Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr [1. Aufl. 2019] 978-3-662-59263-2, 978-3-662-59264-9

Woher wissen Bäume, dass es Frühling ist? Wie wirkt Tageslicht auf der Haut? Was macht Frost mit Trauben? Was hat die Ph

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German Pages VIII, 268 [269] Year 2019

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Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr [1. Aufl. 2019]
 978-3-662-59263-2, 978-3-662-59264-9

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VIII
Januar – Kristalle aus Eis und Salz (Sylvia Feil)....Pages 1-20
Februar – Vom Winterblues und der Sehnsucht nach Sonne (Sylvia Feil)....Pages 21-42
März – Die Blätter werden grün (Sylvia Feil)....Pages 43-65
April – Tau, Fliegen und Klebstoffe (Sylvia Feil)....Pages 67-84
Mai – Moose und Fliegenfänger im Moor (Sylvia Feil)....Pages 85-103
Juni – Gewitter waschen Pollen aus der Luft (Sylvia Feil)....Pages 105-125
Juli – Sommer: Schweiß und Sonnenbäder (Sylvia Feil)....Pages 127-143
August – Wälder (Sylvia Feil)....Pages 145-167
September – Kräuter und herbstliche Gewürze (Sylvia Feil)....Pages 169-188
Oktober – Weinlese und erste Nachtfröste (Sylvia Feil)....Pages 189-206
November – In der dunklen Jahreszeit (Sylvia Feil)....Pages 207-224
Dezember – Glaskugeln und Sternenschweif (Sylvia Feil)....Pages 225-245
Back Matter ....Pages 247-268

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Sylvia Feil

Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein Mit Bio und Chemie durchs Jahr

Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr

Sylvia Feil

Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr

Sylvia Feil Burgdorf, Deutschland

ISBN 978-3-662-59263-2 ISBN 978-3-662-59264-9  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-59264-9 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Lisa Edelhäuser Redaktion: Jorunn Wissmann, Binnen Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Dieses Buch greift Themen auf, die aus dem Alltag kommen und die Jahreszeiten widerspiegeln. So war die Gliederung anhand der Monate schnell gefunden. Die Naturwissenschaft wird hier mehr erzählt als exakt bis ins Detail vertieft. Ein paar Ausnahmen habe ich mir erlaubt, weil beispielsweise an manchen Stellen die Quantenphysik auftaucht, wo man sie vielleicht nicht vermuten würde. So bewegen wir uns mit den Kapiteln durch die Jahreszeiten und greifen Phänomene in der Natur auf, manchmal auch Errungenschaften der Menschen – etwa wenn es darum geht, auf dem Glatteis nicht auszurutschen, in der Sonne nicht die Haut zu verbrennen oder im Herbst besonders süßen Wein zu keltern. Die Fächer Biologie, Chemie und Physik verbinden sich zu einem Wirkgeflecht, das einerseits Vorgänge in der Natur erklärt und andererseits Innovationen erlaubt. Wie wirkt das Tageslicht auf unsere Haut? Wann bekommen wir davon einen Sonnenbrand? Und wann fehlt es uns? Helfen dann elektrische Lampen? Wie kommt es zu Lichterscheinungen in der Atmosphäre – zu Blitzen, Nordlichtern und Sternschnuppen? Wie wandeln Pflanzen Licht in chemische Energie um? Wie produzieren sie süße Früchte und scharfe Gewürze? Wie kommunizieren und wehren sich Pflanzen? Wie überleben Algen sogar im Polareis? Wie die Dinge in der Natur sind auch die Kapitel miteinander verwoben. Sie stehen aber jedes für sich und können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Als kleine Hilfe findet sich im hinteren Teil des Buches ein Glossar, in dem einige Begriffe kurz erklärt werden. Wer das Wissen weiter vertiefen will, findet Anregungen in der Literaturliste, die nach Monaten sortiert ist. V

VI      Vorwort

Was in Schulbüchern manchmal nur als Exkurs, als kleiner gedanklicher Ausflug vorkommt, fand hier einen größeren Rahmen. Damit es beim Erzählen auch fachlich fundiert ist, bat ich verschiedene Kolleginnen und Freunde, nochmal gegenzulesen. Mein Erstleser Dr. Torsten Carl widmete sich intensiv allen Entwürfen, und zusammen mit Isabel Carl versüßte er manche Kritik mit einem Sekt in der Abendsonne. Für den nötigen Abstand sorgte ein anderer, mit dem ich in die Luft abhob. Meine Töchter erinnerten mich immer wieder daran, dass es eine Welt außerhalb von Manuskripten und Arbeit gibt. Besonders für die Ideen, Fragen und Unterstützung durch meine Lektorin Dr. Lisa Edelhäuser und die technischen Hilfestellungen von Carola Lerch danke ich. Ein Themenspektrum wie dieses ist am Ende undenkbar ohne all die Fragen, die den Mitmenschen so einfallen, wenn sie hören, dass ich Chemikerin bin. Fragt bitte immer weiter, denn auch den Fachleuten öffnen sich neue Welten, wenn sie einer Sache auf den Grund gehen. Eine Frage führt zur nächsten, eine Analogie erweitert das Verständnis und am Ende begegnet die Chemie uns jahrein, jahraus. Juni 2019

Sylvia Feil

Inhaltsverzeichnis

1

Januar – Kristalle aus Eis und Salz 1

2

Februar – Vom Winterblues und der Sehnsucht nach Sonne 21

3

März – Die Blätter werden grün 43

4

April – Tau, Fliegen und Klebstoffe 67

5

Mai – Moose und Fliegenfänger im Moor 85

6

Juni – Gewitter waschen Pollen aus der Luft 105

7

Juli – Sommer: Schweiß und Sonnenbäder 127

8

August – Wälder 145

9

September – Kräuter und herbstliche Gewürze 169

10 Oktober – Weinlese und erste Nachtfröste 189

VII

VIII      Inhaltsverzeichnis

11 November – In der dunklen Jahreszeit 207 12 Dezember – Glaskugeln und Sternenschweif 225 Glossar 247 Literatur 253 Stichwortverzeichnis 259

1 Januar – Kristalle aus Eis und Salz

Wenn es schneit, schweben weiße Flocken durch die Luft und scheinen alle Geräusche zu dämpfen. Sobald das wenige Licht des Winters von Schneeflächen reflektiert wird, hellt sich manches Gemüt auf. Andere verspüren vorahnend ein Ziehen in der Schulter: Schneefegen steht an! Flüssiges Wasser gefriert mal als kompaktes Eis und mal als fluffiger Schnee. Wie kommt es dazu? Dahinter stecken Kristalle und ihre Ordnung – doch wann kristallisiert Wasser in welcher Form? Und welche anderen Kristalle spielen im Winter eine Rolle? Manche denken jetzt zu Recht an Streusalz. Und viele Leute begrüßen das Jahr mit einem Funkenregen aus glühenden Salzen. Was leuchtet da beim Silvesterfeuerwerk?

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Feil, Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59264-9_1

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Schnee und Eis – Wasser bildet Kristalle Schneeflocken sind einfach faszinierend – sechsstrahlig, fein verästelt, transparent, einzeln sehr zart und in Massen durchaus hart, wie schon ein Schneeball demonstrieren kann. Chemiker kennen mehr als ein Dutzend Arten, wie sich die Bausteine gefrierenden Wassers vor dem Festwerden aneinanderlagern können. Ein Molekül Wasser besteht aus einem Sauerstoffatom und zwei Wasserstoffatomen. Die Wassermoleküle positionieren sich untereinander so, dass der Sauerstoff in die Nähe des Wasserstoffs vom Nachbarmolekül gelangt. Die Eisnadeln wachsen daher von der Mitte ausgehend mit nur zwei möglichen Winkeln zueinander: entweder wären 60 oder 120 Grad möglich. Die entstehenden Plättchen und Flocken haben eine hexagonale Symmetrie. In der Schneeflocke sind es 60-Grad-Winkel und so ist entstehende Flocke flach und hochsymmetrisch. Die Anzahl der sechs Strahlen ergibt sich mathematisch korrekt, denn die Kristallnadeln teilen einen gedachten Kreis (360 Winkelgrad) in sechs Segmente mit einem Winkel von 60 Grad. Bevor es schneit, kondensiert Luftfeuchtigkeit zu Wolken, die in der Luft einzeln schwebenden Wassermoleküle lagern sich also bei den kalten Temperaturen zusammen. Meist bietet ein Staubkorn die Oberfläche, an der sich die Moleküle zu einem Eiskeim zu sammeln beginnen. Für einen Eiskristall von einem Millimeter Durchmesser verbinden sich rund 100 Trillionen Wassermoleküle. Bei den Schneeflocken, die sich daraus bilden, staunen Betrachter zu Recht, welch hohen Organisationsgrad das Wasser da einnimmt. Die Temperatur in den Wolken muss schon sehr gering sein, denn das Wasser ist bis zu −12 ℃ noch flüssig – der Begriff unterkühltes Wasser erklärt sich hier wohl von selbst. Ohne Staubkörner als Kristallisationskeime kann Wasser noch bei Temperaturen unter −40 ℃ flüssig sein. Sind aber erste Kristallisationskeime vorhanden, lagern sich weitere Wassermoleküle an. Bei −20 ℃ bestehen Wolken noch zu zehn Prozent aus unterkühltem Wasser. Zunächst entstehen relativ kompakte Eiskeime (Abb. 1.1). Sie können als sechseckige Plättchen vorliegen oder zu Säulen anwachsen. Lagert sich flüssiges Wasser an, entsteht Graupel. Stoßen jedoch zwei Eiskeime aneinander, zerspringen sie in kleine Kristalle, die Dendriten. Diese bleiben bei Zusammenstößen aneinander haften und frieren zu Schneeflocken zusammen. Dadurch entsteht die große Formenvielfalt (Abb. 1.2). Nicht nur Wissenschaftler fasziniert immer wieder, wie dabei die energetisch günstigen Stellen für das Kristallwachstum zu strahlenförmigen Armen auswachsen und filigrane, meist sehr symmetrische und geordnete Strukturen entstehen.

1  Januar – Kristalle aus Eis und Salz     3

Abb. 1.1  Schneeflocke oder Eiskristall – die Bedingungen sind entscheidend

Die vielen Flächen reflektieren das Sonnenlicht und absorbieren es kaum. Daher erscheint Schnee weiß. Wenn der Schnee sich am Boden zur Schicht ansammelt, verändert er sich. Die fallenden Schneeflocken wiegen zunächst wenig, aber dicke Schneeschichten verdichten sich unter dem eigenen Gewicht. Pulverschnee wiegt pro Kubikmeter etwa 30–50 kg, feuchter Schnee kommt auf bis zu 200 kg. Trotz der geringen Temperatur können sich die Bindungen im Eiskristall umlagern. Dabei werden die feinen Verästelungen abgebaut, und der Schnee setzt sich. So steigt das Gewicht pro Kubikmeter bis an die 500 kg – wenig überraschend, dass Hallendächern schon mal vom Schnee geräumt werden. Die Schneelast zu berechnen, ist eine wichtige Aufgabe für Statiker: Luft wiegt pro Kubikmeter etwa 1,3 kg, flüssiges Wasser gleicher Menge 999 kg (natürlich rein hypothetisch – das Wasser würde abfließen und nicht einen Meter hoch auf dem Dach stehen). Beim Setzen werden einige Moleküle wieder gasförmig und entweichen; andere, benachbarte Strahlen verwachsen und der Schnee „verbackt“. Schon Kinder lernen schnell, dass sich feuchter Schnee besser für Schneebälle und -männer eignet. Beim Vereisen bilden sich neue Bindungen unter den nun runderen Schneekristallen. Steigt die Temperatur, steht mehr Energie für die Umlagerung der Bindungen und damit die Umgestaltung des Kristalls bereit. Beim Schmelzen wird die Anziehung zwischen den einzelnen Molekülen geringer, und die Moleküle bewegen sich mehr. Im Schulunterricht ist Schnee, der trotz Kälte

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Abb. 1.2  Historische Aufnahmen von Schneeflocken: Keine gleicht der anderen. (© NOAA/Science Photo Library)

1  Januar – Kristalle aus Eis und Salz     5

„verschwindet“ ein Beispiel für die Sublimation. Dabei lösen sich einzelne Moleküle ganz aus dem Kristallverband und schweben als gasförmiges Wasser davon.

Dichte, Reibung und Wintersport Zu wissen, unter welchen Bedingungen gut haftender Schnee entsteht, ist besonders in Wintersportgebieten wichtig. Täglich werden in alpinen Skigebieten die Pisten präpariert, um für einen guten Grip zu sorgen. Bei zu wenig Schnee wird zusätzlich Kunstschnee auf den Pisten verteilt. Die Saison für den Kunstschnee beginnt schon recht früh – sobald es kalt genug ist, wird Wasser auf den Hängen versprüht, um eine ausreichend dicke Schneedecke für die Saison aufzubauen. Schnee ist also nicht gleich Schnee. Es ist eine Besonderheit von Wasser, dass nicht der feste Zustand, die geordnete Kristallstruktur, die dichteste Packung von Wassermolekülen (H2O) aufweist, sondern dass sich die Teilchen im flüssigen Zustand noch mehr annähern. Ausgedrückt wird das physikalisch über die Dichte, die ihren Maximalwert für Wasser bei rund 4 ℃ aufweist. Aus diesem Grund warnen in modernen Autos die Displays bereits bei dieser Temperatur vor Glättegefahr, und Flaschen mit wässrigem Inhalt platzen im Gefrierfach, wenn sie vergessen werden, weil sich das gefrierende Wasser wieder ausdehnt. Um verstehen zu können, weshalb Schnee feucht und trocken sein kann, lohnt ein Blick in diesen Übergangsbereich und die Struktur der Eiskristalle. Bei 0 ℃ wiegt gefrorenes Wasser 917 kg pro Kubikmeter. Der Unterschied zu flüssigem Wasser bei 20 ℃ mag gering erscheinen, dann sind es 998 kg pro Kubikmeter. Bei den besagten 4 ℃ sammeln sich je Kubikmeter 999 g Wasser an. Bei einem Liter (einem Dezimeter) Wasser beträgt der Unterschied 82 g – weshalb das Eis auf dem kalten Wasser schwimmt. Chemiker nennen häufig die Bedingungen, unter denen sie physikalische Werte eines Stoffes bestimmen. Darunter verstehen sie Druck und Temperatur. Die physikalischen Werte werden bei 20 ℃ und dem bei dieser Temperatur herrschenden Luftdruck von 1013 mbar (Millibar) gemessen, was in Tabellen auch kurz als „Standardbedingungen“ bezeichnet wird. Doch Achtung: Die Definitionen von Standardbedingungen variieren je nach Zusammenhang (und Land) durchaus (Glossar)! Zurück zum Eis, das acht Prozent leichter als flüssiges Wasser ist. Wer will, kann berechnen, wie weit es aus dem Wasser ragt. Wieso nimmt hier die Ordnung, also der Kristall, mehr Platz ein als die Unordnung – die

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Flüssigkeit, in der die Moleküle doch leichter ihre Position wechseln können, weil sie nicht durch Bindungen am Platz gehalten werden? Im Wasser ist jedes Sauerstoffatom (O) mit zwei Wasserstoffatomen (H) verbunden. Dabei hat der Sauerstoff in seiner Elektronenstruktur noch zwei Paare ungebundener Elektronen, die zu zwei weiteren Wasserstoffatomen Kontakt suchen. Die Wasserstoffatome ihrerseits gehen unter normalen Bedingungen nur eine Bindung ein. Daher ist der Kontakt zu weiteren elektronenreichen Atomen ein loser, eine sogenannte Wasserstoffbrücke entsteht. Im Vergleich zu anderen Wechselwirkungen zwischen Atomen oder Molekülen ist diese Art der Wechselwirkung relativ stabil und wirkt sich daher auch stark auf die Eigenschaft der Stoffe aus. Im Eis ist jedes Wassermolekül über Wasserstoffbrücken mit vier Nachbarmolekülen verbunden: zwei, die sein „O“ zu „H“s von anderen Molekülen aufbaut, und zwei, die „O“s aus benachbarten Molekülen zu seinen „H“s aufbauen. Daraus ergibt sich die Raumstruktur. Wer ein Faible für räumliches Denken hat, mag sich damit ausführlich beschäftigen – an dieser Stelle genügt der Hinweis, dass sich die Sauerstoffatome so anordnen, dass sie gewellte Waben ergeben. Von diesen Sechsringen ragt ein Sauerstoffatom nach oben und eines auf der gegenüberliegenden Seite nach unten. Zwischen den Sauerstoffatomen befinden sich die Wasserstoffatome; sie vernetzen auch die Ebenen untereinander. Da die Wasserstoffatome aber nicht alle durch feste Bindungen verankert sind, ist der Abstand teilweise relativ groß. Dies bedingt die geringere Dichte. Noch zwei weitere Eigenschaften werden verständlich. Zum einen bedeutet ein Absenken der Temperatur, dass die Moleküle weitere Energie an die Umgebung abgeben. Wie kann ein Eiswürfel Energie abgeben? Beim Gefrieren lagern sich die Wassermoleküle nicht im idealen Gitter an. Es gibt gestörte Zonen, an denen zu viele oder zu wenige Bindungspartner vorhanden sind. Hier können sich die Wasserstoffbrücken immer wieder neu anordnen. Die dafür nötige Energie ist bei 0 ℃ noch vorhanden. Wird es kälter, entzieht die Umgebung den Molekülen weitere Energie – die Elektronen und Atomrümpfe schwingen weniger hin und her, sie werden langsamer und andere Anordnungen können die Folge sein. So kann durch andere Temperaturen eine andere Anordnung im Kristall die Folge sein. Insgesamt sind siebzehn Kristallstrukturen von Wasser bekannt. Etwas weniger theoretisch ist der andere Effekt: Es ging bereits darum, warum Schnee feucht oder trocken ist. Schnee entsteht im Übergangsbereich von flüssigem Wasser zu kompaktem Eis. Es handelt sich um winzige Eiskristalle. Sind Luftfeuchtigkeit und Temperatur relativ hoch, bilden sich in der Wolke Kristallisationskeime. Einzelne Flocken verhaken sich,

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frieren aneinander fest und bilden große Flocken, die zudem noch flüssige Wassermoleküle mit sich reißen. Das flüssige Wasser verklebt einzelne Kristalle zu bauschigen Flocken. Dieser Schnee eignet sich hervorragend für Schneeballschlachten und Schneemänner. Durch etwas Druck wird die Verzahnung noch erhöht. Vom Pulverschnee zur Lawinengefahr Je kälter es wird, desto schneller gefriert das Wasser – die entstehenden Kristalle sind kleiner und schweben fein verteilt durch die Luft: Pulverschnee, dessen Eissterne zum Sinnbild für den Winter wurden. Neben zu wenig Schnee bereitet auch zu trockener Schnee den Menschen in den Bergen immer wieder Sorgen. Denn mit dem trockenen Schnee steigt die Lawinengefahr – so wie zum Beispiel im Februar 2014, als Lawinen Ortschaften in Tirol und Kärnten von der Außenwelt abschnitten. Die Lawinengefahr steigt vor allem, wenn verschiedene Schneelagen aufeinander geschichtet sind, die sich relativ leicht gegeneinander verschieben lassen. Was beim Gletscher ein langsames Fließen ist, wird bei Lawinen durch Auslöser wie eine punktuelle Belastung durch Skifahrer zum rasanten Abgang. Lockerschneelawinen durch trockenen Schnee ereignen sich meist nur lokal. Von Schneebrettern ist die Rede, wenn an Hängen große zusammenhängende Schneetafeln ins Rutschen kommen. Besonders tückisch wird es, wenn auf Sonnenhängen die Schneedecke erweicht und nachts verharscht. Darauf fallender Neuschnee haftet schlecht. Wenn nun viel Schnee fällt und sich nicht mit der Schicht darunter verbindet, reißt die Schneeschicht, und ein Schneebrett rutscht den Hang hinab. Die Geschwindigkeit steigert sich zunehmend, wobei trockene Schneebrettlawinen etwa mit 50–100 km/h den Hang hinabrutschen. Wenn sich die Schicht durch die Zugspannungen und Erschütterungen in eine Staublawine auflöst, steigt die Geschwindigkeit auf 200–300 km/h. Allerdings können solche Schichtungen auch zunächst unbemerkt bleiben. Dann reicht schon das Gewicht von Wintersportlern, um lokal für einen Abriss der aufliegenden Schneeschicht zu sorgen. Neben Indikatoren wie Hangneigung und Schneemenge werden Windgeschwindigkeit, Sonneneinstrahlung und Schneealter herangezogen, um die Lawinengefahr einschätzen zu können. Reibung und Druck sind wichtige Parameter nicht nur für die Eisbildung, sondern auch für den Wintersport. Aus Schulbüchern gut bekannt ist das Prinzip des Schlittschuhlaufens: Die Kufen üben so viel Druck aus, dass die Moleküle der obersten Eisschicht aus dem Kristall gelöst werden – ein Flüssigkeitsfilm lässt die Kufen gleiten. Für diesen Schmelzvorgang löst

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sich etwa ein Viertel der Wasserstoffbrücken. Bei den Temperaturen unterm Nullpunkt umgeben sich die Wassermoleküle dann sogar im Schnitt mit vier bis fünf anderen Molekülen, die Wasserstoffbrücken wechseln schnell zwischen den Partnern. Bei steigender Temperatur sind es nur noch drei oder weniger Moleküle. Hier bewegen sich die Atome innerhalb des Moleküls mehr, sodass eine hoch geordnete, nahe Verknüpfung zu kleinen Clustern nicht mehr möglich ist. Dieser Effekt verstärkt sich noch beim Übergang zum Gas: Einzelne Wassermoleküle verlassen dann den Molekülverbund des flüssigen Wassers. Statt schmaler Kufen, die das gesamte Körpergewicht konzentrieren und so den Druck auf eine kleine Fläche bringen, werden beim Skilaufen vergleichsweise breite Bretter untergeschnallt. Wieviel Sachkunde das Wachsen selbiger erfordert, verdeutlichen Fernsehübertragungen von Skilanglaufrennen. Ganze Teams unterstützen die Sportlerinnen und Sportler: Physiotherapeuten kümmern sich um die Menschen, Techniker um das Gerät, und vor allem das richtige Wachs wird oft erwähnt. Aus dem Jahr 1673 gibt es erste Aufzeichnungen darüber, wie die damaligen Skier aus Holz mit Gleitstoffen zu behandeln seien, darunter Fette und andere Stoffe, die wasserabweisend, also hydrophob, machen. Die Liste enthält Harz, Teer, Talk, Pech und Öle. Aber auch moderne Skier aus Verbundstoffen werden gewachst – mit Hartwachs und Klister für Anstiege beim Langlauf oder Wachse für besseres Gleiten auf der Grundlage von Hydrocarbon- oder Fluorcarbonwachsen. Mehr zu diesen Stoffen in Kap. 4 (April).

Eis als Klimaarchiv An den Polen liegen unter mehreren Metern Schnee nochmals Kilometer von Eis. In der kanadischen Arktis sind die Eisschichten in 25 m Tiefe etwa 42 Jahre alt. Verdichtet sich der Schnee im ewigen Eis oder auf hohen Bergen wie den Alpen, entstehen über lange Zeiträume daraus Gletscher. Die Vernetzung nimmt zu, und es bildet sich ein geordnetes Kristallgitter. Wenn durch den Klimawandel die Gletscher schmelzen, geben sie ihre Geheimnisse wieder preis. Berühmt wurde die Mumie eines Mannes aus den Ötztaler Alpen, für die sich der Name „Ötzi“ durchsetzte. In Bozen widmet sich eine Ausstellung der Erkundung der Lebensumstände dieses Mannes, der möglicherweise ein Bote war. Anhand seiner Kleidung, seines Jagdbogens und seiner Messer wird rekonstruiert, was sein Ziel in den schon zu seiner Zeit verschneiten

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Bergen gewesen sein mag. Kräuter und Mineralien, die er bei sich trug, zeigen, wie kundig er auch in der Heilkunst war. Andere Gruppen jagten in den Bergen. Erst viel später kamen der Abbau von Gesteinen und Erzen sowie wiederum lange Zeit später der Aufenthalt zur Erholung dazu. Wie die Gletscher der Alpen bergen auch die der Eismeere Einschlüsse von Fremdkörpern oder Luft. So werden in der Arktis mit Hohlbohrern lange Bohrkerne aus dem Eis gewonnen und gut gekühlt zu Forschungseinrichtungen wie dem Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven verschifft. Sie sind wie ein Klimaarchiv – Forscher analysieren die Reste von Gasen aus der Umgebungsluft, die seit Jahrhunderten eingeschlossen sind. Schwermetalle und Aschereste geben Auskunft über vergangene Klimaperioden und Ereignisse. So schleudern Vulkanausbrüche nicht nur viel Schwefelwasserstoff (H2S) in die Atmosphäre, die Asche enthält auch alles, was an Elementen tief unter der Erdoberfläche vorhanden ist, darunter Schwermetalle wie Quecksilber. Junge Eisschichten enthalten alles, was der Schneefall aus der Luft mitnimmt: Pestizide, Stickoxide und durch menschlichen Einfluss in die Umwelt gelangte Schwermetalle – zusätzlich zu jenen aus natürlichen Quellen. Was in die Luft gerät, bleibt dort etwa ein bis zwei Wochen, bevor zumindest die schwereren Stoffe absinken. Winde sorgen für eine schnelle weltweite Verteilung. Zur Analyse werden die Bohrkerne zunächst von außen abgeschabt, denn der Hohlbohrer kontaminiert die äußere Schicht, da durch den Abrieb Stoffe ins Eis gelangen. Bis hierher wird der Bohrkern mindestens auf −12 ℃ gekühlt. Wichtig sind diese Proben vor allem deshalb, weil sie nicht durch lokale Quellen beeinflusst werden – sie geben nur wieder, was sich zur Zeit ihrer Entstehung in der Luft befand. Die letzte Kaltklimaphase hatte vor 12.500 Jahren ihren Höhepunkt. Das Wachstum von Pflanzen war gehemmt, und der Wind konnte die Böden leichter davontragen. Mehr Staub wurde transportiert und in den Schnee eingelagert. Dies zeigt sich zum Beispiel anhand des hohen Antimon-Gehalts dieser alten Eisschichten. Die Siedlungsgeschichte und der technische Fortschritt spiegeln sich im Vorkommen charakteristischer Stoffe wider. Beim Abbau und Verarbeiten von Bleierzen wurden große Mengen von Arsen, Bismut und Antimon frei. Ihr Gehalt stieg erstmals vor 3000 Jahren durch die Aktivität der Griechen und Phönizier an und dann abermals vor 2000 Jahren durch die Römer. Die Industrialisierung setzte vor rund 170 Jahren ein. Damit einher ging die Eisen- und Kupferverhüttung, aber auch die Kokserzeugung. Entsprechend vielfältig ist das Spektrum der Schwermetalle, die von nun an in die Atmosphäre und damit ins Eis gelangten. Neben Einbrüchen durch

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Wirtschaftskrisen ist dokumentiert, wann eine Reinigung der Abgase einsetzte – seit den 1960er-Jahren verminderten sich die Gehalte von eingetragenen Spurenelementen. Einschneidend war das Verbot von Bleisalzen im Benzin, das nun schon seit Jahrzehnten gilt. Gleichwohl gelangt weiterhin viel Blei in die Luft, da es noch Länder in Afrika und Asien gibt, die den Einsatz erlauben. Interessant ist der Anstieg von Antimon (Sb), ein Element, dass allgemein nicht so viel diskutiert wird. Es ist als Antimonoxid (Sb2O3) in Flammschutzmitteln enthalten, Katalysator für die Herstellung von Polymeren und somit Zeuge des Kunststoffzeitalters einerseits und der Müllverbrennung andererseits.

Streusalz – Salzgewinnung und Einsatz auf Straßen Gefrorenes Wasser bildet also die herrschenden Umweltbedingungen gut ab. Im Winter allerdings interessiert uns mehr, dass Schnee und Eis die Mobilität einschränken. Lange war es üblich, Asche oder feinen Sand auf die glatten Flächen zu streuen. Die feinen Körner setzen sich in Mulden und machen die Oberfläche stumpf. Zugleich wird weniger Licht reflektiert: Das absorbierte Licht wird in Wärme gewandelt und unterstützt so bei steigenden Temperaturen den Tauvorgang. Allerdings ergibt das Ganze einen ziemlichen Matsch, und bei Asche ist nie so ganz klar, was zuvor verbrannt worden ist. Als Abstumpfungsmittel verwenden wir daher nun neben dem Sand oft Splitt, also kleine Steine. Da jedoch die Steinchen auch mit Fahrradreifen und Schuhsohlen transportiert und die Gehwege mitunter erst spät nach der Schneeschmelze wieder gefegt werden, wandert der Splitt nicht nur in Busse und Bahnen, sondern auch in Geschäfte, Büros und Wohnungen. Trotz des eigentlich geringen Gewichts des Schnees ist Schneeschippen eher unbeliebt, denn es kostet Zeit und ist anstrengend. Nicht nur auf den Gehwegen, auch auf den Straßen muss der Schnee weg, und immer wieder ist hier das Streuen von Salz (und die Frage, ob die Salzvorräte für den Winter ausreichen) Gesprächsthema. Dabei wird neben Salz auch eine Sole versprüht. Diese wässrige Salzlösung verteilt sich einerseits besser, andererseits fließt sie durch die Straßenneigung schneller ab. Nun soll möglichst wenig Salz gestreut werden, da es mit dem Schmelzwasser in die Böden und Flüsse geschwemmt wird. Die wenigsten Pflanzen vertragen hohe Salzkonzentrationen. Zugleich reagiert Beton mit Salzwasser,

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was zu Schädigungen der inneren Struktur des Baustoffs führen kann. Ein Dilemma: Einerseits sind Betonplatten bei Autobahnen ein viel verwendeter Baustoff, andererseits müssen gerade die großen Straßen frei von Schnee und Eis gehalten werden, damit der Verkehr rollt. Salz wirkt physikalisch-chemisch. Das Salz löst sich im Regen, der auf den kalten Straßenbelag fällt. Der Effekt besteht darin, dass das Salz die Schmelztemperatur des Wassers senkt; es stört die Ausbildung von Kristallen, und das Wasser ist länger flüssig. Eine Studie aus dem Jahr 2016 stellte fest, dass eine Konzentration von 2 g Salz pro Quadratmeter ausreicht, um die Eisbildung bei 0 ℃ zu vermeiden. Übrigens gefriert Salzwasser nicht zu „Salzeis“ – beim Erstarren verdrängen Wassermoleküle die Salze weitestgehend. Daher ist das Wasser der Meere salzig und nicht trinkbar, Meereis jedoch kann geschmolzen und dann als Wasser getrunken werden. Wer dem Tipp folgen will, Schnee mit heißem Wasser abzuschmelzen, der ahnt, wie viel Energie nötig ist. Mit 1 l Wasser, das auf 80 ℃ erwärmt wurde, kann bei Standardbedingungen gerade einmal 1  kg Schnee geschmolzen werden – was dann bei 0 ℃ entsprechend 2 l Wasser ergibt. Daher ist Salz immer noch das Mittel der Wahl, um Straßen zu enteisen. Da die Autoreifen einen Teil des Salzes mitnehmen, sinkt die Konzen­ trationen auf viel befahrenden Straßen. Daher wird zunächst in höherer Konzentration abgestreut, abhängig davon, ob die Straßen nass oder trocken sind. Auf trockenen Straßen bleibt die Konzentration länger erhalten. Allerdings haftet trockenes Salz nicht gut auf der Fahrbahn. Präventiv wird mitunter mit feuchtem Salz gestreut oder mit einer Lösung von Calciumchlorid. Letzteres zieht Wasser stärker an als das günstigere Natriumchlorid. Die Fahrbahn ist zwar feucht, gefriert jedoch nicht. Allerdings reagiert Calciumchlorid auch stärker mit dem häufig verwendeten Beton. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass „Salze“ Verbindungen aus Kationen mit Anionen sind. Kationen sind die positiv geladenen Atome etwa von Metallen oder anorganischen Resten wie Ammonium (NH4+), die negativ geladenen Salzanionen können sich von Elementen wie Chlor (Cl−) oder Sauerstoff (O2−) ableiten oder ebenfalls aus mehreren Atomen zusammengesetzt sein, wie etwa beim Sulfat (SO42−). Die Ionen ziehen sich aufgrund der entgegengesetzten elektrischen Ladung an und bilden ionische Bindungen aus. Als Feststoff ordnen sie sich in charakteristische Kristalle. Säuren (Glossar) wie Salzsäure (HCl) oder Schwefelsäure (H2SO4) geben leicht Protonen (H+) ab, und die entstehenden Säurereste, etwa Sulfate (SO42−), bilden dann mit den Metallkationen Salze.

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Milde Winter sind also in mehrfacher Hinsicht erfreulich für Straßenmeistereien. Wird weniger gestreut, werden die Straßenbeläge geschont. Zugleich vergrößert Eis nicht bereits vorhanden Risse. Denn Wasser sickert in diese ein, dehnt sich beim Gefrieren aus und sprengt dabei die Kanten weiter auf. In der Natur entspricht dem die Verwitterung von Gestein. Bei Straßen werden aus kleinen Schäden bald Schlaglöcher, da die Erschütterungen durch fahrende Autos und vor allem LKWs beständig mitwirken. Vom Streusalz zum Speisesalz Das in natürlichen Salzen vorhandene Calciumchlorid erschwerte jahrhundertelang die Gewinnung von Speisesalz (Natriumchlorid, NaCl). Daneben ist im Meerwasser Magnesiumchlorid (MgCl2) vorhanden, und natürliche Solen, also stark salzhaltige Lösungen als Bodeneinschluss, enthalten Gips (Calciumsulfat, CaSO4). Eine Sole entsteht, wenn Grundwasser auf einen Salzstock trifft und Teile des Steinsalzes auslaugt. Dabei ist Steinsalz nicht farblos wie das Speisesalz Natriumchlorid, sondern meist verfärbt – Farben wie rosa und hellblau kommen vor. Eine Sole enthält mehr als 14 % gelöstes Steinsalz; sie kann durch Kanäle abfließen, sich sammeln oder wie eine Quelle zur Erdoberfläche aufsteigen. Oberirdische Steinsalzfunde wurden bereits zur Eisen- und Bronzezeit verwendet, Solequellen und gebohrte Brunnen lösten diese um Christi Geburt ab. In Küstenregionen wurde Meerwasser gesiedet – das Wasser verdunstet und Salz bleibt zurück. Allerdings war im Falle der Salzsole viel Brennholz nötig, um im ersten Schritt die Salze zu gewinnen und diese erneut zu lösen, um dann die unerwünschten Salzbestandteile abzutrennen. Salz war aufgrund der Brennstoffe teuer, außerdem war die Nachfrage höher als das Angebot – weil immer mehr Menschen zu ernähren waren und vor allem, weil gewerbliche Prozesse Salz benötigten. Dazu zählen das Gerben von Leder wie auch die Erfindung der Salzglasur bei der Keramikherstellung sowie der Einsatz als Trennmittel beim Aufschmelzen von Metallen, insbesondere Silber und Gold. Das Betreiben eigener Salinen war für Landesfürsten nahezu zwingend notwendig, und sie erhoben hohe Ausfuhrzölle. Der nächste große Anstieg im Salzverbrauch setzte mit der Chlorgewinnung zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein. Auch die Produktion der Grundchemikalie Soda (Natriumcarbonat, Na2CO3) bedurfte weiteren Salzes sowie schließlich die Erfindung der Elektrolyse gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Bedeutung von Soda als Zusatz zu Glasschmelzen ist groß; in der Seifenherstellung reicht seine Verwendung bis ins Altertum

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zurück – dies würde aber den Rahmen unseres winterlichen Kapitels sprengen. Um den steigenden Salzbedarf zu decken, wurde der bergmännische Abbau von Steinsalz wieder im großen Stil aufgenommen.

Andere Salze aus der Sole: Gewinnung von Lithium Interessant sind für uns auch Lithiumsalze. Das in Akkumulatoren, kurz Akkus, eingesetzte Lithium kommt nicht gediegen vor, was so viel heißt, dass das zu den Alkalimetallen zählende Lithium in der Natur nicht als reines Metall existiert. Genau wie Natrium reagiert es dafür viel zu leicht. Folglich liegt es als Salz vor, und das größte bekannte Vorkommen der Erde findet sich in der chilenischen Atacama-Wüste. Die Sole der Salar de Atacama entsteht in einer Senke am Fuße der Anden und wird zur Gewinnungsstätte hochgepumpt; dort rinnt sie dann über Planen, die zu kleinen Zelten oder Kegeln aufgespannt sind. Dadurch verdunstet in dem warmen Klima viel Wasser und die Sole wird aufkonzentriert. Ein weiteres Abbaugebiet ist der bolivianische Salzsee Salar de Uyuni. Die ausgedehnte Senke ist nur zur Regenzeit mit Wasser bedeckt. Der hier höhere Magnesiumanteil in der Sole macht die Gewinnung des reinen Lithiums, wie es für Batterien benötigt wird, deutlich teurer als in Chile. Nicht nur im Auto ein Booster Ein ganz anderes Einsatzgebiet für Lithiumsalze ist die Psychiatrie. Behandelt werden Menschen mit bipolaren Störungen, bei denen manische Phasen mit solchen der Depression abwechseln. Betroffene haben in der manischen Phase kein Schlafbedürfnis, dafür jedoch oft Halluzinationen. Etwa jeder fünfte Patient spricht auf Lithiumpräparate an, ein weiteres Drittel auf Lithium in Kombination mit weiteren Medikamenten. Ganz geklärt ist die Wirkweise noch nicht. Ein Effekt scheint jedoch zu sein, dass Nervenzellen vor dem Zelltod bewahrt werden. Das sonst auftretende Schrumpfen einiger Hirnregionen wird so gestoppt. Botenstoffe und Enzyme interagieren mit Metallen; hier könnte Lithium stabilisierend wirken. Ärzte entdecken immer wieder neue Effekte. So wird Lithium mittlerweile auch bei Depressionen verschrieben, die nicht Teil einer bipolaren Störung sind. Dabei geht es immer um langfristige Einnahmen. Im Jahr 2017 publizierte ein dänisches Team Studienergebnisse, denen zufolge das

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Demenzrisiko vom Lithiumgehalt des Trinkwassers abhängen könnte. Dabei sind die im Trinkwasser enthaltenen Mengen jedoch gering und erreichen nur etwa ein Tausendstel der in der Therapie angewandten Dosen. Mit direkten Korrelationen sind die Mediziner vorsichtig. Und bevor jemand auf die Idee kommt, Lithiumsalze ins Trinkwasser zu mischen, sollten die Nebenwirkungen besser untersucht werden.

Funkensprühende Salze Gefühle spielen eine große Rolle, wenn Salze in Silvesterraketen abbrennen und der Abbrand in vielen Farben leuchtet. Diese Verwendung von Salzen ist schon sehr alt, und auf die Frage „wer hat’s erfunden?“ ist die richtige Antwort wohl: die Chinesen. Ins Feuer geworfene Bambusstäbe zerbarsten mit lautem Knall. Zumindest ist das insofern plausibel, als dass die typische Feuerwerksrakete ein mit Schwarzpulver gefülltes Rohr ist. Ohne Stock als Startrampe verstärkt dieses nur den Knall, und in dieser Form wird es in China seit 1000 Jahren zelebriert. Richtet man ein solches Rohr auf, befestigt es an einem Holzstab und zündet von unten, hebt der pyrotechnische Brandsatz ab. Der Holzstab ist dabei die Startrampe und verbessert die Flugbahn. Zur Zeit des Barocks vom 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts kamen Feuerwerke an den europäischen Höfen in Mode. Nach Fritz Keller (2018, Literatur) beschrieb der Philosoph Simon Werrett vom University College in London den Effekt des Feuerwerks in Europa im 17. Jahrhundert in etwa folgendermaßen. Wer es zum ersten Mal erlebte, erschrak. Die Adligen genossen das nun schon funkenstäubende Spektakel, das zudem kostspielig war. Das gemeine Volk erfuhr wenig von den wohligen Schauern, es erlebte, dass der höhere Stand zum Vergnügen laut knallende Raketen abfeuerte, Qualm, Rauch und üble Gerüche waren die Folge, und es blieb unverständlich, mithin bedrohlich. Wenn anlässlich von Krönungen ein Feuerwerk abgebrannt wurde, freute sich, wer zur Oberschicht gehörte. Das Volk war beeindruckt von Blitz und Donner auf Befehl. Im 18. Jahrhundert hatte sich das Wissen um das künstlich erzeugte farbige Gewitter verbreitet, es wurde eine Unterhaltung fürs Volk. So gab König Georg II. von England die noch heute viel gespielte Feuerwerksmusik bei seinem Hofkomponisten Georg Friedrich Händel in Auftrag. Anlass war eine Feier zum Ende des Krieges um die österreichische Erbfolge, der mit dem Frieden von Aachen im Jahr 1748 besiegelt wurde. Aufgeführt werden sollte das Werk im April 1749. Eine öffentliche Probe war ein großer

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Erfolg, doch bei der offiziellen Uraufführung zeigte sich das Feuerwerk von seiner destruktiven Seite: Das Feuerwerk wurde vorab in einem extra gefertigten Aufbau arrangiert und mit Zündlunten versehen. Bei der Aufführung brannte dann der ganze Aufbau ab – die Musik aber überzeugte. Die Barock-Feuerwerke mit der Mischung aus Musik und Pyrotechnik statt Krach setzten Maßstäbe. So kennen wir Feuerwerke noch heute: Als Massenspektakel in der Silvesternacht und anlässlich von großen Feiern. So gibt es in Hannovers Herrenhäuser Gärten jedes Jahr im Sommer einen internationalen Feuerwerkswettbewerb, wo stets Musik und Feuerwerk aufeinander abgestimmt sind. Doch zurück zur Pyrotechnik und der Frage, wie Goldregen, Heuler und farbige Raketen abbrennen. Der Abbrand des Silvesterfeuerwerks sorgt für reichlich Feinstaub in der Luft. Innerhalb nur einer Stunde steigt die Menge von 40 μg (Mikrogramm) pro Kubikmeter Luft in Hannover auf 640 μg an. Das entspricht einem Sechstel der jährlichen Menge, die durch Autoabgase in die Luft gelangen. Deutschlandweit rechnet das Umweltbundesamt mit 5000 Tonnen Feinstaub durch Silvesterfeuerwerk. Leuchtkraft und Farbe Im Barock waren Feuerwerke noch eher leuchtschwach. Erst der Einsatz bestimmter Salze brachte Farbe hinein und dazu Flughöhe. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verstärkten Chlorate und Perchlorate den Abbrand und somit die Leuchtkraft. Die Farben der Flammen entstehen durch Salze der Alkali- und Erdalkalielemente. Noch mehr Leuchtkraft brachten dann Metallpulver zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie in den frühen Fotoblitzen wurde Magnesium auch in Raketen gemischt und ergab weiß leuchtende Effekte. Daneben kamen Aluminium und später Titan hinzu. Wenn von Chloraten die Rede ist, ist eine bestimmte Stoffklasse von Salzen gemeint. Darin ist ein Chloratom enthalten, das jedoch nicht wie im Kochsalz (NaCl) einfach negativ geladen ist (das Chlorid-Ion, Cl−), sondern ein fünffach positiv geladenes Kation (Cl5+). Dieses bindet drei Sauerstoffatome, sodass die Chlorat-Gruppe (ClO3−) einfach negativ geladen ist. Das sieht auf den ersten Blick ungewöhnlich aus, ist aber mit einem Blick ins Periodensystem zu erklären. Die sogenannte Edelgaskonfiguration besagt, dass Elemente der dritten Periode im Periodensystem gern acht Elektronen in der äußerten Sphäre der Atomhülle haben. Das erreichen sie durch Aufnahme weiterer Elektronen oder auch Abgabe eigener Elektronen sowie die Bindung von anderen Atomen. Stabil ist Chlor vor allem als Chlorid, dann nimmt es zu sieben

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vorhandenen Elektronen ein weiteres auf. In der Folge ist es zwar negativ geladen, aber die Elektronen schirmen den Atomkern gut ab. Deswegen liegt das Ion auch ohne Bindung stabil vor und teilt selten Elektronen, um Bindungen einzugehen. Daher ist es als Salzbildner weit verbreitet. Als Chlorat hingegen teilt das Chloratom fünf seiner Elektronen in Bindungen zu Sauerstoffatomen. Da die Elektronen innerhalb der Bindung mobil bleiben, sind sie mal näher am Chlor- und mal näher am Sauerstoffatom. Die Atome teilen sich diese Elektronen also. Dennoch überwiegt bei einem der Bindungspartner die Anziehungskraft auf die Elektronen, sodass die formale Ladung des Chloratoms, auch Oxidationszahl genannt, fünffach positiv ist, Sauerstoff hingegen zweifach negativ. Dabei ist das Chloratom sehr bestrebt, den Sauerstoff loszuwerden, um die acht Elektronen nicht nur über geteilte Bindungen um sich zu haben, sondern exklusiv. Bei der angestrebten Reaktion nimmt das Chloratom Elektronen auf und gibt die Bindung zu den Sauerstoff-Ionen (O2−) auf. Diese Reaktion wird Reduktion genannt, wobei der Elektronen abgebende Reaktionspartner oxidiert wird. Die starke Reaktionsbereitschaft macht Chlorat zu einem guten Oxidationsmittel. Noch heftiger ist das Reaktionsbestreben, wenn das Chloratom alle sieben Elektronen in der äußeren Atomhülle in Bindungen einbringt. Es befindet sich dann in seiner höchsten Oxidationsstufe, die benennt, wie viele Elektronen im Vergleich zum ungeladenen Atom aufgenommen oder abgegeben wurden. Diese ist beim Chloratom nicht jene, die üblicherweise eingenommen wird, und bekommt daher den Namenszusatz „per“. Die Perchlorate (ClO4−) sind noch einmal stärkere Oxidationsmittel als die Chlorate. In Salzen sind die Ladungen ausgeglichen, sonst wären sie nicht handhabbar und würden sofort zu stabileren Verbindungen reagieren. Metalle geben Elektronen ab, und ihre Kationen gleichen die negative Ladung der Anionen, also negativ geladenen Salzgruppen, aus. Bevor wir uns den Metallkationen zuwenden, sei angemerkt, dass Chlorate und Perchlorate brandbeschleunigend wirken. Wie noch beim heutigen Feuerwerk bestand immer die Gefahr einer Selbstentzündung bei nicht sachgemäßer Handhabung. Daneben kommen auch andere Oxidationsmittel zum Einsatz, etwa Nitrate (NO3−). Der eigentliche Treibsatz besteht aus Schwarzpulver (das wiederum eine ganz eigene Geschichte hat). Der Brandsatz In den Brandsätzen steckt meist eine Mischung verschiedener Stoffe. In erster Linie sind dies Brennstoffe und Oxidationsmittel, deren Reaktion

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die Energie freisetzt, um die Leuchtmittel abzubrennen (oder im Falle der Metalle zu entzünden) und bei Raketen natürlich auch um die Flughöhe zu erreichen (Abb. 1.3). Außerdem soll der Transport sicher sein, das Feuerwerk soll eine gewisse Zeit lagerfähig bleiben und dann auch erst in der Luft zerfallen. Unter anderem deshalb kommen die Brandsätze in eine geschlossene Hülle. In Europa sind einige Oxidationsmittel verboten, da sie allzu leicht zünden. Der Leuchtsatz Warum die Metallsalze leuchten, ist gut zu erklären. Die Kationen haben die Elektronen der äußersten Atomhülle abgegeben und sind somit positiv geladen. Durch die hohe Temperatur, die beim Abbrand entsteht, erhält zum Beispiel Strontium so viel Energie, das ein Elektron, das sich bevorzugt näher am Kern aufhält, sich nun vom Kern etwas entfernt. Dafür nimmt es eine bestimmte Menge Wärmeenergie auf, Chemiker sprechen von einem

Abb. 1.3  Feuerwerk. Aufbau einer Feuerwerksrakete (A), Querschnitt durch Leuchtkugel (B) und Abbrand eines Blinksatzes (C)

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höheren Energieniveau. Allerdings ist das Elektron bestrebt, die Energie wieder abzugeben und auf die alte Position zurückzukehren. Die Energieniveaus sind für jedes Element genau festgelegt, sodass das Elektron beim Sprung zurück die Energie als Licht definierter Wellenlänge abstrahlt. Im Fall des Strontium-Kations ist dies als rotes Leuchten zu sehen. Natrium-Kationen wer­ den zu gelbem Leuchten angeregt, Calcium leuchtet orangerot. Kupfersalze sorgen für blaue Effekte und Bariumsalze für grüne Effekte. Im Leuchtsatz befinden sich aus praktischen Gründen nicht gleich die Salze, die später leuchten. Die Mischung reagiert erst beim Abbrennen zu den Verbindungen mit dem gewünschten Leuchteffekt. So reagiert Calciumcarbonat (CaCO3) zu Calciumchlorid (CaCl2) und in diesem wird das Cal­cium-Kation (Ca2+) zum Leuchten angeregt. Der Grund für diesen Umweg: Calciumchlorid bindet leicht Wasser und würde beim Lagern durch die Luftfeuchtigkeit zerfließen. Funken und Blinken Es sind die Spezialeffekte, die den Preis eines Feuerwerks in die Höhe treiben. Metallpartikel von Aluminium, Titan oder Eisen, granuliert mit Kohlenstoff, sind mit im Brandsatz enthalten und werden bei der Explosion in der Luft zerstäubt, wo sie glühend verbrennen. Goldgelbe Funken entstehen durch Eisen mit Kohlenstoff, silberne und weiße durch Aluminium und Titan. Titan ist allerdings recht kostspielig und eher ein Fall für professionelle Feuerwerke. Für Blinken und Flimmern ist schon etwas mehr Chemie oder Physik nötig. Chemie insofern, als sich zwei Reaktionen abwechseln – der Brandsatz zündet die Reaktion, die zunächst schwelt: In einer Legierung aus Aluminium und Magnesium reagiert zunächst der Magnesiumanteil mit dem Oxidationsmittel. Bei Legierungen ordnen sich die Atome der Metalle beim Erstarren zu einem gemeinsamen Gitter an, das mit bloßem Auge nicht von einem reinen Metall zu unterscheiden ist. Dennoch behalten die beteiligten Atome ihre Eigenschaften, wie in diesem Beispiel die größere Neigung von Magnesium, mit dem Oxidationsmittel zu reagieren. An der Oberfläche lösen sich Magnesiumatome, und die Aluminiumatome bleiben in einem lückenhaften Gitter zurück. Wer kennt nicht die Stapelspiele, bei denen aus Holztürmen die Stifte herausgezogen werden, bis der Turm zusammenbricht? Ähnlich ist die Tendenz an der Oberfläche des Metallgitters – die äußersten Aluminiumatome sind angreifbar, die Struktur hält sie nicht mehr. Aber statt zusammenzusinken, entzünden sich die fein verteilten Atome und brennen leuchtend ab. Dadurch lösen sie sich endgültig und legen eine tiefere Schicht der Metalllegierung frei. Nun schwelt wieder

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die langsamere Reaktion, bei der Magnesiumatome ohne Leuchterscheinung mit dem Oxidationsmittel reagieren und sich aus dem Metallgitter entfernen. So brennt Schicht um Schicht ab, und das leuchtende Verbrennen ist als Blinken zu sehen. Auch wenn hier übrigens von einer „langsamen Reaktion“ die Rede ist, brennt die Rakete noch relativ schnell ab. Wenn es blinkt und pfeift, kommt zusätzlich Physik (oder genauer: Mechanik) ins Spiel. Solche Leuchtsätze sind in lange Papphülsen verpackt. Der Abbrand erfolgt in Stufen, wobei hier die Unterbrechung durch den Druck erzeugt wird. Die entstehenden Gase sorgen für einen Überdruck infolge der ersten Explosion. Die Gase entströmen der Hülse und reißen alle vorhandenen Teilchen mit sich – kurzfristig entsteht ein Unterdruck. Nun strömt Luft aus der Umgebung nach, und der darin vorhandene Sauerstoff zündet mit dem nun heißen Brandsatz die nächste Explosion. Erneut wird alles, was an Gasen und festen Teilchen wie Ruß in der Hülle steckt, herausgeschleudert, und zischend wird Umgebungsluft angesaugt. Die Länge der Hülse steuert die Geräuschentwicklung. Hier kommen übrigens neben Perchloraten immer noch Chlorate zum Einsatz. Insgesamt werden für einen professionellen Feuerwerkskörper verschiedene Leuchtsätze in die Rakete geschichtet. Bindemitteln sorgen für einen lokal gesteuerten oder zeitlich gestaffelten Abbrand. Am Ende bleibt eine dicke Wolke mit Feinstaub zurück. In klarer Winterluft zieht diese recht gut ab, wenn es feucht ist, hält sich der Dunst länger. Womit dieses Kapitel am Ende wieder bei der Wetterfrage ankommt.

Ausklang Zur Auflockerung noch ein kurzer Blick auf eine Wettervorhersage aus der Zentralschweiz. Die „Muotathaler Wetterschmöcker“ geben jeweils im Herbst sechs Wetterprognosen für den kommenden Winter. Eine davon wird wahrscheinlich annähernd zutreffen; ansonsten wollen die Wetterpropheten auch unterhalten. So stellen sie die Windrichtung am Scheitel der Feldmäuse fest. Damit verdeutlicht der Verein schlicht, dass eine Wetterprognose über zwei Wochen hinaus kaum mehr als Spekulation ist. Zuverlässig sind Prognosen für höchstens fünf Tage. Kunstfreudige seien noch auf das Sauerland verwiesen. In Hallenberg gibt es im „Eishäuschen“ eine Ausstellung mit Kunstwerken aus Eis. In Zeiten vor der Verbreitung des Kühlschranks wurden hier Eisblöcke gelagert und mit Stroh isoliert, unter anderem, um Bier kühlen zu können. Die Schnitzereien entstehen bei bis zu –10 ℃, darüber wird das Eis zu weich.

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Trotz farbigem Feuerwerk und gut reflektierendem Schnee endet der Januar bei vielen Menschen mit dem Wunsch, dass die Tage schnell länger werden mögen und wieder mehr Licht zu sehen ist. Warum das Bedürfnis so groß ist, wird im nächsten Kapitel beleuchtet.

2 Februar – Vom Winterblues und der Sehnsucht nach Sonne

Während wir uns im Februar nach Sonne sehnen, machen sich Schmetterlinge in Afrika auf den Weg nach Norden, um einem Zuviel an Sonne zu entfliehen. Die Orientierung am Erdmagnetfeld und Sonnenstand auf dieser Wanderung fasziniert bei ihnen, wie auch bei Vögeln, die sogar einen Kompass im Auge haben. Warum treiben Laubbäume nicht gleich an den ersten warmen Tagen aus? Können sie sich an den Klimawandel anpassen? Sie registrieren sowohl die Tageslänge als auch die Temperatur. So treiben Buchen aus, wenn sie mindestens 13 h Tageslicht haben. Junge Bäume starten mitunter vor den ausgewachsenen Exemplaren und halten ihr Laub auch im Herbst noch länger. Sie können so – ähnlich wie Buschwindröschen und andere © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Feil, Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59264-9_2

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Frühblüher – das Sonnenlicht ausnutzen, bevor sie im Schatten von hohen Baumkronen liegen. Doch nicht nur die Pflanzen warten darauf, dass die Tage länger werden. Was ist dran am Winterblues? Wie beeinflusst Sonnenlicht den VitaminD-Haushalt der Menschen? Im Frühjahr kehren auch die Zugvögel zurück. Wie finden sie ihren Weg? Und woran erkennt der Körper überhaupt, welche Tageszeit gerade ist, so unterschiedlich hell, wie die Tage im Winter und Frühjahr sind?

