiger‹-Förderung von der Einschätzung der Fähigkeiten der ›Seiteneinsteiger‹ abhängig zu machen. Die Entscheidung wird also an die Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern mit positiver‹ und ›Seiteneinsteigern mit negativer Leistungsprognose‹ gekoppelt. Dies bedeutet, dass ›Seiteneinsteiger‹ selektiv in den Regelschulbetrieb inkludiert werden und ›Seiteneinsteiger mit negativer Leistungsprognose‹ entsprechend länger als zwei Jahre in der Vorbereitungsgruppe bleiben. Legitimiert wird dieses Vorgehen dabei mit dem Hinweis, dass es sich bei diesen Schüler:innen i.d.R. um ›Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ (»GL-Kinder«) handele. Interessanterweise ist die Südschule – neben der Ostschule, auf die im Folgenden eingegangen wird – die einzige Schule, die ein klares Kriterium benennt, wann ein Übergang in den Regelschulbetrieb angestrebt würde.41 UR: also die Älteren die Dritt- und Viertklässler kommen in meine Klasse und sie haben im Grunde circa zwei Jahre Zeit um alles zu lernen (.) und wenn wir in der Willkommensklasse feststellen dass das Kind sprachlich schon ziemlich gute Fortschritte gemacht hat und das es dem Unterricht eigentlich (.) gut folgen kann dann sprechen wir die Klassenlehrer an und (.) streben den Wechsel dann ganz schnell an ne? in die Regelklasse meistens ist es sodass die Kinder mindestens ein halbes Jahr in der Willkommensklasse verweilen oder ein Jahr und danach dann wechseln also früher eher nicht (.) die ganze- es gibt (.) ganz gute fitte die können auch nen- nach einem halben Jahr schon wechseln aber die meisten bleiben dann ein Jahr und diejenigen die eben ganz große Defizite haben die noch nie eine Schule besucht haben die bleiben dann auch schon zwei Jahre in der Klasse ne? weil sie auch ganz viel nachholen müssen ja (Südschule, Radstadt, LK, Z.387-498) Hier kann die Orientierung, dass die Aufgabe der Vorbereitungsklasse in der zügigen Vermittlung ausreichender deutscher Sprachkenntnisse für den Unterricht in der Regelklasse besteht, rekonstruiert werden. Deutlich wird das Entscheidungskriterium ›Deutschkenntnisse‹ für den Übergang auch im weiteren Verlauf der Passage. So hält 41

Im Gegensatz zur Flussschule und zur Bergschule bedeutet die Beendigung des ›Seiteneinsteiger‹-Status an der Südschule, genauso wie (größtenteils) an der Waldschule, ein Verlassen der parallelen Beschulung in der Vorbereitungsklasse und die Inklusion in die Regelklasse.

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Vorbereitungsklassenlehrer:in Url fest, »wenn sie dann sprachlich wirklich ziemlich fit sind schickt man sie rüber« (Südschule, Radstadt, LK, Z.425). Diese Orientierung unterscheidet sich deutlich von der Orientierung an der Waldschule, an der die Vorbereitungsklasse als ein Ort der Vermittlung von ›sozialen Kompetenzen‹ konzipiert wird und grundsätzlich infrage gestellt wird, ob innerhalb von zwei Jahren ausreichende Deutschkenntnisse für die Teilnahme am Regelunterricht vermittelt werden könnten. Demgegenüber halten die Lehrkräfte an der Südschule fest, dass die meisten ›Seiteneinsteiger‹ bereits nach einem Jahr in die Regelklasse wechseln. Ähnlich wie an der Flussschule und der Waldschule wird auch an der Südschule die Entscheidung für den Zeitpunkt des Wechsels an die Differenzierung zwischen ›guten Seiteneinsteigern‹ und ›Seiteneinsteigern mit großen Defiziten‹ aufgrund von fehlenden Schulbesuchszeiten geknüpft. Wie bereits an der Waldschule kann auch an der Südschule die Vermutung angestellt werden, dass der Hinweis auf ›Seiteneinsteiger‹ mit fehlenden Schulbesuchszeiten auf die in Kapitel 6.3.1.6 rekonstruierte Differenzierung zwischen ›normalen Seiteneinsteigern‹ und ›rumänischen Seiteneinsteigern‹ verweist, also auch an der Südschule insbesondere als ›rumänisch‹ beobachtete und adressierte Schüler:innen länger von der Teilnahme am Regelunterricht exkludiert werden. Eine Ausnahme in der Überweisungspraxis wird an der Südschule jedoch in Bezug auf ›Seiteneinsteiger‹ gemacht, die sich in der vierten Jahrgangsstufe befinden (Südschule, Radstadt, LK, Z.387-410). Für diese Schüler:innen findet kein Wechsel mehr in die Regelklasse statt, weil »das jetzt auch nicht nützen würde«, wenn sie nach einem halben Jahr in der Vorbereitungsklasse in die Regelklasse und dann auf eine weiterführende Schule wechseln würden. In der vierten Klasse verbleiben also alle, d.h. auch ›Seiteneinsteiger mit positiver Leistungsprognose‹, ausschließlich in der Vorbereitungsklasse. Die Formulierungen »auch nicht nützen« oder »auch nichts nicht gut tun« und »bleiben die halt das ganz Jahr bei mir« deuten darauf hin, dass diese Praxis nicht als optimal entworfen wird. Der Wechsel in die Regelklasse wird somit als wichtiger Schritt konzipiert, der bei älteren Schüler:innen jedoch aus Rücksicht auf die damit einhergehenden Belastungen in der vierten Klasse nicht mehr als sinnvoll erachtet wird. Ebenso wie an der Südschule werden ›Seiteneinsteiger‹ an der Ostschule im parallelen Modell unterrichtet. Aufgrund der parallelen Beschulungspraxis fällt die Beendigung des ›Seiteneinsteiger‹-Status auch hier mit einem Wechsel in die Regelklasse zusammen. Im Modus einer exemplifizierenden Erzählung elaboriert Solder, wie der Übergang gestaltet wird: JJ: Und nach zwei Jahren wechseln die dann immer in die Regelklasse oder?   SO:                                                                                                                                                       └nee also das ist ganz individuell also ich hatte ein syrisches Mädchen (.) das hat die Sprache so aufgenommen das war wirklich irre die ist innerhalb von ich glaube drei vier Monaten ist die zu meiner Kollegin hier unten in die in die Regelklasse schon gegangen und (.) das andere Kind von dem ich ger- ne? mit dem selektiven Mutismus ja gut der ist jetzt halt fast zwei Jahre dann da ne? das ist ganz individuell da muss man einfach gucken wir hatten mal Kriterien festgesetzt eigentlich also mein:e Chef:in und ich das man sagt wenn das Kind alle Arbeitsanweisungen so versteht dann ist es ja eigentlich so

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

weit dass man sagt du kannst in die Regelklasse das Problem ist nur einfach dass man immer gucken muss ja kann das Kind denn lesen und schreiben? nur weil es also ich habe zwei Kinder die sind wirklich total stark vom Sprechen und Verstehen das sind die Brüder von dem Mädchen und die sind jetzt seit einem Jahr schon länger drin als ihre Schwester weil die einfach noch nicht Lesen und Schreiben können und das ist einfach dann auch schwierig da muss man gucken der eine gehört re- regulär in die dritte Klasse der Kleinere in die Zweite (.) das funktioniert noch nicht und da muss man dann einfach wirklich so individuell gucken und sagen ok (.) das haut noch nicht hin du musst halt noch bleiben und das ist auch immer noch mal ein Motivationsschub für gewöhnlich wollen die in die Regelklasse auch wenn sie sich so in ihrem Alltag da ja wohlfühlen bei mir in der Klasse nichtsdestotrotz ist das so das Ziel bei bei den meisten denke ich und das polnische Mädchen das ich jetzt habe (.) Antonia heißt sie die haben wir jetzt versucht in die zweite Klasse hier bei meiner Kollegin zu integrieren ja und (.) ich war mir ziemlich sicher dass das hinhauen könnte wenn sie da auch noch mal Gas gibt dass sie da zwar zu den Schlech- zu den Schwächsten gehört (.) und das war ein totaler Schuss in den Ofen die ist jetzt gerade wieder da und die ist aber auch das ist auch immer so einer Typsache und auch da muss man dann auf das Kind wirklich eingehen und sagen ok sie ist halt noch ganz zurückhaltend sie jetzt auch gerade erst sieben geworden also sie ist auch mit fünf sogar eingeschult worden bei mir in der Klasse (.) (Ostschule, Radstadt, LK, Z.212-239) Solder elaboriert im Modus einer exemplifizierenden Erzählung die Orientierung, dass der Übergang in die Regelklasse in Abhängigkeit vom angenommenen Leistungsstand sowie der Persönlichkeit der ›Seiteneinsteiger‹ erfolge. Den positiven Horizont bildet eine Schülerin aus Syrien, die aufgrund sehr guter Deutschkenntnisse bereits nach wenigen Monaten in die Regelklasse wechseln konnte. Als Gegenhorizont werden von Solder unterschiedliche Beispiele für das Scheitern eines Übergangs in die Regelklasse vor Beendigung der zweijährigen Erstförderung genannt. Den negativen Horizont bilden Schüler:innen, die als Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf adressiert werden (›selektiver Mutismus‹42 ), Kinder, die zwar Deutsch sprächen und verstünden, aber nicht schreiben und lesen könnten oder Kinder, die eine sehr zurückhaltende Persönlichkeit hätten. Durch die exemplifizierenden Erzählungen plausibilisiert Solder, dass es keine festen Kriterien für die Entscheidung geben könne, wann ein Übergang zeitlich erfolgen solle. Vielmehr müsse, so wird mehrfach konkludiert, »individuell« für jedes einzelne Kind eine Entscheidung getroffen werden. Annahmen über die Notwendigkeit eines sonderpädagogischen Förderbedarfs sowie Einschätzungen der ›Persönlichkeitsentwicklung‹ scheinen für die Übergangsentscheidung ebenso relevant zu sein wie Verständnis-, Lese- und Schreibfähigkeiten in der deutschen Sprache. Während es sich bei den letztgenannten Entscheidungskriterien gewissermaßen um mit schulischen Mitteln überprüfbare Aspekte handelt, bieten erstere einen großen Entscheidungs- und Legitimationsspielraum für die Lehrkräfte, da sie weniger extern überprüf- und anfechtbar sind.

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Siehe hierzu auch die Rekonstruktionen in Kapitel 6.6.

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Anhand des Beispiels der Schülerin Antonia elaboriert Solder im weiteren Verlauf der Passage, wie vorgegangen wird, wenn ein Wechsel in die Regelklasse nicht erfolgreich verlaufe. SO:         und da muss man jetzt gucken wie das jetzt mit der ersten Klasse dann funktioniert da ist sie dann halt eine der Stärksten im Moment das ist kann auch natürlich dann ihr noch mal sehr helfen   JJ: Also die hat dann quasi ist dann von der zweiten in die erste Klasse noch mal gewechselt?   SO:            └ja also das ist so ein Modell wie wir das machen also ich habe mich mit der Klassenlehrerin zusammengesetzt wir haben geguckt von den Stundenplänen wie könnte das passen? dass sie bei mir in der Intensivförderung in Deutsch vielleicht immer noch dabei ist was regulär eigentlich erste zweite Stunde stattfindet wenn ich zur Zweiten habe dann zweite dritte Stunde (.) und da haben wir sie jetzt jeden Tag ein bis zwei Stunden rausgezogen dann ist sie in die Regelklasse gegangen und das haben wir jetzt vier fünf Wochen vor den Ferien gemacht und die Kollegin sagt es ist egal was ist (.) sie versteht die Aufgaben noch nicht und das klappt einfach dann noch nicht (.) und in der Regelklasse kann man sich ja dann auch nicht nur zu dem Kind setzen die anderen brauchen einen ja zwischendurch auch einfach und (.) und ja jetzt werden wir es angehen dass sie dann in die erste Klasse kommt (Ostschule, Radstadt, LK, Z.239-254) Als Antwort auf die implizite Interviewer:innenfrage, wie das Verfahren bei der Schülerin Antonia weiter verlaufen sei, elaboriert Solder zunächst, wie der Übergang grundsätzlich organisiert wird. Durch die Formulierung, es gebe ein »Modell«, verweist Solder auf eine klare Regelung, die vorsieht, dass auch nach dem Wechsel in die Regelklasse weiterhin an einer intensiven Sprachförderung in Deutsch teilgenommen werden kann. Solder greift das Beispiel der Schülerin Antonia auf und berichtet nochmals vom Scheitern des Eingliederungsversuchs. Begründet wird die Entscheidung, die Schülerin wieder aus der Regelklasse herauszunehmen, mit ihrer beobachteten Unfähigkeit, Anforderungen zu begreifen (wobei an dieser Stelle offenbleibt, ob sie die Aufgaben sprachlich oder ›kognitiv‹ nicht versteht) und dem Hinweis, dass in der Regelklasse nicht ausreichend personelle Kapazitäten für die Schülerin vorhanden seien, ohne die anderen Schüler:innen zu vernachlässigen. Als Lösung für dieses Problem wird ein zweiter Versuch in einer niedrigeren Jahrgangsstufe gestartet. Warum in der ersten Jahrgangsstufe von einer besseren Passung ausgegangen wird, führt die Lehrkraft nicht aus. Da sich die deutschen Sprachanforderungen in der ersten Jahrgangsstufe nicht grundsätzlich von den Anforderungen in einer zweiten Jahrgangsstufe unterscheiden dürften, könnte vermutet werden, dass bei der Rückstufung weniger vermeintlich fehlende Deutschkenntnisse der Schülerin im Mittelpunkt stehen, sondern die Rückstufung in eine niedrigere Jahrgangsstufe aufgrund des dort vorhandenen geringeren Leistungsniveaus angestrebt wird. Deutlich wird anhand des Beispiels, dass für die Regelklassenlehrkräfte der Ostschule nach Rücksprache mit der Vorbereitungslehrkraft die Möglichkeit besteht, die ihnen zugewiesenen ›Seiteneinsteiger‹ nach einer kurzen ›Probezeit‹ zurückzuwei-

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

sen. Während für ›Regelschüler‹ am Ende eines Schuljahres auf einer Versetzungskonferenz der Verbleib in einer Jahrgangsstufe entschieden werden kann, wenn zuvor eine Gefährdung der Versetzung bekannt gegeben wurde und in Zusammenarbeit mit den Eltern eine Förderung zur Verhinderung der Klassenwiederholung stattfand (AO-SG NRW, v. 01.06.2016, § 7), scheint diese Regelung an der Ostschule nicht auf ›Seiteneinsteiger‹ angewendet zu werden. So wird in der Erzählung von Solder deutlich, dass bei ›Seiteneinsteigern‹ eine Klassenwiederholung in Absprache zwischen der Regelklassenlehrkraft und der Vorbereitungslehrkraft bereits nach einer ›Probezeit‹ von vier bis fünf Wochen beschlossen werden konnte. Die Ostschule scheint die einzige Schule im Sample zu sein, die ›Seiteneinsteiger‹ ›auf Probe‹ in die Regelklasse überführt und bei negativer Einschätzung durch die Regelklassenlehrkraft wieder aus dem Regelunterricht herausnimmt. ›Seiteneinsteiger‹ werden an der Ostschule also nicht nur innerhalb der Vorbereitungsklasse in Bezug auf die Einschätzung ihres Wissensstandes und ihrer Persönlichkeit selektiv in die Regelklasse inkludiert, sondern müssen darüber hinaus auch durch die Regelklassenlehrkraft eine positive Leistungseinschätzung erhalten, um in der Klasse verbleiben zu können. Dies bedeutet, dass ›Seiteneinsteiger‹ ein zweifaches Selektionsverfahren durchlaufen müssen. Über eine maximale Aufenthaltsdauer in der Vorbereitungsklasse wird von Solder nicht berichtet. Grund hierfür scheint – wie bereits an anderen Schulen – die Tatsache zu sein, dass die Ostschule (zum Zeitpunkt des Interviews) noch nicht länger als zwei Jahre an der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ beteiligt ist. Fallübergreifende Zusammenführung Anhand der Rekonstruktionen hinsichtlich des Zeitpunktes des (vollständigen) Wechsels in den Regelunterricht werden grundsätzlich zwei unterschiedliche Orientierungen erkennbar. Während an der Bergschule für alle ›Seiteneinsteiger‹ eine zweijährige intensive Deutschförderung in Form eines teilintegrativen Beschulungsmodells als notwendig erachtet wird und auch über den Zeitpunkt des Wechsels in die Regelklasse hinaus eine weitere Sprachförderung in Deutsch als relevante Unterstützungsmaßnahme gerahmt wird, werden ›Seiteneinsteiger‹ an allen weiteren Schulen des Samples auf der Grundlage einer Differenzierung in ›Seiteneinsteiger mit positiver‹ und ›Seiteneinsteiger mit negativer Leistungsprognose‹ selektiv in den Regelunterricht inkludiert. Bezogen auf die untersuchten Grundschulen können also zwei unterschiedliche Handlungspraxen rekonstruiert werden: So gibt es Schulen, an denen der Übergang grundsätzlich für alle ›Seiteneinsteiger‹ nach zwei Jahren stattfindet, sowie Schulen, an denen der Zeitpunkt des vollständigen Übergangs in die Regelklasse leistungsdifferenziert erfolgt. Während bei der ersten Variante mit allen ›Seiteneinsteigern‹ auf die gleiche Weise verfahren wird, wird bei der zweiten Variante eine Differenzierung vorgenommen zwischen ›Seiteneinsteigern‹, denen ›positive‹ und ›Seiteneinsteigern‹, denen ›negative Leistungsprognosen‹ zugeschrieben werden.

6.5.2.2

Zuordnungen zu Jahrgangsstufen

Die folgenden Rekonstruktionen zeigen, dass sich die Schulen bei der Zuweisung der ›Seiteneinsteiger‹ zu einer Jahrgangsstufe entweder an den durch die Schulverwaltung getroffenen Entscheidungen orientieren und keine eigenen Zuweisungsentscheidungen treffen oder ›Seiteneinsteiger‹ grundsätzlich – mit dem Hinweis auf geringe Leis-

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tungsstände oder geringe Deutschkenntnisse – um mindestens eine Jahrgangsstufe zurückstufen. Zuweisungen durch die Schulverwaltung An der Bergschule werden ›Seiteneinsteiger‹ teilintegrativ unterrichtet und nehmen von Beginn an täglich über mehrere Stunden am Unterricht der ihnen zugeordneten Regelklasse teil. Die Zuordnungen zu einer Jahrgangsstufe scheinen sich an der Bergschule durchgehend an den auf dem Erhebungsbogen in der Schulverwaltung von Flurstadt notierten Entscheidungen zu orientieren, die der Schule mitgeteilt werden (Bergschule, Flurstadt, SL, Z.77-82). Während jedoch die Schulleitung keine Bedenken hinsichtlich der in der Verwaltung vorgenommenen Zuteilungen äußert, formulieren die Lehrkräfte, dass sie die Zuweisungspraxis – die von der Schulverwaltung vorgegeben würde – nicht verstünden und unzufrieden seien (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.457-476). Die Entscheidungen der Schulverwaltung werden von den Lehrkräften der Bergschule insbesondere deshalb problematisiert, weil die ›Seiteneinsteiger‹ nicht immer entsprechend ihres Alters einer Jahrgangsstufe zugeordnet würden. Im weiteren Verlauf der Passage (sowie des gesamten Interviews) wird die dadurch hervorgerufene Altersheterogenität in den Regelklassen jedoch nicht weiter als Problem elaboriert, sondern auf einen anderen Aspekt verwiesen: KOP:└nee das wird vorgegeben und dann ist jetzt ein neuer Schüler und gut ist und dann stelle ich fest der kann ja noch gar nicht irgendwie schriftliche Addition müsste er ja eigentlich können wenn er im dritten Schuljahr gewesen ist ne? (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.474-476) So wird von der Regelklassenlehrkraft problematisiert, dass es ›Seiteneinsteiger‹ gebe, die im vierten Schuljahr erhebliche Defizite in Mathematik hätten, auf die individuell reagiert werden müsse, was »schwierig« (Z.484) sei. Nicht das Alter, sondern die Heterogenität in Bezug auf die Leistungsstände der ›Seiteneinsteiger‹ werden als Problem beschrieben, da dies für die Lehrkräfte im Regelunterricht Mehrarbeit erzeuge. Es lässt sich festhalten, dass die Bergschule der durch die Schulverwaltung getroffenen Entscheidung für die Zuteilung zu einer bestimmten Jahrgangsstufe folgt, auch wenn es für die Schule nicht transparent erscheint, an welchen Entscheidungskriterien – einer Zuweisung nach Alter oder einer Zuweisung nach Leistungsstand – sich die Zuteilung orientiert. Auch wenn die Zuweisungspraxis der Schulverwaltung kritisch beurteilt wird, kann sich die Schule durch das Befolgen der durch die Schulverwaltung getroffenen Entscheidungen für eine Jahrgangsstufe von einer eigenen Entscheidungsfindung entlasten. Rückstufungen durch die Schule Ebenso wie an der Bergschule werden auch an der Waldschule die durch die Schulverwaltung von Flurstadt erstellten Erhebungsbögen thematisiert, auf denen die jeweils zu besuchende Jahrgangsstufe festgehalten wird. Der Umgang mit diesen Erhebungsbögen stellt sich an der Waldschule gänzlich anders dar:

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

LIN: manches stimmt natürlich dann nachher auch nicht ne also (.) wenn wenn die die schätzen das dann ein in welche Jahrgangsstufe die sollen und dann stellen wir hier fest ne also drittes oder viertes Schuljahr auf keinen Fall so jedenfalls nicht in Mathe oder in anderen Fächern ne? aber das können die auch gar nicht rauskriegen das das versuchen wir dann eben rauszukriegen das ist erst mal nur eine erste Einschätzung (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.586-590) Mit der Formulierung, die Angaben auf dem Erhebungsbogen seien »nur eine erste Einschätzung«, wird deutlich, dass die Einstufung der Schulverwaltung an der Waldschule, anders als an der Bergschule, nicht als bindende Vorgabe interpretiert wird. Deutlich kann hier eine Orientierung an der Herstellung leistungshomogener Klassen rekonstruiert werden. So werden zwar auch die Altersangaben auf den Erhebungsbögen infrage gestellt, eine Zuordnung scheint sich aber eher an der Einschätzung auszurichten, welcher Leistungsstand vorliege. Wenn nicht ausreichende Kenntnisse in Mathematik oder anderen Fächern vorhanden seien, würden die ›Seiteneinsteiger‹ trotz einer anderslautenden Empfehlung durch die Schulverwaltung niedriger eingestuft. Legitimiert wird dieses Vorgehen dadurch, dass die Fachkompetenz zur Zuteilung in eine Jahrgangsstufe deutlich bei der Schule gesehen wird. Im Modus einer exemplifizierenden Erzählung wird von der Schulleitung von einem ›Seiteneinsteiger‹ berichtet, der – entgegen der durch die Schulverwaltung getroffenen Entscheidung – eine Jahrgangsstufe niedriger eingestuft wird, da im vorgesehenen Jahrgang kein Platz frei gewesen sei. Im weiteren Verlauf der Passage elaboriert Lindemann, wie die Zuweisung zu einer Regelklasse in Abweichung von den städtischen Vorgaben beispielhaft erfolgt: LIN: für die Schwester hatten wir noch ein Platz frei aber eigentlich offiziell für den Bruder im ersten Schuljahr nicht oder im zweiten der sollte ins zweite so und dann hab ich gesagt gut im zweiten ist jetzt voll dann nehmen wir den ins erste weil da ist noch Platz offiziell weil ich gesagt hab der geht sowieso jetzt erstmal nicht in die Klasse aber von der Zahl her den nehmen wir auf (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.613-617) Deutlich wird, dass nicht nur die durch die Schule vorgenommene Leistungseinschätzung der ›Seiteneinsteiger‹ dazu führen kann, dass ›Seiteneinsteiger‹ entgegen der Entscheidung der Schulverwaltung niedriger eingestuft werden, als ihr Alter vorgeben würde. So kann die Kapazität einer bestimmten Jahrgangsstufe ein weiterer Grund für eine Rückstufung sein. Lindemann verweist dabei darauf, dass dieses Vorgehen unproblematisch sei, da die ›Seiteneinsteiger‹ an der Waldschule ohnehin (zunächst) keine Regelklasse besuchen würden. Sie werden also formal einem Jahrgang zugeordnet, praktisch hat dies aber keinen Einfluss auf die Beschulungspraxis. Da die Waldschule zum Zeitpunkt des Interviews erst seit kurzer Zeit ›Seiteneinsteiger‹ beschult, können an dieser Stelle keine Aussagen über die längerfristigen Auswirkungen dieser Praxis getroffen werden. Es kann aufgrund der bereits rekonstruierten Beschulungspraxis von ›Seiteneinsteigern‹ an der Waldschule aber vermutet werden, dass die ›Seiteneinsteiger‹ tatsächlich regelmäßiger beim Übergang in die Regelklassen zurückgestuft werden. An die Entscheidungen der Schulverwaltung wird dabei nicht angeknüpft, son-

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

dern es werden eigene Entscheidungsprämissen generiert, die sich an der Herstellung leistungshomogener und nicht altershomogener Schulklassen orientieren. Während an den ersten beiden Schulen in Flurstadt die Erhebungsbögen der Schulverwaltung in Bezug auf die Zuweisungspraxis zu einer Schulklasse thematisiert werden, wird dieser Aspekt an der dritten Schule des Samples in Flurstadt nicht angesprochen. Bezüglich der Zuweisungspraxis kann dennoch eine homologe Orientierung wie an der Waldschule rekonstruiert werden. So hält Schulleitung Moser fest: MO: also die Kinder die jetzt zu uns kommen die eigentlich vom Alter schon total also in der Zweiten wären die fördern wir allerdings dann (.) in der (.) ersten Jahrgangsstufe (Flussschule, Flurstadt, SL, Z.9-11) Die Ausführung deutet darauf hin, dass ›Seiteneinsteiger‹ an der Flussschule grundsätzlich in die erste Klasse eingeschult werden, auch wenn es sich dem Alter nach um Zweitklässler handelt. Im weiteren Verlauf des Interviews elaboriert Moser nochmals im Modus einer Beschreibung, wie das Zuweisungsverfahren genauer vonstattengehe. MO: das machen wir jetzt so jetzt dass wir ja eine Woche schauen also (.) erst mal nur diesen Unterricht um zu sehen also wie das Kind sich ja entwickelt dass man eben den ersten Eindruck bekommt (.) in welche Klasse in welche Stufe das Kind eben am besten passt ne? dann denkt man nur zwischen zwei Stufen also der zweite oder dritte erste oder zweite oder (Flussschule, Flurstadt, SL, Z.455-458) Ersichtlich wird, dass sich die Zuweisungspraxis nicht an den Angaben auf dem städtischen Erhebungsbogen orientiert, sondern ebenso wie an der Waldschule auch an der Flussschule eine eigene Leistungseinschätzung der ›Seiteneinsteiger‹ vorgenommen und auf dieser Grundlage eine Jahrgangsstufe ausgewählt wird. Dabei begrenzt sich die Flussschule jedoch auf eine Spanne von zwei Jahrgängen. Die zu Beginn des Interviews benannten ›Seiteneinsteiger‹, die entsprechend ihres Alters »total« in der zweiten Klasse wären, sind also vermutlich keine ›Seiteneinsteiger‹, die tatsächlich schon für die zweite Klasse zu alt sind, sondern ›Seiteneinsteiger‹, die eigentlich eindeutig in der zweiten Klasse sein müssten, für die aber trotzdem die Einschulung in die erste Klasse angestrebt wird. Wie bereits bei der Zuweisung zu einer der drei Vorbereitungsklassen (s. Kap. 6.3.1.4) wird auch bei der Zuweisung zu einer Jahrgangsstufe eine Leistungsdifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ vorgenommen und die Zuweisung im Sinne der Herstellung einer möglichen Leistungshomogenität vollzogen.   An den Schulen in Radstadt werden keine auf die jahrgangsbezogene Einstufung von ›Seiteneinsteigern‹ bezogenen Vorgaben durch die Schulverwaltung thematisiert. Hinsichtlich der Zuweisungspraxis können aber homologe Orientierungen wie an der Flussschule und der Waldschule rekonstruiert werden. So lässt sich für alle Schulen in Radstadt rekonstruieren, dass ›Seiteneinsteiger‹ i.d.R. mindestens eine Jahrgangsstufe niedriger eingeordnet werden, als ihr Alter vorgeben würde. Auch hier wird diese Rückstufung mit dem Hinweis begründet, dass die ›Seiteneinsteiger‹ nicht den Leistungsstand der dem Alter entsprechenden Jahrgangsstufe mitbrächten. So führt die Schulleitung der Ostschule bspw. aus:

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

KON: (.) meistens ist es so dass man die Kinder brauchen einfach mehr Zeit und man kann nicht (.) dem Alter entsprechend sie zuo- zuteilen zu den Regelklassen (.) (Ostschule, Radstadt, SL, Z.67-69) Im weiteren Verlauf der Passage und im Anschluss an eine exemplifizierende Elaboration über die gescheiterte Zuweisung eines ›Seiteneinsteigers‹ entsprechend ihres Alters43 hält Konrad in Form einer Konklusion fest: KON: was die die Ansprüche an die Leistungen der Kinder sind wir uns einig müssen wir sehr (.) runtersetzen auch im Vergleich zu einer Klasse (…) (Ostschule, Radstadt, SL, Z.81-83) Auch wenn den ›Seiteneinsteigern‹ durch die Rückstufung in eine niedrigere Jahrgangsstufe mehr Zeit gegeben werde, deutet Konrads Konklusion darauf hin, dass dennoch davon ausgegangen wird, dass ›Seiteneinsteiger‹ nicht die geforderten Leistungen der Regelklasse erfüllen könnten. Die Zuweisungspraxis an der Ostschule orientiert sich – ebenso wie an der Flussschule und der Waldschule – eher am Prinzip der Herstellung leistungshomogener als der Herstellung altershomogener Klassen; gleichwohl wird davon ausgegangen, dass ›Seiteneinsteiger‹ auch den geringeren Ansprüchen einer niedrigeren Jahrgangsstufe nicht gerecht werden könnten. An der Südschule elaboriert Schulleiter:in Ittel im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme, wie die Zuordnung in eine Regelklasse durchgeführt wird, die an der Südschule nach einem mehrmonatigen oder mehrjährigen Besuch der Vorbereitungsklasse erfolgt. ITT: also wir haben wirklich Kinder die sind acht oder neun und sind nicht alphabetisiert und waren nie in der Schule so jetzt kann man aber so einen neunjährigen großen Jungen ja schwer in so eine Eingangsklasse mit Erst- und Zweitklässlern tun wir machen das manchmal trotzdem wenn wir das Gefühl haben das ist gut für das Kind einfach noch mal so die Basis zu lernen aber wenn das schon Kinder sind die schon so @pubertäre Züge@ zeigen was wir auch haben dann bleiben die in der Regel kommen die in die Drei oder kommen in die Auffangklasse zwei wo die größeren Kinder sind (.) (Südschule, Radstadt, SL, Z.85-92) Die Rückstufung von ›Seiteneinsteigern‹ am angenommenen geringen Leistungsstand auszurichten, wird von Ittel mit einem Verweis auf die Vorteile begründet, die dies für die ›Seiteneinsteiger‹ habe. Dabei wird die Eingangsklasse als ein Ort entworfen, in dem die Grundlagen für einen erfolgreichen Schulbesuch gelegt werden. Die Grenze für die Praxis, ›Seiteneinsteiger‹ bis zu zwei Jahrgangsstufen niedriger zuzuordnen als ihr Alter vorgibt, wird auf der Basis entwicklungspsychologischer Annahmen gezogen. So werden ›Seiteneinsteiger‹, die als ›pubertär‹ beobachtet werden, nicht mehr der Eingangsklasse zugeordnet – selbst wenn dies ihrem Leistungsstand entspräche. Die Formulierung »pubertäre Züge«, die lachend ausgesprochen wird, ist unpräzise, deutet aber darauf hin, dass die Lehrkräfte das Sozialverhalten bestimmter ›Seiteneinsteiger‹ als abweichend entwerfen und als nicht adäquat für eine Grundschule be-

43

Das Beispiel ›Antonia‹, wurde bereits in Kapitel 6.5.2 analysiert.

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werten. Was genau als ›pubertär‹ gewertet wird, bleibt offen. Die Formulierung bietet einen großen Interpretations- und Handlungsspielraum in Bezug darauf an, welche ›Seiteneinsteiger‹ als nicht mehr in eine niedrigere Jahrgangsstufe vermittelbar kategorisiert werden. Bei der Zuweisung dieser ›pubertären Seiteneinsteiger‹ wird also von der sonst handlungsleitenden Orientierung am Leistungsstand auf eine Orientierung am Alter umgestellt. Darüber hinaus erläutert Ittel aber auch, dass die entwicklungspsychologische Einschätzung der ›Seiteneinsteiger‹ dazu führen könne, dass gar kein Wechsel in die Regelklasse stattfinde. So gebe es bei diesen ›Seiteneinsteigern‹ auch die Möglichkeit, dass sie – vermutlich bis zum Wechsel in die Sekundarstufe – in der Vorbereitungsklasse für ältere ›Seiteneinsteiger‹ verbleiben. Dies bedeutet, dass insbesondere für ältere ›Seiteneinsteiger‹ sowie für ›Seiteneinsteiger‹, denen ein auffälliges Sozialverhalten zugeschrieben wird, an der Südschule das Risiko besonders hoch ist, nicht in eine Regelklasse wechseln zu können. Zuweisung entsprechend persönlicher Bereitschaft der Regelklassenlehrkräfte Die Lehrkräfte an der Westschule argumentieren anders als die Lehrkräfte an den übrigen Schulen. Im Interview mit der Schulleitung und der Vorbereitungslehrkraft wird deutlich, dass die Entscheidung über die Zuweisung der ›Seiteneinsteiger‹ in eine Klasse nicht von den Regelklassenlehrkräften getroffen wird, sondern von der Vorbereitungslehrkraft. Dabei zeigt sich, dass weniger bestimmte (angenommene) Kenntnisse der ›Seiteneinsteiger‹ entscheidend sind, sondern die Bereitschaft der Regelklassenlehrkräfte, ›Seiteneinsteiger‹ aufzunehmen: JJ: und wie entscheiden Sie das dann? also wie läuft das dann ab? wenn Sie entscheiden das Kind kommt jetzt für ein paar Stunden in die Regelklasse? oder ganz?   NEU: @Mit ein bisschen Kampf@ @(.)@ ja Wild ist ja jetzt im Grunde unsere Verteilerin   WILD:                                                    └@(.)@   NEU: und Managerin in der Hinsicht (Westschule, Radstadt, SL/LK, Z.362-366) Die Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ zu den Regelklassen wird von der Schulleitung als ein konfliktbeladener Prozess bzw. als ein Ressourcenproblem beschrieben. Dabei wird die deutlich negativ gerahmte Formulierung »Kampf« lachend ausgesprochen und dadurch in ihrer Schärfe abgemildert. Gleichzeitig kann das Lachen von Vorbereitungslehrkraft Wild jedoch als eine Validierung des von Neumann eingebrachten propositionalen Gehaltes, dass die Zuweisung schwierig sei, gelesen werden. Warum dies so ist, führt Neumann im weiteren Verlauf der Passage aus. So müsse nicht nur geschaut werden, mit welchen anderen ›Seiteneinsteigern‹ die entsprechenden Schüler:innen gemeinsam eine Regelklasse besuchen könnten, sondern es müssten auch die Lehrkräfte im Blick behalten werden:

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

NEU: dann so auch von den Lehrkräften her kommt es auch manchmal so ein bisschen darauf an (.) wer traut sich das eher zu wer lässt sich darauf ein und wo gibt es dann schon mal eher so eine Barriere ich will aber eigentlich gar nicht ne? (.) ja (Westschule, Radstadt, SL/LK, Z.437-440) Konflikthaft sei die Zuweisung also dadurch, dass nicht alle Lehrkräfte offen dafür seien, ›Seiteneinsteiger‹ in ihre Regelklasse aufzunehmen. Entscheidend ist im Zuweisungsprozess demzufolge nicht die Einschätzung des jeweiligen Leistungsstandes der ›Seiteneinsteiger‹, sondern die Bereitwilligkeit der Regelklassenlehrkräfte, diese Schüler:innen aufzunehmen. Durch die Formulierung, dass es auch auf diese Bereitschaft ankomme, in welche Klasse ein ›Seiteneinsteiger‹ gehe, deutet sich an, dass auf die damit verbundenen Wünsche der Lehrkräfte möglichst Rücksicht genommen wird. Die Verweigerungshaltung einzelner Lehrkräfte, ›Seiteneinsteiger‹ zu unterrichten, wird zwar problematisiert, aber scheinbar dennoch hingenommen. Die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ wird damit nicht als eine reguläre Aufgabe für alle Lehrkräfte, sondern als eine Belastung verhandelt, die nicht allen zugemutet werden könne.44 Da die Westschule in der ersten und vierten Klasse einzügig und nur in der zweiten und dritten Klasse zweizügig ist, kann die Ablehnung von Klassenlehrer:innen der ersten und vierten Jahrgangsstufe, ›Seiteneinsteiger‹ in ihre Klasse aufzunehmen, dazu führen, dass die entsprechenden Schüler:innen in einer anderen Jahrgangsstufe eingeschult werden. Dies bedeutet, dass neben (vermeintlichen) ›schulisch relevanten Kriterien‹ – wie den jeweiligen Deutschkenntnissen – insbesondere die persönlichen Interessen der Lehrkräfte und die sich daraus ergebenden Ressourcenprobleme mitbestimmen, in welcher Jahrgangsstufe ›Seiteneinsteiger‹ unterrichtet werden. Die Entscheidungen hinsichtlich der Erzeugung sinnvoller Lerngelegenheiten werden hier unter organisatorischen Gesichtspunkten getroffen und Letzteren untergeordnet. Fallübergreifende Zusammenführung Während an der Bergschule keine eigenen Entscheidungen hinsichtlich der Zuordnung von ›Seiteneinsteigern‹ zu einer Jahrgangsstufe vorgenommen werden, sondern ›Seiteneinsteiger‹ ausschließlich entsprechend der in der Schulverwaltung in Flurstadt notierten Zuordnung eingeschult werden, haben alle anderen Schulen des Samples eine eigene Zuweisungspraxis etabliert. Deutlich wird bei der Betrachtung dieser Verfahren, dass ›Seiteneinsteiger‹ an diesen Schulen i.d.R. ein bis zwei Jahrgangsstufen zurückgestuft werden. Legitimiert werden diese Zuweisungen mit dem Hinweis auf ›ungenügende Leistungen‹, ›fehlende Deutschkenntnisse‹ oder die fehlende Bereitschaft von Regelklassenlehrkräften, die ›Seiteneinsteiger‹ aufzunehmen.

6.5.3

Vorbereitungsgruppen/-klassen als Selektionsorte

Die Entscheidung, wann die als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen den ›Seiteneinsteiger‹-Status verlassen und (vollständig) in eine Regelklasse wechseln, wird an den untersuchten Grundschulen auf der Grundlage unterschiedlicher Entscheidungsprämissen getroffen. Es lassen sich zwei grundsätzlich divergierende

44

Siehe hierzu auch die Rekonstruktionen in Kapitel 6.3.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Handlungsorientierungen rekonstruieren: Die ›Seiteneinsteiger‹-Förderung an der Bergschule wird als eine positive Unterstützungsmaßnahme gerahmt, die allen Schüler:innen zustehe, so lange sie einen Anspruch darauf haben. Demgegenüber wird der ›Seiteneinsteiger‹-Status an allen übrigen Schulen als ein Sonderstatus verhandelt, der bei ›Seiteneinsteigern mit positiver Leistungsprognose‹ möglichst zeitnah beendet werden sollte, während ›Seiteneinsteiger mit negativer Leistungsprognose‹ zum Teil über die offizielle Zeit von zwei Jahren hinaus in der Förderung verbleiben. Schulen, die ihre Praxis an letzterer Orientierung ausrichten, deuten einen längeren Verbleib in der Vorbereitungsgruppe/-klasse als negativ für die weitere Bildungskarriere.   Die Aufenthaltsdauer in Vorbereitungsklassen/-gruppen kann aufgrund dieser unterschiedlichen Handhabungen an den Schulen zwischen wenigen Wochen und mehr als zwei Jahren betragen. Ein längerer Verbleib im Status ›Seiteneinsteiger‹ bedeutet eine längere Teilnahme am ›Seiteneinsteiger‹-Unterricht, für den – wie in Kapitel 6.4 herausgearbeitet werden konnte – an einigen Schulen des Samples mindestens hinterfragt werden muss, ob hier das Recht auf Bildung erfüllt wird. Wenn nun darüber hinaus in Rechnung gestellt wird, dass es an keiner Schule eindeutige formale Kriterien für die Entscheidung gibt, wann und für wen ein Übergang in die Regelklasse vollzogen werden soll, wird deutlich, welche potenziellen diskriminierungsrelevanten Entscheidungen sich aus dieser informellen Zuweisungspraxis ergeben können. So werden die Entscheidungen für den Zeitpunkt des Übergangs in den Regelschulbetrieb auf der Grundlage einer Beurteilung des ›familiären Hintergrundes‹, des ›deutschen Sprachstandes‹, des ›Wissens- und Leistungsstandes‹, der ›Persönlichkeit‹ oder eines ›sonderpädagogischen Förderbedarfs‹ durch die Vorbereitungslehrkraft und ggf. weitere Kolleg:innen in einem nicht formal geregelten Verfahren getroffen. Das Argument mangelnder Deutschkenntnisse kann dabei als Verweis auf die noch heute andauernde Bedeutung sprachlicher Homogenität im Unterricht gelesen werden, die u.a. von Gogolin mit dem Hinweis auf die an deutschen Schulen herrschende »Monolingualität« beschrieben wurde (Gogolin 2008). Auch Diehm und Radtke führen aus, dass »die Beherrschung der Unterrichtssprache Deutsch als ein […], durch die Migration in den letzten Jahrzehnten bedeutsam gewordenes Homogenitätskriterium selbstverständlich vorausgesetzt [wird, J.J.].« (Diehm/Radtke 1999: 104) Den Schulen eröffnet sich durch die eigenständige Entscheidungspraxis die Möglichkeit einer Selektion unter den ›Seiteneinsteigern‹: Die ›Seiteneinsteiger‹, für die eine ›positive Leistungsprognose‹ angenommen wird, wechseln nach einer kurzen Zeit in der Vorbereitungsklasse in die Regelklasse, während ›Seiteneinsteiger mit negativer Leistungsprognose‹ über mehrere Jahre oder bis zum Ende der Primarstufe außerhalb des regulären Systems unterrichtet werden. Diese Praxis, eine Selektion der ›Seiteneinsteiger‹ vor dem Wechsel in die Regelklassen durchzuführen und nur diejenigen vorzeitig oder ggf. auch generell (s. Kap. 6.6) in den Regelunterricht zu inkludieren, denen eine ›positive Leistungsprognose‹ zugesprochen wird, kann als sogenanntes »cream skimming« (u.a. Whitty/Power 2001) bezeichnet werden. Studien zum »cream skimming« haben gezeigt, dass Schulen »seeking students who are ›able‹, ›gifted‹, ›motivated and committed‹, and middle class« (ebd.: 105). Schulen versuchen also insbesondere solche Schüler:innen anzunehmen, von denen sie sich versprechen, dass diese mit geringem

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Aufwand möglichst lange verbleiben und erfolgreiche Abschlüsse erzielen (vgl. ebd.). Während die Schulen in diesem Sample keinen Einfluss darauf ausüben können, welche ›Seiteneinsteiger‹ sie an der Schule aufnehmen, besteht dennoch durch den verzögerten oder grundsätzlich verhinderten Übergang in den Regelbetrieb die Möglichkeit, den Regelunterricht von allen als ›leistungsschwach‹ beobachteten ›Seiteneinsteigern‹ zu entlasten. Gleichzeitig scheint ein vorzeitiger Übergang in den Regelbetrieb als relevanter Schritt in eine erfolgreiche Bildungskarriere entworfen zu werden. Diese Praxis könnte darauf hindeuten, dass der Status ›Seiteneinsteiger‹ bzw. die Beschulung in einer Vorbereitungsklasse/-gruppe als ein Ort negativer Selektion definiert wird, den es frühzeitig zu verlassen gilt, wenn eine erfolgreiche Bildungskarriere angestrebt wird. Die Vorbereitungsklassen-/gruppen können – dieser Perspektive folgend – als negative Selektionsform interpretiert werden.45   Verbunden mit dem Übergang in die Regelklasse ist auch die Entscheidung, in welche Klasse bzw. insbesondere in welche Jahrgangsstufe ›Seiteneinsteiger‹ eingeordnet werden. Hier konnten zwei Handlungsorientierungen herausgearbeitet werden, die grundsätzlich für das deutsche Bildungssystem bedeutsam sind: die Homogenisierung von Schüler:innen nach Alter und nach Leistung. Da ›Seiteneinsteiger‹ als Schüler:innen beobachtet werden, die nicht nach Alter und Leistung entsprechend einer Regelklasse zugeordnet werden können (s. auch Kap. 6.3.1.3 und 6.3.1.4), treffen die Schulen eine Entscheidung, an welchem der beiden Prinzipien sie sich bei der Zuweisung orientieren. Die Südschule, die Ostschule, die Flussschule und die Waldschule orientieren sich in dem von ihnen praktizierten Zuweisungsverfahren an dem (vermeintlichen) Prinzip der Leistungshomogenisierung und nehmen dabei die Erzeugung altersheterogener Schulklassen in Kauf. Diese Orientierung führt, in Zusammenhang mit der in Kapitel 6.3 rekonstruierten Beobachtungspraxis ›Seiteneinsteiger‹ i.d.R. als deutlich weniger leistungsstark als ›Regelschüler‹ zu klassifizieren, dazu, dass an diesen Grundschulen eine Rückstufung um bis zu zwei Jahrgangsstufen praktiziert wird. Lediglich an der Bergschule, die bei der Zuweisung an die Entscheidung der Schulverwaltung anknüpft, scheinen ›Seiteneinsteiger‹ nicht nur ihrem Alter entsprechend, sondern zum Teil auch in einer höheren Jahrgangsstufe eingestuft zu werden. Insgesamt lässt sich dennoch zeigen, dass ›Seiteneinsteiger‹ beim Übergang in die Regelklasse regelmäßig mindestens eine Jahrgangsstufe zurückgestuft werden und damit zum Teil schon ›überaltert‹ in die Sekundarstufe wechseln. ›Seiteneinsteiger‹ bleiben so auch nach dem Verlassen der Vorbereitungsklasse als eine besondere ›Schüler:innengruppe‹ sichtbar und sind aufgrund ihrer ›Überalterung‹, d.h. aufgrund ihres höheren Alters in Vergleich zu den Schüler:innen der Regelklasse potenziell weiteren, sich negativ auf ihre Bildungskarriere auswirkenden Behandlungen (wie der Überweisung auf eine Förderschule) betroffen (vgl. Gomolla/Radtke 2002: 213ff.).