Wie erkennen Pflanzen, dass es Frühjahr wird? Mit den längeren Tagen wächst unsere Sehnsucht nach frischem Grün in der Natur. Wie erkennen die Pflanzen, wann es Zeit für den Austrieb ist? Haben sie eine innere Uhr oder sehen sie die Tageslänge? Die Britin Caroline Dean erforscht, wie Pflanzen den nahenden Frühling wahrnehmen. Ursprünglich brachte sie das synchrone Aufblühen von Kirschbäumen zur Chronobiologie. Den Zeitpunkt der Rapsblüte melden Ehrenamtliche dem Deutschen Wetterdienst und geben auch den Ort an, sodass ein für markante Pflanzen eine Karte der Pflanzenentwicklung entsteht – ein Beispiel für Bürger als Wissenschaftler („Citizen Science“). Nicht zuletzt gehörte es zum Wissen der Imker, wo und wann eine „Tracht“ zu finden ist, also so viele Blüten, dass ein Bienenschwarm genug Pollen und Nektar findet. Sie zogen und ziehen bis heute mit Wagenladungen voller Bienenstöcke übers Land, um die Blüte der Obstbäume und später vom Raps für ihre Bienen zu nutzen. Aber dies greift weit ins Frühjahr voraus. Wie erkennt nun ein Krokus, wann es Zeit ist, einen Trieb durchs kalte Erdreich ans Licht zu schieben? Die Zwiebel des Krokus braucht den Winter, denn die Kälteeinwirkung verändert die chemische Zusammensetzung des Bildungsgewebes. Diese Vernalisation ist bei den Frühjahrsblühern unter den Zwiebelblumen zu finden. Tageslänge und Temperatur beeinflussen dann, wie sich die Pflanze entwickelt und ab wann sie eine Knospe ausbildet. Die Biologin Dean fand ein Protein, das die Blütenbildung bremst und erst bei wärmeren Außentemperaturen abgebaut wird. Damit wird der Weg frei für die Knospenbildung. Im Februar können sich Nachtfröste mit milderen Tagestemperaturen abwechseln. Wie sich die Pflanzen vor dem Erfrieren schützen, ist in Kap. 10 nachzulesen. An dieser Stelle ist wichtig, dass die Pflanzen aus den Schwankungen einen Trend ablesen. Vermutlich hat jede Pflanzenart ihre eigene Solltemperatur; ist diese überschritten, wird der Winter ad acta gelegt

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und die Blüte vorbereitet. Licht steuert auch bei anderen Organismen zelluläre Prozesse, und das schon seit sehr langer Zeit. Optogenetik Schon seit der frühen Erdgeschichte lebt das Archaebakterium Halobacterium salinarum in Salzseen und an vulkanischen Quellen. Bestimmte Bereiche seiner Zellmembran sehen violett aus, solange sie intakt sind, und heißen daher Purpurmembran. Werden sie im Labor mit organischen Lösungsmitteln wie einer Methanol-Chloroform-Mischung behandelt, ändert sich ihre Farbe zu gelb. Im Jahr 1969 gelang es dem Biochemiker Dieter Oesterhelt, darin Retinal nachzuweisen, also den Sehfarbstoff aus der Netzhaut des Auges. Zusammen mit dem Protein Opsin wurde das bakterielle Rhodopsin als Bacteriorhodopsin in einer Publikation vorgestellt. Allerdings erschien diese erst nach zwei Jahren, weil ein bakterielles Rhodopsin damals zunächst nicht plausibel wirkte. Wozu sollte die Zellmembran eines Einzellers einen Sehfarbstoff enthalten? Die Geschichte geht so weiter, dass das Max-Planck-Institut, in dem Oesterhelt arbeitete, umzog und er in dieser Zeit nur wenige Geräte zum Experimentieren hatte. Er hielt ein pH-Meter während des Farbumschlags in die Lösung und stellte fest, dass der pH-Wert bei Lichteinstrahlung sinkt und sich der gelöste Farbstoff von violett zu gelb ändert. Daraus folgerte er einen Transport von Protonen durch die Membran, angetrieben durch Lichtenergie. Genau wie bei der Photosynthese wurde diese Energie also umgewandelt, um chemische Prozesse zu ermöglichen. Durch weitere Forschung ist nach nunmehr rund 50 Jahren ein ganzer Baukasten von Pigmenten bekannt; dieser Mechanismus läuft auch in anderen Einzellern ab, etwa der Grünalge Chlamydomonas reinhardtii. Als pflanzlicher Einzeller hat diese einen kleinen roten Fleck, der als Lichtsensor fungiert. Das ermöglicht ihr, sich mit Zellfortsätzen so zu bewegen, dass der Lichteinfall für die Photosynthese günstig ist. Anders als in Augen mit Netzhaut wird durch das Licht hier keine Kaskade von Botenstoffen ausgelöst; vielmehr ist das Protein (Opsin), das das Pigment trägt, Teil der Zellmembran und kann durch Licht geschaltet werden: Ein Kanal für Ionen öffnet sich, und diese können durch die Mem­ bran wandern. Solche lichtschaltbaren Proteine wurden fortan mit Viren in Nervenzellen geschleust und konnten dort mit Licht an- und abgeschaltet werden. Das ermöglichte die nichtinvasive Untersuchung der Entwicklung eines Nervensystems, ebenso Verhaltensexperimente mit Mäusen. Das Leuchtmuster verrät, wo Zellen aktiv sind. Dieses Forschungsgebiet vereint

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also Genetik und Optik, zusammengezogen zur Optogenetik: Zelluläre Prozesse werden durch Licht an- und abschaltbar und lassen sich zudem aufzeichnen. Eine weitere Funktion der Opsine wird gerade an der Universität Göttingen erforscht. Diese Trägerproteine kommen auch in den Mechanorezeptoren des Körpers vor, also Sinneszellen, die auf mechanische Reize wie Druck reagieren. Bei Wirbeltieren lassen sich Opsine in diesen Nervenzellen weit zurückverfolgen, sodass sie vermutlich erst später kleinere Moleküle integrierten, die dann durch Licht geschaltete Prozesse veranlassen. Licht steuert also auch Prozesse im Organismus von Tieren, auch dem Menschen. Besonders wichtig ist für uns die Produktion von Vitamin D.

Vitamin D Zwar nimmt die Tageslänge auf der Nordhalbkugel im Februar zu, doch einigen erscheint der Monat noch sehr dunkel. Das kann verschiedene Gründe haben. In Wintern mit Schnee reflektiert dieser das Licht so gut, dass mit der Schneeschmelze die Tage plötzlich gefühlt dunkler sind. Oftmals trägt der mehr oder weniger bedeckte Himmel seinen Teil dazu bei. Vor allem aber sind unsere Vitamin-D-Speicher nach drei lichtarmen Monaten nahezu erschöpft. Eigentlich zählen nur diejenigen lebenswichtigen organischen Substanzen zu den Vitaminen, die der Körper nicht selbst herstellen kann. Sie (oder Vorläufer von ihnen) werden mit der Nahrung aufgenommen. Anfangs wurden Amine als solche lebenswichtigen Stoffe identifiziert; so entstand der Name Vitamine. Das Vitamin D hingegen wird aus Vorläufern in der Haut hergestellt, weshalb es sich streng genommen nicht um ein Vitamin handelt. Da der Mangel daran aber so häufig war und es ergänzend etwa über Lebertran verabreicht wurde, blieb es bei dieser Zuordnung. Bereitstellung im Körper Vitamin D besteht aus einem Kohlenwasserstoff-Grundgerüst und zählt somit nicht zu den Aminen. Im Körper gibt es einen Syntheseweg, der aus Vorstufen das aktive Vitamin herstellt. Diese Vorstufen können über die Nahrung aufgenommen oder aus einem körpereigenen Stoffwechselweg bereitgestellt werden. Die aktive Form entsteht entweder in der Haut oder in der Niere und heißt mit vollem Namen 1α, 25-Dihydroxyvitamin D3 oder Calcitriol. Es entsteht aus der Vorstufe Cholecalciferol (Vitamin D3) und dem aus der Nahrung aufgenommenen Ergocalciferol (Vitamin D2). Die Grundstruktur wird aus kurzen, verzweigten Ketten aus fünf Kohlenstoffatomen

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und einer Doppelbindung aufgebaut. Daher zählt Vitamin D zu den Isoprenoiden (Kap. 8), wobei ein Ringsystem charakteristisch ist, das aus einem Sechsring mit angebundenem Fünfring besteht. Dieses Muster wird Secosteroid genannt und leitet sich von Steroiden ab, sodass eine strukturelle Verwandtschaft mit Sexualhormonen oder auch Cortisol besteht. Im Körper ist ein Vorläufer das 7-Dehydrocholesterol, ein Nebenprodukt bei der Biosynthese von Cholesterin (Abb. 2.1). Dieses wird für Membranen benötigt. Licht (genauer gesagt: UV-B-Strahlung) löst den Umbau zum Vitamin D3 aus, was in den unteren Schichten der Epidermis vonstattengeht. Da eine Vitamin-D-Unterversorgung gar nicht so selten ist, sind Tagescremes mit UV-Schutz – neben zu wenig Aufenthalt im Tageslicht – in der Diskussion, ein Grund für den häufiger werdenden Mangel zu sein. Chemisch gesehen ist der Umbau einfach: Ein Ring wird geöffnet und ein Teil des Moleküls lagert sich um. Ist die Sonneneinstrahlung jedoch zu lang und intensiv, kommt es zwar zur Ringöffnung, aber die Umlagerung verläuft nicht sauber – unwirksame Moleküle entstehen. Nun, dadurch kann zumindest bei ausgedehnten Sonnenbädern kein Vitamin-D-Überschuss entstehen. Das Vitamin D wird von einem Transportmolekül gebunden und so über Blut und Lymphe zur Leber gebracht. Von hier aus wird es mit dem Blut im Körper verteilt und zum Teil eingelagert. Dafür hängen Enzyme eine Hydroxy-Gruppe (OH) an: Gespeichert wird das so genannte 25-Hydroxyvitamin. Die 25 verrät, welches Kohlenstoffatom die hinzugefügte Hydroxy-Gruppe trägt. Wirkweise des Vitamins Vitamin D spielt im Stoffwechsel eine Rolle im Zusammenhang mit den im Blut gelösten Ionen des Calciums (Ca2+) und der Phosphat-Gruppe (PO43−). Sinkt die Calciumkonzentration im Blut, wird in den Nieren

Abb. 2.1  7-Dehydrocholesterol wird zu Vitamin D (Calciferol)

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dem 25-Hydroxyvitamin durch ein Enzym eine weitere Hydroxy-Gruppe angehängt. Dieses Dihydroxyvitamin trägt nun zwei Hydroxy-Gruppen und bindet die Calcium-Ionen; so sorgt es dafür, dass diese im Körper verbleiben und nicht über den Urin ausgeschieden werden. Es wirkt auch im Darm und löst bei Bedarf eine Ausschüttung von Calcium-Ionen aus den Knochen aus. Wie wichtig Calcium-Ionen für den Körper sind, wird schnell klar, wenn der Aufbau des Knochenskeletts aus Calciumverbindungen in den Blick genommen wird. Auch die Zähne werden durch eine Schicht aus einem calciumhaltigen Mineral geschützt, das sogenannte Hydroxylapatit, das den Zahnschmelz im Wesentlichen aufbaut. Für die Signalwege zwischen den Zellen sind Calcium-Ionen ein wichtiger Botenstoff. Kurzum: Die Regulation der Calciumkonzentration im Blut ist in vielerlei Hinsicht enorm wichtig. Zwei Regulationssysteme wirken hier nach dem Feedbackprinzip zusammen und erzeugen ein Gleichgewicht der Calciumkonzentration im Blut (Abb. 2.2). Dabei hebt Vitamin D zusammen mit dem Nebenschilddrüsenhormon Parathyrin (Parathormon, kurz PTH) den Calciumspiegel; sein Gegenspieler Calcitonin senkt ihn. Beim Calcitonin handelt es sich um ein Hormon aus der Schilddrüse. Bei hohen Calciumkonzentrationen schüttet die Schilddrüse Calcitonin aus, das für die Speicherung von Calcium-Ionen in den Knochen sorgt. Überschüssiges wird durch die Nieren ausgeschieden. Bei einem niedrigen Calciumspiegel reagieren vier direkt an der Schilddrüse angelagerte Drüsen, die Nebenschilddrüsen. Sie schütten PTH ins Blut aus. In den Geweben wird der Botenstoff PTH erkannt und Vitamin D aktiviert. Zugleich wird das Knochengewebe als Calciumdepot angezapft. Nun entfaltet das Vitamin D seine hormonelle Wirkung: Es steigert die Aufnahme von Calcium-Ionen im Darm und in den Nieren, sodass die Calciumkonzentration im Blut wieder ansteigt. Der lebenswichtige Informationsaustausch zwischen den Zellen und insbesondere Nervenzellen hat also Vorrang vor dem Körperaufbau durch die Knochenstruktur. Lebertran Ein Mangel an Vitamin D führt somit zuerst in den Knochen zu Schäden. In den Jahren des Zweiten Weltkriegs und nach dessen Ende war dies gerade für Kinder eine gefürchtete Folge der schlechten Nahrungsversorgung. Anhaltender Mangel an Vitamin D führt zu einer Deformation der wachsenden Knochen, Rachitis genannt. Doch schon 100 Jahre zuvor war Rachitis eine Volkskrankheit: Die Industrialisierung führte zum Tageslichtentzug, und das betraf auch Kinder, die – nicht nur im Bergbau – schon früh in die

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Abb. 2.2  Der Calciumspiegel im Blut und der Einfluss von Vitamin D. Oben: Calciumspiegel niedrig, unten: Calciumspiegel hoch

Arbeitswelt einbezogen wurden. Als Gegenmaßnahme half die Einnahme von Lebertran, dessen Wirkung in den 1820er-Jahren zur massenhaften Prophylaxe von Mangelzuständen führte. Gewonnen wird diese ölige Flüssigkeit aus der Leber von Fischen. Anfänglich wurde diese dafür einfach stehen gelassen, bis sich die Zellen auflösten und das Öl freigaben; gegebenenfalls wurde zusätzlich ausgepresst oder leicht erhitzt.

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Im 19. Jahrhundert entwickelte der Norweger Peter Möller dann ein Gewinnungsverfahren, das eine klare, weniger nach altem Fisch schmeckende Flüssigkeit hervorbringt. Die frischen Lebern werden in Wasser erhitzt, und der Wasserdampf reißt das Öl mit sich. Beim Abkühlen trennen sich Öl und Wasser. Die Moleküle des Wassers ziehen sich gegenseitig an, weil sie elektrisch polar gebaut sind (Glossar: Wasserstoffbrücken). Lebertran besteht vor allem aus Kohlenwasserstoffen. Diese lagern sich zwar gern aneinander, sind aber elektrisch sehr neutral. Die Wechselwirkungen unter den Fettmolekülen werden Van-der-Waals-Wechselwirkungen genannt und sind deutlich schwächer als im Wasser. Daher lagern sich die Moleküle nicht so eng zusammen, und ihre Dichte ist geringer. Zwei sogenannte Phasen bilden sich; der Lebertran schwimmt (wie Fettaugen auf der Brühe) oben und lässt sich leicht abtrennen. Noch immer ergänzt Lebertran den Speiseplan skandinavischer Kinder, um Rachitis vorzubeugen. Vitamin-D-Mangel ist im Übrigen nicht nur für Heranwachsende kritisch. Wer genug Sonne auf die Haut lässt, braucht kein Vitamin D zuzuführen. Da Eigelb viel davon enthält, hilft auch schon ein Frühstücksei. Neben den Klassikern Hering, Makrele und Lachs enthalten Milchprodukte und Weizenkeimöl viel Vitamin D. Eine dauerhafte massive Überversorgung kann allerdings die Nieren oder das Gehirn schädigen. Sonnenlicht gegen Schwindsucht Zu den weiteren Wirkungen zählt, dass Immunzellen Vitamin-D-Vorstufen sowie Vitamin D selbst aufnehmen und es auf diese Weise Entzündungen hemmt. Unter den Genen, auf die Vitamin D einwirkt, sind solche für antimikrobielle Peptide, quasi eine Art körpereigene Antibiotika. Darauf beruht die Wirkung einer Sonnenkur gegen die durch das Bakterium Mycobacterium tuberculosis hervorgerufene Tuberkulose. Solche Kuren waren lange Zeit Mittel der Wahl bei Tuberkulose („Schwindsucht“), etwa nachzulesen in Thomas Manns Roman Der Zauberberg. Doch während viele Menschen sonnenhungrig in den Süden fahren, um im Urlaub Sonne zu genießen, droht Schmetterlingen und Vögeln die Sonne dort schon bald zum Verhängnis zu werden.

Frühstart für Frühlingsboten: Schmetterlinge Damit sie im Sommer nicht in den verdorrten Landschaften Nordafrikas verhungern, müssen Schmetterlinge wie Distelfalter, Admiral und Postillon schon zeitig im Winter aufbrechen. Die Winde stehen ungünstig für

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den Rückweg über Inseln wie Korsika, Kreta, Sardinien oder Sizilien. Die Route folgt deswegen der Westküste Portugals und Frankreichs, dann über die Alpen und schließlich nach Nordeuropa. Das ist für Vogelschwärme zu schaffen, aber ein Schmetterling? Viel ist denn auch noch nicht über diese Wanderflüge bekannt, da Schmetterlinge schlichtweg nicht mit Peilsendern ausgestattet werden können wie die Vögel. Selten kommt es zu so großen Schwärmen wie im Jahr 2009 beim Distelfalter (Abb. 2.3). Geschätzte elf Millionen Falter flogen nach Mitteleuropa ein – so viele, dass sie auf Radaraufnahmen beim Flug über den Ärmelkanal nach England zu sehen waren. Alle paar Jahrzehnte kommt es zu solchen Phänomenen. Normalerweise fliegen die Falter unabhängig voneinander. In jenem Jahr aber regnete es viel in Nordafrika, wodurch die Raupen viel Nahrung fanden. Dadurch entwickelten sich mehr Schmetterlinge als sonst, und sie sammelten sich in solchen Massen, dass ihre Route mit Hilfe von vielen Hobbybeobachtern verfolgt werden konnte. Interessierte helfen der Wissenschaft auch bei der Zählung von Vögeln im Garten, oder sie schicken Mücken ein, um die Erstellung eines Mückenatlas zu unterstützen.

Abb. 2.3  Distelfalter und seine Raupe: Während der langen Zugroute wechseln die Generationen wie bei einem Staffellauf

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Im „Staffellauf“ Die Route, auf der die Falter fliegen, ist so lang, dass die startenden Individuen nicht diejenigen sind, die am Ende ankommen. Beim Distelfalter werden vier bis sechs Generationen angenommen, die sich im Zuge dieser Migration entwickeln. Die Zwischenstopps beinhalten also Eiablage, Schlüpfen der Raupen, Verpuppen selbiger und schließlich Schlupf der nächsten Falter, die die Reise fortsetzen – wie ein Staffellauf. Die Insekten orientieren sich an Küstenlinien und Sonnenstand, während sie insgesamt eine Distanz von rund 15.000 km bewältigen. Dabei wissen sie gar nicht, aus welcher Richtung das Muttertier einflog, das die Eier legte. An der Universität York in England untersuchten Forscher 2009 die Zugunruhe des Monarchfalters, eines amerikanischen Wanderfalters. Im Labor schalteten sie äußere Lichteinflüsse aus und beobachteten dann, ob die Falter eine Flugrichtung einschlagen wollten. Dies taten sie nur dann, wenn sie sich am Sonnenlicht orientieren konnten. In ihren Fühlern sind Sensoren, die sowohl Licht als auch Magnetfelder wahrnehmen können, der sogenannte Inklinationskompass. Dieser erfasst den Neigungswinkel des Erdmagnetfeldes. Dier Magnetfeldlinien neigen sich polwärts zur Erdoberfläche und steigen in Richtung Äquator auf. Durch den Klimawandel kommen die Wanderfalter immer früher zu uns und können so auch weiter in den Norden vordringen. Einzelne Distelfalter wurden sogar am Polarkreis in Island gesichtet! Beim Admiral versuchen einzelne Populationen, in unseren Breitengraden zu überwintern. Dabei können auch die Stadien Ei, Raupe oder Puppe überwintern, um dann wie der (als erwachsenes Tier überwinternde) Zitronenfalter zeitig im Frühjahr neue Farbe in die Gartenwelt zu bringen. Tagpfauenauge und Kleiner Fuchs überwintern ebenfalls als ausgewachsene Falter. Solche Arten lagern ein „Frostschutzmittel“ in die Zellen ein und fahren ihren Stoffwechsel herunter. Dazu mehr im Oktober (Kap. 10).

Vögel mit Kompass und Uhr im Auge Wenn Tiere in Schwärmen ziehen, müssen Kommunikation sowie Orientierungssinn und Navigation zusammenwirken. Die oben vorgestellten Schmetterlingswanderungen sind vielen gar nicht so bewusst. Als Zeichen des Frühjahrs aber gilt es, wenn die Zugvogelschwärme aus dem Süden zurückkehren. Volksweisen besingen Amsel, Drossel, Fink und Star. Aufgrund des Klimawandels überwintern mittlerweile immer mehr Vogelarten auch in nördlichen Breitengraden, aber zumindest die Kraniche, Störche

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und Gänse ziehen noch zuverlässig. Im Lokalteil der Zeitungen wird vermeldet, ob ein Storchenpaar wieder den Horst des Vorjahres bezogen hat, da Störche standorttreu sind. Zumindest in ländlichen Regionen ist das beginnende Frühjahr also mit diesen Vorboten verknüpft. In einem Biologiebuch lautet zusammenfassend eine Überschrift „Je ferner das Ziel, desto mehr muss mit Gehirn gearbeitet werden“ (Müller, Frings 2009, S. 592). So arbeiten soziale Insekten wie die Ameisen oder Bienen mit Duftspuren, was beeindruckend, aber doch lokal begrenzt ist. Bienen ziehen schon eine sogenannte Vektornavigation hinzu, die auch Informationen zu Sonnenstand und Flugrichtung einbezieht. Für einen Zug über Tausende von Kilometern jedoch reicht dies noch nicht aus. Hier kommt nun die Orientierung anhand von Landmarken hinzu. Diese kann auch indirekt erfolgen – so setzt sich die Luft über Meeren anders zusammen als über Landmassen. Der Gehalt an Salzen oder Blütenstaub unterscheidet sich deutlich. Orientierung am Erdmagnetfeld Für die Bestimmung der Himmelsrichtung kommen verschiedene Systeme in Frage. Das Ziel als solches ist außerhalb der unmittelbaren Reichweite der Sinnesorgane. Stattdessen wird das Erdmagnetfeld zu Rate gezogen oder wahlweise der Sternenhimmel, wie einst in der frühen Seefahrt. Es muss ein Kurs der zu absolvierenden Route angeboren sein oder erlernt werden, und die Tiere müssen den Endpunkt ihrer Wanderung erkennen. Forschungsarbeiten der Verhaltensbiologie haben hier viele Erkenntnisse zu bieten. Welche Rolle das Erdmagnetfeld spielt, ist nicht ganz leicht zu erforschen, denn es lässt sich ja nicht einfach ausschalten. Gut zu untersuchen ist die sogenannte Zugunruhe. So werden beispielsweise zur Zeit des beginnenden Vogelzugs Vögel in einem Käfig eingesperrt, der ohne Tageslicht aufgestellt ist und somit keine Informationen zum Sonnenstand liefert. Dann wird dokumentiert, in welche Richtung die Vögel flattern. Allein beim Erdmagnetfeld gibt es drei Aspekte, die zu beachten sind. Da wäre zunächst die Nord-Süd-Ausrichtung. Dieser Vektor entspricht nicht den geografischen Polen, da die durch die Erdrotation bedingte Strömung des flüssigen Eisens im Erdinneren ein leicht abweichendes Magnetfeld erzeugt. Außerdem variiert die lokale Stärke des Magnetfeldes, und schließlich zeigen seine Feldlinien eine Inklination (Neigung). Letztere beschreibt, dass das magnetische Feld an den Polen zentriert auf die Erdoberfläche trifft und von Pol zu Pol in Bogenform die Erde umspannt. Der Neigungswinkel dieser Feldlinien gegenüber der Horizontalen ist die Inklination.

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Anhand der lokalen Stärke und Inklination ist die momentane Position bestimmbar (Abb. 2.4). Ein Wechsel gibt eine Ausrichtung an. Forschende fanden bei manchen Vögeln Sinnesorgane mit integrierten magnetisierbaren Materialien. Aber auch Bakterien und Algen, Langusten, Lachse und Meeresschildkröten oder Delphine und Wale greifen auf diese Navigation zurück. Kleine Kristalle eines Eisenoxids mit der Formel Fe3O4, als Mineral unter dem Namen Magnetit bekannt, reagieren auf die Ausrichtung im Magnetfeld. Sie dehnen oder stauchen sich abhängig vom Erdmagnetfeld, was die umgebenden Nervenfasern in den Sinnesorganen registrieren. Nachgewiesen sind solche Minikompasse zum Beispiel im Oberschnabel von Brieftauben nahe dem Siebbein. Derweil wird noch weiter geforscht, ob nicht auch ein innerer Kompass etwa im Innenohr oder Gehirn bei Vögeln zu finden ist. Als zweiter Kompass werden photosensible Moleküle angenommen; diese würden durch Photonen, also Licht, angeregt werden. Logischerweise wird in den Augen danach gesucht. Das Erdmagnetfeld „sehen“ Im Auge der Gartengrasmücke (Sylvia borin) wurden bereits photosensible Moleküle gefunden und zwar zusätzlich zu den übrigen Pigmenten, die für das Sehen benötigt werden. Diese werden Cryptochrome genannt oder auch als Photopigment bezeichnet. Die Gartengrasmücke zieht nachts, somit ist die Aktivität des Sehsystems im Großhirn ein starker Hinweis darauf, dass auch das Erdmagnetfeld visuell verarbeitet wird. Forscher belegten, dass auf molekularer Ebene ein Lichtquant, also Photon, ein ungepaartes Elektron anregt. Bindungen werden immer von zwei

Abb. 2.4  Inklination des Erdmagnetfeldes – durch die Erdrotation stimmen geographischer und magnetischer Erdpol nicht überein

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Elektronen gebildet. Einzelne Elektronen sind energetisch oft leicht anregbar, weil die zusätzliche Energie ihr Potenzial für eine Bindung erhöht – sei es, weil sie sich weiter vom elektrisch anziehenden Kern wegbewegen können, oder weil sie genug Energie haben, um ein bindendes Elektronenpaar zu stören und ein Elektron daraus zu verdrängen. Atome oder Moleküle, die solche reaktiven einzelnen Elektronen tragen, werden als Radikale bezeichnet. Nun bewegt sich jedes Elektron, solange die Temperatur nicht gerade nahe dem absoluten Nullpunkt ist. Unter anderem rotieren Elektronen um die eigene Achse: dieser Eigendrehimpuls wird Spin genannt. Zeigt der Spin zweier Elektronen in die entgegengesetzte Richtung, können sie miteinander wechselwirken und eine Bindung eingehen. Sind sie jedoch gleichgerichtet, geht dies nicht. Im Vogelauge sind nun zwei Radikale vorhanden, die nicht wechselwirken. Erst durch ein Lichtquant im blauen Bereich des Lichts wird ein Elektron energiereicher und wechselt seine Position. Hierdurch wird die Kopplung möglich, die Elektronen sind für bis zu fünf Millisekunden miteinander verschränkt. Zusammen mit dem Cryptochrom wurde der gelbe Farbstoff Flavin gefunden. Er hat eine elektronenreiche Molekülstruktur, unter anderem einen Ring, was auch energiereiche Zustände stabilisieren kann. Er ist der Cofaktor, der das angeregte Elektron aufnimmt und wieder abgibt. Dabei ist das Cryptochrom selbst ein Protein, das eine Bindungstasche eigens für Flavin bildet, somit wechselt das Elektron schon fast innerhalb eines Moleküls seine Position. Zwar sind Proteine aus langen Ketten von Aminosäuren aufgebaut, basieren also im Wesentlichen auf einem Kohlenstoffgerüst mit verschiedenen Gruppen und Elementsorten, doch ihr räumlicher Aufbau ist sehr komplex und durch Wechselwirkungen meist sehr genau festgelegt. Beim Cryptochrom ist es eine Seitenkette, die mit dem Flavin die beiden Radikale räumlich zueinander bringt. Die Bildung und Rekombination der Radikal-Paare erfolgt innerhalb von Millisekunden, doch mehr braucht es nicht für die Wahrnehmung durch den Rezeptor. Als Modell wird angenommen, dass das Auge eine Halbkugel bildet, deren Innenseite mit Cryptochrom-Proteinen bestückt ist. Damit könnte auf der Netzhaut dort eine starke Reizung detektiert werden, wo die Magnetfeldlinien in direkter Ausrichtung stehen. Treffen sie geneigt ein, ist die Erregung schwächer und damit die ausgelöste Kopplung der Radikale geringer. Dieses System soll in jeweils nur einem Auge vorkommen. Ganglienzellen, also Nervenzellen, tragen die Photopigmente. Die Grasmücke ist als kleiner Vogel ein beliebtes Forschungsobjekt. Den Jahresablauf prägen verschiedene physiologische Prozesse im wiederkehrenden Turnus – geleitet von der inneren Uhr. Beispielsweise steigt das

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Gewicht übers Jahr bis zum Zeitpunkt der Mauser an, zeitgleich beginnt die Zugunruhe. So starten die Vögel mit gut gepflegtem Gefieder. Bei jedem Vogelzug werden navigatorische Informationen ergänzt; das scheint für die Orientierung am Sternenhimmel ebenso zu gelten wie für spiegelnde Wasserflächen und Bergsilhouetten.

Photopigmente: Licht löst Sehen aus Durch Licht werden also Umlagerungen in Proteinen angeregt, die zu einer räumlichen Änderung führen. Solche lichtsensiblen Proteine sind am Sehen beteiligt, an der Fernorientierung anhand des Erdmagnetfeldes und auch an der inneren Uhr. Ganz neu ist zudem eine Forschungsthese, nach der sie auch für die Bewegung wichtig sind. Im Auge gibt es verschiedene Typen von Sehzellen. Das Photopigment Rhodopsin, auch Sehpurpur genannt, besteht aus dem Protein Opsin, in das der Sehfarbstoff Retinal eingebettet ist. Dies gilt für die Stäbchen, die für das Sehen von Grauwerten zuständig sind, und für die Zäpfchen des Farbsehens. Diese Sehzellen sind von einer Membran umhüllt, an deren Ende stapelweise sogenannte Disks eingelagert sind. Die Stapelung unterscheidet sich, wodurch zwei grundsätzliche Formen entstehen: die schmaleren Stäbchen und die kürzeren, breiteren Zäpfchen. Ein Stäbchen enthält rund 1000 Scheiben, und jede dieser Disks ist wiederum von einer Membran eingeschlossen, in die rund 50.000 Rhodopsine eingelagert sind. Trifft Licht auf diese Zellen, nehmen die Elektronen die Energie in Doppelbindungen auf. Das Retinal-Molekül lagert sich um, passt nicht mehr in die bisherige Position und zwingt so das umgebende Protein zu einer räumlichen Änderung. Obwohl bereits ein einzelnes Photon, ein Lichtteilchen, eine Umlagerung auslöst, gibt es eine Schwelle, ab der Licht wahrgenommen wird. Die Nervenzellen sind untereinander in Kontakt, und das weiterzuleitende Signal wird summativ ausgelöst: Erst eine gewisse Anzahl von Umlagerungen übersteigt die Schwelle und löst das nachfolgende Signal aus. Wie eine Sprungfeder? Die Umlagerung eines kleinen Moleküls bewirkt also eine Änderung an dem viel größeren umgebenden Protein Opsin. Das Prinzip ähnelt einem Kinderspielzeug, bei dem eine Figur auf einer gespannten Sprungfeder in einer Box steckt; durch Drehen einer Kurbel springt der Deckel auf und der

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„Kastenteufel“ (oder eine andere Figur) schnellt heraus. Durch Zusammendrücken der Feder kehrt er zurück ins Versteck. In das Protein ist, wie schon erwähnt, ein Sehfarbstoff eingebettet, das elektronenreiche Molekül 11-cis-Retinal, ein Abkömmling des Vitamin A. Seine Struktur besteht aus einem Sechserring und einer Seitenkette, in der sich fünf Doppelbindungen jeweils mit Einfachbindungen abwechseln. Das Ende des Moleküls ist fest an das Protein Opsin gebunden. Die Vorsilbe „cis“ beschreibt, dass die Seitenkette an einem Kohlenstoffatom, nämlich dem elften (11-cis-Retinal), eine gespannte Struktur einnimmt, will sagen: gebogen ist. So passt 11-cis-Retinal gut in die Bindungstasche des Proteins. Bereits ein Photon (Lichtquant) bringt genug Energie mit, um dem Molekül eine Umlagerung in eine gestreckte, die all-trans-Form zu erlauben. Hierzu müssen die Elektronen in der Bindung ihre Energieniveaus ändern, was sich in Streck- und Schwingbewegungen äußert. Dadurch überwinden sie die Barriere, die sie in der abknickenden Struktur hielt, und das Molekül nimmt die energetisch günstigere gestreckte Form ein. Die vom Lichtquant eingebrachte Energie wird in die Streck- und Schwingbewegungen gewandelt, und innerhalb kürzester Zeit nimmt das Molekül wieder einen nicht angeregten Zustand ein. Das all-trans-Retinal passt jedoch nicht mehr in die Bindungstasche. Nun ragt es nicht etwa heraus, sondern es löst sich die haltende Bindung und der Sehfarbstoff zerfällt in Opsin und all-trans-Retinal. Die Sehzelle hält derweil schon Reserven wie Enzyme bereit, die das Retinal wieder kleiner falten und die erneute Bindung zwischen 11-cis-Retinal und Opsin ermöglichen. Vom Strecken zum (farbigen) Signal So faszinierend die Vorgänge im Retinal sind, letztlich bestimmt doch die Struktur des Proteins Opsin über die Signalauslösung. Welche Farbe detektiert wird, entscheidet sich nicht erst jetzt, sondern bereits vor der Anregung des Retinals. Während bei Festkörpern die klassischen Gesetze der Physik gelten, ist das bei der Anregung einzelner Elektronen ganz anders. Ein eigener Fachbereich der physikalischen Chemie befasst sich mit den Quantenzuständen, die für Vorhersagen von Reaktionen solcher Systeme ausschlaggebend sind. Der Spin wurde oben bereits angesprochen. Um zu verstehen, wie die Umgebung die sogenannten Potenzialflächen des Retinals beeinflussen, müssten wir weit ausholen. Grob vereinfachend hilft ein Experiment mit Eisenspänen an einem Magneten, in Mitmachmuseen ist diese Anordnung oft zu finden: Feine Eisenspäne auf Papier können frei bewegt werden. Ist jedoch ein Magnet vorhanden, ordnen sie sich in Mustern an. Wer die

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Späne langsam darauf rieseln lässt, kann bizarre Strukturen wie feine Nadeln damit formen. Nun wirken im Auge zwar keine Magnetkräfte, doch auch hier beeinflussen Kräfte von außen, wie leicht die Elektronen im Retinal ihre Ausrichtung ändern. Welches sind diese äußeren Kräfte? Da wäre zunächst das Opsin. Das Protein besteht aus einer gefalteten Kette von Aminosäuren, die ihrerseits ungebundene Elektronenpaare an Atomen tragen. Je nachdem, wie viele hiervon sich in der Nähe der Seitenkette befinden (und in welcher Ausrichtung), kann es zu anregenden Wechselwirkungen kommen. Ein weiterer Faktor ist die Wellenlänge des Lichtes. Die Wellenlänge beschreibt, mit welcher Frequenz die Lichtwelle schwingt (Abb. 2.4) Je kürzer die Wellenlänge ist, desto stärker schwingt die Welle und umso energiereicher ist ein eintreffendes Lichtquant. Das Spektrum des für uns sichtbaren Lichts setzt beim langwelligen UV-Licht mit Blau ein und reicht bis zu Rot, das dann in die Infrarotstrahlung (IR) übergeht. Die Quantenphysik beschreibt, wie Strahlungsübergänge immer von genau festgelegten Energiemengen, den Lichtquanten, begleitet werden. Doch nicht jedes Elektron, auf das ein Lichtquant trifft, nimmt die Strahlungsenergie auf und verlässt sein bisheriges Niveau – das wäre fatal, würden doch wahllos Bindungen aufgebrochen werden. Die anregende Energie muss zum Energieniveau der Elektronen etwa der 11-cis-Doppelbindung im Retinal passen. Das in der Bindungstasche befindliche Molekül wird von einer Vielzahl von Elektronen umgeben, die an den Bindungen des Proteins beteiligt oder in der Außenhülle von gebundenen Atomen vorhanden sind. Wechselwirkungen mit dieser elektronischen Umgebung steuern, welche spezifische Wellenlänge die Elektronen des Retinals zu einer Umlagerung aktivieren können. So entsteht auch das Farbsehen im roten, blauen und grünen Lichtbereich. Licht löst also im Auge komplizierte Reaktionen aus, die vom Gehirn zu einem Sinneseindruck verarbeitet werden. Doch nicht nur dies – es steuert, wie bereits erwähnt, auch noch andere Prozesse, die wir als „innere Uhr“ bezeichnen.

Chronobiologie Die Jahreszeiten unterscheiden sich sehr in der Tageslänge. Biologen kennen verschiedene Rhythmen, etwa jahreszeitliche oder auch den Tagesrhythmus. Sowohl Pflanzen als auch Tiere haben innere Uhren. Gärtnerinnen veranschaulichen dies manchmal, indem sie Pflanzen als „Uhr“ arrangieren.

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Der jeweilige Zeitpunkt des Aufblühens sowie bei einigen Arten die Ausrichtung der Blütenköpfe hängen vom Sonnenstand ab. Auch bei Singvögeln gibt es eine feste Abfolge; die eine Vogelart singt schon in der frühen Dämmerung, eine andere erst nach Sonnenaufgang. Der Tagesrhythmus wird auch zirkadianer Rhythmus genannt (zirkadian bedeutet frei übersetzt „ungefähr ein Tag“). Die Taufliege Drosophila melanogaster ist ein beliebtes Standardmodell, und so erforschten unabhängig voneinander mehrere Teams amerikanischer Chronobiologen in den 1980er-Jahren ihren Tagesrhythmus. Das Team von Jeffrey C. Hall und Michael Rosbash fand ein Gen, das maßgeblich für die Länge des biologischen Tages verantwortlich war, und nannte es „period“. Unabhängig davon gelang dies auch Michael W. Young. Den Nobelpreis erhielten im Jahr 2017 alle drei gemeinsam. Der Göttinger Chemiker Gregor Eichele forscht aktuell mit Mäusen weiter. Er fragt sich, wie der innere Tag, der etwas länger als 24 h dauert, mit der Außenwelt synchronisiert wird. Hier kommen wiederum Rezeptoren ins Spiel, die mit Licht geschaltet werden. Ein Akteur in diesem Zusammenhang wurde bereits näher beschrieben: das Cryptochrom. Doch zunächst dorthin, wo das Licht eintrifft. Beim Menschen wird die innere Uhr durch Sinneszellen im Auge synchronisiert, Frösche haben die entsprechenden Proteine auch in der Haut. Im Gegensatz zu Sehzellen registrieren diese Nervenzellen nur Helligkeitsunterschiede, jedoch wiederum mit einem Opsin, dem Melanopsin. Während die Sehzellen miteinander verschaltet sind und die Weiterleitung über verschiedene Zellschichten erfolgt, reichen die Fortsätze der sogenannten Ganglienzellen, die die Helligkeit wahrnehmen, direkt bis ins Gehirn. Dieser direkte Draht endet in einem kleinen Bereich im Hypothalamus. Hier tickt die innere Uhr, genauer gesagt: im Nucleus suprachiasmaticus. Dieser bei Mäusen nicht einmal einen Millimeter große Bereich steuert tagesrhythmische Abläufe einerseits über Hormonausschüttung und andererseits über neuronale Signale. Verbunden damit sind andere, untergeordnete Uhren wie das Nebennierenmark, das Hormone wie Adrenalin und Noradrenalin produziert. Kleine Moleküle als „Uhrenpendel“ Äußere Zeitgeber wie das Licht synchronisieren das Ablesen der Gene, die ihrerseits über positive und negative Rückkopplungsschleifen gesteuert werden. Die „Uhrengene“ der Taufliege waren das Forschungsobjekt der ersten Stunde. So wird bei ihr das Gen des Proteins Period, das per-Gen, vielfach

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abgelesen und die Abschriften werden als mRNA aus dem Zellkern transportiert, wo sie im Zellplasma an den Ribosomen in das Per-Protein übersetzt werden. Hinzu kommt Timeless, also „Zeitlos“. Es wird ebenfalls im Zellkern abgelesen und im Zellplasma ins Tim-Protein übersetzt. Es lagert sich mit dem Per-Protein zusammen, sie bilden ein sogenanntes Dimer (Abb. 2.5). Im Laufe der Nacht sammeln sich viele Dimere an und wandern schließlich zurück in den Zellkern. Wie bei einen Gangschaltung ist an dem

Abb. 2.5  Die Uhrengene werden im Zellkern abgelesen. Im Zellplasma entstehen an den Ribosomen die Proteine Period (Per) und Timeless (Tim). Zusammengelagert unterdrücken sie die weitere Ablesung ihrer Bauanleitung im Zellkern

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abzulesenden Gen ein Proteinpaar angeheftet. Indem sich das Per-Protein anlagert, kommt die weitere Ablesung des Erbguts in den Leerlauf und stoppt. Durch Licht werden wiederum andere Proteine, die Cryptochrome, aktiviert, welche das Tim-Protein ansteuern und zerlegen. Langsamer verläuft der Abbau des Per-Proteins. Hier entscheidet sich, wessen innerer Rhythmus vom Tagesrhythmus sehr abweicht. Je länger der Abbau der blockierenden Proteine dauert, desto später wird wieder der Vorwärtsgang eingelegt und desto weniger neue Kopiervorlagen gelangen im Laufe des Tages ins Zellplasma. Schlaf-Wach-Rhythmus Am Schlaf-Wach-Zyklus ist das Hormon Melatonin beteiligt. Es sammelt sich im Laufe der Nacht an und wird mit der Dämmerung abgebaut, das Erwachen beginnt. Wer direkt nach dem Aufstehen Kaffee trinkt, erreicht damit übrigens nicht immer eine wachmachende Wirkung, denn die Konzentration von Cortisol ist direkt nach dem Aufwachen am höchsten, und dieses Hormon schwächt die Wirkung von Coffein. Wer dagegen antrinkt, erzielt eher eine Abstumpfung gegen die Coffein-Wirkung, eine sogenannte Toleranz, als einen aufputschenden Effekt. Bei Cortisol handelt sich um ein Hormon, das unter anderem das Immunsystem bremst und so Entzündungen abklingen lässt. Die Titulierung Stresshormon führt ein wenig in die Irre – es wird in Stresssituationen ausgeschüttet, um wieder die Kontrolle zu erlangen, wieder zur Ruhe zurückzukehren. Daher auch die Gabe des eng verwandten Cortisons: Chronisch gewordene Entzündungen klingen mitunter einfach nicht mehr ab. Ebenso wie bei einer überschießenden Immunreaktion (wie im Falle von Allergien) stehen die Signale noch auf Ausschüttung von Entzündungsstoffen statt auf deren Drosselung und Erholung des Körpers. Das Hormon hemmt die weitere Produktion der entzündungsfördernden Stoffe, und die Heilung kann beginnen. Gebildet wird Cortisol in der Nebennierenrinde. Das Gehirn steuert zirkadian die Ausschüttung des Botenstoffs ACTH. Bei Stress wird dieser zusätzlich ausgeschüttet und initiiert seinerseits die Bildung von Cortisol. Übrigens auch bei Kälte, was auf die zweite wichtige Aufgabe des Cortisols hinweist: die Bereitstellung von Glucose unabhängig von aufgenommenen Kohlenhydraten in die Wege zu leiten. So können Fette in Zucker umgebaut werden und auf diese Weise die Energie für das „Zittern vor Kälte“ liefern, bei dem Muskeln den Körper warm arbeiten. Wer also im Februar morgens auf den Bus wartet und vor Kälte mit den Zähnen klappert, kann dies

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dank Cortisol. Generell steht so auch Energie bereit, um ohne sofortige Nahrungsaufnahme in den Tag zu starten. Wer bekommt auch schon täglich das Frühstück ans Bett? Insgesamt ist Cortisol noch immer in der Erforschung, weil es so vielfältig wirkt. Synchronisiert mit dem Tageslicht gibt es täglich drei Phasen höherer Ausschüttung. Direkt nach dem Aufstehen steigt die Ausschüttung zusätzlich kurzfristig an, und erst nach einer guten Stunde kann der Kaffee seine Wirkung entfalten. Im Gegenzug sind die Phasen niedriger Cortisolkonzentration in der Nacht bei einigen Menschen die schlimmsten Phasen für Kälteempfinden und Asthmaanfälle. Weitere innere Uhren In den Zellen der Leber, Nieren und des Herzens arbeiten weitere innere Uhren. Sie alle haben Mitochondrien, kleine Organellen, die der Zelle Energie bereitstellen – wie in jeder anderen Körperzelle auch. In den meisten Körperzellen bilden die Mitochondrien ein Netzwerk, sie können sogar fusionieren und sich teilen. In Versuchen mit Zellen und auch mit Mäusen haben Schweizer Forschende das mitochondriale Netzwerk genauer untersucht und dabei Zusammenhänge mit der inneren Uhr, dem zirkadianen Rhythmus, festgestellt. Ihr Ergebnis war, dass ein Protein, das die Teilung der Mitochondrien ermöglicht, mit der biologischen Uhr verknüpft ist. Dadurch verfügen die Zellen je nach Tageszeit über unterschiedlich viel Energie. Die Gewebe werden durch die zentrale Kontrolle des Gehirns synchronisiert. Ihrerseits tragen sie mit verschiedenen Stoffwechselvorgängen zum Tagesablauf bei. Sie kontrollieren die Glucose-Produktion, die Fetteinlagerung in Zellen und schütten Hormone aus. So entsteht ein gut abgestimmtes Netzwerk, das zurückmeldet, wenn die innere Uhr von den äußeren Bedingungen abweicht. Von dieser Kontrolle sind neben der Verdauung der Blutdruck, die Körpertemperatur und wie oben schon erwähnt der Schlaf-Wach-Zyklus betroffen. Herzleiden im Winter Die Chronobiologie des Herzens wird noch intensiv erforscht. So ist zirkadian beispielsweise der Anstieg des Blutdrucks mit dem Aufstehen zu beobachten. In Notfallambulanzen macht sich dies durch die Einlieferung von Herzinfarktpatienten bemerkbar. Ein internationales Forscherteam verfolgte das Auftreten des sogenannten massiven Herzinfarkts, bei dem eine Arterie zum Herzmuskel komplett verschlossen ist. In der Folge wird ein großer Teil des Herzens nicht mehr mit Blut versorgt, und das Gewebe

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stirbt schnell ab. Dieser Herzinfarkt tritt nicht nur vor allem bei Tageslicht auf, sondern auch noch saisonal gehäuft in den Wintermonaten. Die Frage war, welche Umwelt- und Klimafaktoren eine Rolle spielen. Die Metastudie umfasste Daten von mehreren Tausend Herzinfarktpatienten weltweit und ergab, dass der zirkadiane Rhythmus von einem saisonalen Rhythmus überlagert wurde. Letzterer hing vor allem von der Sonnenscheindauer ab, in diesem Fall konkret als Dauer der Sonneneinstrahlung verstanden und nicht als Tageslichtlänge. Daten aus Singapur gaben den entscheidenden Hinweis, denn hier sind Temperatur und Sonnenscheindauer übers Jahr recht konstant. Hier treten die Herzinfarkte vor allem in der Nacht auf. Im Vergleich mit norwegischen Daten wurde dann der Vitamin-D-Gehalt des Blutes als Maß für die Sonneneinstrahlung untersucht. Ist der Vitamin-D-Level hoch, finden die Herzinfarkte auch nachts statt. Die höhere Rate an Herzinfarkten im Winter könnte also wiederum mit der gedrosselten Vitamin-D-Produktion zusammenhängen und dem beim Aufstehen steigenden Blutdruck, der dann häufiger zu kritischen Situationen führen kann. Dieser Zusammenhang wird noch weiter untersucht – insbesondere die Frage, ob hier zwei voneinander unabhängige Ereignisse zeitlich zusammenfallen oder ob der Vitamin-D-Mangel den Anstieg der Herzinfarktrate mitverursacht.

Frühjahrsmüdigkeit Auch Hormone sind an Langzeitrhythmen beteiligt. Viele Tiere halten Winterschlaf oder Winterruhe und müssen im Frühjahr wieder munter werden. Menschen hingegen kennen eher die Frühjahrsmüdigkeit. Im Gehirn wird in Winternächten mehr Melatonin ausgeschüttet als in Sommernächten. Dieses Hormon lässt Mensch und Tier einschlafen und wird im Schlaf von den Rezeptoren gelöst. Blauanteile im Licht reagieren mit Melanopsin und aktivieren es. Dieses blockiert seinerseits die körpereigene Produktion des Schlafhormons Melatonin und fördert die Bildung von Cortisol. Für diese Prozesse muss Licht in die Augen fallen, denn die Sensoren liegen in der Netzhaut zwischen den Sehzellen. Zwar werden die Tage länger, aber noch sind die Menschen wenig im Tageslicht, sodass statt aktivierendem Cortisol weiterhin viel Melatonin gebildet wird. Der Blauanteil des Tageslichts ist am Morgen besonders hoch, was mit der Streuung des Sonnenlichts an der Erdatmosphäre zu tun hat. Im Verlauf des Tages verschiebt sich das Spektrum zu rötlichen Farbtönen, die

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Lichtrezeptoren werden weniger angesprochen und der Körper bereitet sich auf die Nachtruhe vor. Dieser Effekt lässt sich praktisch nutzen, indem die Atmosphäre in schlecht ausgeleuchteten Büros und an Arbeitsplätzen etwa in Fertigungshallen und Labors mit Tageslichtlampen verbessert wird. Physiologisch ist das Auge darauf eingerichtet, dass das Licht von oben einfällt – die Rezeptoren liegen auf der unteren Hälfte der Netzhaut. Abgesehen davon, dass Tageslicht in jedem Fall intensiver wirkt, sollten entsprechende Lampen also hoch angebracht sein. Bei der Frühjahrsmüdigkeit ist es wahrscheinlich, dass weitere circannulare, also jahreszeitliche Uhren beteiligt sind. In vollem Umfang tritt die Frühjahrsmüdigkeit erst im März zum Vorschein. Noch immer konnte die Wissenschaft sie noch nicht ganz enträtseln. Wer sich wundert, was Hormone im Laufe des Jahres bewirken können, kann sich dies auch bei Zugvögeln ansehen. Sowohl Eierstöcke oder andernfalls Hoden wachsen im Frühjahr und schrumpfen bereits im Sommer, um in Herbst ein Minimalgewicht zu erlangen. So wiegen die Tiere während der Flugsaison weniger, und zugleich ist die Brutsaison begrenzt, was für die Vorbereitung des Vogelzugs wichtig ist. Wenn im Frühjahr die Temperaturen steigen und die Tage länger werden, bestehen berechtigte Hoffnungen auf das Austreiben der Pflanzen. Erste Krokusse und Schneeglöckchen kommen hervor, und der Märzenbecher bildet Knospen. Es ist Zeit, das nächste Kapitel im Jahr aufzuschlagen: Der Frühling beginnt.

3 März – Die Blätter werden grün

Im März zaubern Narzissen und Hyazinthen, frühe Tulpen und Forsythien erste farbige Akzente in die noch winterkargen Gärten. Das erste Grün erscheint leuchtend, die jungen Blätter der frühen Sträucher sind zartgrün. Erst später treiben rotlaubige Büsche und Bäume aus. Was aber hat es mit der Farbe der Blätter auf sich? Wie können Pflanzen Sonnenlicht mit Farbmolekülen einfangen und es umwandeln in chemisch gespeicherte Energie? Dies gelingt ihnen mit der Photosynthese, um die es in diesem Kapitel maßgeblich geht. Könnte die Photosynthese ein Vorbild sein für technische Anwendungen? Bei der Photosynthese wandeln die Blattfarbstoffe nicht nur Sonnenergie um, sondern bauen dabei zugleich aus Wasser und Kohlendioxid größere © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Feil, Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59264-9_3

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Moleküle auf, die sie in vielen Varianten einsetzen können. Aus ihnen werden Speicher- und Gerüststoffe. Ein ausgewachsener Baum speichert im Laufe seines Lebens 20 t Kohlendioxid (CO2) in Ästen, Stamm und Wurzeln. Eine Buche nimmt 97 % des eintreffenden Lichtes auf, weshalb das Licht in Wäldern schummerig wirkt. Wer die Blattoberfläche der Kronen von einem Quadratmeter Wald ausmisst, kommt auf die beeindruckende Fläche von rund 27 m2 Laub und Nadeln. Eine einzelne ausgewachsene Buche kommt so auf eine 1200 m2 große Blattoberfläche. Die Krone einer Eiche besteht aus etwa 150.000 Blättern, die im Laufe eines Jahres 6000 kg Kohlendioxid aufnehmen und 4500 kg Sauerstoff abgeben.

Ein Blick ins Blatt Bevor wir uns auf die Ebene von Molekülen und Elektronen – den kleinen Baueinheiten der Stoffe – begeben, noch ein kurzer Blick auf und in das Blatt als solches. Hier findet der Stoffaustausch zwischen der Pflanze und der sie umgebenden Luft statt. Die Vielzahl der Blätter ergibt eine enorm große Oberfläche für die Pflanze, wobei das einzelne Blatt nicht viel wiegt. Beispiel Buche: Ihr Blatt ist aus mehreren Schichten aufgebaut (Abb. 3.1). Von oben betrachtet bildet die Epidermis die erste Zellschicht. Die ihr aufliegende dünne Wachsschicht (Cuticula) schützt vor Verdunstung. Auch die Epidermis ist dünnlagig, und erst die darunter liegenden Palisadenzellen enthalten das Blattgrün, das Chlorophyll. Im Querschnitt durch ein Blatt sehen die Zellen des Palisadengewebes ein wenig wie aufrecht stehende Säulen aus. Durch die obere Epidermis gelangt das Sonnenlicht in diese Schicht. Die untere Blattseite beginnt mit dem Schwammgewebe, dem Parenchym. Die kleineren Zellen dieses Gewebes lassen untereinander viele Hohlräume offen, was für den Gasaustausch wichtig ist. Nach unten schließt wieder eine Lage Epidermiszellen mit Cuticula die Blattkonstruktion ab. Allerdings gibt es darin die Spaltöffnungen. Das Schwammparenchym hat direkt oberhalb der Spaltöffnungen besonders weite Zwischenräume, weshalb auch von Atemhöhlen gesprochen wird. Hier findet der Gasaustausch statt. Die Wasserversorgung erfolgt vor allem durch die Mittelrippe. Von dieser führen noch Seitenrippen ab, die dem Blatt zusätzliche Festigkeit bieten und die Versorgungsleitungen bis in die Blattspitzen und -ränder fortführen.

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Abb. 3.1  Aufbau eines Laubblattes

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Photosynthese als Meisterwerk der Redoxreaktionen Das auf die Blattoberfläche treffende Sonnenlicht löst im Inneren eine Kaskade von Reaktionen aus, bei denen Ionen, also elektrisch geladene Atome oder Atomgruppen, sowie Elektronen ausgetauscht werden. Das allein wäre schon spannend, doch für die Pflanze essenziell ist, dass dabei kleinere Moleküle zu größeren ausgebaut werden. Die berühmte Gleichung vom Kohlendioxid zum Zucker fasst dies gut zusammen: 6 H2 0 + 6 CO2 →C6 H12 O6 + 6 O2

Ganz ohne die Stoffe benennen zu können, ist leicht nachzurechnen: Aus zwölf Molekülen – die Vorfaktoren zeigen an, wie viele Moleküle bei dieser Reaktion pro Umsatz miteinander reagieren – gehen gerade mal sieben Moleküle hervor. Die Molekülformeln wie H2O für Wasser geben jeweils an, wie viele Atome eines Elementes in dem Molekül vorhanden sind, und zwar anhand der tiefgestellten Zahlen an dem Buchstaben oder der Kurzform, mit der das Element auch im Periodensystem aufgeführt ist. In welcher Reihenfolge die Atome verknüpft sind, lässt sich so allerdings nicht ablesen. Daher werden manchmal auch chemische Gruppen wie die Hydroxy-Gruppen (-OH) der Alkohole innerhalb der Molekülformel ausgeschrieben. Die Reaktionsgleichung der Photosynthese beschreibt in Worte übersetzt, dass sich Wasser und Kohlendioxid zu einem großen Molekül, nämlich Glucose – auch bekannt als Traubenzucker –, verbinden und dabei Sauerstoff frei wird. Bei der Glucose gibt es mehrere mögliche Strukturen. Meist kommt sie als Sechsring vor, der sich aus fünf Kohlenstoffatomen und einem Sauerstoffatom bildet, davon gehen als Seitenketten Alkohol-Gruppen ab. Zucker verknüpfen sich relativ leicht miteinander, wobei sie jeweils ein Molekül Wasser je Verknüpfung abspalten. Daher wird je nach Anzahl der Ringe von Einfach-, Doppel- oder Mehrfachzuckern gesprochen. Es gibt nicht nur viele Zucker, sondern auch mehrere Begriffe für diese Stoffgruppe, wie Kohlenhydrat oder Saccharid. Insbesondere bei den Sacchariden ist die Zählung der Ringe Teil des Namens – allerdings dann als Monosaccharid wie Glucose, Disaccharid wie Saccharose, das ist der Rübenzucker als normaler Haushaltszucker, bis hin zu den Polysacchariden. Die Bezeichnung Kohlenhydrat geht auf eine historische Hypothese ihrer Entstehung zurück, die sich jedoch nicht bewahrheitet hat – da bei ihrer Verbrennung Kohle und Wasser (Hydrat) entsteht, war die historische Annahme, dass sich Wasser und Kohle zum Kohlenhydrat zusammenlagern.

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Pflanzen bauen in der Photosynthese den Einfachzucker wie oben schon beschrieben aus Kohlendioxid und Wasser auf. Die entstehende Glucose ist gut wasserlöslich und lässt sich leicht mit dem Saftstrom in der Pflanze transportieren. Werden Zucker zum Speichern der Energie benötigt – etwa für die Überwinterung oder in Samenkörnern –, dann verknüpfen Enzyme mindestens zwei Ringe, wie bei Saccharose. Der Zweifachzucker ist schon weniger leicht wasserlöslich, aber noch schnell wieder aufzuspalten; schließlich sollen diese Zucker später rasch wieder für die Energiegewinnung verfügbar sein. Dabei kehrt sich die Gleichung um: Kohlendioxid und Wasser werden unter Verbrauch von Sauerstoff freigesetzt, vor allem aber wird Energie verfügbar. Beim Aufbau der Gerüststoffe der Pflanzen werden schließlich Einfach- und Zweifachzucker zu langen Ketten verknüpft (wie beim Speicherstoff Stärke) oder vernetzt (wie beim Gerüststoff Cellulose, auch als Zellstoff bekannt). Verpackte Power: Photosynthese in Chloroplasten Nach diesem Ausblick auf die Produkte gehen wir noch einmal zurück an den Start. Die Pallisadenzellen enthalten von Membranen umhüllte Organellen, die Chloroplasten, die das Zentrum der Photosynthese sind. Sie sind unter dem Lichtmikroskop leicht als grüne Punkte oder Linsen zu sehen und kommen in jeder Zelle in großer Zahl vor. Unter einem Quadratmillimeter Blattoberfläche tummeln sich etwa eine halbe Million Chloroplasten. Das Wort Organellen lässt schon erkennen, dass hier Prozesse wie in einem kleinen Organ ablaufen, nur dass Pflanzen keine Organe für Photosynthese haben, sondern eben diese Chloroplasten, die in der äußeren Blattschicht sowie manchmal in Früchten, im Stiel oder auch der Rinde vorkommen. Grundsätzlich hat jede Pflanze Chloroplasten, da erst diese der Pflanze lebensnotwendige Bausteine zur Verfügung stellen und somit ein autarkes Leben ermöglichen. Die Chloroplasten enthalten Stapel von Thylakoiden, in deren Membranen sich die Blattfarbstoffe befinden. Ansonsten ist natürlich Flüssigkeit vorhanden, das Stroma. Chloroplasten haben sogar eine eigene DNA und für deren Ablesung eigene Proteinkomplexe, die Ribosomen. Vermutlich wurden im Laufe der Evolution Bakterien in die Pflanzenzellen integriert. Diese waren fähig, das Sonnenlicht zu wandeln, und wurden im Gegenzug von den Pflanzenzellen mit Nährstoffen, Wasser und den benötigten Gasen versorgt. Im Laufe der Zeit verloren die Parasiten viele ihrer Eigenschaften, bis sie als Chloroplasten fester Bestandteil der Pflanzenzellen wurden. Die Blattfarbstoffe, Phytochrome, sind das „Auge“ der Pflanze. Die Schaltprozesse im Inneren der Chloroplasten werden ausgelöst, wenn sich

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die Struktur der Phytochrome ändert. Darüber hinaus kommt es jedoch auch zu Ladungsverschiebungen. Die Ladungsverteilung wurde mit Kernspinresonanz-Untersuchungen sichtbar gemacht. Dieses physikalische Verfahren konnte sichtbar machen, dass die Ladungen innerhalb des Moleküls im Dunkeln an anderen Stellen zu finden sind als bei Licht. Wie ein elektrischer Schalter unterscheiden die Farbstoffe zwischen „an“ und „aus“ – nicht nur in ihrer Form (oder Schalterstellung), sondern eben auch dadurch, dass sie an anderen Positionen die Weitergabe von Elektronen ermöglichen. Die Blattfarbstoffe bestehen aus durch Licht anregbaren Molekülen, eingebettet in Proteine (Glossar: Chromophor). Diese Chromoproteine werden auch Pigment genannt. Das Protein ist aus Aminosäuren aufgebaut und lagert sich um den Farbstoff herum. Physikalisch betrachtet schafft es so eine besondere Umgebung um das Chromophor herum, was auch die Eigenschaften des Proteins selbst und insbesondere seine Faltung beeinflusst. Die Annahme einer Auswirkung auf die Ladungsverteilung im gesamten Protein bedeutet einen Paradigmenwechsel, der sich gerade innerhalb der Biologie in Verbindung mit der Biophysik anbahnt. Der bekannteste Blattfarbstoff hat einen wahrhaft sprechenden Namen: Der Begriff Chlorophyll setzt sich aus den griechischen Wörtern für „frisch, hellgrün“ (chloros) und „Blatt“ (phyllon) zusammen.

Blattfarbstoffe – mehr als nur grün Im Frühjahr treiben viele Pflanzen mit einem zarten Grün aus. Im Laufe des Sommers wird das Grün dunkler und im Herbst verschwindet es ganz. Wie die Stoffbilanz zeigt, braucht die Pflanze – neben Kohlendioxid und Licht – Wasser für die Photosynthese. Allerdings droht im Winter das Wasser zu gefrieren. Um der Wasserknappheit zu entgehen, stellen viele Pflanzen die Photosynthese im Herbst ein. Sie bauen die wertvollen Blattfarbstoffe ab, danach sind die Blätter ihrer Funktion beraubt und werden abgeworfen. Die gelben bis roten Farbtöne des Herbstes rühren aber nicht allein vom Abbau her, einige Bäume produzieren sie neu, um so bei den veränderten Umweltbedingungen des Herbstes noch photosynthetisch aktiv zu sein. Das bunt gefärbte Herbstlaub bildet teilweise einen Stoffkreislauf mit dem zarten Frühlingsgrün. Jedes Jahr werden weltweit rund eine Milliarde Tonnen Chlorophyll auf- und abgebaut. Beim Abbau des Chlorophylls gewinnt die Pflanze rare Stickstoffverbindungen zurück, die über Winter eingelagert werden. Buchen lagern einen Teil des Chlorophylls direkt unter der Rinde ein, was zu sehen ist, wenn mit dem Taschenmesser etwas davon

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Abb. 3.2 Carotin

entfernt wird. Andere Blattfarbstoffe, wie die von den Möhren bekannten Carotine (Abb. 3.2), enthalten keinen Stickstoff. Sie werden im Herbst nicht zersetzt und lassen Birke und Ahorn gelb leuchten. Gelbe Farbstoffe sind auch die Phyllobiline, die außergewöhnliche Eigenschaften haben – dazu unten mehr. Die roten Anthocyane, bekannt vor allem von den Nordamerikas Ahornverwandten, die dort den Indian Summer aufleuchten lassen, werden erst im Herbst neu gebildet. Sie sind dann noch photosynthetisch aktiv, wenn Kälte am Morgen und Sonne im Tagesverlauf auf die Bäume einwirken. „Blitzableiter“ statt Schattenplatz Freiburger Forscher untersuchten die gelben und roten Blattfarbstoffe intensiver. Deren Chromophore nehmen die Energie des Lichts deswegen leicht auf, weil bei ihnen die Elektronen in den Elektronenpaarbindungen relativ beweglich sind. Die eingestrahlte Energie regt einzelne Elektronen an, und sie können die Energie auf verschiedene Arten wieder abgeben. Die radikalste ist ein Bruch der Bindung, bei dem einzelne, energiereiche Elektronen am Molekülrest übrig bleiben. Diese Radikale sind sehr bestrebt, durch eine Reaktion mit einem weiteren einzelnen Elektron wieder zu einer Bindung zu gelangen. Sie sind so energiereich, dass sie im Grunde bei jedem Molekül versuchen könne, an weitere Elektronen zu kommen. Radikale werden wesentlich für Alterungsprozesse verantwortlich gemacht. Denn die Moleküle, mit denen sie eine Reaktion erzwingen, können durch die Änderung ihrer Struktur nicht mehr ihre biologische Aufgabe erfüllen. Deshalb ist es für die Pflanzen eine gute Strategie, diese Radikale „einzufangen“, damit sie keinen Schaden anrichten können. Wie das gelingt? Ähnlich wie bei einem Blitzableiter. Ein Blitz (Kap. 6) ist eine massive elektrische Entladung. Er entlädt sich dort, wo die elektrische Energie abfließen kann. Dieses Prinzip ähnelt dem der zu massiven Sonneneinstrahlung. Die durch das Licht auf die Moleküle übertragene Energie verwandelt Elektronen in energiereiche Elektronen, die ihre Energie abgeben können, indem sie eine Bindung eingehen oder aber als Wärme oder als Licht abstrahlen. Carotine enthalten viele Doppelbindungen, die ihre Position im Molekül wechseln können. Hier eintreffende

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Radikale verteilen ihre hohe Energie auf umherwandernde Elektronen, die Energie wirkt nun nicht mehr punktuell und damit schädigend. Da die Pflanze nicht in den Schatten wandern kann, sind Blattfarbstoffe günstig, weil sie zu viel aufgenommene Energie aus dem Sonnenlicht gut abfangen und abstrahlen können. Temperatursensor für den Blattaustrieb Unser Ausgangspunkt war das erste zarte Grün im Frühling. Es ist faszinierend, wie praktisch aus dem Nichts Blätter sprießen. In der Blumenzwiebel und in der Baumrinde sind stickstoffhaltige Bausteine für Chlorophyll eingelagert. Einerseits muss nun rasch mehr Blattmasse produziert werden, um entweder die kurze Saison auszunutzen oder Schutz vor Schnecken zu erlangen. Andererseits fallen die Sonnenstrahlen noch schräg ein – die Stunden mit starker Einstrahlung von Sonnenlicht sind begrenzt. Wie messen Pflanzen die Temperatur? Jüngst stellte sich heraus, dass zum Beispiel das Phytochrom B der Ackerschmalwand als Temperatursensor wirkt. Die Ackerschmalwand ist eine gut erforschte Pflanze und dient in der Forschung als Modell. In der Landwirtschaft gilt sie als Wildkraut. Bei 22 ℃ wächst sie kompakt, bei höheren Temperaturen schießt sie ins Kraut, wie es landläufig heißt: Das Längenwachstum von Stängeln und Blättern steigert sich. Die Verdunstungsfläche wird größer, womit sich die Pflanze bei den höheren Temperaturen kühlt. Wer das Februar-Kapitel (Kap. 2) gelesen hat, begegnete bereits den Cryptochromen. Das Prinzip, in Proteine lichtsensitive Farbstoffe einzulagern, ist in der Natur verbreitet – bei Pflanzen, aber auch bei Tieren beispielweise das Sehpigment. In der Pflanze setzt der hellrote Lichtanteil aus dem Sonnenlicht die Photosynthese in Gang. Daneben regen die molekularen Schalter auch andere Prozesse an – etwa im Frühjahr die Samenkeimung oder später die Blütenbildung. Wie schon gezeigt wurde, lassen sich mit den Blattfarbstoffen sehr spezifisch die Wellenlängen des Lichts eingrenzen, die zu einer Aktion in den Chloroplasten führen. Dunkelrote Lichtanteile etwa aktivieren Phytochrom B. Dieses hemmt das Längenwachstum der Pflanze, indem die Ablesung der betreffenden Gene blockiert wird. Nachts löst sich das Phytochrom B vom Erbgut. Nun wurde aber auch ein Prozess gefunden, der nicht erst nachts stattfindet, sondern schon im Laufe eines warmen Tages eine Anpassung erlaubt – beim Auskeimen etwa ist schließlich auch an heißen Tagen ein schnelles Wachstum günstig. Je höher die Temperatur ist, desto schneller löst sich Phytochrom B wieder von den Genen, die das Wachstum begünstigen. Dies vor allem auch bei schwachem Licht, was

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wiederum die Keimphase unterstützt. So kann zumindest die Ackerschmalwand praktisch über Nacht keimen und wachsen, wenn es denn nur warm genug ist. Wenn die Temperatur wieder fällt: Gelb Zu den eher wenig bekannten Farbstoffen zählen Phyllobiline. Sie färben im Herbst das Laub gelb. Bislang war die Rede von Schaltern, die zwischen zwei Zuständen unterschieden. Insofern entsprechen die Phyllobiline eher einer Übergangslösung. Chlorophyll besteht aus für die Pflanze wichtigen und schwer zu beschaffenden Baustoffen. Dies wäre schon ein guter Grund, im Herbst das Blattgrün zu recyceln; bei sinkenden Temperaturen würde sonst die Einbettung in Proteine zerstört werden, weil die großen Proteinmoleküle nicht länger durch viele kleine anziehende und abstoßende Wechselwirkungen in einer räumlichen Struktur gehalten werden. Sinkende Temperaturen bedeuten weniger Energie: Die Elektronen in den Bindungen werden bewegungsärmer, die Stärke der Wechselwirkung lässt nach und die Struktur geht verloren. Freie Chlorophylle würden zusätzlich schädigend wirken, ein Grund mehr für ihren Abbau, bei dem auch die Phyllobiline entstehen. In welches Abbauprodukt die Chlorophylle zerfallen, hängt von Lichteinfall und Temperatur ab, aber auch davon, ob sich die Chlorophylle noch innerhalb der Membran der Chloroplasten oder in der Zellflüssigkeit befinden. Die Forschung hierzu beginnt gerade erst. Von Anfang an auf Rot Rot austreibende Bäume nutzen den Sonnenschutz der Anthocyane, die einen Teil des Sonnenlichts reflektieren. Im Laufe des Sommers setzt sich normalerweise der grüne Farbton durch, da ein Enzym die Anthocyane abbaut, und so können die Chlorophylle auch den roten Anteil des Sonnenlichts ausnutzen. Wirklich rotlaubige Arten etwa bei Ahorn, Buche oder Pflaume verzichten zeitlebens auf einen Teil der Energieausbeute. Staubfänger und grüne Nadeln Die Blätter bleiben durchschnittlich von April bis September grün, und eine ausgewachsene Eiche filtert in dieser Zeit bis zu eine Tonne Staub aus der Luft. Auch wenn vieles davon wieder herabrieselt oder vom Regen abgewaschen wird – was sich in der Wachsschicht von Blättern löst oder direkt durch die Spaltöffnungen ins Blattinnere gelangt, sammelt sich als unverwertbarer Stoff an oder ist potenziell auch schädlich für den Baum. Daher trennen sich viele Pflanzen – auch Sträucher und Stauden – von weiten Teilen ihres

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Blattgrüns, um im Frühjahr neue, leistungsfähige Photosynthese-Apparate auszubilden. Wie die Blätter von Laubbäumen die Luft filtern, ist näher im August-Kapitel beschrieben (Kap. 8). Der Blattabwurf im Herbst ist auf jeden Fall eine Art Müllentsorgung. Wer nun auf Nadelbäume blickt, mag sich fragen, wieso sie ihre Nadeln behalten. Der Waldboden verrät schon einen Teil der Antwort: Laub ist über den Winter verrottet und bildet bis zum Frühjahr neuen Humus; Nadeln hingegen verrotten langsam, denn sie sind mit einer dicken Wachsschicht überzogen, damit sie im Winter nicht zu viel Wasser verlieren. Doch auch Nadelbäume werfen einen Teil der Nadeln ab, was dazu führt, dass sie bereits Knospen neuer Nadeln Jahre im Voraus bilden und unterschiedlich alte Nadeln am selben Zweig sitzen. So trägt die Tanne zehn Jahrgänge, die Fichte sechs und die Kiefer drei. Zudem können Nadelbäume so auch bei niedrigen Temperaturen Photosynthese betreiben, wenn auch mit geringen Ausbeuten. Auch Gräser, einige Farne und manche Wildkräuter wie die Vogelmiere wachsen selbst im Winter, und Feldsalat wird noch im Herbst ausgesät. Der andere Teil der Antwort reicht bis in die Entstehungsgeschichte zurück. Farne sind erdgeschichtlich sehr alt, Nadelbäume mit 170 Mio. Jahren älter als Laubbäume mit 100 Mio. Jahren. Laubblätter sind also entwicklungsgeschichtlich jünger und die Strategie, sie in klimatisch ungünstigen Zeiten abzuwerfen, damit bei Nadelbäumen noch nicht entwickelt. Natürlich gibt es auch hier jeweils Ausnahmen wie die Lärche, die ihre Nadeln abwirft, oder immergrüne Lorbeergewächse und Rhododendren.

Phytochrome Systeme und die Evolution Natürlich haben nicht alle Pflanzen, Moose, Algen und Pilze identische Chlorophylle. Die Evolution lässt sich durch genetische Untersuchungen der Phytochrome gut nachvollziehen. So unterscheidet sich das Erbgut der Phytochrome in Algen deutlich von jenem der Moose und Farne: Zu diesem Zeitpunkt „gingen die Pflanzen an Land“. An Land trennten sich die Abstammungslinien wiederum schnell auf. Ein Teil der Farne hat bis heute recht „urtümliche“ Phytochrome. Moose sind bei Forschenden beliebt, um Fragen der Photosynthese im Labor zu untersuchen. So sollten sie auch die Frage beantworten, ob bakterielle Vorfahren von den Pflanzen in die Zellen aufgenommen wurden und so die Chloroplasten bildeten. Die Bakterien benötigten, so die These,

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keinen eigenen Stoffwechsel mehr, und die Pflanzenzellen – damals vermutlich noch einzellige Algen – konnten fortan aus Luft und Wasser Gerüststoffe aufbauen. Einerseits konnten sie so das Sonnenlicht als Energiequelle verwenden, andererseits ließ sich an Land damit das im Übermaß vorhandene Gas Kohlendioxid nutzen. Denn bevor durch die Photosynthese der Sauerstoff in der Atmosphäre angereichert wurde, enthielt diese einen entsprechend höheren Anteil an Kohlendioxid. Auch heute ist die für das Pflanzenwachstum optimale Kohlendioxid-Konzentration höher als der Gehalt des Gases in der Atmosphäre (derzeit 4 ppm, Glossar). Um das Gas aufzunehmen, reicht es nicht, dass es durch Spaltöffnungen in das Blattinnere diffundiert. Aus Moosen wurden zwei Enzyme isoliert, die das Gas binden. Untersuchungen zum genetischen Ursprung dieser Enzyme führten zu Bakterien und Archaeen. Letztere sind sehr ursprüngliche einzellige Lebensformen, die selbst keine Photosynthese betreiben. In den Pflanzenzellen wurden die Gene für die Enzyme über die Jahrtausende verändert und angepasst, sodass sie nun einem Mosaik ähneln – aber immer noch ihren Ursprung verraten. Spannend sind solche Untersuchungen, wenn es darum geht, Pflanzen für spezielle klimatische Verhältnisse zu züchten.

Energieumwandlung als Prinzip Welche Vorteile das pflanzliche Grün mit sich bringt, ist nun klar. Doch wie genau wandeln die Chromophore das Sonnenlicht eigentlich in chemisch gespeicherte Energie um? Die Photosynthese ist das Paradebeispiel für Energieumwandlungen. In rund 160 Schritten gelangt die Pflanze von einfachen Ausgangsstoffen zur Glucose. Die Energie des Sonnenlichts regt Elektronen in Pigmentmolekülen an. Dabei hängt die Energie (E) davon ab, welche Wellenlänge (λ) das Licht hat. Das für den Menschen sichtbare Spektrum reicht von blauem, energiereichem Licht bis zu rotem, energiearmem Licht. Dazwischen befinden sich die übrigen Farben des Regenbogens (Abb. 6.3). Wird ein Photon von einem Molekül aufgenommen, überträgt sich die Energie zum Beispiel auf ein Elektron. Dieses kann schwingen und zu leuchten beginnen. Es kann aber auch so viel Energie haben, dass es auf die Bindung zum Molekül verzichtet und auf benachbarte Elektronensysteme überspringt, also „wandert“. Wo genau dies geschieht, klärt der Blick auf submikroskopischer Ebene in die Chloroplasten; diese enthalten Stapel von Thylakoiden, in deren Membranen die als „Lichtsammelkomplexe“ wirkenden Blattfarbstoffe sitzen.

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Die vom Sonnenlicht angeregten Elektronen werden über Enzymkomplexe innerhalb der Thylakoidmembran weitergereicht, wobei sie zum einen definierte Energiemengen als Anregung an die Enzyme abgeben und somit energieärmer werden. Zum anderen können sie durch weitere vorhandene Lichtsammelkomplexe wieder ein wenig angeregt werden – dadurch erhöht sich die Lichtausbeute. Die Energie, die von Station zu Station abgegeben wird, bewirkt vor allem drei Prozesse. Erstens ist das Speichern von Energie in Form von chemischen Bindungen für die Pflanze essenziell, was gleich ausführlicher geschildert wird. Zweitens nutzt die Pflanze einen Teil der Energie, um einen chemischen Gradienten an bestimmten Membranen aufzubauen, auch dazu im Folgenden mehr. Und drittens wird ein Teil der Energie als rötliches Licht abgestrahlt. Bei normalen Lichtverhältnissen ist dies nicht zu sehen, es kann jedoch mit speziellen Kameras etwa per Satellit aufgezeichnet werden. Lichtenergie wandeln und chemisch speichern Damit wäre nun die Erklärung fällig, wie Energie chemisch überhaupt speicherbar ist. Im Chemieunterricht haben wir das Periodensystem der Elemente kennengelernt und erfahren, dass jedes Element charakteristische Eigenschaften hat. Dazu zählt auch, wie stark seine Neigung ist, Elektronen an sich zu binden oder (zumindest einige) abzugeben. Ein Sauerstoffatom nimmt gern zwei weitere Elektronen auf und ist dann ein zweifach negativ geladenes Anion. Wasserstoffatome geben fast immer ein Elektron ab und sind dann einfach positiv geladene Kationen: die Protonen. Allerdings lagern sich Protonen in Wasser sofort an Wassermoleküle an und für diese hydratisierten Protonen gibt es verschiedene Namen (Oxonium-Ionen, manchmal auch Hydronium-Ionen). Der Kohlenstoff nimmt eine Stellung dazwischen ein, kann wie im Kohlendioxid (CO2) hypothetisch vierfach positiv oder wie beim Methan (CH4) vierfach negativ geladen sein, was für ein Nichtmetall nicht ungewöhnlich ist. Das veranschaulicht zugleich, wie unterschiedlich die Neigung ist, sich anzulagern oder auch eine gemeinsame Bindung aus zwei Elektronen zu bilden. Energie lässt sich speichern, indem eine Bindung erfolgt, die ohne diese Energiezufuhr nicht spontan entstehen würde. Weit verbreitet sind Moleküle als Energieträger, wie ATP (Adenosintriphosphat), das eine besonders energiereiche Bindung zu einer Phosphat-Gruppe bildet. Bei Bedarf wird die chemisch gespeicherte Energie durch Abspaltung einer Phosphat-Gruppe wie­ der freigegeben und das ATP wieder zum ADP (Adenosindiphosphat).

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Protonenpumpen Im zweiten wesentlichen Prozess, um die Lichtenergie zu speichern, werden Protonen aktiv durch die Thylakoidmembran gepumpt. Die Protonen wandern also nicht von sich aus hinaus, sondern Lichtenergie wird in Bewegungsenergie in den Protonenpumpen umgewandelt. Hierbei bildet sich ein Konzentrationsunterschied aus, ein Gradient. Und da Protonen positiv geladene Wasserstoffatome sind, ist dieser Gradient ein elektrochemischer. Die Ladungsverschiebung zieht die Protonen zurück ins Innere der Thylakoide. Sie wandern durch spezielle Kanäle wieder ein, wobei sie eine Art Nanomaschine antreiben. Indem sie den elektrochemischen Gradienten wieder ausgleichen, verrichten sie Arbeit. Dabei übertragt sich ihre Bewegungsenergie wird auf das Enzym ATP-Synthase. Dieses katalysiert innerhalb der Membran nicht nur eine chemische Reaktion, sondern bildet zugleich auch den Kanal für die zurückfließenden Protonen. Das Wirkprinzip erinnert fast an eine Wassermühle, denn die Protonen lassen durch ihre Passage einen Teil des Proteins, aus dem das Enzym besteht, rotieren. Dadurch ändert sich dessen Bindungstasche, und es überträgt Phosphat-Gruppen (PO43−, eine universelle „Währung“ in lebenden Zellen) auf ein energiespeicherndes Molekül: ATP entsteht (Abb. 3.3). Im Temperaturbereich von 0–40 ℃ bindet Adenosin, ein organisches Molekül, zwar immer gern Phosphat-Gruppen, doch ist es als Adenosindiphosphat (ADP) mit zwei dieser Gruppen schon recht stabil. Ohne äußeren Anstoß bindet es nicht noch eine dritte Phosphat-Gruppe. Dieser erfolgt durch die ATP-Synthase, welche unter Energieverbrauch die Kette der beiden vorhandenen Phosphat-Gruppen zum Adenosintriphosphat (ATP) verlängert. Die dritte Gruppe wird entsprechend leicht wieder abgespalten und auf andere Moleküle übertragen, was Phosphorylierung genannt wird. Da Adenosin so eine zentrale Rolle spielt, sei sein Aufbau als Nukleosid aus dem Zucker Ribose und der Nukleinbase Adenin kurz erwähnt. Adenosin kommt außer in ADP und ATP auch in der RNA vor. Und schließlich ist es auch noch ein Botenstoff des Nervensystems.

Abb. 3.3  Adenosintriphosphat (ATP), die Phosphatgruppen bilden eine Kette

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Photosysteme Biologen unterscheiden bei der Photosynthese Reaktionen, die nur unter Lichteinfluss ablaufen können und solche, die auch im Dunkeln ablaufen können (Licht- bzw. Dunkelreaktion). In der Reihenfolge ihrer Entdeckung wurden dann die beteiligten Photosysteme I und II benannt. Die Photosysteme enthalten hunderte Moleküle Blattfarbstoffe wie Chlorophyll und beispielsweise Carotinoide. Im Reaktionszentrum sind Chlorophylle aktiv, die anderen Farbstoffe wirken wie Antennen, indem sie Lichtquanten einfangen, die vom Chlorophyll nicht absorbiert werden. Die aufgenommene Energie wird auf benachbarte Pigmente übertragen, zum Reaktionszentrum geleitet und erhöht so in der Summe die Lichtausbeute. Diese Lichtsammelfalle wird Antennenkomplex genannt. Im Reaktionszentrum des Photosystems I liegt ein Paar Chlorophyll-a, dessen Absorptionsmaximum im Bereich des roten Lichts bei einer Wellenlänge von 700 Nanometern (nm) liegt (P700). Die Energie reicht aus, um ein Elektron im Reaktionszentrum abzuspalten (Abb. 3.4). Dieses wird auf das Enzym ATP-Synthase übertragen, die bereits erwähnte „Nanomaschine“, die die Verlängerung der Phosphatseitenkette in ADP zu ATP katalysiert. Umgeben wird das Chlorophyll-Paar vom Antennenkomplex mit seinen zahlreichen unterschiedlichen Pigmentmolekülen; diese versorgen wie ein Trichter die durch Licht angeregten Elektronen weiter mit Lichtenergie und leiten sie zum Zentrum. Das Ganze ist im Prinzip einem Sonnensegel ähnlich, vergrößern die Antennen doch sowohl das absorbierte Spektrum als auch den Querschnitt. Das Weiterleiten der Energie und die Ladungstrennung im aktiven Zentrum erfolgen innerhalb von Pikosekunden.

Abb. 3.4  Das Prinzip der Energieumwandlung. Die Photosysteme regen Elektronen an, während die chemischen Reaktionen zur chemischen Speicherung von Energie führen. Der Weg der Elektronen (e−) ist in Rot skizziert

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Das Photosystem II befindet sich in den Grana, also dem Inneren der Thylakoidmembran. Sein Absorptionsmaximum liegt bei einer Wellenlänge von 680 nm (P680). Das durch Licht dieser Energie angeregte Elektron wird über ein komplexes System (Cytochrom-b/f-Komplex) zum Photosystem I geleitet. Dabei wirken auch einige mobile Elemente an der Elektronentransportkette mit, um die Elektronen aus dem inneren Bereich in die lichtnahen äußeren Bereiche zu bringen. Das abwandernde Elektron hinterlässt eine Lücke im Photosystem II. Diese schließt ein Elektron aus einem Wassermolekül, was physikalisch ziemlich faszinierend ist: In den Chloroplasten werden Wassermoleküle photolytisch, also mit Hilfe von Licht gespalten. Diese biologische Wasserstoffgewinnung ist klassisch kaum erklärbar. Doch dazu mehr im übernächsten Abschnitt. Von der Lichtausbeute zur Stoffausbeute Nun beginnt der Aufbau organischer Stoffe als Baumaterial oder Speicherstoff. Hierfür werden zusammen mit dem bereits in Photosystem I ausgelösten Elektron insgesamt zwei Elektronen auf Kohlendioxid übertragen und so das an Reaktionen eigentlich „uninteressierte“ Gas aktiviert. Das Geschehen läuft zyklisch ab, wobei dieser sogenannte Calvin-Zyklus von einem enzymatischen Komplex eingeleitet wird. In diesem Komplex mit dem Kurznamen RuBisCO bindet ein Enzym Kohlendioxid an den Zucker Ribulose-1,5-bisphosphat. Dieser Zusammenschluss zerfällt anschließend in zwei Moleküle 3-Phosphoglycerat. Nun wird Wasserstoff übertragen, sodass zwei Moleküle Glycerinaldehyd3-phosphat entstehen. Die Wasserstoffübertragung erfolgt nicht in Form des explosiven Gases, sondern Übertragungsmoleküle liefern Elektronen an und Protonen werden aus der wässrigen Umgebung aufgenommen. Das Hilfsmolekül NADPH gibt energiereiche Elektronen ab und wird zu NADP+ (Nicotinsäureamid-Adenin-Dinukleotid-Phosphat). Das Kohlenstoffatom aus dem CO2 nimmt bei diesen Reaktionsschritten Elektronen auf und wechselt damit formal von einer positiven zu einer negativen Ladung, was chemisch ausgedrückt eine Reduktion ist. Den letzten Teil des Zyklus bildet der (Wieder-)Aufbau von Ribulose-1,5-bisphosphat aus Glycerinaldehyd-3-phosphat in mehreren Einzelschritten. Von sechs Molekülen Glycerinaldehyd-3-phosphat wird nur eines zur Glucose aufgebaut und somit dem Kreislauf entzogen. Fünf hingegen bleiben im Calvin-Zyklus, um wieder Ribulose-1,5-bisphosphat verfügbar zu machen. Das klingt zunächst nach einer eher geringen Ausbeute. Und doch: So gelingt es den Pflanzen, das Sonnenlicht zu nutzen, um Kohlenstoff

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aus CO2 in biologisch verfügbare Moleküle zu binden und dabei auch noch Wasserstoff zu handhaben. Die schiere Menge an Chloroplasten sorgt dafür, dass dieser Prozess in erheblichem Umfang gelingt. Der Enzymkomplex RuBisCO ist Kernstück der photosynthetischen Kohlenstofffixierung (Abb. 3.5). Das Enzym ist so früh in der Evolution entstanden, dass es nicht streng auf Kohlendioxid ausgerichtet ist. Vorhandener Sauerstoff kann auch gebunden werden und stört dann die Bereitstellung von Zuckerbausteinen (Abb. 3.6). Die Photosynthese entstand in einer Atmosphäre, die kaum Sauerstoff enthielt; erst im Laufe der Erdgeschichte sammelte sich dieses Gas – infolge der Photosynthese – immer stärker an und macht heute rund 20 Prozent der Luft aus.

Kohlendioxid 2

&

2

3-Phosphoglycerat (2 mal)

Ribulose-1,5-bisphosphat

2 –2

3

2

2

&

&

&

&

2

2

2

2 &

3

2

– 2

2

Enzym RuBisCo

2

&

– 2

3

2

& &



2

2

2

2

ATP

Kohlenstofffixierung

ADP

ADP

ATP 2

2

&

&

&

&

2

2

Regeneration

2 &

2

3

Reduktion 2

– 2

& &

2

2 –2

Ribulose-5-phosphat mehrere Zwischenschritte

&

2

& &

Aufbau von Glucose und anderen organischen Molekülen

&

2

3

2

2

3 2

3

– 2

2

1,3-Bisphophoglycerat (2 mal)

Glycerinaldehyd-3-phosphat (2 mal) 5/6 2 2 1/6

2

2

NADPH

– 2

NADP+

2

2 –2

2–

3 2

Abb. 3.5  Der Calvin-Zyklus startet mit der Anlagerung von Kohlendioxid an den Enzymkomplex RuBisCO (oben) (aus Feil et al. 2018)

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Abb. 3.6  Lichtabhängige Reaktionen treiben den Calvin-Zyklus an

Der Wirkungsgrad der Photosynthese ist mit weniger als einem Prozent sehr gering. Die Evolution hat zwar für ein Überleben der Pflanzen gesorgt, sich aber nicht darum geschert, die eintreffende Sonnenenergie möglichst vollständig umzuwandeln.

Wer’s genau wissen will: Die Quantenbiologie der Photosynthese Der Prozess der Photosynthese kann auch aus anderer, nämlich physikalischer Sicht beschrieben werden. In den Chloroplasten halten Proteine die Stapel von Farbstoffmolekülen zusammen. In ihnen ergeben sich physikalisch gesehen kohärente Zustände, das heißt, die photoaktiven Strukturen in der Zelle nehmen die von der Sonne ausgesandten Lichtquanten auf, wobei diese einige ihrer Eigenschaften bewahren. Sie werden physikalisch als Welle beschrieben. Annähernd ein Wellenkamm trifft nun auf ein Blattfarbstoffmolekül. Statt sich weiterhin wie ein einzelnes angeregtes Elektron in einem Farbstoffmolekül zu verhalten, verschränken sich die Elektronen einerseits sowie die positiv geladene Elektronen-Fehlstellen im Farbstoffmolekül andererseits und übertragen die aufgenommene Energie zielgerichtet in Richtung des Reaktionszentrums: und zwar quantenmechanisch. Der Effekt ist, dass weniger Energie in Wärme gewandelt wird und stattdessen die Umwandlung in chemische Energie höher ist als zu erwarten wäre. Doch noch einmal schrittweise.

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Schwer vorstellbar ist die Natur eines Lichtquants. Wir können Licht entweder als Welle betrachten oder als „Energiepäckchen“, das als Photon oder Lichtquant bezeichnet wird. Ein solches Photon trifft auf ein Chromophor. Das Grundgerüst der organischen Moleküle besteht aus sogenannten kovalenten Bindungen. Außerdem gibt es die nicht-bindenden Elektronenpaare, die sich einen Aufenthaltsraum gleicher Energie teilen. Darin verschränken sich die Eigendrehimpulse zweier Elektronen. Der Eigendrehimpuls ist ein Quantenzustand eines Elektrons, der sich in zwei Richtungen unterscheiden lässt. Nach dem Pauli-Prinzip ist die gleiche Ausrichtung der Spins verboten, und so ergibt sich, dass sich zwei Elektronen einen Energiezustand teilen können – wenn ihre Spins gegenläufig ausgerichtet sind. Trifft ein Photon auf ein nicht-bindendes Elektronenpaar, dessen Elektronen weniger fest an das molekulare Gerüst gebunden, sind, wird folgendes angenommen: Ein Elektron fängt das Photon ein und lässt sich durch dessen Energie anregen, das Molekül zu verlassen. Im Molekül verbleibt die positiv geladene Lücke, da mit dem Elektron eine negative Ladung entfernt wird. Diese Lücke zieht weiterhin das Elektron an und zusammen kann das entgegengesetzte Ladungspaar durch das Molekül wandern, wobei nicht die Ladung als solche übertragen wird, sondern die Anregungsenergie, zu diesem Zustand führte: dem Exziton. Andere Elektronen füllen kurzfristig diese Ladungslücke auf und hinterlassen ihrerseits eine Fehlstelle. So wandert diese Fehlstelle durch das Molekül, und auch benachbarte Moleküle im Antennenkomplex können einbezogen sein. Nun fliegt das Exziton natürlich nicht auf und davon. Die Anziehungskraft der gegensätzlichen Ladung hält es zurück und lässt es sogar rasant schnell näher zum Reaktionszentrum wandern. Dort geschieht nun folgendes: Auf der Innenseite der Membran, die die Thylakoide umgibt, werden Protonen freigesetzt. Da sie nicht ohne weiteres die Membran durchwandern können, übertragen die Exzitonen einen Teil ihrer Energie auf die Membran, um Protonen durch diese hindurch zu befördern. So entsteht ein Gradient: ein Protonengefälle. Der Konzentrationsunterschied übt einen Sog auf die Protonen aus, sie wandern durch spezielle Kanäle wieder in das Innere der Thylakoidstapel hinein. Indem sie zurückfließen, treiben sie in der Membran die bereits erwähnte ATP-Synthase an: Sie lösen aus, dass ein Enzym das Molekül Adenosindiphosphat (ADP) mit einer weiteren Phosphat-Gruppe belädt. Auf diese Weise wird bereits ein Teil der Sonnenenergie gespeichert. Die Elektronen selbst werden am Ende von einem Trägermolekül aufgenommen. So wird aus NADP+ das energiereichere NADPH. Die durch die Thylakoidmembranen wandernden Protonen stammen aus der photolytischen Spaltung des Wassers.

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Die Pigmentmoleküle wurden weiter oben bereits als Sammler der Lichtenergie vorgestellt, als Antennen. Sie sind dabei recht effizient. In den Chloroplasten der der untersuchten Purpurbakterien, eine Algenart, fanden die Forscher 35 Chlorophyll-Moleküle im Photosystem aus. Die Energieausbeute war überraschend hoch: Von 100 gebildeten Exzitonen kommen 95 im Reaktionszentrum an. Dabei war bislang kein Mechanismus bekannt, der sie in die richtige Richtung lenkt, vielmehr scheint es so zu sein, dass sie so lange durch die dichtgepackten Molekülstapel wandern, bis sie im reaktiven Zentrum ankommen. Nun kommt die Quantenmechanik ins Spiel. Ebenso wenig, wie die positive Ladung in den Blattfarbstoffen lokalisiert sein muss, erfüllt das Exziton diese Erwartung. Wie eine Welle scheint es den Zustand zu umspülen und den Weg zur Energiesenke zu finden, also den Ort, wo die Energie genutzt wird, um Protonen durch die Membran zu befördern. Dieses Verhalten, mehrere Richtungen quasi gleichzeitig auszuprobieren, nennen Physiker Kohärenz. Spannend wurde es, als Forscher unter anderem aus Ulm die zurückgelegte Strecke mit der Packungsdichte der Chlorophyll-Moleküle abglichen und bestätigten, dass die „Hüpfweite“ der Exzitonen damit korreliert. Denn wenn sie nicht innerhalb recht kurzer Zeit am Reaktionszentrum ankommen, müssen sie die Energie anders abgeben, etwa indem sie vibrieren und sie so mechanisch auf die Umgebung übertragen. Die Ladungstrennung wird durch die Antennen begünstigt; so steigt die Wahrscheinlichkeit des erfolgreichen Energietransports. Dies erklärt zweierlei. Zum einen überrascht es so weniger, dass den Pflanzen, Bakterien und Algen die photolytische Wasserspaltung und der Aufbau von Glucose aus Kohlendioxid gelingen. Quantenmechanische Tunneleffekte wälzten einst die Physik-Theorie um, nun folgt die Quantenkohärenz in der Biologie. Zum anderen wird klar, weshalb neben allen Bemühungen, die Photosynthese zur Wasserstoffgewinnung nachzuahmen, der Prozess als solcher noch immer so intensiv beforscht wird: Er ist einfach ungeheuer raffiniert!

Austrieb Nach so schwerer Kost geht es zurück auf die Ebene der Pflanzen – oder das Stadium davor. Eine aktuelle Studie der Ruhr-Universität Bochum prüfte, ob Keimlinge schon im Dunkeln Chlorophyll einlagern oder erst dann, wenn die Sprosse ans Licht kommen. Die im Samen gespeicherte Energie

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ist begrenzt, und normal entwickelte Keimlinge ergrünen erst – also bilden erst dann Chlorophyll –, wenn sie Licht für die Photosynthese haben. Das erhöht die Chance, die Erdoberfläche mit der Reserve zu erreichen. Durch Mutationen konnten Keimlinge keine intakten Zellwände bilden, was zur Folge hatte, dass sie schon im Dunkeln Chlorophyll aufbauten. Demnach gibt es ein Dunkelprogramm, das nur intakte Zellwände ablaufen lassen können. Und das „Erkennen“ von Licht ist bei Pflanzen offenbar (zumindest teilweise) in den Zellwänden programmiert. Freilich ist das Phänomen der hellen Sprosse leidlich bekannt und wird von Spargel-Gourmets geschätzt. Auch sie wissen: Nach etwa vier bis sechs Wochen endet die Spargel-Saison, damit die Stangen über die aufgeschütteten Erdwälle hinauswachsen und via Photosynthese Energie fürs kommende Jahr speichern können.

Sonnenschutz Weiter oben wurden bereits die Carotinoide angesprochen. Sie sind der blatteigene Sonnenschutz. Die zarten Blätter treiben aus und bekommen morgens die ersten Sonnenstrahlen. Wenn sie dann am Mittag in der prallen Sonne stehen, erhalten sie viel mehr Lichtenergie als am Morgen, da die Sonne im Frühjahr dann noch sehr geneigt zur Erdachse steht. Wie passt sich die Pflanze daran an? Die Photosynthese basiert auf einer elektrischen Ladungstrennung. Mit der Energie hiervon werden die anderen Prozesse bis hin zur chemischen Speicherung von Energie angetrieben. Fast jede und jeder hat von schon von der Lichtgeschwindigkeit gehört, die etwa 300.000 km pro Sekunde beträgt. Ein Photon hat diese Geschwindigkeit – muss also schnell von den Lichtsammelkomplexen aufgenommen werden. Zugleich lässt sich leicht vorstellen, was ein Blatt im Wind beim Wechsel von Licht und Schatten für verschiedene Verhältnisse erlebt. Eine Umwandlung in Wärme wäre viel zu langsam – weshalb die Ladungstrennung und elektronische Weitergabe eine grandiose Lösung ist. Wie oben beschrieben, werden bei der Photosynthese einzelne Elektronen transportiert. Überschüssige Energie muss schnell abgegeben werden, bevor die nachfolgenden Photonen zum Kurzschluss führen. Hierbei nehmen Carotinoide Elektronen von Chlorophyll-Molekülen auf. In Pikosekundenschnelle übernehmen sie gleich zwei Elektronen. Dabei werden zwei Energiestufen durchlaufen. Das erste übertragene Elektron erlaubt dem Chlorophyll die Kopplung mit dem Carotinoid. Das System hat eine

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andere elektronische Struktur, die die Übertragung des zweiten Elektrons erlaubt. Dieses kann nun im Carotinoid „geparkt“ werden. Die Verweildauer ist für unsere Verhältnisse noch immer kurz, schützt aber schon das aktive Reaktionszentrum vor dem Durchbrennen. Die Carotinoide geben einen Teil der Energie als Wärme ab. Sinkt die Lichtintensität, löst sich die Kooperation auf und die Chlorophyll-Moleküle arbeiten allein weiter. Wie misst man die weltweite Photosynthese-Aktivität? Wie oben schon erwähnt wurde, geben die Lichtsammelkomplexe einen Teil der Sonneneinstrahlung wieder ab. Im Sonnenlicht ist das kurze Nachleuchten nicht zu sehen, dessen Wellenlängen zwischen 660 und 850 nm liegen. NASA-Satelliten sollen diesen Effekt nutzen, um zu messen, wie viel Kohlendioxid aus der Atmosphäre aufgenommen und in der Photosynthese gebunden wird. Forscher des Geoforschungszentrums Potsdam waren daran beteiligt, den Zusammenhang dieser Fluoreszenz mit der Biomasseproduktion zu bestätigen. Sie verknüpften Messdaten, die sie vor Ort erhoben, mit den Messungen des Satelliten auf einer Mission im Jahre 2014. Mit den Daten sollen nun die Modelle des Kohlenstoffkreislaufs verbessert werden, die den Weg von Kohlenstoffatomen durch verschiedene Sphären nachzeichnen – wie dem Kohlenstoffdioxid aus der Luft, das bei der Photosynthese gebunden wird. Vorherige Satelliten erreichten eine Auflösung von 50 mal 50 km, die nun mit der Auswertung der Daten der Satelliten-Mission von 2014 deutlich verbessert werden soll. Im Oktober 2017 startete eine Messreihe. Blick in die Forschung: Höhere Effizienz – höhere Erträge? Eine andere Idee verfolgen amerikanische Forscher in Illinois, die im Jahr 2017 in einer zweiten Förderungsphase 45 Mio. US$ für weitere fünf Jahre Forschung einwarben. Im Projekt RIPE (engl. kurz für realizing increased photosynthetic efficiency ) werden Pflanzen gesucht, die besonders effektiv Photosynthese betreiben und dabei mit wenig Wasser und Dünger auskommen. Dafür wurden zunächst Tabakpflanzen gentechnisch so verändert, dass drei sonst nicht aktive Gene angeschaltet wurden. Dadurch wurde das genutzte Lichtspektrum so erweitert, dass die Erträge um 20 % stiegen. Nun ist das mit Tabakpflanzen geschehen, weil sie sich leicht verändern lassen und gut untersucht sind. Das eigentliche Ziel ist, die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung zu sichern. Nun sollen die Versuche auf Maniok und später auf Reis oder Bohnen ausgeweitet werden. Im Freiland muss sich noch zeigen, ob die Pflanzen tatsächlich schneller und

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höher wachsen – und vor allem, ob die durchschnittlich fünf Prozent, die in die Speicherorgane wie Maniokknolle oder Reiskorn gehen, tatsächlich von dem stärkeren Wachstum mit profitieren.

Technische Träume: Bionik und Wasserstoffzelle Schon lange fasziniert Forscher, wie die Pflanzenzellen Wasser bei Raumtemperatur spalten können. Mit dem gewonnen Wasserstoff ließe sich mit einer Brennstoffzelle Energie bereitstellen, oder er würde für die Synthese von Kohlenwasserstoffen verwendet. Aus dem Chemieunterricht kennen viele die Knallgasreaktion: Die Gase Sauerstoff und Wasserstoff werden mit einem glühenden Span gezündet und reagieren mit einem Knall zu Wasser. Es wird also Energie aus den Verbindungen frei, die sogar zu hören ist – weil sich die erwärmte Luft schlagartig ausdehnt und dabei kurzfristig ein Überdruck entsteht. Im Umkehrschluss muss diese Energie aufgebracht werden, um aus Wasser wieder die Elemente zu gewinnen. Nun ist klar, dass die Atmosphäre mehr Kohlendioxid enthält als vor der industriellen Revolution. Alles, was künftige weitere Emissionen senkt, ist willkommen. Zugleich wird nach Quellen für Wasserstoff gesucht, denn dieses Gas lässt sich in Brennstoffzellen einsetzen – um die Knallgasreaktion wieder auszuführen. Wenn also die Rede von der künstlichen Photosynthese ist, geht es um die photolytische Wasserspaltung. Den Part mit dem Aufbau von Kohlenhydraten überlässt man weiterhin den Pflanzen. Künstliche Photosynthese Nicht ganz so exotisch war der Ansatz von Forschern am Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie in Marburg. Sie wollen Bakterien gentechnisch so ausrüsten, dass sie effizient Sonnenlicht nutzen können, um aus Kohlendioxid komplexe Zuckerverbindungen aufzubauen. Dazu wurden 17 Enzyme im Reagenzglas gemischt, die tatsächlich einen Stoffwechselweg ergaben. Könnten diese Enzyme alle von einem Bakterium produziert werden, wären Bakterienfarmen denkbar. Das Schlüsselenzym ist wiederum dasjenige, das Kohlendioxid fixiert und in die Zelle einbringt. Es stammt in diesem Projekt aus einem Purpurbakterium. In einer Datenbank suchte das Team zudem nach Enzymen, die die weiteren Schritte ermöglichen. Dabei entstanden teilweise Produkte, die andere Enzyme blockierten. Nun läuft der Prozess im Reagenzglas. Ob er aber in lebenden Zellen parallel zu rund 3000 weiteren Reaktionen

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Abb. 3.7  Glyoxylsäure als Produkt einer künstlichen Photosynthese

ebenfalls abläuft, ist noch nicht bewiesen. In Marburg ist das Produkt Glyoxylsäure; denkbar wäre auch, mit einem solchen Ansatz statt der in Pflanzen universellen Glucose als Grundbaustein gezielt andere Stoffe herzustellen (Abb. 3.7). Die produzierte Säure kommt in jungen Blättern und unreifen Früchten vor. Industriell ist sie ein Grundstoff für Antibiotika, Pflanzenschutzmittel und auch Vanillin. Dieser Ausflug durch die erwachenden Blattknospen begann beim Aufbau eines Blattes mit seiner Wachsschicht, vertiefte sich in die Farbigkeit und schließlich in die komplexen Vorgänge der Photosynthese. Die Wachsschicht der Blätter enthielt bereits den Hinweis auf den April. In der mit Wasser gesättigten Luft sammelt sich über Nacht der Tau, und beim Gang über den Rasen werden die Füße nass. Was das wiederum mit den Fliegen zu tun hat, die von nun an ins Haus vordringen und über Wände oder sogar die Decke laufen, erklärt das folgende Kapitel.

4 April – Tau, Fliegen und Klebstoffe

Im März ergrünt die Natur, im April schlägt das Wetter oft Kapriolen. Sonne und Regen wechseln sich ab, und morgens ist das frische Gras feucht – selbst dann, wenn es nachts nicht geregnet hat.

Tau auf der Wiese Im noch feuchten Frühjahr scheiden einige Pflanzen und auch Gräser an Blattspitzen und -rändern Wassertropfen aus. Dieser Guttation genannte Vorgang unterstützt den Stofftransport etwa gelöster Salze in der Pflanze von den Wurzeln zur Spitze hin, auch dann, wenn die Verdunstung gering © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Feil, Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59264-9_4

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ist und wenig Wasser verbraucht wird. Die Tropfen glänzen in der Morgensonne wie Tau. Dieser jedoch bildet sich abhängig davon, wie viel Wasserdampf in der Luft gelöst und wie kühl die Nacht ist. An einem warmen Tag kann die Luft viel Wasser aufnehmen, das sich bei sinkenden nächtlichen Temperaturen an Oberflächen niederschlägt und kondensiert. Feine Wassertropfen überziehen dann eben nicht nur die Blattränder, sondern alle Oberflächen. Wieso aber sammelt sich das Wasser in Tropfen und bildet keinen flüssigen Film?

Wachs auf Blättern lässt Wasser abperlen Tau, der wie eine Perle am Ende des Grashalms oder auf einer Blattspitze im Morgenlicht glänzt, ist ein beliebtes Fotomotiv. Dass sich das Wasser als Kugel sammelt, liegt an dessen Oberflächenspannung, aber auch daran, dass der Untergrund wasserabweisend ist. Frisch gebohnerte Böden kennt heute kaum noch jemand, und auch Schuhe werden seltener gewachst – viele benutzen eine flüssige Lotion aus einer Flasche mit Schwamm. Bei Autowaschanlagen gibt es ein Programm mit Wachs zur Lackpflege. Feine Düsen versprühen das Wachs, und anschließend wird es trocken geföhnt. Wasser perlt nun in der nächsten Zeit ab. In der Natur sind neben tierischen Quellen wie Bienenwachs und Wollwachs auch pflanzliche Wachse weit verbreitet. Fast alle Pflanzenteile sind mit Wachs überzogen (Abb. 4.1). Zum einen schützt diese Hülle vor dem Austrocknen, zum anderen vor Verschmutzungen, welche den Lichteinfall absorbieren und so die Photosynthese mindern könnten. Die Oberhaut der Pflanzen, die Epidermis, ist bei vielen Pflanzen eine einlagige Schicht. Sie kann verdickt sein durch angelagerte Cellulose. Die Außenseite ist von der Cuticula überzogen, einer dünnen, wasserabweisenden Schicht aus dem Biopolymer Cutin und eingelagerten Wachsen. Es handelt sich bei einem Wachs nicht um eine bestimmte Stoffgruppe, sondern um Stoffeigenschaften: Bei Raumtemperatur sind sie ein Festkörper, und oberhalb von 40 ℃ schmelzen sie ohne Zersetzung. Natürliche Wachse setzen sich vor allem aus Fettsäuren und deren Estern zusammen. Die Fettsäuren zeichnen sich dadurch aus, dass es sich um Carbonsäuren (R-COOH; R = Rest) handelt, die eine lange Kette aus einem Kohlenwasserstoff ((R: CH3-(CH2)n-) tragen. Wie viele Methyl-Gruppen (-CH2-) enthalten sein müssen, um anstatt von einer Carbonsäure von einer Fettsäure zu sprechen, ist nicht definiert. Kurzkettige haben vier bis sechs

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Abb. 4.1  Beim Zuckerrohr bildet die Cuticula eine dicke Wachsschicht (im Bild oben, darunter Epidermis und Palisadenzellen)

Kohlenstoffatome (n  =  2–4), wie etwa die Buttersäure (CH3-(CH2)2COOH); die in Pflanzenwachsen enthaltenen Fettsäuren haben um die 18 Methyl-Gruppen und gelten damit als langkettig. Der lange Schwanz kann sich auch in Seitenketten verzweigen oder Alkohol-Gruppen (-OH) tragen. Enthält er Doppelbindungen, wird von ungesättigten Fettsäuren gesprochen. Vor allem aber sorgt dieser Molekülteil dafür, dass Wasser abgestoßen wird und sich langkettige Fettsäuren nur in unpolaren Lösungsmitteln, etwa in Terpentin oder Waschbenzin, lösen. Trifft die Säure-Gruppe auf eine Alkohol-Gruppe eines anderen Moleküls, reagieren beide miteinander, bilden eine stabile Bindung, einen Ester, und spalten dabei Wasser ab (CH3-(CH2)n-COO-(CH2)n-CH3). Bei Fetten und Ölen sind übrigens drei Fettsäuren über den dreifachen Alkohol Glycerin miteinander verbunden. Bei den Wachsen gibt es diese Strukturierung nicht. Zurück zur Epidermis, deren Zellen durch die Cuticula nach außen gasdicht werden, was zugleich vor dem Verdunsten von Wasser schützt. Mit bloßem Auge sichtbar werden die Wachse erst, wenn sie als Überzug aus der Cuticula austreten. Im Herbst ist dieser „Reif“ auf Pflaumen und den Beeren von Weintrauben zu sehen. Die Struktur des Wachses unterscheidet sich je nach Pflanzenart. Es können sich zusammenhängende Schichten oder Strukturen wie Bündel, Körner oder Nadeln bilden. Besonders gut untersucht ist die Feinstrukturierung von Lotosblättern: Die Strukturen aus Wachs senken die wasseranziehende Wirkung der Oberfläche so weit, dass die Blätter selbstreinigend sind (Kap. 7).