45

Hinsichtlich des Übergangs von neu migrierten Schüler:innen von der Grundschule in die Sekundarstufe konnte ebenfalls von Emmerich, Hormel und Jording (2017) herausgearbeitet werden, dass Vorbereitungsgruppen-/klassen hier nicht nur »das Problem der Förderung von Sprachfähigkeiten in der Verkehrssprache Deutsch« lösen, sondern darüber hinaus »das Problem der Generierung von Entscheidungsprämissen für Selektion« (ebd.: 219) im Übergangsverfahren bearbeiten.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Die rekonstruierte Zuweisungspraxis deutet – wie bereits die Ergebnisse in Kap. 6.3.1.3 und 6.3.1.4 zur Beobachtung von Alters- und Leistungsheterogenität – darauf hin, dass leistungshomogene Klassen für Lehrkräfte der Regelklassen funktionaler erscheinen als leistungsheterogene Klassen und daher präferiert werden. Diese Ergebnisse decken sich mit Erkenntnissen von Autor:innen wie Tillmann (2004), der festgestellt hat, dass auch an Grundschulen – die als besonders leistungsheterogen gelten, da an diesen Schulen Schüler:innen vor der leistungsbezogenen Selektion beim Übergang in die niveaudifferenzierte Sekundarstufe unterrichtet werden – Leistungsheterogenität »in den Jahrgangsklassen der Grundschule vor allem dann als ärgerlich und als unzumutbar [gilt], wenn sie sich als zu geringe Begabung, als zu schwache Leistungsfähigkeit darstellt.« (Tillmann 2004: 36) Während Altershomogenität in der Grundschule durch die gemeinsame Einschulung festgelegter Alterskohorten auf der Grundlage der Annahme erfolgt, dass ein ähnliches Alter auf einen vergleichbaren Entwicklungsstand des Kindes verweise (vgl. ebd.: 33f.), scheint die Beachtung dieses Grundsatzes im weiteren Verlauf an Relevanz zu verlieren. So zielen Maßnahmen wie Klassenwiederholungen auf die Wiederherstellung vermeintlich leistungshomogener Klassen unter Außerachtlassung der Einhaltung des Prinzips der Altershomogenität ab. Diehm und Radtke erklären diese Präferenz mit dem Hinweis, dass die »Organisation Schule […] Homogenität vor Heterogenität der Lerngruppen [bevorzugt], weil die herrschenden Formen der Methodik und Didaktik des Unterrichts, die alle Lehrer in tausenden von Schulstunden schon als Schüler kennengelernt haben, von der Voraussetzung gleicher Voraussetzungen der Schüler ausgehen.« (Diehm/ Radtke 1999: 104) Da ›Seiteneinsteiger‹, wie in Kap. 6.3 herausgearbeitet werden konnte, an vielen Schulen des Samples als grundsätzlich ›leistungsschwächer‹ als ›Regelschüler‹ beobachtet werden, erscheinen die beim Übergang in die Regelklasse regelmäßig durchgeführten Rückstufungen eine ›logische Konsequenz‹ zu sein.   Es verdichtet sich hier ein übergeordnetes Muster, bei dem Entscheidungen hinsichtlich der Beschulung neu migrierter Schüler:innen an geringen Erwartungen an ihr Leistungsvermögen ausgerichtet werden und lediglich bestimmte, als besonders ›leistungsstark‹ beobachtete ›Seiteneinsteiger‹ schnell in die ihrem Alter entsprechenden Jahrgangsstufen übergehen, während andere ›Seiteneinsteiger‹ länger (oder dauerhaft) in Vorbereitungsklassen/-gruppen verbleiben oder/und beim Übergang in die Regelklasse um ein bis zwei Jahrgänge zurückgestuft werden. Vorbereitungsklassen und -gruppen stellen damit nicht einfach einen Ort der Förderung für neu migrierte Schüler:innen dar, sondern müssen vielmehr als Selektionsorte beschrieben werden, in denen schulbiografisch relevante Entscheidungen getroffen werden. Da die Dauer der Förderung von der – in ungeregelten Verfahren vollzogenen – Einschätzung der Fähigkeiten durch die Lehrkräfte abhängig ist, entsteht Raum für potenzielle Diskriminierungen. Dies wirkt sich insbesondere auf Schüler:innen aus, denen ein sich negativ auf die Schulleistungen auswirkender ›familiärer Hintergrund‹ (u.a. aufgrund angenommener ›fehlender Unterstützungsstrukturen‹ und ›Kulturen‹, in denen Bildung keinen Wert habe) zugesprochen wird. Hiervon scheinen wiederum besonders Schüler:innen betroffen,

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

die als ›Roma/Rumänen‹ klassifiziert werden, da an diese so konstruierte Gruppe besonders häufig negative Leistungsbeurteilungen/-erwartungen geknüpft werden.

6.6

Die Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs

In der folgenden Analyse wird herausgearbeitet, inwiefern es an den Grundschulen zu einer Ausdifferenzierung einer ›besonderen Förderbedürftigkeit‹ von ›Seiteneinsteigern‹ in Bezug auf eine Zuschreibung sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs kommt. Durch die Rekonstruktionen an den Grundschulen können keine Aussagen über die Legitimität einzelner Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs (AO-SF) oder über die statistische Wahrscheinlichkeit der Einleitung von AO-SF für ›Seiteneinsteiger‹ getroffen werden. Es wird jedoch organisatorisches Entscheidungshandeln sichtbar gemacht und es werden Handlungsorientierungen in Bezug auf die Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs für als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierte neu migrierte Schüler:innen herausgearbeitet. Nach der Auseinandersetzung mit den bildungspolitischen Vorgaben hinsichtlich der Einleitung sonderpädagogischer Förderverfahren für neu migrierte Schüler:innen (Kap. 6.6.1) werden zwei zentrale Handlungsorientierungen herausgestellt (Kap. 6.6.2): die selektive Adressierung spezifischer ›Seiteneinsteiger‹ als ›Inklusionsschüler‹ (Kap. 6.6.2.1) und die universelle Adressierung aller ›Seiteneinsteiger‹ als ›Inklusionsschüler‹ (Kap. 6.6.2.3). Abschließend erfolgt eine theoretische Einordnung und Zusammenführung der erarbeiteten Ergebnisse hinsichtlich der Frage, welche (ungleichheitsrelevanten) Strukturbildungen sichtbar werden (Kap. 6.6.3).

6.6.1

Bildungspolitische Vorgaben in NRW

Die Eröffnung eines Verfahrens zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs (AO-SF) sollte, so die bildungspolitischen Vorgaben in NRW zum Zeitpunkt der Durchführung der vorliegenden Studie, erst nach Beendigung der zweijährigen Erstförderung der ›Seiteneinsteiger‹ erfolgen (AO-SF, BASS 13-41, v. 01.06.2015, § 12). Der vollständige Übergang in die Regelklasse stellt hier i.d.R. also den frühestmöglichen Zeitpunkt für die Einleitung eines AO-SF dar.46 Die Regelungen zur Durchführung eines sonderpädagogischen Förderverfahrens sind, abgesehen von der zeitlichen Einschränkung für ›Seiteneinsteiger‹, für alle Schüler:innen identisch, unabhängig davon, ob sie vormals ›Seiteneinsteiger‹ waren oder nicht. Im Folgenden werden die für die 46

Am 15.10.2018 ist in Nordrhein-Westfalen ein neuer Erlass zur »Integration und Deutschförderung neu zugewanderter Schülerinnen und Schüler« (BASS 13-63 Nr.3 v. 15.10.2018) in Kraft getreten. Dieser eröffnet unter Abs. 4.2 die Möglichkeit, auch für Schüler:innen mit einem ›Seiteneinsteiger‹-Status »innerhalb der ersten zwei Jahre des Besuchs der allgemeinen Schule bei Anhaltspunkten für einen Bedarf an zieldifferenter sonderpädagogischer Förderung einen Antrag gemäß AO-SF bei der zuständigen Schulaufsicht zu stellen.« (BezR Münster v. 31.01.2019, S. 11). Es ist entsprechend davon auszugehen, dass sich die in diesem Kapitel rekonstruierte schulische Praxis bezüglich der Einleitung eines AO-SF inzwischen insofern geändert hat, als es nun bereits während der zweijährigen Erstförderung vermehrt zur Eröffnung von Verfahren kommt.

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300

Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

vorliegende Arbeit relevanten Aspekte in Bezug auf die Einleitung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs zusammengefasst.

6.6.1.1

Vorgaben zur sonderpädagogischen Förderung von Schüler:innen

In der »Verordnung über die sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke (Ausbildungsverordnung sonderpädagogische Förderung AOSF)« (BASS 13-41 v. 29.09.2014) sind die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Einleitung eines sogenannten AO-SF sowie für die Beschulungspraxis in den jeweiligen Förderbereichen festgehalten.47 Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs (§ 11 und § 12 AO-SF) Ein Bedarf an sonderpädagogischer Förderung kann durch eine Reihe verschiedener Diagnosen begründet werden. Hierzu gehören ›Lern- und Entwicklungsstörungen‹, ›Geistige Behinderung‹, ›Körperbehinderung‹, ›Hör- und Sehschädigungen‹ oder ›Autismus-Spektrum-Störungen‹. Ein AO-SF kann auf Wunsch der Erziehungsberechtigten erfolgen oder – nach einem ›in Kenntnis setzen‹ der Erziehungsberechtigten – durch die Schule eingeleitet werden. Festgestellt wird ein Unterstützungsbedarf durch pädagogische und ggf. medizinische Gutachten, wobei die Entscheidung über das Verfahren bei der zuständigen Schulaufsichtsbehörde liegt. Eine Besonderheit ist, dass der Antrag für den Förderschwerpunkt ›Lernen‹ i.d.R. erst nach einem zweijährigen Besuch der Grundschule, d.h. also im dritten Schuljahr, gestellt werden kann. Förderschwerpunkte (§ 4, § 5, § 20 AO-SF) Für die vorliegende Arbeit sind insbesondere ›Lern- und Entwicklungsstörungen‹ mit den Förderschwerpunkten ›Lernen‹, ›Sprache‹, ›Emotionale und soziale Entwicklung‹ sowie der Förderschwerpunkt ›Geistige Entwicklung‹ von Interesse und werden daher im Folgenden genauer dargestellt. Diese Förderbedarfe werden – anders als die Förderschwerpunkte ›Körperbehinderung‹ und ›Hör- und Sehschädigungen‹ – i.d.R. ohne medizinische Gutachten und in vielen Fällen erst nach der Einschulung festgestellt (vgl. RBK o.J.), während Letztere oftmals bereits vor der Einschulung der ›Seiteneinsteiger‹ diagnostiziert werden.   Ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung nach AO-SF • •



47

im Förderschwerpunkt ›Lernen‹ besteht, »wenn die Lern- und Leistungsausfälle schwerwiegender, umfänglicher und langdauernder Art sind.« (§ 4, Abs. 2) im Förderschwerpunkt ›Sprache‹ besteht, »wenn der Gebrauch der Sprache nachhaltig gestört und mit erheblichem subjektiven Störungsbewusstsein sowie Beeinträchtigungen in der Kommunikation verbunden ist und dies nicht alleine durch außerschulische Maßnahmen behoben werden kann.« (§ 4, Abs. 3) im Förderschwerpunkt ›Emotionale und soziale Entwicklung‹ besteht, »wenn sich eine Schülerin oder ein Schüler der Erziehung so nachhaltig verschließt oder widersetzt, dass sie oder er im Unterricht nicht oder nicht hinreichend gefördert werden kann Die folgenden Abschnitte beziehen sich jeweils auf die in den Überschriften genannten Paragraphen der AO-SF (BASS 13-41 v. 01.06.2015) bzw. APO-SI (RdErl. v. 01.06.2016).

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹



und die eigene Entwicklung oder die der Mitschülerinnen und Mitschüler erheblich gestört oder gefährdet ist.« (§ 4, Abs. 4) im Förderschwerpunkt ›Geistige Entwicklung‹ besteht, »wenn das schulische Lernen im Bereich der kognitiven Funktionen und in der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit dauerhaft und hochgradig beeinträchtigt ist, und wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür sprechen, dass die Schülerin oder der Schüler zur selbstständigen Lebensführung voraussichtlich auch nach dem Ende der Schulzeit auf Dauer Hilfe benötigt.« (§ 5)

Bezogen auf die Einleitung von sonderpädagogischen Feststellungsverfahren ist in der AO-SF darüber hinaus grundsätzlich festgehalten, dass »[f]ehlende Kenntnisse der deutschen Sprache auf Grund einer anderen Herkunftssprache […] keinen Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung« (§ 20) begründen. Unterricht, Zeugnisse und Noten (§ 2, § 21, § 27, § 29 – § 41 AO-SF) Abhängig vom jeweiligen Förderschwerpunkt können Schüler:innen unterschiedliche Abschlüsse erwerben. So werden im Förderschwerpunkt ›Lernen‹ und im Förderschwerpunkt ›Geistige Entwicklung‹ i.d.R. Abschlüsse im zieldifferenten Bildungsgang ›Lernen‹ bzw. ›Geistige Entwicklung‹ erlangt. Im Förderschwerpunkt ›Sprache‹ und im Förderschwerpunkt ›Emotionale und soziale Entwicklung‹ besteht die Möglichkeit, einen Abschluss der allgemeinen Schule, wie auch einen Abschluss im zieldifferenten Bildungsgang ›Lernen‹ zu erreichen.   Der Förderschwerpunkt ›Lernen‹/zieldifferenter Bildungsgang ›Lernen‹ sieht Folgendes vor: •





• •

48

Die jeweiligen Stundentafeln richten sich an den Vorgaben für die Grund- und Hauptschule aus, es kann von der Klassenkonferenz beschlossen werden, den Englischunterricht auszusetzen. Bis zur Klasse fünf werden keine Noten vergeben, Leistungen werden auf der Grundlage eines individuell erstellen Förderplans und den darin festgelegten Lernzielen beschrieben. Ab der vierten Klasse können in einzelnen Fächern Leistungen mit Noten bewertet werden. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Leistung »den Anforderungen der jeweils vorhergehenden Jahrgangsstufe der Grundschule oder der Hauptschule entspricht« (§ 32). Wenn Schüler:innen die Schule aufgrund der Erfüllung der Vollzeitschulpflicht vor Ende der 10. Klasse verlassen, erhalten sie kein Notenzeugnis, sondern ein Zeugnis, das die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schüler:innen beschreibt. Wenn die Klasse 10 beendet wurde, erhalten die Schüler:innen einen Abschluss im Bildungsgang ›Lernen‹. Darüber hinaus kann unter bestimmten Voraussetzungen ein Abschluss erworben werden, der gleichwertig mit einem Hauptschulabschluss nach Klasse 9 ist.48 »Er wird vergeben, wenn die Leistungen in allen Fächern mindestens ausreichend sind oder in nicht mehr als einem der Fächer Deutsch oder Mathematik mangelhaft sind oder in einem der Fächer Deutsch oder Mathematik mangelhaft und in einem der übrigen Fächer nicht ausreichend

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Der Förderschwerpunkt ›Geistige Entwicklung‹/zieldifferenter Bildungsgang ›Geistige Entwicklung‹ sieht vor: •



Die jeweilige Stundentafel richtet sich nicht an den Vorgaben für die Grund- oder Hauptschule aus. Ziel des Unterrichts soll u.a. eine Förderung in den Bereichen Motorik, Sozialisation, Kommunikation, Mathematik, Natur- und Gesellschaftswissenschaften, Arbeitslehre, Sport, Musik, Kunst und Religion/Ethik beinhalten. Die Förderung richtet sich dabei nach den Möglichkeiten der Schüler:innen. Die Zeugnisse beinhalten eine Bescheinigung über erworbene Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten. Dies gilt auch für das Abschlusszeugnis.

Unabhängig vom jeweiligen Förderschwerpunkt findet sich auf allen Zeugnissen von Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ein Hinweis, dass eine sonderpädagogische Förderung in einem bestimmten Förderschwerpunkt erfolgt. Darüber hinaus wird festgehalten, in welchem Bildungsgang die Schüler:innen unterrichtet werden. Wenn ein zielgleicher Unterricht stattfand, können diese Hinweise auf Wunsch der Erziehungsberechtigten im Abschlusszeugnis gestrichen werden. Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe (§ 16 AO-SF, § 1 APO-SI) Wenn die sonderpädagogische Förderung nach dem Übergang in die Sekundarstufe weiterhin bestehen bleibt, sind die Grundschulen bei zielgleicher Förderung dazu verpflichtet, eine Schulformempfehlung auszusprechen. Wenn ein zieldifferenter Unterricht stattfindet, wird lediglich der entsprechende Bildungsgang angegeben. In beiden Fällen wird darüber hinaus festgehalten, ob die Erziehungsberechtigten eine Schule des ›Gemeinsamen Lernens‹49 oder eine Förderschule bevorzugen. Bezogen auf die Schulwahl ist die Schulaufsichtsbehörde verpflichtet, den Erziehungsberechtigten mindestens eine allgemeinbildende Schule vorzuschlagen, die die:den Schüler:in im Rahmen des ›Gemeinsamen Lernens‹ aufnehmen kann. Darüber hinaus können Erziehungsberechtigte die Schüler:innen auch selbstständig an einer Förderschule oder an einer allgemeinbildenden Schule mit ›Gemeinsamen Lernen‹ des jeweiligen Bildungsgangs anmelden. Über die Aufnahme entscheidet dann die Schulleitung im Rahmen der vorhandenen Aufnahmekapazitäten (vgl. BezR Münster v. 28.09.2016: 13).   Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Zuweisung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs Auswirkungen auf den Unterricht bzw. die Unterrichtsinhalte, auf die Vergabe von Noten und damit auch auf die Möglichkeit hat, einen Schulabschluss an einer allgemeinbildenden Schule zu erhalten. Welche Konsequenzen sich

49

sind oder in nicht mehr als zwei der übrigen Fächer nicht ausreichend, darunter in einem Fach mangelhaft sind.« (§ 35, Abs. 3) Als ›Gemeinsames Lernen‹ wird der Unterricht von Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an einer Grundschule gemeinsam mit Kindern ohne sonderpädagogischem Förderbedarf bezeichnet (vgl. MSB NRW, Gemeinsames Lernen, o.J.). Schulen mit diesem Unterrichtskonzept werden in NRW ›Schulen des Gemeinsamen Lernens‹ genannt.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

daraus jeweils ergeben, hängt jedoch stark davon ab, ob eine zieldifferente oder eine zielgleiche Förderung erfolgt, bzw. welcher Förderbedarf festgestellt wird. Diese Komplexität der Differenzierungsfolgen in ›Regelschüler‹ und ›Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ muss für die Analyse der vorliegenden Interviews stets im Blick behalten und in die abschließende Bewertung eingebunden werden.

6.6.1.2

Zuweisung von Ressourcen für den ›Gemeinsamen Unterricht‹

Zu Beginn des Schuljahres 2014/15 wurde die Berechnungsgrundlage für die Zuweisung eines Mehrbedarfs für die Förderschwerpunkte ›Lernen‹, ›Emotionale und soziale Entwicklung‹ und ›Sprache‹ von der Landesregierung neu ausgerichtet. Grundlage der Berechnung stellt weiterhin die in der BASS 11-11 festgelegte Relation von Schüler:innen je Lehrer:innenstelle dar. Diese Relation liegt derzeit für ›Regelschüler‹ bei 1:21,95; bei Schüler:innen mit dem Förderschwerpunkt ›Lernen‹, ›Emotionale und soziale Entwicklung‹ und ›Sprache‹ bei 1:9,92 und beim Förderschwerpunkt ›Geistige Entwicklung‹ bei 1:6,14. Die niedrigere Relation für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf bedeutet, dass Schulen für das Unterrichten von Kindern mit einem festgestellten Förderbedarf zusätzliche sonderpädagogische Lehrer:innenstunden zugewiesen werden. Darüber hinaus wurden im Runderlass des MSW NRW »Eckpunkte für die Zuweisung von Stellen aus dem regionalen Stellenbudget für die sonderpädagogische Förderung im Bereich der Lern- und Entwicklungsstörungen (LES) für die Primarstufe und die Sekundarstufe I« (RdErl. MSW NRW v. 04.04.2014) festgelegt. Dieser Erlass sieht u.a. vor, wie Lehrer:innenstellen auf Grundschulen des ›Gemeinsamem Lernens‹ im Bereich der Lern- und Entwicklungsstörungen verteilt werden sollen. Über die Zuweisung des Mehrbedarfs entscheidet für den Bereich der Grundschulen dann auf Grundlage der Eckpunkte das jeweils zuständige Schulamt (vgl. ebd.).   Mit Beendigung der zweijährigen Erstförderung und dem damit verknüpften offiziellen ›Statuswechsel‹ von ›Seiteneinsteiger‹ zu ›Regelschüler‹ ist für die Schulen ein Verlust zusätzlicher, für die Beschulung der neu migrierten Schüler:innen zur Verfügung gestellter Ressourcen verbunden. Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass den Schulen für das Unterrichten von ›Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ besondere Ressourcen bereitgestellt werden. So erhalten die Schulen bei der ›Feststellung‹ eines sonderpädagogischen Förderbedarfs eines:r Schüler:in und dem offiziellen ›Statuswechsel‹ vom ›Regelschüler‹ zum ›Inklusionsschüler‹ u.a. ergänzende Lehrer:innenstunden. Inwiefern diese Verluste oder die Zuweisungen von Ressourcen eine Rolle bei der Einleitung sonderpädagogischer Verfahren spielen, wird u.a. im Weiteren untersucht.

6.6.2

Adressierung von ›Seiteneinsteigern‹ als ›Inklusionsschüler‹

Grundsätzlich lassen sich an den untersuchten Grundschulen zwei unterschiedliche Handlungspraxen ausmachen, die im Weiteren näher betrachtet werden. Hierbei werden entweder bestimmte neu migrierte Schüler:innen vor dem Übergang in die Regelklasse als ›Inklusionsschüler‹ re-kategorisiert (Kap. 6.6.2.1) oder es werden alle neu migrierten Schüler:innen bereits während der zweijährigen Erstförderung als ›Inklusions-

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

schüler‹ adressiert (Kap. 6.6.2.2). An welche Beobachtungen die Selektionen anschließen und für welche (organisatorischen) Probleme die Zuschreibung eines sonderpädagogischen Status Lösungswege eröffnet, wird im Folgenden analysiert.

6.6.2.1

Selektive Adressierung von ›Seiteneinsteigern‹ als ›Inklusionsschüler‹ vor dem Übergang in die Regelklasse

An der Südschule, der Ostschule, der Bergschule und der Flussschule lässt sich die Praxis rekonstruieren, dass bereits während der Erstförderung bestimmte ›Seiteneinsteiger‹ als Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ausgemacht werden, für die – beim Übergang in die Regelklasse – sonderpädagogische Förderverfahren eingeleitet werden.   Im Vorlauf der folgenden Passage beschreibt die Vorbereitungslehrkraft der Bergschule, warum die Arbeit mit neu migrierten Schüler:innen eine große Herausforderung darstelle und dass einige ›Seiteneinsteiger‹ aggressiv seien und ein schwieriges Sozialverhalten zeigen würden. Allgemein ließe sich aber feststellen, so Tal, dass alle Kinder gute Lernfortschritte aufwiesen und nach einem halben Jahr schon sehr gut Deutsch sprechen könnten (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.41-92). An den positiven Horizont schnell lernender ›Seiteneinsteiger‹ schließt nun ein negativer Gegenhorizont an, in dem erstmals Bezug auf die Einleitung sonderpädagogischer Fördermaßnahmen genommen wird. TAL: (.) so ist es noch ein bisschen schwierig wenn dann manche auch nach einem oder eineinhalb Jahren vom Verhalten noch sehr auffällig sind oder von der Sprache auch dass man fast schon vermutet ob da nicht ein Förderbedarf irgendwie da ist ist ein bisschen die Schwierigkeit dass kein AO-SF gestellt werden darf bei den Seiteneinsteigern50 wo manche halt jetzt dabei sind da würde man sagen da wäre es schon hilfreich wenn ein Integrationshelfer vielleicht dabei wäre gerade bei den Kindern die sehr aggressiv auch sind (.) aber das geht eben nicht das ist so ein bisschen die Schwierigkeit da dass man sich da keine zusätzliche Hilfe holen kann solange die zwei Jahre Seiteneinsteigerzeit nicht ausgelaufen sind   JJ: Das ist von der Stadt eine Vorgabe oder?   TAL: Ja genau also die können nicht auf einen sonderpädagogischen Förderbedarf (.) getestet werden oder bei einem Kind was jetzt wirklich ganz große Probleme hat sich zu artikulieren da ist wirklich jetzt nach einem Jahr noch kein Buchstabe den das Kind aussprechen kann wo man jetzt eigentlich schon mit ziemlich großer Sicherheit sagen kann es liegt nicht nur an der Sprache weil er eben auch in der Herkunftssprache nicht gut sprechen kann es wäre eher Förderschwerpunkt Sprache aber da (.) also wurde uns signalisiert man kann das AO-SF stellen aber es wird bei einem Seiteneinsteiger nicht (.) zu Erfolg führen da muss wirklich erst mal müssen die zwei Jahre Seiteneinstei-

50

Zum Zeitpunkt der Erhebung galt die AO-SF, BASS 13-41, vom 01.06.2015.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

gerzeit ausgelaufen sein und dann kann man das direkt im Anschluss stellen aber so (.) (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.93-113) Erkennbar wird in dieser Passage die Annahme, dass, wenn sich fehlende deutsche Sprachkenntnisse und auffälliges Sozialverhalten nicht in der zweijährigen Erstförderung bessere, dies als Hinweis auf das Vorliegen eines sonderpädagogischen Förderbedarfs gewertet wird. So wird durch Tals Hinweis, dass es für bestimmte ›Seiteneinsteiger‹ hilfreich wäre, wenn für diese Schüler:innen Integrationshelfer:innen bereitstünden, deutlich, dass die Vorbereitungslehrkraft diese Schüler:innen als ›Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ beobachtet und entsprechend dieser Kategorisierung einen zusätzlichen Unterstützungsbedarf annimmt. Problematisiert wird von der Vorbereitungslehrkraft jedoch nicht das Vorliegen eines Förderbedarfs, sondern dass innerhalb der zweijährigen Erstförderung keine »zusätzliche Hilfe« für den Unterricht angefordert werden kann. Auffällig ist, dass die Formulierung »dass man sich da keine zusätzliche Hilfe holen kann« auf einen Bedarf der Lehrkraft verweist, im Unterricht mit den als ›Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ klassifizierten Schüler:innen unterstützt zu werden, und weniger auf eine notwendige Hilfe für die Schüler:innen selbst. Das Problem besteht – so fasst Tal in Form einer Zwischenkonklusion zusammen – in der Tatsache, dass die Kinder ›nicht getestet‹ werden könnten. Es ist also nicht möglich, die bereits angenommene Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs offiziell durch ein AO-SF zu belegen, solange die Schüler:innen den ›Seiteneinsteiger‹-Status besitzen.51 Diese rechtliche Vorgabe scheint dabei deshalb als nachteilig verhandelt zu werden, weil für die Schule so kein Zugriff auf zusätzliche sonderpädagogische Ressourcen besteht. Auffällig sind in dieser Passage darüber hinaus die vagen Formulierungen »vom Verhalten […] von der Sprache« und »ein Förderbedarf irgendwie da ist«, die darauf hindeuten, dass die Einschätzung der Lehrkraft nicht auf einer gesicherten und konkreten Definition eines spezifischen sonderpädagogischen Förderbedarfs oder einem systematischen Diagnoseverfahren, sondern vielmehr auf einer diffusen persönlichen Zuschreibung beruht, dass mit bestimmten Schüler:innen etwas ›nicht stimme‹. Es wird keine Präzisierung vorgenommen, welcher Förderbedarf vorliege. Vielmehr scheinen unter der Zuschreibung ›Förderbedarf‹ alle ›Seiteneinsteiger‹ gefasst zu werden, die die an sie gerichteten Erwartungen bezüglich Lernerfolg und Sozialverhalten nicht erfüllen. Erst im weiteren Verlauf der Passage elaboriert Tal im Modus einer exemplifizierenden Erzählung (Z.107-112) am Beispiel ›eines Kindes‹ den Fall eines konkret angenommenen Förderschwerpunkts und führt aus, warum ein Verfahren im Förderschwerpunkt ›Sprache‹ angemessen sei. Die Vorgabe, dass ein Sprachdefizit in Deutsch kein AO-SF begründen darf, scheint hier bekannt zu sein. So werden die rechtlichen Bestimmungen zur Einleitung eines AO-SF ›Sprache‹ in Rechnung gestellt, indem auch auf Sprachprobleme in der Herkunftssprache verwiesen wird. Wie diese Sprachprobleme in der Herkunftssprache ohne ein offizielles Verfahren bestimmt wurden, wird jedoch nicht 51

So ist der Einsatz von Integrationshelfer:innen erst durch ein ärztliches oder kinder- bzw. jugendpsychiatrisches Gutachten möglich (vgl. LVR o.J.) und der Bewilligung dieser ›Unterstützungsmaßnahme‹ geht i.d.R. ein AO-SF voraus, welches für ›Seiteneinsteiger‹ nicht gestellt werden darf (s. Kap. 6.6.1).

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

ausgeführt. Dies deutet darauf hin, dass es sich auch hier eher um eine persönliche Einschätzung der Lehrkraft handelt. Anhand der exemplifizierenden Erzählung plausibilisiert die Vorbereitungslehrkraft, dass es nicht nur für die Lehrer:innen, sondern auch für die benannten Schüler:innen zu ihrem Besten wäre, wenn bereits während der Erstförderung eine sonderpädagogische Unterstützung beantragt werden könnte. Bemerkenswert ist noch ein weiterer Aspekt in dieser Passage. So knüpft Tal mit dem Verweis auf »Kinder[…] die sehr aggressiv auch sind« an eine exemplifizierende Erzählung aus der Eingangspassage an, in der sie:er von aggressiven Kindern spricht, die sich nicht an Regeln halten könnten und nicht gelernt hätten, am Tisch zu sitzen und länger zuzuhören (Z.35-69). Relevant ist diese Verknüpfung – aggressive Kinder benötigen ein AO-SF – insbesondere, wenn ein Blick auf die weitere Verhandlung zu ›aggressiven Kindern‹ im Interview geworfen wird. So konnte bereits im Kapitel 6.3.1.6 zur Beobachtung von ›Kultur‹ an der Bergschule herausgearbeitet werden, dass diese Zuschreibungen in erster Linie im Zusammenhang mit ›Seiteneinsteigern‹ auftauchen, die als ›Roma/Rumänen‹ klassifiziert werden. Der in dieser Passage vorgenommene Verweis auf ›aggressive Kinder‹ könnte daher als ein Hinweis darauf gelesen werden, dass an der Bergschule insbesondere den als ›rumänisch‹ beobachteten ›Seiteneinsteigern‹ schon während der zweijährigen Erstförderung vonseiten der Lehrkräfte ein sonderpädagogischer Förderbedarf zugeschrieben wird. Die Attribuierung ›aggressiv‹ könnte folglich auf eine latent durchlaufende ethnisch-kulturelle Differenzierung hindeuten, durch die die als ›Roma/Rumänen‹ klassifizierten ›Seiteneinsteiger‹ innerhalb der Vorbereitungsklasse als eine besondere Schüler:innengruppe beobachtet werden, die von den ›normalen Seiteneinsteigern‹, die sich sehr gut entwickeln würden, unterschieden werden könne. Ethnisch-kulturelle Zuschreibungen würden in dieser Lesart also entscheidungsrelevant hinsichtlich der Einleitung eines sonderpädagogischen Förderverfahrens, ohne sie als solche zu explizieren. Da die Bergschule eine Schule des ›Gemeinsamen Lernens‹ ist, dienen AO-SF nicht dazu, ›auffällige‹ Schüler:innen von der Schule zu verweisen. Vielmehr wird die Diagnostizierung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs als Hilfestellung für die Lehrkräfte sowie für die entsprechenden Schüler:innen konzipiert. Als Problem wird verhandelt, dass, unabhängig davon wie notwendig oder offensichtlich ein Förderbedarf sei, generell für alle ›Seiteneinsteiger‹ innerhalb der zweijährigen Erstförderung keine Möglichkeit bestehe, zusätzliche Unterstützung zu erhalten. Die rechtlichen Vorgaben werden als nachteilig für Schüler:innen und Lehrkräfte beschrieben.   Ebenso wie an der Bergschule findet auch an der Ostschule bereits innerhalb der Vorbereitungsklasse eine Adressierung von einzelnen ›Seiteneinsteigern‹ als ›Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ statt. Im Vorlauf der nachfolgend analysierten Passage elaboriert Solder – in Reaktion auf die Interviewer:innenfrage, ob es in der Vorbereitungsklasse Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf gebe – im Modus einer exemplifizierenden Erzählung, dass der Unterricht in der Vorbereitungsklasse dadurch herausfordernd sei, dass viele unterschiedliche Niveaustufen unterrichtet werden müssten. Erschwert werde diese Unterrichtssituation darüber hinaus dadurch, dass immer neue ›Seiteneinsteiger‹ hinzukämen und eine große Altersheterogenität

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

bestünde (Ostschule, Radstadt, LK, Z.141-173). Anschließend weist Solder auf die Vorteile hin, die sich aus den Niveauunterschieden ergäben: SO: aber das Schöne ist dadurch natürlich auch einfach das (.) das habe ich auch in der jahrgangsübergreifenden Klasse kennengelernt an der Schule im Radstadter Norden das ist ja auch so Erste Zweite zusammen Dritte Vierte habe ich hier Erste bis Vierte (.) das gegenseitige Helfen dass ich auch mal also wie zum Beispiel dieser Junge der mit dem selektiven Mutismus der dann irgendwann sprach dass der sich jetzt fühlt wie der Chef im Ring ne? der ist fast zwei Jahre da spricht Arabisch Spanisch Deutsch wirklich schlecht also der hat definitiv auch Förderbedarf der wird auch dann wenn er in die Regelklasse kommt ein AO-SF eingeleitet werden müssen (.) aber nichtsdestotrotz merkt er jetzt oh ich kann ja übersetzen und im Erzählkreis der ist wirklich nicht zu stoppen (.) ja und so dieses gegenseitige Helfen beflügelt die Kinder natürlich ungemein ne? wenn sie dann auch mal sehen ach ja guck mal so habe ich mich auch gefühlt als ich ankam und jetzt bin ich schon boah so lange bin ich schon hier und ich verstehe Solder alles was sie sagt verstehe ich und ich kann es übersetzen (.) das pusht natürlich (Ostschule, Radstadt, LK, Z.173-186) In dieser Passage wird – wie schon in Kapitel 6.4 herausgearbeitet werden konnte – eine Orientierung erkennbar, dass die Vorbereitungsklasse an der Ostschule nicht als Ort einer systematischen Wissensvermittlung konzipiert wird, an dem die Schüler:innen gezielt und methodisch schulisch relevantes Wissen erwerben, sondern als Ort, an dem ›Seiteneinsteiger‹ Umgangsformen, Verhaltensregeln und soziale Kompetenzen – wie ›gegenseitiges Helfen‹ – erlernen können. Im Modus einer exemplifizierenden Erzählung elaboriert Solder am Beispiel eines Schülers, dem die Diagnose ›selektiver Mutismus‹ zugeschrieben wird, diese Orientierung weiter. Dabei verweist Solder mit der Formulierung »dieser Junge der mit dem selektiven Mutismus« auf eine Erzählung aus der Eingangspassage, in der bereits von diesem Kind berichtet wurde und in der Solder den Jungen als ein Beispiel dafür anführt, dass viele ›Seiteneinsteiger‹ zu Beginn zunächst schüchtern seien, dann aber irgendwann der ›Knoten platze‹ und sie ihre Zurückhaltung ablegen würden (Ostschule, Radstadt, LK, Z.102-104). Auffällig ist bereits in dieser ersten Erzählung zum Schüler, dass das Redeverhalten mit der Bezeichnung »Quasselstrippe«, die gebremst werden muss, eher abgewertet und als nicht relevant für das Unterrichtsgeschehen bewertet wird. Der Junge wird nicht als ›fleißiger und interessierter Schüler‹, der sich rege beteiligt, sondern als Schüler beschrieben, der zunächst gar nicht und dann zu viel redet. Das Verhalten des Jungen wird nicht nur dadurch, sondern auch durch den Verweis, dass er »definitiv auch Förderbedarf« habe und durch die Verhandlung der Diagnose ›selektiver Mutismus‹ als feststehende Kategorisierung (»der mit dem«, »das war dann«) deutlich als von der Norm abweichend markiert. »[S]elektiver Mutismus« wird im ICD-1052 als eine »Störung sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend« (ICD-10, F94.0) gelistet und bezeich-

52

ICD (engl. International Statistical Classification of Diseases and Related Health Conditions) ist eine internationale statistische Klassifikation von Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. Es dient der »amtliche[n] Klassifikation zur Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung in Deutschland.« (BfArM o.J.)

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net eine ›Kommunikationsstörung‹, bei der Kinder – trotz vorhandener angemessener Sprachkompetenzen – in klar definierbaren sozialen Situationen konsequent schweigen. »Diese Störung ist üblicherweise mit besonderen Persönlichkeitsmerkmalen wie Sozialangst, Rückzug, Empfindsamkeit oder Widerstand verbunden.« (ICD-10, F94.0) Inwiefern die von Solder als eindeutige Diagnose verhandelte Zuschreibung tatsächlich von Fachkräften gestellt oder von Solder angenommen wurde, lässt sich nicht abschließend klären. Da ein offizielles Diagnoseverfahren nicht benannt wird und die Klassifizierung des ICD-10 nicht vorbehaltlos auf die Beschreibung durch Solder zutrifft, könnte jedoch die Vermutung aufgestellt werden, dass es sich eher um eine persönliche Einschätzung der Lehrkraft handelt. Begründet wird der Förderbedarf des Schülers jedoch nicht nur mit der ›Diagnose‹ ›selektiver Mutismus‹, sondern auch mit dem Hinweis darauf, dass er allgemein Sprachschwierigkeiten habe. Offen bleibt an dieser Stelle – ähnlich wie zuvor an der Bergschule – woher Solder weiß, dass der Junge neben Deutsch auch in Spanisch und Arabisch ›Sprachprobleme‹ habe. Die Feststellung deutet aber darauf hin, dass Solder – ebenso wie die Lehrkraft der Bergschule – die rechtlichen Vorgaben zur Einleitung eines AO-SF bei ›Schüler:innen mit Migrationshintergrund‹ antizipiert und daher auf vermeintliche Schwierigkeiten nicht nur in der deutschen, sondern auch in der ›Herkunftssprache‹ des Schülers verweist, durch die ein AO-SF begründet werden könne. Die Entscheidung, für den Schüler beim Übergang in die Regelklasse ein AO-SF zu initiieren, scheint hier bereits festzustehen. Warum erst beim Übergang in die Regelklasse ein Verfahren eingeleitet wird, wird nicht weiter ausgeführt. Es kann jedoch vermutet werden, dass Solder um die Regelung weiß, dass sonderpädagogische Verfahren erst nach Beendigung der zweijährigen Erstförderung für neu migrierte Schüler:innen durchgeführt werden dürfen. Andererseits könnte die Ausführung darauf hinweisen, dass Solder antizipiert, in der Vorbereitungsklasse könne mit der ›Verhaltensauffälligkeit‹ und den ›Sprachschwierigkeiten‹ noch angemessen umgegangen werden, da es in ihrer:seiner Klasse nicht ausschließlich um Wissensvermittlung, sondern insbesondere um das Erlernen ›sozialer Kompetenzen‹ gehe – der Junge in einer Regelklasse aufgrund des regulären Unterrichtsformates jedoch ein Problem darstellen würde. Beiden Lesarten folgend scheint Solder jedoch davon auszugehen, dass der Junge die Normalitätserwartungen einer Regelklasse nicht erfüllen könne.   Auch an der Flussschule zeigt sich, homolog zur Ostschule und Westschule, die Orientierung, dass ein sonderpädagogischer Förderbedarf von den Lehrkräften bereits während der zweijährigen Erstförderung der ›Seiteneinsteiger‹ ausgemacht werden könne. So elaboriert Vorbereitungslehrkraft Mohn im Modus einer exemplifizierenden Erzählung das Beispiel des ›Seiteneinsteigers‹ Akim, der ›nicht nur‹ aufgrund seines ›Seiteneinsteiger‹-Status einen besonderen Förderbedarf habe: MOH:                                                                                   ja und wenn wir noch Kapazitäten haben dann und ein Kind war hatte vorher diesen Seiteneinsteigerstatus und ich sehe irgendwie das klappt aber auch noch in meiner Gruppe hab ich im Moment auch dann lassen wir das Kind auch noch so lange in der Gruppe wenn auch wenn die zwei Jahre jetzt schon überschritten sind ne? (.) und zum Beispiel den Akim hab ich ja aus Marias Klasse der gehört eigentlich nicht mehr in die Gruppe rein aber ich seh einfach dass der da

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noch Förderbedarf hat aber der hat auch noch aus anderen Gründen Förderbedarf der ist GL also der ist nicht nur Seiteneinsteiger und wenn das geht machen wir das   ROS:                                                              └ja ja die den haben wir ja auch noch dabei die garantiert irgendwann mal im GL landen ne?  (Flussschule, Flurstadt, LK 3, Z.599-608) Die Ausführung »der ist GL53 […] nicht nur Seiteneinsteiger« deutet nicht nur auf eine essentialisierende Zuschreibung hin (»der ist«), sondern gleichzeitig auch auf die Steigerung einer ›Problemlage‹ (»nicht nur«). An der Flussschule wird die Zuschreibung »GL« als Schlagwort genutzt, ohne weiter zu erläutern, was für ein Förderbedarf genau vorliegen könnte. Auch in diesem Punkt zeigt sich die bereits an der Bergschule rekonstruierte Orientierung, ›problematische Kinder‹ pauschal als ›Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ zu klassifizieren, ohne eine Präzisierung bezüglich der vermuteten Förderbedarfe vorzunehmen. Es wird also auf die sehr unscharfe Zuschreibung eines generellen ›Förderbedarfs‹ rekurriert, die einen weiten Interpretations- wie auch Handlungsspielraum offenlässt. Ebenso wie an der Berg- und Ostschule wird die Feststellung nicht durch ein gezieltes Testungs- oder Diagnoseverfahren begründet. Vielmehr wird der Förderbedarf von Akim – darauf weist die Formulierung »der ist GL« hin – als etwas verhandelt, das von den Lehrkräften eindeutig erkannt werden könne. Hier deutet sich die Orientierung an, dass für die Feststellung eines Förderbedarfs keine offiziellen Verfahren (wie bspw. die Einbindung sonderpädagogischer Lehrkräfte oder anderer Fachkräfte) benötigt würden, sondern diese Entscheidungen auf der Hand lägen und während der laufenden Unterrichtspraxis durch Regellehrkräfte getroffen werden könnten. Diese Orientierung wird durch Rosenthal validiert, indem sie:er darauf verweist, dass bestimmte ›Seiteneinsteiger‹ »garantiert […] im GL landen«. Deutlich zeigt sich hier – wie bereits auch in Kapitel 6.5.2 zum Übergang in die Regelklasse herausgearbeitet werden konnte – dass Schüler:innen, auch ohne dass ihnen offiziell ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wurde, an der Flussschule länger als zwei Jahre in der Vorbereitungsklasse verbleiben.54 Deutlich wird dies auch im weiteren Verlauf der Passage, indem Mohn und Rosenthal elaborieren, dass ›Seiteneinsteiger‹, die nach zwei Jahren nicht fit genug für die Regelklasse seien, »in der Regel GL Kinder« (Z.638-639) seien.55 Als ein Kriterium für die Einleitung eines sonderpädagogischen Förderverfahrens wird hier also die Einschätzung herangezogen, ob ein vollständiger Übergang in die Regelklasse problemlos möglich sein wird. Das Verfahren könne aber, so halten Mohn und Rosenthal fest, ohne weitere Problematisierungen vorzunehmen,

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54 55

Die Bezeichnung »GL« wird von Lehrkräften zur Abkürzung des Ausdrucks ›Gemeinsames Lernen‹ genutzt, der für das gemeinsame Unterrichten von Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf an einer Schule steht. Mit ›GL‹ werden hier Schüler:innen mit (angenommenem) sonderpädagogischem Förderbedarf bezeichnet. Da ›Seiteneinsteiger‹ an der Flussschule teilintegrativ unterrichtet werden, bedeutet diese Praxis jedoch keinen vollständigen Ausschluss aus dem Regelunterricht. Diese Passage (Flussschule, Flurstadt, LK 3, Z.618-642) wurde bereits in Kapitel 6.5.2.1 zum Übergang in die Regelklasse interpretiert.