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Pflanzen, die im Sommer trockene Phasen überstehen oder in heißen, tropischen Regionen wachsen, haben bis zu mehrere Millimeter dicke Wachsschichten. Bekannt als wachsbildende Pflanzen sind beispielsweise Palmen, so ist Carnaubawachs bis heute Bestandteil hochwertiger Schuhcremes, aber auch Nadelbäume überziehen ihre Nadeln mit Wachs, und Gräser schützen sich damit vor Austrocknung. Carnaubawachs Heute nicht mehr ganz so bedeutend, aber als Spezialprodukt etwa in Bodenpolituren noch geschätzt, ist dieses Wachs der Carnaubapalme. Neben dem angenehmen Geruch ist das Wachs auch besonders fest. Unter den Wachsen ist es mit 83 ℃ der Spitzenreiter der Schmelztemperaturbereiche. In Mischungen mit Paraffin erhöht es die Schmelztemperatur, daneben auch Härte und Glanz. Auf der Pariser Weltausstellung im Jahr 1867 wurde das Wachs den Europäern vorgestellt, die Ureinwohner Brasiliens verwendeten es jedoch schon lange. Gewonnen wird es von einer Fächerpalme, die zu Ehren des Astronomen Kopernikus Coperinicia cerifera M. genannt wurde. Der Name Carnauba beschreibt die Herkunft: Wachs des schuppigen, dickrindigen Baumes. Die Palme wuchs ursprünglich vor allem im Nordosten Brasiliens, daneben auch in Nordargentinien, Paraguay und Bolivien. Ab einem Alter von acht Jahren werden jährlich etwa 150 g Wachs von den Blättern geschabt. Bei maßvoller Blätterernte werden die Palmen rund 20 Jahre alt. Bienenwachs Wenn von Tieren produzierte Wachse in den Blick genommen werden, ist die Biene an erster Stelle zu nennen. Sie baut daraus die Waben im Bienenstock auf. Der Lebenszyklus der Arbeitsbiene sieht aufeinander folgend sehr verschiedene Tätigkeiten vor, worunter die Wachsproduktion im Alter von 12–18 Tagen stattfindet. Als Baubienen fressen sie Nektar und scheiden nach etwa zwanzig Stunden aus acht Wachsdrüsen den Baustoff Wachs aus. Alle Hautzellen der Biene bilden Wachs, und dieses überzieht auch die Cuticula, also die Schutzschicht über der obersten Hautschicht. Die Wachsdrüsen sind Zonen mit Zellen, die besonders viel Wachs produzieren. Sie sitzen paarig auf den letzten vier Hinterleibsringen auf der Bauchseite. Beim Bau der Waben streicht die Biene mit den Hinterbeinen feine Wachsplättchen ab und nimmt sie im Oberkiefer auf, knetet sie und platziert das Wachs dann. Die Farbe ist zunächst fast weiß und dunkelt dann gelb nach.

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Im Anschluss übernehmen die Arbeiterinnen dann Aufgaben wie die, Honig zu machen und die Temperatur zu regulieren. Als Sammlerin fliegen die Arbeiterinnen mit im Alter von etwa drei Wochen aus – ihnen verbleiben dann noch etwa zwei bis drei Wochen, bevor sie sterben. Charakteristisch ist, dass Bienenwachs wenig klebrig ist und schon bei geringer Wärme leicht formbar. Deswegen wurde das Wachs nicht nur für Kerzen verwendet, sondern in Form eines Schmelzklebstoffes auch zum Kleben.

Wechselwirkungen: Kohäsion und Adhäsion Neben der wasserabweisenden Wirkung von Wachsen lässt sich auch ihre klebrige Seite nutzen. Den Trick mit dem Haften wenden Fliegen an der Decke an oder auch Reptilien wie der Gecko – mit dem Unterschied, dass sie ihre Füße ohne Spuren zu hinterlassen wieder lösen können. Um all das besser zu verstehen, soll es nun um die chemisch-physikalischen Wechselwirkungen gehen. Immer dann, wenn etwas irgendwo anhaftet, wird von Adhäsion gesprochen, etwa beim Wassertropfen auf dem Blatt. Unter den Molekülen im Inneren des Wassertropfens wirken ganz ähnliche Kräfte, da dies aber Bindungskräfte innerhalb desselben Stoffes sind, wird von Kohäsion gesprochen (Abb. 4.2).

Abb. 4.2  Die Kohäsion ist im Inneren von Feststoffen am größten. Bei Flüssigkeiten bewirkt sie die Oberflächenspannung

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Wo es Pole gibt, gibt es auch Anziehung Moleküle können sich wechselseitig anziehen oder auch abstoßen. Geladene Atome oder Moleküle werden Ionen genannt. Die positiv geladenen Kationen und die negativ geladenen Anionen ziehen sich an, Teilchen gleicher Ladung stoßen sich ab. Sind innerhalb eines Moleküls Bereiche mit elektronenreichen oder Elektronen anziehenden Atomen und solche mit der Neigung zur Abgabe von Elektronen vorhanden, entstehen lokal Teilladungen, das Molekül ist polarisiert. Insgesamt bleibt das Molekül elektrisch neutral, aber wie beim Wassermolekül gibt es leicht positiv und leicht negativ geladene Bereiche: es ist ein Dipol. Das Wassermolekül ist am Sauerstoffatom negativ polarisiert, an den Enden mit den Wasserstoffatomen positiv. Solche dauerhaften, also permanenten Dipole ziehen sich untereinander stark an – was beim Kondensieren und Gefrieren von Wasser eine große Rolle spielt (Kap. 1). Etwas schwächer sind die anziehenden Kräfte, wenn der Dipol nur vorübergehend, also temporär, auftritt. Das kann dadurch geschehen, dass sich Ionen in der Nähe eines eigentlich unpolaren Moleküls aufhalten, oder auch durch die bloße Wahrscheinlichkeit, mit der die Ladungsdichte im Molekül schwankt. Denn die Elektronen befinden sich nicht streng an einem Ort, sondern bewegen sich innerhalb von energetisch günstigen Räumen. Anziehung durch Wechselwirkung Wichtig für das Phänomen der Anziehung von Stoffen untereinander, also die Adhäsion, ist das Wirken der Van-der-Waals-Wechselwirkungen auf molekularer Ebene. Diese beschreiben, wie sich Moleküle ohne permanente Dipole anziehen. Die schwache Wechselwirkung entsteht über die Oberfläche der aneinander grenzenden Moleküle. Doch ganz ohne Elektrochemie geht es auch hier nicht, denn es sind sie temporären Dipole, also kurzzeitigen Ladungsschwankungen, die zu den Anziehungskräften zwischen benachbarten Molekülen führen. Manchmal wird noch bis zu den Londonschen Dispersionskräften unterschieden, die nochmals schwächer sind und zwischen benachbarten Molekülen mit temporärem Dipol wirken. Als Faustregel gilt, dass die zwischenmolekularen Kräfte mit dem Volumen der Oberfläche und der Anzahl der polarisierbaren Elektronen zunehmen. Später wird deutlich, dass die hohe Zahl an wechselwirkenden Molekülen sich zu einer enormen Kraft aufsummieren kann. Die physikalischen Kräfte bei Adhäsion und Kohäsion ähneln sich also; den Unterschied macht vor allem aus, ob diese Kräfte innerhalb eines Stoffs wirken oder zwischen zwei verschiedenen Stoffen. In der Chemie wird von

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Phasen gesprochen, also dem Raum, den die Moleküle eines Stoffes im gleichen Zustand einnehmen. So steigt die Kohäsion, wenn sich Wasserdampf abkühlt und als Tau sammelt, das Wasser also von der gasförmigen in die flüssige Phase wechselt. Der Stoff bleibt immer das Wasser, aber im flüssigen Wasser sind die Anziehungskräfte unter den Molekülen viel größer. Wie viel Energie dem System durch die Abkühlung entzogen wird, lässt sich erahnen, wenn Wasser verdampft wird: Die bis zum Sieden zugeführte Energie ist nötig, um die zwischenmolekularen Wechselwirkungen zu lösen. Wasser ist in dieser Hinsicht ein wirklich außergewöhnlicher Stoff; viele andere Stoffe verdampfen schneller, weil ihre zwischenmolekularen Wechselwirkungen deutlich schwächer sind. Dazu zählen insbesondere Geruchsstoffe (Kap. 8 und 9). Viele Klebstoffe werden flüssig aufgetragen und härten dann aus, werden also fest, was ihre Kohäsion verstärkt. Dabei entstehen zusätzliche physikalische Wechselwirkungen oder auch chemische Bindungen, die die innere Festigkeit des Verbundes von Klebstoff und Werkstoff erhöhen. Wer aus Papier geschnittene Blüten auf eine Karte klebt, erzeugt einen Verbund aus Papier-Klebstoff-Papier. Wo die Stoffe aneinander grenzen, bildet sich die Adhäsion unter zwei Phasen aus. Beide sind fest, doch es sind Moleküle unterschiedlicher Stoffe versammelt. Solche Grenzflächen sind chemisch immer spannend, da hier stets anziehende und abstoßende Kräfte auftreten können. Ist ein Stoff fest und der andere flüssig oder gasförmig, kann von Oberflächen gesprochen werden. Flüssiges trifft auf Festes Der Tautropfen auf dem Blatt hat eine gekrümmte Oberfläche, weil die Wassermoleküle aufgrund der Kohäsion ins Innere der Flüssigkeit streben, wo sie viele im Wortsinne „anziehende“ Nachbarn haben. Bei einer flachen Pfütze ist die Oberfläche größer und der Kontakt zu den Nachbarmolekülen, vor allem für diejenigen an der Grenzfläche zur Luft, viel geringer. Energetisch ist es also günstig, die Oberflächen möglichst klein zu halten. Diese Oberflächenspannung ist der Grund dafür, dass kleine Wassermengen nahezu runde Tropfen bilden (Abb. 4.3). In schmalen Röhren wie Trinkhalmen, Reagenzgläsern oder Standzylindern bildet die Wasseroberfläche eine Senke, denn die Glaswand benetzt sich mit Wasser und verändert dadurch die Oberflächenspannung: Das Wasser steigt an der Wand etwas empor. In der Natur wirken diese Kapillarkräfte zum Beispiel bei den Siebröhren im Phloem der Bäume

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Abb. 4.3  Zwischen einem Tropfen und einer festen Oberfläche entsteht der sogenannte Anstellwinkel. Je kleiner er ist, desto stärker benetzt die Flüssigkeit die Oberfläche

(Kap. 8). Beim Kleben sind sie insofern wichtig, als dass flüssiger Kleber in Poren der Werkstoffe einzieht und die Haftkraft sich so erhöht.

Fliegen und Geckos an der Decke Mit diesem Kaleidoskop verschiedener physikalischer Kräfte im Hinterkopf ändert sich unser Blick auf die Fliegenfüße. Der Ablauf der Jahreszeiten zeigt sich auch anhand der vorkommenden Insekten: Als erstes sichten wir im Frühjahr Hummeln und Bienen. Sehnsüchtig werden die ersten Schmetterlinge erwartet. Doch sobald es merklich warm wird, sind auch die Fliegen da. Es folgen Mücken und Wespen, Arten, die durchweg im Hause weniger beliebt sind – im Frühjahrssortiment der Supermärkte sind daher Fliegenklatschen und Klebefallen zu finden. Nun weiß jeder, der schon einmal eine Stubenfliege (Musca domestica) loswerden wollte, dass Fliegen auch kopfüber an der Decke sitzen können, ohne herunterzufallen. Natürlich sind sie relativ leicht, dennoch: Wie haften sie? Noch beeindruckender sind die Kletterkünste der Geckos (Gekkonidae) der südlichen Länder, Reptilien, die an Wänden hochlaufen und unter Glasdecken hängen. Anders als Eichhörnchen oder Vögel, die Krallen besitzen und damit an zerfurchten Baumstämmen emporklettern, sind die Füße der Geckos weich. Auch Fliegen haben bekanntlich keine Krallen zum Festhalten. Tatsächlich stellen beide unter Beweis, wie stark die Van-der-Waals-Wechselwirkungen in der Summe sind. Die Füße der Geckos zeigen einen besonderen Aufbau (Abb. 4.4). Unter den Zehen sind Hautlamellen zu sehen. Zwischen diesen sitzen dichte Polster aus feinen Borsten. Die Enden dieser Borsten zerfasern in unzählige noch feinere Härchen, die am Ende verdickt sind. Die Härchen werden Setae

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Abb. 4.4  Die Füße von Geckos zeigen eine besondere Lamellenstruktur. Vergrößert betrachtet, sind die Setae zu erkennen: Polster aus zahllosen feinen Borsten, die jeweils in einem Schopf noch feinerer Haare enden, den Spatulae. Diese sind am Ende noch verbreitert, sodass eine sehr große Haftfläche entsteht

genannt, die Verdickungen sind die Spatulae. Es sind aber keine Saugnäpfe, denn die würden sich nur schwer wieder vom Untergrund lösen lassen. Die anziehende Wirkung entsteht schlichtweg durch den Kontakt der Flächen, durch Adhäsion. Eine beschlagene Scheibe ist für einen Gecko jedoch bereits schwierig zu erklimmen. Bei Regen und damit nassen Oberflächen rutschen die Füße ab; offenkundig verhindert also der Wasserfilm die Wechselwirkung. Wer nicht erst hier in die Lektüre eingestiegen ist, hat schon im Hinterkopf, dass die Adhäsion durch Van-der-Waals-Wechselwirkung zwischen unpolaren Partnern entsteht. Wasser ist jedoch polar und stört daher bei der Ausbildung dieser einzeln betrachtet eher schwachen Anziehungskraft. Das polare Wasser stört die Anlagerung der Härchen an die Oberfläche. Gleichzeitig ist ein wenig Feuchtigkeit durchaus von Nutzen, da die kleinen Härchen sich feucht besser verformen lassen. Hierfür genügt jedoch schon die leichte Benetzung der Oberflächen durch die in der Luft enthaltenen Wassermoleküle. Forscher fragten sich, wie es mit anhaftendem Schmutz ist – kann ein Gecko erst durch eine klebrige Flüssigkeit laufen und dann die Wände hinauf? Wie sie feststellten, waren die Füße schon nach wenigen Schritten wieder sauber. Dies erklärten sie sich damit, dass der Schmutz besser an der Oberfläche haftet als an den Geckofüßen. Die Struktur der Härchen ist entscheidend für die Haftung, nicht etwa ein klebriges Sekret.

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Zum Lösen des Fußes ändert der Gecko dessen Anstellwinkel; dabei wird die Wechselwirkung zwischen den Flächen geringer, und die Härchen lösen sich nacheinander. Die Bionik beschäftigt sich mit technischen Lösungen nach biologischen Vorbildern. Elastische Oberflächen aus Silikon etwa werden als faserartige Strukturen konzipiert und bei der Konstruktion von Greifarmen für Mikroroboter getestet. Ein extrem starkes Haftklebeband und eine Haftfolie nach dem „Gecko-Prinzip“ sind bereits entwickelt worden. Stubenfliegen hingegen verstärken die Haftwirkung ihrer Füße durch einen Flüssigkeitsfilm. Im Vergleich zum Gecko haben sie mit ihren dünnen Beinen ohne Zehen ja weniger Auflagefläche, selbst wenn diese durch Setae vergrößert wird. In der Mitte des Fliegenbeins sitzt eine Drüse, die eine Mischung aus organischen Stoffen und Wasser produziert. Dieses Sekret füllt auch die Zwischenräume zwischen den Haftläppchen beim Kontakt mit der Oberfläche. Wo jedoch viele Fliegen in die Wohnung kommen und die Fliegenklatsche nicht mehr ausreicht, kann ein altes Hausmittel helfen: klebrige Bänder. Diese Fliegenfänger sind mit Lockstoffen versetzt, sodass Fliegen heransurren und haften bleiben. Die Haftwirkung geht in diesem Fall von einem hoch viskosen, also sehr zähflüssigen und klebrigen Film aus.

Klebstoffe Klebstoffe sind eine sehr alte Erfindung. Schon früh in der Menschheitsgeschichte wurde Birkenpech als Klebstoff verwendet. Bereits in der Steinzeit wurden die behauenen Steinklingen für Messer und Speere in einen Holzschaft gesteckt, mit Bast umwickelt und mit dem durch Hitze behandelten Harz aus Birken verklebt. Beim starken Erwärmen zersetzt sich das Harz teilweise und wird zu Pech, das beim Abkühlen fest wird und weniger klebrig ist als das viskose Harz. Ikarus soll für seine Flügel Federn mit Wachs verklebt haben. Als weiteres Beispiel wurde Bitumen, auch Erdpech genannt – eine schwarze, viskose Flüssigkeit, die aus dem Erdreich austritt –, schon 2500 v. Chr. in Mesopotamien zum Abdichten verwendet. Mittlerweile sind oberflächennahe Erdölvorkommen selten, und Bitumen entsteht ohnedies bei der Aufarbeitung von Erdöl. Alle genannten Beispiele sind Schmelzklebstoffe, die ihre klebende Wirkung in der Schmelze aufbauen und beim Abkühlen aushärten.

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Auf den Leim gehen Leichter zu verarbeiten sind Klebstoffe, die ein Lösungsmittel enthalten, denn sie sind weniger zäh und lassen sich besser dosieren. Ihre Entwicklung begann mit Leim, der vielerlei Verwendung fand. Als „Vogelleim“ ist er bereits in einer Schrift des Dioskurides verbrieft. Dieser griechische Arzt lebte im 1. Jahrhundert n. Chr. und beschrieb verschiedene Klebstoffe. Aus Mistelbeeren wurde Leim gewonnen, mit Öl vermischt und auf dünne Zweige gestrichen, die Vogelfänger in Büsche und Sträucher hängten. Sie ahmten den Gesang nach, um Vögel anzulocken. Gingen diese „auf den Leim“, klebten sie fest und konnten nicht mehr entkommen. Ebenfalls aus der Antike stammt die Erfindung des Pflasters – auf einen Stoffstreifen verteilter Leim als Wundverschluss. Künstler mischten für ihre Farben Pigmente oder auch Gold mit Leim, und eine weitere Redewendung stammt bereits aus dieser Zeit. Messer wurden mit geschmolzenem Schwefel in den Schaft geklebt, später auch als Gemisch mit Pech. Feste Verklebungen hielten daher sprichwörtlich wie „Pech und Schwefel“. Das Handwerk wurde im 16. Jahrhundert vielseitiger und spezialisierter. Mit dem Buchdruck entstand großer Bedarf an bedruckbarem Papier. Schon lange wurden Papiere beim Schöpfen mit Leim versetzt und so stabiler gemacht. Die Leimsiederei war allerdings kein eigenes Gewerk, weil der Leim nur im warmen Zustand verarbeitet werden konnte. Seine Herstellung war somit ein handwerkliches Nebengewerbe bei der Papier- und Möbelherstellung. Bereits vor dem 16. Jahrhundert wurde der Mundleim entwickelt, der schon ähnlich wie heutige Klebestifte angeboten wurde. Genau wie beim Leim in der Papierherstellung wurden hierfür Haut- und Fischleime eingesetzt. Diesen wurde Zucker beigemischt, sodass der erkaltete Leim als fester Stab für kleinere Anwendungen im häuslichen Bereich bereitstand. Diese Stäbe wurden tatsächlich in den Mund genommen, um den Leim durch Speichel und Körperwärme wieder streichfähig zu machen. Vom Papier zur Tapete: Was ist im Leim? Um Papier herzustellen, wurde dem Papierbrei Leim zugesetzt, die Masse ausgewalzt und getrocknet. Der Leim wurde zunächst gewässert und dann erwärmt. Beim Tapezieren nun werden fertige Papierbahnen an die Wand geklebt – natürlich mit Kleister, der sich hinterher auch durch Wasser wieder lösen lässt, ohne dabei das Gefüge im Papier gleich mit aufzulösen. Wer schon einmal Kleister angerührt hat, kennt die Arbeitsschritte. Kleister basiert auf Stärke oder Methylcellulose, also langkettigen Vielfachzuckern. Er ist ein Kaltleim; die Kohlenhydrate quellen im Wasser, lagern

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es zum Teil ein und machen das Gemisch dickflüssig. Der auf das Papier gestrichene Kleister muss kurz einziehen. Erst dann wird die Tapetenbahn an die Wand gehalten und angedrückt. Der Kleister trocknet und leimt so die Tapete an die Wand – ist aber durch Waser wieder ablösbar, was in Küchen manchmal zu beobachten ist, wenn viel Wasserdunst im Raum ist. Nun ist beim Kleister kein Erwärmen mehr nötig, wie bei den historischen Papierleimen. Worin besteht der Unterschied? Für die Leimherstellung wurden Haut oder Knochen stundenlang ausgekocht. Denn Haut und Bindegewebe enthalten Kollagen, ebenso ist es in Knochen und Sehnen oder auch Fischgräten zu finden. Es handelt sich um ein Protein, das lange Ketten bildet, von denen sich drei verdrillen und derart stabile Strukturen aufbauen, dass Kollagen zu den Struktur- oder Gerüstproteinen zählt. Die geschraubten Kollagenstränge sind sehr zugfest, nicht zuletzt, weil sie untereinander Wasserstoffbrücken bilden (Kap. 1). Beim langen Erwärmen in Wasser lösen sich diese Stränge voneinander, und das Kollagen denaturiert. Da natürlich außer Kollagen auch noch andere Stoffe in Knochen, Haut und Sehnen vorkommen, wird allgemeiner von Glutinleim gesprochen, wobei Glutin der Sammelbegriff für gerüstbildende Proteine mit einem Hauptanteil aus Kollagen ist. Der Leim kann wie in den historischen Papiermühlen frisch verwendet werden. Die offenen Kollagenstränge bilden einen neuen Verbund miteinander wechselwirkender Proteine, und diese Vernetzung fügt die Papierfasern zusammen. Die Klebewirkung ist bei porösen Oberflächen besonders gut, da Papier oder Holz feine Furchen hat, in die der Leim hineinfließt. Beim Abbinden verklammert dann die innere Festigkeit des Klebers die Fügeteile. Leim wurde auch in Formen gegossen, die beim Abkühlen aushärteten. So war er handelsfähig und konnte später wieder in warmem Wasser gelöst und zum Kleben verwendet werden. Allerdings eignet sich nicht jedes gerüstbildende Proteingemisch zum Kleben: Durch weiteres Reinigen und Trocknen wird aus Glutin auch Gelatine gewonnen. Diese bildet nach dem Vorquellen in Wasser, Erwärmen und Wiederabbkühlen ein stabiles Gel, indem Wasser eingelagert wird. Dass Gelatine nicht zum Kleben geeignet ist, kann jeder im Selbsttest mit Gummibärchen nachprüfen: Diese lassen sich warm und angefeuchtet nicht als Klebemittel verwenden! Aushärten und abbinden Genau genommen muss zwischen Aushärten und Abbinden unterschieden werden. Beim Aushärten finden chemische Reaktionen statt, bei denen

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viele kleine Moleküle, die Monomere genannten Einzelbausteine, miteinander reagieren. Dabei entstehen lange Ketten, die Polymere. Bei der Polymerisation können verschiedene chemische Reaktionen ablaufen, somit unterscheiden sich einerseits die Ausgangsmaterialien, andererseits die Produkte. Wer jetzt an „Plaste und Elaste“ denkt, liegt durchaus richtig. Denn auch Kunststoffe entstehen durch Polymerisationen aus kleinen Molekülen, die miteinander verkettet oder auch vernetzt werden. Aushärtende Klebstoffe sind zum Beispiel Zwei-Komponenten-Kleber: Die miteinander reagierenden Stoffe werden aus getrennten Tuben aufgetragen und polymerisieren. Im Haushalt sind dagegen Klebstoffe gebräuchlich, die bereits Polymere enthalten und physikalisch abbinden. Die Klebeverfahren werden in vier Kategorien unterteilt: Schmelzkleben, Nasskleben, Haftkleben und Kontaktkleben. Sehr anschaulich ist das Schmelzkleben bei Klebepistolen, die eine Stange Klebstoff bis zum Erweichen erhitzen; beim Abkühlen verfestigt sich der Klebstoff wieder. Ein anderer Schmelzklebstoff ist Bienenwachs. Im Falle der Nasskleber, etwa Alleskleber oder auch Holzleim aus der Tube oder Flasche, wird ein flüssiger Haftverstärker aufgetragen; die Flächen werden aufeinandergedrückt und ein Lösungsmittel verdampft. Das Lösungsmittel sorgt dafür, dass sich der Kleber gut verteilen lässt, und kann Wasser sein, ein Alkohol oder ein Ester, der leicht verdampft. Dabei kommen die Moleküle des Klebstoffs stärker in Kontakt und die Wechselwirkungen werden stärker, die Kohäsion steigt. Voraussetzung für dieses Abbinden ist, dass das Lösungsmittel tatsächlich entweichen kann. Beim Verkleben von Kunststoffen werden beispielsweise beide Fügeteile mit Klebstoff bestrichen, und dieser muss zunächst antrocknen, bevor die zu Klebeflächen aufeinander gedrückt werden. Ein solcher Kontaktkleber kommt auch beim Flicken eines Fahrradschlauchs zum Einsatz. Ein Sonderfall der physikalisch abbindenden Klebstoffe sind Klebebänder und Haftnotizen. Bei ihnen wird der Klebstoff flüssig auf das Trägermaterial aufgebracht und bindet ab, wobei ein sehr viskoser, dauerhaft klebriger Film entsteht, der über Adhäsion anhaftet.

Unter Wasser haften: Seepocken und Muscheln Nachdem nun viel vom Haften und Kleben an der Luft die Rede war, bietet sich ein kleiner Tauchgang an. Unter Wasser zu kleben, ist nach wie vor eine Herausforderung, da ja kein Lösemittel verdampfen kann. Umso faszinierender

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ist der Klebstoff der Muscheln, mit dem sie sich über Fäden wie mit Ankerleinen an den Untergrund heften, um das Wasser filtrieren. An den Strand werden nur leere Kalkschalen von toten Muscheln gespült. Solange aber eine Muschel lebt, wird sie sich stets dort aufhalten, wo Wasser mit vielen Mikroorganismen an ihr vorbeiströmt. Biofilme bilden Ballast Selbst auf Muschelschalen kommen mitunter „Seepocken“ (Rankenfußkrebse, Balanidae) vor, die unter Schiffsbesitzern sehr gefürchtet sind. Ganz gleich, ob Containerschiff oder Segeljolle: Oberflächen im Wasser werden besiedelt. Sehr anschaulich führte die „Flying Dutchman“ in der Filmreihe Fluch der Karibik vor Augen, wie sich Schiffswände entwickeln können. Freilich geschieht dies normalerweise nur außen und beschränkt sich auf Algen, gefolgt von Muscheln, Röhrenwürmen und Seepocken. Von letzteren schweben im Frühjahr die Larven im Wasser, setzen sich fest und wachsen zu erwachsenen Tieren heran. Ihr aus Kalkplatten bestehendes, festes Gehäuse macht die Schiffshaut rau und uneben, sodass der Strömungswiderstand steigt. Mehr Kraft muss aufgewandt werden, um voranzukommen; zudem steigt das Gewicht des Rumpfes an, sodass sich der Verbrauch des Kraftstoffs verdoppeln kann (Senkbeil 2014, S. 22). Daher wurden früher die Seepocken im Winter abgeschliffen und der Rumpf neu gestrichen, um im Frühjahr wieder flott in See stechen zu können. Heute werden die Rümpfe meist entweder mit biozider Farbe gestrichen, die giftig für die Organismen des sich überall bildendenden Biofilms ist, oder Bootsbesitzer sorgen auf andere Art für eine besiedlungsunfreundliche Oberfläche. Dazu zählt auch ein Anstrich, der sich ähnlich wie die Haifischhaut strukturiert, sodass entweder die Wasserströmung möglichen Bewuchs entfernt oder aber die Reinigung zumindest erheblich erleichtert wird. Seepocken als Häuslebauer Der Zement der Seepocken haftet sehr stark – schließlich wachsen sie nicht nur auf Muschelschalen, sondern unter anderem auch auf Walflossen, wo sie starker Strömung ausgesetzt sind, oder auf Strandkrabben, die in der Brandungszone leben. Seepocken gehören als Rankenfüßer zu den Krebsen und sind Zwitter. Sie bilden Kolonien, was die gegenseitige Befruchtung enorm erleichtert.

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Aus ihren Eiern entwickeln sich innerhalb des Panzers Larven, die im Frühjahr als sogenannte Naupliuslarven entlassen werden. Diese treiben in der Strömung und entwickeln nach mehreren Larvenstadien einen kleinen Panzer aus zwei Kalkschalen, wodurch sie zu Cyprislarven werden. Diese besitzen zwei antennenartige Fortsätze (Antennulae), mit denen sie sich tastend über feste Oberflächen bewegen. Die Antennulae können einmalig einen Zement abgeben, der die Larve fest verankert. Die sesshaft gewordene Larve reift zum erwachsenen Rankenfüßer heran und baut unmittelbar nach dem Anheften das Gehäuse aus acht Kalkplatten auf. Auf einer Basalplatte stehen Wandplatten, und nach oben gibt es Verschlussplatten, die vor Fressfeinden und Austrocknung schützen. Letzteres ist immer dann von Bedeutung, wenn Landkrabben oder Hafenmauern im Bereich des Tidenhubs als Lebensraum gewählt wurden. Die Zahl der Kalkplatten, die die „Mauerkrone“ bilden, ist je nach Seepockenart verschieden. Häufig in den gemäßigten Breiten ist die Kleine Streifenseepocke (Balanus amphitrite), die aus sechs Platten die Mauerkrone bildet und mit den beiden Verschlussplatten auf insgesamt acht Kalkplatten kommt. Unterhalb von 12 ℃ kommen sie nicht mehr dauerhaft vor, Schwankungen des Salzgehalts im Wasser verträgt die Art moderat. Seepocken und ihr Zement Woraus besteht nun der Zement der Cyprislarve? Zwei Zementdrüsen bevorraten den Ausgangsstoff, und die Larve hat genau eine Chance, ihn durch den Zementgang der Antennulae abzugeben – er muss also für eine sehr schnelle und starke Haftung im umgebenden Wasser sorgen. Röntgenuntersuchungen zeigten an dem Ende der Wandplatten, das später das untere sein wird, eine hohe Konzentration der Elemente Calcium, Strontium, Mangan, Kalium, Nickel und Chlor. Auch in den Fugen zwischen den Wandplatten sind hohe Konzentrationen der Elemente Calcium und Kalium und etwas geringere von Strontium und Mangan zu finden. Ein zweites Verteilungsmuster fanden die Forscher im Darm, der die Metalle Kupfer, Eisen, Zink und Nickel sowie Spuren von Arsen enthielt. Der Fund von Brom überraschte, weil es bislang nicht als Komponente im Aufbau der Rankenfüße bekannt war. Die Membran, mit der die Pocke auf dem Untergrund haftet, enthält in der Mitte ebenfalls viel Brom. Die Wandplatten bilden die Seepocken aus einer Matrix auf der Basis von Chitin, in die Calciumcarbonat (CaCO3) eingebettet wird. Die weiteren gefundenen Elemente deuten auf eine hohe Mitochondrien-Konzentration hin. Die Mitochondrien sind die Kraftwerke der Zelle. Die jugendliche

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Larve muss viel Meerwasser filtern, um genügend Calcium für die Biomineralisation zur Verfügung zu haben, und das verbraucht viel Energie. Das ausgefilterte Calcium wird als Calciumcarbonat an den Fugen zwischen Wandplatten und Bodenplatte sowie zwischen den Wandplatten abgegeben: Das Gehäuse kann so an den Rändern immer weiter wachsen. Die Metallkonzentration im Darm ist einer Entsorgung geschuldet. Kupfer wird von organischen Molekülen gebunden und zu Körnchen zusammengeballt, sodass der Organismus es nicht aufnimmt. Ähnlich wird mit dem im Seewasser vorhandenen Nickel und Zink verfahren. Die sesshaften Tiere können diese aus dem Meerwassers filtrierten Bestandteile schlicht nicht anders loswerden, verpacken sie zu Kügelchen und lagern sie so ein. Spannend ist die Frage, welche biologische Funktion das Brom hat. Offenkundig ist es im Chitin eingelagert, das die Außenhaut der Rankenfüße bildet. Die Rankenfüße sorgen für eine gute Durchspülung der Mantelhöhle, also des Inneren des Seepockengehäuses. Eine mögliche Funktion des Broms ist daher, die Quervernetzung des Chitins zu verstärken. Die Haftfäden der Miesmuscheln Wattwanderer kennen die Muschelbänke, und manche fürchten sie sogar wegen der scharfkantigen Schalen. Faszinierend ist jedoch, wie sich die Miesmuscheln (Mytilidae) mit Haftfäden zu Tausenden aneinander kleben, sodass sie die Gezeiten im Verbund überstehen. Ablaufendes und auflaufendes Wasser mit seiner gewaltigen Strömung reißt an ihnen, der Schiffsverkehr braust über sie hinweg, aber ihr Kleber hält. Aus den schützenden Muschelschalen ragt ein muskulöser Fuß heraus, der einen starken Unterwasserkleber absondert. Dieser behält auch bei Ebbe, also an der Luft, seine Haftkraft. Der Kleber härtet in Form feiner Fäden (Byssusfäden) aus, die extrem dehnbar und reißfest sind. Bis zu 100 solcher Fäden halten die Muschel an Ort und Stelle. Chemiker aus München untersuchten diese Fäden näher, die auch als Muschelseide bezeichnet werden. Sie fanden heraus, dass sich das Material zum Teil selbst organisiert und so auch selbst reparieren kann. Bei an Land lebenden Spinnen sind die Drüsen, die die Spinnfäden absondern, gut untersucht. Den Muscheln gelingt Ähnliches unter Wasser, wobei der Aufbau des Byssusfadens komplexer als der der Spinnenseide ist. Bei der Muschel sitzen die Drüsen zur Fadenproduktion entlang einer Rinne im Muschelfuß. Sie produzieren kleine Vesikel, also von Membranen eingeschlossene Bläschen. Im Inneren tragen diese Vesikel verschiedene Komponenten für den Zusammenbau des Byssusfadens. Ganz ohne biologische

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Regulation geben die Drüsen keine glatten Fasern aus; diese brauchen äußere mechanische und chemische Reize, um sich zu gestreckten Fasern zusammenzulagern. Am Ende des Fadens ist eine kleine haftende Platte, die vor allem aus Proteinen besteht – sie müssen die hohe Haftkraft aufbringen. Der Faden selbst besteht aus einem Biopolymer: Lange, parallel ausgerichtete Moleküle wechseln sich mit Bereichen aus verknäuelten Strängen ab. Letztere sorgen für die Elastizität, während die gestreckten Bereiche den Faden zugfest machen. Auch die Hülle, später hart wie Epoxidharz, ist zunächst flüssig. Sie schützt von außen vor dem Einfluss des Salzwassers. Kleine knubbelige Bereiche auf der Außenhülle enthalten Einschlüsse, die körnig sind. Die harten Körner enthalten Eisenverbindungen, die verschiedene Molekülstränge verknüpfen. Sie stärken so die Kohäsion im Polymer. Im Zentrum ist jeweils ein Eisenatom, an das sich je drei Molekülstränge anlagern. Die Koordination übernimmt eine Aminosäure (L-DOPA, Abb. 4.5), die am Ende der polymeren Molekülstränge sitzt. Solche Verbindungen werden als Komplex bezeichnet, da sie energetisch günstig sind und somit stabiler als ähnliche Verbindungen ohne den koordinierten Aufbau rund um ein Eisenatom. Kommt es durch äußere mechanische Einflüsse zu einer Störung der Bindung, wird sie schnell wieder hergestellt. Der Komplex ist also einerseits sehr stabil, beim Verlust einer angelagerten Gruppe aber lagert sich andererseits schnell und flexibel eine andere L-DOPA-Gruppe an, sodass die Stränge sehr robust sind und sich selbst regenerieren. Die Schutzschicht wird flüssig aus den Drüsen abgegeben und erstarrt beim pH-Wert des Wassers (pH-Wert Kap. 5). So spielen die Formgebung durch die Rinne im Muschelfuß, die mechanische Verstreckung und chemische Außenreize zusammen, um einen komplexen Haftanker herzustellen (Abb. 4.6). Dieser Proteinklebstoff machte auch Forscher aus Berlin neugierig. Sie übertrugen das Erbgut für ein spezielles Enzym in Bakterien und fütterten diese anschließend mit einer Aminosäure. Bei letzterer handelt sich um eine geschützte Form von 3,4-Dihydoxyphenylalanin (L-DOPA), bei der

Abb. 4.5  Bis zu drei Moleküle L-DOPA (L-3,4-Dihydroxyphenylalanin) bindet das zentrale Eisen-Ion im Komplex, der die Stränge im Byssusfaden zusammenhält

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Abb. 4.6  Miesmuscheln halten sich mit Haftfäden am Untergrund fest. Die Haftplatten sind mit einem starken Unterwasserklebstoff ausgestattet, die Hülle schützt den Faden vor dem Meerwasser

die Schutzgruppe, also eine chemische Gruppe, die Aufgabe hat, die Klebewirkung vorerst zu verhindern. Erst wenn das Protein aus den Bakterien gewonnen, gereinigt und appliziert wurde, wird die Schutzgruppe durch Lichteinstrahlung entfernt und die Klebwirkung entfaltet sich. Ergebnis soll ein biologisch gut verträglicher Klebstoff sein, der Hautwunden schließt, Knochenbrüche fixiert oder auch Zahnimplantate hält.

Festgeklebt In der Natur sind also schon sehr ausgeklügelte Systeme zum Kleben und Haften zu finden, die auch Vorbild für technische Entwicklungen sind, ob nun bei der Haftnotiz oder der Nacherfindung von Kitt und Mörtel, wie sie die Seepocke schon lange verwendet. Eine besondere Haftwirkung wird auch im folgenden Kapitel eine Rolle spielen, wenn wiederum Fliegen und andere Insekten gefangen werden. Doch zunächst beginnt es wie im April mit einem ziemlich feuchten Boden.

5 Mai – Moose und Fliegenfänger im Moor

Exkursionen ins Moor sind vor allem im Mai beliebt, wenn an langen Stielen flauschige Schöpfe weißer Haare schwingen. „Das Moor blüht weiß im Mai“ heißt es dann oft, dabei tragen die Bausche bereits die Samen des Wollgrases, die durch die Haare mit dem Wind weitergetragen werden und sich schließlich mit Widerhaken neu ansiedeln. Die Blüte fand bereits im März statt. Die eigentlichen Landschaftsbildner sind Moose, die sich in weiträumigen Feuchtgebieten – zum Teil schon am Ende der letzten Kaltzeit – ansiedelten und zu Mooren entwickelten. Je nach Wasserversorgung werden Hoch- und Niedermoore unterschieden. Letztere entstehen beim Verlanden von Seen oder in der Nähe von Flussläufen (Abb. 5.1). Ein hoher

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Feil, Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59264-9_5

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Abb. 5.1  Niedermoore entstehen durch Verlanden von Gewässern oder hochquellendes Grundwasser. Erlen und Seggen sind frühe Begleitpflanzen

Grundwasserspiegel sorgt für eine gute Mineralienversorgung. Hochmoore entstehen hingegen durch gestauten Regen auf wasserdichten Böden, weshalb sie keine kontinuierliche Nährstoffversorgung haben. Mit welchen chemischen Tricks Pflanzen Nährstoffe aus dem Gestein unter Moorböden lösen oder aus tierischer Beute gewinnen, wird in diesem Kapitel vorgestellt.

Moorlandschaften – karg oder vielfältig? Nicht zuletzt durch die Funde von Moorleichen und Literatur wie Der Hund von Baskerville von Sir Arthur Conan Doyle werden viele Leser vor allem an Hochmoore denken, die heute besonders geschützt sind. Der Torf der Moore wuchs über viele Jahre zu dicken Schichten an, und diese Biomasse wurde schon früh von Siedlern als Rohstoffquelle entdeckt. Mit frischem Moos wurden Fugen abgedichtet, getrocknetes diente es als Brennstoff. Später kam die Verwendung als Pflanzerde, die zu einem so massiven Abbau führte, dass etliche Moore heute gefährdet sind. Bevor der industrielle Torfabbau begann, dehnten sich beispielsweise in Niedersachsen auf 6500 km2 Moorflächen aus. Davon sind heute nur noch

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rund 500 km2 übrig. Vor allem Hochmoore, die allein durch Niederschläge entstehen, bilden sich kaum noch neu. Doch gerade sie bieten den durch Moose geprägten faszinierenden Lebensraum. In Mooren wachsen häufig Heidekraut (Besenheide, Calluna vulgaris ), Glockenheide (Erica tetralix), Wollgras (Eriophorum), Binsen (Juncus) und Seggen (Carex). Sie wandern vor allem dann ein, wenn das Moor bereits einmal zum Torfabstich trockengelegt wurde. Selten sind Moosbeere (Oxycoccus palustris) oder Rauschbbeere (Vaccinium uliginosum) und der Gagelstrauch (Myrica gale) zu finden (Abb. 5.2). Ein ganz eigenes Thema, das weit von der Chemie wegführen würde, ist die Trockenlegung von Mooren, um Äcker, Weiden und Siedlungsflächen zu erhalten, aber auch, um das „Marschenfieber“ einzudämmen. Denn Mücken schätzen die Moore nahe den Küsten und in den Überschwemmungsgebieten entlang der großen Flüsse als Brutstätte und übertrugen bis ins 19. Jahrhundert die, heute nur noch als Tropenkrankheit bekannte, Malaria. Im stark betroffenen Ostfriesland benannte man die Krankheit nach ihrem Verbreitungsgebiet, dem Marschland. Eine erneute Epidemie erlebte Emden im Jahr 1918, und auch in den warmen Sommern nach Ende des Zweiten Weltkriegs tauchte das Fieber wieder auf. Die Feuchtigkeit macht Moore nicht nur für Mücken interessant. Um zu verstehen, warum Torfmoose (Gattung Sphagnum) eine so wichtige Rolle spielen, lohnt ein Blick auf ihre Entstehung. Nach der letzten Kaltzeit vor rund 15.000 Jahren taute Nordeuropa allmählich wieder auf. Wo die Böden nahrhaft waren, entstanden Waldgebiete. Wo Moränen in Senken endeten

Abb. 5.2  Hochmoor im Querschnitt

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oder schlicht wenig nahrhafte Böden vorlagen, bildeten sich Moore. Wie später noch erläutert wird, lösen Torfmoose Nährsalze aus dem Grundgestein zu und schaffen sich so eine für sie passende Umgebung. Die starke Durchnässung sorgt dafür, dass Torfmoose nur an den Spitzen wachsen und so dicke Matten bilden. Da die dicht an dicht stehenden Pflanzen immer weiter nach oben wachsen, wandeln sich die unteren, alten Pflanzenteile in eine licht- und sauerstoffarme Zone, ein Sediment: Sie sterben ab und vertorfen. Zusätzlich zeigen die Hochmoore meist saure Milieus, ihr pH-Wert liegt weit unter dem neutralen Wert 7. Zwar ist auch Regenwasser bereits leicht sauer, jedoch beeinflussen Torfmoose den pH-Wert gravierend. Typisch für Moorlandschaften sind schon seit Jahrhunderten Bohlenwege; dafür wurden Bohlen oder Rundhölzer aneinander gelegt, was dann eine sichere Passage ermöglichte. Moorboden sieht fest aus, doch an vielen Stellen sinkt der Fuß tief ein. Wo die Hölzer mit der Zeit versanken oder durch Moos überwachsen wurden, liefern sie heute noch Zeugnis aus längst vergangenen Zeiten. Die konservierende Wirkung der Moore belegen auch Moorleichen eindrucksvoll. Mit der Bronzezeit setzte in vielen Mooren der Torfabstich ein, um Brennmaterial für die Metallschmelze zu erhalten. Nicht nur in waldarmen Gegenden soll Torf dafür eingesetzt worden sein, da die Temperatur damit gut regelbar und konstant zu halten ist. Entsprechende Funde gehen sogar bis in die Eisenzeit zurück, und zwar dort, wo tatsächlich Torf gestochen wurde. Es gibt also gute Gründe, den Produzenten des Torfes einmal genauer zu betrachten.

Torfmoos Das Moor gäbe es nicht ohne Torfmoose (Gattung Sphagnum ), die wie ein Schwamm die Feuchtigkeit halten. Wer durch das Moor wandert, entdeckt einerseits kleine Erhebungen und andererseits an vielen Stellen Wasserlöcher. Letztere werden Schlenken genannt. Die Erhebungen, Bulten, sind trockener: dort können Gräser oder Binsen Fuß fassen. In den Schlenken sind die kleinen Blätter des Torfmooses zu sehen, die strahlenförmig vom Stiel abgehen. Wurzeln sind nicht erkennbar, denn dieses Moos wächst an der Spitze kontinuierlich weiter, und untere Pflanzenteile sterben schlicht ab. Moose mögenʼs sauer Das Torfmoos sorgt dafür, dass seine Umgebung immer saurer wird. Andere Pflanzen gedeihen kaum noch – mit Ausnahme einiger Sauergräser

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sowie Spezialisten wie dem Sonnentau (siehe weiter unten). Moospflanzen bestehen zunächst einmal nur aus einem Stängel, der fortlaufend nach oben wächst und kleine Blättchen trägt. Der Gedanke, dass die kleine Moospflanze ihre Umgebung verändert, liegt da nicht gerade auf der Hand. Doch das Moos ist ein weiteres Beispiel dafür, dass viele kleine Beiträge in der Summe großen Einfluss entfalten, ja in diesem Falle ganze Landschaften prägen. Denn Torfmoos nimmt Mineralstoffe auf und gibt Protonen ab, die den pH-Wert des Wassers senken. Der pH-Wert (Glossar) drückt auf einer Skala von Null bis vierzehn aus, wie viele Protonen (H+) in einer Lösung vorhanden sind, denn er gibt den negativen dekadischen Logarithmus der Wasserstoff-Ionen-Konzentration an, als Formel ausgedrückt: –lg (c(H3O+). Leitungswasser ist neutral, der Neutralpunkt hat pH7, es sind 10−7 mol/l Protonen gelöst, ausgeschrieben 0,000 000 7 mol/l. Je größer der Exponent wird, desto kleiner ist der Logarithmus. Anders gesagt, je mehr Protonen im Wasser gelöst sind, desto niedriger ist der pH-Wert und desto saurer das Milieu. Chemisch betrachtet sind Säuren Stoffe, die leicht Protonen abgeben. Die starke Salzsäure (HCl) zerfällt in Wasser fast vollständig in Protonen und Chlorid (Cl−), sodass die Konzentration der Protonen 0,1 mol/l beträgt – der pH-Wert ist 1. Das Wasser im Hochmoor wird natürlich auch davon beeinflusst, was für Böden darunter liegen. Annähernd werden pH-Werte von 3–5 gemessen, was deutlich im sauren Bereich liegt; somit überträgt Moorwasser leicht Protonen auf andere Stoffe. Das Grundgestein liefert aus der Tiefe Mineralien, kleine Mengen der gesteinsbildenden Salze lösen sich also im sauren Wasser. Die Moospflanzen nehmen sie auf, bauen sie in ihre Membranen ein und geben stattdessen Protonen ans Wasser ab. Der saure pH-Wert sorgt dafür, dass sich auch Salze lösen, die in normalem Regenwasser nicht löslich wären. Einerseits versorgen sich die Moose auf diese Weise gut mit Mineralsalzen, vor allem den Kationen jener Metalle, die in dem gesteinsbildenden Salz gebunden sind. Andererseits schwemmen sie im Austausch in so großem Maßstab Protonen aus, dass der pH-Wert ihrer Umgebung auf pH4 und darunter sinkt. Vor allem Calcium-Ionen (Ca2+) werden gespeichert. Um elektrisch neutral zu bleiben, findet ein physikalischer Austauschprozess statt: Zwei Protonen werden abgegeben. Eine sehr spezielle lokale Lebenszone entsteht. Nur wenige größere Tiere halten dem stand, etwa die Kreuzotter (Vipera berus) oder der Moorfrosch (Rana arvalis), beide besonders bzw. streng geschützte Arten. Die Männchen des Moorfrosches sind zur Paarungszeit, meist Ende März bis in den April hinein, leuchtend blau gefärbt. Hinzu kommen noch

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einige Vogelarten, darunter vom Aussterben bedrohte Arten wie Großer Brachvogel oder Birkhuhn und stark gefährdete wie der Kiebitz. Zurück zu den Moosen, die den Lebensraum so prägen. Es gibt Hunderte Arten von Torfmoosen, davon sind aber nur etwa 40 in Mitteleuropa heimisch. Je nachdem, wie nass der Untergrund ist und wie viel Niederschlag fällt, kommen vor allem sieben Arten in hiesigen Mooren vor, die sich aber mit bloßem Auge nicht ohne Übung unterscheiden lassen. Wie das Moos Wasser speichert Das Torfmoos hat spezielle Speicherzellen (Hyalinzellen), wodurch es sage und schreibe die dreißigfache Menge seines Eigengewichts an Wasser speichern kann. Während normale Pflanzenzellen Plasma und Chlorophyll enthalten, sterben die Hyalinzellen ab und bleiben zwischen Versteifungen als leere Zellhülle zurück. Sie können Wasser aufnehmen oder abgeben (Abb. 5.3). Bei großer Hitze verdunstet das Wasser allmählich und kühlt so

Abb. 5.3  Torfmoos. Wasserspeicherzellen im Blattgewebe und am Stiel begründen die hohe Wasseraufnahmefähigkeit

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die Moospflanze. Sobald wieder Wasser verfügbar ist, füllen sich die Speicher erneut. Durch die Vielzahl der Moospflänzchen entsteht eine starke Anhebung des Wasserspiegels im Moor, es kann sogar von Hubarbeit gesprochen werden. Der Wasserspiegel des Moores kann 10 m über dem der umgebenden Landschaft liegen. Zwar transportieren auch Bäume in ihrem Wasserleitsystem das Wasser von der Wurzel bis in die Baumspitze über weit mehr als 10 m, doch ist das im Vergleich einerseits zu der flächigen Ausdehnung des Moores und andererseits der nicht vorhandenen Struktur von Wasserkanälen innerhalb der Moospflanze fast weniger beeindruckend (Kap. 8, Wald). Die Röhren entstehen durch ein Zusammenrollen der Blättchen. Bei andauernder Trockenheit sind die Hyalinzellen nach einer gewissen Zeit sämtlich geleert und enthalten nur noch Luft. Die verbleibenden Zellwände verleihen den Pflanzen eine verblichene, weißliche Farbe, was den Beinamen Bleichmoos hervorbrachte. Wird das Moos von seinem Standort entfernt und trocknet aus, sind die leeren Wasserspeicherzellen wärmeisolierend. Vögel verwenden Moose generell gern für den Nestbau, da diese darüber hinaus sehr weich sind. Pro Jahr wachsen Moose in Norddeutschland 3–30 cm in die Höhe, wobei die Torfschicht viel langsamer anwächst. Hier können in 100 Jahren nur 8 cm angenommen werden. Vom Moos zum Torf Die einzelnen Torfmoospflänzchen stehen dicht an dicht und bilden feste Polster. Wächst die Pflanze nach oben, gelangt weniger Licht an den unteren Pflanzenbereich. Die Photosynthese verläuft nicht mehr optimal, und so spalten Enzyme das Chlorophyll auf; die Grundstoffe werden innerhalb der Pflanze umverteilt und in frischen Pflanzenzellen wird das Blattgrün erneut aufgebaut. Der untere Teil der Pflanze verliert die grüne Farbe, jedoch nicht sein Wasserleitvermögen. Erst mit der Zeit drückt das Gewicht der oberen, wassergesättigten Schicht die tiefergelegenen Schichten zusammen. Bereits in fünf Zentimetern Bodentiefe sind kaum noch Käfer oder Insekten zu finden. Einerseits steht Regen- oder auch Grundwasser sehr nahe bis zur Oberfläche und behindert so den Transport von Gasen wie dem lebenswichtigen Sauerstoff. Andererseits bewirkt der hohe Säuregehalt, mithin ein niedriger pH-Wert, dass sich auch abbauende Mikroorganismen nicht wohlfühlen. Diese Zersetzer, oder Destruenten, würden die Pflanzenfasern zu kleinen Molekülen abbauen. Sie benötigen allerdings Luft, um beispielsweise den Gerüststoff Lignin zu oxidieren. Bei dieser chemischen Reaktion werden Bindungen gespalten, und am Ende eines Stoffwechselweges geben

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die Organismen Gas wie Kohlendioxid oder Methan ab; Wasser und Salze werden frei. Dies wird Mineralisierung genannt und bildet zum Beispiel im Waldboden den letzten Schritt des Abbaus. Da nun im Moor in der abgestorbenen Moosschicht kaum Luftaustausch stattfindet, kommt es zum wesentlich langsameren anaeroben Abbau, dem Abbau in Abwesenheit von Sauerstoff. Dabei entstehen Huminstoffe, die eher ungenau klassifiziert sind als dunkel gefärbte, organische Substanz des Bodens. Wenn bei einer Moorwanderung das Wasser die einsinkenden Füße umspült, ist die dunkle Färbung augenscheinlich. Die Aufspaltung und der Abbau von Stoffen wie Lignin, Wachsen, Harzen und Gerbstoffen gelingt ohne Sauerstoff aber gar nicht. Daher besteht Torf neben den Huminstoffen aus Überresten von Pflanzen – überwiegend von Moosen, durchsetzt mit solchen von Gräsern, Heidekraut, Blättern –, Insekten, Käfern und anderem, was im Moor landete. Dazu zählen auch die Holzbohlen der Wege, Tierknochen oder Reste alter Kleidungsstücke etwa aus Wolle. Dieser Verlauf der Humifizierung liefert viel weniger Energie, was das langsame Tempo erklärt: Die beteiligten Reaktionen laufen nicht ohne weiteres ab. Der geringe pH-Wert bremst einerseits den biologischen Abbau, andererseits ermöglicht er auch chemische Reaktionen, die sonst nicht ablaufen würden. Der Gerüststoff Lignin ist ein Biopolymer, zusammengesetzt aus sehr vielen über Seitenketten verknüpften Kohlenstoffsechsringen. Da es nur wenige polare Bestandteile hat, ist Lignin wasserabweisend. Beim Abbau in Gegenwart von Sauerstoff wird dieser reduziert, nimmt also Elektronen auf, und die entstehenden Sauerstoff-Anionen (O2−) bilden mit Protonen Wasser. In der von der Luft abgeschlossenen Moosschicht hingegen reagieren andere Stoffe als Elektronenfänger; so kann Methan (CH4) aus Kohlenstoffverbindungen entstehen oder Schwefelwasserstoff (H2S) aus Schwefelverbindungen. In seltenen Fällen sammelt sich Methan an und gast dann spontan aus. Wenn es dabei zu einer Selbstentzündung kommt, brennt es mit schwach leuchtender Flamme – dies sind die „Irrlichter“ aus alten Erzählungen. Das Abstechen von Mooren befeuert die Humifizierung. Durch das nachwachsende Moos verdichten sich die darunter liegenden Schichten, dennoch speichert auch das abgestorbene Moos noch Wasser. Gelangt dann Luft an die humifizierten Moosreste, setzt der biologische Abbau ein und gibt Nährstoffe frei. Wird Torf Pflanzerde zugesetzt, speichern diese mehr Wasser. Allerdings setzt auch zugleich die Mineralisierung ein: Das torfbildende Moos zerfällt und gibt Nährstoffe an den Boden frei.

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Mumien und Flechten Nicht nur pflanzliche Fasern sind im Moor vor dem Abbau geschützt, auch ganze Körper von Tieren oder Menschen bleiben als Mumie oder „Moorleiche“ erhalten. Durch die Huminsäuren färben sich insbesondere die Haare charakteristisch rot – der „Rote Franz“ war zu Lebzeiten nicht unbedingt rothaarig. Bei der Mumifizierung werden vorhandene Mineralien herausgelöst und vom Moos aufgenommen, sodass Knochensubstanz abgebaut wird. Der noch härtere Zahnschmelz hingegen bleibt erhalten. Zwar presst der Druck der überwachsenden Moosschichten den Körper zusammen, doch blieb bei vielen noch die Körperhaltung und der Gesichtsausdruck erhalten. Im Großen und Ganzen kann davon ausgegangen werden, dass Leichen im Moor abgelegt wurden. Die Einsinktiefe reicht in der Regel nicht aus, um Menschen zu Tode kommen zu lassen. Gleichwohl gab und gibt es kleine Seen, sogenannte Mooraugen, in denen verirrte und entkräftete Menschen verunglücken konnten. Flechten Zu den Überlebenskünstlern im Moor gehören die Flechten. Je reiner die Luft ist, desto wahrscheinlicher siedeln sich Flechten an. Vor allem in den skandinavischen Mooren gibt es eine Vielzahl von Flechtenarten, in unseren Regionen sind es weniger. Sie zählen zu den typischen Moorbewohnern, die feuchte Luft, Kälte, ein geringes Nährstoffangebot und selbst Trockenperioden überstehen. Zum einen erobern sie die Bulten, die sich aus dem Moor erheben, zum anderen wachsen sie an den Rändern, wo Bäume stehen. Der Name Bartflechten veranschaulicht die Wuchsform dieser grünlich-grau herabhängenden Flechten. Auf Steinen können Krustenflechten Mineralien direkt erschließen. Blattflechten bilden zerfurchte, blattförmige Körper. Die auf Böden wachsenden Flechten können Becher bilden. Sie stehen stets in Konkurrenz zum schneller wachsenden Torfmoos. Lange Zeit war unklar, wie Flechten und Moose zu unterscheiden sind. Da sie wie Pflanzen aussehen und ähnlich wuchsen, galten sie als solche. Mittlerweile ist klar, dass Flechten eine Symbiose, ein Zusammenleben, aus Algen und Pilzen darstellen (Abb. 5.4). Die Flechtenpilze bilden das Gerüst, in das sich Algenarten einlagern. Da Pilze kein Chlorophyll enthalten, sind sie auf die von den Algen gebildeten Kohlenhydrate angewiesen. Diese wiederum profitieren von dem guten Gastaustausch, Schutz vor Trockenheit und Bereitstellen von Mineralien durch die Pilzfäden. Es können auch drei

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Abb. 5.4  Aufbau der Rentierflechte Cladonia rangiferina

Arten gleichzeitig eine Lebensgemeinschaft bilden – so gibt es viele Kombinationen, in denen jeweils Algen und Flechtenpilze vorkommen.

Sonnentau fängt Fliegen Unter den Begleitpflanzen der Moose findet sich außer einigen Flechten, Gräsern und Blumen auch der Sonnentau. Dieser schöne Name gilt einer fleischfressenden Pflanze, die es schafft, den Mangel an Nährstoffen durch die Verdauung von Insekten auszugleichen (Abb. 5.5). Um zu wachsen, brauchen alle Pflanzen Stickstoff, mit dem sie unter anderem Eiweiße herstellen. Pflanzen haben unterschiedlichste Möglichkeiten entwickelt, um an Stickstoff aus der Natur zu kommen, denn sie können ihn nicht direkt aus der Luft aufnehmen, sondern nur als Verbindung, die ihnen vor allem Bakterien zur Verfügung stellen. Kunstdünger mit Stickstoffverbindungen ist eine der wichtigsten Erfindungen der modernen Chemie. Wie aber decken Pflanzen in stickstoffarmen Gebieten wie Mooren oder Höhlen ihren Bedarf? Denn ganz gleich, ob es sich um Regenwasser handelt oder Quellwasser, das aus dem Fels tretend einen See in einer Höhle bildet: Biologisch verfügbare Stickstoffverbindungen fehlen. In Steinen sind selten Nitrate in Salzen eingebunden, und auch wenn Stickstoff (N2) zwei Drittel der Luft ausmacht, kann er doch nicht direkt aufgenommen werden.

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Abb. 5.5  Runder Sonnentau (© onathanfilskov-photography/Getty Images/iStock)

Der Sonnentau hat dafür eine außergewöhnliche Strategie entwickelt – er zieht seinen Stickstoffbedarf aus erbeuteten Insekten und nutzt dazu ausgeklügelte chemische Informationswege. Überleben in nährstoffarmer Umgebung Weltweit leben fleischfressende Pflanzen überall dort, wo es an Nährstoffen mangelt, also außer in Mooren auch auf Felsen oder im tropischen Regenwald. Ihr Lebensumfeld zeichnet aus, dass es über längere Zeiträume feucht und der Konkurrenzdruck durch andere Pflanzen gering ist. Obwohl diese Pflanzen durch ihr oft bizarres Aussehen Forscher schon seit dem Mittelalter faszinieren, rückten ihre biochemischen Fähigkeiten erst vor wenigen Jahrzehnten ins Blickfeld. Historisch wird der Sonnentau bereits in spätmittelalterlichen Kräuterbüchern wie den Inkunabeln aus dem Jahr 1493 von Matthaeus Platearius Salernitanus (1020–1161) erwähnt. Dabei standen mögliche Heilwirkungen im Fokus; die Vorstellung aber, eine Pflanze würde nicht von Tieren gefressen, sondern fange sie gar selbst, war schier undenkbar. Erst 1875 veröffentlichte Charles Darwin systematische Studien, die diese Tatsache behandeln. Die alten Texte empfehlen Sonnentau-Zubereitungen gegen Husten und Atemwegserkrankungen. Alkoholische Auszüge sollten das Herz stärken und

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der damit gefärbte italienische Likör „Rosoglio“ unter anderem aphrodisierend wirken. Auch sollte der Schleim bei Sonnenbrand lindern und Sommersprossen entfernen. Gehalten haben sich der rote Lebensmittelfarbstoff, der schon den Likör färbte, und die Zumischung zu Hustenmitteln. Heute werden Sonnentau-Arten als Zimmerpflanzen gehandelt. Die Pflanze steht bei uns unter Naturschutz und darf nicht im Freiland gesammelt werden. Die rund 800 fleischfressenden Pflanzenarten haben sehr unterschiedliche Fangvorrichtungen ausgebildet. Innerhalb der Familie der Sonnentaugewächse (Droseraeceae) gibt es drei Gattungen, von denen weltweit über 250 Arten vor allem in Australien, Südafrika und Brasilien bekannt sind. Zu ihnen zählt auch die Gattung Dionaea, die Venusfliegenfalle, die mit einem zur Klappfalle umgerüsteten Blatt auf Beutejagd geht. In Deutschland sind mehrere Sonnentauarten beheimatet, von denen der Rundblättrige Sonnentau Drosera rotundifolia am weitesten verbreitet ist. Klebefallen für Fliegen Die Blattrosetten des Sonnentaus bilden sich im Frühjahr neu aus einer Überwinterungsknospe, und im Mai schweben die Blütenstände mit kleinen weißen Blüten bis zu 20 cm über dem Torfrasen. Die runden Blätter der Blattrosetten selbst stehen auf kurzen Stielen und sind mit feinen roten Tentakeln überzogen. An deren Ende sitzen Tropfen eines Sekrets, was an Tau erinnert. Diese Fangvorrichtung des Rundblättrigen Sonnentaus ahmt eine Blüte nach, ist aber ein umgebildetes Blatt. Die Blüten stehen hingegen auf extra langen Stielen; so geraten die Bestäuber nicht versehentlich in die Klebfallen. Da das Torfmoos im Laufe des Jahres etwa 2 cm wächst, muss auch der Sonnentau neue Blattrosetten bilden. Die Stängel verrotten schwer und ermöglichen es, anhand der Blattrosetten-Schichten des Sonnentaus das Alter eines Moospolsters abzuschätzen. So lassen sich zehn bis zwanzig Jahre ablesen. Als Substrat bietet das Moos in erster Linie Halt und Feuchtigkeit, vor allem aber wenig Konkurrenz mit anderen Pflanzen. Einige Gräser wachsen noch, ansonsten gibt es Licht und Sonne – der Aufbau von Kohlenwasserstoffverbindungen aus den Produkten der Photosynthese macht Pflanzen schon fast autark. Jedoch benötigen sie vor allem Stickstoffverbindungen fürs Wachstum, und die erhält der Sonnentau, indem er Fliegen, kleine Schmetterlinge, Libellen oder auch Käfer erbeutet und verdaut. Seine Blätter sind zu Klebefallen umgebaut, an denen die Beute hängenbleibt. Hierbei spielen die feinen roten Tentakeln vor allem entlang des Blattrandes und auch auf der Blattoberseite eine große Rolle, deren Enden zu einem

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Köpfchen verdickt sind. Der abgesonderte, klebrige Schleim überzieht die gesamte Oberfläche, wodurch die Drüsenköpfe im Sonnenlicht wie Tau glitzern. Dies gab den Sonnentaugewächsen ihren Namen; auch der wissenschaftliche Name ist abgeleitet vom griechischen Wort drosos für Tau. Kommt ein Insekt damit in Berührung, ist es der Pflanze auf den Leim gegangen. Durch Zappeln können sich die Tiere nicht befreien, stattdessen kommen sie mit noch mehr Tentakeln in Berührung (Abb. 5.6). Diese neigen sich über die Beute. Während letztere im Schleim erstickt, beginnt die Verdauung. Der Fangvorgang mit der Klebefalle des Sonnentaus ist aktiv. Ein angelocktes Insekt wird durch den zähen Schleim am Blatt gehalten. Damit der Fangschleim klebt und verlockend süß duftet, enthält er neben Wasser vor allem Mehrfachzucker (Polysaccharide). Für die Produktion des Fangschleims wendet die Pflanze vier bis sechs Prozent der in der Photosynthese hergestellten Zucker auf (Abb. 5.7). Für sie gilt: Je mehr Stickstoff die Pflanze enthält, desto mehr Kohlendioxid kann sie in der Photosynthese

Abb. 5.6  Durch Zappeln haften immer mehr Fangfäden an der Fliege fest

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Abb. 5.7  Der Fangschleim des Sonnentaus enthält neben Gluconsäure verschiedene Zucker, hier in der offenkettigen Form dargestellt: Gluconsäure, Galactose, Xylose und Arabinose

binden. Also lohnt sich die Investition in den Fangschleim, um an den Stickstoff aus den Insekten zu kommen. Wer gefangen wird – ob Käfer, Florfliege, Mücke oder Schmetterling –, ist für die Pflanze nicht entscheidend. Je nach Größe und Kraft kann sich die Beute gelegentlich wieder losreißen. Wenn allerdings etwa Schmetterlinge saisonal einfliegen, sind sie manchmal so erschöpft, dass sie trotz ihrer Größe in den Fängen des Sonnentaus landen und verdaut werden. Die Drüsen auf den Blatt und den Tentakeln produzieren nicht nur zähen Schleim, um die Tiere zu fixieren und zu ersticken, sondern auch Verdauungsenzyme, um die Weichteile zu verflüssigen und aufzunehmen (Abb. 5.8). Die gelösten Nährstoffe werden wiederum durch die Membranen der Drüsenzellen aufgenommen. Doch auch in Phasen ohne Beute kommt ihnen eine wichtige Aufgabe zu. Da die Drüsen aus dem Schleim, der das Blatt überzieht, herausragen, sorgen sie für den Gasaustausch des Blattes. Bei der Photosynthese wird Kohlendioxid aus der Luft aufgenommen und produzierter Sauerstoff abgegeben; bei der Atmung in Dunkelheit ist es anders herum. Die Falle schließt sich Wie aber bewegt sich das Blatt beim Fangvorgang? Das Insekt bleibt am Fangschleim kleben und berührt dabei Tentakeln, die sich anheften und es einschließen. So entsteht die erste Fluchtbarriere für die Beute. Zugleich überzieht der Fangschleim das Beutetier, das darin erstickt. In den nächsten Stunden wölbt sich das Blatt, teils durch Bewegung, teils durch Wachstum, und bildet so eine Mulde, in welcher der Fang einsinkt.

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Abb. 5.8  Das Fangblatt des Sonnentaus ist mit Drüsen überzogen. Im Querschnitt der Tentakel sind zwei verschiedene Zelltypen zu erkennen, was die gerichtete Bewegung ermöglicht

Biologen unterscheiden zwischen verschiedenen Arten der Bewegung, wobei die Fallen des Sonnentaus eindeutig eine aktive Bewegung ausführen: Ein Reiz löst die Bewegung aus, die auf die unmittelbare Umgebung des erbeuteten Insektes begrenzt ist, und die Pflanze stellt die dafür benötigte Energie bereit. Die Tentakeln biegen sich innerhalb von Minuten um die Beute herum. Hier wird von einer hydraulischen Bewegung ausgegangen, während die langsamere Bewegung des Blattes zusätzlich durch das Wachstum der Blattunterseite hervorgerufen wird. Sichtbar ist also zunächst die schnellere Aktivität der Tentakeln, doch auch das Blatt selbst bewegt sich. Die Beugung der Tentakeln ist in erster Näherung vergleichbar mit der von langen dünnen Luftballons: Wird Luft in den Ballon gepumpt – oder Wasser in die Tentakeln – richten sich diese auf. Wird nun vorab ein Teil des Ballons versteift, kann er sich an dieser Stelle nicht so dehnen und an der

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beklebten Stelle entsteht ein Knick, sobald der Druck erhöht wird: Eine zielgerichtete Bewegung in Richtung Blattmitte ist vorprogrammiert. Hydraulische Bewegung Die Bewegung der Tentakeln entsteht dadurch, dass im Gewebe Wasser zwischen den Zellen und der extrazellulären Umgebung ausgetauscht wird. Im Fachjargon bezeichnet man das als hydraulische Bewegung. Der Vorteil einer hydraulischen Bewegung ist, dass sie durch das Ein- oder Auspumpen von Wasser grundsätzlich reversibel ist. Der Nachteil: Das Ganze kann relativ lang dauern – je nach Größe der Strukturen, die sich bewegen. Beim Sonnentau wird das Wasser der Zellen in der Zellwand reguliert. Die Zellwände sind dehnbar, wobei sie sich aus zwei Materialien zusammensetzen: Cellulose bildet lange Fasern, die teilweise verdrillt sind und so wie eine Spirale bei Druck gestreckt werden. Sie sind eingebettet in ein festes Gerüst aus Polymeren, die Polymermatrix. Ist die Zelle prall mit Zellsaft gefüllt, hat sie einen hohen Innendruck und ist steif; sinkt der Druck, nimmt die Steifigkeit ab – so wie bei welkenden Blütenstielen. Da die Tentakeln aus mehreren Zelllagen bestehen, kann so eine Richtung auch entstehen, wenn auf der dem Fang zugewandten Seite Wasser aus den Zellen der sogenannten Motorzellen gepumpt wird und auf der abgewandten Seite einströmt. Das Blattinnere wird aus dünnwandigen, unverholzten Parenchymzellen gebildet, die Außenseite aus kleineren Epidermalzellen (Kap. 3). Im Gegensatz zu sonstigen Zellwänden in Pflanzen sind die der Tentakeln nicht verstärkt, wodurch sie beweglich bleiben. Ihr innerer Druck (Turgor) wird durch den Zellsaft in den Vakuolen, einem zelleigenen Wasserspeicher, bestimmt. Je praller diese Speicher gefüllt sind, desto steifer wird die Zelle. Botenstoffe koordinieren den Wasserstrom Offenkundig tauschen sich die Zellen der Pflanze darüber aus, dass ihnen ein Insekt auf den Leim gegangen ist und nun festgehalten werden soll, bis es verdaut ist. Dabei spielt als Botenstoff der Informationsweitergabe das Pflanzenhormon Auxin eine wichtige Rolle. Einerseits wirkt es auf die Motorzellen in den Tentakeln ein, die Bewegungen auslösen, die später wieder aufgehoben und umgekehrt werden können. Gleichzeitig ist Auxin der Botenstoff, der eine dauerhafte, irrreversible, Verformung von Zellen auslöst – das Wachstum. Die Motorzellen der Tentakeln pumpen beim Kontakt mit Beute Protonen (H+) durch die Membran der betroffenen Zellwand ins Zellinnere.

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Dabei verbrauchen die Protonenpumpen den chemischen Energiespeicher ATP. Die Protonen-Konzentration in den Zellen ändert sich nun. Da Protonen positiv geladen sind, ändert sich auch das elektrochemische Potenzial zwischen Zellinnerem und Außenseite. Aus der Vakuole beginnen dadurch Chlorid-Anionen (Cl−) herauszuströmen. Zugleich versucht die Zelle, ihr ursprüngliches Potenzial wieder zu erlangen, indem sich Kanäle öffnen, durch die andere, nämlich Kalium-Kationen (K+), aus der Zelle herausströmen. Letztere sind entscheidende Signalgeber für den Wasserhaushalt in der Zelle. Mit dem Ausstrom der Kalium-Kationen verlässt auch Wasser die Zelle, die dadurch zusammensackt. Ein Straffen der Zelle erfolgt im umgekehrten Fall, wenn die Zelle Protonen herauspumpt. Dann öffnen sich andere Kanäle, die den Einstrom von Kalium-Kationen und Chlorid-Anionen in die Vakuole erlauben. Das begleitende Wasser lässt die Zelle anschwellen und sich versteifen. Ähnlich wie bei menschlichen Muskeln, wo fast jeder einen funktionellen Gegenspieler hat, können bei den Tentakeln die beschriebenen Effekte auf zwei Seiten der dünnen Zellstränge verteilt zur Biegung führen: Zellen auf der Beuteseite schrumpfen und jene auf der abgewandten Seite schwellen an, sodass sich die Tentakel an den Fang drückt. Das Blatt als offener Magen Im Blatt entsteht eine Mulde, was eigentlich verwunderlich ist, da die Beute bereits erstickt wurde. Die Mulde schützt jedoch vor Beuteraub: Andere Insekten, allen voran Moorameisen oder die aus Eiern von Schmetterlingen schlüpfenden Raupen, bedienen sich gern an den dargebotenen Vorräten. Geht zum Beispiel eine Fliege in die Falle, versucht sie zu entkommen. Das Zappeln des gefangenen Insekts drückt auf die Blattoberseite. Diese mechanischen Reize bewirken, dass das Pflanzenhormon Auxin eine Bewegung durch Wachstum in Gang setzt, die eine Mulde im Blatt bildet. Im ersten Schritt lockert sich die Zellwand, was irreversibel ist. Der Druck der Zellwand wird geringer, und mehr Wasser strömt in die Zelle und vergrößert so deren Volumen. Die Gerüststrukturen im Inneren der Zellen erlauben nur eine Streckbewegung. In der Mulde setzen Drüsen dann Enzyme zur Verdauung frei, sie sind der „grüne Magen“. Ein einzelnes Blatt kann mehrere Insekten gleichzeitig verdauen und entsprechend mehrere Mulden bilden. Hierin ist die Beute fest eingeschlossen, und die Verdauungssekrete können lokal wirken. Die verdauenden Enzyme verteilen sich in dem Fangschleim, der die Insekten überzieht, sodass sie in die Beute eindringen können. Der Chitinpanzer selbst wird nicht verdaut, sondern bleibt als leere Hülle übrig.

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­ ingegen lösen Proteasen die Proteine im Inneren der Insekten auf. Diese H Enzyme erkennen Aminosäuren, die zu Proteinketten verknüpft sind, und zerschneiden sie. Die Protein-Bruchstücke lösen sich im Schleim und können so von den Drüsen ins Blatt aufgenommen werden. Ein Fünftel des in der Pflanze enthaltenen Stickstoffs wird so aus den Aminosäuren der Insekten gewonnen. Unter den weiteren Verdauungsenzymen sind Phosphatasen, die auch den in den Proteinen enthaltenen Phosphor zugänglich machen – ein begehrter Nährstoff für die Pflanze. Die Verdauung beginnt punktuell, also an Ort und Stelle des Fangs, wobei auch mehrere Tiere gleichzeitig erbeutet und verdaut werden können. Dabei registrieren die Drüsen eine Änderung der Konzentration etwa von Ammoniak (NH4+), Harnstoff (H2NCONH2) oder Natrium-Kationen (Na+). Dies ist für sie der Reiz, Enzyme zur Verdauung auszuschütten. Die Protonen-Konzentration in der Falle sinkt dadurch um bis zu zwei Zehnerpotenzen. In einem Fachartikel formulierten die Autorinnen und Autoren eine griffige These zu der Frage, woher die Pflanze weiß, ob sich das Ausschütten von Enzymen lohnt und nicht etwa etwas Unverdauliches durch den Wind auf das Blatt getragen wurde, was im Leim hängen blieb. Da der Reiz schnell erkannt und analysiert werden muss, eignen sich kleine, gut erkennbare Moleküle, um die lohnende Beute zu identifizieren. In ihrer Not verlieren die Fliegen Kot, der bereits vorverdaute Stickstoffverbindungen enthält und sich leicht im wässrigen Schleim löst. Diese Stickstoffverbindungen gelangen mit dem Schleim zu den Drüsen auf dem Blatt und werden erkannt. Bevor die Pflanze also große komplexe Moleküle selbst zerschneiden muss, erkennt sie die Stickstoffquelle und erhält das Signal zur Produktion der verdauenden Enzyme aus den Exkrementen der Beute. Nach etwa vier Tagen ist von einer Fliege nur noch der Chitinpanzer übrig. Einige Sonnentau-Arten produzieren sogar Chitinasen, die das komplexe, und ebenfalls stickstoffhaltige Kohlenhydrat Chitin auflösen können. Es ist jedoch denkbar, dass diese Enzyme auch durch vergesellschaftete Bakterien und Pilze in die Analysen gelangten – diese Mikroorganismen besiedeln die Pflanzen, um ebenfalls vom Fang zu profitieren. Wie andere Fliegenfallen verdauen Auch bei der in den Mooren Nordamerikas lebenden Venusfliegenfalle wurde sehr genau untersucht, wie Stickstoffverbindungen aufgenommen werden. Dabei werden die Muskeln der Beute, die aus großen Proteinen

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bestehen, in Aminosäuren aufgespalten, um den darin gebundenen Stickstoff aufzunehmen. Die Venusfliegenfalle hat noch ein weiteres Enzym, welches aus der Aminosäure Glutamin gezielt Ammonium (NH4+) abspalten kann. So nehmen die Zellen zusätzlich zu den Bruchstücken von Proteinen auch Ammonium auf, was sehr geschickt ist, da dies direkt für den eigenen Stoffwechsel zur Verfügung und für den Aufbau von Aminosäuren bereit steht. Das Ausschütten des Enzyms ist somit zugleich das Signal für die Zelle, Ammoniumtransporter in der Zellmembran der Drüse in Position zu bringen. Bei der Aufnahme in die Zelle wird dann das positiv geladene Molekül gegen Protonen ausgetauscht, sodass die elektrochemische Spannung der Membran nicht verändert wird. Im Gegenzug steigt also der Anteil der Protonen im grünen Magen. Ähnlich wie im tierischen Magen hilft der saure pH-Wert beim Verdauen von Eiweißen. Wenn alle Nährstoffe aufgenommen sind, öffnet sich die Falle wieder und ist bereit für den nächsten Beutefang. Forscher sind fasziniert davon, so unmittelbar untersuchen können, wie Nährstoffe detektiert und an der Blattoberfläche verdaut werden. Sonnentau-Gewächse bieten Botanikern noch viele Facetten – beispielsweise die Mechanik der Venusfliegenfalle oder auch Sonnentau-Klebfallen mit Schnapptentakeln, die kleine Fliegen in die Blattmitte katapultieren. Die Zugänglichkeit von Stickstoffverbindungen ist auch für Bakterien und größere Schmarotzer interessant. Es gibt Falter, die ihre Eier auf Sonnentau-Blättern ablegen. Ihre Larven räubern dann die Beute der Pflanze und ernähren sich hiervon. Den natürlichen Lebensraum Moor haben sich also ausgeprägte Spezialisten erschlossen. Moose bauen eine Biomasse auf, die durch ihre Wasserspeicherfähigkeit als Pflanzerde begehrt ist. Fleischfressende Pflanzen, die sich Insekten als Stickstoffquelle erschlossen haben, und ein Bodenmilieu, das als eines der wenigen auch die Weichteile konserviert und so für die Archäologie wichtige Daten liefert, charakterisieren dieses Habitat. Wer Ende Mai durchs Moor wandert, sieht, wie sich die Blütenknospen den Rundblättrigen Sonnentaus über die klebrigen Blattrosetten erheben. Abzuraten ist von einer solchen Exkursion allerdings, wenn sich ein Gewitter am Himmel zusammenbraut. Zwar erinnert die dräuende Stimmung an Bilder Worpsweder Künstler, wie etwa Otto Modersohn, doch sollte angesichts der Energie eines Blitzeinschlags kein Risiko eingegangen werden. Im Mai beginnt die Gewittersaison – ihren Höhepunkt erlebt sie im Juni.

6 Juni – Gewitter waschen Pollen aus der Luft

Im Juni haben Gewitter Hochsaison. Manchem wird das Sprichwort für ein Verhalten bei Gewitter geläufig sein: „Buchen sollst du suchen, Eichen sollst du weichen“. Eichen haben lange Pfahlwurzeln und Buchen sind Flachwurzler – ist das der Grund? Sind es die Wunden von Blitzeinschlägen, die an alten Eichenstämmen zu finden sind? Eine langsam gewachsene Eiche hat kleine stabile Holzzellen gebildet. Zwar platzt ihre Rinde bei einem Blitzeinschlag auf, aber sie hat Chancen zu überleben, wenngleich diese Blitzrinne sie zeichnen wird. Buchen hingegen bilden keine so dicke Rinde aus und haben im Vergleich zur Eiche einen glatten Stamm. Ist das Gewitter von einem Regenguss begleitet, bildet sich auf ihren Stämmen ein Wasserfilm, der die elektrische Energie schnell ins Erdreich ableitet. So dringt der © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Feil, Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59264-9_6

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Blitz nicht so tief ein, und etwaige Spuren verschwinden, wenn die Rinde mit den Jahren die Rinde komplett erneuert wird. Die Rinde der Eiche hingegen ist rauer, sodass die elektrische Entladung nicht von einem Wasserfilm abgeleitet wird, sondern in die wasserführende Schicht unter der Rinde durchschlägt. Die enorme Energie lässt dort Wasser verdampfen und schlagartig entsteht ein Gasdruck, der die Rinde aufplatzen lässt. Tatsächlich ist es überhaupt keine gute Idee, bei Gewitter Schutz unter Bäumen zu suchen – ganz unabhängig von der Baumart. Richtig ist, dass Menschen bei Gewittern den Schutz von Gebäuden aufsuchen sollten, wenn es möglich ist. Sind sie im Freien, sollten sie sich zusammenkauern. Der mit dem Gewitter oft einhergehende Platzregen ist vielen Allergikern hoch willkommen, reißt er doch die in der Luft schwebenden Pollenstäube mit, auf die ihr Immunsystem so gereizt reagiert. Die sommerliche Luft, gewitterträchtig und pollenreich, soll Gegenstand dieses Kapitels sein.

Blitze In den Monaten Juni und Juli werden jeweils mehr als 10.000 Blitze in Deutschland gezählt. Gewitterreich sind auch Mai und August, doch die Hauptsaison sind eindeutig die Sommermonate. Gewitter werden meist von Starkregen begleitet. Auftrieb in warmen Wolken Wichtig ist die Schichtung der Atmosphäre und die Frage, wie hoch die Wettergrenze liegt. Im Frühjahr endet die Troposphäre, auch Wetterschicht genannt, bei 8 km Höhe. Über den Tropen erreicht sie bis zu 16 km Höhe. Die Grenze zur darüber liegenden Stratosphäre ist die Tropopause. Neigt sich die Erdachse im Sommer so, dass das Sonnenlicht auf kürzerem Weg und mit steilerem Winkel eintrifft, erwärmt sich die Atmosphäre auch über Europa stärker. Tropische Luftmassen erreichen den Norden und auch über Deutschland steigt die Tropopause bis auf 10–12 km Höhe, wodurch sich höhere Wolken bilden können (Abb. 6.1). Die warme und feuchte Luft steigt auf. Mit der Höhe sinkt die Temperatur stark, sodass sich die aneinanderstoßenden Moleküle im Wasserdampf zu feinsten Tröpfchen sammeln, also kondensieren. Dieses Aerosol bildet eine Wolke, in der die Tropfen aufsteigen und weiter abkühlen. Beginnen die Wassermoleküle zu gefrieren, geben sie Energie ab, sodass die Temperatur in der Wolke höher ist als in der Umgebungsluft: Die warme Luft steigt in der Wolke auf, sie erhält Auftrieb.

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Abb. 6.1  Atmosphäre im Sommer

Die Dynamik innerhalb einer Gewitterwolke wird durch ihre Höhe wesentlich beeinflusst. Je höher sie reicht, desto kühler wird die Umgebung. Als Folge beschleunigt der Auftrieb das Wasser als Aufwind auf bis zu 100 km/h. Durch Zusammenstöße wachsen die Tropfen oder in größeren Höhen auch Eiskristalle immer weiter zusammen, bis sie so schwer sind, dass sie innerhalb der Wolke herabsinken. Oftmals reißen Aufwinde sie erneut mit in die Höhe. Mächtige Gewitterwolken sehen so dunkel aus, weil die sich in unteren Bereichen ansammelnden Wassertropfen größer sind als bei Quellwolken (Abb. 6.2). Zugleich wird klar, weshalb Starkregen ein häufiger Begleiter von Gewittern ist. Natürlich verdunstet durch Wärme viel Wasser – und je wärmer das Wetter ist, desto eher kommt es zum Wärmegewitter. Blitz und Donner Blitze können wissenschaftlich als elektrisches Phänomen in der Atmosphäre beschrieben werden. Historisch wurden sie mit Göttern in Verbindung gebracht, wie dem altnordischen Thor, den die Germanen Donar nannten. In der Mythologie holpern seine Wagenräder laut über den Himmel, was als Donnern zu hören ist. Die Blitze entstehen durch seinen Hammer, der als Doppelkeil aus Stein gefertigt ist und Funken schlägt. So nähert sich Thor mit Blitz und Donner. Beim Gewitter fürchten wir heute meist die Schäden durch Blitzeinschläge, zum Teil durch elektrische Überlastung des Stromnetzes, zum Teil durch die enorme Wärmeentwicklung beim Einschlag.

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Abb. 6.2  Gewitterwolken reichen bis in die Troposphäre. Ein schwacher Strom fließt bereits ohne Gewitter, die Stromstärke eines Blitzeinschlags ist hingegen immens hoch

Gewitter kündigen sich zwar an, doch wo genau es donnern und blitzen wird, ist schwerer zu lokalisieren. In Gewitterwolken, Cumulonimbus genannt, kommt es zu einer starken elektrischen Aufladung. Nach dem Blitz folgt der Donner, entweder als kurzer Knall oder als dumpfes Grollen. Wer den zeitlichen Abstand durch einfaches Zählen der Sekunden ermittelt und die Zahl durch drei teilt, kann die Entfernung des Blitzeinschlags in Kilometern abschätzen. Das Licht bewegt sich schneller durch die Luft als die Schallwellen. Zum Vergleich: Das Licht des Blitzes ist praktisch sofort zu sehen, es bewegt sich mit 300.000 km pro Sekunde fort; der Schall kommt auf ungefähr 300 m also 0,3 km pro Sekunde. In drei Sekunden kommt der Schall etwa einen Kilometer weit. Wenn also die zwischen Blitz und Donner verstrichene Zeit durch drei geteilt wird, kommt die ungefähre Entfernung des Gewitters heraus.

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Blitzfänger Die wissenschaftliche Erforschung von Blitzen begann mit Benjamin Franklin (1706–1790), dem nachgesagt wird, mit elektrisch leitenden Drachen während Gewittern experimentiert zu haben. Der Gründer der ersten freiwilligen Feuerwehren Amerikas erkannte jedenfalls, dass diese Phänomene den elektrischen Funken im Labor glichen. Seine wissenschaftlichen Beobachtungen um das Jahr 1750 herum gaben ihm den Anstoß für die Erfindung des Blitzableiters. Dieser sollte die elektrische Entladung der Blitze außerhalb von hohen Gebäuden ins Erdreich abführen. Später, im Jahr 1776, war Franklin als einer der Gründerväter der USA Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung. Die frühen Forscher bewegte die Frage, ob Blitze nicht auch zur Stromversorgung genutzt werden könnten. Die Stromstärke zu messen, gelang erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Thema wurde wichtiger, als sich die Luft- und Raumfahrt weiterentwickelten. Aktuell sind es die Satelliten und das terrestrische Funknetz, die durch Blitzeinschläge (oder auch Sonnenwinde, um die später gehen wird) beeinflusst werden. Spannung „liegt in der Luft“ Physikalisch betrachtet gibt es ein permanentes Spannungsfeld zwischen Erdoberfläche und Atmosphäre. Die auftreffende Sonnenstrahlung lässt in der Ionosphäre, einer der Schichten der oberen Atmosphäre in einer Höhe von 100–200 km, etwa eines von Tausend Gasmolekülen zerfallen. Vor allem die UV-Strahlung wird so herausgefiltert. Die Moleküle geben Elek­ tronen ab und bleiben als positiv geladene Kationen zurück. Geladene Atome oder Moleküle werden allgemein als Ionen bezeichnet, was der Luftschicht ihren Namen gab. Stoßen Elektronen und Kationen zusammen, können sie sich wieder vereinigen oder rekombinieren. In Summe fließt permanent ein schwacher Strom, oder anders gesagt: Zwischen Erdboden und Atmosphäre bewegen sich stets geladene Teilchen. Beim Gewitter sind die Entladungen lokal viel größer. Weltweit finden zu jeder Zeit etwa 2000 Gewitter statt, und je Sekunde schlagen 100 Blitze ein. Verschiedene Prozesse tragen zur elektrischen Aufladung der Gewitterwolken bei. Eine noch offene Frage ist, wie die Elektronen im Blitz beschleunigt werden. Durch Reibung geschieht in der Luft Ähnliches wie mit Plastiksohlen auf einem Wollteppich: Die Schuhe reiben über den Teppich und lösen Elektronen aus den Wollfasern. Diese sammeln sich als elektrische Ladung an, und wo eine elektrische Ladung im Raum vorhanden ist, wird von einem elektrischen Feld gesprochen. Die Luft zwischen Erdoberfläche und Wolken ist ein guter Isolator. Mit Erreichen der sogenannten

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Durchbruchfeldstärke wird die Luft jedoch leitend. Die Spannung wird so hoch, dass das elektrische Feld den Isolator durchbricht: Elektronen fließen und es kommt zur Entladung, einem Spannungsdurchschlag. Kleine „Blitze“ entstehen auch, wenn die Isolationsschicht zu dünn wird, etwa wenn jemand elektrisch aufgeladen eine Türklinke anfasst – oder einen anderen Menschen. Im Inneren der Wolken sorgen beispielsweise kleine Eiskonglomerate, die Graupelkörner, für Reibung. Ihre Oberfläche lädt sich negativ auf – vermutlich stammen die Elektronen aus den Sauerstoffmolekülen der Luft und kleineren Eiskristallen. Die leichteren, positiv geladenen Eiskristalle strömen mit Aufwinden in höhere Bereiche der Wolke, während sich negativ geladene Wassertropfen und Graupel im unteren Bereich ansammeln. Allerdings ist das elektrische Feld, das sich innerhalb der Wolke aufbaut, zu schwach, um eine Entladung durch die noch immer elektrisch isolierende Luft aufzubauen. Das Spannungsfeld baut sich auch gegenüber der Erdoberfläche auf. Der Spannungsunterschied muss gewaltig sein, um die elektrisch isolierende Schicht zu durchbrechen. Daher ist ein Blitz eine lokal beschränkte Entladung – so wie Funken sich am ehesten an einer Spitze lösen. Was genau den Blitz auslöst, kann die Forschung noch nicht beantworten. In der Gewitterwolken sammeln sich Elektronen an Die kilometerhohe Wolke birgt eine komplexe Physik, die noch nicht ganz verstanden ist. Ins Innere der Gewitterwolken blickte eine internationale Forschungsgruppe bei einem Blitz am 29. September 2017. Das Projekt LOFAR (Low frequency array) hat über mehrere Länder verteilt tausende Antennen aufgestellt, die zusammen wie ein riesiges Radioteleskop eine hohe räumliche und zeitliche Auflösung erlauben. In Blitzen erzeugt die beschleunigte elektrische Ladung eine elektromagnetische Strahlung in einem breiten Frequenzband. Radiofrequenzen im Messbereich von 30–80 Megahertz (MHz) lassen sich mit dem LOFAR aufzeichnen. Ein Blitz ist eine gigantische elektrische Entladung in weniger als einer halben Sekunde: Aufgestaute Ladung durchschlägt ein wenig leitfähiges Medium, die Luft. Da die Entladung sich nicht radiär ausbreitet, muss zuvor ein Luftkanal ionisiert werden, um einen Leitkanal zu bilden. Das kostet viel Energie – wie also bildet sich der ionisierte Leitkanal? Der Blitzschlag beginnt in Etappen: Zunächst trennt sich die Ladung auf, am Startpunkt trennen sich zwei ionisierte Kanäle mit einem positiven Ende und einem negativen. Die Richtung ist dabei nicht vorgegeben. Freie Elektronen bewegen sich leicht, die schwereren positiv geladenen Ionen sind

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nicht so beweglich. Wenn sich im Leitkanal freie Elektronen ansammeln, steigt am negativen Ende die Spannung an. Das beschleunigt dieses Ende und es gibt stufenweise Pulse hochfrequenter Strahlung ab, wodurch wiederum Elektronen aus den umgebenden Molekülen freigesetzt werden. Das positive Ende setzt sich langsamer fort und sendet nur wenig Strahlung ab. Noch ein Phänomen ist bei der Betrachtung wichtig: Der elektrische Widerstand der ionisierten Luftkanäle ist nicht konstant und steigt stark an mit abnehmenden Stromfluss. Dies provoziert den Abbruch des Stromflusses im positiven Leiter, was gleich noch aufgegriffen wird. Wie komplex auch für Expertinnen das Geschehen ist, fasst Anna Nellen von der Universität Erlangen-Nürnberg im Gespräch zu dem Artikel1 des Teams zusammen. „Der Kern unseres Problems mit Blitzen: wir wissen nicht genau wie alles im Detail funktioniert. Manche Dinge erscheinen logisch und stellen sich dann experimentell als falsch heraus. Manche Dinge sehen wir in der Beobachtung, finden aber keine schlüssige Erklärung. Er war bis vor unserem Artikel völlig unklar, wie sich postive Leader ausbreiten. Es gab konkurrierende Modelle, die aber auch alle nur mäßig zufriedenstellend waren. Erst durch die Beobachtung mit LOFAR können wir nun einen Teilaspekt erklären, aber leider noch lange kein vollständiges Modell liefern.“ Senkrecht zum positiven Hauptkanal entwickeln sich kleinere Kanäle, sogenannte Nadeln. Mit der nun erreichten hohen Auflösung konnte gezeigt werden, dass eine der positiv geladenen Nadeln 70 m lang und an der engsten Stelle weniger als 5 m weit war. An der Spitze des positiv geladenen Kanals lösen sich Elektronen von umgebenden Molekülen und wandern ins Innere. Dadurch kehrt sich das elektrische Feld partiell um: wann immer sich eine kritische negative Ladung angesammelt hat, schlagen Elektronen aus dem Kanal heraus und bilden senkrecht abstehend einen schmalen Kanal. Das kurze Aufleuchten oder Flackern ist der Durchschlag negativer Ladung, verbunden mit dem Abzug von Ladung in die negativ geladene Nadel. Im 2017er-Blitz bildeten sich rund 80 Nadeln entlang des positiven Leiters. Die Theorie ist, dass die in den Nadeln gespeicherte Ladung nach einer Entladung der Wolke zurück in den Leitkanal fließt und zu einem zweiten, folgenden Blitz führt. So kommt es aus derselben Wolke zu mehrfachen Blitzeinschlägen. Meist ist es der schnellere, elektronenreiche, negative Kanal, der einen ionisierten Kanal zur Erde bahnt, zugleich kommt von hier ein positiv 1Hare,

2019.

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geladener Kanal entgegen. Treffen diese Kanäle aufeinander, kommt es zum Kurzschluss, der sich den Leitkanal hinauf fortsetzt, die Luft erhitzt und zum sichtbaren Blitz führt. Vom Durchbruch zum durchschlagenden Blitz Bislang wird angenommen, dass die Elektronen beim Durchtritt durch die Luft auf Moleküle in der Atmosphäre stoßen und sich ein Kanal mit ionisierten Luftmolekülen bildet. Die Reibung und die Zusammenstöße bremsen die Elektronen, weshalb ein Teil der Energie als Röntgenstrahlung frei wird. Diese gestuften Vorentladungen durchqueren Teilstücke mit einer Länge von einigen Zehnmeterschritten. Die abgeflossenen Elektronen sammeln sich nach einer Teilstrecke an deren Front und bauen ein neues elektrisches Feld auf. An den Fronten der Teiletappen kann sich der Blitz auch verzweigen. Innerhalb von 20 ms baut sich ein Entladungskanal auf. Sie kommen der positiv geladenen Erdoberfläche näher, was sie beschleunigt. Am Boden verstärkt sich derweil die positive Ladung. Insbesondere Turmspitzen oder auch Bäume wirken wie Antennen; von ihnen richten sich positiv geladene „Spitzenentladungen“ dem Leitblitz entgegen. Sobald der Leitblitz die Erdoberfläche oder eine Spitzenentladungen erreicht, kommt es zum Kurzschluss und der eigentlichen Hauptentladung, dem Blitz. Neben dieser konventionellen Erklärung einer Entladung durch einen gebahnten Kanal gibt es die „Runaway“-These. Oberhalb einer bestimmten Geschwindigkeit werden die Elektronen viel schneller als eigentlich zu erwarten wäre. Diese Runaway-Elektronen werden nicht mehr durch den Luftwiderstand gebremst. Diese „Ausreißer“-Elektronen sammeln sich in der Wolke an und brechen wie eine Lawine aus. Nach einem etwa 50 m langen Teilstück sammeln sie sich, addieren ihre Feldstärke und beschleunigen sich erneut. So bahnen sich die Elektronen ihren Kanal zur Erde. Ist der ionisierte Leitkanal aufgebaut, kommt es zur Hauptentladung, der weitere Teilentladungen folgen können. Zu sehen ist der Hauptblitz, weitere Entladungen erscheinen als Flackern. Beim Erreichen des Bodens entsteht ein Kurzschluss mit einem heftigen Strompuls. Die hohe Stromdichte sorgt für eine Wärmeentwicklung, welche die Luft im Entladungskanal auf 20.000 bis 30.0000 ℃ erwärmt, weshalb sie sich schlagartig ausdehnt. Die Druckwelle ist als Donner hörbar, der zu den lautesten Geräuschen auf der Erde zählt. Je näher man der Schallquelle, also dem Entladungskanal alias Blitz ist, desto schärfer ist das akustische Signal als lauter Knall zu hören. Die Schallwellen breiten sich in alle Richtungen

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aus, und mit der Entfernung verwischt das Signal echoartig zu einem dumpfen Grollen. Weiter als 25 km ist die Entladung nicht zu hören. Wenn von Teilchen der Luft die Rede ist, handelt es sich überwiegend um die Gasmoleküle, aus denen sich die Luft zusammensetzt, wie Stickstoff, Sauerstoff, Kohlendioxid und Wasser. Sie nehmen durch die Zusammenstöße Energie auf, etwa indem Elektronen auf höhere Energieniveaus katapultiert werden. Der Zustand ist instabil, sodass die Elektronen Energie als Licht abstrahlen und ihr Grundniveau wieder einnehmen. Daher die Leuchterscheinung – wie in einer Leuchtstoffröhre. Zugleich transportiert ein Blitz aus einer Wolke wie beschrieben eine hohe negative Ladungsdichte. Diese „schlägt“ auf der Erde ein. Beim Ladungsausgleich zwischen Wolke und Erde werden bei einer für die Wolke angenommenen Höhe von 3 km Stromstärken von 30.000–250.000 A übertragen (Abb. 6.2). Da dies in Sekundenbruchteilen geschieht, liegt die Geschwindigkeit bei 100.000 km pro Sekunde – einem Drittel der Lichtgeschwindigkeit. Hausleitungen sind in Deutschland meist auf rund 63 Ampere (A) ausgelegt. Diese Stromstärke wird auf mehrere Leitungen verteilt, sodass die Sicherungen 16 A aushalten und bei Überspannungen herausspringen. Nur sind die meisten Sicherungen langsamer als der Blitz. Selbst in einiger Entfernung zum Blitzeinschlag kann die Überspannung so hoch sein, dass moderne Telekommunikationsanlagen und Stromnetze beeinträchtigt werden. Können sich die Wolken auch untereinander entladen? Es gibt durchaus Blitze zwischen Wolken und ebenso solche, die in die Stratosphäre und darüber hinausgehen, wie die „Kobolde“ und „Red Sprites“. Von den Entladungen zwischen Wolken ist in Bodennähe oft nicht einmal ihr Donner zu hören. So zählen sie neben weit entfernten Gewittern zu dem Phänomen des Wetterleuchtens.

Plasma Das Charakteristikum eines Plasmas ist die Ionisierung. Neben den drei klassischen Aggregatzuständen fest, flüssig und gasförmig bildet das Plasma eine gasförmige Phase mit hoher Energie und wird physikalisch auch als vierter Aggregatzustand bezeichnet. Die Energie kann durch die Wechselwirkung mit Photonen übertragen werden. Nach außen ist das Plasma elektrisch neutral weil neutrale Teilchen angeregt werden, Elektronen abzugeben und es danach im Plasma genauso viel negative Elektronen wie positive Kationen gibt. Die Beweglichkeit der positiv geladenen Teilchen und

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natürlich der Elektronen ist hoch, und damit auch die Leitfähigkeit des Plasmas. Damit geht einher, dass im Plasma ein Magnetfeld erzeugt werden kann. Soweit die physikalische Beschreibung. In der Natur findet man Plasmen beim Blitz oder in der Atmosphäre. Im Weltall gibt es sowohl im interstellaren Raum Plasmen als auch im Inneren der Sterne. Bevor hier der Blick in die Atmosphäre wandert, sei noch kurz die desinfizierende Wirkung erwähnt. Um etwa Wunden, aber auch trockene Hände wirksam zu desinfizieren, kann „kaltes“ Plasma genutzt werden. Die hochenergetischen Teilchen treffen auf die Mikroben, also Bakterien, Pilze und Viren, die auf der Haut sind. Sie schädigen deren Membranen, was sie unschädlich macht. In die Haut jedoch dringen die Teilchen nicht tief ein. Das Plasma wird erzeugt, indem ein starkes elektrisches Feld auf ein Gas einwirkt und Elek­ tronen aus den Atomen herauskatapultiert. Weitere technische Plasmen werden in Fusionsreaktoren erzeugt, außerdem bei Gasentladungen in Lampen wie den Leuchtstoffröhren – umgangssprachlich auch Neonröhren genannt – und Xenonscheinwerfern von Autos. Der Lichtbogen entsteht durch die Gasentladung, bei der ein zuvor ionisiertes Gas rekombiniert. Die dabei freiwerdende Energie wird umgewandelt in Strahlung, also Licht. Beim Schweißen hingegen wird die Strahlung in Form von hohen Temperaturen genutzt, ebenso beim Einschmelzen von Stahlschrott zum Recycling. Doch nun zu einem besonders eindrücklichen Plasma: den Polarlichtern in der Atmosphäre.

Polarlichter Mitten im Sommer an Polarlichter denken, die über verschneiten Flächen im hohen Norden in Skandinavien oder Kanada pulsieren? Nun, mit den Blitzen der Sommergewitter eint sie, dass sich die Leuchtphänomene in einem Plasma ereignen. Die Leuchterscheinungen bilden Bänder, Bögen, Coronae und Vorhänge in den Farbtönen von rot und blau bis grün. Zugrunde liegen dem Schauspiel Schwankungen im Erdmagnetfeld und natürlich die Sonnenaktivität. Partikel im Sonnenwind werden durch das Wechselspiel mit dem Erdmagnetfeld in Polarnähe stark beschleunigt und gelangen auf spiralförmigen Bahnen in die Luftschicht der Thermosphäre. Ionosphäre und Thermosphäre überschneiden sich größtenteils. Die Thermosphäre ist nach ihren Temperatureigenschaften benannt. Zwischen etwa 100 und 500 km in der Höhe nimmt die Temperatur konstant zu. Darüber schwankt sie, darunter durchläuft sie ein Minimum.

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IR [nm]

UV 780

700

600

500

380

Abb. 6.3  Lichtspektrum des Sonnenlichts. (© natros/Fotolia)

Die Ionosphäre liegt oberhalb der Ozonschicht, und die von der Sonne eintreffende Strahlung lässt dort Gasmoleküle in Ionen zerfallen: Aus einem elektrisch ungeladenen Molekül werden gegensätzlich geladene Bruchstücke. Andere Moleküle geben Elektronen ab, die durch die Strahlung so viel Energie aufnehmen, dass sie für eine Bindung im Molekül zu stark angeregt sind. Die Sonnenstrahlung umfasst ein breites Spektrum (Abb. 6.3). Das sichtbare Licht liegt zwischen Ultraviolett-Strahlung und Infrarotlicht. Die Atmosphäre fängt die Röntgenstrahlung ab, die besonders in der Ionosphäre wirksam wird. Der Sonnenwind hingegen ist ein Partikelstrom. Die Energie der Sonne entsteht durch Kernfusion, also durch die Verschmelzung von Wasserstoffatomen zu Heliumatomen. An der Oberfläche der Sonne kommt es bei den extrem hohen Temperaturen immer wieder zu Gaseruptionen, bei denen ein Teil des Gases mit hohen Geschwindigkeiten ins Weltall geschleudert wird. Hauptsächlich handelt es sich um Wasserstoffatome sowie Protonen und Elektronen. Letztere entstehen dadurch, dass jeweils ein Wasserstoffatom ein Elektron abgibt. Der Atomkern des Wasserstoffatoms ist positiv geladen und heißt Proton. Daneben sind noch Alphateilchen aus radioaktiven Zerfällen enthalten, die Heliumkerne, die aus zwei Protonen und zwei Neutronen, den ungeladenen Kernbausteinen, entstehen. Diese Gasteilchen bewegen sich mit 200 bis 3000 km pro Sekunde. Auf Materie, die mit diesen energiereichen Teilchen zusammenstößt, wird viel Energie übertragen. So wie uns die Atmosphäre der Erde vor Strahlung schützt, schirmt uns ihr Magnetfeld gegen Partikel ab (Abb. 6.4). Wo immer sich geladene Teilchen bewegen, erzeugen sie nicht nur einen elektrischen Strom, sondern zugleich ein Magnetfeld. Jedes Magnetfeld wiederum bildet Feldlinien, die sich von Pol zu Pol spannen. Um die Erde herum verlaufen sie also gekrümmt. Der auftreffende Sonnenwind beeinflusst nun seinerseits das Erdmagnetfeld und wird selbst abgelenkt. Der Äquator ist der Sonne am nächsten, somit spannt sich das Magnetfeld hier wie ein weiter Bogen um die Erde. Der auftreffende Sonnenwind staucht diese Bögen etwas, wird aber vor allem seitlich zu den Polen gelenkt. Daher gelangen die Teilchen nahe dem Nordpol und dem Südpol in die Atmosphäre. Auf der von der Sonne

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Abb. 6.4  Sonnenwind und Magnetfeld der Erde

abgewandten Seite strecken sich Magnetfeldlinien zum Schweif aus. Schließen sich die offenen Enden der Feldlinien wieder zum Bogen, transportieren sie vorhandene Teilchen mit in die Atmosphäre. Die Thermosphäre enthält relativ wenige Gasteilchen, darunter jedoch viele, die durch die Sonnenstrahlung bereits in geladene Teilchen zerfallen sind. Da es insgesamt wenige Teilchen sind, ist der Abstand unter ihnen so groß, dass sich nach Abgabe der Energie die entgegengesetzt geladenen Teilchen wieder zusammenlagern. Wenn nun also zusätzlich noch Energie übertragen wird, ist die Lebensdauer zum Beispiel des hoch angeregten Sauerstoffs länger als in Gasen, wo er durch Zusammenstöße mit Nachbaratomen oder Molekülen Energie abgeben kann. Stattdessen bleibt der Ausweg, durch Lichtemission Energie abzugeben. Diese Leuchterscheinungen sind Schwingungen hoher Frequenz, die für den Menschen im sichtbaren Bereich liegen. Die Farben verraten uns, welches Element da gerade in welcher Höhe zu viel Energie hat. Grüne Farben entstehen, wenn Sauerstoffmoleküle in etwa 100 km Höhe in Sauerstoffatome zerfallen und sich wieder zum Molekül vereinen. Ohne diese Rekombination und in bis zu 200 km Höhe strahlen die Sauerstoffatome rotes Licht ab. Stickstoffmoleküle zerfallen seltener in ihre Stickstoffatome. Wenn sie es doch tun, leuchten sie in Farben von blau bis violett beim Abgeben der überschüssigen Energie, sobald sie sich erneut als Molekül vereinen. Wie gut ein einzelner Mensch ein Polarlicht sieht, ist sehr individuell. In der Regel ist das menschliche Auge sehr sensitiv für

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grünes Licht, sodass grüne Polarlichter schon gesehen werden, wenn sie nur schwach leuchten. Relativ selten sind rote Polarlichter zu sehen. Sie entstehen in sehr hohen Luftschichten, wo der Sauerstoff nicht mehr als Molekül vorkommt, sondern nur noch als einzelnes Atom. Vor allem bei starken Sonnenwinden kommen zudem auch auf der von der Sonne abgewandten Seite hochenergetische Partikel in die Atmosphäre. Sie stoßen auf Sauerstoffatome und versetzen diese in einen angeregten Zustand. Statt wie bei den schnellen Übergängen in der Ionosphäre grün zu leuchten, wird die Energie langsamer abgegeben. Es gibt weniger Zusammenstöße mit Nachbarn, sodass der angeregte Zustand länger stabil ist und der Grundzustand langsamer wieder eingenommen wird. Daher wird auch Licht mit einer größeren Wellenlänge abgestrahlt: Es leuchtet rot. Wer einen Faible für Fachausdrücke hat, kann nomenklatorisch noch die Polarlichter im Norden, Aurora borealis, von jenen am Südpol, Aurora australis, unterscheiden.

Es liegt was in der Luft: Staub und Pollen Vom kosmischen Staub zurück zum irdischen. In der Atmosphäre mischen sich in der trockenen Luft vor allem die drei Gase Stickstoff, Sauerstoff und Argon. Rund 0,1 % sind Spurengase wie Kohlendioxid, Methan, Ozon, Schwefeldioxid und Stickoxide. Je nach Luftfeuchtigkeit kommt ein entsprechender Wasseranteil hinzu, der zwischen einem und fünf Prozent der Gesamtmasse ausmacht. Da auch noch feste Staubteilchen durch Winde aufgewirbelt werden, bildet sich in der Atmosphäre ein Aerosol. Dieser Begriff bezeichnet die Mischung feiner Tröpfchen und Feststoffe in einem Gas. Schweben Staubpartikel in der Luft, sind sie sehr klein und mithin leicht. In einem Kubikmeter Luft liegt ihr Gewicht im Bereich von Mikrogramm, also Millionstel Gramm (1 μg = 0,000001 g). Selbst große Staubpartikel sind noch so klein, dass wir sie unter dem Mikroskop nicht erkennen können und mindestens eine rasterelektronische Aufnahme benötigen. Erst wenn sich die Partikel zusammenlagern, werden sie als Staubschicht sichtbar. In der Luft vorhandener Staub wird mit dem Regen ausgewaschen. Größere Partikel, die größer als einen Mikrometer (μm) sind, sinken von selbst wieder zu Boden. Sie bleiben nur dann in der Atmosphäre, wenn sie durch Sandstürme oder Vulkanausbrüche in höhere Atmosphärenschichten geschleudert werden. Auf diese Weise gelangt beispielsweise immer wieder

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Sand aus der Sahara bis nach Norddeutschland. Als weitere natürliche Quellen kommen Pollen von Pflanzen und Salze aus dem Meer hinzu. Die Luft über polaren Regionen enthält in der Regel weniger als 100 Partikel je Kubikzentimeter, über dem Ozean sind es schon 1000 Partikel. Auf dem Land sind es im Schnitt 10.000 und in der Stadt 100.000 Partikel pro Kubikzentimeter Luft. Rund zehn Prozent der Partikel kommen durch menschliche Einflüsse in die Luft. Quellen sind neben der Industrie vor allem der Verkehr und die Verbrennung von Kraftstoffen. Generell wird unterschieden zwischen primären und sekundären Partikeln. Primäre kommen direkt als Abrieb oder Aufwirbelung in die Luft und sind mit mehr als 2 μm relativ groß, wie Bodenstaub und Ruß. Sie tragen viel zur Gesamtmasse bei. Sekundäre Partikel entstehen durch chemische Reaktionen in der Luft. Beispiele sind Ammoniak, Schwefeldioxid, Stickstoffoxide und organische Verbindungen. Sie wiegen nicht viel, bleiben aber lange in der Luft und sind daher für viele Prozesse von Bedeutung. Wer am Meer spaziert, atmet tief die feuchte, salzige Luft ein. Durch Wind und Wellen bilden sich im Wasser Luftblasen. Wenn diese Gischt auf dem Wellenkamm zerplatzt, zerstäubt auch das gelöste Salz, und ein Teil davon bildet trockene, feine Kristalle, die vom Wind in höhere Luftschichten und ins Inland verfrachtet werden. Als weitere Quelle sind biologische Partikel zu nennen, von Viren und Bakterien bis hin zu Sporen. Pflanzen lassen Blütenstaub und Samen vom Wind transportieren. Schmetterlingen fallen Schuppen von den Flügeln oder Pflanzenhärchen brechen ab. Nicht zuletzt sind die Exkremente von Milben besonders für Allergiker eine Last. Feinstaub belastet die Atemwege Feinstaub beeinträchtigt massiv die Atemwege (Abb.  6.6). Weltweit gesehen sterben noch immer viele Menschen durch offene Holzfeuer zum Kochen und Heizen in Innenräumen. Die Luftbelastung durch Bremsund Reifenabrieb sowie Autoabgase in Innenstädten ist regelmäßig Thema in den Nachrichten. Im Winter kommen Stäube durch Kamine und Öfen hinzu – nicht zu vergessen das Feuerwerk zum Jahreswechsel (Kap. 1). In Deutschland sterben rund 35.000 Menschen durch die Auswirkungen all der kleinen Partikel, die mit der Atemluft tief in die Lunge gelangen und von dort weiter in Blutgefäße. Schlaganfälle, Herzinfarkte und Lungenkrebs werden zum Teil dem Feinstaub zugeschrieben. Weltweit starben im Jahr 2015 rund 3,3 Mio. Menschen an der Luftverschmutzung, angeführt von den Metropolen in China.