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erst »bei den Klassen«, d.h. in den Regelklassen eingeleitet werden (Z.648-658). Diese Feststellung könnte ein Grund dafür sein, warum Schüler:innen, die offiziell keine ›Seiteneinsteiger‹-Förderung mehr bekommen sollten, denen aber ein Förderbedarf zugeschrieben wird, länger in der Vorbereitungsklasse verbleiben. Es kann vermutet werden, dass diese Schüler:innen so lange inoffiziell weiterhin als ›Seiteneinsteiger‹ unterrichtet werden, bis sie offiziell einen sonderpädagogischen Förderstatus erhalten und damit zusätzliche Ressourcen in Form von sonderpädagogischen Lehrer:innenstunden zur Verfügung gestellt werden. Ähnlich wie an der Bergschule und der Ostschule wird also auch in der Flussschule bereits während der zweijährigen Erstförderung entschieden, welche ›Seiteneinsteiger‹ beim Übergang in die Regelklasse einem sonderpädagogischen Verfahren zugeführt werden sollten. Darüber hinaus wird an der Flussschule auf die Option zurückgegriffen, die entsprechenden Schüler:innen – wenn die personellen Ressourcen dies zulassen – bis zur offiziellen Zuschreibung eines Förderbedarfs auch über die zweijährige Erstförderung hinaus als ›Seiteneinsteiger‹ teilintegrativ zu beschulen.   An der Südschule wird – anders als an der Bergschule, der Ostschule und der Flussschule – sehr ausführlich durch die Lehrkräfte wie auch durch die Schulleitung elaboriert, welche Vorteile die Zuweisung eines sonderpädagogischen Förderstatus habe. Bezogen auf die Möglichkeit der Durchführung von AO-SF für ›Seiteneinsteiger‹ weist die Schulleitung im Vorlauf der folgenden Passage auf die Schwierigkeit hin, dass in Radstadt erst nach drei Jahren in der Schuleingangsphase ein AO-SF eingeleitet werden solle. Mit den dabei genutzten Formulierungen »weil das in Radstadt so ist […] weil man eben davon ausgeht […] man ihnen eben die Chance auch geben will« (Z.387388) wird eine gewisse Distanz zu der offiziellen Regelung verdeutlicht. Der Hinweis, dass es »eigentlich« (Z.397) so sei, dass die Kinder drei Jahre in der Schuleingangsphase verbleiben sollten, bevor ein AO-SF initiiert wird, deutet darauf hin, dass die bildungspolitischen Vorgaben nicht als eine unumgängliche feste Reglung, sondern vielmehr als ein bildungspolitischer Wunsch verhandelt werden. An diese Ausführungen schließt die Schulleitung mit einem Verweis auf die Schwierigkeit an, für bestimmte Förderschwerpunkte ein AO-SF zu stellen: ITT: und dann ist das sehr abhängig vom Förderschwerpunkt und also wenn wir jetzt ein Kind haben von dem wir glauben es ist lernbehindert ist das ganz schwierig einen Förderantrag zu stellen weil (.) oft dann gesagt wird ja das Kind kann ja noch nicht genug Deutsch und deswegen sind die Lernschwierigkeiten da das reicht jetzt nicht aus um eine Lernbehinderung festzustellen (.) wenn dann ein IQ-Test gemacht wird der nicht sprachgebunden ist dann zeigen die Kinder halt auch dass sie nicht lernbehindert sind (.) bei so Kindern die emotional-sozial Schwierigkeiten haben da ist da ist das schon mal leichter je nach je nach Schwere sage ich mal @vorsichtig@ (.) dass da ein Förderantrag gestellt wird (Südschule, Radstadt, SL, Z.388-396) Deutlich wird an der Ausführung, dass die Südschule nicht eigenständig AO-SF durchführen kann, sondern bei der Entscheidung hinsichtlich eines Förderbedarfs von anderen Stellen abhängig ist. Während die Beantragung des Förderschwerpunkts ›Ler-

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

nen‹ durch eine externe Kontrollinstanz sowie ein Testverfahren erschwert wird, scheint ein Förderantrag ›emotional-soziale Entwicklung‹ erfolgversprechender zu sein. Warum dies so ist, kann hier lediglich vermutet werden: Während beim Förderschwerpunkt ›Lernen‹ potenziell mit Hilfe von IQ-Tests abgesichert wird, dass kein Förderbedarf existiert und die Attestierung eines Förderschwerpunkts ›Sprache‹ dadurch erschwert wird, dass durch muttersprachliche Vermittler:innen belegt werden muss, dass nicht nur im Deutschen Sprachprobleme vorliegen, scheint es bei der Zuschreibung von Schwierigkeiten in der ›emotional-sozialen Entwicklung‹ der Schüler:innen weniger geregelte formale Kontrollinstanzen zu geben. Die Attestierung eines Förderschwerpunktes ›emotionale und soziale Entwicklung‹ kann entsprechend einen großen Interpretations- wie auch Handlungsspielraum für Lehrkräfte eröffnen, da hier die Beobachtungen der Lehrer:innen die Grundlage für die Einleitung eines AO-SF darstellen und keine formalen Kriterien wie ›IQ-Tests‹ oder medizinischen Gutachten (s. Kap. 6.6.1). Dieser Lesart folgend scheint es weniger darum zu gehen, bedarfsgerechte Unterstützung für ›Seiteneinsteiger‹ zu ermöglichen. Vielmehr wird scheinbar auf die erfolgversprechendste Handlungsoption zurückgegriffen, um zusätzliche personelle Ressourcen für den Unterricht zu erhalten. Diese Orientierung führt die Schulleitung im weiteren Verlauf der Passage im Modus einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme weiter aus. Auf die Aufforderung durch die Interviewerin hin elaboriert Ittel noch einmal ausführlicher die Erfahrungen mit der Durchführung von AO-SF: JJ: Und welche Erfahrungen machen Sie dann dabei?   ITT: Ist ganz unterschiedlich also das mit der Lernbehinderung habe ich ja gerade schon beschrieben (.) dass Kinder eben dann zeigen dass sie eben nicht lernbehindert sind was wir ja auch meistens schon vermuten aber wir wollen die Kinder entlasten und ihnen die Noten nehmen deswegen stellen wir manchmal Förderanträge ne? in der Hoffnung die gehen durch und das Kind braucht erst mal keine Noten und heben das dann manchmal am Ende der Vier wieder auf (.) aber oft gehen die dann eben nicht durch (Südschule, Radstadt, SL, Z.399-405) Die Schulleitung nimmt hier Bezug auf den zuvor beschriebenen ›schwierigen Fall‹, eine ›Lernbehinderung‹ festzustellen. Auffällig ist, dass Ittel hier ausführt, dass die Schule eigentlich auch schon vorher wüsste, dass bei den entsprechenden Kindern keine ›Lernbehinderung‹ vorliege, sie aber dennoch einen Antrag mit diesem Förderschwerpunkt stellen. Eingeleitet mit einem »aber« begründet Ittel dieses paradoxe Vorgehen. So gehe es darum, die ›Seiteneinsteiger‹ zu »entlasten«, indem sie – wenn sie im zieldifferenten Bildungsgang ›Lernen‹ unterrichtet würden (s. Kap. 6.6.1) – nicht in Form einer notenbasierten Leistungsdifferenzierung beobachtet würden. Es scheint davon ausgegangen zu werden, dass die entsprechenden neu migrierten Schüler:innen dem regulären Unterricht nicht folgen könnten und auch nach der Beendigung der zweijährigen Erstförderung weiterhin einen individuellen Lehrplan benötigten, der an einer geringeren Niveaustufe ausgerichtet ist. Der Förderstatus würde, so Ittel, »manchmal am Ende der Vier wieder auf[gehoben]«. Eine Aufhebung zu diesem Zeitpunkt bedeutet,

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dass die Schüler:innen als ›Regelschüler‹ auf eine weiterführende Schule wechseln und dafür – ebenso wie alle anderen ›Regelschüler‹ – ein reguläres Notenzeugnis und eine Schulformempfehlung erhalten würden. Die Formulierung, dass dies »manchmal« geschehe, deutet jedoch darauf hin, dass dies eher die Ausnahme als die Regel darstellt. Die Regel scheint entsprechend zu sein, dass die einstigen ›Seiteneinsteiger‹ den Förderstatus ›Lernen‹ auch beim Wechsel auf die weiterführende Schule beibehalten und entsprechend mit geringerer Wahrscheinlichkeit einen Regelschulabschluss erhalten. Aus dem Interview mit der Schulleitung der Südschule lässt sich schließen, dass mit der Einleitung von sonderpädagogischen Förderverfahren keine ›Seiteneinsteiger‹ von der Schule verwiesen werden sollen. So führt auch ein AO-SF mit Schwerpunkt ›Lernen‹ nicht zur Exklusion aus der Schule. Durch die Durchführung eines solchen sonderpädagogischen Verfahrens werden davon betroffene ›Seiteneinsteiger‹ jedoch gezielt von schulischen Normalitätserwartungen hinsichtlich der möglicherweise zu erreichenden Lernziele exkludiert. Durch einen nahtlosen Übergang vom ›Seiteneinsteiger‹ zum ›Inklusionskind mit Förderschwerpunkt Lernen‹ können diese weiterhin (ziel-)different unterrichtet werden und wechseln damit nicht vollständig in den Regelbetrieb der Schule. Bedeutsam ist, dass die Einleitung eines AO-SF, welches mit gravierenden Auswirkungen auf die jeweilige Bildungsbiografie der Schüler:innen verbunden ist, nicht durch konkrete Förderbedarfe oder medizinische Dispositionen begründet wird, sondern mit einer antizipierten Frustration oder Überforderung der ›Seiteneinsteiger‹ im Regelunterricht, vor der diese geschützt werden sollten. Es lässt sich die Orientierung rekonstruieren, dass das Festhalten an einem Sonderstatus für ehemalige ›Seiteneinsteiger‹ oder die Transformation des Status ›Seiteneinsteiger‹ in den Status ›Inklusionskind‹ zum Vorteil für ›Seiteneinsteiger‹ sei, da sie dann nicht mit dem Erreichen von Klassenzielen – die sie in dieser Perspektive ohnehin nicht erreichen könnten – und den entsprechenden schlechten Noten belastet würden. Das Handeln der Schule würde demnach zum Schutz der Schüler:innen bzw. zum Schutz des Kindeswohls erfolgen. Auch in der Gruppendiskussion mit Lehrkräften an der Südschule wird die von der Schulleitung beschriebene Praxis der Einleitung von AO-SF für ›Seiteneinsteiger‹ thematisiert. Es lässt sich jedoch interessanterweise eine andere Orientierung als im Schulleitungsinterview rekonstruieren. So wird die Einleitung eines AO-SF hier nicht mit dem Hinweis auf die Gewährleistung des Kindeswohls begründet, sondern eindeutig als Handlungsentlastung für Lehrkräfte gerahmt. In der im Folgenden analysierten Passage wird zu Beginn von Vorbereitungslehrkraft Url darauf hingewiesen, dass die Lehrkräfte in der Vorbereitungsklasse den »Luxus« (Südschule, Radstadt, LK, Z.291) hätten, keine Noten vergeben zu müssen und die ›Seiteneinsteiger‹ in der Vorbereitungsklasse mehr Zeit zum Lernen hätten als in der Regelklasse.56 Diese Orientierung wird durch die Klassenlehrer:innen Boldt und Sonnberg validiert: UR: und das ist in den anderen Klassen dann ja ein bisschen anders ne?   BOL:                                                                                                                                                └ja richtig 56

Dieser Teil der Interviewpassage wurde bereits in Kapitel 6.4.3.2 im Hinblick auf die Leistungsmarkierung von ›Seiteneinsteigern‹ an der Südschule analysiert.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

SON:                                                                                                                  └und   wir versuchen eben einfach auch vieles durch Differenzierung zu lösen aber wie geja sagt gewisse Standards müssen einfach erfüllt sein am Ende des vierten Schuljahres können wir ja auch nicht sagen ok du kannst jetzt zwar nur ne? sagen wir mal bis hundert rechnen aber macht ja nichts @ne?@ also das ge- dann dann müssen eben dann   ?:                                                                                          └ja   SON: müssen wir sehen wenn die wenn die Lücke zu groß ist müssen wir dann eben AO-SF einleiten und sagen ok (.) ne? das bringt uns jetzt hier nicht weiter das kann jetzt nicht mehr innerhalb von einem halben Jahr noch aufgeholt werden ne? und aber trotzdem haben wir die Kinder ja weiterhin in unserer Klasse und die müssen ja auch auf ihrem Niveau weiterarbeiten und dementsprechend müssen dann eben gucken dass wir allen irgendwie gerecht werden und gucken dass das wir bei den Themen dann differenzieren (Südschule, Radstadt, LK, Z.292-306) Das didaktische Prinzip der »Differenzierung« wird hier als eine Lösung für das Problem genannt, sehr unterschiedliche Niveaustufen in der Regelklasse unterrichten zu müssen. Gleichzeitig wird aber auf die Grenzen dieser Praxis hingewiesen, da bspw. beim Übergang in die weiterführende Schule ein bestimmter Wissensstand erreicht sein müsse. Während großen Niveauunterschieden bis zum Wechsel der Schulform keine besondere Bedeutung zugeschrieben wird, scheint es für die Versetzung in die Sekundarstufe ein Problem darzustellen. Hinsichtlich ›zu großer Wissenslücken‹ hätten die Lehrkräfte, so hält Sonnberg durch die Wiedergabe direkter Rede (Z.298-299) fest, keinen Spielraum. Deutlich auszumachende Bildungslücken zu ignorieren, wird als abwegig dargestellt und von einer weiteren Lehrkraft mit einem »ja« direkt am Anschluss an das lachend gesprochene »ne?« validiert. Als einzige Lösung des beschriebenen Problems der ›zu großen Wissenslücken‹ von ›Seiteneinsteigern‹ beim Übergang in die Sekundarstufe wird die Einleitung eines sonderpädagogischen Förderverfahrens benannt. Indem dreimal von »dann müssen«, »dann müssen«, »müssen wir dann eben« gesprochen wird, wird auf die Zwangsläufigkeit der Einleitung eines AO-SF verwiesen. Es wird dabei – homolog zur Flussschule – nicht festgehalten, welche sonderpädagogische Unterstützung in diesem Fall angestrebt würde. Dies könnte darauf hindeuten, dass es nicht von Bedeutung ist, welches Förderverfahren bewilligt wird, sondern dass das vornehmliche Ziel darin besteht, das entsprechende Kind nicht als ›Regelschüler‹ in die Sekundarstufe zu überführen. Diese Orientierung deckt sich mit der bereits im Interview mit der Schulleitung Ittel rekonstruierten Orientierung, dass es nicht darum gehe, einen bestimmten Förderbedarf festzustellen. Warum von den Lehrkräften aber – anders als von der Schulleitung – gerade beim Übergang in die Sekundarstufe die Einleitung eines sonderpädagogischen Verfahrens angestrebt wird, wird bei einem Blick auf das Übergangsverfahren nachvollziehbar: Wenn der Übergang in die Sekundarstufe ansteht, müssen für das formale Selektionsverfahren Entscheidungsprä-

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missen – i.d.R. durch die Erzeugung von Schulnoten – generiert werden, die zu einer äußeren Differenzierung auf unterschiedliche weiterführende Schulformen beitragen. Die Lernzielbefreiung von ›Seiteneinsteigern‹ während der zweijährigen Erstförderung wird also an dem Punkt zu einem Problem für die Lehrkräfte, an dem die ›Seiteneinsteiger‹ den ›Seiteneinsteiger‹-Status verlassen und formal zu ›Regelschülern‹ werden, aber dennoch nicht die Kriterien für einen regulären Schulformwechsel erfüllen. ›Seiteneinsteiger‹ können durch die Zuweisung (irgend-)eines sonderpädagogischen Förderbedarfs einerseits aus dem regulären Übergangsverfahren an der Entscheidungsstelle Grundschule–Sekundarstufe und andererseits aus dem Verfahren der Klassenwiederholung bei Nicht-Erreichen der Klassenziele exkludiert werden. So wird durch die Einleitung eines AO-SF zum einen eine Lösung für fehlende Beobachtungsprämissen in Bezug auf die formale Entscheidungsstelle ›Übergang in die Sekundarstufe‹ generiert, zum anderen wird gleichzeitig ein ggf. durch Klassenwiederholungen entstehendes personelles Ressourcenproblem57 gelöst, indem die entsprechenden vormaligen ›Seiteneinsteiger‹ auf eine weiterführende Schule verwiesen werden können, auch wenn sie das Klassenziel der 4. Jahrgangsstufe nicht erreicht haben. Im Modus einer exemplifizierenden Erzählung plausibilisiert Klassenlehrkraft Boldt im weiteren Verlauf der Passage, dass es in jedem Fall an den Schüler:innen selbst – und nicht am Unterricht(-smodell) der Südschule – liege, wenn sonderpädagogische Förderverfahren eingeleitet werden müssten. BOL: also ich habe jetzt beispielsweise Markus zum Beispiel war auch vorher in der Willkommensklasse kam dann in der dritten Klasse zu mir ist jetzt in der Vierten (.) und der hat sich unglaublich entwickelt hat aber natürlich sprachlich total Schwierigkeiten war in Mathe ganz ganz weit zurück und da kann man dann halt auch gucken je nachdem wie viel holt er auf also Mathe ist er jetzt auf dem Stand der anderen Kinder also ist richtig gut geworden sprachlich hat er halt noch Schwierigkeiten dann schreibt man halt so ein AO-SF in Sprache dass er wirklich nur da Unterstützung kriegt dann hat er halt auch ganz andere Chancen dann auf der weiterführenden Schule einen anderen Abschluss zu machen (.) nur wenn man natürlich ein Kind hat wie meine Stefanie beispielsweise die war drei Jahre glaube ich in der Willkommensklasse ist jetzt auch bei mir seit der Dritten (.) die hat sich so gut also die hat sich entwickelt ja aber minimal und ganz langsam und da weiß man halt eben die braucht auf jeden Fall immer deutlich Hilfe und Unterstützung die wird niemals irgendwie da rankommen wo die anderen stehen da muss man dann halt eben vorher sagen ok dann muss man da so ein AO-SF in Lernen schreiben (Südschule, Radstadt, LK, Z.319-333)

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Es kann auf der Grundlage des Interviews mit Schulleitung Ittel vermutet werden, dass ein Ressourcenproblem durch Klassenwiederholungen dadurch entstehen könnte, dass alle Schulklassen an der Südschule bereits sehr voll belegt und die Schule vollkommen ausgelastet ist. Regelmäßige Klassenwiederholungen von neu migrierten Schüler:innen in der vierten Jahrgangsstufe würden dann zu einer Überbelegung der Klassen führen.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Anhand zweier exemplifizierender Erzählungen, zunächst des Schülers ›Markus‹ als positivem Horizont – und anschließend des Beispiels der Schülerin ›Stefanie‹ als negativem Gegenhorizont – wird eine intrakategoriale Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹, die positive Lernentwicklungen aufwiesen und nur noch wenig Unterstützung bräuchten und ›Seiteneinsteigern‹, die dauerhaft auf viel Unterstützung angewiesen seien, aufgemacht. ›Seiteneinsteiger‹ Markus wurde bereits zu Beginn des Interviews als positives Beispiel erwähnt58 und wird auch hier als ›Seiteneinsteiger‹ präsentiert, der seine Wissensrückstände im Fach Mathematik vollständig aufgeholt habe. Gleichzeitig ist es jedoch für Boldt nicht weiter erklärungsbedürftig, dass Markus – auch nach mindestens zwei Jahren in der Südschule – immer noch »natürlich sprachlich total Schwierigkeiten« habe.59 Sein Sprachverständnis scheint sich zwar verbessert zu haben – so spricht die Lehrkraft zunächst von »total[en] Schwierigkeiten«, die Markus zu Beginn gehabt habe und benennt diese zum späteren Zeitpunkt als »halt noch Schwierigkeiten«. Dennoch wird die Entwicklung als nicht ausreichend gewertet und geschlussfolgert, dass ein AO-SF ›Sprache‹ geschrieben werden müsse. Hier wird deutlich, dass ein AO-SF ›Sprache‹ von Boldt als eine gezielte Fördermaßnahme bei Defiziten in der deutschen Sprache entworfen wird. Dies ist besonders interessant, da fehlende Deutschkenntnisse »auf Grund einer anderen Herkunftssprache« keine Einleitung eines AO-SF erlauben (§ 20 AO-SF, s. Kap. 6.6.1), was an den anderen Schulen, so konnte bereits herausgearbeitet werden, auch antizipiert wird. Warum dieses Vorgehen (dennoch) für sinnvoll erachtet wird, wird von der Lehrkraft erläutert: Der Schüler bekomme dadurch nicht nur gezielte Unterstützung, sondern habe auch »ganz andere Chancen […] einen anderen Abschluss zu machen«. Worauf sich die Bezeichnung »andere[r] Abschluss« bezieht, kann in dieser Passage nicht abschließend geklärt werden. Eine spätere Passage, in der der Schüler Markus nochmals erwähnt wird, gibt hier jedoch Aufschluss: BO: mein Markus da würde mich nicht w- das würde mich nicht wundern wenn der jetzt auf der Hauptschule richtig super weitermacht und hinterher irgendwo eine Ausbildung macht oder sonst irgendwie was richtig gut (Südschule, Radstadt, LK, Z.622-624) Die Durchführung eines AO-SF mit Schwerpunkt Sprache scheint als positiv entworfen zu werden, da dieser Förderstatus dem Schüler überhaupt die Chance auf einen Regelschulabschluss – sei es auch an einer niedrigqualifizierenden Hauptschule – ermögliche. Genauso wie bereits in Bezug auf die Attestierung eines Förderschwerpunktes ›Lernen‹ durch die Schulleitung Ittel wird ebenfalls die Zuschreibung eines Förderstatus ›Sprache‹ von den Lehrkräften als positiv für die ›Seiteneinsteiger‹ verhandelt. Während Ittel jedoch auf eine angenommene psychologische/emotionale Entlastung verweist,

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BOL: »manchmal hat man Kinder wie mein Markus jetzt zum Beispiel der unglaubliche Fortschritte macht und jetzt also wo man einfach wirklich diese Entwicklung sieht der hat sich unglaublich gesteigert und das ist halt toll zu sehen ne?« (Südschule, Radstadt, LK, Z.146-148) Auffällig ist, dass hier – wie in vielen Interviews – nicht davon gesprochen wird, dass der Schüler Schwierigkeiten in der deutschen Sprache habe, sondern verallgemeinernd von ›sprachlichen Schwierigkeiten‹ gesprochen wird.

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wird von den Lehrkräften die Einleitung eines Verfahrens mit der Möglichkeit begründet, einen Schulabschluss zu erreichen.60 Mit der zweiten exemplifizierenden Erzählung der Schülerin ›Stefanie‹ wird ein negativer Horizont aufgespannt, der als Gegenhorizont deutlich vom positiven Horizont des ›Seiteneinsteigers‹ Markus abgegrenzt wird. Boldt elaboriert, dass Stefanie zwar bereits länger in der Vorbereitungsklasse geblieben sei als üblich und zusätzlich zurückgestuft worden sei, bei ihr aber dennoch ein zu geringer Lernfortschritt erkennbar sei. Während Markus gezielte Unterstützung im Bereich Sprache benötige, wird für Stefanie ein generalisierter Unterstützungsbedarf angenommen und eine positive Entwicklungsprognose an der Regelschule vollständig ausgeschlossen. Deutlich wird dies durch die Formulierungen »braucht auf jeden Fall immer deutlich Hilfe« und der verabsolutierenden Aussage »die wird niemals irgendwie da rankommen«, mit denen die Notwendigkeit der Einleitung eines AO-SF mit dem Förderschwerpunkt Lernen begründet wird. Regelklassenlehrkraft Boldt verweist darauf, dass beide hier genannten Schüler:innen die Vorbereitungsklasse besucht haben und zu einem ähnlichen Zeitpunkt in die Regelklasse von Boldt gewechselt sind. Sie werden also als Schüler:innen mit vergleichbaren schulischen Ausgangsbedingungen ausgewiesen, die dennoch ganz unterschiedliche Entwicklungen zeigten. Dass die Schülerin Stefanie, trotz der gleichen Förderung, immer noch erhebliche Rückstände aufweise, könne – dieser Lesart folgend – entsprechend nicht dem Unterricht an der Südschule zugeschrieben werden, sondern muss im Kind selbst begründet liegen. Ebenso wie bereits zuvor von Klassenlehrkraft Sonnberg formuliert, hält Boldt hier – nun in Bezug auf Stefanie – fest, dass es keine andere Wahl gebe, als ein AO-SF ›Lernen‹ einzuleiten (»muss man dann halt […] muss man da«). Die Einleitung eines sonderpädagogischen Förderverfahrens wird in diesem Fall als einzig verbliebene schulische Handlungsoption präsentiert und durch den Vergleich mit dem Schüler Markus – der sich trotz angenommener gleicher Ausgangsbedingungen positiv entwickelt habe – plausibilisiert. Deutlich wird mit Blick auf die beiden Interviews an der Südschule, dass die Begründung, warum jeweils ein AO-SF eingeleitet werden müsse, sich zwischen den Lehrkräften und der Schulleitung unterscheidet. Gleichzeitig wird in beiden Fällen die Durchführung eines Verfahrens als einzig verbliebene organisatorische Option zur Lösung des Problems eines fehlenden Passungsverhältnisses von bestimmten ›Seiteneinsteigern‹ in Bezug auf die Normalitätserwartungen an ›Regelschüler‹ entworfen. Durch die Möglichkeit der Durchführung von sonderpädagogischen Verfahren eröffnet sich für die Schule ein Entscheidungsspielraum, durch den sie einerseits zusätzliche Ressourcen für den Unterricht erzeugen und andererseits Beobachtungsprobleme an der Entscheidungsstelle Übergang Grundschule–Sekundarstufe lösen kann. Mit den Hinweisen, dass die Verfahren manchmal scheitern würden, wird gleichzeitig jedoch deutlich, dass der Entscheidungsspielraum der Schule durch externe – hier nicht weiter konkretisierte – Stellen eingeschränkt wird; die Schule also nicht eigenständig und autonom entscheiden kann, da Entscheidungsoptionen blockiert werden können. 60

Offen bleibt an dieser Stelle, ob mit dem AO-SF Sprache auf eine zielgleiche oder eine zieldifferente Beschulung abgezielt wird.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Fallübergreifende Zusammenführung Durch die Rekonstruktionen an den vier Grundschulen wird erkennbar, dass sich die rechtlichen Vorgaben zur Eröffnung und Durchführung von AO-SF für ›Seiteneinsteiger‹ auf die Praxis an den Schulen auswirkt. So scheint der ›Seiteneinsteiger‹-Status, entsprechend den rechtlichen Vorgaben in NRW, an den untersuchten Schulen tatsächlich einen ›Schutzstatus‹ vor der Einleitung eines AO-SF darzustellen. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass die Lehrkräfte dennoch bereits während der zweijährigen Erstförderung auf die Notwendigkeit der Einleitung von sonderpädagogischen Verfahren für bestimmte ›Seiteneinsteiger‹ hinweisen, die eingeleitet würden, sobald die zweijährige Erstförderung beendet werde. Die Entscheidung, formell ein AO-SF zu beginnen, wird also schon informell innerhalb der zweijährigen Erstförderung getroffen. Es werden entsprechend bereits während der zweijährigen Erstförderung Entscheidungsprämissen generiert, die, sobald die Verfahren formal möglich sind, in Entscheidungen umgesetzt werden. Insofern schützt der ›Seiteneinsteiger‹-Status zwar vor der formalen Einleitung eines Verfahrens, er bietet jedoch keinen Schutz vor einer vorzeitigen informellen Klassifizierung als ›Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹. Dabei zeigt sich, dass auch die informelle Klassifizierung folgenreich für die bildungsbiografische Zukunft der ›Seiteneinsteiger‹ ist, da die formale Klassifizierung durch die rechtlichen Vorgaben lediglich zeitlich aufgeschoben wird. Die Rekonstruktionen an der Bergschule und der Waldschule deuten darauf hin – ohne dass diese These endgültig bestätigt werden kann –, dass insbesondere diejenigen ›Seiteneinsteiger‹, die als ›Roma‹ oder ›Rumänen‹ und in der Folge als ›besonders problematische‹ Schüler:innen beobachtet werden, von der frühzeitigen Klassifikation als ›Inklusionsschüler‹ betroffen sind.

6.6.2.2

Universelle Adressierung aller ›Seiteneinsteiger‹ als ›Inklusionsschüler‹ während der Erstförderung

Während für die Südschule, die Bergschule, die Flussschule und die Ostschule rekonstruiert werden konnte, dass die Adressierung von ›Seiteneinsteigern‹ als ›Inklusionsschüler‹ (für die mit Abschluss der Erstförderung ein sonderpädagogisches Verfahren eingeleitet wird) selektiv erfolgt, lässt sich für die Waldschule und die Westschule rekonstruieren, dass dort alle ›Seiteneinsteiger‹ bereits während ihres zweijährigen Status als ›Seiteneinsteiger‹ inoffiziell als ›Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ adressiert und vom Regelunterricht exkludiert werden. Zunächst werden die handlungsleitenden Orientierungen an der Waldschule rekonstruiert, um im Anschluss auf homologe Muster an der Westschule zu verweisen.   An der Waldschule beginnt die Passage mit einer immanenten Frage der Interviewer:in nach dem Einbezug sonderpädagogischer Lehrkräfte in die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹. Dabei wird Bezug zu einer früheren Aussage von Vorbereitungslehrkraft Fuchs genommen, dass ein Großteil der ›Seiteneinsteiger‹ sich auf »Förderschulniveau« bewegten und auch von einer »Förderlehrkraft« betreut werden könnten (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.208-211).61

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FU: Großteil der Kinder die jetzt hier zu uns gekommen sind haben das eben nicht und sind teilweise wirklich ja (.) was man so ich weiß nicht ob man das so sagen kann aber wie wie Förderschulniveau ne? also die die könnten genauso gut jetzt von einer Förderlehrkraft betreut werden (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.208-211), siehe Analyse der Passage in Kapitel 6.5.2.1.

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FU:                  └also es ist so da kommt wieder das nächste Problem unsere Kolleginnen die für die (.) ja GL-Kinder oder Gemeinsam-Lernen-Kinder zuständig ist die ist auch relativ kurz und wenig nur an der Schule die überhaupt mal zu erwischen die ist nämlich irgendwie an zwei oder drei Schulen gleichzeitig in der Woche und die kommt und ist dann auch schon wieder weg das heißt da jetzt Zeit für Austausch und Gespräche zu finden ist schon schwierig ich hab das im letzten Schuljahr eher mal geschafft da war die paar Stunden mehr hier und habe versucht von ihr Informationen zu bekommen über Materialien die sich vielleicht auch für diese Kinder eignen würden weil ich dachte wenn das besonders runtergebrochen ist von (.) ne? vom Niveau vielleicht ist dann auch sprachlich leichter musste dann aber feststellen dass es Deutsch es sich nicht eignet also dass die Sachen trotzdem noch zu schwierig sind für die Kinder hier zu verstehen und ich habe mich dann selber auch auf die Suche gemacht und hab aber jetzt sogenannte Inklusions(.)materialien gefunden für Mathematik (.) das heißt zu bestimmten Lehrwerken jetzt noch mal dann runtergebrochen auf ja ganz einfache Strukturierungen und ne? kaum Text oder ne? dass die Kinder einfach nur die Aufgaben haben in Mathematik aber jetzt der Austausch also ne das ist auch wieder (.) sehr spezielle Bereich (.) der wieder anders ist als das was was ich jetzt mache weil bei mir geht es ja darum ja wie mache ich das jetzt sprachlich wie vermittel ich das sprachlich? und da sagt dann die Förderschulkollegin hmm da hab ich ja den Vorteil die Kinder verstehen mich ja schon gut ich muss es halt erst mal nur intellektuell runterbrechen aber bei mir sind jetzt so zwei Sachen ne? ich weiß ja oft noch nicht mal wie gut beherrschen die überhaupt ihre Muttersprache? worauf bauen ich denn überhaupt auf? (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.502-523) Mit der Erzählung zum Austausch über Inklusionsmaterial validiert Fuchs die von der Interviewerin nochmals eingebrachte und bereits zuvor von Fuchs elaborierte, Orientierung, dass es sich bei den meisten ›Seiteneinsteigern‹ um ›GL-Kinder‹ handele, für die eigentlich eine sonderpädagogische Fachkraft zuständig sei. Da die entsprechende Lehrkraft jedoch nur wenige Stunden in der Woche an der Schule ist, kann auf diese personelle Ressource im Unterrichten der ›Seiteneinsteiger‹ nicht zurückgegriffen werden, was als problematisch gekennzeichnet wird (»das nächste Problem«). Eine Lösung für das Problem der begrenzten sonderpädagogischen Ressourcen stellt nun das Ausweichen auf die Adaption des sonderpädagogischen Unterrichts – durch die Nutzung sonderpädagogischer Unterrichtsmaterialien – dar. Bei dieser Praxis muss die Vorbereitungslehrkraft jedoch feststellen, dass die ›Seiteneinsteiger‹ selbst mit dem Inklusionsmaterial nicht zurechtkämen, da dieses immer noch zu schwer sei. Ebenso wie bereits an der Bergschule, der Ostschule und der Flussschule rekonstruiert werden konnte, wird auch an der Waldschule keine Differenzierung unterschiedlicher sonderpädagogischer Fördermaßnahmen vorgenommen. Vielmehr scheint eine sonderpädagogische Förderung allgemein für die Option des Unterrichtens von Schüler:innen auf einer niedrigeren Niveaustufe oder für die Möglichkeit einer unterrichtlichen Trennung zwischen ›Regelschülern‹ und ›Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ zu stehen. An diese Orientierung anknüpfend elaboriert Fuchs den Unterschied zwischen der Tätigkeit von GL-Lehrer:innen und ihrer:seiner eigenen Arbeit mit ›Seiteneinsteigern‹. Im Gegensatz zur GL-Lehrkraft müsse Fuchs sich mit zwei Anfor-

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derungen gleichzeitig befassen: mit der Herausforderung, Inhalte sprachlich zu vermitteln und der Herausforderung, Inhalte dem ›intellektuell geringeren Niveau‹ der ›Seiteneinsteiger‹ anzupassen. Hier lässt sich die Orientierung rekonstruieren, ›Seiteneinsteiger‹ nicht nur wegen (vermeintlich) fehlender Deutschkenntnisse, sondern auch aufgrund angenommener intellektueller Schwierigkeiten als potenzielle ›Inklusionsschüler‹ zu betrachten. Aufgrund begrenzter sonderpädagogischer Ressourcen, die sich aus der rechtlichen Verunmöglichung, formal ein AO-SF durchzuführen, ergeben, kann sich keine sonderpädagogische Lehrkraft mit den ›Seiteneinsteigern‹ befassen. Gelöst wird dieses Problem an der Waldschule in Form eines ›Als Ob‹ (vgl. Ortmann 2004). Der Unterricht wird in der Vorbereitungsklasse so abgehalten, als ob die ›Seiteneinsteiger‹ ›Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ seien. An der Waldschule ist es also unerheblich, ob formal ein Förderstatus zugewiesen wird, da die unterrichtliche Praxis in der Vorbereitungsklasse bereits informell auf der Annahme beruht, dass alle ›Seiteneinsteiger‹ einen sonderpädagogischen Förderbedarf hätten. Auch wenn formal noch kein AO-SF durchgeführt wurde, wird durch diese Unterrichtspraxis bereits eine Faktizität geschaffen, die sich – so lässt sich vermuten – gleichfalls in zukünftigen Entscheidungen widerspiegelt.62 Anders als die Vorbereitungslehrkraft, die alle ›Seiteneinsteiger‹ als potenzielle ›Inklusionsschüler‹ beobachtet, nimmt die Schulleitung der Waldschule eine Differenzierung zwischen unterschiedlichen ›Seiteneinsteigern‹ vor und führt aus, dass nicht alle, sondern eine bestimmte ›Gruppe von Seiteneinsteigern‹, sonderpädagogische Förderungen benötige. JJ: Wie erleben sie so die Kinder in der Schule?   LIN: Auch ganz unterschiedlich also es kommt immer drauf an wo sie herkommen sag ich jetzt mal also wir hatten (.) einen Kind au- aus Syrien das ist schon länger also es war jetzt nicht diese diese aktuelle Flüchtlingsstrom aus Syrien sondern der war schon vor anderthalb Jahren ist der zu uns gekommen man merkte aber dass der völlig ja völlig traumatisiert war ne also der hatte am Anfang konnte der kaum irgendwie einen anderen Menschen angucken und versteckte sich unterm Tisch und war also bei Geräuschen auf dem Schulhof auch zuckte er zusammen da haben die Kinder so mit Rollbrettern übern übern Schulhof gerollt und dann dass waren das schien ihn an irgendwelche Geräusche zu erinnern aus dem also der hat den Krieg wirklich leibhaftig erlebt und der hat bei uns eine unglaublich tolle Entwicklung genommen in den anderthalb Jahren wo der bei uns war […] und ja den haben wir nachher zum Gymnasium geschickt weil der wirklich einfach total fit war und dann nachher auch wirklich so unheimlich von sich auch was dazu getan hat ne zu dem Lernen wir haben ein anderes Kind aus Afghanistan gehabt der eben (.) auch sehr lernwillig war und sehr fit auch war der gegen Ende wo sich dann rausstellte dass der anscheinend auch irgendwie so

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Da die Waldschule zum Zeitpunkt des Interviews erst seit ca. 1,5 Jahren ›Seiteneinsteiger‹ unterrichtet, wurden von den Lehrkräften noch keine Aussagen zur formellen Einleitung von Verfahren nach Beendigung der zweijährigen Erstförderung getroffen.

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traumatisiert war das aber irgendwie so abgespalten hat das kam dann am Ende erst raus der hat dann wohl tatsächlich auch erlebt wie seine Mutter erschossen wurde im Auto neben ihm und so und also wirklich so ganz heftige Geschichten das zeigte sich am Ende dann erst sodass ein bisschen aufbrach ne? was aus dem geworden ist müsste man gucken also der ist auch auf auf Gymnasium gegangen (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.156-167 + 171-180) Lindemann elaboriert zunächst im Modus einer exemplifizierenden Erzählung einen positiven Horizont und erläutert, dass manche ›Seiteneinsteiger‹ – trotz erheblicher Beeinträchtigungen und traumatischer Erlebnisse – in der Schule so erfolgreich gewesen seien, dass sie auf das Gymnasium überwiesen werden konnten. Beide benannten Schüler seien nicht nur fleißig gewesen, sondern hätten auch gute Grundlagen gehabt, auf die sie aufbauen konnten. Auffallend ist an den Ausführungen der Verweis auf die ›Traumatisierungen‹ beider Kinder und die Erläuterung, wie sich die Traumatisierung beim ›Jungen aus Syrien‹ zeigte. So fällt hier zum einen die umgangssprachliche Bezeichnung »völlig traumatisiert« auf, zum anderen benennt Lindemann beispielhaft eine Reihe von Merkmalen, die auch im ICD-10 als Symptome für die Diagnose einer Traumatisierung oder einer posttraumatischen Belastungsstörung genannt werden. Hierzu gehört Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen und Rückzug, Angst, Schreckhaftigkeit und Flashbacks, die aufgrund des Erlebens stark belastender Umstände entstehen können (vgl. ICD-10 F43.1). Dies deutet darauf hin, dass die Schulleitung sich intensiver mit dem Thema ›Traumatisierung‹ auseinandergesetzt hat und ein besonderes Verständnis für die psychisch belastende Situation zeigt. Worauf Lindemanns Aussage zu Beginn der Passage hinweist, dass es immer darauf ankomme, woher die ›Seiteneinsteiger‹ kämen, wird zunächst nicht verständlich. Im weiteren Verlauf der Passage zeigt sich jedoch die Bedeutung und Relevanz der Aussage: So wird dem positiven Horizont der geflüchteten Kinder aus Syrien und Afghanistan, die sich trotz erheblicher psychischer Beeinträchtigungen gut entwickelt hätten und auf das Gymnasium gehen konnten, im weiteren Verlauf der Passage der negative Gegenhorizont von als ›rumänisch‹ beobachteten ›Seiteneinsteigern‹ gegenübergestellt, der bis zum Abschluss der Passage anhand mehrerer exemplifizierender Erzählungen entfaltet wird: LIN: ja wir haben aber auch die ganz andere Seite sag ich jetzt mal (…) da haben wir vornehmlich eben diese diese rumänischen Familien bei uns die (.) uns deswegen große Sorgen machen weil (.)die (.) einfach was so (.) ja Sozialkompetenz und überhaupt Thema Gesundheit und Hygiene und so weiter ganz weit unten angesiedelt sind ne und ganz große Schwierigkeiten haben und auch was das Lernen angeht ganz große Schwierigkeiten haben da haben wir da haben wir da zum Beispiel das Problem ((Räusper)) wenn die nicht Deutsch sprechen können wir ja eigentlich kaum irgendwelche Tests durchführen die zeigen dass sie auch im Bereich Lernen oder vielleicht auch sogar in der geistigen Entwicklung zurück sind ne? da haben wir ganz große Schwierigkeiten da haben wir zum Beispiel ein Kind jetzt aus dieser Familie wo wir ganz stark vermuten dass die mindestens lernbehindert ist wenn nicht sogar geistig behindert ist aber es ist schwierig das rauszukriegen ne weil die eben es gibt nicht so viele non-verbale Tests die gibt es schon aber man weiß immer nicht so woher kommt das? woran liegt das? ne? kriegt die zu wenig Schlaf? ist das das Einzige? oder hat die tatsächlich ir-

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

gendwie eine Behinderung? ja und das dauert einfach eine Zeit bis man das rauskriegt ne? und dann haben die fast schon ihren Status wieder verloren ja ne? also da und halt im Bereich Hygiene große Schwierigkeiten immer wieder die gleichen Klamotten und ungepflegt (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.180-197) Direkt zu Beginn der Elaboration macht die Schulleitung – gerahmt von vielen kurzen Pausen, die auf eine Unsicherheit hinsichtlich der zu verwendenden Wortwahl hindeuten – deutlich, dass es im Weiteren um ›rumänische Familien‹ gehe. Als Gegenhorizont zu geflüchteten Kindern aus Afghanistan und Syrien wird nun also die Gruppe der ›Rumänen‹ entworfen. Deutlich wird die Gruppenkonstruktion dabei bereits direkt zu Beginn der Passage durch den bestimmten Artikel »diese rumänischen Familien«. Es lässt sich hier rekonstruieren, dass die ›rumänischen Seiteneinsteiger‹ als Kinder aus prekären Sozialverhältnissen beobachtet werden, in denen ganz andere Prioritäten und Lebensvorstellungen herrschten (s. auch Kap. 6.3.1.6). Aus dieser Beobachtung leitet Lindemann die Annahme ab, dass diese Schüler:innen in der Schule nicht die an sie gerichteten Anforderungen erfüllen könnten. Es wird hier also ein Zusammenhang zwischen einer ›herkunftsbezogenen Prägung‹ und negativen Leistungsprognosen hergestellt und die vermeintliche ›kulturelle Prägung der Rumänen‹ als Disposition für unspezifische allgemeine schulische Leistungsprobleme konzipiert. Als problematisch wird jedoch nicht nur das Lernverhalten der ›rumänischen Seiteneinsteiger‹ beschrieben, sondern auch, dass es schwierig sei, den antizipierten sonderpädagogischen Förderbedarf anhand von ›Tests‹ zu belegen. So formuliert Lindemann durch mehrere Fragen eine Unsicherheit hinsichtlich möglicher Anhaltspunkte im Entscheidungsverfahren.63 Es zeigt sich hier also ein Beobachtungs- und Legitimationsproblem, welches durch die herkunftsbezogene Kollektivadressierung der ›Rumänen‹ (»haben die«) versucht wird zu lösen. Darüber hinaus zeigt sich ebenso wie im Lehrkräfteinterview mit der Formulierung »dann haben die fast schon ihren Status wieder verloren«,64 dass Schwierigkeiten insbesondere dadurch entstünden, dass bis zum Ende der Erstförderung der ›Seiteneinsteiger‹ nur eine begrenzte Zeit für ein AO-SF vorhanden sei. Hier deutet sich das

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Diese Unsicherheit hinsichtlich der Einschätzung der ›Seiteneinsteiger‹ wird auch von den Lehrkräften Fuchs und Baumann formuliert (Z.548-589). So führt Baumann aus: BAU: ja es ist für uns schwierig wir haben zwar Erfahrung mit Förderschulempfehlungen wir sehen dann immer so das Gesamtpaket was ist da? und was ist nicht da? und wir müssen dann hier bei den Seiteneinsteigerkindern noch mal ganz anders wieder schauen es sind viele Faktoren die dann das die Fähigkeiten beeinflussen die da nicht da sind und das rauszubekommen woran liegt es nun? liegt es daran dass das Kind einfach nur Sprache nicht beherrscht? oder ist es einfach der intellektuelle Stand der das Kind daran hindert bestimmte Dinge zu erlernen ne? Und Vorbereitungslehrkraft Fuchs schließt an: FU: und da kann einfach ganz viel passieren also man kann auch Kindern man kann auch Kinder da ungerecht bewerten wenn man zu schnell ist das kann aber übrigens auch den anderen Kindern passieren @ne?@ (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.548-589) So führt die Regelklassenlehrkraft im Hinblick auf die AO-SF aus: »uns sitzt irgendwo hat man immer das Gefühl die Zeit sitzt einem immer im Nacken« (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.576-577)

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erklärte Ziel an, vor oder mit Verlassen des ›Seiteneinsteiger‹-Status einen sonderpädagogischen Förderbedarf zu attestieren. Dies kann auf den Versuch hindeuten, die separierende Beschulungspraxis bei bestimmten ›Seiteneinsteigern‹ aufrecht zu erhalten, indem diese als ›Inklusionskinder‹ in die Regelklasse aufgenommen und der Schule zusätzliche personelle Ressourcen in Form sonderpädagogischer Stunden zur Verfügung gestellt werden. Im Weiteren elaboriert Lindemann im Modus einer Erzählung nochmals die sich bereits andeutende Orientierung, dass ›Rumänen‹ andere Eigenschaften mitbrächten als ›Regelschüler‹, und die ›Herkunft‹ daher ein Anhaltspunkt für die Einleitung sonderpädagogischer Verfahren biete (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.197-205). Dabei zeigt sich deutlich, dass die als ›rumänisch‹ klassifizierten ›Seiteneinsteiger‹ nicht als intellektuell und bildungsmotiviert, sondern ausschließlich praktisch veranlagt markiert werden (»die haben sich irgendwie durchgeschlagen @(.)@ das könnten sie wohl«).65 Anhand eines länger zurückliegenden sowie eines aktuellen Beispiels ›problematischer rumänischer Seiteneinsteiger‹ elaboriert Lindemann anschließend, wie schwierig und zeitaufwendig die Durchführung von AO-SF bei diesen ›Seiteneinsteigern‹ sei (Z.219238). Da nicht immer zeitnahe Lösungen – wie bspw. ein Verweis auf eine Förderschule – realisiert werden könnten, hält Lindemann in Form einer Konklusion abschließend fest: LIN: ich sag mal wir müssen dann für uns hier vor Ort die Lösung finden intern also aber es ist auch nicht so einfach (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.238-240) Hier zeigt sich nochmals, dass die Waldschule ihren Handlungsspielraum, der durch nur geringe externe Kontrollen und vage formulierte bildungspolitische Vorgaben geprägt ist, flexibel nutzt, um eigene praktikable Lösungen zu etablieren. Eine Lösung im Umgang mit als ›problematisch‹ wahrgenommenen ›Seiteneinsteigern‹ stellt einerseits das Durchführen von sonderpädagogischen Verfahren und ein damit ggf. einhergehender Wechsel der entsprechenden ›Seiteneinsteiger‹ auf eine Förderschule dar. Andererseits – dies konnte bereits in Kapitel 6.4.2 rekonstruiert werden – zeigt sich an der Waldschule die Praxis, als problematisch erachtete ›Seiteneinsteiger‹ vollständig vom Regelunterricht zu exkludieren oder sie länger in der Vorbereitungsklasse zu unterrichten, als ihr Status vorsieht. Insbesondere letztere Praxis könnte auf eine Verschiebung der Selektionsentscheidung als Lösung des in dieser Passage verdeutlichten Beobachtungsproblems hinsichtlich der Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs hindeuten. Zusammenfassend kann für die Waldschule aufgezeigt werden, dass hier eine Kollektivadressierung von ›geflüchteten Seiteneinsteigern‹ auf der einen Seite und ›rumänischen Seiteneinsteigern‹ auf der anderen Seite stattfindet. Während der ersteren so konstruierten Gruppe positive Entwicklungspotenziale zugeschrieben werden, werden

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Eine homologe Orientierung kann auch im Lehrkräfteinterview herausgearbeitet werden (s. Kap. 6.7.2.2), in dem die Vorbereitungslehrkraft eine kategoriale Differenzierung zwischen intellektuell begabten ›Regelschülern‹ und handwerklich begabten ›Seiteneinsteigern‹ vornimmt.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

diese den ›rumänischen Seiteneinsteigern‹ abgesprochen und die Einleitung von sonderpädagogischen Verfahren ebenso wie die informelle Exklusion aus dem Unterricht an einer Regelschule durch die Adressierung der ›Seiteneinsteiger‹ als ›Inklusionskinder‹ (und/oder einem Ausschluss aus dem Regelunterricht) als eine mögliche Option für den Übergang in den Regelunterricht begründet.   Auch an der Westschule werden ›Seiteneinsteiger‹ bereits während ihrer zweijährigen Erstförderung als ›Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ adressiert, ohne dass ihnen formal ein sonderpädagogischer Förderstatus zugewiesen wurde. So führt Regelklassenlehrkraft Horn mit Blick auf die ›Seiteneinsteiger‹ in ihrer Klasse aus: HOR:                                                            das heißt die Kinder müssten mit dem Unterricht den wir anbieten auskommen wir versuchen ich weiß nicht wie du das machst die Kinder dann mitzuschicken wenn wir wenn unsere GL-Lehrerin da ist dass die Kinder dann auch mal mitgehen damit sie eine kleine Gruppe hat haben (.) da vielleicht etwas   ABE:                                 └das haben wir auch   HOR: nachholen können das noch mal erklärt wird aber (.) das ist nur so der berühmte Tropfen auf den heißen Stein das ist kein (.) kein durchgängig zufriedenstellendes Konzept (Westschule, Radstadt, LK, Z.114-121)66 Die von Horn beschriebene Praxis, dass ›Seiteneinsteiger‹ im Regelunterricht mit der sonderpädagogischen Lehrkraft ›mitgeschickt‹ würden, bedeutet, dass die ›Seiteneinsteiger‹ mit den anderen Kindern der Klasse, denen formal ein sonderpädagogischer Förderbedarf zugeschrieben wurde, jeweils für mehrere Stunden in der Woche außerhalb des Regelunterrichts von einer sonderpädagogischen Fachkraft unterrichtet werden. Mit dem Hinweis »das haben wir auch« validiert Abel die Ausführung von Horn, bzw. macht Abel deutlich, dass es sich dabei scheinbar um eine etablierte Praxis an der Schule handelt. Auch ohne die formale Durchführung eines AO-SF werden alle ›Seiteneinsteiger‹ durch diese Praxis informell als ›Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ adressiert und (partiell) vom Regelunterricht exkludiert. Dabei wird, wie bereits mehrfach rekonstruiert werden konnte, ebenso an der Westschule nicht nach unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkten differenziert, sondern eine kategoriale Differenzierung zwischen ›Regelschülern‹ und ›GL-Kindern‹ vorgenommen.67 Dabei scheint diese Praxis von der Annahme getragen, dass grundsätzlich ein Passungsproblem zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und der (deutschen) Schule bestünde.

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Der Interviewausschnitt wurde bereits im Kapitel 6.4.2 in einem ersten Schritt analysiert, hier erfolgt nun noch mal eine Einordnung der Passage vor dem Hintergrund von AO-SF Verfahren. Es bleibt dementsprechend auch hier offen, ob der separate Unterricht mit der sonderpädagogischen Lehrkraft zielgleich oder zieldifferent erfolgt.

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Fallübergreifende Zusammenführung Die Praxis, ›Seiteneinsteiger‹ bereits während der zweijährigen Erstförderung als ›Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ zu adressieren, lässt sich neben der Waldschule auch für die Westschule nachzeichnen. An der Waldschule stehen Fragen, wie Unterrichtsinhalte überhaupt an ›Seiteneinsteiger‹ vermittelt werden können, im Mittelpunkt. Zur Lösung dieses antizipierten Passungsproblems von ›Seiteneinsteigern‹ zur deutschen Schule wird innerhalb der vorwiegend parallelen Beschulungspraxis auf ›Inklusionsmaterial‹ zurückgegriffen. Die teilintegrative Unterrichtspraxis an der Westschule hingegen zielt stärker auf die Lösung von personellen Ressourcenproblemen, die bei der täglichen stundenbasierten Teilnahme der ›Seiteneinsteiger‹ am Regelunterricht entstünden. Dieses Problem wird hier durch das Einbinden der sonderpädagogischen Lehrkraft zumindest temporär gelöst. Anders als an der Waldschule, an der die Vorbereitungslehrkraft auf sonderpädagogisches Material im Unterricht mit ›Seiteneinsteigern‹ zurückgreift, werden die ›Seiteneinsteiger‹ an der Westschule im Regelunterricht direkt mit der sonderpädagogischen Lehrkraft mitgeschickt. Auffällig ist, dass an beiden Schulen nicht von Erfahrungen mit der formalen Durchführung von AO-SF berichtet wird. So bleibt offen, ob an die informelle Adressierung der ›Seiteneinsteiger‹ als ›Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ beim vollständigen Wechsel in die Regelklasse eine formale Einleitung eines AO-SF anschließt. Grund für diese nicht erfolgte Thematisierung könnte sein, dass beide Schulen erst seit einem oder seit eineinhalb Jahren ›Seiteneinsteiger‹ unterrichten und entsprechend noch wenig Erfahrungen mit dem Übergang von ›Seiteneinsteigern‹ in den Regelstatus haben.

6.6.3

Vom ›Seiteneinsteiger‹ zum ›Inklusionsschüler‹

An allen Schulen des Samples wird die Einleitung sonderpädagogischer Förderverfahren für neu migrierte Schüler:innen oder die Adressierung neu migrierter Schüler:innen als ›Inklusionsschüler‹ thematisiert. Grundsätzlich lassen sich dabei jedoch zwei unterschiedliche Handlungspraxen hinsichtlich der Ausdifferenzierung einer sonderpädagogischen Förderbedürftigkeit neu migrierter Schüler:innen an den Schulen des Samples unterscheiden: Erstens die Selektion von bestimmten ›Seiteneinsteigern‹ als ›Seiteneinsteiger mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ vor dem Übergang in die Regelklasse (Südschule, Ostschule, Bergschule, Flussschule). Hier werden einzelne Schüler:innen, bereits während sie mit dem Status ›Seiteneinsteiger‹ beschult werden, als ›Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ klassifiziert und ein AO-SF für den Übergang in die Regelklasse vorbereitet. Diese Praxis verweist nochmals auf die herausgearbeitete These (Kap. 6.5.3), dass Vorbereitungsklassen Selektionsorte darstellen, in denen bildungsbiografisch relevante Entscheidungen getroffen werden. Zweitens die universelle Adressierung aller ›Seiteneinsteiger‹ als ›Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ während der zweijährigen ›Seiteneinsteiger-Förderung‹ (Waldschule, Westschule). In diesem Fall werden alle neu migrierten Schüler:innen bereits vor einer offiziellen Durchführung eines AO-SF faktisch als Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf beschult und so vom Regelunterricht exkludiert. Hier zeigt sich der Modus eines ›Als Ob‹ (vgl. Ortmann 2004), mit dem alle neu migrierten Schüler:innen schon vor der Attestierung einer sonderpädagogischen Förderbedürftigkeit so unterrichtet werden, als ob sie einen sonderpädagogischen

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Förderstatus hätten.68 In der Waldschule bedeutet dies, dass ›Seiteneinsteiger‹ in der Vorbereitungsklasse mit Inklusionsmaterial, welches u.a. von der sonderpädagogischen Lehrkraft der Schule bereitgestellt wird, unterrichtet und konsequent als ›Inklusionsschüler‹ adressiert werden. In der Westschule werden ›Seiteneinsteiger‹ hingegen, wann immer möglich, gemeinsam mit den anderen Schüler:innen der Regelklasse, die offiziell einen ›Inklusionsschüler-Status‹ haben, von der sonderpädagogischen Lehrkraft unterrichtet. Entsprechend der jeweils an den Schulen vorhandenen schulorganisatorischen Handlungsoptionen wird also auf verschiedene Lösungsoptionen zurückgegriffen. Da für das Zugreifen auf diese Lösungen kein offizielles sonderpädagogisches Verfahren durchgeführt werden muss, müssen auch keine spezifischen Legitimationen bemüht werden. Durch die inoffizielle Praxis erscheint diese Entscheidung darüber hinaus als wenig überprüf- oder anfechtbar, bzw. es wäre zu vermuten, dass es in vielen Fällen gar nicht bekannt ist, dass neu migrierte Schüler:innen an diesen Schulen so beschult werden. Die schulrechtlichen Vorgaben in NRW, vor der Beendigung der zweijährigen ›Seiteneinsteiger-Förderung‹ keine sonderpädagogischen Verfahren durchzuführen, wird scheinbar an allen Schulen eingehalten. Gleichzeitig lässt sich aber beobachten, dass die rechtliche Bestimmung insofern umgangen wird, als schon während der zweijährigen Erstförderung diejenigen ›Seiteneinsteiger‹ selektiert werden, für die direkt im Anschluss ein AO-SF eingeleitet wird (Südschule, Bergschule, Flussschule, Ostschule)69 , bzw. ›Seiteneinsteiger‹ inoffiziell bereits von Beginn an als ›Inklusionsschüler‹ adressiert und unterrichtet werden (Waldschule, Westschule).   Die Entscheidungen, neu migrierte Schüler:innen inoffiziell oder offiziell als ›Inklusionsschüler‹ zu adressieren, werden an den untersuchten Schulen auf der Grundlage differenter Entscheidungsprämissen getroffen. Dabei wird eine Suche nach Kriterien deutlich, die die Einleitung eines AO-SF oder die inoffizielle Adressierung als ›Inklusionsschüler‹ begründet. 1. An mehreren Schulen des Samples finden sich im Zusammenhang mit der Adressierung von ›Seiteneinsteigern‹ als ›Inklusionsschüler‹ Verweise auf angenommene ›mangelnde deutsche Sprachkenntnisse‹. An der Bergschule wie auch der Ostschule wurde von den interviewten Lehrkräften im Zusammenhang mit der Einleitung sonderpädagogischer Förderverfahren mit dem Schwerpunkt Sprache darauf verwiesen,

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Ortmann hält mit Blick auf Organisationen und der Nutzung einer ›Als Ob‹ Fiktion fest: »Rituale, Routinen, Regeln, Institutionen, die Sprache, organisatorisches Räsonnieren, Entscheiden und Kommunizieren, Vertrauen, Loyalität, Informationsaustausch und Wissenstransfer in Organisationen – sie alle sind auf ein solches Als Ob angewiesen, auf einen Vorgriff, der von seiner nachträglichen Einlösung zehrt, die er selbst bewirkt – jedenfalls bewirken soll.« (Ortmann 2004: 12) Dabei »changiert oder oszilliert« (ebd.: 39) das »›Als Ob‹ der Organisation […] zwischen Substitution, Vortäuschung, nachträglicher Inanspruchnahme und ernstlicher Verfolgung von Zweckmäßigkeiten, und nicht immer schließen diese Varianten einander aus.« (Ebd.: 39) Im Falle der Südschule und der Ostschule wird diese Entscheidung bereits getroffen, bevor die ›Seiteneinsteiger‹ die parallele Beschulung verlassen und überhaupt erstmals eine Regelklasse besuchen.

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dass die entsprechenden ›Seiteneinsteiger‹ nicht nur in Deutsch, sondern auch in ihren jeweiligen ›Muttersprachen‹ sprachliche Defizite aufweisen würden. Durch diese Feststellung wurde die Notwendigkeit der Einleitung von AO-SF begründet. In beiden Fällen wurde von den Lehrkräften nicht ausgeführt, woher die Informationen über die ›Sprachprobleme in der Herkunftssprache‹ stammen. Durch die unspezifischen Angaben zu den ›Sprachproblemen in der Herkunftssprache‹ sowie die Tatsache, dass diese Einschätzung bereits vor der offiziellen Einleitung eines sonderpädagogischen Förderverfahrens feststehen und den Hinweisen, dass die jeweiligen Herkunftssprachen von den Lehrkräften selbst nicht beherrscht werden und (im Falle der Ostschule) darüber hinaus kein Kontakt zu den Erziehungsberechtigten besteht, kann vermutet werden, dass hier keine systematische Überprüfung der sprachlichen Fähigkeiten in der Herkunftssprache vorgenommen wird, sondern diese Defizite lediglich antizipiert werden. Wäre dies der Fall, würde es sich um eine deutliche Missachtung der entsprechenden Vorschrift handeln, die zum Schutz vor Diskriminierung von ›Kindern mit Migrationshintergrund‹ eingeführt wurde (BASS 13-41 v. 01.06.2015). Diese Vermutung kann aufgrund des vorliegenden empirischen Materials jedoch nicht abschließend überprüft werden und kann entsprechend lediglich als Annahme geäußert werden. An der Südschule hingegen wird formuliert, dass bei Schwierigkeiten im Erlernen der deutschen Sprache eine sonderpädagogische Förderung mit dem Förderschwerpunkt ›Sprache‹ angestrebt wird. In diesem Fall wird, anders als an der Bergschule und der Ostschule, gar kein Hinweis auf herkunftssprachliche Fähigkeiten gegeben. Die Vorschrift aus der BASS 13-41 (v. 01.06.2015) scheint hier also entweder nicht bekannt zu sein oder wissentlich missachtet zu werden. 2. Besonders auffällig ist darüber hinaus die Erläuterung der Südschule zur Einleitung sonderpädagogischer Förderverfahren für neu migrierte Schüler:innen. An der Südschule werden für Schüler:innen nach Verlassen des ›Seiteneinsteiger‹-Status AO-SF eingeleitet, wenn ›zu große Wissenslücken‹ für einen problemlosen Übergang der neu migrierten Schüler:innen in die Sekundarstufe angenommen werden oder davon ausgegangen wird, dass die Schüler:innen die Anforderungen einer Regelklasse nicht erfüllen könnten. Ziel der Verfahren ist eine zieldifferente Beschulung, um das Erreichen festgelegter Klassenziele und daran gemessener Noten umgehen zu können. Als diskriminierend erscheint diese Praxis nicht nur, weil von der Schule klar formuliert wird, dass die entsprechenden Kinder eigentlich gar keinen sonderpädagogischen Förderbedarf hätten, sondern auch, weil die Schüler:innen durch diese Praxis i.d.R. auf Dauer aus dem Regelunterricht an Regelschulen ausgeschlossen werden und entsprechend die Erlangung eines Regelschulabschlusses deutlich erschwert, wenn nicht verunmöglicht wird. Die Lehrkräfte an der Südschule handeln damit kontrafaktisch zur Einschätzung, dass eigentlich kein Förderbedarf vorliege, und weisen dies als Strategie aus. 3. Diese Praxis scheint im Zusammenhang mit einer Argumentation zu stehen, die neben der Südschule auch an der Bergschule nachgezeichnet werden konnte: So begründen beide Schulen ihre Praxis, für bestimmte neu migrierte Schüler:innen mit Beendigung des ›Seiteneinsteiger‹-Status ein sonderpädagogisches Förderverfahren einzuleiten, mit der ›Entlastung‹, die die Zuschreibung eines Förderstatus

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

nicht nur für die Lehrkräfte, sondern insbesondere für die Schüler:innen darstelle. Indem darauf verwiesen wird, dass die neu migrierten Schüler:innen durch den neuen Status entlastet und nicht dem Druck einer Regelklasse ausgesetzt würden, wird der Förderunterricht als ein Schonraum entworfen. Wie u.a. durch die Arbeiten von Schumann herausgearbeitet wurde, handelt es sich hierbei um eine weitverbreitete Orientierung, die von der Autorin als »Schonraumfalle« (Schumann 2007: 15) beschrieben wird. Bezogen auf die Argumentationen für die Beibehaltung der Schulform ›Sonderschule‹ führt Schumann kritisch aus, dass sich diese beständig auf das »Schonraumargument« bezögen: »Den Kindern und Jugendlichen, die als Schulversager im Regelsystem ihr Wohlbefinden, ihre Leistungsmotivation, ihre Lernfreude und ihr Selbstwertgefühl verloren haben, soll die Sonderschule als ›Schonraum‹ mit individuell angepassten, bedürfnisgerechten Leistungsanforderungen und persönlichen Hilfestellungen das Verlorene wiedergegeben bzw. ihnen helfen, in der Bezugsgruppe der Sonderschüler/innen ohne den üblichen Konkurrenz- und Leistungsdruck ein positives Selbst- und Leistungskonzept zu entwickeln.« (Ebd.: 16, Herv. im Original) Auch wenn die Zuschreibung eines sonderpädagogischen Status an der Südschule und Bergschule nicht zu einer Überweisung der davon betroffenen Schüler:innen an eine Förderschule führt, scheint die These, dass eine sonderpädagogische Förderung einen ›Schonraum‹ darstelle, hier genauso zu greifen. Indem der Förderstatus als ein entlastender und für die Schüler:innen förderlicher Status entworfen wird, werden gleichzeitig die negativen Konsequenzen, die eine solche Zuschreibung potenziell haben kann – hierzu zählt Schumann neben negativen bildungsbiografischen Folgen u.a. auch negative Auswirkungen auf das Selbstkonzept der so klassifizierten Schüler:innen (vgl. ebd.: 90) – nicht thematisiert und die Schule dadurch entlastet. Die rechtliche Vorgabe, kein sonderpädagogisches Förderverfahren innerhalb der zweijährigen ›Seiteneinsteiger-Förderung‹ durchzuführen, wird vielmehr von den Lehrkräften als nachteilhaft für Schüler:innen und Lehrkräfte verhandelt. Durch die Einleitung sonderpädagogischer Verfahren wird das ›Problem‹ gelöst, dass neu migrierte Schüler:innen während der zweijährigen Erstförderung oftmals nicht nach dem regulären Curriculum für Grundschulen unterrichtet und von Lernzielen befreit wurden. So werden sie zwar formal zu ›Regelschülern‹, werden aber weiterhin als Schüler:innen beobachtet, die nicht den Anforderungen des Regelunterrichts oder eines regulären Schulformwechsels in die Sekundarstufe gerecht werden. Die Annahme, dass bestimmte ›Seiteneinsteiger‹ den Anforderungen der Regelklasse auch nach Beendigung der zweijährigen Erstförderung nicht entsprechen könnten, führt an der Flussschule und der Waldschule dazu, dass ›Seiteneinsteiger‹ nicht aus dem Status entlassen, sondern diese Schüler:innen bis zur erfolgreichen Durchführung eines AO-SF weiterhin als ›Seiteneinsteiger‹ teilintegrativ oder parallel beschult werden. Dies bedeutet, dass die davon betroffenen Schüler:innen über die vorgesehenen zwei Jahre hinaus als ›Seiteneinsteiger‹ unterrichtet werden, um diesen Status lückenlos in den Status ›Inklusionsschüler‹ zu überführen. Die Durchführung eines sonderpädagogischen Verfahrens wird hier als Option zur Lösung

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des Problems eines fehlenden Passungsverhältnisses von bestimmten ›Seiteneinsteigern‹ hinsichtlich der Normalitätserwartungen an ›Regelschüler‹ entworfen. 4. Darüber hinaus wird auch die Klassifikation als ›Roma/Rumäne‹ als Kriterium für die Klassifikation als ›Inklusionsschüler‹ erkennbar. So konnte an der Bergschule, der Waldschule und der Südschule die Orientierung rekonstruiert werden, dass neu migrierte Schüler:innen, die als ›Roma/Rumänen‹ klassifiziert werden, die Fähigkeit abgesprochen wird, erfolgreich und ohne sonderpädagogische Hilfestellung am allgemeinen Bildungssystem teilzunehmen. In den Argumentationen für die Notwendigkeit eines AO-SF werden die ›rumänischen Familien‹ als in ›schwierigen und ökonomisch prekären sozialen Verhältnissen lebend‹ entworfen, in denen ›ganz andere Prioritäten und Lebensvorstellungen‹ herrschten und in denen es ›den Kindern an Unterstützung aus dem Elternhaus mangele‹ (s. Kap. 6.3.1.6). Indem ein Förderschwerpunkt ›emotional-soziale Entwicklung‹ angenommen wird, der vorliegt, »wenn sich eine Schülerin oder ein Schüler der Erziehung so nachhaltig verschließt oder widersetzt, dass sie oder er im Unterricht nicht oder nicht hinreichend gefördert werden kann« (BASS 13-41 v. 01.06.2015), kann die in den Interviews sichtbar werdende Orientierung, Schulleistungen seien das Ergebnis einer durch die ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit geprägten Begabung oder Sozialisation, auch ohne einen direkten Verweis auf eine bestimmte kulturelle Prägung auskommen. Dennoch zeigt sich in den rekonstruierten Orientierungen, dass die Klassifikation als ›Inklusionsschüler‹ eng mit kulturalisierenden, ethnisierenden und sozioökonomischen Zuschreibungen verknüpft wird. Hier scheint ein von Powell und Wagner beschriebenes Phänomen durchzuschlagen, bei dem in der Organisation Schule »die Etiketten des ›sonderpädagogischen Förderbedarfs‹ benutzt [werden], um eine ethnisch-kulturelle Ungleichheit über pädagogische und klinische Definitionen und Diagnosen stärker zu legitimieren.« (Powell/Wagner 2014: 185) Die Eröffnung eines AO-SF scheint an einigen Schulen zu einer dauerhaften Exklusion dieser Schüler:innen aus dem Regelunterricht am Ende einer langen Reihe an exkludierenden Praxen für als ›roma/rumänisch‹ beobachtete ›Seiteneinsteiger‹ darzustellen. Die in Hinblick auf die Einleitung sonderpädagogischer Förderverfahren für diese Schüler:innen rekonstruierten Orientierungen weisen dabei deutliche Bezüge zu antiziganistischen Konstruktionen auf, die eindeutig als Diskriminierungen beschrieben werden können (s. Kap. 6.3.1.6). Mit Blick auf neu migrierte Schüler:innen die ›Roma/Rumänen‹ klassifiziert oder in ähnlicher Weise als ›problematische Schüler:innen beobachtet werden, lässt sich nicht nur eine kumulative Wirkung segregierender Beschulungspraxen nachzeichnen. Vielmehr scheint »die soziale Adresse Behinderung auch als Türöffner für Lösungsideen, die unter dem Stichwort Differenzierung zusammengefasst werden können« (Kaack 2017: 80) zu dienen. Es wird deutlich, dass die (offizielle wie gleichfalls inoffizielle) Zuschreibung eines ›Inklusions-Status‹ an den untersuchten Schulen als eine verfügbare organisatorische

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Lösung für vielfältige ›Probleme‹ verhandelt wird, die im Zusammenhang mit der Beschulung neu migrierter Schüler:innen ausgemacht werden. Zu diesen ›Problemen‹ können ebenso Ressourcenprobleme in Form fehlender Lehrer:innenstunden, wie auch Beobachtungsprobleme im Hinblick auf die Leistungsbeurteilung von neu migrierten Schüler:innen, als auch grundsätzlich angenommene Passungsprobleme der als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen hinsichtlich der ›Normalitätserwartungen‹ der Organisation Schule gezählt werden. Auffällig ist, dass die vorgenommenen Klassifikationen als ›Inklusionsschüler‹ nicht auf konkreten Definitionen eines bestimmten sonderpädagogischen Förderbedarfs (nach BASS 14-41 v. 01.06.2015) oder systematischen Testungs- oder Diagnoseverfahren beruhen. Vielmehr zeigt sich die Klassifikation/Askription als ›Inklusionsschüler‹ als sehr vage, ohne dabei jedoch in der Praxis ihre »Schließungswirksamkeit« (Emmerich/Hormel 2013a: 55; Emmerich 2017: 110) zu verlieren. So stellt sich die Klassifikation/Askription neu migrierter Schüler:innen als ›Inklusionsschüler‹ als potenziell folgenreich dar, da diese Schüler:innen damit systematisch von Lerngelegenheiten des Regelschulbetriebs exkludiert werden. Diese Exklusion kann dabei entweder als temporär – durch das ›Mitschicken‹ von ›Seiteneinsteigern‹ mit der sonderpädagogischen Lehrkraft – oder dauerhaft durch das Unterrichten von neu migrierten Schüler:innen ausschließlich mit Inklusionsmaterialien oder der nahtlosen Überleitung des ›Seiteneinsteiger-Status‹ in einen ›Inklusions-Status‹ erfolgen. Auch wenn keine Aussagen über den weiteren Bildungsverlauf der betroffenen Schüler:innen getroffen werden können, ist davon auszugehen, dass durch diese Praxen Bildungskarrieren als ›Inklusionsschüler‹ angestoßen werden. Diverse Autor:innen weisen auf die Persistenz der Klassifikation/Askription ›Inklusionsschüler‹ und seiner benachteiligenden Wirkungen hin (vgl. Schumann 2007: 18; Hormel 2010: 189; Powell/Wagner 2014: 185; Emmerich 2017: 110). So führt Emmerich aus, dass »die Askription ›Behinderung‹ kategorial erfolgt, insofern sie ein nicht veränderbares Personenmerkmal behauptet: Die Unterscheidung behindert/nicht-behindert manifestiert erwartungsstrukturierte Invarianz und Zeitstabilität, sie determiniert damit strukturell zukünftige Möglichkeiten – etwa die Möglichkeit, dass ein als ›lernbehindert‹ kategorisierter Schüler diese Kategorie jemals wird verlassen können.« (Emmerich 2017: 110, Herv. im Original) Auch wenn der ›Seiteneinsteiger-Status‹ den rechtlichen Vorgaben folgend ein ›Schutzstatus‹ vor der (vorzeitigen) Einleitung eines sonderpädagogischen Förderverfahrens darstellen sollte, zeigt sich in der Praxis, dass der Status ›Seiteneinsteiger‹ ein Risikofaktor für die Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs darstellt, indem an die Klassifikation ›Seiteneinsteiger‹ die diskriminierungsrelevante Klassifikation ›Inklusionsschüler‹ angeknüpft wird.

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6.7

Der Wechsel von der Primar- in die Sekundarstufe70

Die Fragestellung, die im Folgenden im Mittelpunkt steht, lautet, wie die als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen an den untersuchten Grundschulen beim Wechsel von der Primar- in die Sekundarstufe differenziert werden, bzw. wie dieser Übergang organisiert wird. Relevant ist diese Frage deshalb, weil aufgrund der gegliederten Struktur des deutschen Sekundarschulsystems das strukturelle Problem entsteht, dass neu migrierte Kinder und Jugendliche im Schulsystem gemäß der eigenen Logik auf unterschiedliche Schulformen verteilt werden müssen. Hierdurch wird ein ›Zuteilungsproblem‹ erzeugt, welches zum einen entsteht, wenn ›Seiteneinsteiger‹ direkt nach ihrer Einreise weiterführenden Schulen zugewiesen werden (s. Kap. 5), zum anderen aber auch für Grundschulen beim Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe relevant wird. In Rechnung zu stellen ist mit Blick auf letztere Praxis, dass – wie in Kapitel 5.3 herausgearbeitet werden konnte – den Schulen in beiden Kommunen durch die Schulverwaltungen das Angebot gemacht wird, die für den Übergang vorgesehenen ›Seiteneinsteiger‹ durch ihre Mitarbeiter:innen vermitteln zu lassen. In beiden Städten werden die Schüler:innen bei diesem Verfahren ohne Leistungsdifferenzierung entsprechend der jeweils vorhandenen Ressourcen mehr oder weniger zufällig einer weiterführenden Schule zugeteilt. Nach der Skizzierung der bildungspolitischen Vorgaben hinsichtlich der Überweisung von neu migrierten Schüler:innen von der Primar- in die Sekundarstufe in NRW (Kap. 6.7.1) werden drei unterschiedliche Überweisungsverfahren rekonstruiert (Kap. 6.7.2). Abschließend werden die Ergebnisse hinsichtlich der Frage, welche (ungleichheitsrelevanten) Strukturbildungen sich in den Übergangsverfahren andeuten, zusammengeführt (Kap. 6.7.3).

6.7.1

Bildungspolitische Vorgaben in NRW

Alle Schüler:innen durchlaufen in NRW am Ende der Grundschulzeit einen Verteilungsprozess auf das niveaudifferenzierte Sekundarschulsystem. Für Schüler:innen mit ›Seiteneinsteiger‹-Status gilt dabei jedoch eine besondere Vorgabe: So müssen Schüler:innen, die innerhalb der zweijährigen ›Erstförderung‹ in die Sekundarstufe wechseln, auf einer weiterführenden Schule untergebracht werden, die eine ›Seiteneinsteigerförderung‹ anbietet oder Ressourcen für die Beschulung neu migrierter Schüler:innen zur Verfügung gestellt bekommen hat. Da die Schulverwaltungen für die Bereitstellung von Schulplätzen für ›Seiteneinsteiger‹ zuständig sind, sind sie in beiden Städten ebenso in das Übergangsverfahren eingebunden (vgl. MSW NRW 2016, 2015; s. hierzu auch Kap. 5). Daneben ist in den Grundlagen und Zielen der BASS (v. 28.06.2016) festgehalten:

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Teilergebnisse für Flurstadt wurden bereits im folgenden Artikel publiziert: Emmerich, M., U. Hormel & J. Jording, 2017: Prekarisierte Teilhabe. Fluchtmigration und kommunale Schulsysteme. S. 209-222 in: Die Deutsche Schule (3/2017).

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

»Eine besondere Bedeutung kommt den Übergängen von der Kindertageseinrichtung in die Schule, von der Grundschule zu einer weiterführenden Schule sowie von der Schule in eine Berufsausbildung oder ein Studium zu, damit Schülerinnen und Schüler ihre Bildungsbiografie möglichst bruchlos und erfolgreich fortsetzen können.« (BASS, v. 28.06.2016, Abs. 1) Über diese generellen Angaben hinaus finden sich keine weiteren landesrechtlichen Vorschriften für die Ausgestaltung des Übergangs von ›Seiteneinsteigern‹ in die Sekundarstufe. Dies ist besonders bemerkenswert, da gleichzeitig für das Übergangsverfahren von ›Regelschülern‹ in die Sekundarstufe eine ganze Reihe an dezidierten Vorgaben vorliegen, die zum einen die Grundschulen dazu verpflichten, eine begründete Schulformempfehlung auszusprechen (AO-GS NRW, v. 01.06.2016, § 8, Abs. 3) und zum anderen den Eltern die Möglichkeit geben, »nach Beratung durch die Grundschule über den weiteren Bildungsgang ihres Kindes in der Sekundarstufe I« (SchulG NRW, v. 16.12.2016, § 11, Abs. 5) zu entscheiden.   Während für ›Regelschüler‹ – zumindest nach offiziellen Angaben – in erster Linie die Noten der vierten Klasse die Entscheidungsprämisse beim Übergang darstellen (sollen), muss in Bezug auf ›Seiteneinsteiger‹ – aufgrund der oftmals fehlenden ›Markierung‹ der Schüler:innen durch Notenzeugnisse – ein solches Selektionswissen, das eine Verteilung der Schüler:innen auf unterschiedliche Schulformen überhaupt ermöglicht, erst generiert werden. Es stellt sich somit die Frage, woran sich die an der Organisation des Übergangs von ›Seiteneinsteigern‹ involvierten Akteur:innen an den Grundschulen in ihrem Entscheidungshandeln orientieren und welche Entscheidungen vor dem Hintergrund der zur Verfügung stehenden Lösungen getroffen werden.

6.7.2

Praxen der Zuweisung von neu migrierten Schüler:innen in die Sekundarstufe

An den untersuchten Grundschulen lassen sich drei verschiedene Praxen der Zuweisung von neu migrierten Schüler:innen auf Sekundarschulen rekonstruieren. Während an der Bergschule und der Westschule auf die durch die Schulverwaltungen von Flurstadt und Radstadt angebotenen Zuweisungsverfahren zurückgegriffen wird (Kap. 6.7.2.1), erhalten ›Seiteneinsteiger‹ an der Waldschule, der Flussschule und der Südschule ebenso wie ›Regelschüler‹ eine Schulformempfehlung und wechseln wie diese in die Sekundarstufe (Kap. 6.7.2.2). Die Ostschule stellt schließlich einen besonderen Fall dar, da hier als ›besonders leistungsstark‹ beobachtete ›Seiteneinsteiger‹ vor dem Wechsel als ›Regelschüler‹ re-kategorisiert werden, um ihnen einen sicheren Übergang auf ein Gymnasium zu ermöglichen (Kap. 6.7.2.3).

6.7.2.1

Zuweisung durch die Schulverwaltung

Die Bergschule sowie die Westschule lassen neu migrierte Schüler:innen durch die jeweiligen Schulverwaltungen auf das niveaudifferenzierte Sekundarschulsystem zuweisen. Das bedeutet für die Bergschule, die in Flurstadt liegt, dass die als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen ohne das Hinzuziehen pädagogischer Kriterien

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

nicht-schulformspezifisch an eine zufällig ausgewählte weiterführende Schule wechseln. Schüler:innen im ›Seiteneinsteiger‹-Status an der Westschule in Radstadt indes werden nur mit geringer Wahrscheinlichkeit entsprechend der ggf. ausgesprochenen Schulformempfehlung vermittelt.71 Beide in den Schulverwaltungen etablierten Verfahren in Flurstadt und Radstadt beruhen auf einer kategorialen Differenzierung von ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ und werden mit dem Hinweis darauf, dass nach Beendigung der ›Seiteneinsteiger‹-Förderung ein erneuter Schulformwechsel erfolgen könne, legitimiert.   An der Westschule elaborieren Vorbereitungslehrkraft Wild und Schulleitung Neumann im Modus einer Beschreibung, wie das Zuteilungsverfahren von ›Seiteneinsteigern‹ organisiert sei. JJ: Und wie wird da entschieden auf welche Schulform die Kinder? oder welche Schule dann auch die Kinder gehen?   NEU:                                 └also das wird hier in Radstadt vom Schulamt gemacht (.) wir teilen dann nur mit die und die Kinder sind jetzt dran die müssen wechseln und teilen mit was die so ungefähr können wie weit die sind und die gucken dann ob sie die dann eben (.) an eine Hauptschule schicken an eine Realschule wohin auch immer (.) aber gucken eben wirklich auch nach einer Alpha- Al- Alphabetisierungsklasse wo sie dann eben weiter (.) ansetzen können und und (.) da weiter einhaken können wo sie vorher aufgehört haben   JJ: Das heißt Sie Sie sprechen dann auch Schulformempfehlungen aus?   NEU: Soweit es geht ich meine jetzt die Kinder die jetzt wechseln werden die kennen wir jetzt schon sehr viel länger und da können wir schon ein bisschen genauer sagen die könnten da oder da klar kommen ne?   WILD: Also natürlich nicht in dem Sinne wie es bei (.) anderen Kindern gemacht wird das nicht aber man schaut natürlich schon was kann jemand? und wie ((Pausenglocke klingelt)) wie lernt ein Kind? hat es eine schnelle Auffassungsgabe? wo käme es klar ne? wie ist das in wie ist das wie kommt es in Mathe klar? das das sieht man ja dann schon ne? und das sind ja auch viele Eigenschaften die dazu führen wo- zu dieser Entscheidung wo schicken wir ein Kind hin es ist ja nicht nur das reine ja kann ich das Einmaleins ja nein da- dann auf die und die Schule also es sind ja nicht nur Fertigkeiten die Kinder besitzen müssen um auf eine bestimmten Schulform zu wechseln (.) deswegen also man schaut natürlich schon wo wären die Kinder gut untergebracht? aber die Entscheidung ist nicht in unserer Hand (Westschule, Radstadt, SL/LK, Z.495-516) Neumann und Wild weisen die Schulformentscheidung beim Übergang in die Sekundarstufe als eine Entscheidung durch das Schulamt von Radstadt aus. Erkennbar wird 71

Siehe Zuweisungspraxen in den beiden Städten, Kapitel 5.3.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

dies nicht bloß durch die von Neumann in Reaktion auf die Interviewer:innenfrage aufgebrachte Proposition »das wird hier in Radstadt vom Schulamt gemacht«, sowie der Konklusion von Wild, dass die Entscheidung »nicht in unserer Hand« liege, sondern darüber hinaus implizieren auch die von Neumann genutzten Formulierungen »wir teilen dann nur mit« und »die gucken dann« eine klare Aufgabenteilung, in der die Schule lediglich einen passiven Part der Informationsvermittlung übernimmt, während die Schulverwaltung aktiv Entscheidungen trifft. Interessant ist, dass sich die von Neumann und Wild an die Schulverwaltung übermittelten Informationen bezüglich der Übergangsempfehlungen für ›Seiteneinsteiger‹ deutlich von regulär begründeten Schulformempfehlungen für ›Regelschüler‹ unterscheiden. Neumann beschreibt die Informationen nicht nur als sehr unspezifisch (»so ungefähr«) und pauschal auf die ›Gruppe der Seiteneinsteiger‹ bezogen (»was die … wie weit die«). Vielmehr wird hier ein Beobachtungsproblem artikuliert, indem darauf verwiesen wird, dass ›Seiteneinsteiger‹ hinsichtlich ihrer schulischen Leistungen nur schwer eingeschätzt werden könnten – insbesondere wenn sie noch nicht so lange an der Schule sind. Vorbereitungslehrkraft Wild validiert diese von Neumann eingebrachte Proposition und elaboriert den Orientierungsgehalt, dass die Aussagekraft der Informationen steige, wenn die ›Seiteneinsteiger‹ bereits länger an der Schule unterrichtet werden. So könnten dann einige ›Eigenschaften‹ der Schüler:innen erkannt (»das sieht man ja dann«) und eine »Entscheidung wo schicken wir ein Kind hin« getroffen werden. Anders als zuvor von Neumann ausgeführt, verortet Wild hier die Entscheidungsfähigkeit und Entscheidungsmöglichkeit sehr viel stärker bei der Schule. Mit der Konklusion, dass die Entscheidung jedoch letztlich nicht in ihren Händen liege, wird die Verantwortung für die Schulwahl abschließend jedoch wieder auf die Schulverwaltung übertragen. Der Schule wird durch die Vorbereitungslehrkraft die Professionalität und das Vermögen zugeschrieben, Schüler:innen adäquat beurteilen zu können; die Verantwortung für die Zuweisungen und die Frage, ob die Empfehlungen auch umgesetzt werden, werden hingegen im Schulamt verortet. Auffällig ist, dass sich die Einschätzungen der Regelklassenlehrkräfte an der Westschule, die die ›Seiteneinsteiger‹ in erster Linie unterrichten und auch für die Erstellung der Zeugnisse zuständig sind, bezogen auf die Leistungsbeurteilung von ›Seiteneinsteigern‹ anders darstellen. So elaborieren die Lehrkräfte im Modus einer exemplifizierenden Erzählung, wie die Zeugnisse für die ›Seiteneinsteiger‹ beim Wechsel in die Sekundarstufe ausgesehen hätten. DIE:                                   └ja wir hatten ja schon zwei Kinder und die haben dann so ein Berichtszeugnis bekommen ne?   HOR:                                      └ja ja genau und die Alima ist auf der Realschule und die hat erzählt es ginge ihr ganz gut da   DIE: Die waren ja dann von Januar da und sind im Sommer dann rübergegangen zwar weil die vom Alter her mussten (.) und dann haben wir ein Berichtszeugnis so ein   HOR:                                                        └ja  

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

DIE: bisschen zum sau- sozialen Arbeitsverhalten mehr gesagt also nichts wenig zum Inhalt ne? (Westschule, Radstadt, LK, Z.644-651) Das Berichtszeugnis für ›Seiteneinsteiger‹ wird in dieser Passage deutlich von einem regulären Notenzeugnis unterschieden. Der Unterschied wird dabei nicht nur in der Form der Beurteilung (Noten vs. Bericht) ausgemacht. Vielmehr scheint sich der Inhalt des Zeugnisses gar nicht auf den Leistungsstand der ›Seiteneinsteiger‹ zu beziehen, sondern ausschließlich eine Einschätzung des Sozialverhaltens darzustellen. Ohne dass dies hier von den Lehrkräften expliziert wird, könnte diese Praxis auf das bereits durch die Schulleitung und die Vorbereitungslehrkraft beschriebene Beobachtungsproblem schulischer Leistungen von ›Seiteneinsteigern‹ verweisen (s. auch Kap. 6.4.3). Erkennbar wird, dass die Entscheidung auf welche Schulform neu migrierte Schüler:innen wechseln, in beiden Interviews an der Westschule als wenig relevant verhandelt wird. Hier deutet sich die Orientierung an, dass mit der Versetzung in die Sekundarstufe weniger eine gezielte Beschulung auf unterschiedlichen Niveaustufen verknüpft wird, sondern vielmehr eine allgemeine Beschulung in Vorbereitungsklassen angenommen wird, die unabhängig von der jeweiligen Schulform ablaufe. Diese könnte entweder darauf verweisen, dass auch zukünftig nicht von einer Regelbeschulung von ›Seiteneinsteigern‹ ausgegangen, oder aber erwartet wird, dass nach Beendigung der zweijährigen Erstförderung eine Neuverteilung der ›Seiteneinsteiger‹ vorgenommen wird. In beiden Fällen wird damit der Übergangsentscheidung eine Bedeutung für die weitere Bildungskarriere abgesprochen.   Eine homologe Orientierung lässt sich an der Bergschule in Flurstadt rekonstruieren. Auch in diesem Fall hält die Schulleitung, angesprochen auf das Übergangsverfahren von neu migrierten Schüler:innen in die Sekundarstufe, fest, dass für ›Seiteneinsteiger‹, die noch nicht lange an der Schule beschult wurden, keine Empfehlungen ausgesprochen werden können (Bergschule, Flurstadt, SL, Z.103-107). Ebenfalls wird hier ein Beobachtungsproblem artikuliert, mit dem die Schule bei der Einschätzung der Leistungsstände von ›Seiteneinsteigern‹ konfrontiert sei. Um dieses Problem zu lösen, wird die Entscheidung für eine Sekundarschulform an der Bergschule, wie bereits an der Westschule, in die Schulverwaltung verlagert. Interessant ist jedoch, dass die Bergschule versucht für das Übergangsverfahren eine weitere Lösungsstrategie zu etablieren, die auf eine feste Kooperation mit einer Realschule abzielt. So berichtet die Schulleitung: STE: wir haben in diesem Schuljahr eine Kooperation mit einer Realschule gestartet die von unseren Seiteneinsteigern vom vierten Schuljahr jetzt in diesem Jahr drei oder vier aufgenommen hat und die Realschule kam auf uns zu wir wussten gar nicht dass wir den oder dass die Kinder so weit weggeschickt werden das ist wirklich ein ganz anderer Stadtteil fragten dann was habt ihr gemacht und da haben wir gesagt dann ststarten wir die Kooperation […]   JJ: Und das ist dann für die Kinder die die noch in dieser Förderzeit sind?   STE: Ganz genau die dann die Schule wechseln und dann haben wir uns überlegt aber

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

das ich weiß noch nicht ob Sie das schreiben können wir wissen halt nicht ob es geht dass wir dem Schulamt dann sagen wir würden unsere Kinder immer gerne an die Schule beliefern weil die sich einfach darauf eingestellt hat aber das wissen wir noch nicht wie das rechtlich machbar ist (Bergschule, Flurstadt, SL, Z.162-166 + 170-175) Bedeutsam ist, dass sich die von der Schulleitung formulierte Unsicherheit bezüglich der Kooperation hier nicht auf die Frage bezieht, ob die Realschule immer die richtige Schulform sei, sondern ausschließlich auf die Problemstellung, ob diese feste Kooperation rechtlich möglich wäre. Auffällig ist darüber hinaus die Formulierung »beliefern«, die im Zusammenhang mit der Ausführung, dass die Schulen sich aufeinander abstimmen wollen, an die Beschreibung eines Produktionsprozesses erinnert. Es könnte sich hier andeuten, dass einem schlüssigen und von der Primarstufe bis in die Sekundarstufe reichenden nahtlosen Förderkonzept eine große Bedeutung beigemessen wird. Ebenso wie die Schulleitung äußern auch die Lehrkräfte der Bergschule keine Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer möglichen festen Kooperation mit der Realschule. Vielmehr wird ebenfalls allein die unklare Situation hinsichtlich der Umsetzbarkeit problematisiert (Bergschule, Flurstadt, LK, Z.529-534). Wie die Schulleitung der Bergschule stellt auch die Vorbereitungslehrkraft die schulformunspezifische Zuweisungspraxis für ›Seiteneinsteiger‹ nicht in Frage, sondern wägt lediglich ab, ob es angesichts der rechtlichen Unklarheiten sinnvoll ist, weitere Ressourcen in die Etablierung der Kooperationslösung zu investieren. Obwohl die angedachte feste Kooperation mit der Realschule eine deutliche Abweichung vom regulären Übergangsverfahren für ›Regelschüler‹ darstellen würde, wird dies an der Bergschule nicht problematisiert. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Realschule aufgrund der Möglichkeiten der internen Abstimmung hinsichtlich der Förderung neu migrierter Schüler:innen entweder als eine adäquate Schulform für alle ›Seiteneinsteiger‹ angesehen wird, oder, ähnlich wie an der Westschule, die Frage nach der jeweiligen Schulform als nicht relevant erachtet wird. Wenn letztere Orientierung zuträfe, könnte der Grund hierfür in der Annahme liegen, dass nach Beendigung der zweijährigen ›Seiteneinsteiger‹-Beschulung eine Neuverteilung auf unterschiedliche Sekundarschulformen erfolge. Entsprechend würde das Übergangsverfahren auch an der Bergschule unter Neuverteilungsvorbehalt organisiert. Fallübergreifende Zusammenführung Für das Übergangsverfahren von ›Seiteneinsteigern‹ in die Sekundarstufe wird an der Bergschule und der Westschule an das ressourcenorientierte Zuteilungsverfahren der Schulverwaltungen aus Flurstadt und Radstadt angeknüpft, sodass die ›Seiteneinsteiger‹ an beiden Schulen im Übergangsverfahren nicht nach unterschiedlichen Schulformen differenziert werden. Begründet wird diese Praxis an beiden Schulen mit dem Hinweis, dass für ›Seiteneinsteiger‹ keine Schulformempfehlungen ausgesprochen werden könnten und die Zeugnisse lediglich Berichtszeugnisse seien, die keine Entscheidung hinsichtlich einer passenden Schulform zuließen. Indem die Schulen die Entscheidung der Schulverwaltung überlassen, können sie sich von der Etablierung eines eigenständigen Entscheidungsverfahrens entlasten. Legitimiert wird der Rückgriff auf die Zuweisungspraxis der Schulverwaltungen dadurch, dass die Vorbereitungsklassen als schulformunspezifische Förder-

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

orte konzipiert werden. Die Hypothese der Schulverwaltungen, nach der erst nach Beendigung der zweijährigen Erstförderung an den weiterführenden Schulen eine leistungsspezifische Neuverteilung der ›Seiteneinsteiger‹ stattfände, scheint geteilt zu werden. Die in Bezug auf ›Seiteneinsteiger‹ etablierte Praxis weicht deutlich von der Praxis für ›Regelschüler‹ ab und beruht auf einer kategorialen Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹.