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Die Definition von Feinstaub ist gar nicht so leicht zu verstehen. Der Durchmesser der Partikel wird als aerodynamischer Durchmesser angegeben: Um reale Partikel mit ihrer unebenen Oberfläche in Berechnungen einzubeziehen, wird der Durchmesser, den ein kugelförmiger Partikel mit der Dichte von einem Gramm pro Kubikzentimeter (1 g/cm3) bei gleicher Sinkgeschwindigkeit haben müsste, angesetzt. Dieser wird in Mikrometern (μm) angegeben. Für die Partikel wird die Kurzbezeichnung PM verwendet, die sich von der englischen Bezeichnung Particulate Matter ableitet. Daran wird der aerodynamische Durchmesser als Index angehängt. Stäube mit der Bezeichnung PM10 enthalten also aerodynamisch große Partikel, die zum Grobstaub zählen. Ab einer Partikelgröße von PM0,5 lagern sich die Teilchen nicht mehr ab, sondern bleiben diffus in der Luft. Die Partikel des Feinstaubs sind Teilchen mit einer Größe unterhalb von PM2,5. Die Feinstaubbelastung durch sekundäre Partikel wird auch durch die landwirtschaftliche Düngung in Europa und Nordamerika beeinflusst. Das Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz stellte den Zusammenhang in einer Studie dar. Wird zu intensiv gedüngt, nehmen die Pflanzen nicht alle Stickstoffverbindungen auf. Überschüssiges Ammoniak (NH3) verdunstet und reagiert in der Atmosphäre mit Gasen wie Schwefel- und Salpetersäure zu Ammoniumsulfat und Nitraten. Feinste Kristallkeime entstehen und wachsen bis zu 2,5 μm heran. Einerseits sind diese Partikel wichtig, damit Wassermoleküle sich anheften und Regentropfen bilden können. Andererseits kommt es durch diese Partikel zu den erwähnten gesundheitlichen Schädigungen. Da die Abnahme der Ammoniakkonzentration nicht direkt linear in weniger Feinstaub mündet, empfehlen die Forscher eine Halbierung, die die Sterblichkeit durch Luftverschmutzung in Europa um fast 20 Prozent verringern würde. Vorübergehende Atemwegsprobleme bereiten Stäube aus biologischen Quellen vor allem all jenen Menschen, die unter Pollenallergien („Heuschnupfen“) leiden. Von den 30 Prozent, die hierzulande im Laufe ihres Lebens eine Allergie zeigen, betrifft ein Viertel den Heuschnupfen. Dabei sind die Pollenkörner des Blütenstaubs zugleich Zeitzeugen. Partikel aus biologischen Quellen Als „Umweltarchiv“ legen Pollenkörner und Stäube für die Zeit des frühen Mittelalters, ja bis zurück zu den Römern und noch weit davor Zeugnis ab. Gerade Moore archivieren Blütenstaub, da die beständig wachsenden Moosschichten Pollenkörner und auch Samen einschließen (Kap. 5). Daraus werden Schichten, die über die jeweiligen klimatischen Bedingungen und Pflanzengemeinschaften Auskunft geben. Auch Teile von Chitinpanzern und

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Reste von Holz, Knospen und Blättern werden mit archiviert. Aus all dem lässt sich etwa ablesen, ob angrenzende Flächen bewaldet waren oder landwirtschaftlich genutzt wurden. Die Pollenkörner des Blütenstaubs verschiedener Pflanzenarten unterscheidet sich in seiner Größe und Oberflächengestaltung (Abb. 6.5). Doch nicht nur Blütenpflanzen nutzen den Wind als Transportmittel. Farne und Moose geben Sporen ab, die als Dauerstadien zur Vermehrung beitragen. Die wissenschaftliche Analyse all dieser biologischen Partikel wird Palynologie genannt; sie hat zum Ziel, die Art, das Alter und die Menge der Pollen und Sporen zu erfassen. Seit dem Jahr 1916 werden so pflanzliche Stäube dokumentiert, meist aus archäologischem, manchmal aus pathologischem Interesse. Die Pollenkörner enthalten in den Keimzellen das Erbgut, und zwar als einfachen Satz – sie sind haploid. Als leichtere der beiden für die Fortpflanzung nötigen Zellen entsprechen sie per Definition den männlichen Geschlechtszellen. Je nach Pflanzenart sind es Insekten, Vögel oder der Wind, die den Pollen auf die Narbe, den weiblichen Teil der Blüten, übertragen sollen, wo die Befruchtung erfolgt. Ein Pollenkorn besteht aus drei Teilen. Im Inneren die Erbinformation, umhüllt von einer inneren Pollenkornwand und einer schützenden äußeren Wandschicht. Die äußere, sowohl sehr charakteristische als auch feste und beständige Wandschicht besteht aus dem Terpen Sporopollenin. Es verknüpft sich zu einem Polymer, das sehr beständig gegenüber UV-Licht und einer wässrigen Umgebung ist – selbst dann, wenn diese, wie im Moor, viel Gerbsäure enthält. Der Schutz vor UV-Licht ist wichtig, da dieses Mutationen auslöst,

Abb. 6.5  Die unterschiedlichen Oberflächen der Pollenkörner werden unter dem Elektronenmikroskop sichtbar. (© Christoph Burgstedt/stock.adobe.com)

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also spontane Änderungen im Erbgut. Das Polymer gilt als einer der langlebigsten biologischen Baustoffe überhaupt. Die Größe der Pollenkörner liegt meist zwischen einem Hundertstel- und einem Zehntelmillimeter, anders gesagt 10–100 μm; damit zählen sie zum Grobstaub Zu den größten zählen jene einiger Nachtkerzengewächse, die in Südamerika durch Kolibris bestäubt werden. Für den Transport durch Insekten oder Wind ist eine geringere Größe von Vorteil.

Was der Wind trägt Wenn der Sommerwind den Blütenstaub durch die Luft trägt, wünschen sich nicht wenige Menschen Regen herbei. Sie hoffen darauf, dass dieser die Luft reinwäscht, weil ihnen die Nase läuft. Beim Heuschnupfen, der allergischen Rhinitis, reagieren die Schleimhäute überempfindlich auf den Pollen. Ein Stoff, der eine überschießende Immunreaktion auslöst, wird als Allergen bezeichnet. Bei Hausstauballergikern sind es die Exkremente von Milben, bei Heuschnupfenpatienten ist meist eine bestimmte Pflanzengruppe der Verursacher. Im 19. Jahrhundert hieß der Heuschnupfen noch Rosenfieber – zur Zeit der Rosenblüte hielten sich die von Kopfschmerz und Niesreiz Gepeinigten lieber in geschlossenen Räumen auf. Im 20. Jahrhundert wandelte sich der Begriff in Heuschnupfen, wobei neben Gräsern besonders die leichten Pollenkörner von Bäumen und Sträuchern wie Hasel, Birke und Kiefer zum Reizstoff werden können. Der Physiker Werner Heisenberg (1901–1976) etwa flüchtete vor den Pollen auf die Hochseeinsel Helgoland. Die Zahl der Allergien steigt an; heute entwickeln etwa 30 Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens eine Allergie. Demgegenüber blühen nicht mehr Pflanzen als früher. Warum steigt also die Zahl der Allergien? Eine These zielt darauf, dass sich durch Umwelteinflüsse die Oberflächen der Pollenkörner verändern und sie so „scharf“ gestellt, also vom Immunsystem als gefährlicher eingestuft werden. Eine andere These besagt, dass dem Immunsystem das Training in der Kindheit fehlt, weil die Hygiene den Kontakt zu Krankheitserregern und insbesondere mit parasitischen Würmern vermeidet. Diese Würmer, die sich im Darm einnisten, werden deshalb genannt, weil ihre Zahl in Stuhlproben abnahm und zugleich die Häufigkeit von Allergien anstieg. Haken- und Bandwürmer sichern ihr Überleben, indem sie das Immunsystem ihres Wirtes drosseln. Die Idee dahinter ist, durch eine „Wurmkur“ ein Überschießen des Immunsystems zu vermeiden. Allerdings ist umstritten, wie langlebig diese Würmer sein dürfen. Außerdem gilt es noch,

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die Nebenwirkungen abzuklären, bevor die Würmer therapeutisch eingesetzt werden. Nach zahlreichen Berichten um das Jahr 2010 herum war das Thema zuletzt nicht mehr so präsent in den wissenschaftlichen Nachrichten. An der allergischen Reaktion sind Mastzellen beteiligt. Bei der ersten überschießenden Reaktion des Immunsystems produzieren Zellen des Immunsystems Antikörper, also Speicherbotenstoffe, die genau dieses Allergen wiedererkennen werden. Diese Antikörper heften sich an Mastzellen, die ebenfalls zum Immunsystem gehören. Bei einem erneuten Kontakt mit Pollenkörnern dieser Pflanze binden die Antikörper das Allergen und regen so die Mastzellen an, eine Entzündung einzuleiten. Dafür wird unter anderem Histamin ausgeschüttet. Dieser Botenstoff sorgt für die Weitung kleiner Blutgefäße, sodass die Schleimhäute anschwellen. Zugleich kontrahiert er glatte Muskeln, was die Atmung erschwert. Neben Histamin werden noch andere entzündungsfördernde Botenstoffe ausgeschüttet: Die Nase läuft, Augen tränen und das Niesen beginnt. Modifizierte Pollen sind noch weniger erträglich Anfang Juni ist die Zeit der Kiefernblüte gerade vorbei, was viele Allergiker aufatmen lässt. Jedoch ist die Saison der Gräserpollen noch in vollem Gange. Besonders tückisch sind die Kreuzallergien, die viele Menschen plagen. Ende Juni beginnt beispielsweise die Blüte von Beifuß (Artemisia vulgaris) und Beifußblättrigem Traubenkraut (Ambrosia artemisiifolia), bei denen dieses Phänomen auftritt. Während der Beifuß, eine ausdauernde krautige Pflanze, schon lange in Mitteleuropa heimisch ist, war das aus Nordamerika stammende Beifußblättrige Traubenkraut lange nicht überwinterungsfähig. Es ist einjährig, und der Samen wurde erst um die Jahrtausendwende durch eine Mutation frostbeständig. Diese mutierte Form verbreitete sich durch Vogelfuttermischungen und löste viel Aufmerksamkeit aus. Es müssen nur wenige Pollen in der Luft sein, um bei Sensiblen eine allergische Reaktion auszulösen. Vielen Allergikern hilft es schon, wenn sie nur nachts lüften. Bei Tageslicht öffnen sich die Blüten, und Gräser geben ihre Pollen ab. In Mainz untersuchten Chemiker die Reaktionen, die an der Luft auf der Pollenoberfläche stattfinden. Auch wenn uns Pollenkörner extrem klein vorkommen, bietet ihre Oberfläche in der Luft fein verteilten Molekülen die Chance, sich anzulagern. Wer jetzt an die Partikel denkt, die zu Wolkenkristallisationskeimen werden, liegt damit durchaus richtig. Blütenpollen werden als Primärpartikel bezeichnet, also eben jene, die direkt in die Luft gelangen und sich verteilen. Da sie als feste Teilchen in der Luft schweben, wird von einem Aerosol gesprochen. In der Atmosphäre altern die Partikel physikalisch und chemisch.

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Schwerere Teilchen sinken wieder herunter, die anderen werden in höhere Luftschichten transportiert und wachsen dort zu Wolkenkondensationskeimen heran. Chemiker charakterisieren die Verweilzeit in der Atmosphäre als Lebensdauer der Aerosolpartikel. In der Luft sind neben Stickstoff und Sauerstoff auch Edelgase und eine Reihe von Spurengasen vorhanden. Hierzu zählen unter anderem Kohlendioxid (CO2), Ozon (O3), Schwefeldioxid (SO2) und Stickoxide (NOx). Letztere sind in den Partikeln in Form ihrer Salze zu finden, dann also als Sulfate (R2SO4) und Nitrat (RNO3). Elementarer Kohlenstoff (C) kommt als Ruß in die Luft, Meersalz- sowie Mineralstaub kommen hinzu, außerdem verschiedene organische Stoffe wie Terpene (Kap. 8). Die Pollenhülle ist eine Oberfläche und genau wie im Meer (Kap. 4, Seepocken) lagert sich an den Grenzflächen leicht etwas an. Jedoch geht es in der Luft nicht um Biofilme, sondern um chemische Reaktionen zwischen den Verbindungen in der Pollenhülle und Bestandteilen der Luft, insbesondere Ozon und vor allem in den Städten Stickoxiden. Die Pollenhülle besteht aus organischen Molekülen, die vor allem aus Kohlenstoff und Wasserstoff aufgebaut sind. Wenn sich nun Ozon anlagert, bilden sich besonders reaktionsfreudige Zwischenstufen, chemisch wird von Sauerstoff-Intermediaten (reactive oxygen intermediates, kurz ROI) gesprochen. Diese oxidierten Partikel ziehen Wasser stärker an als zuvor, werden also hydrophiler. Daneben kommt es zu Reaktionen zwischen Aminosäuren, die Bestandteil der Proteine sind, und Nitraten. Diese Kombination macht Blütenpollen besonders „scharf“ – sie lösen noch leichter eine allergische Reaktion aus. Sinken sie herab und werden eingeatmet, geschieht zweierlei. Zum einen verstärkt ihre hydrophile Eigenschaft die Bindung an die Schleimhäute bis hin zu den Lungenbläschen – sie haften schlicht besser an. Zum anderen reizen die nitrierten Proteine das Immunsystem stärker und lösen leichter Entzündungen aus (Abb. 6.6). Giftbewehrte Brennhaare Zum Staub tragen auch tierische Bestandteile wie Hautschuppen und feine Härchen bei. Je größer die Partikel werden, desto kürzer werden sie von der Luft weitergetragen. Die Brennhaare bestimmter Raupen steigen zwar nicht in die Atmosphäre auf, werden aber doch so weit mit der Luft verfrachtet, dass sie eine Gefahr für die Gesundheit darstellen können. Die Rede ist vom Eichen-Prozessionsspinner (Thaumetopoea processionea), der infolge des Klimawandels immer weiter nach Norden vorrückt und sich regional über mehrere Jahre zu einem Massenbestand entwickelt. Die Weibchen des Nachtfalters legen im Juli oder August große Gelege mit etwa 200 Eiern

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Abb. 6.6  Eindringtiefe unterschiedlich großer Staubpartikel in die Atemwege

in die Kronen von Eichen. Die Larven entwickeln sich bis zum Spätherbst im Ei und überwintern so im Jugendstadium (Abb. 6.7). Im Mai beginnen sie dann mit dem Blattaustrieb zu fressen. Die Haut der späteren Stadien trägt Warzen mit etwa 2–3 mm langen, leicht ausbrechenden Haaren, sogenannten Brennhaaren, die Widerhaken enthalten. Damit schützen sie sich vor Fraßfeinden. Beim Häuten gelangen die Haare auch ohne äußere Einflüsse in die Luft und werden im Sommerwind transportiert. Im Juni sammeln sich die Raupen und bilden große Gruppen, die in der Dämmerung und nachts hinter- und nebeneinander wie in einer Prozession über Stamm und Äste zieht. Tagsüber ruhen und häuten sich die Raupen in einem Gespinstnest, das viele Tiere beherbergt und eine Größe bis zu einem Meter erreicht. Hierin sammeln sich die Brennhaare mit den Häuten an. Bis zum Juli folgen weitere Häutungen, sodass die Raupe insgesamt fünf Umwandlungen erfährt. Die Puppenruhe findet im Gespinstnest statt und dauert drei bis fünf Wochen; dann schlüpft der fertig entwickelte Falter. Tückisch ist, dass diese Raupenhaare über lange Zeiträume, nämlich jahrelang, giftig sind und sich somit auch dann noch im Unterholz ansammeln, wenn die eigentliche Raupensaison abgeklungen ist. Bleiben dann die Widerhaken an Kleidung, Haut oder Haaren hängen, kommt es immer noch zur allergischen Reaktion. Deswegen sollte nicht nur eine akute Nesselsucht der Haut ärztlich abgeklärt werden; die behandelnde Person wird auch die Feuerwehr oder das Forstamt verständigen. Zum einen sind Gebiete mit Raupenbefall weiträumig zu meiden, zum anderen können Raupennester nur durch Fachleute entfernt werden.

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Abb. 6.7  Entwicklungszyklus des Eichen-Prozessionsspinners

Was macht die Brennhaare so wehrhaft? Sollbruchstellen sorgen dafür, dass die Spitze mit den Widerhaken leicht ausbricht. Wie eine Nadel sticht dann der untere, mit Flüssigkeit gefüllte Teil in die Haut. Diese Flüssigkeit enthält das Nesselgift Thaumetopoein, das aus Proteinen besteht, andere Proteine etwa in der Haut oder in Schleimhäuten angreift und so allergische Reaktionen wie Rötungen, Juckreiz und Schwellungen hervorruft. Das Gesamtbild wird Raupendermatitis genannt. Die Reaktion reicht von Quaddeln bis zur Hautentzündung und kann bis zu zwei Wochen dauern. Im Extremfall entwickelt sich Asthma oder gar ein anaphylaktischer Schock, bei dem das Immunsystem in seiner Reaktion extrem übers Ziel hinausschießt. Dabei kann es zum Kreislaufschock, zu Krämpfen und Schmerzen am ganzen Körper kommen, mitunter kombiniert mit Herzrasen; multiples Organversagen oder sogar der Tod können die Folge sein. Zugegebenermaßen standen in diesem Kapitel die eher bedrohlichen Szenarien im Fokus. Im Juni blitzt und donnert es heftig, Pollen belastet die Luft, und zuletzt auch noch die Brennhaare von Schmetterlingsraupen. Daher wollen wir nun ein wenig in der warmen Sommersonne entspannen und uns nach Phänomenen im Juli umschauen.

7 Juli – Sommer: Schweiß und Sonnenbäder

Im Juli beginnt die Ferienzeit, und wer kann, fährt entweder in die Berge oder ans Meer. In den Kulturbeutel kommen neben Zahncreme und Duschlotion wohl vor allem Deodorant und Sonnenschutz. Denn selbst Pflanzen, die ja die Energie der Sonnenstrahlung für die Photosynthese aufnehmen, schützen sich mit roten Photopigmenten vor zu viel Sonnenlicht (Kap. 3). Sie können sich nicht vor der Sonne verbergen wie Tiere, die bei Bedarf schattige Plätze aufsuchen. Zumindest die meisten – ein Beispiel aus dem Meer zeigt uns, dass gerade im Wasser lebende Tiere ebenfalls auf

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Feil, Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59264-9_7

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S­ onnenschutz setzen. Die bräunende Haut beim Menschen ist eine ähnliche Anpassungsstrategie, die auf den Schutz durch verstärkte Pigmentierung baut. Eine Form der Anpassung ist es auch, kurzfristig stärker zu schwitzen, denn der verdunstende Schweiß kühlt die Haut. Zugleich besiedeln allerdings Bakterien, Hefen und andere Pilze die feuchten Hautbereiche. Säurebakterien wandeln in kurzer Zeit den Schweiß in, nun ja, Mief um, sodass sich der Gebrauch von Deodorants durchsetzte.

Deo Achselgeruch ist stark verpönt, und es gilt, ihn möglichst zu vermeiden, entweder mit einem Deodorant oder einem Antitranspirant. Ersteres verhindert die Geruchsentwicklung und richtet sich gegen die Bakterienflora auf der Haut, letzteres wirkt bremsend auf die Schweißdrüsen ein. Dabei sind Antitranspirantien nichts grundsätzlich anderes, sondern Deodorants, die zusätzlich schweißhemmende Stoffe enthalten. Bei der Suche nach Publikationen über Deodorants wirft die Internet-Suchmaschine viele Einträge vom Patentamt aus. Das kurz Deo genannte Produkt wird also aktuell eifrig weiterentwickelt – unter anderem wohl deshalb, weil in vielen Deodorants Aluminiumsalze enthalten waren, welche die Schweißproduktion drosseln. Sie sorgen dafür, dass sich die Poren verengen und weniger Schweiß austreten kann; ein Absenken auf die Hälfte, ja bis auf ein Fünftel soll so möglich sein. Wo kein Schweiß, da kein Mief – so könnte die Kurzformel für diese Antitranspirantien heißen. Allerdings ist noch immer umstritten, ob Aluminiumsalze im Deo tatsächlich schädlich sind. Von unverletzter Haut werden sie kaum aufgenommen; wird sie aber bei der Achselhaarrasur geschädigt, gelangen doch geringe Mengen des Aluminiumsalzes in den Körper. Unter anderem wird ein Einfluss auf Demenzerkrankungen diskutiert. Da die Wirkung der Aluminium enthaltenden Deos so komfortabel war, müssen nun schnellstens neue Rezepturen gefunden werden, und entsprechend viele Patente werden gemeldet. Wer den Schweißfluss nicht hemmen will, sondern nur die geruchsbildenden Bakterien bremsen möchte, hat eventuell schon immer ein Produkt ohne Aluminiumsalze verwendet. Fast alle Deos enthalten bakterienhemmende Mittel, daneben vor allem pflegende und duftende Stoffe – eine alte Strategie: Geruch durch Geruch zu überdecken.

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Zwischen Achselmief und erotischer Botschaft Frischer Schweiß ist fast geruchlos. Der Achselgeruch ist offenkundig kein direktes Nebenprodukt des Stoffwechsels, sondern entsteht erst, wenn ihn Mikroorganismen verändern. Im Schweiß mischen sich Wasser, Salz, Fettsäuren und Aminosäuren. Die Mikroorganismen, die auf der menschlichen Haut leben, benötigen davon vor allem die stickstoffhaltigen Aminosäuren. Um sie aufnehmen zu können, müssen sie den abgesonderten Schweiß mit Enzymen aufspalten. Erst hierdurch werden die Moleküle so klein, dass sie flüchtig sind: Geruch entsteht, weil die Molekülbruchstücke mit der Luft zur Nase transportiert werden. Die Fettsäuren enthalten neben der chemischen Säuregruppe vor allem lange Kohlenwasserstoffketten. Bei ihrem Abbau entstehen beispielsweise Buttersäure (Butansäure, H7C3COOH) und Ameisensäure (Methansäure, HCOOH), die beide stechend riechen. Saugt das Gewebe der Kleidung Schweiß auf, verflüchtigt sich das Gemisch langsamer, während die Oberfläche und damit Kontaktfläche größer wird und der Sauerstoff aus der Luft damit reagiert. Dadurch verändert sich der Geruch abermals. Unzählbar viele Schweißdrüsen Millionen von Schweißdrüsen überziehen den Körper von der Fußsohle bis zum Kopf. Sie können pro Tag bis zu zehn Liter Schweiß abgeben – wenn entsprechend getrunken und geschwitzt wird. Normalerweise liegt die Abgabe bei moderaten körperlichen Anforderungen zwischen einem halben und einem Liter. Der Mensch hat zwei verschiedene Arten von Schweißdrüsen, die sich in ihrer Zahl sowie Verteilung unterscheiden und deren Sekrete andere Komponenten enthalten (Abb. 7.1). Die Schweißdrüsen bilden also zwei Gruppen: die kleinen, ekkrinen und die großen, apokrinen. Aufgabe der kleinen Schweißdrüsen ist das Kühlen des Körpers. Der Mensch besitzt unzählige davon, schätzungsweise drei Millionen, wobei Forscher hier auch deutlich abweichende Zahlen angeben (1,6–5 Mio.). Sie kommen mit etwa 700 Drüsen pro Quadratzentimeter besonders geballt an Händen und Füßen vor, andere Regionen wie Rücken und Nacken warten mit rund 60 Schweißdrüsen pro Quadratzentimeter auf. Die Drüsen befinden sich einige Millimeter unter der Epidermis, der äußersten Hautschicht, und sehen wie kleine Knäuel aus. Hier in der Unterhaut sind sie von einem Geflecht von Blutgefäßen umgeben. Winzige Kanäle führen an die Oberfläche. Dort verdunstet das Sekret dieser ­Drüsen,

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Abb. 7.1  Es gibt zwei Typen von Schweißdrüsen. Beide sitzen in den oberen Hautschichten

das zu 99 % aus Wasser besteht sowie aus weiteren Stoffen, die sich gut mit Wasser mischen. Dazu zählen nicht nur Salze und Milchsäure, sondern auch andere Stoffe wie Harnstoff, Aminosäuren und Proteine wie Dermcidin. Der pH-Wert des Schweißes ist niedrig und trägt so zum Säureschutzmantel der Haut bei – das saure Milieu schützt die Haut vor der Besiedlung mit Mikroorganismen, die eher einen neutralen pH-Wert bevorzugen. Die Verdunstung von Wasser verbraucht enorm viel Energie, die so der direkten Umgebung entzogen wird und den kühlenden Effekt erzeugt: Um einen Liter Wasser zu verdunsten, werden 2400 kJ Energie benötigt. Rund ein Fünftel der täglichen Energieproduktion gibt der Körper auf diesem Weg ab. Damit ist das Schwitzen ein wichtiger Bestandteil der Thermoregulation, also der Steuerung der Körpertemperatur. Das erwähnte Protein Dermcidin wird seit einigen Jahren intensiver erforscht, da es antibakteriell wirkt. Der Schweiß selbst sorgt so dafür, dass die feuchte Umgebung nicht durch zu viele Bakterien besiedelt wird.

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Eine unterdrückte Dermcidin-Produktion ist ein Hinweis auf grundlegendere Stoffwechselstörungen. Den Anstoß zum Schwitzen geben Nervenzellen. Die Drüsenzellen werden durch ihre elektrochemischen Signale oder durch Botenstoffe wie Hormone aktiviert. Die aktivierten Drüsenzellen öffnen Ionenkanäle in der umhüllenden Zellmembran, und Salze gelangen in ihr Inneres. Die hohe Salzkonzentration bewirkt im Folgenden ein Einströmen von Wasser, für das ihre Membran durchlässig ist, und es wird eine ausgeglichene Salzkonzentration auf beiden Seiten angestrebt. Dieser Effekt ist als Osmose bekannt. Während der Schweiß durch den Drüsenkanal nach außen abgegeben wird, nehmen die ihn auskleidenden Wandzellen einen Teil der Salze wieder auf. Der Körper recycelt das Salz, schließlich soll Wasser verdunsten; eine Salzkruste auf der Haut ist nicht Sinn der Sache. Relativ wenig gelöstes Salz verbleibt also auf der Haut, ebenso andere Stoffe wie Proteine, Harnstoff, Milchsäure und Fettsäuren. Einerseits werden so zusammen mit den Talgdrüsen die obersten, bereits verhornten Hautschichten weiterhin geschmeidig gehalten, andererseits soll kein nahrhafter Nährboden für unerwünschte Mikroben entstehen. Wenn die Thermoregulation aus dem Ruder läuft und (beispielsweise durch hormonelle Umstellungen) häufig der Schweiß ausbricht, bedeutet dies zum Glück nicht, dass der Körper riecht. Gerade Frauen in den Wechseljahren erleben Hitzewallungen und den Effekt, in kürzester Zeit nassgeschwitzte Kleidung zu haben. Meist reguliert das Gehirn nach kurzer Zeit den Fehlalarm – hier kann etwas Abkühlung helfen –, und der Schweißfluss stoppt wieder. Eine Wolke mit Schweißgeruch entsteht dabei nicht, da der Schweiß der kleinen, ekkrinen Schweißdrüsen viel Wasser enthält und nur wenig riecht. Weniger Schweiß, mehr Geruch Der Geruch entsteht durch den Abbau des Sekrets der größeren apokrinen Drüsen, die nicht nur in viel geringerer Zahl vorkommen, sondern auch in weniger Körperarealen. Ihr Sekret enthält ein Gemisch aus Fettsäuren, Steroiden und Proteinen – was bedeutet, dass sich das Sekret nicht gut mit Wasser mischt, also hydrophob ist. Steroide sind eine Stoffgruppe mit einem bestimmten Kohlenstoffgerüst, zu der auch die Sexualhormone zählen. Im Gegensatz zu den ekkrinen Drüsen werden die Sekrete innerhalb der Drüsenzellen gebildet, mit einer Membran umhüllt und abgeschnürt. Diese sogenannten Vesikel werden in den Drüsengang abgegeben, wo sie sich kaum mit dem Wasser vermischen, das für den Transport sorgt. Wenn sich

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zwei Flüssigkeiten nicht mischen, sondern die eine fein verteilt in der anderen vorliegt, handelt es sich (wie bei Milch) um eine Emulsion. Die apokrinen Drüsen befinden sich ebenfalls in der Unterhaut und münden in Haarfollikeln. Sie kommen dort vor, wo die Haut besonders behaart ist, wie in den Achseln, bei manchen auf dem Bauch und der Brust sowie im Genitalbereich. Obwohl die apokrinen Drüsen genau wie die ekkrinen schon von Geburt an vorhanden sind, werden sie erst mit der Pubertät aktiv. Sie werden auch durch Sexualhormone gesteuert – was erklärt, warum sich der Körpergeruch mit der Pubertät so grundlegend ändert. Von nun an werden viel mehr Sexualhormone produziert, und vor allem Emotionen aktivieren nun die apokrinen Schweißdrüsen. Bruchstücke der Sexualhormone sind selbst ein Teil des apokrinen Sekrets, namentlich Abbauprodukte von Testosteron. Da Männer hiervon viel mehr produzieren als Frauen, riecht ihr Schweiß durch den mikrobiellen Abbau meist intensiver. Die Duftwolke eines gesunden Menschen ist einzigartig und enthält Hunderte von chemischen Stoffen, die durch die Zersetzung des apokrinen Schweißes freigesetzt werden. Stoffwechseländerungen – auch Krankheiten – verändern dieses Profil. Feuchte Achseln bieten vielen Bakterien und anderen Mikroorganismen gute Lebensbedingungen, die dort das Sekret der apokrinen Drüsen ­verdauen. In Zahlen ausgedrückt sollen es 8–43 apokrine Drüsen pro Quadratzentimeter in der Achselhöhle sein. Zwar ist schon lange bekannt, dass vor allem Bakterien, allen voran Corynebakterien, zur Geruchsentwicklung beitragen, aber die verantwortlichen Enzyme wurden lange Zeit gar nicht gesucht. Das ist insofern verwunderlich, als ihre Blockade auch die Geruchsentwicklung verhindern würde. Etwa zehn chemische Stoffe prägen als Schlüsselkomponenten den Geruch, darunter zwei Steroide und eine Gruppe von Säuren. Bei den Säuren ist die Struktur der 3-Hydroxy-3-methyl-hexansäure (HMHA) unerwartet, da die Säuregruppe (-COOH) zusammen mit der Hydroxygruppe (-OH) dafür sorgt, dass sich das Molekül gut in Wasser löst. Für einen Geruchsstoff ist das eine eher untypische physikalisch-chemische Eigenschaft. Was den Schweißgeruch prägt Die im Wasser gelösten Verbindungen sind Lebensgrundlagen vor allem für schweißabbauende Bakterien. Ein Vorläufer von HMHA lagert sich an die Aminosäure Glutamin an. Die Bakterien kappen diese Verbindung mit

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einem Enzym. Der Geruch ließe sich also unterbinden, wenn dieses bakterielle Enzym gehemmt werden würde. Ob sich solche Hemmstoffe finden lassen, die keine unerwünschte Wirkung auf andere Mikroorganismen haben, wird die weitere Forschung zeigen. Ist es sonst in der Forschung häufig nötig, Mäuse zu züchten, die gewisse Eigenschaften nicht haben, gibt es beim Achselschweiß bereits eine natürliche Mutation beim Menschen, die vor allem bei Asiaten auftritt. Ihr Schweiß riecht nicht, und tatsächlich fehlt ihnen auf zellulärer Ebene ein Transporter, der die an Aminosäuren gebundenen Geruchsstoff-Vorläufer aus den Zellen transportieren könnte. Schwitzen reguliert nicht nur die Körpertemperatur, es ist auch eine nonverbale Botschaft. Der Geruch wird umso penetranter, je älter der Schweiß ist. Frischer Schweiß wiederum kann ganz andere Reaktionen hervorrufen: Sein Duft-Cocktail enthält unter anderem Pheromone. Allerdings konnten Studien bislang nicht eindeutig belegen, dass die These stimmt, nach der Menschen anhand des Geruchs eine Partnerin oder einen Partner auswählen können, die oder der im Hinblick auf ein gesundes Immunsystem der Nachkommen evolutiv günstig ist. Auch der „Geruch der Angst“ ist zwar oft geschildert worden, aber biochemisch durchaus nicht geklärt. Klar ist, dass Hormone wie Adrenalin zu Schweißausbrüchen führen können. Ob das zu riechen ist, wurde noch nicht analysiert – vielleicht bereitet es den Körper auf hitzige Muskelbewegungen vor, entweder im Kampf oder auf der Flucht. Evolutionär gesehen wäre Angstschweiß doch eher verräterisch und damit eher von Nachteil. Nachgewiesen wurden hingegen, dass eineiige Zwillinge nahezu identisch riechen. In jedem Fall prägt der Schweiß den individuellen menschlichen Körpergeruch und ist damit Teil der chemischen Kommunikation. Durch die Verdauung kann der Geruch ebenfalls beeinflusst werden. Zum einen gibt es einen indirekten Effekt, da die Körpertemperatur beim Verdauen ansteigen kann – vor allem wenn die Mahlzeit scharf gewürzt war. Paprika und Chili enthalten mit Capsaicin einen Stoff, der schon in der Mundhöhle an Wärmesensoren bindet und die Temperatur steigen lässt, bis das Gesicht rot wird und schwitzt (Kap. 9). Ein anderer Effekt ist, dass durch die Verdauung Molekülbruchstücke in den Kreislauf gelangen, die zu den über 200 Stoffen zählen, die wir in geringen Mengen ausschwitzen. Ein absoluter Stresstest für ein Deodorant ist ein Sommer wie im Jahr 2018: Monatelang war über weiten Teilen Deutschlands kaum eine Wolke zu sehen. Eine Herausforderung für die Thermoregulation durch vermehrtes Schwitzen, aber auch für den körpereigenen Sonnenschutz.

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Sonnenschutz Der natürlichste Sonnenschutz ist die Bräunung der Haut. Die Bildung des Hautpigments Melanin allein kann jedoch nicht alle Strahlung vom Eindringen in den Körper abhalten. Je heller die Haut ursprünglich ist, desto mehr zusätzlicher Schutz vor Sonnenbrand ist geboten. Vom Teint zur Bräune Die grundsätzliche Pigmentierung des Menschen ist genetisch festgelegt. Mindestens drei voneinander unabhängige Gene sind beteiligt, sodass es viele Nuancen von heller bis zu dunkel pigmentierter Haut gibt. Trifft viel Sonnenlicht auf die Haut, wird sie nochmals dunkler – sofern nicht ein Sonnenbrand auftritt, doch dazu später mehr. Für den Farbton der Haut sind die Melanozyten verantwortlich, bei denen es sich um spezialisierte Hautzellen handelt. In ihrem Zellplasma befindliche Organellen, die Melanosomen, produzieren das Pigment Melanin. Ein Hormon, das Melanotropin, steuert zusätzlich, wie sich die Melanosome innerhalb der Zelle verteilen. Sind sie konzentriert um den Zellkern angeordnet, erscheint die Haut heller, sind sie in der Zelle verteilt, erscheint sie dunkler. Zwar befindet sich vor allem Zellplasma innerhalb der Zellen, doch sie werden von einem netzartigen Gerüst aus Proteinen durchzogen. Daher können Organellen nicht ungehindert in der Zelle umherwandern. Die sommerliche Hautbräunung wird durch das Sonnenlicht ausgelöst, das sich aus einem breiten Strahlungsspektrum zusammensetzt. Die Infrarotstrahlung ist der langwellige Bereich und damit nicht so energiereich. Hautareale erwärmen sich unter ihrer Einwirkung – Rotlichtlampen nutzen diesen Effekt. Die kürzerwelligen Bereiche können photochemische Reaktionen auslösen. Unter anderem können in ungeladenen Molekülen Bindungen brechen, sodass Ionen und Radikale (Glossar) entstehen. Hierbei handelt es sich um den ultravioletten Bereich, der nochmals in UV-A (400–320 nm Wellenlänge) und UV-B (320–280 nm) unterschieden wird. Durch die Erdatmosphäre wird schon ein Teil der UV-B-Strahlung gefiltert, sodass die Intensität der UV-A-Strahlung 20-fach höher ist. Welcher Anteil des Lichtes absorbiert wird, hängt davon ab, ob Moleküle vorhanden sind, die die dargebotene Energiemenge aufnehmen können. Somit hängt die Absorption des Lichts von seiner Wellenlänge ab (Abb. 7.2, 6.3). Je kürzer die Wellenlänge, desto schneller schwingt seine Amplitude auf und ab und desto höher ist die Energie der Strahlung. Im Falle des langwelligen Lichtes dringt die Strahlung bis in das Bindegewebe

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Abb. 7.2  Hauptduftkomponente HMHA: 3-Hydroxy-3-methyl-hexansäure

der Lederhaut ein, bevor sich passende Strukturen finden. Das kurzwellige Licht dagegen wird durch chromophore Strukturen in der Oberhaut eingefangen. Die Strahlungsenergie regt die Elektronen in Molekülen an. Die Energieübertragung findet jedoch nur statt, wenn Elektronen in Bindungen oder auch solche ohne bindende Aufgabe ein Energiepaket der dargebotenen Wellenlänge aufnehmen – sei es, um damit aus dem bisherigen Energielevel herauszuspringen und die Bindung zu verlassen, sei es, weil sie für einen Moment ein Level erreichen, das instabil ist. Dann wird ein Teil der Energie abgestrahlt, indem die angeregten Elektronen hin und her schwingen oder vibrieren. Der Rest wird in definierten Portionen, den Quanten, abgegeben. Dass Energie gequantelt ist, bedeutet nur, dass für ein Molekül durch seine Bindungen und Anordnung der aufbauenden Atome genaue Energiepakete definiert sind, die aufgenommen oder abgegeben werden können. Der sprichwörtliche Quantensprung ist somit eigentlich ein sehr kleines Ereignis, das gleichwohl eine große Wirkung haben kann. Teilweise ermöglicht die aufgenommene Energie chemische Reaktionen, wie bei der Vitamin-D-Synthese (Kap. 2). Zum Teil fangen die Melanine das Licht ein, bevor eine Überdosis davon tiefer ins Gewebe eindringt, andere Moleküle zu schädlichen Bindungsbrüchen anregt und damit zur Zellalterung beiträgt. Die auf die Haut einstrahlende Energie wird in Bruchteilen von Sekunden durch Moleküle in Schwingungen umgewandelt. Die Lichtstrahlung wird zu Wärme, was bei kühleren Temperaturen meist als wohltuend empfunden wird. Eine hohe Lichtintensität aktiviert das Melanin direkt oder aber regt die Melanozyten an, die Produktion zu erhöhen. Hauteigener Schutz Melanin ist ein Makromolekül, das ein breites Lichtspektrum absorbiert. Seine vermehrte Bildung ist ein effektiver Eigenschutz der Haut. Es gibt mehrere Gruppen von Melaninen, etwa in der Iris der Augen und den Haaren, wobei schon die Eumelanine der Haut in verschiedenen Varianten vorkommen. Der Aufbau der Moleküle ist komplex, da sich viele Einzelbausteine aneinander ketten können und sie sich vermutlich aus zwei

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­ omponenten zusammensetzen. Aufgrund der vielen verknüpften Bausteine K wird von einem Makromolekül gesprochen. Kieler Forscher fanden das Enzym Tyrosinase, das den ersten Schritt der Verknüpfung anstößt, und entschlüsselten so zumindest einen Teil der Melaninbildung. Als wiederkehrendes Element ist in dem Molekülnetzwerk ein Sechsring zu erkennen, der sich mit einem Fünfring eine Bindung teilt. Außerdem sind zahlreiche Sauerstoffatome mit dem Grundgerüst verknüpft. Zusätzlich sind Doppelbindungen vorhanden, die leicht Energie aufnehmen können. Die dunkle Farbe entsteht dadurch, dass sehr viele Doppelbindungen so miteinander wechselwirken, dass der Bindungsort fast unerheblich ist und sich die Elektronen sehr frei zwischen mehreren möglichen Positionen im Molekül bewegen können. In der Haut ist Melanin nur dann ein guter UV-B-Fänger, wenn im Grundgerüst wie beim Eumelanin ein Stickstoffatom enthalten ist, hingegen zerfällt die schwefelhaltige Variante, das Phäomelanin, zum Teil selbst durch Sonnenlicht. Letzteres ist der Grund für die lichtempfindliche Haut von Rothaarigen, die selbst nach einem Sonnenbrand kaum braune Pigmente einlagert. Da aber mehrere Gene für den Hautton verantwortlich sind, kommen auch Melaninmischungen vor. Nur bei Albinos entsteht gar kein Sonnenschutz durch Hautpigmente. Melanine lagern auch Lipide und Proteine mit ein, was ihre Erforschung erschwert – sie sind kaum in Reinform zu untersuchen. Sie wandeln ultraschnell die absorbierte Strahlung in Wärme um und strahlen diese wieder ab. Außerdem können sie Radikale einfangen, die durch die UV-A-Strahlung erzeugt werden. Von einer direkten Pigmentierung wird gesprochen, wenn UV-A-Strahlung Vorstufen von Melanin so anregt, dass sie oxidieren. Das erfolgt innerhalb weniger Stunden, verblasst allerdings auch nach wenigen Tagen. Eine anhaltende Bräune entsteht durch UV-B-Strahlung, die eine indirekte Pigmentierung auslöst. Dabei werden nicht bereits vorhandene Vorstufen des Melanins zur Reaktion angeregt, sondern die Melanozyten bilden mehr Melanin. Dieses wird in Keratinozyten eingelagert, die zur obersten Hautschicht wandern und hier die Hornschicht bilden. Das kann bis zu 30 Tage dauern – dafür ist das Melanin dann auch an der Außenbarriere, wo ein Sonnenschutz am effektivsten ist. Zu viel des Guten: Sonnenbrand Trifft zu viel Sonne auf die Haut, erwärmt sie sich zu stark und ein Sonnenbrand entsteht. Medizinisch wird er UV-Erythem genannt. In erster Linie ist hierfür die UV-B-Strahlung verantwortlich. In der Epidermis werden Entzündungsstoffe von den Zellen freigesetzt, wodurch sich die Blutgefäße

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­ eiten und die typische Rötung der Haut entsteht. Nach ein bis sechs Stunw den ist der Schaden mit bloßem Auge erkennbar. Ein leichter Sonnenbrand heilt innerhalb von drei bis sechs Tagen aus. Kommt es jedoch zur Blasenbildung, löst sich die oberste Hautschicht anschließend schuppend ab und der Prozess dauert länger. Die Haut reagiert, indem die Melanozyten aktiviert werden. Bei häufigen Sonnenbränden beschleunigt sich die Alterung der Haut. Zwar braucht die Haut Sonnenlicht, um Vitamin D aus Vorläufern freizusetzen Kap. 2), zu viel Sonnenlicht schwächt jedoch das Immunsystem. Langfristige Schäden entstehen, wenn die DNA einen Teil der Strahlung einfängt und nicht repariert wird. Durch die Absorption ist das Molekül energiereicher, und es kommt zu Reaktionen unter DNA-Bausteinen, die diese schlicht als Erbgut nicht mehr ablesbar machen, ebenso zu Mutationen. Dem wirkt der Körper entgegen, indem die Melanozyten den programmierten Zelltod auslösen. Dieser Selbstzerstörungsmechanismus, Apoptose genannt, ist ein Notfallprogramm bei irreparablen Schäden. Diese werden auf der Zelloberfläche signalisiert und vom Immunsystem erkannt. Erst nach dieser Kontrolle wird das Signal zur Auflösung ins Innere der Zelle zurückgemeldet. Die Bestandteile der Zelle werden weitgehend recycelt und können für den Aufbau neuer Zellen eingesetzt werden. Da allerdings die Melanozyten schon im Laufe der Embryonalentwicklung ins Hautgewebe einwandern, sind sie unempfindlicher gegenüber einem verfrühten Zelltod. Das ist zugleich eine Schwachstelle, wenn diese Zellen geschädigt sind. Nimmt das Immunsystem die Hinweise auf Schäden nicht wahr, kann es zur Entartung der Zelle kommen. Daraus kann sich über eine Spanne von oft mehreren Jahrzehnten ein Tumor wie der Schwarze Hautkrebs entwickeln. Genügt es, sich vor UV-B-Strahlung zu schützen, um Sonnenbrand zu vermeiden? Lange Zeit galt die UV-A-Strahlung als nicht so schädlich. Tatsächlich muss die Sonneneinstrahlung hoch sein, um einen Sonnenbrand in der durch UV-A erreichten Unterhaut zu bewirken. Durch die anregende Strahlung werden Sauerstoffatome in den Zellen sehr reaktiv und greifen andere Zellbestandteile an. Auch die Sonnenallergie geht vor allem auf die entzündliche Reaktion der tiefergelegenen Hautschichten zurück. Solange die Sonnencremes nur UV-B-Filter enthielten, waren Betroffene nicht davor geschützt, einen juckenden und hartnäckigen Hautausschlag zu entwickeln. Blau wie das Meer: mariner Sonnenschutz Auch Pflanzen und Tiere schützen sich vor zu intensiver Sonneneinstrahlung. Selbst im Meer, wo das Sonnenlicht in die oberen Wasserschichten eindringt. Hier leben Algen, die Photosynthese betreiben, und

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kleinste Lebewesen, die sich von den Algen ernähren. Darunter sind auch kleine Ruderfußkrebse (Copepoda). Ihnen galt das Interesse von Oldenburger Wissenschaftlerinnen, die sich für das blaue Farbpigment im Krebspanzer interessierten (Abb. 7.3). Einerseits tarnt es die Tiere, andererseits schützt es vor der Sonne. Die Ruderfußkrebse leben direkt an der Meeresoberfläche, wo sich eine nährstoffreiche Schicht bildet. Dieser Oberflächenfilm ist wenige Millimeter dünn, salzreich und von starker UV-Strahlung betroffen – alles andere als ein einfacher Lebensraum. Ins Wasser dringt das Sonnenlicht nicht sehr tief ein, da Wasser eine wesentlich höhere Dichte als die Luft hat und so das Licht bremst. Bereits an der Oberfläche wird ein Teil des Lichtes reflektiert – bei ruhiger See bis zu drei Prozent. Bei Wellengang mischen sich Luftblasen in die oberste Schicht und Schaum bildet sich, wodurch die Reflexion auf etwa 70 % ansteigen kann. Gischt und Wolken tragen zudem zur Streuung bei, und auch der Sonnenstand spielt eine Rolle. Je steiler von oben das Licht eintrifft, desto tiefer dringt es ein. Flach einfallende Strahlen werden stärker reflektiert. Im Wasser setzt die Strahlung ihren Weg fort, allerdings nimmt ihre Intensität rasch ab – einerseits durch die bereits erwähnte Brechung, andererseits absorbieren und streuen Wassermoleküle, Plankton und Schwebstoffe das Licht. Zur Absorption tragen auch gelöste Teilchen wie Salze und Kohlendioxid bei. In Küstennähe ist zusätzlich Sediment aufgewirbelt, wodurch die Eindringtiefe bei 3 m liegen kann, in klaren arktischen Gewässern sind es etwa 100 m.

Abb. 7.3 Ruderfußkrebs

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Insbesondere in den oberen drei Metern leben photosynthetisch aktive Algen, welche die langwelligen Lichtbereiche, vor allem rot, absorbieren. Auch der kurzwellige violette Bereich wird schnell absorbiert, sodass vor allem der blaugrüne Anteil tiefer ins Wasser eindringt. Klares Wasser erscheint besonders blau, da das blaue Licht wenig gestreut wird. Im Umkehrschluss sind darin somit wenige Nährstoffe und Lebewesen vorhanden. Das von der Wasseroberfläche reflektierte und gestreute Licht setzt sich folglich aus einem anderen Spektrum zusammen. Dies imitiert das blaue Pigment der Krebse, weshalb sie für Vögel schwer erkennbar sind: ein idealer Tarnmantel. Als Notfallstrategie, sollte er doch erkannt werden, flieht der Krebs mit kleinen Luftsprüngen vor Fressfeinden. Dabei tarnt das Pigment den Krebs nicht nur, es schützt ihn auch vor der Sonneneinstrahlung. Das reflektierte Licht kann nicht das Innere des Tieres aufheizen. Das Pigment Astaxanthin zählt zu den Xanthophyllen (Kap. 3) und ist an ein Protein gebunden. Die Gruppe der Xanthophylle gehören zu den Carotinoiden, also Pigmenten, die eine lange Kohlenstoffkette mit Doppelbindungen haben. Durch das Sonnenlicht brechen bei einigen Molekülen die einzelne Bindungen auf, und es entstehen sogenannte Radikale, also Verbindungen mit einem ungepaarten Elektron. Diese sind sehr reaktiv und greifen benachbarte Moleküle an. Die elektronenreiche Struktur des Farbstoffs kann ein einzelnes Elektron abgeben und so die Bindungsbildung ermöglichen, wodurch eine radikalische Kettenreaktion gestoppt wird. So schützen die Pigmente die Zellen vor Schäden durch Sonnenlicht. Da wundert es nicht, dass Astaxanthin auch in Grünalgen zu finden ist. Insbesondere der Lachs zeigt mit seinem roten Fleisch an, wie viele Ruderfußkrebse auf seinem Speiseplan standen. Astaxanthin verstärkt dabei auch die Farbwirkung anderer Pigmente. In Fischen geht die Wirkung noch weiter, für sie ist es nahezu ein Vitamin, das die Zellen schützt und das Immunsystem stärkt. Zugelassen ist Astaxanthin als Nahrungsergänzung in der Fischzucht. Aber auch in einem ganz anderen Bereich wird es verwendet: Manche Extremsportler nehmen es etwa vor einem Triathlon wie dem Ironman auf Hawaii zu sich und hoffen dabei auf einen inneren Sonnenschutz. Alternativ baut sich der innere Schutz durch Vitamine auf, indem viele Möhren, Tomaten und auch Olivenöl auf dem sommerlichen Speiseplan stehen. Damit kann der Körper die durch Sonnenlicht verursachten Schäden besser reparieren – allerdings ist das kein Ersatz für den noch wirksameren Sonnenschutz durch Schatten, Kleidung oder Sonnencreme.

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Sonnenschutz durch Kleidung Der einfachste Schutz vor direkter Sonneneinstrahlung besteht für uns Menschen aus Kleidung. Bei der Produktion von synthetischen Fasern kann Titandioxid beigemengt werden, das dann wie ein permanenter Sonnenschutzfaktor in die Faser integriert ist. Doch auch ohne solche Nanopartikel halten die Fasern das Sonnenlicht ab. Die Farbe entscheidet, ob das Licht wie bei heller Kleidung reflektiert oder bei dunkler eher absorbiert wird. Wüstenvölker wie die Tuareg bevorzugen dunkle Gewebe, die weit geschnittene Kleidung nimmt zwar Wärme auf, gibt sie aber auch gut wieder ab, der Körper bleibt darunter kühler und ist gut vor UV-Strahlung geschützt. Pflanzliche Fasern wie Leinen und Baumwolle sind luftig, reflektieren und absorbieren aber wenig UV-Strahlung. Nimmt Baumwolle Feuchtigkeit auf, wird sie sogar noch durchlässiger, und der UV-Schutz schwindet. Die Fasern legen sich schlicht nicht so eng aneinander, dass das Gewebe lichtundurchlässig wird. Beim Quellen werden die Durchmesser der Fasern noch größer, und die Lücken lassen mehr Licht passieren. Am Strand sind Wet-T-Shirt-Situationen vielleicht gewollt. Gefürchteter sind Schweißflecken in den Achseln: Die Fasern reflektieren schlechter und das Gewebe sieht dunkler aus. Für Sommerkleidung ist Seide beliebt, deren Fasern mattierende Bestandteile enthält. Die sehr gleichmäßige Faserstärke erlaubt ein dichtes Gewebe, das UV-Licht sowohl reflektiert als auch absorbiert – zur Haut dringt wenig durch. Traditionelle indische Gewänder bestanden aus mehreren Lagen Seide und sorgten so für optimalen Sonnenschutz. Für Textilien wird als Maß für den Schutz vor UV-Licht der UPF angegeben, die Abkürzung für die englische Bezeichnung ultraviolet protection factor. Der UPF bezieht sich auf die Eigenschutzzeit der Haut. Darin entspricht er dem Lichtschutzfaktor (LSF). Da die Haut je nach Hauttyp unterschiedlich lang der im Sonnenlicht enthaltenen UV-Strahlung unbeschadet standhält, gibt der Faktor an, wie viel Mal länger sich jemand in der Sonne aufhalten kann. Sonnencremes geben den Lichtschutz also als LSF an, die Kleidung darüber als UPF. Helle Haut kann etwa zehn Minuten ungeschützt in der Sonne bleiben. Wenn bei Seide nun ein UPF von 20 angenommen wird, können so 200 min in der Sonne verbracht werden, bei weißer Baumwolle schätzungsweise 100–150 min.

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Sonnencreme Zum Schutz vor Sonnenbrand sind Sonnencremes geeignet. Sie können die UV-Strahlung absorbieren, reflektieren oder streuen und so am Eindringen in die Haut hindern. Die verwendeten Stoffe müssen gut hautverträglich und besonders lichtbeständig sein, da mögliche Abbauprodukte zu unerwünschten Nebenwirkungen führen könnten. Eindringen soll die Creme nur in die oberste Hautschicht, die Hornschicht, die ja der Sonne ausgesetzt ist. In tieferen Geweben würde sie über den Blutkreislauf im ganzen Körper verteilt werden. Heute erhältliche Sonnencremes haben einen Breitbandschutz, womit der Schutz vor UV-A- und UV-B-Strahlung gemeint ist. Die Sonneneinstrahlung baut auch den Sonnenschutz ab, sodass regelmäßig nachzucremen ist. Der Lichtschutzfaktor ergibt sich, wenn die Sonnenbrandschwelle für geschützte Haut durch die für ungeschützte Haut geteilt wird – sofern denn die Sonnencreme dick genug aufgetragen und weder durch Baden noch durch Schwitzen abgewaschen wurde. Die Liste möglicher Zutaten für Sonnencremes ist lang. Sie enthalten als Radikalfänger häufig Ascorbinsäure (Vitamin C) oder Tocopherol (Vitamin E), organische UV-Filter wie Zimtsäureester oder anorganische wie Titandioxid oder Zinkoxid. Als UV-Filter sind zahlreiche Stoffe geeignet, sie alle können leicht Energie aufnehmen, meist durch Elektronen, die ähnlich wie im Melanin umherwandern können. Allerdings sind die Systeme kleiner, sonst würde die Sonnencreme selbst bereits farbig erscheinen. Für hohe Lichtschutzfaktoren, die sogenannten Sunblocker, wird neben Zinkoxid am häufigsten das Pigment Titandioxid verwendet. Titandioxid reflektiert und streut das Sonnenlicht sehr gut. Da die Oberfläche bei kleineren Teilchen im Vergleich zu größeren zunimmt, werden Partikel im Nanometerbereich eingesetzt, also zwischen 100 und 1000 nm Größe. Mit Nanopartikeln das Licht abhalten: Titandioxid Zu den am häufigsten untersuchten Materialien zählt Titandioxid, nicht zuletzt, weil es so vielfältig verwendet wird. Eine der ältesten Anwendungen ist die als Weißpigment in Farben, aber auch für selbstreinigende Oberflächen wird es eingesetzt. Das Sonnenlicht wird absorbiert und erzeugt ein angeregtes Elektron. Auf Oberflächen lagern sich Staubkörner ab oder durch Handabdrücke auch Fette. Diese organischen Stoffe reagieren mit dem angeregten Elektron und zerfallen. In der Folge wäscht Regen die Bruchstücke ab. Neben einem solchen photokatalytischen Einsatz ist Titandioxid ein Kandidat für moderne Materialien in der Photovoltaik. Unklar war lange

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Zeit, ob das Elektron den Ort seiner Entstehung verlassen kann oder vor Ort bleibt, wo sich das Paar aus einem angeregten Elektron und positiven Ladung an der Fehlstelle des Elektrons im Kristallgitter bildet. Diese Paare haben den Namen Exzitonen. Sie können ankommende Lichtenergie in elektrische Ladung wandeln und transportieren. Dieser Mechanismus wurde im Jahr 2017 von einem internationalen Forscherteam untersucht. Die Energie muss dabei nicht unmittelbar wieder abgegeben, sondern kann auch gespeichert werden – dies ist gut für technische Anwendungen zum Beispiel in der Photovoltaik.