6.7.2.2

Schulformbezogene Zuweisung

An der Waldschule, der Flussschule und der Südschule erhalten alle ›Seiteneinsteiger‹ – anders als an der Bergschule und der Westschule – eine Schulformempfehlung, um sie auf dieser Grundlage gezielt auf bestimmte weiterführende Schulen zu vermitteln. Alle drei Schulen gehen dabei – wiederum im Kontrast zur Bergschule und Westschule – von einem dauerhaften Verbleib der ›Seiteneinsteiger‹ an den jeweiligen weiterführenden Schulen aus. Indem gezielt Schulformempfehlungen für den Übergang in die Sekundarstufe ausgesprochen werden, werden ›Seiteneinsteiger‹ praktisch dekategorisiert und dem gleichen Verfahren wie ›Regelschüler‹ zugeführt.   Angesprochen auf den Wechsel von ›Seiteneinsteigern‹ in die Sekundarstufe beschreibt die Schulleitung der Flussschule den Ablauf des Verfahrens: MO: Also wir haben jetzt welche von denen wir müssen dann mitteilen wo die jetzt hingehen da haben wir von den Vieren die wir jetzt abgegeben haben wie gesagt im Vierten waren jetzt noch nicht so viele gehen also zwei zum Gymnasium ein Kind zur Realschule und ein Kind zur Gesamtschule (.) (Flussschule, Flurstadt, SL, Z.369-372) Erkennbar wird hier zum einen, dass neu migrierte Schüler:innen von der Flussschule auf unterschiedliche Sekundarschulformen wechseln. Zum anderen deutet sich mit dem Hinweis »müssen dann mitteilen« an, dass die an der Schule getroffenen Übergangsentscheidungen – anders als bei ›Regelschülern‹ – der Schulverwaltung mitgeteilt werden. Auffällig ist dies insbesondere, da in NRW für ›Regelschüler‹ lediglich nicht bindende Schulformempfehlungen ausgesprochen werden (Kap. 6.7.1), sich hier aber für ›Seiteneinsteiger‹ andeutet, dass Schulformentscheidungen getroffen werden. Im weiteren Verlauf des Interviews erläutert die Schulleitung jedoch interessanterweise, dass das Übergangsverfahren für ›Seiteneinsteiger‹ darüber hinaus keine Unterschiede zum Übergangsverfahren für ›Regelschüler‹ aufweise. JJ: Und wie läuft da das Verfahren ab ist das (.) genauso wie bei den Regelschülern oder?   MO: Genau wie bei den Regelschülern ja […]   JJ: Nee ich wusste nur nicht ob Sie irgendwie sa- (.) ob die auf bestimmte Schulen dann wechseln oder ob das quasi genauso das Verfahren läuft   MO:                                                                          └nein die haben schon Möglichkeiten der freien Schulwahl eben auch ne und bei uns eben ja auch im Rahmen der Inklusion zumindest

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

in Flurstadt die Eltern auch die freie Schulwahl haben (Flussschule, Flurstadt, SL, Z.385-389) Über das benannte ›in Kenntnis setzen‹ hinaus scheint es bei der Organisation des Wechsels keine weiteren Kontakte zur Schulverwaltung zu geben. Dies ist insofern auffällig, als an der Bergschule, die in der gleichen Stadt liegt, eine klare Verfahrenszuweisung an die Schulverwaltung stattfindet (Kap. 6.7.2.1). Darüber hinaus unterscheidet sich die Praxis an der Flussschule ebenso dadurch von der Praxis an der Bergschule und der Westschule, dass – wie die Schulleitung festhält – die Eltern der ›Seiteneinsteiger‹, genauso wie es für ›Regelschüler‹ üblich ist, die Option hätten, die weiterführende Schule frei zu wählen. An der Bergschule und der Westschule wurde diese Möglichkeit oder auch das potenzielle Interesse der Erziehungsberechtigten, hierauf Einfluss üben zu wollen, nicht thematisiert. Offen bleibt in der Ausführung der Schulleitung, wie die Schulformentscheidungen getroffen werden oder wie diese vermerkt werden, und ob und inwiefern die ›Seiteneinsteiger‹ bei den Anmeldungen an den Sekundarstufenschulen unterstützt werden. Die Beschreibung deutet aber darauf hin, dass die Zuweisungspraxis auf einer intrakategorialen, graduellen Leistungsdifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ beruht und davon ausgegangen wird, dass eine dauerhafte Eingliederung der ›Seiteneinsteiger‹ an den Sekundarstufenschulen stattfindet. Diese Orientierung wird auch im Interview mit den Lehrkräften der Flussschule erkennbar, in dem sich die Lehrkräfte über bereits abgegangene neu migrierte Schüler:innen austauschen: MOH: Ja also der Amani den ich hatte der ist ja weggezogen da Ecke Stadt XY und die Iasmina das ist ja ne super Schülerin geworden ne? die hat ja hinterher Aufsätze geschrieben in Deutsch die hatte dann in Mathe eher Schwierigkeiten aber die ist glaub ich zur Realschule gegangen (.) und Tamir weiß ich jetzt nicht genau das sind die drei die ich hatte ob der jetzt Hauptschule oder Realschule war ich mein eher Hauptschule (Flussschule, Flurstadt, LK 3, Z.681-685) Auch wenn durch die Formulierungen »sie ist glaube ich«, »weiß ich jetzt nicht genau« und »ich mein« eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der letztendlich von den ›Seiteneinsteigern‹ besuchten Schulen ausgedrückt wird, wird deutlich, dass die neu migrierten Schüler:innen bezogen auf ihr angenommenes Leistungsvermögen in einzelnen Fächern differenziert und entsprechend als Hauptschüler:innen oder Realschüler:innen adressiert werden. Es zeigt sich, dass an der Flussschule eine intrakategoriale Leistungsdifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ vorgenommen wird, und die Schüler:innen auf dieser Grundlage und entsprechend der Entscheidung der Erziehungsberechtigten dem gesamten niveaudifferenzierten Sekundarschulspektrum – von der Hauptschule bis zum Gymnasium – zugewiesen werden. ›Seiteneinsteiger‹ werden an der Flussschule im Übergangsverfahren also de-kategorisiert, indem für sie ein normales Übergangsverfahren – wie für alle ›Regelschüler‹ – durchgeführt wird.   Anders als an der Flussschule – und genauso wie an der Bergschule – wird an der ebenfalls in Flurstadt gelegenen Waldschule davon berichtet, dass die Schulverwaltung eine Zuweisung der ›Seiteneinsteiger‹ an die Sekundarstufenschulen vornehme. Interessan-

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

terweise unterscheidet sich der Umgang mit den von der Verwaltung bereitgestellten Schulplätzen jedoch deutlich von der Bergschule. So berichtet Schulleitung Lindemann: JJ: Ja (.) und wenn die Kinder auf eine weiterführende Schule wechseln wechseln die dann in? wie läuft das ab? wechseln die dann auch in in Vorbereitungsklassen oder?   LIN: Ja das läuft auch unterschiedlich ab im letzten Jahr also die Stadt versucht da jedes Jahr glaub ich ein neues Konzept sich zu überlegen im letzten Jahr war das so dass wir vorab eine Liste von Schulen gekriegt ha- also wir mussten die melden wie viele Viertklässler haben wir die jetzt diesen Status noch haben und die wir abgeben (…) und dann hat die Stadt eben in den weiterführenden Schulen Plätze gesucht und für speziell für diese Kinder zugeordnet praktisch Plätze besorgt das gesagt hier die beiden könnten zum Beispiel zur Gesamtschule da oder die könnten da hin und so ne könnten ist das richtige Wort denn die Wahl liegt bei den Eltern also die werden nicht wie bei den Integrationskindern also die sonderpädagogisch gefördert werden da kriegen die die Plätze zugewiesen vom Schulamt ne weil da wirklich diese spezielle Förderung auch ist bei den Seiteneinsteigern ist das so da gibt es trotzdem freie Platzwahl sozusagen freie Schulwahl und da können die Eltern das dann machen wie sie möchten wir können denen nur sagen an der Schule haben sie auf jeden Fall einen Platz aber das glaub ich im letzten Jahr haben das kaum einer in Anspruch genommen weil das teilweise dann so weit weg war oder eben die falsche Schulform ne wir haben welche eben dann auch zum Gymnasium vermittelt die sind da eher weniger von also bieten eher weniger Plätze an weil das hier so war das jedenfalls im letzten Schuljahr von daher ist das ein Versuch das so ein bisschen zu steuern (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.270-289) Die Schulleitung problematisiert, dass sich die von der Schulverwaltung vergebenen Schulplätze nach den vorhandenen Ressourcen der weiterführenden Schulen und nicht nach den Fähigkeiten der Schüler:innen richte. Durch die Formulierungen »läuft auch unterschiedlich« und »jedes Jahr […] ein neues Konzept«, sowie der Konklusion »ist das ein Versuch das so ein bisschen zu steuern« weist Lindemann die Praxis der Schulverwaltung als ein ad-hoc-Verfahren aus, dass weniger ein zufriedenstellendes Konzept als vielmehr ein Erproben oder Experimentieren darstelle. Entsprechend dieser Beschreibung erscheint das Verfahren als nicht bindend. Deutlich wird diese Perspektive im Hinblick auf die in der Passage skizzierten Zuweisungspraxis an der Waldschule. So problematisiert die Schulleitung, dass die Gymnasien in Flurstadt regulär nur wenige Plätze bereitstellten und daher die durch die Schulverwaltung erzeugte Zuweisungsliste umgangen werden müsse, wenn ein ›Seiteneinsteiger‹ auf das Gymnasium gehen solle. Die von den unterschiedlichen Schulformen offiziell zur Verfügung gestellten Plätze werden an der Waldschule also nicht als Grundlage für das praktizierte Übergangsverfahren angesehen. Vielmehr versucht die Schule, jenseits der offiziellen Ressourcen, aktiv weitere Plätze an den Schulen, die sie für richtig erachtet, zu rekrutieren. Hier zeigt sich – trotz des Angebots der Schulverwaltung, Schulplätze für ›Seiteneinsteiger‹ bereitzustellen – genauso wie an der Flussschule eine autonome schulische Zuweisungspraxis, die darauf abzielt, den ›Seiteneinsteigern‹ einen an den jeweiligen Schulformempfehlungen orientierten gezielten Wechsel auf weiterführende Schulen zu ermög-

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

lichen. Geprägt ist diese Überweisungspraxis auch hier durch die Annahme einer dauerhaften Eingliederung der ›Seiteneinsteiger‹ in die jeweils zugewiesene Sekundarstufe. Nicht nur anhand der in dieser Passage elaborierten exemplarischen Beschreibung der Problematik fehlender Gymnasialplätze, sondern auch im weiteren Verlauf des Interviews zeigt sich, dass die Vermittlungspraxis der Schulverwaltung an der Waldschule insbesondere dann umgangen wird, wenn ›Seiteneinsteiger mit positiven Leistungsprognosen‹ in die Sekundarstufe wechseln. So elaboriert die Schulleitung im Modus einer Beschreibung weiter: LIN: wir wissen von manchen Schulen eben wo das gut läuft da haben wir so Erfahrung und da versuchen wir die Eltern dann eben entsprechend da auch die darüber zu informieren und denen zu sagen melden sie ihr Kind doch da wir dürfen das eigentlich offiziell nicht ne eine wir dürfen eine Schulform empfehlen aber keine spezielle Schule aber wir versuchen das schon so zu machen zum Beispiel das nächste Gymnasium Gymnasium Flurstadt die haben schon seit Jahren auch so eine Seiteneinsteigerförderung und (.) ((Klopfen an der Tür)) das ist natürlich gut für die die dann da entsprechende Empfehlung haben dann können wir die dahin vermitteln und nicht an ein anderes Gymnasium wo das die noch gar keine Erfahrung haben also wir versuchen das aber die Entscheidung liegt endli- letztendlich bei den Eltern (Waldschule, Flurstadt, SL, Z.297-307) Lindemann führt aus, dass nicht zu allen weiterführenden Schulen ein direkter Kontakt bestehe, sondern benennt auch in diesem Beispiel ausschließlich ein Gymnasium im gleichen Stadtteil, an das gezielt versucht werde, ›Seiteneinsteiger‹ zu vermitteln. Die Waldschule setzt sich dabei über ein offizielles Verbot, eine bestimmte Schule zu empfehlen, hinweg und begründet die Praxis mit dem Hinweis, dass das entsprechende Gymnasium bereits eine langjährige Erfahrung mit der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ habe und daher besonders geeignet sei. Scheinbar wird hier antizipiert, dass insbesondere ›Seiteneinsteigern‹ mit einer Gymnasialempfehlung i.d.R. nicht die passende Schulform durch die Schulverwaltung vermittelt wird. Daher versucht die Waldschule, besonders diese ›leistungsstark‹ klassifizierten ›Seiteneinsteiger‹ eigenständig zu vermitteln und greift dabei auf persönliche Kontakte zu einem Gymnasium im selben Stadtteil zurück. Ebenso wie die Lehrkräfte an der Flussschule betont auch Lindemann überdies – im Gegensatz zur dritten Schule des Samples in Flurstadt (Bergschule) –, dass die Schulwahl letztlich in den Händen der Eltern liege. Die Orientierung, dass insbesondere für ›Seiteneinsteiger mit positiver Leistungsprognose‹ von den Zuweisungen der Schulverwaltung abgewichen werden müsste, wird im Lehrkräfteinterview ebenfalls deutlich. So elaborieren die Lehrkräfte der Waldschule zunächst, dass für ›normale Seiteneinsteiger‹ kein Handlungsbedarf bestehe, da für diese Schüler:innen grundsätzlich andere schulische Perspektiven angenommen werden: FU:                                                                              weil ich jetzt (.) nicht unbedingt sehe dass die Kinder das erreichen werden was wir in unserem Schulsystem als erreichbar definieren was was da sein muss damit das Kind den und den Abschluss hat und so und so sich bewerben kann und in dieses System rein passt also hoffe ich wenigstens wenn das vielleicht nicht möglich ist dass die Kinder irgendwas anderes noch mitkriegen

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

für sich emotional was sie befähigt ihr Leben später zu gestalten weil ich es hört sich vielleicht jetzt sehr @negativ oder pessimistisch an@ aber ich muss sagen viele der Kinder mit denen ich hier zu tun hab ich hoffe sehr dass sie irgendwie einen Abschluss machen und dass sie Chancen bekommen aber (.) da muss die müssen sehr viel Glück auf ihrem Weg jetzt noch an an an die Schulen zu geraten (.) wo irgendwie ich weiß nicht was noch ne? also mir fehlen so ein bisschen @ich muss versuche mir gerade selber auszudenken was passieren muss@ ne? aber wie siehst du das? weißt du? was ich meine ne? das ist    BAU:                                                                                                                   └ja ich sehe das ähnlich (.) aber vielleicht denken wir da auch zu (.) sehr Richtung intellektuell vielleicht müssen wir auch wirklich mehr in die Praxis gehen wie du sagtest wir bieten die diese Palette gar nicht so an dieser praktischen Begabung und wir können also das aus den Kindern auch nicht herauslocken vielleicht die Potenziale die da sind erkennen wir nicht unbedingt weil wir (.) ja dieses Praktische gar nicht so im Blick haben und vielleicht sind ja unter vielen der Kinder die wir nun auch hier beschulen auch auch (.) wirklich begabte Handwerker dabei die wirklich dann auch Fuß fassen vielleicht haben die nachher einen guten Hauptschulabschluss oder sogar Realschulabschluss machen die das man (.) ja vielleicht die Hoffnung haben kann dass dass dass die dann auch doch einen Job (.) finden und da irgendwo mit viel Glück natürlich auch reinrutschen dass (.) sie dann doch Fuß fassen und ihren Weg gehen ne? (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.350-378) Mit den von Fuchs getätigten Formulierungen »sehr viel Glück« und »hoffe sehr«, die von Baumann abschließend in der Konklusion als »die Hoffnung haben« und »mit viel Glück natürlich« aufgegriffen werden, wird die Zukunft der ›Seiteneinsteiger‹ als etwas entworfen, das nur im Ausnahmefall zu einem Schulabschluss oder einem Arbeitsplatz führe. Wie für die Waldschule bereits herausgearbeitet werden konnte (Kap. 6.3.1.4), zeigt sich auch in dieser Passage die Orientierung einer kategorialen Differenzierung zwischen ›intellektuell begabten Regelschülern‹ und ›handwerklich/praktisch (und nicht intellektuell) begabten Seiteneinsteigern‹. Auffällig ist nun jedoch, dass Vorbereitungsklassenlehrkraft Fuchs, an diese Ausführung anschließend, die Bedeutung eines ausführlichen Berichtszeugnisses für den Übergang in die Sekundarstufe elaboriert – sich hier aber ebenso wie die Schulleitung ausschließlich auf das Beispiel des Übergangs auf ein Gymnasium bezieht: FU:                                                                   ich habe mit diesem Jungen einfach auch versucht für meine Kollegen die das dann lesen ein bisschen zu beschreiben wie seine Entwicklung bisher war in der kurzen Zeit in dem Jahr in dem ich ihn dann jetzt hatte und auch eine kleine Perspektive aufzuzeigen wie ich ihn menschlich wahrgenommen habe ich hab gedacht ich versuch mal ein Signal zu setzen dass sie ihn erst mal aus dieser Sicht sehen und nicht aus ihrer sehr ja leistungsorientierten Sicht das war das Kind was jetzt   BAU:                                                                                                                      └ja   FU: zum Gymnasium gehen sollte und die Kollegen da stehen ja unter Druck ne da

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

muss ja ganz viel passieren in kurzer Zeit dass sie einfach vielleicht das als Information bekommen ihn als Persönlichkeit zu sehen der sehr viel erreicht hat für sich in der kurzen Zeit hier (Waldschule, Flurstadt, LK, Z.470-479) Im Modus einer exemplifizierenden Erzählung elaboriert Fuchs, wie das Berichtszeugnis für einen Schüler inhaltlich ausgestaltet wurde, um die Wahrscheinlichkeit einer Aufnahme am Gymnasium zu erhöhen. Es wird deutlich, dass die Vorbereitungslehrkraft das Gymnasium als angemessene Schulform für den Schüler betrachtet, auch wenn dieser noch nicht die Leistung erbringe, die eigentlich auf einem Gymnasium erwartet würde. Die Beobachtung, dass der Schüler bereits in kurzer Zeit sehr viel erlernt habe, wird als Indiz formuliert, dass er am Gymnasium zurechtkommen könne. Die Waldschule versucht also nicht nur über persönliche Kontakte zum Gymnasium vor Ort, sondern auch durch ausführliche Berichtszeugnisse eine durch die Schulverwaltung erzeugte Fehlzuweisung insbesondere von ›Seiteneinsteigern mit positiver Leistungsprognose‹ zu vermeiden. An den rekonstruierten Orientierungen wird deutlich, dass der Übergang auf eine höherqualifizierende Sekundarstufenschule nur für einen kleinen Teil der ›Seiteneinsteiger‹, denen eine positive Leistungsprognose zugesprochen wird, überhaupt als eine angemessene und passende Möglichkeit verhandelt wird. Für alle ›normalen Seiteneinsteiger‹ hingegen erscheint es nicht relevant, sich in das Übergangsverfahren einzubringen, da hier die von der Schulverwaltung i.d.R. vorgeschlagenen Real- und Hauptschulen als potenziell passend eingeschätzt werden. Die Rekonstruktionen verweisen entsprechend darauf, dass der Fall des ›Seiteneinsteigers‹, welcher an ein Gymnasium wechseln soll, eine Abweichung von den Normalitätserwartungen an ›Seiteneinsteiger‹ darstellt, nach der ›Seiteneinsteiger‹ kategorial von ›kognitiv‹ begabten ›Regelschülern‹ unterschieden und als ›weniger leistungsstark‹ und ›eher handwerklich‹ klassifiziert werden. Erst die hinsichtlich des benannten Schülers beobachtete ›Diskrepanz‹ von dieser Normalitätserwartung ist Anlass für die Waldschule, von der gewohnten Praxis abzuweichen. Hier scheint sich die Schule in der Verantwortung zu sehen, einen ›passenden‹ Übergang auf das niveaudifferenzierte Sekundarschulsystem herzustellen.   An der Südschule lässt sich eine ähnliche Praxis rekonstruieren. So werden auch hier ›Seiteneinsteiger‹ eigenständig und ohne Hinzuziehen der Schulverwaltung einer weiterführenden Schule zugewiesen. Zunächst elaborieren Vorbereitungslehrkraft Url und Klassenlehrkraft Boldt im Modus einer Beschreibung: UR:                            da ist es noch mal wichtig zu wissen dass hier die Schulen die weiterführenden Schulen in der Umgebung auch Willkommensklassen haben also die die Realschule hat mittlerweile eine die Gesamtschule hat eine beim Gymnasium weiß ich das gar nicht (.) aber   BOL:                                         └doch ich glaube die haben auch meine ich hätte er gesagt (.) doch die haben auch welche   UR:                                           └das ist für mich auch gut zu wissen wenn ich die Eltern be-

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rate dass wir auch sagen so wir probieren es jetzt einfach mal auf der Realschule und das Kind wenn es die Sprache gut aufholt könnte es da eigentlich ziemlich gut schaffen und und wenn es da noch mal sch- Sprachförderung benötigt kann es ja noch mal so eine Willkommensklasse besuchen auf der weiterführenden Schule ne? das ist für mich dann auch noch mal ganz wichtig also als Absicherung das hatten wir ganz früher nicht so da hatten wir nur die Hauptschule im Norden von Radstadt die eine Willkommensklasse haben das hat sich aber mit den Jahren auch geändert ne? (.) […] jetzt haben wir halt den Luxus dass wir auch andere Schulformen empfehlen können ne? (Südschule, Radstadt, LK, Z.525-537 + Z. 543-544) Vorbereitungsklassenlehrkraft Url führt in dieser Passage aus, dass früher alle ›Seiteneinsteiger‹ nur auf die Hauptschule gewechselt seien, die Einrichtung von Vorbereitungsklassen an allen Sekundarschulformen nun jedoch die Möglichkeit eröffne, die Schüler:innen entsprechend des vergrößerten Angebots vermitteln zu können. Interessant ist, dass die Vorbereitungslehrkraft, ebenso wie Klassenlehrer:in Boldt, bezüglich des Vorbereitungsklassenangebots an Gymnasien Unsicherheit äußert. Dies deutet darauf hin, dass eine Gymnasialempfehlung für ›Seiteneinsteiger‹ bisher nicht in Betracht gezogen oder ausgesprochen wurde. Im Verlauf der Passage wird diese Orientierung, einen Gymnasialbesuch von ›Seiteneinsteigern‹ als Option aus dem Erwartungshorizont auszuschließen, weiter validiert. So wird die Überweisung auf eine Realschule von Url als etwas beschrieben, das für ›Seiteneinsteiger mit positiver Leistungsbeurteilung‹ ›ausprobiert‹ werden könne. Die Möglichkeit, diese ›Seiteneinsteiger‹ auf ein Gymnasium zu vermitteln, scheint nicht in Betracht gezogen zu werden. Von der Interviewerin auf die Abschlusszertifikate von ›Seiteneinsteigern‹ angesprochen, erläutert Url das Übergangsverfahren im Modus einer Beschreibung weiter: UR:         └ja es gibt keine Notenzeugnisse es gibt nur diese Beurteilungszeugnisse aber ich spreche trotzdem eine Sch- eine Schulformempfehlung aus und die Kinder melden sich auch ganz normal an mit ihren Unterlagen auch wie die anderen auch im selben Zeitrahmen und ja   JJ: Das läuft dann nicht über das Schulamt oder so was? das ist   UR:                                                                                                                               └nee also wir haben dieses Jahr habe ich eine E-Mail bekommen dass das auch übers Schulamt laufen kann wenn wir möchten aber bisher hat das so ganz gut geklappt und ich wir möchten da die Eltern auch gar nicht so verunsichern (.) das klappt so auch ganz gut (.) (Südschule, Radstadt, LK, Z.558-566) Deutlich wird in dieser Passage, dass die Schulverwaltung an der Südschule nicht in das Übergangsverfahren eingebunden wird. Vielmehr wird die Einbindung der Schulverwaltung abgelehnt, da dies zu einer Irritation der Erziehungsberechtigten führen könne und die Wechsel – ohne das Hinzuziehen der Schulverwaltung – bisher unproblematisch verlaufen seien. Warum die Vorbereitungslehrkraft die Einbindung der Schulverwaltung als eine potenzielle Verunsicherung der Erziehungsberechtigten einschätzt, wird nicht weiter ausgeführt.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Mit Blick auf das Interview mit der Schulleitung der Südschule wird der Grund für das Festhalten an diesem Verfahren jedoch deutlicher. So führt Schulleiter:in Ittel aus: JJ: Und wie wird dann entschieden auf welche weiterführende Schule die Kinder wechseln?   ITT: Also wenn sie auf die weiter in die Willkommensklasse gehen dann haben wir immer unsere Ansprechpartnerschule und versuchen den kurzen Dienstweg dass die unsere Kinder dann auch nehmen weil wir einfach wissen dass die da total gut aufgehoben sind […] also im Moment ist das noch der Anruf beim benachbarten Schulleiter und dann funktioniert das auch ganz gut   JJ: Und das ist eine Schule hier auch im Viertel? im Stadtviertel?   ITT:                                                                                                   └genau im Viertel hier genau da können die dann auch weiter zu Fuß hin und die Schule hat auch einen guten Stellenwert bei den Eltern also die wissen das ist zwar eine Hauptschule aber trotzdem eine beliebte Schule die machen wirklich tolle Arbeit (Südschule, Radstadt, SL, Z.138-141 + Z.151-158) Für den Übergang von ›Seiteneinsteigern‹ in die Sekundarstufe wurde an der Südschule ein Verfahren etabliert, das darauf beruht, ›Seiteneinsteiger‹ grundsätzlich auf die nahe gelegene Hauptschule zu überweisen. Diese Praxis wird von Ittel mit dem Hinweis, dass die Schule unter Eltern beliebt sei, legitimiert. Mit Blick auf die Ausführung von Vorbereitungslehrkraft Url könnte die Aussage, der Einbezug der Schulverwaltung würde zu einer Irritation der Erziehungsberechtigten führen, nun so gelesen werden, dass die Verunsicherung dadurch entstünde, dass ›Seiteneinsteiger‹ dann nicht mehr regelmäßig auf die Hauptschule im Stadtviertel wechseln würden, sondern auch auf andere Schulen und Schulformen im Stadtgebiet verwiesen werden könnten. Legitimiert wird das Verfahren der Südschule, das generell deutlich von regulären Verfahren für ›Regelschüler‹ abweicht, durch den Hinweis, dass die Hauptschule gute Arbeit mache. Dass es sich um eine Schule handelt, die nur einen niedrigqualifizierenden Schulabschluss ermöglicht, wird dabei nicht problematisiert. Die Schulleitung der Südschule macht deutlich, dass das bisher praktizierte Übergangsverfahren der Schule unproblematisch verlaufe. Entsprechend scheint es für die Südschule nicht notwendig, von diesem abzuweichen und die Schulverwaltung einzubinden. An der Südschule werden also Schulformempfehlungen ausgesprochen, die für ›Seiteneinsteiger‹ jedoch in erster Linie aus Empfehlungen für die Hauptschule zu bestehen scheinen. Im weiteren Verlauf des Interviews berichtet Vorbereitungslehrkraft Url jedoch von einer anderen Erfahrung: UR:        └es gibt immer die Ausnahmen ne?   BOL:                                                                                  └natürlich   UR:                                                                                                            └ich hatte auch in meiner Klasse

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

einen Schüler der war so gut nach einem Jahr dass der ganz problemlos zum Gymnasium gegangen ist ne? wo die spätere Klassenlehrerin hier aus unserer Schule au- auch gesagt hat das ist der Einzige bei dem ich mit hundertprozentiger Sicherheit sagen kann ja der schafft es auf dem Gymnasium ne? (Südschule, Radstadt, LK, Z.631-637) Das exemplarische Beispiel der seltenen »Ausnahme« eines Übergangs auf das Gymnasium bildet hier den Gegenhorizont zu der sonst gängigen Praxis der Überweisung von ›Seiteneinsteigern‹ an die Hauptschule. Es wird deutlich, dass – ebenso wie an der Waldschule – von einem regelmäßigen Wechsel der ›Seiteneinsteiger‹ auf die Hauptschule ausgegangen wird, gleichzeitig ein Übergang auf das Gymnasium jedoch nicht vollständig ausgeschlossen wird. Der Hinweis auf »die spätere Klassenlehrerin«, welche den ›Seiteneinsteiger‹ in ihrer Regelklasse als denjenigen beurteilt, der die besten Chancen auf dem Gymnasium haben werde, könnte jedoch auch darauf hindeuten, dass generell nur für wenige Schüler:innen der Südschule eine gymnasiale Perspektive angenommen wird. Dieser Lesart folgend würde sich die Zuweisungspraxis der ›Seiteneinsteiger‹ kaum von der Zuweisungspraxis der ›Regelschüler‹ an der Südschule unterscheiden. Fallübergreifende Zusammenführung Die beim Übergang in die Sekundarstufe in den Schulverwaltungen von Flurstadt und Radstadt etablierte binäre Differenzierung in ›Seiteneinsteiger‹/›Regelschüler‹ und die damit zusammenhängende schulformunspezifische Zuweisungspraxis werden von der Bergschule und der Westschule für alle ›Seiteneinsteiger‹ übernommen. An der Flussschule, der Waldschule und der Südschule wird sie hingegen durch das Benennen von Schulformempfehlungen ersetzt, die auf einer intrakategorialen Leistungsdifferenzierung beruhen. Mit dem Aussprechen von Schulformempfehlungen werden ›Seiteneinsteiger‹ faktisch de-kategorisiert und den regulären Übergangsverfahren der Schulen zugeführt. Es lässt sich entsprechend eine autonome schulische Allokationspraxis nachzeichnen, die – anders als im Fall der nicht-schulformdifferenzierten Zuweisungspraxis an der Waldschule und der Bergschule – auf der Annahme einer dauerhaften Eingliederungsperspektive der ›Seiteneinsteiger‹ an der zugewiesenen weiterführenden Schule beruht. Das Ersetzen der binären Differenzierung ›Seiteneinsteiger‹/›Regelschüler‹ durch eine intrakategoriale Leistungsdifferenzierung kann als Hinweis auf eine ›Normalisierung‹ der Überweisungspraxis gelesen werden. Gleichzeitig lässt sich jedoch auch rekonstruieren, dass diese Praxis stark durch die Beobachtung von ›Seiteneinsteigern‹ als potenzielle Hauptschüler:innen geprägt ist. Sie folgt damit dem Prinzip einer negativen Selektion, das an der Waldschule, der Flussschule und der Südschule durch ethnisierende Zuschreibungen geleitet ist (s. Kap.6.3.1.6) und vermutlich insbesondere ›Seiteneinsteiger‹, die der ›Gruppe der Roma/Rumänen‹ zugerechnet werden, negativ betrifft.

6.7.2.3

Selektive Zuweisung ›leistungsstarker Seiteneinsteiger‹ als ›Regelschüler‹

Die Ostschule nimmt – wie auch die Flussschule, die Waldschule und die Südschule – eine Leistungsdifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ beim Übergang in die Sekundarstufe vor und spricht Schulformempfehlungen aus. Die Ostschule unterscheidet sich von diesen Schulen aber dadurch, dass sie ›Seiteneinsteiger mit positiver Leistungspro-

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

gnose‹ vor dem Übergang durch Beendigung des ›Seiteneinsteiger‹-Status als ›Regelschüler‹ re-kategorisiert, um ihnen so einen sicheren Übergang auf das Gymnasium zu ermöglichen.   Im Modus einer Beschreibung berichtet die Schulleitung der Ostschule zunächst, wie der Wechsel von ›Seiteneinsteigern‹ auf die Sekundarstufe generell ablaufe: JJ: Und Sie geben dann auch eine Empfehlung wie für andere Kinder auch für die   KON:                                                                                                                                                  └ja   JJ: Seiteneinsteiger?   KON:                         └ja ja ganz genau also wir schreiben Bericht dazu indem aus dem der ja Lern- und Leistungsstand des Kindes hervorgeht und auch seine Sprachentwicklung und (.) eine Empfehlung   JJ: Und dann können die Eltern sich auch einfach irgendeine weiterführende Schule suchen oder?   KON:            └nee das wird zugewiesen wieder (.) wir geben das wieder an unsere Ansprechpartner im Schulverwaltungsamt und da wird dann nach den passenden Schulen für das Kind gesucht und die Eltern bekommen dann ein Schreiben wo sie ihr Kind anmelden sollen (.) (Ostschule, Radstadt, SL, Z.113-124) An der Ostschule werden Schulformempfehlungen ausgesprochen und ausführliche Berichtszeugnisse verfasst. Diese Schulformempfehlungen werden daraufhin jedoch nicht als Grundlage für eine autonome schulische Allokationspraxis genutzt, sondern an die Schulverwaltung übermittelt, die daraufhin einen Schulplatz bereitstellt. Wie bereits deutlich wurde, orientiert sich die Schulverwaltung in Radstadt bei der Zuweisung zwar in etwa an den Schulformempfehlungen der Schulen, eine Sicherheit, dass diese umgesetzt werden, wird jedoch nicht gegeben (s. Kap. 5.3). Hierdurch besteht für ›Seiteneinsteiger‹ die Gefahr, bspw. trotz einer Schulformempfehlung für ein Gymnasium einer niedrigqualifizierenden Schule wie der Hauptschule zugewiesen zu werden. Dieses Risiko scheint von der Leitung der Ostschule insbesondere für als ›leistungsstark‹ klassifizierte neu migrierte Schüler:innen antizipiert zu werden. So elaboriert Schulleitung Konrad im weiteren Verlauf der Passage im Modus einer exemplifizierenden Erzählung, wie im Kontext des Wechsels von der Grundschule zur Sekundarstufe mit einer ›besonders leistungsstarken‹ Schülerin umgegangen wurde: JJ: Und die Schulen die dann zugewiesen werden das sind dann aber auch die Schulen die Sie empfehlen? also sind das die Schulformen die Sie empfehlen oder weicht das auch ab von dem was Sie (.) vorschlagen?   KON: Nee das hat geklappt bisher das sind meistens die Gesamtschulen oder Realschu-

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

len die die Kinder nehmen (.) ja doch das funktioniert (.) also wir haben eine syrische Schülerin die total leistungsstark war die hat sehr eine sehr sehr rasante Sprachentwicklung gemacht (.) die konnten wir schon nach einem halben oder dreiviertel Jahr in die auch parallele Regelklasse in die zuständige (.) geben und da nimmt sie jetzt auch super am Unterricht teil die wird auch sicherlich eine Gymnasialempfehlung bekommen (Ostschule, Radstadt, SL, Z.142-150) Indem eine als besonders leistungsstark ausgemachte ›Seiteneinsteigerin‹ durch einen vorzeitigen Wechsel in die Regelklasse re-kategorisiert wird, wird ihr ein sicherer schulformspezifischer Übergang als ›Regelschülerin‹ ermöglicht. Da – wie bereits in Kapitel 6.5 ausgeführt wurde – an der Ostschule keine formale Regelung für eine vorzeitige Beendigung des ›Seiteneinsteigerstatus‹ etabliert wurde, handelt es sich hier um ein informelles Verfahren. Dies führt dazu, dass diejenigen ›Seiteneinsteiger‹, für die keine positive Bildungskarriere vorausgesagt wird, im Status ›Seiteneinsteiger‹ verbleiben und – orientiert an den Empfehlungen der Schule – durch die Schulverwaltung zugewiesen werden, während die im Beispiel angesprochene, als ›leistungsstark‹ klassifizierte Schülerin als ›Regelschülerin‹ mit Gymnasialempfehlung sicher an die für sie als richtig erachtete weiterführende Schule wechseln kann. Genauso wie die Praxis an der Flussschule, der Waldschule und der Südschule beruht auch die Praxis an der Ostschule auf der Annahme, dass der Wechsel in eine weiterführende Schule mit einem dauerhaften Verbleib in der jeweiligen Schulform verbunden ist. Fallbezogene Zusammenfassung Das für ›Seiteneinsteiger‹ etablierte Überweisungsverfahren der Schulverwaltung wird an der Ostschule prinzipiell beibehalten. Um jedoch Schüler:innen, die als ›Seiteneinsteiger mit positiver Leistungsprognose‹ klassifizierten werden, vor einem potenziell ungeregelten Übergangsverfahren durch die Schulverwaltung zu bewahren, wird für diese eine vorzeitige Beendigung des ›Seiteneinsteigerstatus‹ und eine Re-Kategorisierung als ›Regelschüler‹ angestrebt. Für alle anderen ›Seiteneinsteiger‹ scheint das von der Verwaltung praktizierte Verfahren vertretbar zu sein und die von der Verwaltung zugewiesenen Realschulen und Gesamtschulen als passende Schulformen eingeschätzt zu werden. Hier zeigt sich erneut, wie bereits in Kapitel 6.5.2 herausgearbeitet wurde, dass die Vorbereitungsklasse als ein Ort negativer Selektion interpretiert wird, der von ›Seiteneinsteigern mit positiver Leistungsprognose‹ rechtzeitig verlassen werden sollte.

6.7.3

›Seiteneinsteiger‹ als potenzielle ›Hauptschüler‹

Wie der Wechsel von neu migrierten Schüler:innen von der Primar- in die Sekundarstufe organisiert wird, stellt sich an den untersuchten Grundschulen als sehr unterschiedlich dar. So wird das Überweisungsverfahren an der Bergschule, der Westschule und zum Teil auch an der Ostschule vollständig in die Hände der Schulverwaltung gelegt, während die Flussschule, die Waldschule und die Südschule eigene Verfahren etablieren. Das jeweilige schulorganisatorische Modell sowie die kommunale Zuordnung zu einer der beiden Schulverwaltungen stellt sich dabei interessanterweise als irrelevant dar.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Wie  im fünften Kapitel gezeigt, werden neu migrierte Schüler:innen in den Schulverwaltungen von Flurstadt und Radstadt auf der Grundlage der kategorialen Differenzierung von ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ pragmatisch und ressourcenorientiert unter Außerkraftsetzung des meritokratischen Prinzips möglichst wohnortnah auf weiterführende Schulen zugewiesen. Legitimiert wird diese nicht-schulformdifferenzierte Zuweisungspraxis mit der Annahme, dass ›Seiteneinsteiger‹ in den Vorbereitungsklassen der Sekundarstufe schulformindifferent unterrichtet würden und nach Beendigung der ›Seiteneinsteiger‹-Förderung eine Neuverteilung der neu migrierten Schüler:innen erfolge. Die Bergschule, die Westschule und in gewisser Weise die Ostschule übernehmen – durch die Verlagerung der Zuweisung neu migrierter Schüler:innen in die Zuständigkeit der Schulverwaltung – an dieser Entscheidungsstelle die in der Verwaltung etablierte Orientierung der kategorialen Differenzierung ›Seiteneinsteiger‹/›Regelschüler‹. So wird ein Ausschluss von ›Seiteneinsteigern‹ vom regulären Übergangsverfahren von der Primar- in die Sekundarstufe erzeugt. Begründet wird dieses Verfahren mit Beobachtungsproblemen hinsichtlich der Möglichkeit, den Leistungsstand von ›Seiteneinsteigern‹ einzuschätzen und daraufhin eine Schulformempfehlung auszusprechen. Legitimation für diese Praxis wird darüber hinaus an der Bergschule und Westschule dadurch hergestellt, dass Schulformentscheidungen für die als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen als wenig relevant verhandelt werden, – was auf die auch in der Schulverwaltung etablierte Annahme verweist, dass keine Kopplung zwischen Schulform und Vorbereitungsklasse bestünde. Die leistungsbezogene Selektion, die für ›Regelschüler‹ beim Übergang in die Sekundarstufe vollzogen wird, wird damit an der Bergschule und der Westschule in die weiterführende Schule verlagert. Die Ostschule ist insofern von den anderen beiden Schulen zu unterscheiden, als an dieser Schule als ›besonders leistungsstark‹ beobachtete ›Seiteneinsteiger‹ vor dem Wechsel in die Sekundarstufe vorzeitig die Vorbereitungsklasse verlassen und damit als ›Regelschüler‹ in Regelklassen beschult werden. Hierdurch wird diesen Schüler:innen die Inklusion in das reguläre Übergangsverfahren ermöglicht. Als ›Seiteneinsteiger mit positiven Leistungsprognosen‹ beobachtete neu migrierte Schüler:innen werden durch das Verlassen des ›negativen Selektionsraums Vorbereitungsklasse‹ – d.h. dem vollständigen Übergang in die Regelklasse und der Re-Kategorisierung als ›Regelschüler‹ – vor dem von den Schulverwaltungen praktizierten zufälligen Verteilungsverfahren für neu migrierte Schüler:innen bewahrt. So können die als ›Regelschüler‹ re-kategorisierten ›Seiteneinsteiger‹ mit einer Empfehlung auf ein Gymnasium wechseln, während alle anderen, ›normalen Seiteneinsteiger‹ entsprechend der Zuweisungspraxis der Schulverwaltung in Radstadt weiterführenden Schulen zugeteilt werden. Wie an der Ostschule, zielen auch die Übergangspraxen der Waldschule und der Südschule darauf ab, Fehlzuweisungen von als ›leistungsstark‹ klassifizierten ›Seiteneinsteigern‹ durch die Etablierung eigener Prozesse zu verhindern. Getragen wird diese Praxis dabei – ebenso wie an der Ostschule – von der Annahme, dass in der Sekundarstufe eine Kopplung von Vorbereitungsklasse und Schulform bestünde und ›Seiteneinsteiger‹ darüber hinaus durch die Schulverwaltungen oder die an der Schule historisch etablierte Praxis in erster Linie auf Hauptschulen oder ggf. Realschulen verwiesen werden. Während entsprechend für als ›leistungsschwach‹ kategorisierte ›Seiteneinsteiger‹

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

kein Handlungsbedarf gesehen wird, in den Vorgang der Schulverwaltungen einzugreifen oder von dem sonst für ›Seiteneinsteiger‹ üblichen Verfahren der quasi-automatischen Zuweisung auf die nahe gelegene Hauptschule abzuweichen (Südschule), werden für ›leistungsstarken Seiteneinsteiger‹ – die als besondere Ausnahmen gerahmte werden – deutliche Anstrengungen erkennbar, den Übergang auf ein Gymnasium sicherzustellen. Der Wechsel in die Sekundarstufe beruht an diesen Schulen auf einer leistungsbezogenen Differenzierung der ›Seiteneinsteiger‹, die entweder als Re-Kategorisierung oder als De-Kategorisierung sichtbar wird. Entsprechend wird »[d]er Status ›Seiteneinsteiger‹ […] als eine unkontrollierbare kommunale Klassifikation interpretiert, die für das Schulamt lediglich arbiträr ist, von der aber erwartet wird, dass sie sich im Fall erwartungswidrig ›guter‹ Seiteneinsteiger negativ auf die Realisierung erfolgreicher Bildungsverläufe auswirkt.« (Emmerich/Hormel/Jording 2017: 219) Auch an der Flussschule werden ›Seiteneinsteiger‹ beim Wechsel in die Sekundarstufe intrakategorial nach Leistung differenziert. Die Flussschule unterscheidet sich aber von den anderen drei Schulen dadurch, dass diese grundsätzlich für alle – und nicht nur für die als ›besonders leistungsstark‹ beobachteten – ›Seiteneinsteiger‹ die auf kategorialer Differenzierung beruhende Zuweisungspraxis der Schulverwaltung durch eine leistungsbezogene Binnendifferenzierung der ›Seiteneinsteiger‹ entsprechend der im Schulsystem vorhandenen Schulformen unterbricht. Im Übergangsverfahren findet insofern eine DeKategorisierung von ›Seiteneinsteigern‹ statt, als innerhalb der Kategorie ›Seiteneinsteiger‹ Leistungsdifferenzierungen vorgenommen werden. Die Schulverwaltung von Flurstadt wird dabei an der Flussschule nicht eingebunden. Auch dieses Verfahren beruht auf der Annahme, dass eine Kopplung von Vorbereitungsklasse und Schulform bestünde.   Der Wechsel von der Primar- zur Sekundarstufe stellt in Deutschland eine relevante Entscheidungsstelle mit weitreichenden Implikationen für die weitere Bildungsbiografie von Schüler:innen dar (vgl. Bellenberg/Hovestadt/Klemm 2004: 80; Berkemeyer et al. 2017). Für ›Regelschüler‹ wird dieser Übergang von den abgebenden Primarschulen durch das Aussprechen von Schulformempfehlungen und der Vergabe von notenbasierten Abschlusszeugnissen bestimmt – wobei den Eltern in NRW das Letztentscheidungsrecht eingeräumt wird. Demgegenüber ist das Übergangsverfahren für ›Seiteneinsteiger‹ nicht allein durch die Praxis der Primarschulen, sondern auch durch die Praxis der Verwaltungen geprägt. Bei einem Blick auf Schulverwaltungen und Schulen wird jedoch deutlich, dass diese beiden Ebenen nur lose miteinander ›gekoppelt‹ (Weick 1976) sind: So können die Schulen selbstständig festlegen, ob sie die Entscheidungsprämissen der Schulverwaltungen teilen oder eigene Orientierungen für die Übergangspraxis generieren. Die Ostschule, die Waldschule, die Flussschule und die Südschule haben, anders als die Westschule und die Bergschule, hier eigenständige Übergangsverfahren etabliert. Während die Flussschule bei der Zuweisung in die Sekundarstufe alle Schulformen in Betracht zieht, kann für die Ostschule, die Südschule und die Waldschule die Orientierung rekonstruiert werden, dass es sich bei ›Seiteneinsteigern‹ i.d.R. um Schüler:innen ›mit negativen Leistungsprognosen‹ handele, die auf einer Hauptschule am besten untergebracht seien.

6 Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹

Legitimiert und begründet werden die Zuweisungspraxen an den Schulen (wie auch in den Schulverwaltungen) einerseits mit der Vermutung, dass keine Kopplung zwischen Vorbereitungsklasse und Schulform bestünde – also mit dem vollständigen Wechsel von der Vorbereitungsklasse/-gruppe in die Regelklasse eine leistungsbezogene Neuverteilung vorgenommen würde. Andererseits wird die Etablierung eigenständiger autonomer Zuweisungsverfahren der Schulen aufgrund der Annahme betrieben, dass eine feste Kopplung bestünde und die neu migrierten Schüler:innen dauerhaft an der ihnen zugewiesenen weiterführenden Schule verblieben. Diese »strukturell flexibel gehaltene Kopplung von Vorbereitungsklasse und Sekundarschulform [erweist sich] als ein Modus Operandi, der die zielgruppenspezifische Förderung mit der Generierung genereller Selektionsoptionen verbindet und diese Verbindung gleichzeitig verschleiert. Das Resultat sind differenziell ermöglichte Partizipationschancen, die – im Sinne eines Seiteneffekts – zur Prekarisierung gesellschaftlicher Teilhabe beitragen können.« (Emmerich/Hormel/Jording 2017: 220) An den vorgenommenen Rekonstruktionen wird erkennbar, dass der Übergang von als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen in die niveaudifferenzierte Sekundarstufe für viele dieser Schüler:innen die Zuweisung auf eine niedrigqualifizierende weiterführende Schule bedeutet. Es wird insofern deutlich, dass an die historisch etablierte Praxis, ›Seiteneinsteiger‹ in erster Linie an Hauptschulen zu verweisen (vgl. Radtke 1996), auch heute noch angeknüpft wird.72 Das deutsche Bildungssystem ist selbst für Regelschüler:innen, die ihre gesamte Schulkarriere in diesem System verbringen, hinsichtlich eines Bildungsaufstiegs faktisch wenig durchlässig. So sind insgesamt nicht nur wenige Schulformwechsel in Deutschland zu verzeichnen, sondern darüber hinaus ist bei einem Wechsel eine Abschulung deutlich wahrscheinlicher als eine Aufschulung (vgl. Bellenberg/Hovestadt/ Klemm 2004; Berkemeyer et al. 2017).73 Entsprechend kann angenommen werden, dass die rekonstruierten Zuweisungspraxen dazu führen, dass überproportional viele Schüler:innen, die als ›Seiteneinsteiger‹ in das Bildungssystem integriert wurden, ihre Schullaufbahn auf einer niedrigqualifizierenden Schulform verbringen und mit einem dort erlangen Abschlusszertifikat die Schule verlassen.

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Siehe hierzu auch Kapitel 3. Die Anzahl der Auf- und Abschulungen in ihrer Relation zueinander variieren von Bundesland zu Bundesland teilweise erheblich. Die Autor:innegruppe »Chancenspiegel« zeichnet für das Bundesland NRW von 2002/2003 bis 2011/2012 eine Verringerung des Verhältniswertes von Auf- zu Abschulungen nach, seitdem steigt das Verhältnis jedoch wieder und die Wahrscheinlichkeit, in den Jahrgangsklassen sieben bis neun abgeschult zu werden, ist weiterhin hoch. So lag das Verhältnis (im letzten angegebenen Zeitraum) 2014/2015 bei einer Aufschulung zu 11,9 Abschulungen. Die Autor:innen halten entsprechend fest, dass »in Nordrhein-Westfalen das Mittel der Abschulung im gesamten Zeitraum in überdurchschnittlichem Maße genutzt wird« (Berkemeyer et al. 2017: 239f.) (vgl. ebd.: 238ff.).

349

7 Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule

Mit der Reformulierung der dokumentarischen Methode als funktionale Analyse kann nach dem modus operandi gefragt werden, d.h. nach den Kontextbedingungen bzw. Kontexturen, unter denen die rekonstruierten Beschulungspraxen Lösungen für das ›Bezugsproblem der Beschulung neu migrierter Schüler:innen‹ darstellen (können) (Kap. 4.1.3). Damit zielt auch die dokumentarische Organisationsforschung in einer funktionalen Perspektive auf eine soziogenetische Interpretation ab. Dabei wird jedoch nicht auf die Rekonstruktion von bspw. Milieuzugehörigkeiten, Migrationserfahrungen o.ä. rekurriert, sondern vielmehr werden der Annahme der Polykontexturalität folgend (s. Kap. 2.4), Kontexturen, ihre Überlagerungen und Überschneidungen in den Blick genommen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass »Organisationen, Interaktionen, das Bewusstsein der Akteure und die gesellschaftlichen Funktionssysteme […] als jeweils verschiedene systemische Kontexturen anzusehen [sind], die gleichzeitig bestehen, jedoch nicht in einer simplen Kausalbeziehung aufeinander zurückgeführt werden können und im Einzelfall zu einem jeweils spezifischen Arrangement zusammenfinden müssen.« (Vogd 2011: 161) Abschließend werden entsprechend die in den empirischen Ergebnissen aufscheinenden ›spezifischen Arrangements‹ ausgemacht und geprüft, inwiefern sich über den Einzelfall hinaus Muster der Beschulung neu migrierter Schüler:innen abzeichnen. Hierfür wird zunächst ein Blick auf die innerhalb der rekonstruierten ›Problembeschreibungen‹ und ›Problemlösungen‹ hinsichtlich der Beschulung von neu migrierten Schüler:innen deutlich werdenden Wissens- und Deutungsressourcen geworfen (Kap. 7.1). Anschließend werden weitere systemische Kontexturen der Beschulungspraxis zusammengeführt (Kap. 7.2).

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

7.1

Wissens- und Deutungsressourcen bei der Beschulung neu migrierter Schüler:innen

Zunächst wird auf der Basis der ausführlich dargestellten Ergebnisse hinsichtlich der Beschulungspraxen neu migrierter Schüler:innen an bildungsbiografisch relevanten Entscheidungsstellen (Kap. 6.4-6.7) ein Augenmerk auf die jeweils rekonstruierten Problembeschreibungen gelegt (Kap. 7.1.1). Die fallübergreifende Skizzierung der in den Interviews konstruierten ›Probleme‹ im Hinblick auf die Beschulung neu migrierter Schüler:innen kann Aufschlüsse über die dabei als relevant gesetzten Kategorien und Klassifikationen geben. Anschließend wird auf der Grundlage dieser Ergebnisse eine Typik der ›Beobachtung des Status ›Seiteneinsteiger‹ erarbeitet, die auf jeweils spezifische Lösungen der rekonstruierten Problembeschreibungen hinweist (Kap. 7.1.2). Abschließend werden die in den ›Problembeschreibungen‹ und ›Problemlösungen‹ deutlich werdenden Wissens- und Deutungsressourcen hinsichtlich der Beschulung neu migrierter Schüler:innen zusammengefasst, die zirkuläre Kausalität von ›Problembeschreibungen‹ und ›Lösungen‹ betrachtet und erste Hinweise auf sichtbar werdende ungleichheitsrelevante Muster der Beschulung neu migrierter Schüler:innen diskutiert (Kap. 7.1.3).

7.1.1

Problembeschreibungen hinsichtlich der Beschulung  neu migrierter Schüler:innen

Im empirischen Material werden bezüglich der Beschulung neu migrierter Kinder und Jugendlicher drei Problembeschreibungen ausgemacht: Passungs-, Beobachtungs- und Ressourcenprobleme. Passungsprobleme Passungsprobleme werden als fehlende Kompatibilität von ›Seiteneinsteigern‹ und der ›deutschen Schule‹ entworfen und in den Schulen an allen untersuchten Entscheidungsstellen relevant gemacht. Begründet werden diese auf vielfältige Weise (s. hierzu auch Kap. 6.3). So wird auf ›differente Kulturen‹ – insbesondere in Bezug auf neu migrierte Schüler:innen, die als ›Rumänen‹ oder ›Roma‹ klassifiziert werden, – auf ›fehlende (vor-)schulische Erfahrungen‹, ›ungenügende Deutschkenntnisse‹, ›unzureichende (soziale) Basiskompetenzen‹, ›fehlende schulische Leistungsvermögen‹, ›ungenügende Leistungen im Hinblick auf ihr Alter‹, ›lückenhafte familiäre Unterstützungsstrukturen‹ oder ›problematische Familienstrukturen‹ sowie auf ›sonderpädagogische Förderbedarfe‹ verwiesen. Darüber hinaus wird an drei Schulen des Samples (Südschule, Bergschule und Flussschule) grundsätzlich ein Passungsproblem zwischen den Schüler:innen des schulischen Einzugsgebiets, zu denen auch die als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen gezählt werden, und der ›deutschen Schule‹ ausgemacht.1 Die skizzierten Passungsprobleme beziehen sich einerseits auf interne Kategorien der Organisation Schule und andererseits auch auf externe, in der Gesellschaft verankerte Kategorien. So handelt es sich bei den internen Klassifikationen bezüglich ›Leis1

Siehe hierzu auch Kapitel 7.2.1.

7 Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule

tungsvermögen‹ oder ›Deutschkenntnissen‹ um Kategorien der Organisation Schule, welche innerhalb der Organisation Sinn erzeugen: Diese internen Klassifikationen ermöglichen es den Lehrkräften, Schüler:innen mit anderen Schüler:innen zu vergleichen und graduell zu unterscheiden. Darüber hinaus halten die graduellen Klassifikationen Möglichkeiten der Veränderung offen. So kann sich die Beurteilung der Deutschkenntnisse oder des Leistungsvermögens einer:s Schüler:in im Laufe eines Schuljahres in eine positive oder negative Richtung entwickeln und die von den Lehrkräften zugeschriebenen Entwicklungen können plausibel auf pädagogisches Handeln in der Schule zurückgeführt werden (vgl. Emmerich/Hormel 2013a: 174f.). Sichtbar wird, dass die internen Klassifikationen vor dem Hintergrund der in der Organisation Schule etablierten Normalitätserwartungen angefertigt werden. Demgegenüber lassen sich gleichzeitig bezüglich der angenommenen Passungsprobleme auch eine Reihe an Bezugnahmen auf externe Klassifikationen ausmachen, zu denen bspw. die Kategorien ›Kultur‹ oder ›familiärer Hintergrund‹ gezählt werden können (vgl. Tilly 1999: 76ff.; Emmerich/Hormel 2013a: 54ff.). Insbesondere externe Kategorien sind mit einer Fülle an bereits in der Gesellschaft verankerten ›Wissens- und Deutungsressourcen‹ verknüpft und beziehen sich auf kategoriale Gruppenzuschreibungen nach dem Prinzip entweder/oder. Sie sind also »kategorial-exklusiv« (Emmerich/Hormel 2013a: 47). So können externe Klassifikationen mit Bezug auf ›Kultur‹ oder ›Familienhintergrund‹ nicht graduell erfolgen. Darüber hinaus sind externe kategoriale Klassifikationen nicht durch pädagogisches Handeln der Lehrkräfte veränderbar (vgl. ebd.). Deutsche Sprachkenntnisse von Schüler:innen können zwar verbessert, nicht jedoch die ›Kultur‹ verändert werden, wenn angenommen wird, dass diese ›Prägung‹ bereits in den Familien (und ggf. den Herkunftsländern) erfolgt sei. Die schulische/pädagogische Einflussnahme auf externe Gruppenmerkmale wird entsprechend als nicht möglich beschrieben (s. hierzu bspw. Kap. 6.3.1.4-6.3.1.6). Indem es bei der Beobachtung neu migrierter Schüler:innen unter der Prämisse eines Passungsproblems zu einem Matching interner und externer Kategorien (Tilly 1999) kommt, werden bereits in der Gesellschaft verankerte Wissens- und Deutungsressourcen in die Organisation Schule hineingetragen, die potenziell diskriminierungsrelevant sind. Besonders deutlich zeigt sich dies an dem Matching der internen Kategorie ›Leistungsvermögen‹ mit der externen Kategorie ›Roma/Rumänen‹. So werden (an allen untersuchten Schulen) neu migrierte Schüler:innen, die als ›Roma/Rumänen‹ klassifiziert werden, als in besonderer Weise nicht den Erwartungen der Schule entsprechend beobachtet und daraufhin (1) systematisch von Lerngelegenheiten ausgeschlossen (indem sie bspw. weniger Unterrichtsstunden erhalten), (2) durch die Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs von der Regelschule exkludiert und/oder (3) gezielt den niedrigqualifizierendsten Schulformen (d.h. der Hauptschule oder der Förderschule) zugewiesen. Bezug genommen wird bei der Plausibilisierung der zugeschriebenen Passungsprobleme auf antiziganistische Stereotypen (s. Kap. 6.3.1.6). Darüber hinaus zeigt sich aber, dass Passungsprobleme auch auf der Grundlage eines Matchings von als ›wertschätzend‹ verstandene (externe) Klassifikationen mit internen Klassifikationen erfolgen kann (s. Kap. 6.3.1.4). Trotz der ›Wertschätzung‹ bestimmter ›Fähigkeiten‹ werden diese als nicht zur (deutschen) Schule passend und als etwas nicht Veränderbares beobachtet und aus dieser Annahme, dass keine Passung bestünde, die Notwendigkeit einer Überweisung der so klassifizierten Schüler:innen auf niedrigqualifizierende

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Schulformen, einer Rückstufung oder einer Einleitung sonderpädagogischer Förderverfahren abgeleitet. Die Annahme eines Passungsproblems zwischen (bestimmten) als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen und der Organisation Schule – welches sich u.a. in dem kompensatorischen Unterrichtsverständnis zeigt, ›Seiteneinsteiger‹ zunächst mithilfe von erzieherischen Methoden zu ›Schüler:innen‹ zu machen, da sie als ›noch nicht lernfähig‹ beobachtet werden – scheint sich insgesamt als Orientierung durchzuziehen und nicht nur bestimmte Beschulungspraxen zu plausibilisieren, sondern auch zur Generierung von Praxen beizutragen, die zur Etablierung ungleichheitsrelevanter Strukturen führen. Beobachtungsprobleme Beobachtungsprobleme werden an allen untersuchten Entscheidungsstellen ausgeführt und beziehen sich auf Schwierigkeiten, neu migrierte Schüler:innen hinsichtlich ihrer angenommenen Leistungsvermögen einzuschätzen. Diese ›Probleme‹ werden dabei insbesondere hinsichtlich der Vergabe von Noten und der Ausstellung von Zeugnissen thematisiert, d.h. wenn verbindliche Entscheidungen getroffen werden müssen. Es wird u.a. problematisiert, dass es kaum möglich sei, Leistungen von ›Seiteneinsteigern‹ mit Noten zu bewerten, da sich die Unterrichtsinhalte bspw. für diese Schüler:innen stark von den regulären Unterrichtsinhalten für ›Regelschüler‹ unterscheiden und daher unklar sei, wie die Leistungen beobachtet werden sollen. Als besonders akut wird das Beobachtungsproblem im Hinblick auf die Zuweisung von neu migrierten Schüler:innen in die Sekundarstufe benannt. So wird thematisiert, dass die Leistungspotenziale von ›Seiteneinsteigern‹ nur schwer beurteilt werden könnten, insbesondere wenn die Schüler:innen noch nicht lange an der Grundschule beschult wurden. Schließlich werden Beobachtungsprobleme auch in Bezug auf die Einleitung sonderpädagogischer Förderverfahren ausgemacht und darauf verwiesen, dass es schwierig sei, einzuschätzen, ob oder welches (sonderpädagogisch relevante) ›Problem‹ bei den jeweiligen ›Seiteneinsteigern‹ vorliege. Es zeigt sich, dass ›Seiteneinsteiger‹ als außerhalb der Kategorien schulischen Lernens entworfen werden, wodurch die normalerweise praktizierten Leistungsbeurteilungen infrage gestellt werden. Das ohnehin der Organisation Schule inhärente »Technologiedefizit« (Luhmann/Schorr 1982: 120), das von Emmerich und Hormel als »strukturelles Beobachtungsdefizit« (Emmerich/Hormel 2015: 237) reformuliert wird, schlägt an den Schulen hinsichtlich neu migrierter Schüler:innen besonders durch: So ist es die Aufgabe des Interaktionssystem Unterricht, für die Organisation Schule Entscheidungsprämissen hinsichtlich der Beurteilung von Schüler:innenleistungen bereitzustellen. Dies scheitert aber daran, dass Lehrkräfte sich kaum in der Lage sehen, ›Seiteneinsteiger‹ hinsichtlich ihrer Leistungspotenziale einzuschätzen (dies verweist wiederum auf ein Passungsproblem, s.o.). Beobachtungsprobleme entstehen jedoch nicht nur aufgrund der Beobachtung von ›Seiteneinsteigern‹ als different hinsichtlich ihrer Sprachkenntnisse, ihres Alters, ihrer Leistungen oder ihrer Sozialisation und Kultur zu ›Regelschülern‹. Vielmehr ergeben sich Beobachtungsprobleme auch aus der Praxis, für die als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen zwei Jahre lang keine notenba-

7 Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule

sierten Leistungsbewertungen vorzunehmen. Die organisationale Praxis, Selektionsentscheidungen mit Rückgriff auf notenbasierte Entscheidungsprämissen, die durch bereits zuvor getroffene Entscheidungen erzeugt wurden, zu vollziehen, wird so verunmöglicht. So stellen – dies wurde insbesondere im Hinblick auf den Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe deutlich – textbasierte Berichtszeugnisse für ›Seiteneinsteiger‹ insofern keine »symbolisch generalisierte Medien« (Luhmann 1975: 109f.; Luhmann/ Schorr 1988: 54) dar, als neu migrierte Schüler:innen mit diesen Zertifikaten keinen ›regulären‹ Zugang zum Sekundarschulsystem erhalten. Die Berichtszeugnisse eröffnen ihnen für den Übergang in die Sekundarstufe lediglich weiterhin eine Inklusion als ›Seiteneinsteiger‹. Ressourcenprobleme Ebenso wie Passungs- und Beobachtungsprobleme werden Ressourcenprobleme in den Interviews an allen Entscheidungsstellen ausgemacht. Als Ressourcenprobleme werden fehlende personelle Ressourcen in Form von Lehrer:innenstunden allgemein, oder fehlende zusätzliche Lehrer:innenstunden speziell für die Beschulung neu migrierter Schüler:innen benannt. Die Problembeschreibungen werden insbesondere mit Bezug auf die inklusive Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ in Regelklassen angebracht. So wird problematisiert, dass neben der Unterrichtsgestaltung für ›Regelschüler‹ nicht mehr ausreichend Zeit für die Beschulung der neu migrierten Schüler:innen bestehe. Neben personellen Ressourcenproblemen werden aber auch fehlende Wissensressourcen in Form von Expertise hinsichtlich der Unterrichtsgestaltung für ›Seiteneinsteiger‹ thematisiert. Darüber hinaus werden fehlende Ressourcen auch im Zusammenhang mit der Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ in bestimmte Jahrgangsstufen benannt. Problematisiert werden hier fehlende Plätze in bestimmten Jahrgangsklassen, die dazu führen würden, dass ›Seiteneinsteiger‹ abweichend in Jahrgangsklassen, die noch freie Plätze habe, zurückgestuft werden müssten. Schließlich werden auch fehlende Kapazitäten für ›Seiteneinsteiger‹ an Gymnasien thematisiert, die dazu führten, dass die Möglichkeit, als ›Seiteneinsteiger‹ einen Platz auf einem Gymnasium zu erhalten, besonders gering sei. Es wird deutlich, dass sich Ressourcenprobleme einerseits auf die Beschreibung fehlender personeller Ressourcen und fehlender Wissensressourcen und andererseits auf fehlende Schulplätze in bestimmten Jahrgangsklassen oder Schulformen beziehen. Es stellt sich jedoch die Frage, warum fehlende personelle Ressourcen sowie fehlende Wissensressourcen speziell in Bezug auf die Beschulung von neu migrierten Schüler:innen thematisiert werden. Eine mögliche Interpretation ist, dass die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ nicht als Regelaufgabe von Lehrkräften entworfen wird, da die neu migrierten Schüler:innen als grundlegend den Normalitätserwartungen der Regelschule widersprechend klassifiziert werden (dies verweist damit nochmals auf ein angenommenes Passungsproblem, s.o.). Das personelle Ressourcenproblem würde in dieser Lesart dadurch Plausibilität erlangen, dass die Beschulung der als ›Seiteneinsteiger‹ kategorisierten Schüler:innen als eine Aufgabe verhandelt wird, die – neben dem Unterricht für ›Regelschüler‹ – nicht zusätzlich geleistet werden könne. Gleichzeitig ist in dieser Lesart der Verweis auf fehlende Wissensressourcen ebenso ersichtlich. So knüpft diese Problembeschreibung an die Annahme, dass ›Seiteneinsteiger‹ grundsätzlich von

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

›Regelschülern‹ zu unterscheiden seien und für die Beschulung dieser so klassifizierten Schüler:innen spezifisches Wissen, welches nicht im Studium erlernt wurde, notwendig sei. Anzumerken ist im Hinblick auf diesen Aspekt, dass die von den Lehrkräften benannten fehlenden Wissensressourcen sich nicht in erster Linie auf Wissen zur Vermittlung von Deutschkenntnissen beziehen. Vielmehr werden fehlende Wissensressourcen generalisierend auf den Unterricht für ›Seiteneinsteiger‹ bezogen. Plausibel scheint ein Verweis auf Ressourcenprobleme für die Beschulung von als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen also vor dem Hintergrund eines angenommenen Passungsproblems und der Perspektive, dass ›Seiteneinsteiger‹ nicht zum regulären Aufgabenbereich der Primarschulen gezählt werden. In Rechnung gestellt werden müssen jedoch auch die aktuellen strukturellen Bedingungen an den Primarschulen in NRW. So haben diverse Studien (Bertelsmann Stiftung 2018; GEW NRW 2019; KMK v. 05.12.2019; MSB NRW, Unterrichtsversorgung, o.J.) darauf hingewiesen, dass insbesondere Grundschulen einen massiven Bedarf an Lehrkräften verzeichnen, welcher seit einigen Jahren nicht mehr durch ausreichend Bewerber:innen gedeckt werden kann. Im Zuge des Lehrkräftemangels konnten und können einige Primarschulen die ihnen zur Verfügung gestellten Stellen nicht besetzen. Tatsächlich fehlende Lehrer:innenkapazitäten (die als solche auch von Schulleitungen der untersuchten Schulen erwähnt wurden) treffen also potenziell auf Annahmen genereller Passungsprobleme, die bei der Beschulung von neu migrierten Schüler:innen in Erscheinung treten. Hierdurch können Verweise auf Ressourcenprobleme ›Evidenz‹ erlangen. Zusammenführung Es wird deutlich, dass die rekonstruierten Problembeschreibungen, die im Hinblick auf die Beschulung neu migrierter Schüler:innen in den Schulen angebracht werden, in Bezug auf recht unterschiedliche thematische Aspekte und Entscheidungsstellen relevant gemacht werden. Gleichzeitig zeigt sich hinsichtlich der Thematisierung von Ressourcen-, Beobachtungs- und Passungsproblemen, dass diese eng miteinander verknüpft sind. So werden Ressourcenprobleme, wie bspw. die Problematisierung, dass neben der Unterrichtsgestaltung für ›Regelschüler‹ nicht mehr ausreichend Zeit für die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ bestehe, erst auf der Grundlage der Annahme, dass ein grundsätzliches Passungsproblem zwischen (bestimmten) ›Seiteneinsteigern‹ und der Regelschule bestünde, plausibilisiert. Genauso werden Beobachtungsprobleme erst vor dem Hintergrund von angenommenen Passungsproblemen relevant gemacht, wenn bspw. problematisiert wird, dass Leistungen von ›Seiteneinsteigern‹ nicht mit regulären Noten beurteilt werden könnten. Getragen sind alle drei Problembeschreibungen damit durch die grundsätzliche Annahme einer deutlichen ›Abweichung‹ neu migrierter Schüler:innen von den Normalitätserwartungen der Organisation Schule und dem Matching schulinterner Kategorien mit externen Kategorien, durch die ungleichheitsrelevante Wissens- und Deutungsressourcen nicht nur in die Organisation Schule hineingetragen, sondern innerhalb dieser an den untersuchten Entscheidungsstellen auch praktisch relevant werden.

7 Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule

7.1.2

Problemlösungen: Klassifikationen des Status ›Seiteneinsteiger‹

Es stellt sich die Frage, inwiefern hinsichtlich der ebenfalls in den Interviews rekonstruierten Problemlösungen in gleicher Weise auf die Klassifikation von neu migrierten Schüler:innen als ›Seiteneinsteiger‹ Bezug genommen wird. So wurden neben Problembeschreibungen auch die jeweils von den Lehrkräften und Schulleitungen angefertigten Problemlösungen hinsichtlich der Beschulung neu migrierter Schüler:innen an relevanten Entscheidungsstellen rekonstruiert. Hierzu gehört bspw. der kommunikative Ausschluss neu migrierter Schüler:innen innerhalb des Regelunterrichts als Lösung von angenommenen Passungsproblemen. Problemlösungen verweisen also auf Beschulungspraxen, die auf der Grundlage spezifischer Beobachtungen des Status ›Seiteneinsteiger‹ vollzogen werden.   Als Überblick über die rekonstruierten Praxen der untersuchten Schulen hinsichtlich der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ kann zunächst folgende Übersicht dienen, in der die Praxen schlagwortartig skizziert sind.                                                        

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Unterricht richtet sich nicht nach regulärer Stundentafel Ausschließlich Vermittlung von ›sozialen Kompetenzen‹ Bestimmte ›SE‹ werden vom Regelunterricht ausgeschlossen Ausschluss von ›SE‹ im Regelunterricht

Für ›SE mit positiven Leistungsprognosen‹ richtet sich der Unterricht nach der regulären Stundentafel; für andere ›SE‹ ist der Fokus die Vermittlung von ›sozialen Kompetenzen‹ Ausschluss bestimmter ›SE‹ im Regelunterricht

Unterricht richtet sich für alle SE nach der regulären Stundentafel

Waldschule

Flussschule

Bergschule

Unterricht

Differente Leistungskriterien (Klassenarbeiten) Zeugnisse: ausschließlich Bewertung der deutschen Sprachentwicklung

Differente Leistungskriterien (Hausaufgaben) Keine differenten Leistungskriterien bei ›SE mit positiven Leistungsprognosen‹

Differente Leistungskriterien (Klassenarbeiten) Zeugnisse: ausschließlich Beurteilung des ›sozialen (Arbeits-)Verhaltens‹

Leistungsbewertung

Deutsche Sprachförderung als dauerhafte additive Unterstützung für alle ›SE‹ Zuweisung zu Jahrgangsklasse durch Schulverwaltung

Übergang von bestimmten ›SE mit positiven Leistungsprognosen‹ in die RK, i. d. R. längerer Verbleib von ›SE‹ in der VK Rückstufung wegen ›mangelnder Leistungen‹

Übergang von bestimmten ›SE mit positiven Leistungsprognosen‹ in die RK, i. d. R. längerer Verbleib von ›SE‹ in der VK (paralleler Modus) Rückstufung wegen ›mangelnder Leistungen‹

Übergang Regelklasse

Adressierung bestimmter ›SE‹ als ›SE mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ während der Erstförderung

Adressierung bestimmter ›SE‹ als ›SE mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ während der Erstförderung

Adressierung aller ›SE‹ als ›SE mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ während der Erstförderung

Einleitung AO-SF

Zuweisung wird der Schulverwaltung überlassen

Einbindung aller ›SE‹ in reguläres Übergangsverfahren: Schulformempfehlungen werden ausgesprochen

Einbindung aller ›SE‹ in reguläres Übergangsverfahren: Schulformempfehlungen werden ausgesprochen

Übergang GS – Sek

Tabelle 3: Zusammenfassende Skizzierung der rekonstruierten Beschulungspraxen neu migrierter Schüler:innen an relevanten Entscheidungsstellen (eigene Darstellung).

360 Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Unterricht richtet sich nicht nach regulärer Stundentafel Ausschließlich Vermittlung von ›sozialen Kompetenzen‹ Reduzierte Wochenstundenzahl

Unterricht richtet sich nicht nach regulärer Stundentafel Ausschluss aller ›SE‹ im Regelunterricht

Unterricht richtet sich nach regulärer Stundentafel Ausschluss bestimmter ›SE‹ vom Regelunterricht

Ostschule

Westschule

Südschule

Zeugnisse: ausschließlich Beurteilung des ›sozialen (Arbeits-)Verhaltens‹

Differente Leistungskriterien (Hausaufgaben) Zeugnisse: ausschließlich Beurteilung des ›sozialen (Arbeits-)Verhaltens‹

Differente Leistungskriterien (Hausaufgaben) Zeugnisse: ausschließlich Beurteilung des ›sozialen (Arbeits-)Verhaltens‹

Übergang von bestimmten ›SE mit positiven Leistungsprognosen‹ in die RK, i. d. R. längerer Verbleib in der VK (paralleles Modell) Rückstufung wegen ›mangelnder Leistungen‹

Zuweisung in Jahrgangsklasse von der Bereitschaft der Lehrkräfte abhhängig, ›SE‹ in ihre RK aufzunehmen

I. d. R. längerer Verbleib von ›SE‹ in der VK (paralleles Modell), Zuweisung auf ›Probe‹, nur ›SE mit positiven Leistungsprognosen‹ wechseln in die RK der Schule Rückstufung wegen ›mangelnder Leistungen‹

Adressierung bestimmter ›SE‹ als ›SE mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ während der Erstförderung

Adressierung aller ›SE‹ als ›SE mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ während der Erstförderung

Adressierung bestimmter ›SE‹ als ›SE mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ während der Erstförderung

Einbindung aller ›SE‹ in reguläres Übergangsverfahren: Schulformempfehlungen werden ausgesprochen

Zuweisung wird der Schulverwaltung überlassen

Zuweisung von ›leistungsstarken SE‹ als ›RS‹

7 Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule 361

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme   RK: Regelklasse, denen ›Seiteneinsteiger‹ im teilintegrativen Modell zugeordnet sind VK: Vorbereitungsklasse (Unterricht für ›Seiteneinsteiger‹ findet parallel im eigenen Klassenverband durch jeweils ein:e eigene VK-Lehrer:in statt) VG: Vorbereitungsgruppe (Unterricht für ›Seiteneinsteiger‹ findet nacheinander in unterschiedlichen Vorbereitungsgruppen durch ein:e VK-Lehrer:in statt)

  Mit dem tabellarischen Überblick wird deutlich, an welchen Entscheidungsstellen die Schulen homologe Praxen etabliert haben und wie die Praxen hinsichtlich der untersuchten Entscheidungsstellen differieren. Darüber hinaus zeigt sich, inwiefern die Beschulung neu migrierter Schüler:innen an den sonst für ›Regelschüler‹ geltenden Praxen ausgerichtet sind oder von diesen unterschieden werden können.   Durch eine weitere Abstraktion der skizzierten Praxen können im themenbezogenen Fallvergleich drei unterschiedliche Typen hinsichtlich der ›Klassifikation des Status ›Seiteneinsteiger‹ entwickelt werden.  

7 Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule

Tabelle 4: Typik ›Klassifikation des Status ›Seiteneinsteiger‹ (eigene Darstellung). Typ I Normalisierung

Typ II Intrakategoriale Leistungsdifferenzierung

Typ III Kategoriale Differenzierung

Handlungsleitende Orientierungen

Der Status ›SE‹ wird normalisiert, indem ›SE‹ als ›RS‹ adressiert werden. ›SE‹ werden den gleichen Verfahren und Praxen wie ›RS‹ zugeführt.

›SE‹ werden intrakategorial entsprechend der ihnen zugeschriebenen Leistungsvermögen differenziert. ›SE‹, die als ›leistungsschwach‹ beobachtet werden, werden von dem sonst für ›SE‹ geltenden Verfahren exkludiert, verbleiben im ›SE‹-Status oder werden einem AO-SF Verfahren zugeführt. ›SE‹, die als ›leistungsstark‹ beobachtet werden, werden als ›RS‹ adressiert und den gleichen Verfahren wie ›RS‹ zugeführt.

›SE‹ werden kategorial von ›RS‹ differenziert, ausschließlich als ›SE‹ adressiert und von den Verfahren und Praxen für ›RS‹ exkludiert.

Entscheidungsstellen

Unterricht GS-Sek

Unterricht Übergang RK Leistungsbewertung AO-SF Verfahren GS-Sek

Unterricht Übergang RK Leistungsbewertung AO-SF Verfahren GS-Sek

Schulen

Waldschule (GS-Sek) Flussschule (GS-Sek) Bergschule (Unterricht) Südschule (GS-Sek)

Waldschule (Unterricht, Übergang RK) Flussschule (AO-SF Verfahren, Unterricht, Leistungsbewertung, Übergang RK) Bergschule (AO-SF Verfahren) Ostschule (AO-SF Verfahren, Übergang RK, GS-Sek) Südschule (Unterricht, AO-SF Verfahren, Übergang RK)

Waldschule (Leistungsbewertung, AO-SF Verfahren) Bergschule (Leistungsbewertung, Übergang RK, GS-Sek) Ostschule (Unterricht, Leistungsbewertung) Westschule (Unterricht, Leistungsbewertung, Übergang RK, AO-SF Verfahren, GS-Sek) Südschule (Leistungsbewertung)

Die abstrahierten drei Klassifikationstypen stellen Handlungsorientierungen dar, die innerhalb der Fälle im Hinblick auf die für die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ empirisch untersuchten Entscheidungsstellen – wie bspw. der Fragen, wie ›Seiteneinsteiger‹ unterrichtet oder einer Regelklasse zugewiesen werden sollen – zum Tragen kommen.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Der Typ I zeichnet sich durch eine Normalisierung des Status ›Seiteneinsteiger‹ aus, mit dem neu migrierte Schüler:innen als ›Regelschüler‹ adressiert werden. Rekonstruiert werden konnte dieser Typ an den Entscheidungsstellen Unterrichtsgestaltung und Übergang zur Sekundarstufe. Dies bedeutet, dass neu migrierte Schüler:innen nach dem regulären Curriculum für Primarschüler:innen unterrichtet und den gleichen Verfahren wie ›Regelschüler‹ beim Wechsel von der Grundschule in die niveaudifferenzierte Sekundarstufe zugeführt werden. Entsprechend des Typ II werden neu migrierte Schüler:innen intrakategorial (d.h. innerhalb der Beobachtungskategorie ›Seiteneinsteiger‹) nach den ihnen zugeschriebenen Leistungen als ›problematische‹ oder ›leistungsstarke Seiteneinsteiger‹ differenziert. Bestimmte als ›problematisch‹ klassifizierte neu migrierte Schüler:innen werden auf Grundlage dieser Beobachtung von den sonst für ›Seiteneinsteiger‹ geltenden Praxen exkludiert und Verfahren zugeführt, die auf eine mehr oder weniger auf Dauer gestellte Exklusion der davon betroffenen Schüler:innen aus dem Regelunterricht oder einer Regelklasse bzw. auf eine Re-Kategorisierung dieser ›Seiteneinsteiger‹ als Inklusionsschüler:innen abzielt. Gleichzeitig kann eine intrakategoriale Leistungsdifferenzierung für als ›leistungsstark‹ beobachtete ›Seiteneinsteiger‹ bedeuten, dass diese – anders als die als ›normale Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen der jeweiligen Schule – in den Regelunterricht inkludiert und als ›Regelschüler‹ adressiert, nach Alter und Leistung entsprechend einer Jahrgangsklasse zugewiesen werden, Noten erhalten oder als ›Regelschüler‹ in die niveaudifferenzierte Sekundarstufe wechseln. Mit dem Typ III werden neu migrierte Schüler:innen kategorial von ›Regelschülern‹ unterschieden, ausschließlich als ›Seiteneinsteiger‹ adressiert und besonderen Verfahren und Praxen zugeführt. Dies bedeutet, dass alle als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen vom Regelunterricht exkludiert oder nicht nach dem für Primarschüler:innen geltenden Curriculum unterrichtet werden, anders als ›Regelschüler‹ einer Jahrgangsklasse zugewiesen werden, nicht wie ›Regelschüler‹ entsprechend ihrer (angenommen) Leistungen differenziert und bewertet werden, als ›Inklusionsschüler‹ adressiert werden, oder vom regulären Verfahren des Übergangs in die Sekundarstufe exkludiert werden. Zusammenführung Betrachtet man die in der Typik ›Klassifikation des Status ›Seiteneinsteiger‹ kondensierten Ergebnisse, fällt auf, dass an den Schulen hinsichtlich differenter Entscheidungsstellen jeweils divergierende Orientierungen handlungsleitend erscheinen; die Fälle also im Hinblick auf unterschiedliche Entscheidungsstellen verschiedene Typen auf sich vereinen. Zwei Fälle stechen bei der Betrachtung jedoch heraus: So zeichnet sich zum einen die Westschule durch ein durchgehendes Muster der kategorialen Differenzierung ›Seiteneinsteiger‹/›Regelschüler‹ aus und zum anderen orientiert sich die Flussschule, abgesehen von der Entscheidungsstelle des Übergangs von der Grundschule auf die Sekundarstufe, durchgängig an einer intrakategorialen Leistungsdifferenzierung. Darüber hinaus wird erkennbar, dass der Typ I (›Normalisierung‹) insbesondere hinsichtlich der Entscheidungsstelle des Übergangs Grundschule–Sekundarstufe als Handlungsorientierung dient und insgesamt deutlich seltener eine handlungsleitende Orientierung für die Praxen der Schulen darstellt. Von Bedeutung scheint, dass an gleichen (!) Entscheidungsstellen in verschiedenen Fällen unter-

7 Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule

schiedliche Orientierungstypen relevant gemacht werden. Das bedeutet mit Blick auf alle Fälle, dass jede Entscheidung anders hätte ausfallen können. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Rückgriff auf die jeweiligen Typen funktional ist, wenn durch diese Bezugnahmen Entscheidungsprämissen für die Entscheidungsprozesse generiert werden (können). Wenn also die Frage aufkommt, wie neu migrierte Schüler:innen unterrichtet, einer Regelklasse oder einer weiterführenden Schule zugewiesen werden sollen, oder geprüft werden soll, inwiefern ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt, bietet die Typik ›Klassifikation des Status ›Seiteneinsteiger‹ Handlungsorientierungen an. Wenn die drei Typen, dieser Argumentation folgend, als ›Lösungen‹ für das Bezugsproblem der Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ aufgefasst werden, wird deutlich, dass die Organisation Schule hinsichtlich der Beschulung neu migrierter Schüler:innen – trotz der sichtbar werdenden Varianzen – über eine begrenzte Anzahl an ›Lösungen‹ verfügt, auf die jeweils zurückgegriffen wird. Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Typen als ›funktional äquivalente Lösungen‹ für (sich je spezifisch darstellende) Entscheidungsprobleme beschrieben werden können. Die Typen verweisen zwar nicht auf konkrete Praxen, d.h. aus einem Typ lässt sich nicht eine bestimmte Entscheidung ableiten, es wird aber deutlich, dass die Typen dennoch ›Lösungen‹ für das Bezugsproblem generieren, ›wie Seiteneinsteiger zu unterrichten seien‹.

7.1.3

Ungleichheitsrelevante Muster I

Beschulungspraxen neu migrierter Schüler:innen ergeben sich aus handlungsleitenden Orientierungen der drei Beobachtungstypen, die mit dem Verweis auf spezifische Problembeschreibungen plausibilisiert werden. Die rekonstruierten Problembeschreibungen beruhen auf u.a. ethnisierenden, kulturalisierenden, antiziganistischen und klassistischen Wissens- und Deutungsressourcen und sind durch die Normalitätserwartungen an die Mitgliedschaftsrolle als Schüler:in in der Organisation Schule geprägt. Interessant ist nun jedoch, dass sich in der Beschulungspraxis dennoch – trotz dieser in den Problembeschreibungen deutlich werdenden diskriminierungsrelevanten Beobachtungsweisen neu migrierter Schüler:innen – keine hieran anknüpfenden durchgängigen Orientierungen in den Praxen der einzelnen Fällen ausmachen lassen. So wird erkennbar, dass bspw. an einer Schule, für die an verschiedenen Entscheidungsstellen die handlungsleitende Orientierung einer kategorialen Differenzierung zu diskriminierungsrelevanten Beschulungspraxen neu migrierter Schüler:innen führt, gleichzeitig an einer anderen Entscheidungsstelle an dieser Schule eine Normalisierung des Status ›Seiteneinsteiger‹ rekonstruiert werden kann, die nicht auf potenzielle Diskriminierungen verweist. Erhöht wird die Komplexität schließlich dadurch, dass auch eine ›Normalisierung des Status ›Seiteneinsteiger‹ nicht zwangsläufig mit fehlender Diskriminierung gleichzusetzen ist. So können Diskriminierungen auch dadurch erzeugt werden, dass neu migrierte Schüler:innen mit scheinbar neutralen Leistungserwartungen konfrontiert werden – ohne zu konstatieren, dass diese bspw. aufgrund von durch Fluchtbewegungen unterbrochener Bildungsbiografien und/oder fehlenden Vermittlungen von fachbezogenen Wissensbeständen in Vorbereitungsklassen formal ungleiche Voraussetzungen mitbringen. Ungleichheitsrelevante Muster müssen daher weniger mit Blick auf die einzelnen Fälle, als vielmehr mit Blick auf die rekonstruierten

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Typen vor dem Hintergrund der im sechsten Kapitel erarbeiteten Erkenntnisse analysiert werden.   Mit dem Typ I der ›Normalisierung aller als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen‹ werden diese an den entsprechenden Entscheidungsstellen den gleichen Verfahren wie ›Regelschüler‹ zugeführt, während mit Typ III eine kategoriale Differenzierung von ›Seiteneinsteiger‹ und ›Regelschüler‹ erfolgt, wodurch mit den als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen anders als mit ›Regelschülern‹ verfahren wird.2 Typ II ist insofern interessant, als eine intrakategoriale Leistungsdifferenzierung der neu migrierten Schüler:innen vorgenommen wird, der sich auch ›Regelschüler‹ in der Organisation Schule permanent hinsichtlich ihrer zugeschriebenen Leistungen gegenüber sehen. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die handlungsleitende Orientierung des Typ II auf eine Praxis der Leistungsdifferenzierung hindeutet, mit der nur bestimmte ›Seiteneinsteiger‹ von den sonst für alle anderen ›Seiteneinsteiger‹ geltenden Verfahren ausgenommen werden. Es zeigt sich also nicht insgesamt eine Normalisierung des Status ›Seiteneinsteiger‹, vielmehr werden als besonders ›leistungsstark‹ oder ›leistungsschwach‹ klassifizierte ›Seiteneinsteiger‹ spezifischen Verfahren zugeführt, die entweder auf eine De-Kategorisierung der neu migrierten Schüler:innen als ›Regelschüler‹ oder auf eine Verstetigung eines ›Sonderstatus‹ der Schüler:innen verweisen kann (bspw. durch einen verlängerten Aufenthalt in einer Vorbereitungsklasse oder dem nahtlosen Übergang von Status ›Seiteneinsteiger‹ in den Status ›Inklusionsschüler‹). Typ I beruht also auf einer Normalisierung des Status ›Seiteneinsteiger‹ und einer Inklusion dieser in die auch für ›Regelschüler‹ geltenden Verfahren und Praxen. Typ II beruht auf einer intrakategorialen (Leistungs-)Differenzierung der neu migrierten Schüler:innen, auf deren Grundlage entweder eine Inklusion in oder eine Exklusion von regulären Verfahren und Praxen erfolgt. Typ III hingegen beruht auf einer kategorialen Differenzierung zwischen ›Seiteneinsteigern‹ und ›Regelschülern‹ und der Exklusion dieser so klassifizierten neu migrierten Schüler:innen aus den für ›Regelschüler‹ geltenden Verfahren.   Bezogen auf die Beschulungspraxis an den untersuchten bildungsbiografisch bedeutsamen Entscheidungsstellen werden die Beobachtungstypen in folgender Weise handlungspraktisch relevant: Unterrichtspraxis: (kein) Recht auf Bildung für neu migrierte Schüler:innen Hinsichtlich der Beschulung neu migrierter Schüler:innen wird deutlich, dass unabhängig von den jeweils praktizierten Beschulungsmodellen, d.h. der Frage, ob als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierte Schüler:innen teilintegrativ in einer Regelklasse oder vollständig parallel in einer Vorbereitungsklasse unterrichtet werden, eine Inklusion wie

2

Dabei kann eine kategoriale Differenzierung von ›Seiteneinsteigern‹/›Regelschülern‹ auch ohne semantischen Bezug auf den Begriff ›Seiteneinsteiger‹ vorgenommen werden, indem neu migrierte Schüler:innen als ›besondere Schüler:innengruppe‹ konstruiert werden (Kap. 6.3).