Abwehrstrategie im Sonnenschein: Vorsicht vor dem Bärenklau Die Lichtenergie effektiv umzuwandeln gelingt auch einigen pflanzlichen Stoffen sehr gut. Und zwar nicht nur bei der Photosynthese, sondern auch zur Abwehr von Fressfeinden. Sie reagieren mit der Haut und wirken toxisch. Diese Strategie verfolgt der Riesen-Bärenklau (Heracleum mantegazzianum). Er kam ursprünglich aus dem Kaukasus und wurde im 19. Jahrhundert als Schmuckstaude in europäische Parks und Gärten eingeführt. Die Wuchshöhe ist mit bis zu 3 m beeindruckend, und im Juni bis Juli blühen riesige weiße Blütendolden. Allerdings enthalten eigentlich alle Pflanzenteile, zumindest alle, die berührt werden können, Furanocumarine. Diese photosensibilisierenden Stoffe machen die Haut lichtempfindlich. Wer Kontakt mit dem Bärenklau hatte, tut gut daran, Sonnenlicht und andere UV-A-Quellen zu meiden und die Haut möglichst schnell zumindest mit Wasser und Seife oder besser noch mit Spiritus zu reinigen. Denn anders als ein Sonnenbrand heilt die Photodermatitis schlecht und langsam, wenngleich die ersten Symptome ähnlich sind: Die Haut rötet sich und wirft oft Blasen. Ein Hautarztbesuch ist dringend zu empfehlen. Neben dem Begriff Photodermatitis wird auch von der Wiesengräserdermatitis gesprochen. Über seine Samen breitete sich der Bärenklau aus, und Fressfeinde hält er durch die phototoxischen Stoffe weitgehend fern (Schafe fressen durchaus die jungen Pflanzen). Auch andere Pflanzen enthalten ähnliche Stoffe, die die Haut überempfindlich auf Sonnenlicht machen. Die wilde Ausbreitung des Riesen-Bärenklaus, seine imposante Größe und hochwirksamen Toxine machten ihn allerdings zum berüchtigtsten Vertreter der Pflanzen mit photosensibilisierenden Inhaltsstoffen.

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Wer im drückend heißen Sommer Schatten sucht, geht gern in Parks oder besser noch in Wälder. Warum der Schatten unter Bäumen so wohltuend ist? Im Wald ist die Luft merklich frischer und hat ein ganz eigenes Bukett. Wie es dazu kommt, ist im nächsten Kapitel zu lesen.

8 August – Wälder

Wer in den Wald geht, riecht dort einen besonderen Duft. Bei Trockenheit verströmen Nadelgehölze einen harzigen Geruch; wenn Regen gefallen ist, wittern Pilzsammler ihr Glück. Gerade an heißen Sommertagen erfrischt uns ein Waldspaziergang – später wird deutlich werden, woran dies liegt. Wälder sind also mehr als nur vielseitige Lebensräume. In diesem Kapitel soll es darum gehen, das unsichtbare Zusammenleben zu erkunden. Welche Rolle spielt dabei der Gasaustausch? Bringt die Luft den Rohstoff für die Photosynthese, und verdunstet Wasser als Kühlung – sorgt also für chemische und physikalische Prozesse? Inwieweit kommunizieren Bäume miteinander?

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Feil, Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59264-9_8

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Märchen spielen oft im Wald, und Waldmythen gibt es viele: Moose wachsen angeblich vor allem auf der Nordseite von Baumstämmen. Das könnte stimmen, aber es könnte auch sein, dass Moose einfach dort wachsen, wo die Rinde eine Art Regenrinne bildet. Das hängt dann stärker von der Wuchsform der Bäume und den Lichtbedingungen in ihrer Jugendzeit ab als von der Himmelsrichtung. Eine Wetterseite gibt es streng genommen nicht, da der Wind im Wald gebremst wird, wie weiter unten noch ausführlicher Thema sein wird. Inwiefern Ameisenhügel tatsächlich auf der sonnigen Südseite der Bäume entstehen, mag genauso umstritten sein. Als Orientierungshilfe im Wald sollten wohl besser Karte und Kompass oder GPS dienen. Richtig ist auf jeden Fall, dass Waldböden noch vergleichsweise wenig untersucht sind. In ihnen leben unzählige Klein- und Kleinstlebewesen, die herabfallende Nadeln und Blätter zersetzen – oder auch ganze, umgestürzte Bäume. Ein Teelöffel guter Waldboden enthält Pilzfäden in Kilometerlänge. Zu den von uns wenig beachteten Tieren zählen Hornmilben, Springschwänze und Borstenwürmer, dabei gibt es allein von den Hornmilben in Nordeuropa über 1000 bekannte Arten. Ihre braune Färbung tarnt sie zwischen den Bodenkrumen, und sie erreichen nur selten einen Millimeter Größe. Zunächst soll es jedoch um die markantesten Lebewesen des Waldes gehen: Die Bäume.

Wälder – eine Lebensgemeinschaft Sprichwörtlich sieht jemand den Wald vor lauter Bäumen nicht. Dabei besteht ein Wald aus Bäumen; welche dies sind, ist regional verschieden. Neben der Frage, ob es Nadel- oder Laubbäume sind, wird unterschieden, ob sie flach oder tief wurzeln. Davon hängt beispielsweise ab, wie gut sie sich bei Trockenheit mit Wasser versorgen können. Sehr bekannt und verbreitet sind in Nord- und Mitteleuropa die Sommereiche (Stieleiche), Rotbuche, Weißbuche (Hainbuche), Ahorne, Rosskastanie, Birken und Esche als Laubbäume. Bekannte Nadelbäume sind Waldkiefer, Weißtanne, Fichte und Lärche, wobei letztere insofern eine Besonderheit darstellt, als sie im Winter die Nadeln verliert. Wer sich unsicher ist, ob er oder sie eine Fichte oder Tanne vor sich hat, kann vorsichtig eine Nadel abreißen. Wenn dabei ein Stück Rinde mit abzieht, ist es mit ziemlicher Sicherheit eine Fichte, denn Tannennadeln lösen sich leicht. Eines haben jedoch alle Waldbäume gemeinsam: Im Boden werden sie von einer Vielzahl von Pilzen unterstützt. Die Pilzgeflechte stellen Nährstoffe bereit, die den Bäumen sonst nicht oder weniger zugänglich sind, und

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verbessern die Fähigkeit des Bodens, Wasser zu speichern. Dabei bevorzugen verschiedene Pilze jeweils eine Baumart. Pilzsammler wissen dies, sie suchen Steinpilze zum Beispiel unter Eichen. Allerdings gibt es weit mehr Pilzarten als jene, die für ihre Fortpflanzung wie etwa die Ständerpilze die bekannten oberirdischen Fruchtkörper ausbilden. Symbiose mit Pilzen Interessant ist, dass wir vom Baum Stamm und Krone sehen, aber nicht gut abschätzen können, wie weit seine Wurzeln reichen. Diese wachsen zum Teil vertikal nach unten, um an Wasser aus der Tiefe zu gelangen, zum Teil auch horizontal, um zum Beispiel Phosphorverbindungen aufzunehmen. Bei den meisten Bäumen entspricht die Fläche des Wurzelwerks etwa der Ausbreitung der Krone. Ganz anders verhält es sich bei Ständerpilzen. Von ihnen sehen wir Hut und Schirmchen, also die Fruchtkörper – das Pilzgeflecht wächst aber unterirdisch. Anders als bei Pflanzen sind diese Pilzfäden der eigentliche Organismus und keine Wurzeln. Das Pilzgeflecht wird als Ganzes auch Myzel genannt; die einzelnen feinen Pilzfäden sind die Hyphen (Abb. 8.1). Der unterirdisch wachsende Pilz stößt auf Baumwurzeln und lagert sich an. An einigen Stellen dringt er in die Wurzeln ein, um die nach unten transportierten Zuckerbausteine des Baumes für eigene Zwecke zu nutzen. Diese kann der Pilz nicht selbst aufbauen, da er keine Photosynthese betreibt. Etwa vier Prozent des von Bäumen in der Photosynthese zu Zuckern verbauten Kohlenstoffs werden an Pilzgeflechte im Boden abgegeben.

Abb. 8.1 Pilzhyphen

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Baumwurzeln kooperieren mit dem Pilz, da er zusätzlich dazu beiträgt, Wasser im oberflächennahen Boden zu speichern. Zugleich können Pilze schwerlösliche Salze verfügbar machen, wobei sie Schwermetalle einspeichern und wichtige Spurenelemente an den Baum abgeben. Darüber hinaus versorgen die Hyphen den Baum mit Stickstoff- und Phosphorverbindungen, sind quasi ein Fahrstuhl für düngende Nährstoffe aus dem oberflächennahen Humus hinunter zu den Baumwurzeln. Das enge Zusammenleben von Baum und Pilz wird mit dem Begriff Mykorrhiza beschrieben. Eine aktuelle Hypothese geht davon aus, dass Pilze mehrere Bäume unterirdisch verbinden und so zur Kommunikation zwischen diesen beitragen. Zudem können sie aus den aufgenommenen einfachen Kohlenstoffverbindungen komplexer aufgebaute, antibiotisch wirksame Stoffe produzieren und so schädliche Bodenbakterien abwehren. Da das Zusammenleben der Pilze mit den Bäumen zu beiderseitigem Vorteil ist, wird von einer Symbiose gesprochen. Dabei kann das Myzel eines Pilzes sehr alt werden und sich etwa beim Hallimasch über Quadratkilometer erstrecken. Pilze als Zersetzer Im Wald ist das Werden und Vergehen gut zu sehen. Bäume stürzen im Sturm um, werden von Käfern zernagt und von Pilzen besiedelt. Während einige Pilze Symbiosen mit lebenden Bäumen eingehen, setzen andere darauf, sich von herabfallendem Laub oder Totholz zu ernähren. Sie scheiden abbauende Enzyme aus, die dann die Zucker in kleinere Moleküle aufspalten. Diese werden dann von den Zellen der Pilzfäden aufgenommen und für das eigene Wachstum genutzt. Außerdem werden allerlei Verbindungen zum Schutz vor der Konkurrenz aufgebaut. Sie wirken gegen (anderes) Leben, griechisch anti bios. Tatsächlich stammen wichtige Antibiotika von Pilzen, die mit anderen Mikroorganismen in Konkurrenz um Lebensraum stehen. Zu den Zersetzern zählt der Hallimasch; er kann sogar lebende Bäume zum Absterben bringen. Im US-Bundesstaat Oregon wurde ein vermutlich 2400 Jahre alter Hallimasch entdeckt, der mit geschätzten 600 t Gewicht und einer Besiedlungsfläche von 900 Hektar als das größte lebende Wesen gilt. Oberflächlich zu sehen sind nur gelegentlich honiggelbe Hüte, wenn der Pilz Fruchtkörper bildet.

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Waldklima Benachbarte Bäume stützen sich im Wald gegenseitig bei Sturm und bremsen kollektiv die Windgeschwindigkeit. Dies gilt auch, wenn es nicht stürmt: Im Wald ist es generell weniger windig. So kommt es, dass sich das von Blättern und Nadeln verdunstete Wasser zwischen den Bäumen hält und bei hohen Temperaturen kühlend wirkt. Im Winter, wenn die Laubbäume keine Blätter tragen, schirmt das Astwerk immer noch die strengsten Fröste ab, und der Boden gefriert nur wenige Zentimeter tief. Dadurch bildet sich im Wald ein eigenes Klima, das durch weitere Gase angereichert wird, die die Bäume zur Kommunikation abgeben. Im Sommer etwa verströmen Blüten ihren Duft, um Insekten anzulocken. Bei Schädlingsbefall warnen sich die Bäume einer Art gegenseitig durch Stoffe, die sie in die umgebende Luft abgeben. Auf Menschen wirkt ein Waldspaziergang in vielerlei Hinsicht wohltuend. Der Blutdruck sinkt, und weniger Stresshormone durchfluten den Körper. Das Immunsystem hingegen soll angeregt werden. Kanadische Forscher untersuchten, wie gesund Menschen in der Nähe von Wäldern verglichen mit jenen in Metropolen sind. Die Anzahl der Bäume korreliert mit der Gesundheit jener, die dort leben: Je mehr Bäume, desto gesünder. Gleichwohl tendieren Menschen auch dazu, sich in der Nähe von großen Wasserflächen anzusiedeln – andere Faktoren wie die Aufenthaltsdauer im Freien spielen also bei solchen Studien sicher auch eine Rolle. Denn damit steigt beispielsweise die Versorgung mit Vitamin D (Kap. 2). Die von Nadeln und Blättern aufgewirbelten Bakterien bereichern, so heißt es, die Vielfalt der menscheneigenen Bakterienkultur und können Entzündungen vorbeugen, indem sie das Immunsystem trainieren. Die Wirkung der Waldluft auf den Menschen untersucht der noch relativ junge Forschungszweig der Ökopsychosomatik. Die Schnittmenge der daran interessierten Disziplinen ist groß, und entsprechend vorsichtig sollten Quellen bewertet werden.

Wasserleitung im Baum Die hohe Luftfeuchtigkeit in Wäldern ist auf jeden Fall gut für Menschen, die viel in trockener Büroluft arbeiten. Zum einen verdunstet Regen auf der enorm großen Blattoberfläche. Vor allem aber transportieren die Bäume mit ihren Wurzeln viel Wasser aus dem Boden bis in die Krone, wo es für den

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Stoffwechsel benötigt wird und verdunstet. Im Laufe eines Jahres verbraucht eine ausgewachsene, 150-jährige Eiche so mehr als 30.000 l Wasser. Laut Lehrbuch wirken hier vor allem Kapillarkräfte und Osmose zusammen. Wasser ist das Transportmittel der Wahl. Wie bei einer Einbahnstraßenregelung hat der Baum ein getrenntes Leitungssystem für Wasser, das von der Wurzel zur Krone steigt, nämlich das Xylem (Abb. 8.2). Die umgekehrte Strömungsrichtung herrscht im Phloem (sprich: Phlo-em), einer dünnen Schicht unterhalb der Rinde. Zwischen ihnen liegt das Kambium, die Wachstumsschicht. Im Xylem (Holzteil) steigt das Wasser auf, in dem aus dem Humus gewonnene Stoffe gelöst sind. So benötigen die austreibenden Blätter Mineralsalze, um die Enzyme für die Photosynthese aufbauen zu können. Im Gegenzug fließt im Phloem (Bast- oder Siebteil) zuckerhaltiges Wasser in die Wurzel: Bei der Photosynthese entstehen Zucker, die von der Krone zu den Blattknospen im unteren Bereich und zu den Wurzeln transportiert werden (Kap. 3). Von den umliegenden Zellen mit niedrigerem Zuckergehalt fließt Wasser in die Richtung der höher konzentrierten Lösung. Dieser Osmose genannte Prozess löst einen Wasserstrom aus. Der Holzkörper im Inneren des Stammes ist daher relativ trocken. Die erwähnten Kapillarkräfte entstehen durch die starken Anziehungskräfte zwischen den Wassermolekülen, die Kohäsionskräfte. Sie sorgen dafür, dass das Wasser in den engen Leitungsbahnen des Xylems höher steigt und

Abb. 8.2  Der Baumstamm besteht aus verschiedenen Geweben

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vor allem der Wasserfilm nicht abreißt. Würde dies geschehen, träte Luft in die Wassersäule und würde sie blockieren. Die sehr teilungsfähigen Zellen im Kambium bringen vor allem im Frühjahr viel neues Xylem- und auch Phloemgewebe hervor. Dies ist das Dickenwachstum des Baumstammes, später als Baumringe gut erkennbar: Im Frühjahr entsteht eine helle, lockere Gewebestruktur. Im Spätsommer bilden sich kleinere Zellen, die vor allem den Herbststürmen fester entgegenstehen und ein dichteres Gewebe bilden. Daher ist diese Schicht dunkler. Sobald die Xylemzellen voll ausgebildet sind, werden ihre vitalen Funktionen nicht mehr benötigt, sondern nur noch ihre strukturellen: Für die Lebensfunktion wichtige Bestandteile werden wieder abgebaut, die Zellen sterben ab und bilden dünne Hohlkörper, deren verholzte Wände dünne Leitungsröhren bilden. Die Wassergeschwindigkeit in den bis zu einen Millimeter dicken Röhren beträgt bis zu 44 m pro Stunde von den Wurzeln in Richtung Blätter. Im Gegensatz zum Xylem behalten die Zellen im Phloem zunächst ihre Eigenschaften als lebende Zellen. Der Transport der zuckrigen Lösung verlangt letztlich mehr Steuerung und Kontrollmechanismen – und diese kann nur ein lebender Wächter übernehmen. Die Geschwindigkeit ist mit nur zwei Metern pro Stunde deutlich geringer. Die Zellen haben viele Poren für den Stoffaustausch mit der Umgebung. Nicht nur die in der Photosynthese erzeugte Glucose wird transportiert. Für die Bildung von Samen und Früchten wird die Glucose zu Stärke verknüpft; außerdem werden Vitamine gebildet und im Baum verteilt. Regelmäßig produziert der Baum neue Phloem-Zellen und drückt dann die ältere Schicht nach außen, wo sie die abgestorbene Borke bilden. Im August endet das jährliche Wachstum des Baumstammes. Der Baum beginnt, auch in Wurzeln und in Holzzellen Stärke einzulagern. Das Blattgrün der Laubbäume wirkt nicht mehr so saftig grün. Einige Baumarten beginnen bereits, Chlorophyll abzubauen und einzulagern. Sie erscheinen gelb-bräunlicher. Bis zum Blattabwurf im Herbst bildet sich noch ein Trenngewebe an der Basis des Blattstiels. Der Baum ist nun vorbereitet für die winterliche Ruhephase. Ohne die enorme Blattoberfläche von mehr als 1000 m2 toben Stürme mit viel weniger Angriffsfläche durchs Astwerk. Ein Nadelbaum wie die Fichte hat eine kompakte, vergleichsweise windschnittige Wuchsform. Wer hingegen in der Nähe von alten Kiefern lebt, kennt die ausgebrochenen Äste nach Stürmen. Im hochsommerlichen August ist weniger die Angriffsfläche für Wind eine mechanische Herausforderung. Dies ist häufig einer der heißesten Monate, und so verdunsten die Bäume viel Wasser, wodurch im Wald ein

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um einige Grad kühleres Klima herrscht als auf unbewaldeten Flächen. Insgesamt beeinflussen Bäume mit den abgegebenen Stoffen sogar die Wolkenbildung. Zum einen verdampft nach einem Regen ein Teil des Niederschlags gleich wieder in den Kronen der Bäume und liefert so Nachschub für neue Wolken. Zum anderen unterstützt auch eine bestimmte Gruppe chemischer Stoffe die Bildung neuer Wolken, indem sie sogenannte Wolkenkeime bilden. Es geht um Terpene, die sich wie Minzöle kühlend anfühlen können. Sie können sich in der Luft zusammenlagern und begünstigen so die Tröpfchenbildung von Wasserdampf. Dadurch sind Wolken, die sich über Wäldern bilden, dichter. In der Folge regnen sie leichter ab – und bis dahin erscheinen sie heller, reflektieren mehr Sonnenlicht und sorgen so ebenfalls für ein kühleres Klima im Wald. Dieser Prozess ist global wichtig, um Wasser via Luftfracht von den Küstenregionen ins Landesinnere zu transportieren.

Kurznachrichten über den Wipfeln: Terpene als Nachrichtendienst Bäume nehmen nicht nur Kohlendioxid für die Photosynthese auf (Kap. 3) und geben Sauerstoff oder Wasserdampf ab. Das Spektrum aufgenommener und abgegebener Gase ist größer. Beim Aufbau von Stoffen aus Kohlendioxid entstehen flüchtige Verbindungen, deren Funktionen für die Bäume gerade erst entschlüsselt werden. Unter dem Blätterdach ist es kühler – einerseits, weil die erwärmende Sonneneinstrahlung nicht durchdringt, andererseits, weil Wasserdampf und andere Gase einen kühlenden Effekt haben, allen voran die Terpene. Ätherische Öle Da Terpene auch wie Brandbeschleuniger wirken, sind sie besonders gut untersucht. Sie zählen zu den ätherischen Ölen, ein Begriff, der eine Mischung verschiedener Terpene und anderer leicht flüchtiger organischer Verbindungen (englisch volatile organic compounds, kurz VOC) bezeichnet. Flüchtige Verbindungen sind solche, die sich leicht in der Luft verteilen. Allgemeiner sind unter ätherischen Ölen duftende Stoffe zu verstehen, die durch physikalische Verfahren aus Pflanzen oder Pflanzenteilen gewonnen werden.

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Öle im Sinne von Fetten produzieren Pflanzen auch, und diese unterscheiden sich chemisch von ätherischen Ölen. Manche dienen zum Beispiel als Energiereserve in Samen und Früchten, wo sie in Membranen oder speziellen Fettzellen gespeichert sind, aus denen sie ausgepresst werden können. Ein charakteristisches Unterscheidungsmerkmal zwischen pflanzlichen Fetten und ätherischen Ölen ist, das erstere Flecken auf Papier hinterlassen, ätherische Öle hingegen nicht. Beide sind jedoch klare Flüssigkeiten, die sich deutlich vom Wasser unterscheiden. Ätherische Öle verdunsten im Gegensatz zu Fetten bereits bei Raumtemperatur. Viele sind geruchs- und auch geschmacksintensiv. Ein häufiger Bestandteil sind Terpene, zu ihrem Aufbau später mehr. In den Pflanzenzellen liegen die ätherischen Öle in flüssiger Form vor. Bricht aber zum Beispiel eine Tannennadel auf, expandieren die Inhaltsstoffe und verteilen sich entweder fein in der Luft oder werden gleich gasförmig. Flüchtige Kommunikation Einer der Gründe dafür, dass Bäume Terpene abgegeben, führt ins Reich der Kommunikation zwischen artgleichen Bäumen. Nicht nur über das große Wurzelwerk besteht Kontakt zu anderen Bäumen oder auch direkten Nachbarn. Auch über größere Entfernungen stehen Bäume in Kontakt und das vergleichsweise schnell, da sich Gase schnell mit dem Luftstrom verteilen. Die Bäume können unterscheiden, ob gerade der Wind einen ihrer Äste abknickt oder ob es ein Reh ist, das es auf ihre Blattknospen abgesehen hat. Sie erkennen nicht nur Speichel an den verwundeten Stellen, sondern mitunter sogar, welcher Fraßfeind gerade an ihnen knabbert. Von Schirmakazien ist bekannt, dass sie Ethen (H2C = CH2) verströmen, wenn Giraffen an ihnen fressen (Abb. 8.3). In der Steppe werden so andere Akazien vorgewarnt und pumpen vergällende Stoffe in ihre Blätter. Die Giraffen kennen das Phänomen und lassen benachbarte Bäume aus, um ihre Mahlzeit fortzusetzen. Allerdings nur in Windrichtung; entgegen dem Wind fressen sie ohne Verdruss auch an nahen Bäumen. Das Gas Ethen ist sehr einfach aufgebaut, dafür aber nicht sehr spezifisch. Mit Terpenen lassen sich Botschaften gezielter kommunizieren – auch über Artgrenzen hinweg, beispielsweise mit Insekten. So strömen von Schmetterlingsraupen befallene Ulmen und Kiefern einen Duftstoff aus, der Wespen anlockt. Diese legen ihre Eier in den Raupen ab. Wenn nun die Wespenlarven schlüpfen, ernähren sie sich von ihrem Wirt. Die Raupen können sich nicht weiterentwickeln und sterben ab. Von den Pflanzen werden noch weitere Stoffe eingesetzt, um eine Mahlzeit zu vergällen, die jedoch aus größeren Molekülen bestehen und chemisch nicht

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Abb. 8.3  Frisst eine Giraffe an einer Schirmakazie, warnt der Baum umstehende Akazien. Diese vergällen den Giraffen daraufhin die Mahlzeit

zu den Terpenen zählen. Sie verdampfen nicht so leicht an der Oberfläche und werden in Blättern oder Rinde eingelagert. Beispiele sind Gerbstoffe bei Eichen oder Salicylsäure bei Weiden. Letztere war schon Naturvölkern als schmerzstillendes Heilmittel bekannt. Ein Nachteil war, dass der Wirkstoff auch Magenprobleme bereitete. Chemikern gelang es durch eine kleine Änderung hin zu Acetylsalicylsäure, kurz ASS, daraus ein verträgliches Schmerzmittel zu schaffen. Vielfalt aus nur einem Grundbaustein Chemisch betrachtet ist ein Terpen eine Verbindung, die aus einem wiederkehrenden Baustein aufgebaut ist, dem Isopren. Letzteres besteht aus fünf Kohlenstoffatomen und hat eine Verzweigung. Als einzelner Baustein enthält Isopren zudem zwei Doppelbindungen (2-Methyl-1,3-butadien, C5H8). In der Regel verknüpft sich Isopren zu größeren Ketten oder Ringen, eben den Terpenen. Ein Monoterpen enthält bereits zwei Isopren-Einheiten, ein Diterpen entsprechend vier. Werden sehr viele Terpene verknüpft, entstehen auch Wachse, Harze oder Gummi. Kautschuk ist ein Polyterpen mit über 1500 Kohlenstoffatomen, ebenso enthalten Guttapercha und Baumharze solche. In den Pflanzen werden Terpene jedoch keineswegs aus isolierten Isopren-Bausteinen aufgebaut; tatsächlicher Ausgangspunkt ist die Essigsäure (H3C–COOH). Verknüpft mit dem Coenzym A ist die damit „aktivierte“ Essigsäure ein Allrounder: Acetyl-Coenzym-A (Abb. 8.4). Im Namen taucht der Name für den Säurerest der Essigsäure auf, das Acetyl (H3C–COO−).

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Abb. 8.4  Im Stoffwechsel häufig anzutreffen: Acetyl-Coenzym A (Acetyl-CoA)

Dieses Molekül, kurz Acetyl-CoA, reagiert leicht und gibt gern die kleine Kohlenstoffkette der Säuregruppe ab. Da diese zwei Kohlenstoffatome (C) enthält, wird von einem als C2-Baustein. Diese Funktion wird in zahlreichen Stoffwechselwegen genutzt. Ausgehend von diesem Baustein werden nun zahlreiche Enzyme aktiv und bauen das vorgesehene Terpen auf. Je nach Molekülgröße sind verschiedene Aggregatzustände (Glossar) bevorzugt: Flüchtig sind meist Mono- bis Diterpene, da größere Moleküle einen stabileren Verband bilden und so einen flüssigen oder festen Zustand einnehmen. Zu finden sind Terpene in Blättern von Kräutern wie etwa Menthol in der Pfefferminze oder in den Nadeln von Bäumen. Da letztere häufig mit Wachs überzogen sind, um im Winter das kostbare Wasser vor dem Verdunsten zu bewahren, bilden sich regelrechte Terpen-Reservoirs. Trotz des Schutzes trocknen die Nadeln, und den frei werdenden Raum nehmen die ätherischen Öle ein. Dies ist gefürchtet bei Waldbränden – aber auch bei Weihnachtsbäumen. Fängt ein Nadelbaum Feuer, verdampfen die ätherischen Öle schlagartig und es kommt regelrecht zur Explosion. Zum Löschen bleibt nur eine Reaktionsspanne von rund 30 s, danach schießen die Flammen hoch und stecken die Umgebung in Brand. Forscher ermittelten bei Brandversuchen die Hitzeentwicklung: Die Temperatur liegt hier kurzzeitig mit 1600–1700 ℃ über der von vielen Schmelzöfen. Ein Wohnungsbrand erreicht normalerweise nicht mehr als eine Temperatur von 1200 ℃. Gase als Wolkenkeime – und als Warnrufe Von den über Wäldern aufsteigenden Monoterpenen wurde bisher das Pinen näher untersucht (Abb. 8.5). Dieses ringförmige Terpen reagiert in der Atmosphäre mit Ozon und anderen sehr reaktiven Sauerstoffverbindungen. Die dabei entstehenden Dämpfe enthalten auch größere Moleküle, die sich gern aneinander anlagern. So können sich feine Tröpfchen bilden. Eine solche Mischung aus Gas und Flüssigkeit ist ein Aerosol und kann die Bildung von Wolken anstoßen. In detaillierten Studien zur Aerosolbildung überraschte es die Klimaforscher, dass nicht immer Schwefeldioxid (SO2) dafür nötig ist, wie bis dahin angenommen.

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Abb. 8.5  α-Pinen

Klimaforscher können noch bei weitem nicht genau berechnen, wie stark der Einfluss der Aerosole auf die Wolkenbildung und damit auf das Klima ist. Damit sich Wolken bilden können, brauchen sie kleine Aerosolpartikel – kleinste feste Teilchen, die in der Luft schweben. Also Staub, Pollen und am Meer aufgewirbelte Salze. Oder aber es sind Gase wie die Terpene über Wäldern, daneben auch Schwefelsäure aus natürlichen Quellen wie Vulkanausbrüchen oder aus Schwefeloxiden, die bei der Verbrennung schwefelhaltiger Brennstoffe frei werden. Als Keim für die Kondensation reichen Teilchen mit einer Größe von 50 nm aus, dem 500-fachen Durchmesser eines Wassermoleküls. Je mehr Aerosole vorhanden sind, desto heller und langlebiger werden die Wolken (Abb. 8.6). Untersuchungen dazu finden in Pflanzenkammern statt, in denen junge Bäume unter Stress gesetzt werden. Die Luft wird anschließend in einem Reaktor weiter untersucht, in dem die abgegebenen VOC mit Sauerstoff reagieren und sich zu Partikeln zusammenlagern. Als Stressfaktoren wurden einerseits Trockenheit und Hitze getestet und zum anderen Schädlingsbefall. Bei Trockenheit und Hitzestress änderte sich das Profil der abgegebenen Terpene und anderen flüchtigen organische Verbindungen nicht. Sie lagern sich eng zusammen und bilden so kleine Wolkenkeime. Die daraus entstehenden Wolken wären grau und reflektierten wenig Sonnenlicht, wodurch sie wiederum wenig kühlen würden. Durch Schädlinge verursachter Stress wirkte sich wie erwartet auf die Zusammensetzung der abgegebenen Stoffe aus – in erster Linie natürlich, um andere Bäume zu warnen und so die eigene Art insgesamt zu schützen. Die aus der Luftmischung gebildeten Aerosole waren groß, denn die weiter in die Atmosphäre aufsteigenden Tröpfchen bilden mit Staub, Ruß und Pollen größere Partikel, welche die Kondensation von Wasser schneller anregen. Diese Kondensationskeime wachsen schneller und sind ungeordneter,

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Abb. 8.6  Bäume als Wolkenmacher. Bei Trocken- und Hitzestress (links) werden die Partikel zur Wolkenkondensation werden kleiner. Die daraus entstehenden Wolken sind grau; sie reflektieren das Sonnenlicht nicht so gut wie hellere Wolken (rechts) durch Partikel, die infolge von Schädlingsbefall freigesetzt werden

wodurch sie weniger kompakt sind und das Sonnenlicht besser reflektieren: Die entstehenden Wolken wären weißer und kühlen besser. Aktuell ist geplant, die Ergebnisse in Freilandversuchen zu überprüfen. Diese Studien sollen dabei helfen, die Auswirkungen des Klimawandels einzuschätzen, der ja in vielen Erdregionen mit längeren Trockenperioden einhergeht.

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Vielseitige Terpentine Bevor der chemische Aufbau der Terpene im Fokus steht, sei noch die Nutzung eines bestimmten ätherischen Öls vorgestellt, nämlich des Terpentinöls. Umgangssprachlich steht Terpentin für ein Lösemittel, das unpolare, also nicht gut wasserlösliche Stoffe löst. Unpolare Stoffe sind zum Beispiel Fette, deren Moleküle im Wesentlichen aus langen Kohlenstoffketten als Grundgerüst bestehen. Im Wassermolekül bilden sich verschieden gepolte Bereiche aus, da die Atome von Sauerstoff und Wasserstoff die Elektronen unterschiedlich stark anziehen, weshalb es ein polares Lösemittel ist. Zurück zum Terpentin. Der Begriff wiederum ist ein Lehnwort aus dem Lateinischen und bezieht sich auf die Harze der Terebinthe, einer im Mittelmeerraum vorkommenden Pistazienart. Das wohlriechende Harz wurde schon in biblischen Zeiten aus der Rinde gewonnen. Heute wird im Mittelmeerraum bei Kiefernarten wie der Schwarzkiefer die Rinde angeschnitten und der austretende zähe Baumsaft aufgefangen. Dieser wird gereinigt und dann durch Destillation in Terpentinöl sowie Kolophonium aufgetrennt. Beide Produkte werden weiter verwendet. Terpentinöl ist Grundlage für Lacke, Schuhcreme und Bohnerwachs. Die Bögen von Streichinstrumenten werden mit Kolophonium behandelt, um die Reibung der Haare auf den Saiten zu erhöhen. Im Wachs sind vor allem ringförmige Terpene enthalten. Terpentinöl gilt als eines der wichtigsten ätherischen Öle und besteht zu 70–90 % aus α- und β-Pinen. Zahlreiche Aromastoffe werden hieraus hergestellt, und schon früh begannen Chemiker, sich für die Struktur der enthaltenen Terpene zu interessieren. Die Kohlenstoffketten, die das Gerüst der Moleküle bilden, enthalten Doppelbindungen. Da Kohlenstoffatome vier Bindungen eingehen können, verzichten sie bei einen Doppelbindung gleichsam auf einen Bindungspartner und halten sich doppelt an einen bereits vorhandenen. Darauf bezieht sich der Begriff „ungesättigt“ im Zusammenhang mit Kohlenwasserstoffen. Die Elektronen der Doppelbindungen sind reaktionsfreudiger als solche in Einfachbindungen; es gibt auch Dreifachbindungen zwischen Kohlenstoffatomen, die ebenfalls zu den ungesättigten Kohlenwasserstoffen zählen und noch reaktiver sind. Die Doppelbindungen im Kohlenstoffgerüst geben diesem eine gewisse Starre. Durch weitere räumliche Faktoren nimmt das Molekül eine recht genau festgelegte Struktur ein. Abstehende Gruppen verhindern dann, dass sich diese Moleküle mit anderen zusammenlagern. Folglich entsteht eine zähe Flüssigkeit: ein Öl. Bei der Verknüpfung mehrerer Isopren-Bausteine können die Doppelbindungen auch in Einzelbindungen übergehen, weil die bindenden Elekt-

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ronen für die neue Verknüpfung benötigt werden. So gibt es gesättigte und ungesättigte Terpene, manche bleiben kettenförmig, andere schließen sich zu Ringen. Grundstrukturen mit bis zu zehn Kohlenstoffatomen, in denen die Isopren-Bausteine erkennbar sind, heißen Terpene. Neben weiteren Kohlenstoffseitenketten können sie vor allem Gruppen tragen, die Sauerstoffatome enthalten. Dann handelt es sich um Terpenoide. Die Terpenoide sind Bestandteil von Harzen, Milchsaft, Wachsen und Ölen. Wenn Pflanzen von Pilzen oder Bakterien befallen werden, bilden sie Terpenoide als Abwehrstoffe. Über die Wurzeln ins Erdreich abgegeben, verhindern diese auch das Auskeimen von Saat anderer Pflanzen. Doch zurück zu den Terpenen im Gasraum der Wälder, wo sie Botschaften zwischen den Bäumen vermitteln. Diese informieren sich gegenseitig über Trockenstress, um frühzeitig die Spaltöffnungen in den Blättern zu schließen und so die Verdunstung zu drosseln. Ein anderes Beispiel sind Fraßschäden, wie Biologen sie bei Tabakpflanzen als Modell untersuchten. Beißen Raupen die Tabakblätter an, setzen sie unfreiwillig gasförmige Botschaften frei. Andere Pflanzen haben dann die Chance, für die Raupen giftige Stoffe im Blatt zu verteilen. Wenn dann aus bereits abgelegten Eiern Raupen schlüpfen, vergällt ihnen diese Strategie die Mahlzeit.

Wie gehen Borkenkäfer in die Falle? Warum die Borkenkäfer so gefürchtet sind, ist schnell erzählt. Sie suchen eine geschwächte Fichte und bohren Löcher in die Borke. In diese Gänge legen sie ihre Eier ab. Die schlüpfenden Larven gelangen so an das Kambium, also jene dünne Schicht zwischen dem inneren Xylem und dem äußeren Phloem (Bast), die wässrigen Baumsaft transportiert. Sie ist für das Dickenwachstum zuständig – nach innen werden Holzzellen gebildet, nach außen Bastzellen. Der Baumsaft enthält Zucker und Mineralien, ist also eine ideale Nährlösung für die Larven. Zugleich sind diese durch die Borke vor hungrigen Vögeln gut geschützt. Wenn daher nicht Terpene als Abwehr des Baumes die schlüpfenden Larven töten, dann wachsen sie zu Käfern aus. Entwickelten sich bereits Käfer an einem Baum, paaren sie sich, bohren Löcher in die Rinde und legen darin ihre Eier ab. So können Borkenkäfer schnell in großen Massen auftreten und gerade in Monokulturen auch durch ihre schiere Anzahl die Bäume schädigen. Schwedische Forscher fanden heraus, dass sich manche der Käfer auch mit Pilzen zusammentun können. Die Sporen der Pilze gelangen beim

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Bohren von Gängen durch die schützende Rindenschicht des Baumes und beginnen zu wachsen. Dabei zersetzen sie das Holz und ernähren sich von den Bruchstücken. Für die Käfer und ihre Larven ist morsches Holz eine Einladung, zumal die Pilze auch gleich die Abwehrstoffe des Baumes schwächen. Was haben Borkenkäferfallen mit den Terpenen zu tun? Hier schlagen Förster die Käfer mit ihren eigenen Waffen. Borkenkäfer nehmen beim Fressen an den Bäumen hohe Konzentrationen an Terpenen auf. Sie verwenden sie, um eigene Signalstoffe aufzubauen, insbesondere Lockstoffe, also Pheromone. So locken sie einander an – was gefürchtet wird von Waldbesitzern. Die Borkenkäferfallen enthalten nun ebenfalls Terpene, sodass die dem Duft folgenden Käfer in die Falle fliegen und weniger von ihnen zu den Pionierkäfern unter den Borken der Bäume gelangen. Weitere Gase in der Waldluft Gelegentlich trifft man in Berichten über die gesunde Waldluft auf den Begriff Phytonzide für Stoffe, die an die Luft abgegebene Antibiotika sein sollen. Die Forschung hat hier noch keine Stoffgruppe zugeordnet, vielmehr wird die Wirkung bereits bekannter Gase untersucht. Insgesamt geben Wälder eine Reihe flüchtiger organischer Verbindungen ab. Direkt tödlich wirken sie nicht – obwohl ja die Endung -zid dies nahelegt. Dieser Begriff sollte – wenn überhaupt – mit Vorsicht verwendet werden. Immerhin ist belegt, dass Waldluft die Herzfrequenz im Schlaf senkt. Worauf genau dies beruht, ist allerdings noch unklar. Am Beispiel des auch im Wald vorkommenden Efeus sei veranschaulicht, warum viele dem Konzept der Phytonzide skeptisch gegenüberstehen. Wer Efeu im Garten hat und ihn regelmäßig zurückschneiden muss, erlebt alljährlich, wie dabei Stoffe frei werden, welche die Schleimhäute abschwellen lassen. Efeuextrakt ist folgerichtig in medizinischen Hustensäften enthalten. Spaziergänger aber fühlen sich im Wald wohl, obgleich Kiefern, Eichen, Efeu und andere ohne Notsituation wohl kaum irgendwelche Substanzen abgeben, die für eine keimfreie Waldluft sorgen. In der Luft dienen ihre Botenstoffe der Kommunikation untereinander, und die Luftfeuchtigkeit ist hoch. Allein dies steigert, in Kombination mit der Bewegung, bereits unser Wohlbefinden. Bäume geben als weitere Gase Methan (CH4) und Ethen (H2C = CH2, auch Ethylen genannt) ab. Letzteres, das Ethen, wird von Obstbauern gefürchtet. Es lässt Äpfel schneller reifen. Neben der Fruchtreife wurde zumindest bei Mimosen festgestellt, dass sie bei Verletzungen Ethen verströmen. Welche Rolle Methan für die Bäume spielt, ist unklar. Häufig werden als Methanquellen vor allem Sümpfe und auch Reisfelder genannt,

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in deren Schlamm Bakterien das natürliche Treibhausgas bilden. Methan nimmt aus dem Sonnenlicht Energie auf und wandelt sie teilweise in Wärmeenergie um. Zwar ist seine Konzentration viel geringer als die von Kohlendioxid, doch bleibt das Molekül länger in der Atmosphäre intakt, hat also eine längere Lebensdauer. Die über Wäldern abgegebenen Mengen tragen wesentlich zur Gesamtmenge bei.

Der Wald als Schadstoffsenker Was ist mit der Filterfunktion der Wälder? Sie senken nicht nur den Kohlendioxidgehalt der Luft mittels der Photosynthese. Sie nehmen auch Reizgase wie Ozon und Stickoxide auf und binden Feinstaub. Laubbäume nehmen die Umgebungsluft durch ihre Spaltöffnungen auf. Bei einem ausgewachsenen Baum sind dies an einem Sommertag geschätzte 30.000 m3 Luft. Die Zellwände im Inneren nehmen nicht nur das benötigte Kohlendioxid auf, sondern auch vorhandene Gase wie Ozon, Stickoxide und Schwefeldioxid. Ozon ist eine sehr reaktive Verbindung und reagiert schnell mit Zellbestandteilen, wobei es zerfällt. Stickoxide und Schwefeldioxid lösen sich relativ gut in Wasser, sodass sie ins Zellinnere gelangen. Stäube hingegen haften an der Wachsschicht, die Blätter und Nadeln überzieht, um sie vor dem Austrocknen zu schützen. Neben Feinstaubpartikeln schwirren auch Bakterien durch die Luft und werden so gebunden. Insofern ist der herbstliche Laubfall auch eine Art, den „Müll“ zu entsorgen. Was bis dahin nicht vom Regen abgespült wurde, gelangt nun auf den Boden und wird von dort lebenden Organismen entsorgt. Im Boden sind es vor allem die Pilzgeflechte, die vieles aufnehmen. Auf ihre Rolle bezüglich der Speicherung gerade von Metallen wurde schon an früherer Stelle eingegangen. Am Humusaufbau wirken noch viele weitere Organismen mit, wie Asseln, Regenwürmer, Insektenlarven und verschiedene Kleinstlebewesen. Sie alle machen den Waldboden zu einem lockeren, von Gängen durchzogenen Substrat. Bei Regen kann er sich wie ein Schwamm vollsaugen und die Feuchtigkeit lang speichern. Nur langsam sickert das Wasser tiefer und wird dabei gefiltert. Viele noch vorhandene Schadstoffe werden aufgespalten, im Gegenzug lösen sich Spuren von Bodenmineralien. Das sich bildende Grundwasser ist eine wichtige Quelle für Trinkwasser, das zu 70 % in Wäldern gewonnen wird.

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Unterirdische Kommunikation Weiter oben war schon vom Pilzgeflecht zwischen den Baumwurzeln die Rede. Die Wurzeln selbst kommunizieren ebenfalls mit ihrer Umwelt. Zwangsläufig begegnen sich die Wurzeln benachbarter Bäume. Sie können dabei erkennen, ob es sich um Artgenossen handelt. Von Buchen ist bekannt, dass sie einander unterstützen können, indem etwa ausgewachsene Bäume mit ausladenden Kronen die nachwachsenden Bäume mit Zuckerlösung versorgen. Stirbt dann der alte Baum, können jene, die bislang im Wortsinne ein Schattendasein gefristet haben, die Lücke schnell schließen. Ohne diese Unterstützung wären sie in den Jahrzehnten im Schatten der Großen längst verkümmert. Informationen über den Wasservorrat, Nähr- und Schadstoffe nimmt das Wurzelwerk über Chemosensoren auf. Der Baum hat keine Sinnesorgane, wie sie aus dem Tierreich bekannt sind; gleichwohl kann er kommunizieren und wahrnehmen. Neben den Wurzeln sind die Blätter mit vielen Chemosensoren ausgerüstet, um etwa warnende Duftstoffe wahrzunehmen. Werden Blätter jedoch angefressen, werden dabei natürlich Zellen zerstört. Dies löst elektrische Signale aus, die innerhalb der Nachbarzellen weitergeleitet werden und dort die Produktion von Abwehrstoffen in Gang setzen. Allerdings ist die Reizweiterleitung relativ langsam und die Reaktion, also die Produktion von Abwehrstoffen, ebenso zeitintensiv. Es dauert also, bis auch benachbarte Zweige die Warnung erhalten und sich schützen. Daher ist es eine kluge Strategie, einen weiteren Informationsweg zu wählen: über die Luft. Flüchtige Signalstoffe werden freigesetzt. So erreicht die Information von einem einfallenden Insektenschwarm schnell die ganze Baumkrone und darüber hinaus auch benachbarte Bäume. Bei Weiden wurde gemessen, dass ein Raupenbefall noch Bäume in anderthalb Kilometern Entfernung zur Einlagerung von Abwehrstoffen anregt. Am besten scheinen sich Bäume derselben Art zu verstehen – andere Arten sprechen sozusagen eine andere Sprache. Bleiben wir noch ein wenig bei den Wurzeln, deren Spitzen einerseits Lebensraum erobern, indem sie wachsen, und andererseits den Baum mit Informationen versorgen. Wie „entscheidet“ sich eine Wurzelspitze, wenn sie auf ein Hindernis trifft – sei es ein Stein, dem auszuweichen ist, oder eine andere Baumwurzel, die um Ressourcen konkurriert? Genetisch verwandten Wurzeln begegnen Bäume mit Zurückhaltung. Solche Bäume können sehr nah beieinander wachsen. Als Übertragungsnetz der Information untereinander dienen auch die Pilzfäden, das Myzel, das mitunter auch „Wood Wide Web“ genannt wird. Die weit ausgedehnten Pilzgeflechte können auch

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Stresssignale bei Trockenheit übertragen, sodass die Bäume ihre Verdunstung drosseln, indem sie die Spaltöffnungen in den Blättern schließen. Oben wurde die elektrische Reizweiterleitung bereits kurz erwähnt. An der Universität Würzburg wurde die Frage untersucht, welche Moleküle daran beteiligt sind. In den Membranen der Holzzellen gibt es Ionenkanäle, also große Proteine, die eine Schleuse bilden. Sie lassen geladene Atome oder Molekülbruchteile passieren, wenn diese die richtige Größe und Ladung haben. Häufig spielt auch Wasser eine wichtige Rolle, das Moleküle gern wie eine Hülle anlagern. Dieselbe Anziehung wirkt zwischen den Bausteinen der Schleusen-Proteine und dem Wasser. Lagert es sich an, kann das die Form des Proteins oder sein elektrisches Feld verändern. Der Kanal innerhalb dieser Schleuse ist aus zwei gleichen Proteinen aufgebaut, die beide die elektrische Spannung detektieren können. Die Ladungen sind ungleich verteilt: Je nach den gebundenen Atomen, welche die Elektronen in den Bindungen stärker oder schwächer zu sich ziehen, entstehen lokal positiv oder negativ geladene Bereiche. Proteine sind recht große Moleküle, daher können viele solcher Bereiche vorkommen, wodurch die Oberfläche elektromagnetisch ist. Das Kanalprotein wird somit zum Sensor und reagiert auf elektrische Felder. Der untersuchte Ionenkanal (TPC1) wird durch Calcium-Ionen geschaltet. Wird nun ein Blatt durch Insekten angefressen, ist dieser Kanal überaktiv und sozusagen in Alarmbereitschaft. Der geöffnete Kanal erlaubt dann einen schnellen Austausch von Informationen unter benachbarten Zellen.

Mitbewohner und Lebensgemeinschaften Die Bäume des Waldes sind Lebensraum für viele andere Arten. Deren Beziehungsgeflecht macht aus ihnen ein Biotop, wodurch unter anderem die Bestäubung und Verbreitung der Samen gelingt. In einer Buche zählten geduldige Forscher mehr als 400 Spinnen. In Astgabeln, die Regenwasser auffangen, legen Zuckmücken ihre Eier ab. An Eichen wurden an die 400 Schmetterlingsarten, 100 Käferarten und Hunderte weitere Insektenarten gefunden. An ihren Stämmen wachsen Moose, Flechten und Pilze. Vermutlich bieten Eichen tatsächlich mehr Arten Lebensraum als Buchen oder Tannen. Zum einen haben sie eine zerklüftete, raue Borke, die viele Nischen bildet. Ihre Früchte sind sehr nahrhaft und dienen auch größeren Tieren als Nahrung. In den Baumkronen saugen Blattläuse gern den zuckerhaltigen Saft aus den Blättern. Zugleich locken sie wiederum andere Arten an. So legen Schlupfwespen ihre Eier an Blattläusen ab. Die schlüpfenden Larven

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ernähren sich dann von der Laus – sie sind Parasiten der Parasiten. Diese nutznießende Gruppe macht etwa ein Drittel der Insekten im Laubwald aus. Ein parasitäres Verhältnis besteht dann, wenn eine der Arten größeren Nutzen daraus zieht und dabei ihren Wirt schädigt. Von einer Symbiose ist die Rede, wenn für beide Seiten ein Vorteil entsteht. Noch bekannter als Schlupfwespen sind Ameisen und ihre Beziehung zu Blattläusen – zumindest bei Gartenbesitzern. Der Baumsaft fließt in Bezug auf die Größe der Läuse im Überfluss. Sie scheiden ihn direkt wieder aus. Dieser „Honigtau“ lockt Ameisen an, die die Tropfen am Hinterteil der Blattläuse aufnehmen. Offenkundig ist diese Zuckerquelle sehr begehrt, denn die Ameisen reizen die Läuse mit ihren Fühlern, wodurch diese mehr Saft ausscheiden. Viele Pflanzenliebhaber kennen das gemeinsame Auftreten – und die Ameisen „melken“ ganze Blattlausfarmen. Auch im Wald gibt es Marienkäfer, deren Larven besonders gern Blattläuse fressen. Eine für den Boden wichtige Symbiose geht der Regenwurm ein, der Pflanzenteile wie Blätter und Grashalme entsorgt. Wer ihn genauer betrachtet, wird jedoch keine Zähne finden, mit denen er Grashalme zerkauen könnte. Die Tiere ziehen die Pflanzenreste in ihre unterirdischen Gänge und verbünden sich mit Pilzen und Bakterien. Diese bauen die Cellulose der pflanzlichen Zellwände ab, während sie sich davon ernähren. Der Regenwurm nimmt dann den vorverdauten Blätterbrei auf. Die Röhren der Würmer durchlüften den Boden und ermöglichen, dass Regen schneller versickert und in tiefere Erdschichten gelangt. Waldameisen verbessern den Waldboden Mit viel Respekt vor einem großen Wissensgebiet sollen hier kurz die Waldameisen (Gattung Formica) vorgestellt werden. Wenngleich Ameisen im Haus gefürchtet sind und im Garten mit gemischten Gefühlen betrachtet werden, sind sie im Wald unverzichtbar. Sie bilden Staaten und beeindrucken mit ihren „kommunikativen“ Wegen. Die Duftstraßen der Ameisen sind vielen bekannt. Zu einer Ameisenkolonie zählen nicht selten eine Million Tiere – unvorstellbar viele! Und die kleinen Insekten können mit noch mehr beeindruckenden Zahlen aufwarten: Die Fühler einer einzelnen Ameise besitzen rund 2000 Sensoren für Duftstoffe, zusätzlich hat sie zahllose Tasthärchen am Körper. Ihre Augen sind zwar im Vergleich zu Fluginsekten eher klein, doch genau wie bei diesen ermöglichen Facettenaugen eine gute Rundumsicht. Etwa 750 Einzelaugen bilden das Facetten- oder Komplexauge. Auf der Stirn sitzen drei weitere einfache Augen, welche Helligkeit registrieren.

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Wie organisiert sich die Ameisenkolonie? Die sogenannten Arbeiterinnen bauen den Ameisenhaufen auf und versorgen das Volk. Wie viele Königinnen Eier ablegen, hängt von der Ameisenart ab. Sie leben dauerhaft im Nest, und nur in ihrer Jugend wachsen ihnen einmal Flügel, um auszuschwärmen und neue Kolonien zu gründen. Bei diesem Hochzeitsflug schwärmen flügeltragende Jungköniginnen und Drohnen aus. Die Drohnen sterben nach der Begattung, die Weibchen verlieren ihre Flügel und suchen nach einem Ameisenvolk, das sie aufnimmt. Entweder geschieht das wieder im Mutternest oder aber in einem fremden. Als dritte Option gründet die Jungkönigin ein ganz neues Volk. Sie nimmt bei der Begattung so viele Spermien auf, dass der Vorrat ihr Leben lang reicht. Sie legt bis zu 25 Jahre lang täglich 100 Eier und mehr. Der Ameisenhügel ragt nicht nur über dem Boden auf, auch ins Erdreich führen zahlreiche Gänge. Das Nest ist auf diese Weise gut belüftet. Die verwendeten trockenen Nadeln und Blätter isolieren gut, sodass die Temperatur vom Frühling bis zum Herbst recht konstant bei etwa 20 ℃ liegt. Die Arbeiterinnen bringen unter anderem tote Insekten ins Nest. Außerdem transportieren sie die von der Königin gelegten Eier in tiefer gelegene Kammern, wo die Larven nach zwei Wochen schlüpfen. Sie werden von den Arbeiterinnen mit einer zuckrigen Lösung gefüttert, die etwa aus Blattläusen „gemolken“ wird. Nach zehn Tagen verpuppen sich die Larven und wachsen zu neuen Arbeiterinnen heran. Insgesamt sorgen Ameisennester für eine gute Belüftung des Waldbodens. Sie entsorgen den gefürchteten Borkenkäfer und sind selbst wiederum Nahrung für Vogelarten wie den Grünspecht.

Baum und Borke In diesem Kapitel haben wir bereits verschiedene Baumarten kennengelernt, schließlich besteht ein Wald ja im Idealfall aus verschiedenen Gehölzen. Sie unterscheiden sich unter anderem in ihrer Wachstumsgeschwindigkeit – zu den schnellwüchsigen Arten zählen Fichten. Ihre Hölzer sind tendenziell leichter, da die Zellen dünnwandig sind. Das „Immunsystem“ des Baumes besteht aus Harzen, die Fraßfeinden den Appetit verderben sollen. Birke und Pappel wachsen ebenfalls schnell, besitzen jedoch keinen chemischen Schutz. Wenn bei ihnen ein Ast bricht, dringen Schädlinge leicht ein. Daher werden diese Bäume meist nicht sehr alt. Eichen dagegen können 1000 Jahre, Mammutbäume und Sumpfzypressen sogar über 3000 Jahre alt werden.

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Eichen konservieren ihr Kernholz schon zu Lebzeiten, indem sie phenolische Stoffe einlagern, die Gerbstoffe, welche ihr Holz vor Pilzbefall schützen. Eichenpfähle überdauern lange in sumpfigen Gebieten, was schon den Erbauern früher Pfahlbauten bekannt war. Werden Rotweine, Sherry oder Whiskey in Eichenfässern gelagert, nehmen sie einen Teil der Gerbstoffe auf, was ihnen eine besondere Geschmacksnote verleiht: Barrique ist freilich einfach das französische Wort für Fass. Bei der Nutzung gefällter Bäume steht das Kernholz im Vordergrund: für Möbel, als Brennmaterial, zur Papierherstellung. Wem fällt zur Rinde schon mehr als Mulch und Korken ein? Mehr als nur Schutz vor schubbernden1 Wildschweinen Für den Baum bildet die Borke eine flexible Schutzbarriere. Flexibel insofern, als sie Temperaturschwankungen ausgleicht, also weder bei Hitze birst noch bei Frösten. Außerdem bildet sie eine mechanische Barriere, etwa wenn Hirsche die Lederhaut von ihren Geweihen abwetzen oder sich Wildschweine schubbern, aber auch gegen holzfressende Insekten oder Vögel wie die Spechte, die diese Insekten jagen. Zusätzlich lagern zum Beispiel Fichten, Kiefern, Akazien, Kastanien und Eichen besonders viele Tannine ein – Gerbstoffe, die den Appetit verderben. Außer dem zusammenziehenden bis bitteren Geschmack kennzeichnet Tannine, dass sie sich nach einer Rindenmahlzeit an Proteine anlagern. Das stört die Verdauung empfindlich: Sowohl Blähungen als auch Verstopfungen treten auf. In der Folge werden wichtige Mineralien wie Eisen und Calcium schlechter vom Körper aufgenommen. Leserinnen und Leser, die gern Rotwein aus Eichenfässern trinken, dürfen jedoch unbesorgt sein – die aufgenommene Menge ist für Menschen unbedenklich; Borkenkäfer wie der Krummzähnige Tannenborkenkäfer und der Ungleiche Holzbohrer werden aber dadurch erheblich geschwächt. Grund für diesen kleinen Exkurs ist die Idee von Schweizer Forschern, künftig die Rinde nicht nur für Rindenmulch zu häckseln und anschließend in Grünanlagen zu verteilen. Sie wollen die Tannine gewinnen und daraus nachhaltige Klebstoffe für die Produktion von Faser- und Spanplatten herstellen. Holzleim werden schon seit langem Tannine beigemischt, die allerdings importiert werden. Die Forstwirtschaft und Sägewerke in Europa gewinnen bislang noch keine Tannin-Extrakte aus Fichtenrinden. Dabei ist die Fichte die häufigste Baumart Mitteleuropas; da sie relativ schnell

1Synonym für „sich scheuern“ und geflügeltes Wort für Gelassenheit: Was juckt es eine deutsche Eiche, wenn sich ein Windschwein an ihr schubbert?