7 Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule

auch eine (inkludierende) Exklusion der Schüler:innen von der Kommunikation der Regelklasse bzw. des Regelschulbetriebs rekonstruiert werden kann. So zeigen sich in den Analysen a) Formen der inkludierenden Exklusion im Regelunterricht, bestehend aus der physischen Inklusion von ›Seiteneinsteigern‹ in die Regelklasse bei gleichzeitiger systematischer Exklusion von der Unterrichtskommunikation; b) Formen selektiver Exklusionen bestimmter, als ›problematisch‹ klassifizierter, neu migrierter Schüler:innen vom Regelunterricht oder Exklusion aller ›Seiteneinsteiger‹ von Lerngelegenheiten durch eine deutliche Reduktion der wöchentlichen Stundentafel; c) Formen der Exklusion neu migrierter Schüler:innen vom curricularen Unterricht durch Umdeutung des Unterrichts für ›Seiteneinsteiger‹ als vorschulische Kompensationsmaßnahme; d) Formen der vollständigen Inklusion neu migrierter Schüler:innen durch das Unterrichten der als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen nach dem regulären Curriculum.

Abgesehen von dem Fall der vollständigen Inklusion aller neu migrierten Schüler:innen an der Südschule und der Bergschule oder der Inklusion aller als ›leistungsstark‹ klassifizierten neu migrierten Schüler:innen an der Flussschule, wird deutlich, dass innerhalb der zweijährigen ›Erstförderung‹ in allen anderen Fällen keine systematische Vermittlung von fächerspezifischem Wissen zu beobachten ist.3 Unabhängig vom Beschulungsmodell werden neu migrierte Schüler:innen damit über einen Zeitraum von zwei Jahren (der auch kürzer oder länger sein kann, s.u.) systematisch von schulisch relevanten Lerngelegenheiten exkludiert. Welche bildungsbiografischen Folgen diese Exklusion haben kann, wird bei einem Blick auf die weiteren Entscheidungsstellen deutlich. Übergang in die Regelklasse: Vorbereitungsgruppen/-klassen als Selektionsorte Der vollständige Wechsel neu migrierter Schüler:innen in eine Regelklasse erfolgt entweder auf der Grundlage von in der Schulverwaltung getroffenen Entscheidungen oder auf der Basis schulinterner Entscheidungen. Zeitpunkt des Übergangs und Wahl der Jahrgangsstufe variieren an den untersuchten Schulen erheblich. Dabei zeigt sich hinsichtlich der Zuweisung zu einer Jahrgangsstufe, dass an fast allen Schulen (abgesehen von der Bergschule, s.u.) eine Rückstufung um bis zu zwei Jahrgangsstufen erfolgt. Dies bedeutet, dass die neu migrierten Schüler:innen bereits ›überaltert‹ in die Sekundarstufe wechseln, wodurch sie nicht nur weiterhin als eine besondere Schüler:innengruppe erkennbar bleiben, sondern vermutlich auch mit einem höheren Risiko, ohne regulären Schulabschluss die Schule zu verlassen, konfrontiert sind (vgl. Gomolla/Radtke 2002: 213ff.). Die Beschulung als ›Seiteneinsteiger‹ kann zwischen ein paar Wochen und mehr 3

Inwiefern die an der Südschule und der Bergschule rekonstruierte generalisierte niedrige Leistungserwartung an alle Schüler:innen der jeweiligen Schule Ungleichheitsrelevanz besitzt, wäre im Anschluss an diese Arbeit weiter empirisch zu untersuchen und zu diskutieren.

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

als zwei Jahren andauern. Wenn auf der Grundlage schulinterner Prämissen eine Entscheidung für den Übergang getroffen wird, zeigt sich, dass der Übergang a) grundsätzlich für alle ›Seiteneinsteiger‹ nach zwei Jahren oder b) leistungsdifferenziert zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgt.

An den Schulen, an denen der vollständige Übergang in die Regelklasse zu unterschiedlichen Zeitpunkten praktiziert wird, konnte rekonstruiert werden, dass keine eindeutigen Kriterien oder formal geregelte Verfahren für die Entscheidung etabliert sind, wann ein Übergang für welche:n neu migrierte:n Schüler:in anstehen sollte. Hierdurch ergeben sich insofern potenzielle Diskriminierungsoptionen, als sich in den Rekonstruktionen zeigt, dass die im informellen Verfahren von Vorbereitungslehrkräften und/oder Regelklassenlehrkräften getroffenen Entscheidungen an geringen Erwartungen hinsichtlich der schulischen Fähigkeiten der neu migrierten Schüler:innen ausgerichtet werden. Lediglich als ›leistungsstark‹ klassifizierte ›Seiteneinsteiger‹, die in allen rekonstruierten Fällen als ›Abweichung‹ beobachtet werden, werden zeitnah einer ihrem Alter entsprechenden Jahrgangsklasse zugewiesen. Der zur Förderung neu migrierter Schüler:innen konzipierte Vorbereitungsunterricht entpuppt sich damit als ein Selektionsort, an dem auf der Grundlage formal nicht überprüfbarer Einschätzungen der Lehrkräfte Selektionsentscheidungen getroffen werden. In Anbetracht der Feststellung, dass innerhalb des ›Förderunterrichts‹ vielfältige Exklusionsformen erkennbar sind, mit denen das verbriefte Recht auf Bildung zumindest infrage gestellt wird, verweist diese Praxis auf diskriminierungsrelevante bildungsbiografische Folgen. Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs: vom ›Seiteneinsteiger‹ zum ›Inklusionsschüler‹ Hinsichtlich der Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs für neu migrierte Schüler:innen wurden zwei unterschiedliche Varianten rekonstruiert: a) für bestimmte neu migrierte Schüler:innen wird innerhalb der Beschulungsdauer als ›Seiteneinsteiger‹ ein sonderpädagogisches Förderverfahren für den Übergang in die Regelklasse vorbereitet; b) alle als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten neu migrierten Schüler:innen werden als ›Inklusionsschüler‹ beschult.

Die Praxis, bei der innerhalb der Vorbereitungsklasse/-gruppe die Entscheidung für die Einleitung eines sonderpädagogischen Förderverfahrens getroffen wird (a), bestätigt abermals die bereits herausgearbeitete Erkenntnis, dass Vorbereitungsgruppen/klassen bildungsbiografisch relevante Selektionsorte darstellen. Gleichzeitig verweist das Vorgehen, alle neu migrierten Schüler:innen von Beginn an ohne die offizielle Durchführung von Förderverfahren faktisch als ›Inklusionsschüler‹ zu beschulen (b), und so vom Regelunterricht zu exkludieren, auf die Ergebnisse zur Ausgestaltung der Unterrichtspraxis, innerhalb derer neu migrierte Schüler:innen systematisch von relevanten Lerngelegenheiten exkludiert werden. Indem die Adressierung von neu mi-

7 Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule

grierten Schüler:innen als ›Inklusionsschüler‹ ohne formale Verfahren vonstattengeht, werden auch hier potenzielle Diskriminierungen auf der Grundlage von Wissens- und Deutungsressourcen der Lehrkräfte wirksam. So sind die Klassifikationen von neu migrierten Schüler:innen als ›Inklusionsschüler‹ mit kulturalisierenden, ethnisierenden und sozio-ökonomischen Zuschreibungen verknüpft. Dabei sind Schüler:innen, die als ›Roma/Rumänen‹ beobachtet werden, in besonderem Maße von der Zuschreibung sonderpädagogischer Förderbedarfe betroffen. Der Status ›Seiteneinsteiger‹ stellt sich insofern als ein Risikofaktor für die Klassifikation als ›Inklusionsschüler‹ dar, die entweder temporär (für die Dauer der Beschulung als ›Seiteneinsteiger‹) oder dauerhaft eine Exklusion von Lerngelegenheiten des Regelschulbetriebs bedeutet. Wechsel von der Primar- in die Sekundarstufe: ›Seiteneinsteiger‹ als potenzielle ›Hauptschüler‹ Die Art und Weise des Wechsels neu migrierter Schüler:innen von der Primar- in die Sekundarstufe stellt sich als sehr different dar. So wurden folgende drei Verfahren rekonstruiert: a) alle neu migrierten Schüler:innen werden dem vorwiegend ressourcenorientierten Distributionsmanagement der jeweiligen Schulverwaltung zugeführt; b) alle neu migrierten Schüler:innen erhalten, ebenso wie ›Regelschüler‹, eine Schulformempfehlung und wechseln auf dieser Grundlage in die Sekundarstufe; c) bestimmte, als ›leistungsstark‹ beobachtete neu migrierte Schüler:innen, werden vor dem Übergang als ›Regelschüler‹ re-kategorisiert und wechseln daraufhin, wie alle anderen ›Regelschüler‹ auch, auf der Grundlage einer Schulformempfehlung in die Sekundarstufe; alle anderen ›Seiteneinsteiger‹ werden durch die vorwiegend ressourcenorientierte Zuweisungspraxis der Schulverwaltung vermittelt.

Es wird erkennbar, dass der Schulformwechsel für neu migrierte Schüler:innen – im Gegensatz zu den (gleichfalls rechtlich) klar strukturierten Vorgang für ›Regelschüler‹ – von den Entscheidungen an den Schulen abhängig ist, entweder auf die Verfahren der Schulverwaltungen zurückzugreifen (a) oder autonome Zuweisungsverfahren (b, c) zu etablieren. Trotz dieser Differenzen in der Organisation zeigt sich jedoch auch, dass viele neu migrierte Schüler:innen mit Rekurs auf die Klassifikation als ›weniger leistungsstarke‹ Schüler:innen insbesondere niedrigqualifizierenden weiterführenden Schulen zugewiesen werden. Besondere Anstrengungen der Lehrkräfte, den Übergang von neu migrierten Schüler:innen gezielt zu steuern, werden in erster Linie für die als ›leistungsstark‹ klassifizierten neu migrierten Schüler:innen sichtbar. Hier wird von den Lehrkräften eine regelmäßige Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ auf niedrigqualifizierende Sekundarschulformen antizipiert und diese Praxis mit Blick auf ›leistungsstarke Seiteneinsteiger‹ unterbrochen. Unabhängig von den jeweils praktizierten Beschulungsformen wechseln neu migrierte Schüler:innen vorwiegend auf niedrigqualifizierende weiterführende Schulen. Der Grund hierfür scheint dabei nicht nur in den (nicht) vorhandenen schulischen Ressourcen, sondern auch in der Klassifikation von neu migrierten Schüler:innen als ›we-

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niger leistungsstark‹ und ›nicht den Normalitätserwartungen der Regelschule entsprechend‹ zu liegen.   Beobachtungen neu migrierter Schüler:innen, die sich in den rekonstruierten Problembeschreibungen dokumentieren, ermöglichen in der Beschulungspraxis, bei der Klassifikationen und Askriptionen zu »festen kommunikativen Formen« (Emmerich/Hormel 2013a: 82ff.) gekoppelt werden, ungleichheitsrelevante Adressierungen der Schüler:innen im Modus von Inklusion und Exklusion (vgl. ebd.), die sich u.a. in Diskriminierungen neu migrierter Schüler:innen im Erziehungssystem niederschlagen können. Gleichzeitig wird mit Blick auf die Analysen deutlich, dass die Verantwortung für die schulischen Praxen und die bildungsbiografischen Konsequenzen, durch das Matching interner und externer Kategorien u.a. den Schüler:innen und ihren Familien zugeschrieben wird. Grundsätzlich zeigt sich, dass die beschriebenen ›Lösungen für die Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ sich nicht aus spezifischen Problembeschreibungen ergeben, sondern der Organisation Schule scheinbar eine Reihe an Optionen für die Beschulung von (neu migrierten) Schüler:innen zur Verfügung stehen, und diese Lösungen auf diverse Weisen mit bestimmten Problembeschreibungen plausibilisiert werden, die selbst wiederum durch die Organisation Schule und das Interaktionssystem Unterricht geprägt sind. Es wird also mit Blick auf die rekonstruierten Problemlösungen und Problembeschreibungen deutlich, dass keine simplen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zwischen einer spezifischen Beobachtungsweise neu migrierter Schüler:innen und bestimmten Beschulungspraxen bzw. Entscheidungspraxen an den untersuchten Entscheidungsstellen bestehen. So lassen sich keine eindeutigen Muster ableiten, wie die rekonstruierten Problembeschreibungen mit Problemlösungen verknüpft werden – Lösungen und Probleme stehen damit in keinem Kausalverhältnis zueinander. Dennoch kann gleichzeitig festgehalten werden, dass Beschulungspraxen neu migrierter Schüler:innen jeweils spezifische schulische Lösungen darstellen, die durch die Verknüpfung mit bestimmten Problembeschreibungen in Form von spezifischen Beobachtungsweisen neu migrierter Schüler:innen plausibilisiert werden.

7.2

Kommunale sozialräumliche, bildungspolitische und bildungsrechtliche Kontexturen der Beschulung neu migrierter Schüler:innen

Die Schulen vereinen an unterschiedlichen Entscheidungsstellen verschiedene Problembeschreibungen und Lösungen auf sich. Wie Kontingenz jeweils eingeschränkt wird – d.h. auf welche Lösungen vor der Bezugnahme auf welche Problembeschreibungen zurückgegriffen wird – bleibt offen (Kap. 7.1). Dies könnte darauf hinweisen, dass die rekonstruierten Praxen nicht nur durch Wissens- und Deutungsressourcen prädisponiert sind, sondern gleichzeitig kommunale sozialräumliche sowie kommunale bildungspolitische und bildungsrechtliche Kontexturen in den Schulen bearbeitet werden und Bedeutung hinsichtlich der Frage haben könnten, wie ›Seiteneinsteiger‹ beobachtet und beschult werden. So kann mit einer systemtheoretischen Perspektive im Anschluss an Luhmann davon ausgegangen werden, dass Organisationen

7 Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule

»ein rekursiv-geschlossenes, mit eigenen Entscheidungen auf eigene Entscheidungen bezugnehmendes System« (Luhmann 2019: 337) darstellen. Gleichzeitig steht das Erziehungssystem jedoch stets in »System-zu-System-Beziehung« (Luhmann 2002: 116) mit anderen Funktionssystemen, wie dem politischen System, und ist mit Umweltanforderungen dieser Systeme konfrontiert. Wie diese Umweltanforderungen innerhalb der Organisation Schule verarbeitet werden, ist jedoch kontingent, d.h., dass von einer »nicht-beliebige[n] Anschließbarkeit von Systemprozessen an Umweltprozesse und umgekehrt« (Luhmann 2019: 124) auszugehen ist. Im Weiteren werden daher kommunale sozialräumliche sowie kommunale bildungspolitische und bildungsrechtliche Kontexturen im Hinblick auf ihre Bedeutung für die rekonstruierten (diskriminierungsrelevanten) Beschulungspraxen näher betrachtet. Zunächst werden sozialräumliche Kontexturen der Schulen in den Blick genommen (Kap. 7.2.1). Dabei werden die in den Schulinterviews deutlich werdenden Bezugnahmen auf die geografischen Verortungen der Schulen in unterschiedlichen Sozialräumen der Städte zusammenführend betrachtet. Anschließend wird diskutiert, welche Bedeutung bildungspolitische und bildungsrechtliche Kontexturen in Form einer Bearbeitung von Umweltanforderungen der Schulverwaltung (Kap. 7.2.2.1) und als Bearbeitung von Umweltanforderungen der Schulpolitik (Kap. 7.2.2.2) hinsichtlich der Beschulung neu migrierter Schüler:innen an den untersuchten Schulen zukommt. Abschließend werden die erkennbar werdenden ungleichheitsrelevanten Muster zusammengeführt (Kap. 7.2.3).

7.2.1

Kommunale sozialräumliche Kontexturen

In den vorgenommenen Rekonstruktionen zeigen sich eine Vielzahl von Bezugnahmen auf den städtischen ›Sozialraum‹, innerhalb dessen die Schulen durch die Lehrkräfte oder Schulleitungen verortet, oder von dem diese abgegrenzt werden. Als besonders relevant wird eine Differenzierung des kommunalen städtischen Raums in nördliche und südliche Stadtgebiete ausgemacht, an die Annahmen über förderliche (›Süden‹) oder weniger förderliche (›Norden‹) Gegebenheiten für eine erfolgreiche Bildungsteilhabe der neu migrierten Schüler:innen geknüpft werden. Im Weiteren werden die in den geografischen Verortungen der Schulen als Kontexturen ins Auge gefasst, und gefragt, inwiefern diese Auswirkungen im Hinblick auf die Erzeugung ungleichheitsrelevanter Strukturen im Erziehungssystem haben (können).   Die geografische Verortung der Schulen wird in allen Interviews ausführlich thematisiert (s. hierzu auch Kap. 6.3.1.5). Dabei wird jedoch interessanterweise kaum Bezug auf die jeweiligen Städte, in denen die Schulen angesiedelt sind, genommen (oder ihre Positionierung im Bundesland NRW thematisiert), sondern vielmehr auf die Stadtteile verwiesen, in denen sich die Schulen befinden. So wird mit den vorgenommenen Analysen erkennbar, dass an den Schulen eine Relevanzsetzung der schulischen Einzugsgebiete und die Verknüpfung dieser mit Annahmen über ›familiäre Hintergründe‹ der in diesen Stadtteilen lebenden Menschen stattfindet. Sichtbar wird dabei

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme a) eine kategoriale Differenzierung zwischen dem schulischen Einzugsgebiet und den aus einem anderen Stadtteil stammenden neu migrierten Schüler:innen, mit der die als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen deutlich von den ›Regelschülern‹ der Schule unterschieden werden (Westschule, Ostschule); b) eine Normalisierung in Form einer Subsumierung neu migrierter Schüler:innen unter das ›normale Schüler:innenklientel‹ des als problematisch entworfenen Schuleinzugsgebietes (Bergschule, Südschule und in geringerem Umfang auch die Flussschule).

Betrachtet man also auf der Grundlage der Erkenntnisse aus Kapitel 7.1 (vgl. Tab. 4) die rekonstruierten Typen an den Entscheidungsstellen in Relation zur geografischen Verortung der Schulen, fällt auf, dass die Ergebnisse auf einen möglicherweise vorliegenden Zusammenhang zwischen der Verortung der Schulen und der Beobachtung und Beschulung neu migrierter Schüler:innen hindeuten. So kann an keiner der beiden im Süden gelegenen Schulen des Samples (Ostschule und Westschule) eine Normalisierung des Status ›Seiteneinsteiger‹ (Typ I) an einer der untersuchten Entscheidungsstellen ausgemacht werden, wohingegen dieser Typ an der Waldschule, der Flussschule, der Bergschule und der Südschule hinsichtlich der Entscheidungsstelle des Übergangs auf die Sekundarstufe (Waldschule, Flussschule, Südschule) und der Unterrichtsgestaltung (Bergschule) relevant wird. Gleichzeitig zeichnet sich die im Süden von Radstadt gelegene Westschule dadurch aus, dass an dieser durchgängig an allen Entscheidungsstellen auf eine kategoriale Differenzierung ›Seiteneinsteiger‹/›Regelschüler‹ zurückgegriffen wird. Die Westschule ist damit die einzige Schule des Samples, in der eine durchgehende Bezugnahme auf ausschließlich einen Klassifikationstyp zu beobachten ist. Die beiden im Süden angesiedelten Schulen unterscheiden sich entsprechend von den weiteren Schulen des Samples insofern, als hier neu migrierte Schüler:innen als deutlich von den anderen Schüler:innen des schulischen Einzugsgebiets different beobachtet werden. Demgegenüber werden neu migrierte Schüler:innen an der Bergschule und der Südschule – die beide im Norden von Flurstadt und Radstadt liegen – als normales Schüler:innenklientel der Schulen, welche als in ›problematischen Einzugsgebieten‹ liegend entworfen werden, klassifiziert. Da jedoch nur zwei der sechs untersuchten Schulen geografisch im Süden von Radstadt verortet werden können, kann die hier skizzierte Relevanzsetzung auch dem kleinen Sample geschuldet sein und es lässt sich aufgrund der vorliegenden Daten nicht abschließend klären, inwiefern ein Zusammenhang zwischen der Beobachtung und Klassifikation neu migrierter Schüler:innen als Schüler:innen aus einem als problematisch entworfenen und deutlich vom eigenen Schuleinzugsgebiet abgegrenzten Sozialraum und der etablierten Beschulungspraxis besteht.   An allen Schulen konnte die Orientierung rekonstruiert werden, dass die Sozialisation im Sozialraum einen Einfluss auf das schulische Lernverhalten und die angenommenen Lernpotenziale habe. In beiden Fällen (a und b) beruht die Differenzierung oder die Normalisierung hinsichtlich der Klassifikation neu migrierter Schüler:innen in Zusammenhang mit der Relevanzsetzung des Sozialraums nicht nur auf Konstruktionsprozessen von Kultur und Ethnizität, sondern auch auf klassen- und schichtbezogenen

7 Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule

Annahmen über sozio-ökonomische Hintergründe der Familien. Insbesondere im Norden der Städte Flurstadt und Radstadt lebende neu migrierte Schüler:innen werden dabei aufgrund ihres Wohnortes als ›migrantisch‹, ›bildungsfern‹ und/oder ›verarmt‹ beobachtet (Kap. 6.3.1.5). Durch den in Radstadt etablierten Bustransfer neu migrierter Schüler:innen werden diese an der Ostschule und Westschule nicht nur als eine ›Gruppe der Seiteneinsteiger‹, sondern darüber hinaus auch als Schüler:innen aus einem als ›problematisch‹ entworfenen Sozialraum betrachtet und in besonderer Weise als eine spezifische, kategorial zu differenzierende ›Schüler:innengruppe‹ ausgemacht. Mit dem Verweis auf den ›problematischen Sozialraum‹ der neu migrierten Schüler:innen werden schulische ›Probleme‹ plausibilisiert und die Verantwortung für diese externalisiert. So weisen Emmerich und Hormel mit Blick auf die Thematisierung von Sozialräumen im Bildungskontext darauf hin, dass hier ein »[Kausalmodell] Plausibilität erlangte […], das von der Varianz der Sozialstruktur ausgehend über die Konstruktion differenzieller Sozialisationsbedingungen auf die Varianz der Lernvoraussetzungen schließt.« (Emmerich/Hormel 2013a: 112) Diese Annahme ist dabei nicht nur innerhalb der Organisation Schule vorzufinden. Vielmehr sei es so, führen Emmerich und Hormel weiter aus, dass auch eine Vielzahl an empirischen Forschungsarbeiten diesen Zusammenhang, der auf einer kategorialen Beobachtung beruhe, bestärken (vgl. ebd.). Entsprechend ist davon auszugehen, dass Wissens- und Deutungsressourcen der Lehrkräfte hinsichtlich der Einschätzung der bildungsbezogenen Relevanz der Sozialräume, in denen die Schüler:innen leben u.a. von diesen Annahmen geprägt sind. So argumentieren Fölker et al., dass mit der Bezugnahme auf ›soziale Brennpunkte‹ – wie dies in den Interviews rekonstruiert werden konnte –  »vielfältige, im Kern zumeist defizitäre Zuschreibungen an die Stadtteile und ihre BewohnerInnen [transportiert werden]. […] In dieser Ausprägung der ›Brennpunkt‹Metapher vermengen sich dann Semantiken von Gefährdung und sozialem Verfall mit solchen der gruppenspezifischen Schuldzuweisung an die benachteiligt Lebenden selbst.« (Fölker/Hertel/Pfaff 2015b: 9) Es sind jedoch nicht nur die Selbstverortungen oder Abgrenzungen der Schulen vom antizipierten Sozialraum neu migrierter Schüler:innen, mit den daran anschließenden Klassifikationen, relevant. So kann angenommen werden, dass insbesondere der Übergang von der Primar- auf die Sekundarstufe durch die Verortung der Schulen im Stadtgebiet und den dortigen lokalen Schulkonstellationen geprägt ist und entsprechend etablierte Bildungsstrukturen auch Bedeutung für die Bildungsbiografien von als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen haben können. So zeigen Arbeiten zum Übergang von Schüler:innen auf das Sekundarschulsystem, dass Grundschulen sich oftmals durch relativ konstante Übergangsquoten auf die niveaudifferenzierten Sekundarschulformen auszeichnen, bzw. langfristig etablierte Zuweisungsverfahren auf bestimmte weiterführende Schulen zu beobachten sind (vgl. Hauf 2007; Radtke/Stošić 2009; Terpoorten 2014; Ackeren/Klemm/Kühn 2015). Hauf spricht in Bezug auf letzteres Phänomen von einer »Versäulung« (Hauf 2007: 299): Bestimmte Primarschulen stellen demnach verlässliche ›Zubringer‹ neuer Schüler:innen für spezifische weiterführende Schulen im Stadtteil dar. Die enge Zusammenarbeit von Primar- und weiterführenden Schulen resultiere dabei, so Radtke und Stošić,

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»aus einem organisatorischen Kalkül, sofern die Organisation Schule vor allem an Bestandserhalt, Komplexitätsreduktion und Krisenvermeidung interessiert ist. Es gilt das zur Verfügung stehende Platzangebot in Schulen aufrecht zu erhalten und zu verteilen, sowie Homogenität und die Problemvermeidungen durch ›schwierige‹ Schüler durchzusetzen.« (Radtke/Stošić 2009: 45f.) Erkennbar wird nun mit Blick auf die Ergebnisse aus dem sechsten Kapitel, dass die im Norden von Radstadt verortete Südschule eine solche informelle Kooperation mit einer ebenfalls im gleichen Stadtgebiet angesiedelten Hauptschule unterhält. So konnte rekonstruiert werden, dass sich in diesem Fall insofern eine ›Versäulung‹ zeigt, als neu migrierte Schüler:innen an dieser Schule fast ausschließlich auf die nahe gelegene Hauptschule überwiesen werden. Auf die Möglichkeit, als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierte Schüler:innen durch die Schulverwaltung zuweisen zu lassen, wird hier bewusst verzichtet, da das bereits etablierte Verfahren als erfolgreich und gut ausgewiesen wird. Trotz dieser Rahmung des Übergangsverfahrens durch die Schulleitung wird hier insofern eine Diskriminierung neu migrierter Schüler:innen erkennbar, als diese an der Südschule ausschließlich auf die am niedrigsten qualifizierende Sekundarschulform zugewiesen werden und gleichzeitig davon ausgegangen werden kann, dass diese Überweisung sich für die meisten als eine dauerhafte Zuweisung darstellt (s. Kap. 5). Zum Zeitpunkt des Interviews wird auch an der Bergschule im Norden von Flurstadt über eine feste Kooperation mit einer bestimmten weiterführenden Schule nachgedacht. Interessant ist dabei jedoch, dass sich diese Schule nicht im gleichen Stadtgebiet befindet und es sich nicht um eine Realschule handelt, die aktiv auf die Bergschule zugekommen ist.4 Die Kooperation wird von der Schule als eine positive Option zur Schaffung eines aufeinander abgestimmten Förderkonzeptes für neu migrierte Schüler:innen bewertet. Hinsichtlich der formalen Etablierung der Praxis wurden dabei lediglich Zweifel bezüglich der rechtlichen Möglichkeiten geäußert, die in der Zukunft noch ausgelotet werden müssten. An der in dem als ›problematisch‹ entworfenen Stadtteil im Norden der Stadt befindlichen Bergschule, die, anders als die Südschule, keine langjährige Erfahrung in der Beschulung von neu migrierten Schüler:innen aufweist, wird also ebenfalls der Versuch einer Etablierung einer festen Kooperation erkenntlich. Abweichend von der Südschule, die die Überweisungspraxis informell betreibt, strebt die Bergschule dabei jedoch eine formelle Kooperation an. Solange diese Frage nicht mit der Schulverwaltung geklärt wird, wird an der Bergschule weiterhin an der Vermittlung der neu migrierten Schüler:innen durch die Schulverwaltung festgehalten (s. Kap. 7.2.2). Feste Kooperationen mit konkreten weiterführenden Schulen werden an der Waldschule und Flussschule, die ebenfalls in nördlichen Stadtgebieten verortet sind, anders thematisiert als an der Südschule und der Bergschule. So verweisen die Waldschule und die Flussschule zwar grundsätzlich darauf, dass die Schulen im gleichen Stadtgebiet besser auf das Schüler:innenklientel der nördlichen Stadtgebiete eingestellt sei-

4

Aus welcher Motivation heraus sich die Realschule an die Bergschule gewandt hat, bleibt hier leider offen. Auffällig ist jedoch, dass es sich um eine Realschule handelt, die im Süden der Stadt verortet ist.

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en. Gleichzeitig wird dabei jedoch eine allgemeine Kooperation mit den Stadtteilschulen angesprochen und keine feste Kooperation mit einer bestimmten Schule benannt. Wie sich das Schulplatzangebot an den unterschiedlichen Schulen der Sekundarstufe I und das Überweisungsverhalten der Waldschule und der Flussschule hier auf die Wahrscheinlichkeit auswirkt, dass Schüler:innen eine bestimmte weiterführende Schule besuchen, kann mit den vorliegenden Daten nicht geklärt werden. Interessant ist hinsichtlich der beiden im Süden (von Radstadt) gelegenen Schulen (Ostschule und Westschule), dass hier eine möglicherweise ebenso bestehende ›Versäulung‹ mit – so wäre anzunehmen5  – höherqualifizierenden weiterführenden Schulen für neu migrierte Schüler:innen insofern unterbrochen wird, als an der Westschule alle und an der Ostschule fast alle (mit Ausnahme einzelner, als besonders ›leistungsstark‹ klassifizierter) ›Seiteneinsteiger‹ nicht durch die Schulen selbst, sondern durch die Schulverwaltungen vermittelt werden. Zusammenführung Hinsichtlich der sozialräumlichen Verortung der untersuchten Schulen werden zwei Aspekte deutlich: Es zeigt sich, dass (trotz der genannten Einschränkung hinsichtlich der Ergebnisse) angenommen werden kann, dass es bezüglich der Beschulungspraxen an den untersuchten Entscheidungsstellen einen Unterschied macht, ob neu migrierte Schüler:innen als ›normales Schüler:innenklientel‹ des als ›problematisch‹ oder ›nicht problematisch‹ entworfenen schulischen Einzugsgebiets beobachtet werden, oder nicht. Schüler:innen, die mit Verweis auf ihre Sozialisation im als ›Brennpunkt‹ gekennzeichneten Sozialraum scheinbar nicht den Normalitätserwartungen der Organisation Schule entsprechen, werden an Schulen, die sich selbst in diesem Sozialraum verorten, als ›normales Schüler:innenklientel‹ verhandelt (Flussschule, Bergschule, Südschule), während sie an den beiden Schulen, die sich deutlich von diesem Sozialraum abgrenzen (Westschule, Ostschule), als ›Belastung und Problem‹ beschrieben werden. Während an der Flussschule und der Bergschule Selektionsentscheidungen an den untersuchten Entscheidungsstellen nicht mit Bezugnahme auf den Sozialraum begründet werden, scheint dieser Hinweis demgegenüber an der Westschule und der Ostschule, sowie an gewissen Entscheidungsstellen an der Südschule, zur Plausibilisierung getroffener Entscheidungen beizutragen. Die hierbei sichtbar werdende Verknüpfung der externen Kategorien ›Migrant‹ und ›Sozialraum‹ mit der schulinternen Kategorie ›Leistungsfähigkeit‹ ist dabei potenziell diskriminierungsrelevant. Darüber hinaus wird erkennbar, dass hinsichtlich des Wechsels auf die weiterführende Schule kein Zusammenhang zwischen den Strukturvariablen der ›geografischen Verortung‹ und ›Erfahrung in der Beschulung neu migrierter Schüler:innen‹ besteht: An der Südschule (›Norden‹, ›langjährige Erfahrung‹) werden ›Seiteneinsteiger‹ hauptsächlich an die nahe gelegene Hauptschule überwiesen, während ›Seiteneinsteiger‹ an der Flussschule (›Norden‹, ›langjährige Erfahrung‹) und der Waldschule (›Norden‹, ›geringe Erfahrung‹) niveaudifferenziert an weiterführende Schulen empfohlen werden. Demgegenüber werden neu migrierte Schüler:innen an der Bergschule (›Norden‹, ›geringe Erfahrung‹), der Ostschule (›Süden‹, geringe Erfahrung‹) und der Westschule (›Süden‹, ›geringe Erfahrung‹) durch die Schulverwaltungen vermittelt. Wenn nun die Vermittlungspraxis der Schulverwaltungen (Kap. 5), die vorrangig auf einer wohnortnahen Zuweisung 5

Hierauf weisen bspw. die Ergebnisse der Arbeit von Terpoorten (2014) hin.

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neu migrierter Schüler:innen auf niedrigqualifizierende weiterführende Schulen beruht, sowie die an der Waldschule (in Bezug auf alle neu migrierten Schüler:innen) und die an der Flussschule (im Hinblick auf als ›Roma/›Rumänen‹ klassifizierten Schüler:innen) rekonstruierte Orientierung einer geringen Leistungserwartung in Rechnung gestellt wird, wird insgesamt ein Muster der systematischen Zuweisung neu migrierter Schüler:innen auf niedrigqualifizierende Schulen der Sekundarstufe I erkennbar. Diese Erkenntnisse decken sich dabei mit der Arbeit von Terpoorten, der für Kommunen im Ruhrgebiet herausgearbeitet hat, dass »sich die soziale und ethnische Segregation der Bevölkerung in einer räumlichen Bildungsdisparität [widerspiegelt].« (Terpoorten 2014: 269) Gleichzeitig zeigt sich, dass das Konzept der ›Versäulung‹ in kommunalen Schullandschaften nur eingeschränkt für die Beschulung neu migrierter Schüler:innen gilt. So wäre hier vielmehr von einer selektiven ›Versäulung‹ zu sprechen, da langfristig etablierte Zuweisungsverfahren zwischen Grundschulen und höherqualifizierenden Sekundarschulformen in privilegierteren Stadtteilen systematisch unterbrochen werden.

7.2.2

Kommunale bildungspolitische und bildungsrechtliche Kontexturen

Mit Bezug auf Weick (s. hierzu auch Kap. 2.3.2) kann in einer organisationstheoretischen Perspektive argumentiert werden, dass die Organisation Schule ein lose gekoppeltes System darstellt, in dem bspw. die Schulaufsicht nur lose mit dem Interaktionssystem Unterricht gekoppelt ist (vgl. Weick 1976: 3). Darüber hinaus wurde bereits plausibilisiert, dass von einer Polykontexturalität ausgegangen werden kann, in der Kontexturen, zu denen gleichfalls Anforderungen der (kommunalen) Bildungspolitik und des (kommunalen) Bildungsrechts gerechnet werden können, in widersprüchlichen Verhältnissen zueinanderstehen (können) und jeweils organisationintern bearbeitet werden. Diesen Annahmen folgend ist – mit Blick auf die vorliegende Arbeit – entsprechend offen, wie Umweltanforderungen, zu denen bspw. Entscheidungen der kommunalen Schulverwaltung sowie bildungspolitische Vorgaben des Landes NRW zählen, organisationsintern in den Schulen verarbeitet werden.

7.2.2.1

Bearbeitung von Umweltanforderungen der Schulverwaltung

Wie im fünften Kapitel herausgearbeitet, sind die Schulverwaltungen von Radstadt und Flurstadt in die ›Beratung‹, Verwaltung und Zuweisung neu migrierter Kinder und Jugendlicher an Schulen involviert. Die Praxis der Schulverwaltungen wurde im Hinblick auf die im Mittelpunkt stehenden Primarschulen in drei Bereichen näher betrachtet: das kommunale Distributionsmanagement, die Organisation des (vollständigen) Übergangs von neu migrierten Schüler:innen in die Regelklasse und der Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe. Mit Blick auf diese Entscheidungsstellen konnte gezeigt werden, dass die Schulverwaltungen der Städte Flurstadt und Radstadt in ihrer Praxis zum Teil deutlich differieren. So beruht die Organisation der Zuweisung neu migrierter Schüler:innen auf Schulen in Flurstadt auf der Annahme, dass eine Kopplung von Vorbereitungsklasse und Schulform bestehe; gleichzeitig wird aber die Organisation des Übergangs von der Primar- auf die Sekundarstufe ausschließlich im Hinblick auf vorhandene Schulressourcen durchgeführt. Demgegenüber beruht das kommunale Distributionsmanagement in Radstadt auf der Annahme, dass keine Kopplung von Schulform und Vorbereitungsklasse bestehe und die Zuweisung erfolgt auf der Grund-

7 Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule

lage von wohnortnahen schulischen Ressourcen. Im Zuge dessen beschreibt die Verwaltung es – anders als die Verwaltung in Flurstadt – als ihre Aufgabe, die Schulen beim Übergang von ›Seiteneinsteigern‹ in die Regelklasse zu unterstützen und hält ebenso bei der Organisation des Übergangs von der Primar- in die Sekundarstufe an einer schulressourcenorientierten Zuweisungspraxis fest. Es liegt damit die Vermutung nahe, dass die Verfahren der Schulverwaltungen relevante Kontexturen für die rekonstruierten Praxen der Schulen darstellen. Inwiefern diese Vermutung mit den erarbeiteten Ergebnissen bestätigt werden kann, wird im Weiteren näher betrachtet.   Die Schulverwaltung von Flurstadt ist in die Vermittlung der neu migrierten Schüler:innen auf Primarschulen und in den Prozess des Übergangs von der Primar- in die Sekundarstufe eingebunden. Hinsichtlich der Zuweisung der als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen in eine Jahrgangsklasse konnte jedoch rekonstruiert werden, dass nur die Bergschule bei der Entscheidung für eine Jahrgangsstufe an die auf dem Erhebungsbogen der Schulverwaltung notierten Entscheidungen für einen Jahrgang anknüpfte – und dies interessanterweise auch dann, wenn die Entscheidungen der Verwaltung als nicht passend beurteilt werden. Die beiden anderen Schulen in Flurstadt haben hingegen eigene Zuweisungspraxen etabliert, die u.a. darauf beruhen, ›Seiteneinsteiger‹ aufgrund der Zuschreibung ›mangelhafter Leistungen‹ um ein bis zwei Jahrgangsstufen zurückzustufen. Während die in der Schulverwaltung vorgenommenen Entscheidungen also an der Bergschule als Entscheidungsprämissen für die Zuweisung der neu migrierten Schüler:innen in eine Jahrgangsklasse dienen und eigene Orientierungen im Hinblick auf den Status ›Seiteneinsteiger‹ darüber hinaus nicht relevant werden, nehmen die anderen beiden Schulen keinen Bezug auf die in der Verwaltung getroffenen Entscheidungen und etablieren eigene Entscheidungsprämissen. Mit Blick auf die Zuweisung von als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen auf eine Sekundarstufe zeigt sich ein ähnliches Bild. So konnte auch hier rekonstruiert werden, dass nur die Bergschule die Entscheidung für die weiterführende Schulform in den Verantwortungsbereich der Schulverwaltung legt und somit keine eigenen Entscheidungsprämissen generiert, während die anderen beiden Schulen des Samples in Flurstadt Schulformempfehlungen aussprechen und sich dabei – wie im Falle der Waldschule – deutlich von dem von der Verwaltung praktizierten Verfahren distanzieren.   Auch die Schulverwaltung in Radstadt trifft hinsichtlich der Jahrgangszuordnung von neu migrierten Schüler:innen Entscheidungen und ist darüber hinaus in die Zuweisung im Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe involviert. Homolog zu Flurstadt zeigt sich ebenso an den Schulen in Radstadt eine erhebliche Varianz in Bezug auf die Anknüpfung an die in der Schulverwaltung vorgenommenen Entscheidungen, bzw. hinsichtlich der Inanspruchnahme der Schulverwaltung in der Organisation des Übergangsverfahrens in die Sekundarstufe. Bezüglich der Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ in eine Jahrgangsklasse wird deutlich, dass keine der Schulen des Samples in Radstadt an die in der Schulverwaltung getroffenen Entscheidungen für eine Jahrgangsstufe anknüpft. So haben alle Schulen eigene Zuweisungspraxen etabliert. Diese Praxis beruht an der Südschule und der Ostschule darauf, neu migrierte Schüler:innen auf der Grundlage des ihnen zugeschriebenen Leistungsvermögens i.d.R. mindestens eine Jahrgangsstu-

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

fe niedriger zuzuweisen, als ihr Alter vorgeben würde. An der Westschule hingegen stellt die Aufnahmebereitschaft der jeweiligen Klassenlehrer:innen die Entscheidungsprämisse für die Zuweisung in einen Jahrgang dar. Auch hinsichtlich des Übergangs von der Primar- in die Sekundarstufe konnte herausgearbeitet werden, dass die Praxen an den Schulen in Radstadt vom Aussprechen von Schulformempfehlungen für alle ›Seiteneinsteiger‹ (Südschule, Normalisierung), über die Behandlung von ›leistungsstarken Seiteneinsteigern‹ als ›Regelschüler‹ im Zuweisungsverfahren (Ostschule, intrakategoriale Leistungsdifferenzierung) bis hin zur Überlassung der Zuweisungsentscheidung durch die Schulverwaltung (Westschule, kategoriale Differenzierung) reichen.   Die Schulverwaltungen stellen für die Schulen Entscheidungsprämissen für die Entscheidungsstellen ›Zuweisung zu einer Regelklasse‹ und ›Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe‹ bereit, auf die die Schulen nur sehr selektiv zurückgreifen. So werden an vielen Schulen eigene Entscheidungsprozesse etabliert, die vollständig unabhängig von den Entscheidungen der Schulverwaltung sind und für die die herausgearbeiteten (zum Teil diskriminierungsrelevanten) Klassifikationen neu migrierter Schüler:innen entsprechend Relevanz besitzen. Wenn es jedoch dazu kommt, dass Entscheidungen in die Verwaltung verlagert werden, bedeutet dies, dass den Orientierungen der jeweiligen Schulen im Hinblick auf den Status ›Seiteneinsteiger‹ keine weitere Bedeutung zukommt, da in diesen Fällen ausschließlich die Orientierungen der Schulverwaltungen an den Entscheidungsstellen handlungsleitend sind. Dies wiederum heißt, dass neben der Relevanzsetzung der Entscheidungsprämisse ›sozialer Hintergrund‹ insbesondere ressourcenorientierte Praxen durchschlagen. Auf die Frage, wie mit neu migrierten Schüler:innen (im Übergang zur Sekundarstufe oder im Übergang in die Regelklasse) verfahren werden soll, wird an diesen Schulen entsprechend mit ressourcenorientierten Organisationslösungen reagiert, von denen als ›besonders leistungsstark‹ klassifizierte ›Seiteneinsteiger‹ gezielt ausgenommen werden (s. Kap. 5.2 und 5.3).

7.2.2.2

Bearbeitung von Umweltanforderungen der Schulpolitik

Wie im sechsten Kapitel herausgearbeitet wurde, handelt es sich bei den meisten bildungspolitischen Erlassen lediglich um rechtlich unverbindliche Empfehlungen, bzw. es werden den Schulen vom Schulministerium explizit eigene (›pragmatische‹) Gestaltungs- und Handlungsspielräume für die Beschulung neu migrierter Schüler:innen eingeräumt. Allein hinsichtlich der Einleitung von sonderpädagogischen Förderverfahren war zum Zeitpunkt der Durchführung der Studie festgelegt, dass diese erst mit der Beendigung der zweijährigen Erstförderung eröffnet werden dürfen und fehlende Deutschkenntnisse kein Hinweis auf vorliegende Förderbedarfe darstellen. Mit Blick auf die Ergebnisse des sechsten Kapitels kann festgehalten werden, dass durch rechtlich unverbindliche bildungspolitische Hinweise zur Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ für die Organisation Schule Gelegenheitsstrukturen eröffnet werden, die die Schulen nach eigenem Ermessen ausgestalten. Indem – im Gegensatz zur Beschulung von ›Regelschülern‹ – kaum rechtlich bindende Vorgaben (für die Beschulung neu migrierter Schüler:innen) vorliegen, werden Lösungsoptionen – wie bspw. die Redukti-

7 Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule

on von Wochenstundenzahlen für ›Seiteneinsteiger‹ oder der längere Verbleib von ›Seiteneinsteigern‹ in der Vorbereitungsklasse – erst ermöglicht. Darüber hinaus wird auf der Grundlage der Forschungsergebnisse deutlich, dass rechtlich verbindliche Vorgaben zur Einleitung sonderpädagogischer Förderverfahren organisationsintern nach eigenen Regeln verarbeitet werden. So können mit Blick auf die Entscheidungsstelle der ›Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs‹ informelle Adressierungen von neu migrierten Schüler:innen als ›Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ bereits während der zweijährigen Erstförderung rekonstruiert werden (Waldschule, Westschule). Die Entscheidungsprämisse, dass kein sonderpädagogisches Verfahren vor Beendigung der zweijährigen Erstförderung eingeleitet werden darf, führt dazu, dass die formelle organisatorische Entscheidung auf die informelle Ebene der Unterrichtskommunikation verlagert wird. Neu migrierte Schüler:innen werden an diesen Schulen in der Unterrichtsinteraktion also dennoch als ›Inklusionsschüler‹ adressiert, was sich in der Exklusion der so adressierten Schüler:innen aus dem Regelunterricht und den sonst für ›Seiteneinsteiger‹ geltenden Verfahren niederschlägt. Ein besonders auffälliges Ergebnis ist, dass sich diese Praxis insbesondere in Bezug auf Kinder ausmachen lässt, denen eine ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit als ›Rumänen/Roma‹ zugeschrieben wird. Es kann jedoch nicht nur eine Praxis der Verlagerung formeller Entscheidungen auf die Ebene der Unterrichtskommunikation, die mit einer informellen Adressierung von ›Seiteneinsteigern‹ als ›Inklusionsschüler‹ einhergeht, rekonstruiert werden. So wird an der Südschule an dieser Entscheidungsstelle explizit von offiziellen Vorgaben abgewichen und die Einleitung sonderpädagogischer Verfahren mit dem Förderschwerpunkt ›Sprache‹ bei zugeschriebenen Schwierigkeiten im Erlernen der deutschen Sprache angestrebt, obwohl die anderslautenden rechtlichen Vorgaben hierzu bekannt sind und benannt werden. Problematisiert wird, dass diese Förderverfahren nicht immer ›durchkommen‹, da die Schule im Prozess auf externe Stellen angewiesen ist, welche letztlich die Entscheidung über den Ausgang des Verfahrens treffen. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Organisation Schule organisationsintern rechtliche Vorgaben nicht beliebig verarbeiten kann. So scheint hinsichtlich rechtlich bindender Vorgaben der Bildungspolitik dann eine feste Kopplung zu bestehen, wenn die Einhaltung dieser Vorgaben durch die Bildungsverwaltung im Prozess der offiziellen Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs erfolgt.6 Anders gestaltet sich die Situation bei rechtlich unverbindlichen bildungspolitischen Hinweisen und bei dem Versuch der Einflussnahme der Bildungsverwaltung auf das Interaktionssystem Unterricht. So wird hier die von Weick (1976) beschriebene lose Kopplung zwischen der Schulaufsicht und dem Interaktionssystem Unterricht deutlich: Die Organisation kann also das Interaktionssystem Unterricht nicht steuern und hat entsprechend wenig Einfluss darauf, ob Schüler:innen in der Unterrichtsinteraktion als ›Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf‹ adressiert werden.

6

Aus dieser Erkenntnis kann nicht abgeleitet werden, welche Kontexte/Kontexturen in der Bildungsverwaltung bei der Entscheidung über ein sonderpädagogisches Verfahren Relevanz besitzen.

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Zusammenführung Es wird deutlich, dass Schulverwaltung und Schulpolitik Vorgaben für die Beschulung neu migrierter Schüler:innen formulieren können, aber ob und wie diese Kontexte/Kontexturen in der Organisation Schule intern bearbeitet werden, ist – mit Einschränkungen hinsichtlich juristisch bindender und gleichfalls kontrollierter Regelungen – offen. Anhand dieser Ergebnisse wird ersichtlich, dass die Entscheidungsprozesse an den untersuchten Entscheidungsstellen der Schulen einerseits durch implizite konjunktive Wissensbestände geprägt sind, die sich in der »zirkulären Kausalität« (Vogd 2011: 118) von Problembeschreibungen und den handlungsleitenden Orientierungen der Problemlösungen niederschlagen; andererseits jedoch u.a. mit Blick auf die Entscheidungsstelle ›Einleitung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs‹ gleichfalls explizites kommunikatives Wissen über die rechtlich bindenden organisationsbezogenen Regeln für den Entscheidungsprozess Relevanz besitzen (können). Erkennbar wird dabei auch, dass die durch rechtlich unverbindliche Vorgaben geschaffenen Gelegenheitsstrukturen an den untersuchten Schulen in sehr unterschiedlicher Art und Weise genutzt werden und diese damit in keinem systematischen Zusammenhang zur Etablierung ungleichheitsrelevanter Strukturen stehen.

7.2.3

Ungleichheitsrelevante Muster II

Mit Blick auf die Ergebnisse wird deutlich, dass hinsichtlich der Bildungsbiografien neu migrierter Schüler:innen nicht nur den sich in den rekonstruierten Problembeschreibungen und Problemlösungen niederschlagenden Wissens- und Deutungsmustern Relevanz zukommt, sondern darüber hinaus weitere Kontexte/Kontexturen Bedeutung haben. Dabei kann hinsichtlich der Bearbeitung kommunaler sozialräumlicher, bildungspolitischer und bildungsrechtlicher Kontexturen in der Organisation Schule festgestellt werden, dass keine einheitlichen Muster erkennbar sind. Die untersuchten Schulen differieren also erheblich in der Art und Weise, wie auf sozialräumliche Strukturen sowie Vorgaben und Empfehlungen der Schulverwaltung und Schulpolitik Bezug genommen wird. Trotz dieser Feststellung kann dennoch festgestellt werden, dass verschiedene Aspekte auf eine Etablierung ungleichheitsrelevanter Muster für neu migrierte Schüler:innen verweisen. a) Die Selbstverortungen im oder Abgrenzungen der Schulen vom als förderlich oder weniger förderlich konstruierten Sozialraum der neu migrierten Schüler:innen haben Einfluss auf die Beobachtung dieser. So werden sie infolgedessen entweder als von den Normalitätserwartungen der eigenen Schule abweichend, oder als konform zu diesen entworfen. Die daran jeweils anknüpfenden Klassifikationen und Askriptionen werden an den untersuchten Entscheidungsstellen relevant und können auf Diskriminierungen verweisen. b) Hinsichtlich der Zuweisungspraxis von neu migrierten Schüler:innen auf Sekundarschulformen kommt den lokalen Schulstrukturen im Sozialraum der Schulen Bedeutung zu. So weisen Grundschulen relativ konstante Übergangsquoten an unterschiedliche Sekundarschulformen auf und haben teilweise fest etablierte informelle Verfahren der Überweisung von ›Regelschülern‹ auf bestimmte Schulen. Es zeigt sich, dass die geografisch im Norden verorteten Schulen in Radstadt und Flurstadt eher an niedrigqualifizierende Schulformen zuweisen, während Schulen im Süden

7 Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule

ihre ›Regelschüler‹ beim Übergang in die Sekundarstufe verstärkt an höherqualifizierende Schulformen zuweisen (vgl. hierzu auch Terpoorten 2014). Auffällig ist nun in Bezug auf neu migrierte Schüler:innen, dass an den im nördlichen Stadtgebiet liegenden Schulen an diesem etablierten Verfahren festgehalten wird, während an denen im südlichen Stadtgebiet befindlichen Schulen im Hinblick auf neu migrierte Schüler:innen von diesem Verfahren abgewichen wird, indem die Zuweisung aller als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen der Schulverwaltung überlassen wird.7 Hinsichtlich der Zuweisungspraxis beim Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe wird damit erkennbar, dass mit der Klassifikation ›Seiteneinsteiger‹ in südlich gelegenen Schulen die etablierte Zuweisungspraxis unterbrochen wird, während an nördlich gelegenen Schulen als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierte Schüler:innen eher in das reguläre Übergangsverfahren der Schule inkludiert werden. Gleichzeitig deuten die Ergebnisse insgesamt darauf hin, dass der lokalen Schulstruktur im Sozialraum insofern Bedeutung zukommt, als innerhalb dieser ›Räume‹ unterschiedliche Bildungschancen in Form der differenten Zuweisungen auf das niveaudifferenzierte Sekundarschulsystem ermöglicht werden. Neu migrierte Schüler:innen werden in Flurstadt und Radstadt verstärkt in nördlichen, weniger privilegierten Stadtgebieten beschult. Doch auch wenn sie – bspw. aufgrund eines speziell für ›Seiteneinsteiger‹ (die im nördlichen Stadtgebiet wohnen) eingerichteten Bustransfers – an Grundschulen im südlichen Stadtgebiet unterrichtet werden, werden diese Schüler:innen bei einem Wechsel in die Sekundarstufe wieder an den im nördlichen Stadtgebiet liegenden Schulen untergebracht. Das bedeutet, dass die neu migrierten Schüler:innen i.d.R. nur kurzfristig an Schulen im Süden der Städte Radstadt und Flurstadt beschult werden und damit systematisch in eher niedrigqualifizierende lokale Bildungsstrukturen inkludiert werden. Das Phänomen der ›Versäulung‹ von Schulen im Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe wird damit an Grundschulen in privilegierteren Stadtteilen systematisch unterbrochen, sodass in Bezug auf neu migrierte Schüler:innen von einer selektiven ›Versäulung‹ auszugehen ist. c) Die Inklusion neu migrierter Schüler:innen in die Organisation Schule erfolgt in den Schulverwaltungen über die Adressierung als ›Seiteneinsteiger‹. Bei der Verwaltung der so klassifizierten Schüler:innen wird erkennbar, dass durchgängig Ressourcenprobleme an den Schulen in Form von fehlenden Lehrkräften bzw. fehlenden Schulplätzen durchschlagen, die dann wiederum durch Organisationsmaßnahmen bearbeitet werden. So werden bspw. ›Seiteneinsteiger‹ beim Übergang in die Sekundarstufe fast ausschließlich nach dem Prinzip von Wohnortnähe und freien Schulkapazitäten zugewiesen. Gleichzeitig kann bei dem Versuch der Herstellung einer Passung zwischen Schüler:innen und Schulen/Schulformen ein Matching interner Kategorien wie ›Leistungsfähigkeit‹ mit externen Kategorien wie ›sozialer Hintergrund‹ rekonstruiert werden, mit dem organisationsinterne Entscheidungsprobleme ›gelöst‹ werden. Es wird erkennbar, dass die formale Inklusion in die Orga7

An der Ostschule werden als ›leistungsstark‹ klassifizierte neu migrierte Schüler:innen vor dem Übergang in die Sekundarstufe als ›Regelschüler‹ re-kategorisiert und damit in das reguläre Verfahren für ›Regelschüler‹ inkludiert (s. Kap. 6.7.2.3).

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

nisation Schule nicht vor Exklusionen innerhalb der Organisation Schule schützt und erste diskriminierungsrelevante Selektionsentscheidungen schon vor Eintritt der Schüler:innen in die Schulen innerhalb der Schulverwaltungen stattfinden. d) Den Schulen werden Handlungs- und Gestaltungsspielräume durch mangelnde formalrechtlich geregelte Angaben zur Beschulung von neu migrierten Schüler:innen eröffnet. Wie die Schulen an die Vorgaben und Hinweise der Schulpolitik anknüpfen und diese intern verarbeiten, ist sehr unterschiedlich. Dies kann sich entweder in positiver oder in negativer Weise auf die Bildungsbiografien der als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierten Schüler:innen auswirken. Es scheint damit in vielerlei Hinsicht kontingent, wie Handlungs- und Gestaltungsspielräume ausgestaltet werden, welcher Schule neu migrierte Schüler:innen infolgedessen zugewiesen werden und welche Bildungschancen ihnen an dieser Schule eröffnet oder verschlossen werden. e) Die Annahme, dass für neu migrierte Schüler:innen eine Überweisung auf niedrigqualifizierende Sekundarschulformen im Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe wahrscheinlich ist, wird durch statistische Angaben zu den Übergängen von ›nicht-deutschen‹ und ›deutschen‹ Schüler:innen in Flurstadt in Radstadt bestätigt.8 Bei einem Blick auf die Schulstatistik in Flurstadt, in der die Übergänge von der Grundschule auf die weiterführende Schule nach Schulformempfehlungen angegeben werden, zeichnet sich ab, dass der Anteil ›nichtdeutscher‹ Schüler:innen mit einer Schulformempfehlung ›Hauptschule‹ im Zeitraum 2016-2018 um mehrere Prozentpunkte steigt, während der Anteil ›deutscher‹ Schüler:innen im Vergleichszeitraum sinkt. Der Anteil ›ausländischer‹ Schüler:innen mit einer Hauptschulempfehlung stellt sich schließlich 2018 als ca. dreimal so hoch dar wie der Anteil ›deutscher Schüler:innen‹. In Radstadt wird ein ähnliches Bild erkennbar, wenn die Übergänge in die fünfte Jahrgangsstufe im Jahr 2017/18 betrachtet werden. Die Wahrscheinlichkeit, auf eine Hauptschule zugewiesen zu werden, ist hier für ›nichtdeutsche‹ Schüler:innen im Vergleich zu ›deutschen‹ Schüler:innen um ein Fünffaches erhöht, während die Wahrscheinlichkeit, auf ein Gymnasium zu wechseln, für ›nicht-deutsche‹ Schüler:innen nur halb so hoch ist wie für ›deutsche‹ Schüler:innen. Gleichzeitig wird im Zeitverlauf erkennbar, dass sich die Übergänge von ›nicht-deutschen‹ Schüler:innen auf eine Hauptschule im Vergleichszeitraum 2015/16 bis 2017/18 verdoppelt haben, während die Übergänge für ›deutsche‹ Schüler:innen in diesem Zeitraum rückläufig sind. Die Übergänge auf ein Gymnasium bleiben für ›deutsche‹

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Zum Schutz der Anonymität der Städte (und damit der Interviewpartner:innen) können an dieser Stelle keine genauen Zahlen genannt werden. Die Differenzierungen zwischen ›deutschen‹ und ›nichtdeutschen‹ Schüler:innen wird aus den Statistiken des Landes NRW (IT NRW 2020) übernommen und bezieht sich auf die deutsche oder ausländische Staatsangehörigkeit der Schüler:innen. Eine spezifische Betrachtung der neu migrierten Schüler:innen – in Abgrenzung zu den bereits von Beginn im deutschen Schulsystem beschulten Schüler:innen mit ›ausländischer Staatsangehörigkeit‹ – wird hier nicht vollzogen. Die starken Veränderungen der Überweisungszahlen in dem kurzen, hier betrachteten Zeitraum können aber als Indiz für die vermehrte Zahl neu migrierter Schüler:innen im Untersuchungszeitraum interpretiert werden. Die Problematiken, die sich bei einer statistischen Erfassung hinsichtlich neu migrierter Schüler:innen ergeben, werden von Emmerich, Hormel und Kemper (2020) diskutiert. Darüber hinaus finden sich bei diesen Autor:innen aktuelle Statistiken zur Bildungsbeteiligung neu migrierter Schüler:innen in NRW.

7 Ungleichheitsrelevante Strukturbildungen in der Organisation Schule

Schüler:innen im Vergleichszeitraum stabil, während sie sich für ›ausländische‹ Schüler:innen um fast ein Drittel verringern.9 Es zeigt sich, dass auf sozialräumliche, bildungspolitische und bildungsrechtliche Kontexturen in der Organisation Schule jeweils sehr divergierend Bezug genommen wird und diese Bearbeitungen Einfluss auf die Produktion ungleichheitsrelevanter Strukturen der Beschulung neu migrierter Schüler:innen haben. So werden für neu migrierte Schüler:innen – trotz der Inklusion in die Organisation Schule – innerhalb dieser unterschiedlichen Partizipationschancen ermöglicht, die zumindest in Teilen als diskriminierungsrelevant beschrieben werden können.

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MKFFI NRW, o.J.

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8 Schlussbetrachtungen: Diskriminierung neu migrierter Schüler:innen im Erziehungssystem der Migrationsgesellschaft als polykontexturales Phänomen

Auf der Basis einer qualitativen Regionalstudie in zwei Kommunen des Bundeslandes NRW stellt die vorliegende Arbeit einen empirisch fundierten Beitrag zur Debatte um die (Re-)Produktion von Bildungsungleichheiten dar und bearbeitet damit das Desiderat fehlender Forschungsdaten zur Inklusion neu migrierter Schüler:innen in das Erziehungssystem der Migrationsgesellschaft (vgl. Kap. 2; s. zusammenfassend zur Forschungslage auch El-Mafaalani/Massumi/Jording 2022). Am Beispiel der Beschulungspraxen von neu migrierten Schüler:innen wird die Erzeugung ungleichheitsrelevanter Strukturbildungen in Schulverwaltungen wie auch Schulen nachgezeichnet. Als Befund wird aufgezeigt, dass mit einer gesellschaftstheoretischen Annahme der Polykontexturalität widerstrebende und sich auf den ersten Blick widersprechende Praxen erfasst und analysiert werden können. Damit kann sich von einer Perspektive verabschiedet werden, die Bildungsungleichheiten mit der Herausarbeitung durchgehender einheitlicher Muster zu erklären sucht. Ebenfalls wird plausibilisiert, dass die Annahme von sich auf allen Ebenen der Schulsystems durchschlagenden diskriminierungsrelevanten Wissens- und Deutungsressourcen (u.a. in Form von Ungleichheitsideologien) auf Abstand gebracht werden sollte. Besonders deutlich wird mit den vorliegenden Erkenntnissen schließlich der These widersprochen, Bildungsbiografien seien das Ergebnis familiärer Sozialisationsprozesse oder milieubedingter Bildungsentscheidungen. So wird auf der Basis der empirischen Ergebnisse erkennbar, dass die Bildungsbiografien der neu migrierten Schüler:innen in eklatanter Weise durch diffuse ›Entscheidungsgeschichten‹ von Schulen und Schulverwaltungen geprägt sind.   Während in der Bildungssoziologie und der empirischen Bildungsforschung handlungstheoretische Perspektiven vorherrschen, mit denen davon ausgegangen wird, dass sich Bildungsungleichheit unter anderem durch schichtabhängige selbstselektierende Bildungsentscheidungen reproduziert (vgl. Esser 1999, 2001, 2016; Baumert/

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

Maaz/Jonkmann 2010; Maaz/Baumert/Trautwein 2011; Diehl/Hunkler/Kristen 2016; Siegert/Olszenka 2016; s. auch Boudon 1974), folgt die Arbeit einem anderen theoretischen Ausgangspunkt (vgl. Kap. 2). So wird argumentiert, dass die Eigenrationalität des Erziehungssystems und seiner Organisationen in den Fokus gerückt und gefragt werden muss, wie Bildungsungleichheit in der Organisation Schule selbst erzeugt wird. Im Zentrum einer von der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ausgehenden Forschung stehen damit weder die vermeintlichen Eigenschaften der migrierten Schüler:innen selber, noch Einzelhandlungen von Individuen in Organisationen. Vielmehr wird – an die theoretische Perspektive institutioneller Diskriminierung anknüpfend – die Organisation Schule mit ihren Strukturen, Routinen, Regeln und Programmen analysiert (vgl. Bommes/Radtke 1993; Diehm/Radtke 1999; Gomolla/Radtke 2002; Hormel 2007; Scherr 2010; Emmerich/Hormel 2011, 2013a, 2013b, 2015, 2017; Gomolla 2013, 2017; Emmerich 2016; Massumi 2019). Um sich der Fragestellung anzunähern, wie relevante Akteur:innen in Schule und Schulverwaltung mit neu migrierten Kindern und Jugendlichen verfahren, wurde mit der dokumentarischen Methode ein rekonstruktives Verfahren gewählt (vgl. Kap. 4, vgl. u.a. Bohnsack 1999, 2010, 2014, 2017; Bohnsack/Pfaff 2010; Asbrand 2011). Argumentiert werden kann dabei jedoch, dass es insbesondere in Anschluss an die in den letzten Jahren unter anderem durch Vogd (2009, 2010, 2011) etablierte differenzierungstheoretisch fundierte dokumentarische Organisationsforschung sinnvoll ist, den Fokus nicht nur auf die Rekonstruktion atheoretischen Wissens der Akteur:innen zu legen, sondern auch dem theoretischen Wissen, also den explizit geäußerten Inhalten, eine wichtige Bedeutung hinsichtlich der Frage beizumessen, welche Praxen in Organisationen funktional erscheinen (vgl. Kap. 4.1.2; vgl. Vogd 2009, 2010, 2011; Jansen/Vogd 2017; Goldmann 2017a; Amling/Vogd 2017). Darüber hinaus wurde die dokumentarische Organisationsforschung mit einer funktionalen Analyseperspektive verknüpft, wodurch Abstand zu gruppensoziologischen Annahmen, die der dokumentarischen Methode sonst inhärent sind, genommen wird (vgl. Kap. 4.1.3). Das Forschungsinteresse richtet sich damit explizit nicht auf die Frage, welche Bedeutung geteilten Orientierungsrahmen aufgrund von bspw. Migrationserfahrungen oder Milieuzugehörigkeit zukommt. Vielmehr geht es in der hiermit entworfenen funktionalen Analyseperspektive darum, Entscheidungshandeln auch jenseits kollektiver Erfahrungszusammenhänge zu rekonstruieren (vgl. Nassehi/Saake 2002; Nassehi 2008, 2012; Vogd 2010; Kusche 2014; Luhmann 2017). Mit dieser methodischen Rahmung kann argumentiert werden, dass nicht von einer Kausalität zwischen den in Hinblick auf neu migrierte Schüler:innen angefertigten Problemlösungen und Problembeschreibungen auszugehen ist. Dieser Perspektive folgend konnten die in den Interviews in Bezug auf neu migrierte Schüler:innen aufscheinenden unterschiedlichen Problem-Lösungsmuster (vgl. Kap 5 und 6) schließlich als funktional äquivalent beschrieben werden (vgl. Kap. 7.1). Gleichzeitig konnte so auch der Annahme Rechnung getragen werden, dass soziale Ungleichheit stets das Ergebnis eines Zusammenwirkens rechtlicher, politischer, ökonomischer und weiterer Kontexte ist, also von einer Polykontexturalität sozialer Ungleichheit im Erziehungssystem der Migrationsgesellschaft auszugehen ist (vgl. Kap. 2.4 und 7.2; Nassehi/Saake 2002; Drepper 2003: 277f.; Emmerich/Hormel 2013a: 69; Jansen/Vogd 2013).

8 Schlussbetrachtungen

Mit   den empirischen Erkenntnissen zur forschungsleitenden Fragestellung, wie neu migrierte Kinder und Jugendliche mit welchen Folgen in den Organisationen des Erziehungssystems differenziert werden, werden die Komplexitätsanforderungen an eine Forschung zur Inklusion neu migrierter Schüler:innen im Erziehungssystem der Migrationsgesellschaft erkennbar. So zeigt sich, dass sich keine einheitlichen Muster der Beschulung neu migrierter Schüler:innen ausmachen lassen und diskriminierungsrelevante Klassifikationen und Askriptionen, die sich in ›Gruppenkonstruktionen‹ wie der Klassifikation ›Seiteneinsteiger‹ niederschlagen (können), nicht auf gleiche Weise im Erziehungssystem, der Organisation Schule und dem Interaktionssystem Unterricht relevant gemacht werden (vgl. zusammenfassend Kap. 7.1.3 und 7.2.3). Deutlich wird dies u.a. mit Blick auf die rekonstruierten Handlungsorientierungen, die hinsichtlich der untersuchten Entscheidungsstellen zum Teil erheblich differieren. So können diverse Differenzierungspraxen neu migrierter Schüler:innen mit jeweils unterschiedlichen Implikationen für die Bildungsbiografien der betroffenen Schüler:innen aufgezeigt werden (vgl. Kap. 7.1): 1. Kategoriale Differenzierung: Mit der kategorialen Differenzierung von neu migrierten Schüler:innen als ›Seiteneinsteiger‹ werden u.a. Beschulungspraxen plausibilisiert, die nur schwerlich auf der Grundlage pädagogischer Argumentationshaushalte begründet werden können. Zu diesen Beschulungspraktiken, die deutlich auf diskriminierungsrelevante Dimensionen verweisen, können bspw. die Organisationslösungen gezählt werden, neu migrierte Schüler:innen wohnortnah entsprechend vorhandener schulischer Ressourcen den niveaudifferenzierten weiterführenden Schulen zuzuweisen oder alle neu migrierten Schüler:innen ausschließlich auf die Hauptschule im gleichen Stadtgebiet zu vermitteln sowie die Exklusion von (bestimmten) Schüler:innen vom Regel- und/oder Vorbereitungsunterricht. Dabei ist zu beobachten, dass sich nur eine der untersuchten Schulen durchgehend auf die kategoriale Differenzierung ›Seiteneinsteiger‹/›Regelschüler‹ bezieht. An allen anderen Schulen wird diese Differenzierung an manchen Entscheidungsstellen relevant gemacht, während an anderen Entscheidungsstellen wiederum eine ›Normalisierung‹ des Status ›Seiteneinsteiger‹ zu beobachten ist. 2. Normalisierung: Relevante Erkenntnis der Arbeit ist darüber hinaus, dass auch mit einer Normalisierung des Status ›Seiteneinsteiger‹ und dem Verweis auf die Einhaltung von Prinzipien der formalen Gleichheit bei Entscheidungen Diskriminierungen erzeugt werden können. So werden neu migrierte Schüler:innen bspw. nach dem vollständigen Wechsel in die Regelklasse zwar mit scheinbar ›neutralen‹ Normalitätserwartungen der Organisation Schule im Hinblick auf u.a. fachbezogene Wissensstände konfrontiert – in Rechnung gestellt werden muss jedoch, dass diese Kenntnisse innerhalb der (etwa zweijährigen) ›Seiteneinsteiger‹-Förderung an einigen der untersuchten Schulen nicht vermittelt wurden. Dies bedeutet, dass neu migrierte Schüler:innen mit Übergang in den Regelschulbetrieb mit gänzlich ungleichen Startbedingungen ausgestattet sind, die sich – so ist zu vermuten – in den weiteren Bildungsbiografien niederschlagen. 3. Intrakategoriale Differenzierung: Auch intrakategoriale (Leistungs-)Differenzierungen, die auf eine Normalisierung des Status ›Seiteneinsteiger‹ hinweisen

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Flucht, Migration und kommunale Schulsysteme

könnten, müssen hinsichtlich der Frage der Differenzierung neu migrierter Schüler:innen und der darauf basierenden bildungsbiografischen Folgen in den Blick genommen werden. So wird in den Analysen erkennbar, dass die Entscheidungen, die an leistungsbezogene Differenzierungen anknüpfen, für neu migrierte Schüler:innen potenziell besonders folgenreich sind, indem durch die Klassifikation als ›Seiteneinsteiger mit negativer Leistungsprognose‹ diskriminierungsrelevante Exklusionsoptionen, wie ein auf Dauer gestellter Verbleib in der Vorbereitungsklasse oder die nahtlose Überführung des Status ›Seiteneinsteiger‹ in den Status ›Inklusionsschüler‹, eröffnet werden. Als besonders interessantes Ergebnis der Arbeit konnte herausgearbeitet werden, dass die Schulen an unterschiedlichen Entscheidungsstellen verschiedene Beobachtungstypen auf sich vereinen und an einer Entscheidungsstelle in den verschiedenen Fällen unterschiedliche Orientierungstypen erkennbar werden. Trotz dieser aufgezeigten Varianz in den Differenzierungspraxen konnten dennoch ungleichheitsrelevante Muster der Beschulung aufgezeigt werden und sich damit der Frage angenähert werden, wie und mit welchen Folgen neu migrierte Kinder und Jugendliche in den Organisationen des Erziehungssystems differenziert werden (vgl. Kap. 6 und 7.1): 1. Neu migrierte Schüler:innen werden bereits vor Schuleintritt selektiert. Es kann aufgezeigt werden, dass neu migrierte Schüler:innen vor dem Eintritt in die Schule bereits einen ungleichheitsrelevanten Selektionsprozess durchlaufen. So werden neu migrierte Schüler:innen bspw. durch die Schulverwaltungen bei der Zuweisung in die niveaudifferenzierte Sekundarstufe fast ausschließlich nach dem Prinzip von Wohnortnähe und freien Schulkapazitäten niedrigqualifizierenden Schulformen zugewiesen. 2. Neu migrierte Schüler:innen werden während der ›Seiteneinsteiger‹-Förderung auf diverse Arten vom Regelunterricht exkludiert. Trotz der Bandbreite in den Organisationsformen der Beschulung deutet sich ein Muster an, dass neu migrierte Schüler:innen innerhalb der zweijährigen ›Seiteneinsteiger‹-Förderung oftmals keine Vermittlung von Fachinhalten erfahren oder systematisch von Lerngelegenheiten ausgeschlossen werden. Dies bedeutet – so kann vermutet werden –, dass diese Schüler:innen beim vollständigen Wechsel in die Regelklasse nicht auf die Unterrichtsinhalte der zugewiesenen Jahrgangsklasse vorbereitet sind. Damit erfahren sie einen massiven Nachteil hinsichtlich der Etablierung erfolgreicher Bildungskarrieren. 3. Neu migrierte Schüler:innen werden aus dem Leistungsprinzip exkludiert. Es wird eine Exklusion neu migrierter Schüler:innen aus der der Schule inhärenten Leistungsbeurteilung erkennbar, indem bspw. ausschließlich soziale Verhaltensweisen bewertet werden und möglichst lange auf notenbasierte Leistungsbewertungen verzichtet wird. Dies deutet auf eine Verfestigung einer Sonderrolle hin und ist in vielen Fällen mit geringen schulischen Erwartungen verknüpft. Als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierte Schüler:innen werden also nicht gar nicht hinsichtlich ihrer Leistungen beobachtet, sondern es wird eine Etablierung differenter Leistungskriterien evident. Auch wenn das Aussetzen notenbasierter Selektionsent-

8 Schlussbetrachtungen

scheidungen als förderlich gerahmt wird, werden durch fehlende Notenzeugnisse an Entscheidungsstellen wie dem Übergang in die Sekundarstufe potenziell ungleichheitserzeugende Effekte erkennbar. 4. Vorbereitungsgruppen/-klassen stellen Selektionsorte dar. Die Ergebnisse legen nahe, dass als besonders ›leistungsstark‹ beobachtete ›Seiteneinsteiger‹ schnell in die ihrem Alter entsprechende Jahrgangsstufen wechseln. Gleichzeitig verbleiben andere ›Seiteneinsteiger‹ länger als zwei Jahre (oder dauerhaft) in Vorbereitungsklassen/-gruppen oder werden beim Übergang in die Regelklasse ein bis zwei Jahrgänge zurückgestuft. Dies bedeutet, dass Vorbereitungsklassen und -gruppen nicht einfach ein Ort der Förderung für neu migrierte Schüler:innen darstellen, sondern vielmehr als Selektionsorte analysiert werden müssen. 5. Der ›Seiteneinsteiger‹-Status ist ein ›Risikofaktor‹ für die Zuschreibung sonderpädagogischer Förderbedarfe. An diversen Schulen wird eine Adressierung von neu migrierten Schüler:innen als ›Inklusionsschüler‹ mit sonderpädagogischen Förderbedarf erkennbar. Diese erfolgt entweder temporär durch das ›Mitschicken‹ von ›Seiteneinsteigern‹ mit einer sonderpädagogischen Lehrkraft oder dauerhaft. Auf Dauer gestellt wird diese Re-Kategorisierung neu migrierter Schüler:innen bspw. durch das ausschließliche Unterrichten mit Inklusionsmaterialien oder der Überleitung des ›Seiteneinsteiger-Status‹ in einen ›Inklusions-Status‹. Diese als ›Förderung‹ gerahmte Re-Kategorisierung führt zu einer deutlichen Verschlechterung der Chancen auf einen regulären Schulabschluss. 6. ›Seiteneinsteiger‹ gelten als potenzielle ›Hauptschüler‹. Unabhängig von den jeweils praktizierten Beschulungsformen wechseln neu migrierte Schüler:innen vorwiegend auf niedrigqualifizierende weiterführende Schulen. Der Grund hierfür scheint dabei nicht nur in der Klassifikation von neu migrierten Schüler:innen als ›weniger leistungsstark‹ oder ›nicht den Normalitätserwartungen einer höherqualifizierenden Schule entsprechend‹, sondern gleichfalls in nicht vorhandenen schulischen Ressourcen zu liegen. Besondere Anstrengungen von Lehrkräften – aber auch von Mitarbeitenden in der Schulverwaltung –, den Übergang neu migrierter Schüler:innen planvoll zu steuern, wird insbesondere bei als ›leistungsstark‹ klassifizierten neu migrierten Schüler:innen sichtbar. Hier wird scheinbar eine regelmäßige Zuweisung von ›Seiteneinsteigern‹ auf niedrigqualifizierende Sekundarschulformen antizipiert und diese Praxis mit Blick auf ›leistungsstarke Seiteneinsteiger‹ gezielt unterbrochen. Eine solche Zuweisung unterscheidet sich grundlegend von der für ›Regelschüler‹ geltenden Regel der freien Schulwahl. Warum und wann auf bestimmte Beobachtungspraxen rekurriert wird und welche Folgen diese jeweils hinsichtlich der Partizipationsbedingungen neu migrierter Schüler:innen haben, bleibt damit zunächst offen. Wie also Kontingenz eingeschränkt wird – d.h. auf welche Lösungen hinsichtlich der Beschulung neu migrierter Schüler:innen vor der Bezugnahme auf welche Problembeschreibungen je zurückgegriffen wird – ist damit nicht geklärt. Diese Erkenntnis verweist auf die Komplexität und Kontingenz der Verarbeitung von Kontexturen in der Organisation Schule. Entsprechend wurde in einem weiteren Analyseschritt in einer soziogenetischen Perspektive die Bedeutung von Kontexturen in der Erzeugung spezifischer Problem-Lösungs-Zusammenhänge untersucht (vgl. Kap. 7.2).

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Fokussiert werden kommunale sozialräumliche sowie bildungspolitische und bildungsrechtliche Kontexturen. Deutlich wird dabei, dass die Bearbeitung kommunaler sozialräumlicher, bildungspolitischer und bildungsrechtlicher Kontexturen in der Organisation Schule sehr unterschiedlich erfolgt. Trotz der sichtbar werdenden Varianz zeigt sich indes, dass den damit evozierten Partizipationsbedingungen für neu migrierte Schüler:innen große Relevanz hinsichtlich der Erzeugung ungleichheitsrelevanter Strukturen zukommt (vgl. Kap. 7.2.3).   Die empirischen Erkenntnisse dieser Arbeit ermöglichen nicht nur neue Einblicke in Differenzierungspraxen und Partizipationsbedingungen neu migrierter Schüler:innen in der Grundschule, sondern können darüber hinaus für die weitere Forschung zur (Re-)Produktion von Bildungsungleichheit neue Impulse bieten: 1. Diskriminierende Beschulungspraxen stehen in keinem Zusammenhang zu etablierten Beschulungsmodellen. Der Annahme, die Inklusion neu migrierter Schüler:innen in den Regelunterricht sei immer zu präferieren, da alle anderen Beschulungsformen diskriminierend seien, muss mit den vorliegenden Analysen widersprochen werden. Formen äußerer Differenzierung neu migrierter Schüler:innen (z.B. in Vorbereitungsklassen) gelten u.a. im wissenschaftlichen Diskurs häufig als besonders legitimationsbedürftig, während innere Differenzierungen (bspw. im Unterricht der Regelklasse) als weniger problematisch beurteilt werden. Es zeigt sich jedoch, dass die Beschulungsmodelle in keinem systematischen Zusammenhang mit der Bezugnahme auf das Konstrukt ›Seiteneinsteiger‹ oder tatsächlich diskriminierende Beschulungspraxen stehen, durch die neu migrierte Schüler:innen von Lerngelegenheiten exkludiert werden. Vielmehr können als diskriminierend zu beschreibende Praxen – wie bspw. die generalisierte Vorenthaltung von Lerngelegenheiten – in teilintegrativen wie auch parallelen Beschulungsmodellen nachgezeichnet werden. Als ›Seiteneinsteiger‹ klassifizierte Schüler:innen können durch kommunikative Nicht-Inanspruchnahme im Regelunterricht ebenso mit einer generalisierten Vorenthaltung von Lerngelegenheiten konfrontiert werden, wie durch einen vollständigen Ausschluss aus dem Regelunterricht. Gleichfalls können neu migrierte Schüler:innen innerhalb beider Beschulungsmodelle entsprechend ihres verbrieften Rechts auf Bildung in die Regelschule inkludiert werden. 2. Diskriminierung beruht nicht nur auf in der Interaktion relevant werdenden Wissens- und Deutungsressourcen. Auch ›Organisationsprobleme‹, wie bspw. fehlende schulische Ressourcen, führen zu diskriminierenden Lösungen der Beschulung neu migrierter Schüler:innen – und sind dabei unabhängig von diskriminierungsrelevanten (bspw. kulturalisierenden oder ethnisierenden) Klassifikationen in der Interaktion. Es lässt sich damit aufzeigen, dass diskriminierungsrelevante Klassifikationen im sozialen System der Interaktion, bspw. im Unterricht oder in der ›Seiteneinsteigerberatung‹, zwar einerseits auf in der Gesellschaft verankerten Wissens- und Deutungsressourcen beruhen, mit denen neu migrierte Schüler:innen als von einer imaginierten ›Wir‹-Gruppe kategorial zu unterscheidende Gruppe(n) konstruiert werden, andererseits aber die Frage analytisch offen gehalten werden muss, wie und mit welchen Folgen diese Klassifizierungen vor-

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genommen werden. So können Diskriminierungen entstehen, ohne als solche von den involvierten Akteur:innen intendiert oder überhaupt antizipiert zu werden. Wenn Diskriminierungen analysiert und erklärt werden sollen, darf es also nicht allein um in der Interaktion relevant werdende, gesellschaftlich verankerte Wissens- und Deutungsressourcen gehen, mit denen neu migrierte Schüler:innen klassifiziert werden. Evident wird damit gleichfalls, dass nicht nur keine Diskriminierungsabsichten vorliegen müssen, um Diskriminierungen von migrierten Schüler:innen zu erzeugen, sondern sich darüber hinaus bildungsbiografische Folgen von Entscheidungen in der Schulverwaltung oder der Schule erst verzögert ergeben, wenn an Entscheidungen hinsichtlich der Beschulung neu migrierter Schüler:innen mit größerem zeitlichen Abstand angeschlossen wird, bspw. an Entscheidungen hinsichtlich der Einleitung sonderpädagogischer Förderverfahren oder Sekundarschulformempfehlungen. Dies schließt gleichzeitig nicht aus, dass nicht auch direkt diskriminierende Praxen erkennbar sind. So zeigen sich insbesondere gegenüber Schüler:innen, die als ›Roma‹/›Rumänen‹ klassifiziert werden, offen abwertende Zuschreibungen und diskriminierende Beschulungspraktiken. 3. Die Diskriminierung neu migrierter Schüler:innen im Erziehungssystem der Migrationsgesellschaft ist als polykontexturales Phänomen zu analysieren. Erkenntnis der Arbeit ist schließlich, dass die untersuchten Schulen erheblich in der Art und Weise differieren, wie Umweltanforderungen organisationsintern verarbeitet werden, wie auf Gelegenheitsstrukturen reagiert wird und wie neu migrierte Schüler:innen auf der Grundlage von Wissens- und Deutungsressourcen klassifiziert werden. Dies bedeutet für zukünftige Forschungen, dass nicht die vermeintlichen Eigenschaften der Schüler:innen, die Bildungsentscheidungen der Eltern oder in erster Linie das diskriminierende Verhalten von Lehrkräften zu fokussieren sind, sondern Gelegenheitsstrukturen, Organisationsprobleme, diskriminierungsrelevantes Klassifikationswissen, sowie die Verarbeitung von Umweltanforderung – schließlich die Polykontexturalität der Gesellschaft – ernstgenommen werden muss. Damit werden keine einfachen Antworten generiert – gleichzeitig wird jedoch deutlich, dass nicht die Organisationsform des Unterrichts neu migrierter Schüler:innen Hauptaugenmerk sein sollte, sondern die komplexe Erzeugung von Ungleichheitsstrukturen in den Blick genommen werden muss. Mit einer solchermaßen gerahmten polykontexturalen Perspektive auf Diskriminierungen kann beobachtet werden, dass Diskriminierungen systemspezifisch auf den Ebenen Interaktion, Organisation und Gesellschaft erzeugt werden. Auf das vorliegende Forschungsprojekt bezogen heißt das: Diskriminierungen neu migrierter Schüler:innen werden nicht nur im Interaktionssystem Unterricht, in der Organisation Schule und in der Organisation Schulverwaltung, sondern auch in dem Zusammenwirken ihrer Bezugnahmen hervorgebracht. Organisationen müssen entsprechend der in dieser Arbeit entfalteten organisationstheoretischen Perspektive als System analysiert werden, in dem Entscheidungen an zuvor getroffene Entscheidungen anknüpfen – während gleichzeitig kontingent ist, wie Entscheidungen jeweils getroffen werden (vgl. Luhmann 1992b: 673ff.). Auch wenn sich beobachten lässt, dass die Klassifikationen als ›Seiteneinsteiger‹ als Entscheidungsprämissen dienen können, um Probleme der Organisation

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(bspw. schulische Ressourcenprobleme) oder der Unterrichtsinteraktion (bspw. Kommunikationsschwierigkeiten) zu ›lösen‹ und Handlungspraxen zu plausibilisieren, bleibt mit Blick auf die Erkenntnisse der Arbeit dennoch kontingent, wann (d.h. an welchen Entscheidungsstellen) auf diese Klassifikation zurückgegriffen wird – und wann nicht. Es kann damit auf der Grundlage der empirischen Ergebnisse der Arbeit die Überlegung von Emmerich/Hormel angeschlossen werden, die festhalten: »Als komplexes soziales System operiert diese Maschine [Schulsystem] […] im Modus der Nicht-Trivialität, d.h. eigenrational und eigensinnig, und sie entscheidet intern, was als soziale Klassifizierung Bedeutung haben soll und was nicht.« (Emmerich und Hormel 2013b: 143) Die sich daraus ergebenen ungleichheitsrelevanten Folgen dieser Beschulungspraxen tragen die davon betroffenen Schüler:innen.

Transkriptionsregeln

(.) oder (.) Pause; die Anzahl der Punkt in der Klammer gibt die Länge der Sprechpause in Sekunden an. └ Beginn einer Überlappung bzw. direkter Anschluss beim Sprecher:innenwechsel. nein Betonung eines Wortes/Wortteils. vielleiAbbruch eines Wortes. (doch) Unsicherheit bei der Transkription, schwer verständliche Äußerung. ( ) Unverständliche Äußerung; die Anzahl der Leerzeichen entspricht etwa der Dauer der unverständlichen Äußerung. ((stöhnt)) Kommentar bzw. Anmerkung zu nichtverbalen oder externen Ereignissen bzw. Geräuschen. @nein@ Lachend gesprochenes Wort. @(.)@ Auflachen. ? Markierung einer Intonation, die auf eine Frage hindeutet. Groß- und Kleinschreibung: Hauptwörter werden großgeschrieben. In der Transkription werden als einzige Satzzeichen Fragezeichen verwendet. Nach diesem Satzzeichen wird klein weitergeschrieben, um deutlich zu machen, dass dieses ausschließlich die Intonation anzeigen und nicht grammatikalisch gesetzt wird. Anonymisierung: Allen Personen wird ein Name zugewiesen. Dieser Name bleibt bei allen Erhebungen bestehen, an denen die Person beteiligt war. Im Transkript werden die Namen mit den ersten Buchstanden in Großbuchstaben abgekürzt, also z.B. NEU für Neumann. Die Interviewerin ist mit JJ abgekürzt.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen, eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 (2019) Abbildung 2: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen, eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 (2019) Abbildung 3: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen, eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 (2019) Abbildung 4: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen nach Schulformen, eigene Darstellung nach MSB NRW Statistische Übersicht Nr. 404, Quantita Schuljahr 2018/19 Abbildung 5: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen, eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 (2019) Abbildung 6: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen nach Schulformen, eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 (2019) Abbildung 7: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen nach Schulformen, eigene Darstellung nach MSB NRW Statistische Übersicht Nr. 404, Quantita Schuljahr 2018/19 Abbildung 8: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen, eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 (2019) Abbildung 9: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen nach Schulformen, eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1 (2019)

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Abbildung 10: Ausländische Schüler:innen an allgemeinbildenden deutschen Schulen nach Schulformen, eigene Darstellung nach MSB NRW Statistische Übersicht Nr. 404, Quantita Schuljahr 2018/19

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1a und 1b: Datensatz Forschungsprojekt (eigene Darstellung) Tabelle 2: Formale Organisationsprinzipien zur Beschulung von ›Seiteneinsteigern‹ an sechs untersuchten Grundschulen (eigene Darstellung) Tabelle 3: Zusammenfassende Skizzierung der rekonstruierten Beschulungspraxen neu migrierten Schüler:innen an relevanten Entscheidungsstellen (eigene Darstellung) Tabelle 4: Typik ›Klassifikation des Status ›Seiteneinsteiger‹ (eigene Darstellung)

(Bildungs-)politische Quellen

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Pädagogik Andreas de Bruin

Achtsamkeit und Meditation im Hochschulkontext 10 Jahre Münchner Modell Februar 2021, 216 S., kart., durchgängig vierfarbig 20,00 € (DE), 978-3-8376-5638-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5638-5

Ivana Pilic, Anne Wiederhold-Daryanavard (eds.)

Art Practices in the Migration Society Transcultural Strategies in Action at Brunnenpassage in Vienna March 2021, 244 p., pb. 29,00 € (DE), 978-3-8376-5620-6 E-Book: PDF: 25,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5620-0

Melanie Groß, Katrin Niedenthal (Hg.)

Geschlecht: divers Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit Februar 2021, 264 S., kart., Dispersionsbindung, 1 SW-Abbildung 34,00 € (DE), 978-3-8376-5341-0 E-Book: PDF: 33,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5341-4

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