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wächst und wenig Ansprüche stellt, wurde sie lange Zeit bei Aufforstungen gepflanzt. Ihr Holz befeuerte seit der Industriellen Revolution die Eisenverhüttung und die Energiegewinnung, wurde verbaut und auch im Bergbau verwendet. Noch heute ist jeder vierte Baum im Wald eine Fichte, in Bayern gar jeder zweite. Das Potenzial für die Tannin-Extraktion ist also groß. Bei dem Projekt an der Berner Fachhochschule wurde der Extrakt mit Wasser vermischt und für die Fertigung von Spanplatten verwendet. Bei der Produktion wurde so, anders als konventionell kein gesundheitsschädliches Formaldehyd benötigt. Allerdings ist die Klebwirkung noch steigerungsfähig, weshalb die Reinheit der extrahierten Tannine noch zu erhöhen ist. Die Schweizer haben verschiedene Nutzungsideen, darunter auch die, mit anderen, feineren Holzfasern einen Verbund herzustellen, der im 3D-Druck eingesetzt werden kann. Ähnlich wie Fließbeton die Architektur von Betonbauwerken innovativer machte, könnten druckfähige Holzkonstruktionen den Möbelbau oder auch die (Innen-) Architektur beeinflussen. Die nachhaltige Forstwirtschaft ist aktive Fürsorge für kommende Generationen. Andere Kapitelthemen wie die Glasbläserei (Kap. 12), aber auch die Salzsiederei des Mittelalters (Kap. 1) führen vor Augen, dass dies nicht immer so war. Doch die Brüder Grimm sammelten nicht von ungefähr so viele Märchen, die sich in den Wäldern abspielten – hierzulande waren und sind sie landschaftsprägend. Im hochsommerlichen August boten die Wälder kühlenden Schatten, doch die Pilzsammler warten schon auf den regenreicheren September, um Pilze zu sammeln – um sie frisch zubereitet zu genießen oder zu trocknen, wie etwa Steinpilze. Auch manch anderes Kraut wird dann geerntet.

9 September – Kräuter und herbstliche Gewürze

Kartoffeln und Getreide sind auf den Feldern schon abgeerntet. Wer nicht gerade in wintermilden Regionen lebt, verspürt schon die erste Wehmut: Der Rosmarin erfriert wohl im kommenden Winter und nächstes Jahr muss ein neuer gekauft werden. Lorbeer kann im Haus überwintern; die Minze schafft es vielleicht. Eine alte Konservierungsmethode ist es, Zweige der Gewürze zu trocknen und dunkel zu lagern. Kräuter wie Petersilie lassen sich gut einfrieren: Die gefrorenen Blätter können dann auch sehr leicht zerkleinert werden, indem sie zwischen den Fingern zerrieben werden. Für das typische Aroma eines Lebensmittels sind Schlüsselsubstanzen prägend. Sie erzeugen den Aromaeindruck aus Geruch und Geschmack, hier insbesondere durch flüchtige Komponenten, die durch Rezeptoren in © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Feil, Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59264-9_9

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der Passage zwischen Mundhöhle, Rachen und Nase erkannt werden. Zwar enthalten Lebensmittel wie zum Beispiel Brot oder Kaffee Hunderte verschiedener Aromastoffe, doch besonders prägend wirken nur etwa fünf Prozent davon. Zu den berühmtesten Aromen zählt Vanille, die weltweit geschätzt wird. Mit der Substanz Vanillin lässt sich ihr Aroma recht gut nachempfinden. Da dieses synthetisch nachgebaut wird, kann der Bedarf gedeckt werden. Der natürliche Rohstoff kommt mit einem Anteil von zwei Prozent in den Schoten vor und würde nicht ausreichen; erst der „naturidentische“ Aromastoff erlaubt die heute so massenhafte und vielfältige Verwendung. Dieses Kapitel lenkt den Blick auf einige Kräuter und Gewürze, oder genauer: auf einige ihrer Inhaltsstoffe und deren Wirkung. Was macht die geschmackliche Vielfalt der Gewürze aus? Wieso schmecken sie alle unterschiedlich?

Zeit, Kräuter zu trocknen Historisch belegt sind systematisch angepflanzte Kräutergärten in vielen Klöstern und Burganlagen. Je nach Kräuterwissen umfassten auch Hausund Bauerngärten verschiedenste Kräuter und Gewürze. Nicht zuletzt faszinieren Gewürzbasare noch heute mit ihrem Farbreichtum, den würzigen Gerüchen und der Vorfreude auf leckere Speisen. Unter den Gewürzpflanzen sind auffallend viele Doldenblütler zu finden. Zu nennen wären Anis, Dill, Fenchel, Koriander, Kümmel, Petersilie und Sellerie. Daneben sind die Pflanzenfamilien der Lippenblütler und der Korbblütler gut vertreten. Zu den erstgenannten zählen Bohnenkraut, Melisse, Minze, Rosmarin, Salbei und Thymian. Für die nahende Gänsebraten-Saison ist der Korbblütler Beifuß beliebt, zu der Pflanzenfamilie zählen auch Estragon und Wermut. Die krautigen Pflanzen der Lippenblütler bilden Drüsenhaare oder kurze Drüsen anstatt der Haare. Die ätherischen Öle sind also nah an der Oberfläche und werden bei Berührung leicht frei, was beim Streifen über Lavendel- oder Thymianblätter deutlich zu riechen ist. Bei den Doldengewächsen hingegen liegen die ölspeichernden Zellen tiefer, und die Pflanze muss zerrieben oder zerkleinert werden. Während manche duftende Pflanzen eher beim Vorbereiten des Gartens für den Winter ihr Aroma verströmen – Beispiele sind Katzenminze und Muskateller-Salbei, Rainfarn und Lavendel –, werden andere wie oben

9  September – Kräuter und herbstliche Gewürze     171

beschrieben rechtzeitig vor den ersten Nachtfrösten abgeerntet und getrocknet, um später verzehrt zu werden. In dieser Form kennen wir beispielsweise Majoran, Rosmarin, Salbei, Thymian und Wacholderbeeren aus dem Gewürzregal. Ihnen allen gemeinsam ist, dass Terpene zu den Hauptaromastoffen zählen. Bevor es um einige Kräuter und Gewürze im Einzelnen geht, noch ein kurzer Blick darauf, wie wir die Aromen wahrnehmen. Wer gern über Gewürzbasare schlendert, denkt an die die intensiven Farben vieler Gewürze und an ihre Gerüche. In Speisen und Getränken kommt es dann auf den Geschmack an. Die Zunge des Menschen schmeckt fünf verschiedene Geschmacksrichtungen, nämlich süß, sauer, salzig, bitter und wohlschmeckend (umami). Im Einzelnen werden hier Chemorezeptoren aktiv, die jeweils eine Geschmacksnote detektieren. Eine Kartierung der Zunge in Geschmackszonen, wie sie in älteren Lehrbüchern zu finden ist, gilt inzwischen als überholt. Es gibt zwar Bereiche maximaler Empfindlichkeit, aber die Geschmacksknospen verteilen sich auf der gesamten Zunge (Abb. 9.1). Schärfe hat keine eigenen Geschmacksknospen auf der Zunge, denn tatsächlich wird sie anders wahrgenommen. Rezeptoren für Schärfe sind die TRPV1-Ionenkanäle für den Eindruck „heiß“. Hitze und Schärfe gehen also über ein und denselben Rezeptor, der Signale über den Nervus trigeminus leitet, den „Drillingsnerv“, dessen Äste die Augen, Ober- und Unterkiefer innervieren und sich von dort im gesamten Gesicht verzweigen. Auf ihn geht es zurück, dass die Reizung der Nasenschleimhäute durch Zwiebeldämpfe

Abb. 9.1  Geschmacksknospen auf der Zunge

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die Augen tränen lässt. Wenn etwas sehr scharf ist, kommt es zu Hitzeempfinden bis hin zum Schmerz; auch hierfür ist der Trigeminus zuständig. Im Englischen heißt folgerichtig sehr scharfes Essen auch hot.

Feuerrote Paprika Paprika wurde im 15. Jahrhundert als „roter Pfeffer“ von Amerika nach Europa gebracht. Botanisch gibt es eine Vielfalt von Pflanzen der Gattung Paprika (Capsicum) aus der Familie der Nachtschattengewächse (Solanaceae) in Mittel- und Südamerika, zu denen auch Chili und Peperoni gehören. Die Nachzucht der bis zu 1,5 m hohen Stauden gelang schnell, und so verbreiteten sich die roten Schoten entlang der Gewürzstraße nach Asien und Nordafrika. Mit dem schwarzen Pfeffer ist Capsicum nicht verwandt, doch blieb in vielen Sprachen der Irrtum erhalten. Damit ist Paprika eine der ältesten kultivierten Pflanzengattungen. Von rund 30 wild wachsenden Arten wurden fünf für den Anbau genutzt. Die verbreitetste Art ist die Gemüsepaprika (Capsicum annuum), die Christoph Kolumbus nach Europa brachte. Auch die scharfen Jalapenos gehören zu dieser Art und Cayenne, der im Deutschen auch den Zusatz Pfeffer trägt. Die scharfen Chilis wie Habaneros und Scotch Bonnet gehören zu der Art Capsicum chinense, die aus der Karibik stammt. Tabasco hingegen gehört zu Capsicum frutescens und bildet die Grundlage der bekannten Würzsoße. Damit wären die drei wirtschaftlich wichtigsten Arten genannt. Deutlich wird schon, dass die Namen einzelner Unterarten und Sorten sehr bekannt sind und sich ihre Schärfe deutlich unterscheidet. Sprachlich korrekt können alle als Paprika bezeichnet werden. Im Sprachgebrauch werden in Deutschland die kleinen scharfen Schoten als Chili bezeichnet. In der Schweiz heißen Chili Peperoni, in Österreich Pfefferoni. Der Farbwechsel Der Anbau von Chilis gelingt – zumindest für den Eigenbedarf – auch hierzulande. Die kleinen Schoten sind beim Wachsen grün; erst mit der Reife erfolgt der Farbwechsel zum intensiven Rot (Abb. 9.2). Auch bei Gemüsepaprika gibt es verschiedene Farben – mit dem Unterschied, dass alle verzehrbar sind. Grüne Paprika haben mehr bittere Geschmacksanteile. Sind also rot und gelb verschiedene Reifegrade? Sowohl rote als auch gelbe Paprika sind im unreifen Zustand grün. Und um es gleich vorweg zu erklären: Auch unreife Paprika können verzehrt werden.

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Abb. 9.2  Reifegrade einer Chili-Schote. (© Ted Kinsman/Science Photo Library)

Was geschieht also chemisch beim Reifen der Früchte? Solange Chlorophyll vorhanden ist, überdeckt dessen Grün die anderen Farbstoffe – zumindest für das menschliche Auge, das sehr grün-sensitiv ist (Kap. 3). Beim Reifen werden grüne Chlorophylle ab- und gelbe Xanthophylle wie Lutein aufgebaut. Die Xanthophylle zählen, wie die Carotine, zu den Carotinoiden; sie enthalten allerdings mehr Sauerstoffatome als Carotine. Farbstoffe in einem Spektrum von gelb bis rot, deren Grundgerüst aus Kohlenstoffatomen besteht, das Tetraterpen, sind Carotinoide. Schreitet die Reifung fort, wird auch Lutein abgebaut, und die Schoten bilden neue, tiefrote Farbstoffe wie Capsanthin und Capsorubin. Da diese beiden roten Farbstoffe nur von der Pflanzengattung Capsicum synthetisiert werden, heißen sie auch Paprikaketone. Nicht alle Paprikasorten werden rot – einige bleiben Gelb oder Orange. Würzige Paprikanoten Sehr typisch ist der Geruch der grünen Paprika. Umso überraschter waren Chemiker, als sich eine einzige Verbindung dafür als kennzeichnend herausstellte: das Paprikapyrazin. Dessen Formel ist wiederum gar nicht so komplex und basiert als Grundstruktur auf Pyrazin, einem stickstoffhaltigen Kohlenstoffring (Abb. 9.3). Beim Erhitzen bilden sich daraus charakteristische Röstaromen, was insbesondere bei Sorten mit kleinen grünen Schoten

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Abb. 9.3  Paprikapyrazin (3-Methoxy-2-isobutyl-pyrazin)

und in Olivenöl angebraten zur Geltung kommt. Das Paprikapyrazin kann von der menschlichen Nase in wässriger Verdünnung noch bei zwei Molekülen auf eine Milliarde (10−9) anderer Teilchen wahrgenommen werden. Solche Verdünnungen werden auch als parts per billion bezeichnet, kurz ppb, wobei das englische billion einer Milliarde entspricht. Die geringe Geruchsschwelle macht das Paprikapyrazin zu einem der geruchsintensivsten Stoffe. Eingelagert wird es im Fruchtfleisch, weshalb der charakteristische Duft nur bei der Verarbeitung von frischen Paprika zum Tragen kommt. Die einzelnen Paprika-Arten unterscheiden sich im Duftprofil. Capsicum chinense enthält kein Pyrazin, dafür β-Ionon, das für eine blumige oder fruchtige Note sorgt. Diese Verbindung wird in der oberen Schicht der sogenannten Placenta gebildet, also dem weißen Gewebe unterhalb des Fruchtstiels. Hier werden auch die Scharfstoffe produziert. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal ist die Bildung von Capsaicin und Abkömmlingen (Abb. 9.4). Nachtschattengewächse sind bekannt dafür, biologisch wirksame Stoffe – allen voran Alkaloide – herzustellen. Während die Alkaloide von Bilsenkraut und Engelstrompete hochgiftig sind, sind die Scharfstoffe der Paprika durchaus bekömmlich.

Abb. 9.4  Aufgeschnittene Paprika. Links die botanische Beschriftung. In der Placenta befinden sich die Capsaicin-Drüsen. Rechts einige der Geruchs- und Geschmacksstoffe mit Hinweis darauf, wo sie gebildet werden

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In der Sonne gereift: heiße Chili Es gibt Dinge, die machen Köche nur einmal – es sei denn, der Schmerz war nicht eindrücklich genug. Selbst wer nach dem Chili-Schneiden die Hände wäscht, sollte sich anschließend nicht die Augen reiben. Es brennt! Verantwortlich dafür ist in erster Linie Capsaicin (Abb. 9.5). Es ist der schärfste bekannte Naturstoff. In Speisen und Getränken wird die Schärfe im mittleren und hinteren Teil von Zunge und Gaumen wahrgenommen. Sie hält relativ lang an und kann insbesondere nicht durch das Trinken von Wasser gemildert werden. Im Gegenteil verteilt sich dann der Scharfstoff Capsaicin nur noch mehr im Mundraum, und das Brennen steigert sich. Wer zu viel Chili isst, empfindet Schmerz. Im Körper wird das schmerzauslösende Signal durch spezielle feine Nervenendigungen weitergeleitet, die Nozizeptoren. Sie nehmen das Signal auf und leiten es direkt weiter – manchmal werden sie auch als Rezeptoren beschrieben, doch das trifft nicht ganz zu. Die Zahl der Nozizeptoren ist hoch, und sie agieren unabhängig von anderen sensorischen Eindrücken – als Warnsystem, denn wo Schmerz entsteht, droht Gefahr für den Körper. Schmerzen begleiten unter anderem Entzündungen, sodass aktive Nozizeptoren die Ausschüttung von entzündungshemmenden Stoffen ankurbeln. Bei Entzündungen schwillt das Gewebe an und drückt auf die umliegenden Organe; der entstehende Schmerz signalisiert, dass wir uns schonen müssen. Nun werden viele zustimmen, dass Schmerz nicht gleich Schmerz ist. Die Nozizeptoren tragen ihrerseits verschiedene Rezeptoren wie die Ionenkanäle, die durch Capsaicin und Senföle aktiviert werden. Denn auch beim Verzehr von Meerrettich oder scharfem Senf können Menschen die Tränen kommen. Allerdings kann sich der Körper an häufige Capsaicin-Reize gewöhnen. Es kommt zu einer Desensitivierung, die Zunge wird weniger empfindlich für Scharfstoffe. Erste Hilfe: Milch – oder Alkohol Der Capsaicin-Rezeptor ist erst vor kurzem näher untersucht worden. Wissenschaftlich heißt er TRPA1; Asthmatikern könnte er bekannt sein.

Abb. 9.5 Capsaicin

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Auch Entzündungen von Dickdarm oder Bauchspeicheldrüse aktivieren ihn. Eigentlich wird er durch erhöhte Temperaturen (um die 42 ℃) wie beim Fieber aktiviert. In der Zunge warnen die Sensoren vor dem Verzehr zu heißer Speisen und Getränke, die die Speiseröhre schädigen könnten. Bindet Capsaicin, wird der Sensor jedoch schon bei Körpertemperatur aktiv und löst ein Schmerzempfinden aus. In akuten Fällen helfen kalte Milch oder Milchprodukte wie Eis. Das in Wasser schlecht lösliche Capsaicin löst sich in den feinen Fetttröpfchen, und an seine Stelle tritt Casein. Dieses Protein blockiert den Rezeptor. Eine weitere Erste-Hilfe-Maßnahme ist hochprozentiger Alkohol. Dies leitet uns wiederum zur Scoville-Schärfeskala. Der Chemiker Wilbur Lincoln Scoville ließ im Jahr 1912 vermahlene Paprikaschoten über Nacht in reinem Ethanol ziehen. Dann schüttelte er kräftig durch und filtrierte die Lösung ab. Diese wurde nun mit gezuckertem Wasser verdünnt, bis für Testpersonen keine Schärfe mehr wahrnehmbar war. Die Schärfeskala gibt den Verdünnungsgrad an. Scoville selbst kam auf 1:100.000 bei seinen Proben. Die Maßeinheit wurde schließlich nach ihm benannt: Scoville Heat Unit (SHU). Sehr handlich ist dies nicht, hat doch reines Capsaicin eine Schärfe von 16 Mio. SHU. Gefordert waren zudem sechs Tester. Heute wird mittels chemischer Analyse der Schärfegrad gemessen und dann in SHU umgerechnet. Brennt es nur im Mund? Aus der Nahrung wird Capsaicin im Magen aufgenommen und dann übers Blut im ganzen Körper verteilt. Mit einer anhaltend hohen Dosierung lassen sich die Nozizeptoren im ganzen Körper desensibilisieren. Zugleich verliert der Körper aber Teile seiner Temperatursteuerung. Bei Mäusen ging nach hoher Capsaicin-Aufnahme das Empfinden für schmerzhafte Hitze verloren. Manche Organe wurden dauerhaft schlechter durchblutet. Beim Menschen wird Capsaicin zur Schmerzregulation daher nur lokal als Creme oder Wärmepflaster verabreicht, die die Durchblutung der Haut verbessern. Die hohe Wirksamkeit ohne Langzeitschäden führte auch zur Entwicklung von Pfeffersprays, die einen Gegner vorübergehend kampfunfähig machen. Jüngere Studien verfolgten die Idee, im Darm Schmerzen bei Entzündungen zu lindern, indem hohe Capsaicin-Dosen die Schmerzrezeptoren desensibilisieren. Tatsächlich nahmen in Versuchen mit Mäusen die Schmerzen ab. Allerdings wurden auch weniger Entzündungsstoffe ausgeschüttet – was nicht der Wirkweise von Capsaicin entsprach. Die Forscher schlossen auf eine Nebenwirkung, die der Scharfstoff an „fremden“ Rezeptoren hatte: Er aktivierte offenbar Senföl-Rezeptoren der

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Nozizeptoren. Dies wäre ein anderer Weg als die direkte Blockade, um gegenüber dem eigentlichen Botenstoff zu desensibilisieren. Bevor jedoch tatsächlich mit hohen Dosen Chili eine Entzündung gebremst werden kann, muss seine Wirkweise noch detaillierter erforscht werden. Sind Chilis für jeden feurig scharf? Die beeindruckende Schärfe von Chilis führt zu der Frage, wer die in den Schoten enthaltenen Samen zur Verbreitung aufnimmt und gut gedüngt an entfernte Stellen verfrachtet. Tatsächlich verschmähen auch Nagetiere die Schoten, wohingegen Vögel sie durchaus gern fressen. Letzteren fehlt der Capsaicin-Rezeptor, sodass sie keinen brennenden Schmerz erfahren. So werden die Samen unzerkaut weiter verbreitet, wobei die Flugreviere der Vögel zudem recht groß sind. Die Schärfe sorgt also dafür, dass nicht etwa Kaninchen oder andere kleine Nager die Schoten zerkauen und nur im begrenzten Umkreis wieder absetzen.

Kühlendes Menthol Ein Hauptbestandteil des Aromas von Pfefferminze (Mentha piperita) ist Menthol (5-Methyl-2-[1-methylethyl]-cyclohexanol). Schon beim leichten Streichen über die Blätter steigt der Duft auf und erinnert an die vielseitige Verwendung – pur in Wasser, als Tee, an Süßspeisen und als Heilmittel. Mit oder ohne Pfeffernote? Aus Japan ist die Gewinnung von Pfefferminzöl sei dem 17. Jahrhundert bekannt, vermutet wird eine Kenntnis der Menthol-Wirkung seit rund 2000 Jahren. Hierfür wurde und wird die Ackerminze (Mentha arvensis) angebaut. Die Pfefferminze wurde um das Jahr 1750 in England gezüchtet und ging aus der Krausen Minze (Mentha spicata) und der Wasserminze (Mentha aquatica) hervor. Die Minzen jedoch unterscheiden sich im Geschmacksprofil. Für Zahnpasta, Mundwasser und Kaugummi wird Krause Minze (Mentha spicata, englisch Spearmint ), verwendet. Botanisch sind beides Kreuzungen, wobei sich die Pfefferminze von Krauser Minze ableiten lässt. Die wichtigste Komponente in der Krausen Minze ist das Carvon, das auch im Echten Kümmel vorkommt. Hier soll es aber zunächst um die pfeffrig-frische Minze mit viel Menthol gehen.

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Pfefferminze: feinste Unterschiede im Gerüst mit großer Wirkung Die Pflanze baut Aromastoffe, die sich nur mit aufwendigen Methoden unterscheiden lassen – oder einfach mit der Nase! In nur acht Schritten kommt die pflanzliche Synthese von einem einfachen Isopren zum Menthol (Abb. 9.6). Da die Rezeptoren ihre Bindungspartner anhand von deren Struktur erkennen, kommt es sehr genau auf die Verknüpfung in der Erkennungsregion an. Menthol enthält drei Kohlenstoffatome, die jeweils ein sogenanntes Asymmetriezentrum sind. Innerhalb eines Moleküls ist ein Asymmetriezentrum ein Kohlenstoffatom, das vier verschiedene Atome oder Gruppen bindet. Dadurch kann das Molekül an dieser Stelle nicht mehr symmetrisch sein. Das lässt sich physikalisch messen. Dafür wird Licht so gefiltert, dass nur noch Wellen in einer Schwingungsebene vorhanden sind, sogenanntes polarisiertes Licht. Durchleuchtet man eine Mentholprobe damit, dreht sich die Polarisierung, also die Richtung der Schwingung des Lichts, nach links. Bauen sich die drei Asymmetriezentren anders zusammen, hat der Stoff chemisch kaum merklich andere Eigenschaften – jedoch verschiebt sich die Schwingungsebene des Lichts nach rechts. Diese Eigenschaft haben sogenannte optisch aktive Verbindungen, manchen auch als rechtsbeziehungsweise linksdrehend bekannt. Chemiker nennen dieses Phänomen Stereoisomerie und die beiden Verbindungen bilden ein Enantiomerenpaar. Können diese Enantiomere ohne eine chemische Analyse unterschieden werden? Sogar sehr einfach! Menthol riecht frisch und minzig, die rechtsdrehende Verbindung hingegen krautig bis staubig. Pflanzen stellen nur das linksdrehende Molekül her. Wie können Moleküle kühlen? Die Wirkung von Menthol setzt wieder an Thermorezeptoren an – also Ionenkanälen, die das Temperaturempfinden beeinflussen. Die Thermorezeptoren sind beim Menschen Teil des Nervensystems der Haut, der Hornhaut des Auges, auf der Zunge und in der Harnblase. Sie registrieren

Abb. 9.6 Menthol

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nicht die absolute Temperatur, sondern melden entweder Temperaturunterschiede oder werden durch chemische Verbindungen zu einer solchen Meldung verleitet. Menthol aktiviert einen Sensor, der fallende Temperaturen registriert. Die Signale werden im Gehirn mit der Temperatur im Inneren des Körpers verglichen und diese bei Bedarf entsprechend angepasst. Als weiterleitender Nerv ist wiederum der Trigeminus-Nerv aktiv, der schon das Hitzeempfinden durch Capsaicin übertrug. Und obwohl der Rezeptor schon seit dem 19. Jahrhundert angenommen wurde, konnte er erst im Jahr 2002 aufgeklärt werden und bekam den Namen Cold and menthol receptor 1, kurz CMR1.

Was haben Kümmel und Krause Minze gemeinsam? Beim Kochen von Wirsingkohl oder Pellkartoffeln gehören einige Kümmelsamen dazu. Sie würzen, und im Falle des Kohls fördern sie die Verdauung. Vor allem fettreiche Speisen und Weißkohlgerichte werden traditionell mit Kümmel gekocht, wie auch der polnische Eintopf Bigos oder ungarisches Gulasch. Angebaut wird der Echte Kümmel (Carvum carvi) in ganz Europa. Der prägende Aromastoff im ätherischen Öl des Kümmels ist Carvon. Die scharf-frische Kombination des Gewürzes ist geprägt durch eine weitere wichtige Komponente, das Carveol, wie es auch in Minze vorkommt. Kümmel enthält überdies Bitterstoffe, welche die Ausschüttung von verdauenden Enzymen anregen. Kleine Unterschiede, große Wirkung Die Struktur des Carvons baut auf einem zum Ring geschlossenen Terpen auf. Bei der Benennung von chemischen Strukturen gibt es eine Vielzahl von Regeln, was schon der ausführliche Name von Carvon illustriert: (5 S)-2-Methyl-5-(1-methylethenyl)-2-cyclohexen-1-on (Abb. 9.7). Neben der reinen Beschreibung dessen, wo was im Molekül zu finden ist, ist hier auch eine wichtige Information enthalten: Wer sie erkennt, kann sagen, wie der Stoff riecht. Bereit für Details? Der Sechsring mit einer Doppelbindung (Cyclohexen, C6H10) trägt drei Gruppen, darunter ein doppelt gebundenes Sauerstoffatom. Damit heißt diese Verbindung schon einmal 2-Cyclohexen-1-on; die Zahlen geben die Position der Doppelbindung am C2 und der Gruppe am C1 an.

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Abb. 9.7  Carvone: Im Echten Kümmel ist (S)-(+)-Carvon vorhanden (links), in Krauser Minze (R)-(-)Carvon (rechts)

Die Methyl-Gruppe (-CH3) am zweiten Ringatom ist symmetrisch und kann sich an der Bindung positionieren, wie sie will: Ihr Einfluss auf das chemische Verhalten des Rings bleibt gleich. Die andere Seitenkette ist hingegen größer. Die Einfachbindung erlaubt, dass sich die Kette um die eigene Achse dreht. Durch Wechselwirkungen gibt es aber bevorzugte Stellungen. Genau darauf weist das vorangestellte (5 S) hin! Beim Carvon im Kümmel richtet sich die Seitenkette so aus, dass das Ende mit der Doppelbindung mit den Elektronen des Sauerstoffatoms am ersten Ringatom wechselwirken kann. Im Echten Kümmel ist (S)-(+)-Carvon enthalten. Werden die Positionen von Sauerstoffatom und Doppelbindung jedoch gespiegelt, sieht die Struktur auf den ersten Blick gleich aus. Aber die Wechselwirkung der Elektronen in den Doppelbindungen am Sauerstoffatom ist anders: (5R)-2-Methyl-5-(1methylethenyl)-2-cyclohexen-1-on riecht nach Krauser Minze! Im Gegensatz zur Pfefferminze enthält die Krause Minze (Mentha spicata) viel Carvon und ist würziger. Das Menthol der Pfefferminze dreht, wie wir bereits wissen, polarisiertes Licht, genau wie das (R)-(-)Carvon. Noch einmal: Das vorangestellte (R) bezeichnet hier, welche Position Sauerstoffatom und Doppelbindung einnehmen, das (-) gibt an, dass das Licht nach links gedreht wird. Die Rezeptoren auf den sensorischen Nervenzellen registrieren diesen feinen Unterschied. Im Gehirn entsteht dann das komplexe Wahrnehmungsmuster, das uns mal scharf-würzig empfinden lässt, wie beim Kümmel, mal kühl-würzig-frisch wie bei der Minze. Das Carvon ist einer der Fälle, in denen es in der Natur für beide Synthesewege der Enantiomere ein Enzym gibt. Je nachdem, welches Enzym vorhanden ist, wird ein Terpen mit Minzgeruch oder Kümmelgeruch hergestellt. Wie gut, dass die Pflanzen den Bauplan des Enzyms mitvererben, sonst käme es zu verwirrenden Geruchs- und Geschmackserlebnissen.

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Kurkuma: Das Gelb aus der Wurzel Verwechslungsgefahr ist ein gutes Stichwort, denn wie bei der Minze mit vielen Namen oder weiter oben den vielen Bezeichnungen für Paprikaschoten, gibt es auch verschiedene Kümmelarten. Mit 5000 Jahren Kulturgeschichte zählt Echter Kümmel eindeutig zu den am längsten genutzten Gewürzen. Namentlich zum Verwechseln ähnlich ist der Kreuzkümmel, auch als Cumin bekannt, dessen Aroma durch den Stoff Cuminaldehyd geprägt wird. Kreuzkümmel ist ein Hauptbestandteil des Currypulvers, einer Gewürzmischung nach indischem Vorbild. Diese verdankt ihre charakteristische gelbe Färbung einem weiteren Gewürz, ihrer wohl wichtigsten Zutat: der Kurkuma oder (Indischen) Gelbwurz. Äußerlich ähnelt Kurkuma dem Ingwer, schmeckt jedoch bitterer. Der deutsche Name Gelbwurz verrät eine wichtige Eigenschaft der Pflanze (Abb. 9.8). Auf Märkten gibt es die frische, an Knollen erinnernde Wurzel in Stücke geschnitten; sie hat einen orangefarbenen Kern. Die Erdsprosse („Wurzelstöcke“) der Pflanzen, auch Rhizome genannt, wachsen in der Waagerechten und treiben aus Sprosspunkten neu aus. Nicht nur äußerlich ähnelt das Rhizom der Gelbwurz sehr dem des Ingwer, auch wenn es kleiner ist. Beide gehören zur Familie der Ingwergewächse. Die daraus hervorgehende Staude ist bis zu ein Meter hoch mit lang gestielten, lanzettlichen Blättern. Die Blüten sind ährenförmig angeordnet.

Abb. 9.8  Der Wurzelstock von Kurkuma ähnelt dem von Ingwer

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Dem Kurkuma-Wirkstoff Curcumin wird eine große Heilwirkung nachgesagt; so soll es bei Arthrose, Darmerkrankungen, Fettleber und auch bei Schmerzen helfen – und das alles ohne Nebenwirkungen. Schon lange wird Kurkuma in der indischen Küche verwendet. Wer die fein gemahlene Wurzel beim Kochen von Reis dazugibt, erhält eine intensive Gelbfärbung. Die Würzkraft entwickelt sich vor allem im Zusammenspiel mit anderen Gewürzen, allen voran schwarzem Pfeffer, wobei das bereits erwähnte Currypulver wohl am bekanntesten ist. Die getrocknete und gemahlene Wurzel ist fast pudrig. Das Pulver löst sich schlecht in kaltem und besser in warmem Wasser, am besten aber in Öl. Mit Kurkuma – und nicht etwa mit dem teuren Safran – wird Margarine gefärbt, ebenso Senf und so manches Fertiggericht. Für die industrielle Färbung von Lebensmitteln kann Curcumin synthetisch hergestellt werden. Die schlechte Löslichkeit in kaltem Wasser bedeutet auch, dass wenig Curcumin im Magen-Darm-Trakt aufgenommen wird. Die Forschung hierzu ist noch in vollem Gange, obwohl Kurkuma traditionell als entzündungshemmend gilt. Hieran könnten auch weitere Inhaltsstoffe des Rhizoms beteiligt sein. Kurkuma ist ein Beispiel dafür, wie schwierig es ist, zwischen einer fördernden Wirkung und einem Heilmittel zu unterschieden. Geradezu als „Superfood“ wird es in Kochzeitschriften und Onlineforen propagiert, gleichwohl ist die Aufnahme in den Körper wissenschaftlich noch nicht gut erforscht. Nach einer Studie, die 2017 im Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlicht wurde, ist Kurkuma jedoch nicht unbedingt ein Heilgewächs. Mindestens 15 Artikel, die Curcumin für allerlei Therapien vorschlugen, wurden seit 2009 zurückgezogen, unter anderem weil schlicht nicht mit isolierten Inhaltsstoffen gearbeitet wurde, sondern mit dem Extrakt des Rhizoms. Solange unklar ist, welche Substanz in welcher Konzentration wirksam ist, können keine seriösen Therapieempfehlungen ausgesprochen werden. Dies mag ein kleiner Einblick in die Beurteilung einer Substanz sein, die durchaus mit vielen Proteinen im Körper etwa bei Entzündungsreaktionen in Wechselwirkung tritt. Zugleich ist es einerseits möglich, dass sie nur in Kombination mit anderen Inhaltsstoffen der Wurzel wirkt; andererseits könnte es sinnvoller sein, den Naturstoff chemisch zu verändern und so seine Wirksamkeit zu steigern. Wer die Geschichte von Acetylsalicylsäure kennt, erinnert sich, dass sich diese von der Salicylsäure der Weidenrinde ableitet und durch die chemische Abwandlung deutlich bekömmlicher wurde. Es gibt viele Beispiele für Naturstoffe, die so wirksamer, besser aufnehmbar oder besser verträglich wurden. Dieser kleine Exkurs beleuchtet,

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warum der Genuss eines gut gewürzten Essens nicht immer mit „wirksamen“ Erwartungen verknüpft sein sollte und sich nicht jeder Gesundheitstrend langfristig auch bewahrheitet.

Getrocknet eher fad: Basilikum Wer sich an den Sommer zurückerinnern will, kann sich Basilikum im Topf kaufen und Blätter und Stängel mit Pinienkernen, Knoblauch, Hartkäse und Olivenöl zerdrücken und verreiben. Pesto bedeutet im Italienischen schlicht „das Zerdrückte“. Historisch soll diese Würzpaste für Nudeln aus Genua stammen, wo Basilikum wegen seiner heilsamen Wirkung schon im Mittelalter angebaut wurde. Es regt den Appetit an, wirkt gegen Blähungen, Fieber, Migräne oder Schlaflosigkeit. Die Basilikumpflanze (Ocimum basilicum) gehört zu jenen Kräutern, deren Blätter schon nach leichter Berührung Duftstoffe abgeben. Dabei gibt es über 60 Sorten, von süßlichen mit Anischarakter über streng und pfeffrig schmeckende bis hin zu Sorten, deren Duft an Gewürznelken, Zitrone oder Zimt erinnern. Für Öle werden die Blätter und Stängel in Wasser erhitzt, bis es zur Verdampfung kommt. Bei dieser Wasserdampfdestillation werden dann die Dämpfe aufgefangen und abgekühlt, wobei sie wieder flüssig werden. Da die Siedetemperatur von Wasser und den ätherischen Ölen voneinander abweichen, können sie leicht nacheinander aufgefangen und kondensiert werden. Zuerst sieden die ätherischen Öle und steigen auf, wodurch sie der Mischung Energie entziehen. Erst wenn sie entwichen sind, erwärmt sich die Flüssigkeit weiter, die nun fast nur noch aus Wasser und gelösten Salzen besteht. Nun siedet auch das Wasser und steigt gasförmig auf. Mit diesem Prinzip lassen sich die ätherischen Öle gewinnen. Das Basilikumöl aromatisiert Speisen und verleiht auch Pflegeprodukten eine frische Note. In der Küche wird meist das frische Kraut verwendet, zur Not auch das getrocknete. Dass es wirtschaftlich neben Petersilie und Schnittlauch zu den wichtigsten Kräutern zählt, überrascht nicht – als Frischkraut oder tiefgekühlt ist es in Supermärkten praktisch überall zu finden. Welche Inhaltsstoffe sind für das Aroma wesentlich? Bleiben wir in Europa, sind es Linalool und Cineol – beide sind Terpene. In den Tropen überwiegen Abkömmlinge der Zimtsäure. Linalool ist Hauptbestandteil der ätherischen Öle – nicht nur im Basilikum, auch im Koriander und in geringeren Mengen auch in Zimt, Ingwer, Lorbeer, Majoran und Thymian.

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Methylchavicol Eine weitere Komponente des Aromas ist Methylchavicol, auch Estragol genannt. Es entsteht innerhalb der Pflanze auf einem ganz anderen Syntheseweg als die Terpene. Die Aminosäure Phenylalanin ist der Ausgangsstoff für jene Verbindungen, die auf der Struktur der Zimtsäure aufbauen. Der Name spricht für sich, denn zahlreiche hiervon abgeleitete Verbindungen kommen im Zimt vor. Charakteristisch ist ein Benzolring – ein Ring aus sechs Kohlenstoffatomen mit drei Doppelbindungen. Im Baukasten der biochemischen Synthese der Aromastoffe formen sich zahlreiche Zimtsäureabkömmlinge, wie das Zimtaldehyd mit einer weiteren Doppelbindung und einer Aldehyd-Gruppe (–CHO). Beim Vanillin ist die Seitenkette verkürzt, und beim Methylchavicol des Basilikums ist lediglich eine Doppelbindung in der Seitenkette vorhanden.

Zimt aus Baumrinde Vom tropischen Ceylon-Zimtbaum (Cinnamomum verum) werden Äste abgeschnitten und entrindet. Wahlweise wird auch direkt am Stamm Rinde geschnitten, dann allerdings muss die äußere Korkschicht entfernt werden und die nur einen Millimeter dicke Innenrinde wird verwendet. Jeweils sechs bis zehn Rindenstücke werden ineinander geschoben und zunächst gelagert. Durch Reaktionen mit dem Luftsauerstoff verändern sich die Bestandteile, und beim anschließenden Trocknen in der Sonne rollt sich die Rinde ein. Diese Stangen werden in Stücke geschnitten und als Ceylon-Zimt in den Handel gebracht, da der echte Zimt ursprünglich nur auf Sri Lanka angebaut wurde. Daneben ist viel Cassia-Zimt im Handel, der hingegen meist aus nur einer und dafür dickeren Rindenschicht vom China-Zimtbaum (Cinnamomum cassia) besteht. In der Küche wird Zimt auch oft gemahlen verwendet. Schon mehr als 2000 Jahre wird Zimt als Gewürz in China verwendet; die Ägypter verwendeten ihn unter anderem zum Balsamieren von Mumien. Aus den Spänen und Bruchstücken der Zimtproduktion, aber auch aus den Blättern wird noch Zimtöl gewonnen. Dieses besteht zu 83 % aus Zimtaldehyd (Abb. 9.9) und enthält nur Spuren von Terpenen wie Eugenol (Abb. 9.10). Letzteres ist auch ein Bestandteil von Basilikum und vor allem Gewürznelken, an die sein Geruch erinnert. Es wird viel für Parfüms verwendet, vor allem aber in der Zahnmedizin, da es antibakteriell ist. In der Schleimhaut des Magen-Darm-Trakts bindet es an Rezeptoren und stimuliert die Ausschüttung von Calcium-Ionen, was wiederum Zellen zur Abgabe

9  September – Kräuter und herbstliche Gewürze     185

Abb. 9.9 Zimtaldehyd

Abb. 9.10 Eugenol

von Serotonin anregt. Dieser körpereigene Botenstoff steuert die Ausschüttung von Verdauungssäften und regt die Muskelbewegungen im Verdauungstrakt an. Der Zimtgeschmack ist beliebt, und zahlreiche Studien widmen sich darüber hinaus potenziellen medizinischen Einsatzmöglichkeiten. Zimt wirkt nicht nur antibakteriell, er soll auch vor Diabetes vom Typ 2 schützen, da er die Blutzuckerwerte senken kann. Sicher ist, dass Zimt die Wärmeproduktion des Körpers ankurbelt. Im Jahr 2006 war industriell verarbeiteter Zimt ein Thema in der Presse, da erhöhte Cumarin-Werte gefunden wurden. Frisch gemähter Rasen riecht nach Cumarin, es ist auch der Stoff, der für Kopfschmerzen nach dem Genuss von zu viel Waldmeister sorgt. Je nach Herkunft unterscheidet sich der Cumarinanteil erheblich. Die hohen Werte wurden nur in Cassia-Zimt gefunden, hingegen sind sie bei Ceylon-Zimt niedrig.

Blausäure in Kernen – zwischen reizvoll bitter und giftig Die Vorliebe für Bitterstoffe bewegt sich in engeren Grenzen als die für Schärfe oder Süße. Viele Pflanzen signalisieren mit Bitterstoffen ihre Unbekömmlichkeit, weshalb häufig eine längere Lernphase mit derartigen Stoffen stattfindet. Menschen haben etwa 25 verschiedene Bitterrezeptoren, mit denen sie rund 10.000 Bitterstoffe wahrnehmen. Wer auf Apfelkerne beißt, bemerkt einen bitteren Geschmack. Im Apfelkern befindet sich mit Amygdalin ein Stoff, der im Körper Blausäure (HCN) abspaltet – allerdings in sehr geringen Mengen. Da Blausäure sehr giftig ist, sollte sie nicht in

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größeren Mengen aufgenommen werden. Bittermandeln zum Backen eines Christstollens müssen noch vorsichtiger verwendet und vor allem sorgsam gekennzeichnet gelagert werden. Roh verzehrt spaltet sich ebenfalls Blausäure ab, würzend ist das ebenfalls entstehende Benzaldehyd (C6H5-CHO). Aus dem Bittermandelöl wird die Blausäure nach dem Pressen entfernt. Früchte wie die des schwarzen Holunders und der Schlehe enthalten ebenfalls Blausäure – sie reagiert jedoch beim Kochen mit anderen Stoffen, sodass der Saft ungiftig ist. Biologen haben auch auf Körperzellen fernab des Geschmacksinns Bitterrezeptoren entdeckt: Diese bewirken beispielsweise eine Entspannung der glatten Muskulatur der Atemwege und des Darms und könnten eine Rolle für das Immunsystem oder den Stoffwechsel spielen. Auch auf der Haut wurden die Rezeptoren gefunden. Im Fokus stand allerdings ein Bitterrezeptor, der zum Beispiel durch ein Schmerzmittel aktiviert wurde. Einerseits könnten bittere Pillen durch Blocker ergänzt werden, um die Einnahme zu erleichtern. Andererseits kann der Bitterrezeptor nachgebildet werden und so für Medikamententests nützlich sein, bei denen die Wirkung zunächst an kleinen Zellverbänden untersucht wird.

Pfefferkörner: mehr als nur schwarz-weiß Charakteristisch für Gewürze ist ihre hohe Geschmacksintensität. Schon viele verschiedene Pflanzenteile wurden erwähnt: Wurzeln, Blätter, Rinde, Kerne und Schoten. Sie werden stets so weiterverarbeitet, dass sie länger haltbar sind. Bezüglich der importierten Mengen ist Pfeffer in Deutschland Spitzenreiter (Tab. 9.1). Als erster Importeur nach Europa wird übrigens kein Geringerer als Alexander der Große angeführt. Die Bezeichnung „Pfeffersäcke“ für geizige, gewinnorientierte Kaufleute erinnert im Deutschen noch heute daran, wie wertvoll dieses Gewürz war, das über den Seeweg aus Indien vor allem in Hamburg anlandete. Ein geflügeltes Wort ist, jemanden dorthin zu wünschen, wo der Pfeffer wächst. Das sind Asien oder spezieller Indien, doch im übertragenen Sinne meint das: „weit weg“. Der Pfefferstrauch (Piper nigrum) wächst in feuchten Wäldern zum Beispiel in Indien und auf den Sundainseln. Die Pfefferkörner sind die Früchte dieser immergrünen Liane (also verholzenden Kletterpflanze), die mit Haftwurzeln bis zu 15 m Höhe erreicht. Häufig sind Kokospalmen die Stützbäume. Die Blüten des echten Schwarzen Pfeffers sitzen an bis zu 20 cm langen Ähren und reifen zu Steinfrüchten heran.

9  September – Kräuter und herbstliche Gewürze     187 Tab. 9.1  Die Top Acht der Gewürzimporte nach Deutschland, 2016 Gewürz

Einfuhr in Tonnen

Pfeffer Ingwer Paprika Koriander Zimt Muskat Nelken Kardamom Sonstige Gesamt

25.622 19.538 15.214 4713 4380 1528 783 674 45.164 117.614

Quelle: www.gewuerzindustrie.de

Wer im Supermarkt vor dem Gewürzregal steht, hat die Auswahl zwischen schwarzem, weißem, grünem und auch rotem Pfeffer. Die Sorten unterscheiden sich im Piperin-Gehalt, wobei die Farbe zum einen von dem Reifegrad der Früchte und zum anderen von der Bearbeitung abhängt. Für den schwarzen Pfeffer werden die Früchte unreif, also grün, geerntet. Beim Trocknen werden sie schwarz. Werden sie hingegen gekocht und dann gefriergetrocknet oder in Lake eingelegt, bleiben die Früchte grün. Eher selten wird roter Pfeffer angeboten, der aus den vollreifen Früchten besteht. Geschält, ohne Fruchtfleisch und getrocknet sind sie als weißer Pfeffer geläufig. Der Kern enthält viel Piperin, dafür ist das Aroma weniger komplex. Aufgrund der hohen Preise wurden schon früh andere Arten mit ähnlichem Geschmack zum Würzen herangezogen. Der rote Pfeffer wird in vielen Mischungen durch rosa Beeren ersetzt. Diese stammen vom Pfefferbaum (Schinus), der nicht mit dem Pfefferstrauch verwandt ist. Der Geschmack ist zwar scharf, erinnert aber leicht an Wacholder. Die enthaltenen Terpene können bei empfindlichen Mägen Probleme verursachen. Schärfe und Aroma Der Scharfmacher im Pfeffer ist das Alkaloid Piperin. Seine Grundstruktur enthält eine Carbonsäure, in der ein Sauerstoffatom durch Stickstoff ausgetauscht wurde. Die Stoffgruppe der Alkaloide ist sehr vielgestaltig und zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Vertreter biologisch hochwirksam sind. Piperin etwa aktiviert als Scharfstoff die Thermorezeptoren, allerdings überdeckt die Schärfe des Pfeffers nicht andere vorhandene Aromen. Dadurch ist dieses Gewürz vielseitig kombinierbar.

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Das komplexe Aroma des Pfeffers entfaltet sich durch weitere ätherische Öle. Sie zerfallen beim Kochen, weshalb Gourmets vor dem Servieren noch einmal frisch aus der Mühle Pfeffer auf das fertige Gericht mahlen. Die typische Geruchsnote von frisch gemahlenem Pfeffer beruht auf Caryophyllen, 3-Caren sowie α- und β-Pinen, also weiteren Terpenen (Kap. 8). Gemahlener Pfeffer hat eine so große Oberfläche, dass die flüchtigen Stoffe gut herausdiffundieren können. Die Körner sind ansonsten durch eine Membran umschlossen, die das Trocknen erlaubt, jedoch nicht den Austritt der organischen Moleküle, denn diese sind zwar leicht flüchtig, aber doch größer als Wassermoleküle. Das scharfe Piperin regt zunächst den Speichelfluss an, später im Darm dann die Ausschüttung von Verdauungsenzymen. Insgesamt erhöht Pfeffer so die Aufnahme anderer Stoffe während der Verdauung, verbessert also die sogenannte Bioverfügbarkeit. Das gewisse Extra Schon früh waren Menschen davon fasziniert, welch große Wirkung eine kleine Prise eines Gewürzes entfalten kann. Dabei unterscheiden sich die geschmacklichen Vorlieben – scharf oder pikant, mild oder ausgewogen – weltweit erheblich. Hinzu kommen jahreszeitlich geprägte Traditionen, so begann dieses Kapitel mit sommerlichen Noten von Paprika bis Minze und kam dann zu den wärmenden Aromen wie Kurkuma und Zimt. Im September erscheint in den Regalen der Supermärkte bereits eine große Auswahl an gewürztem Gebäck. Das neudeutsch „Herbstsortiment“ getaufte Angebot umfasst unter anderem Spekulatius, Zimtsterne und Pfeffernüsse – klassisches Weihnachtsgebäck. Die Natur ist allerdings gerade erst dabei, sich auf den nahenden Winter vorzubereiten. Während also die Kräuter in dunklen und luftigen Ecken trocknen, werden noch weitere Wintervorräte angelegt und Vorkehrungen getroffen. Auch Pflanzen und Tiere bereiten sich auf die kalte Jahreszeit vor und wappnen sich vor ersten Nachtfrösten, doch dazu mehr im folgenden Kapitel.

10 Oktober – Weinlese und erste Nachtfröste

Der sprichwörtliche goldene Oktober sorgt noch einmal für milde Tage. Morgens verschleiert Nebel die Felder und Wiesen, die Nächte rücken den Minusgraden näher. Der Altweibersommer verdankt seinen Namen den langen Spinnfäden, die an den letzten warmen Tagen Wiesen und Gehölze überziehen; er kann sich von September bis Ende Oktober erstrecken. Die Bäume tragen bereits weniger Laub, und so fallen die Flugfäden der jungen Spinnen mehr auf. Noch heute ist das alte Wort „herbsten“ für die Weinlese in der Pfalz und in Baden im Sprachgebrauch. Je nach Sommer beginnt das Herbsten im September und geht in den Oktober hinein – und es gab dieser Jahreszeit den Namen (Abb. 10.1). Doch wieso werden die Trauben so süß? Warum © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Feil, Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59264-9_10

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Abb. 10.1  Der Herbst ist die Zeit der Weinlese

bestimmt die Farbe der Früchte nicht bereits, ob es sich beim vergorenen Saft um Rot- oder Weißwein handeln wird? Andere Pflanzen lagern den Zucker in ihren Blättern ein und wachsen noch bei kühlen Temperaturen weiter. Wie schützen sie sich vor hungrigen Tieren, die nicht mehr so viel zu fressen finden? Wie schützen sich Insekten davor, beim Überwintern von spitzen Eiskristallen in den eigenen Zellen zerstochen zu werden?

Weinbau – die Anfänge Der Weinanbau begann schon vor Tausenden von Jahren und zeigt, welchen Einfluss Weltgeschichte und Religionen auf die Agrargeschichte haben. In der Türkei und im Kaukasus wurden Kelteranlagen gefunden, die über 8000 Jahre alt sind. Während sich das Römische Reich immer weiter in den Norden ausdehnte, verbreitete sich auch der Weinbau. Wein war schon früh im Christentum als symbolisches Getränk verankert, und die Christianisierung sorgte dafür, dass sich der Anbau der Reben stark ausweitete. Trauben wurden nicht nur vergoren, sondern auch getrocknet, und diese haltbaren Rosinen verwendete man in Speisen und Gebäcken. Die Zucht von Tafeltrauben ist jünger, da anfangs das Keltern im Vordergrund stand. Der Islam verbot den Weingenuss, sodass Trauben für den Frischverzehr beliebt wurden.

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Die Frage danach, wie Wein vergoren wird und ob er zusätzlich gesüßt wurde, würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Von den vielen Sorten und Ausbauarten, die es heute gibt, lernen wir im Folgenden einige Raritäten kennen.

Winzer-Wissen Die Urform des Weins ist die Wilde Weinrebe (Vitis vinifera subsp. sylvestris ), die als rankende, verholzende Kletterpflanze in den Wäldern einst bis hoch in den Norden vorkam. Die daraus gezüchteten Edlen Weinreben (Vitis vinifera subsp. vinifera ) mit größeren und süßeren Trauben wachsen überall dort, wo die Winterfröste nicht zu streng sind. Die Trauben reifen aber nur dort aus, wo sie viel Sonne bekommen. Im Jahresmittel sollte die Temperatur nicht unter 8,5 ℃ sinken. Die Reifezeit hängt vom Standort und der Rebsorte ab; frühe Sorten reifen bereits in August und September, mittlere von September bis Oktober und späte bis Anfang November. Für den Weinbau sind nur die Sorten interessant, die von September bis November reifen, da ihr Ertrag sicher ist – bei den frühen Sorten schaden beim Austrieb vorkommende Spätfröste der Blüte. Außerdem enthalten die späteren Sorten mehr Fruchtsäuren, was den Geschmack der Beeren fruchtiger macht. Sind die Trauben für die Weinherstellung bestimmt, wird von Keltertrauben gesprochen. Das Keltern des Weins geht auf das Zerstampfen der Beeren mit den Füßen zurück (lateinisch calcare, mit den Füßen treten). Aus der Maische kann der Saft leichter gewonnen und dann entweder erhitzt und abgefüllt oder vergoren und zu Wein weiterverarbeitet werden. Bei der alkoholischen Gärung wandeln Hefen unter Luftabschluss vorhandenen Zucker in Alkohol und Kohlendioxid um. Wesentlich ist also neben den schon erwähnten Fruchtsäuren für den Geschmack der Zuckergehalt, von dem der spätere Alkoholgehalt abhängt. Die Weinhefen können bis zu 18 % Alkohol herstellen, dann sterben sie. Reif für die Weinlese? Der Zuckergehalt und seine Maße Für Tafeltrauben reicht eine Naschprobe, ob sie für den Verzehr süß genug sind. Diese einfache Probe ist für die Weinbereitung aber zu ungenau, da der Zuckergehalt, ausgedrückt durch das Mostgewicht, für die spätere Qualität wichtig ist. Physikalische Methoden helfen weiter, wie die bereits im Jahr 1836 von Ferdinand Oechsle aus Pforzheim entwickelte Senkspindel. Sie wurde nach ihm benannt und ist als Oechsle-Waage bekannt (Abb. 10.2).

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Abb. 10.2  Die Oechsle-Grade werden mit einer Senkspindel erfasst

Die Spindel besteht aus Gewichten, die dem Auftrieb in Wasser bei 20 ℃ entsprechen, und einem langen Glashals, der skaliert ist. Diese Skala gibt an, wie viel schwerer als Wasser der Most ist, da der gelöste Zucker sowie weitere vorhandene Stoffe das Gewicht von einem Liter Most im Vergleich zu einem Liter Wasser ansteigen lassen. Angegeben werden diese Werte als OechsleGrad. Ist die Dichte des Mostes 1080 g/l, hat er also 80 Grad Oechsle. Praktisch sieht das so aus, dass die Spindel in den Saft gesetzt unterschiedlich tief einsinkt. Der abgelesene Skalenwert wird dann anhand einer Tabelle in den Zuckergehalt umgerechnet – je nach Rebsorte sind unterschiedliche Mischungen aus Zucker und anderen Stoffen wie Säuren, Glycerin, Phenol, Pektinen und Mineralien erfasst. Hat ein durchschnittlicher Most etwa 80 Grad Oechsle, ist nach dem Vergären ein Alkoholgehalt von 10,6 % oder 84 g reinem Ethanol je Liter Wein zu erwarten. Eine deutlich jüngere Methode ist es, die Lichtbrechung mit einem Refraktometer zu messen und daraus den Zuckergehalt zu berechnen.

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Je stärker die Brechung ist, desto höher der Wert auf der Oechsle-Skala (angegeben in Grad oder °Oechsle). Wieso werden nun aber Weine nicht schon geerntet, sobald die Reifung einsetzt? Wie im März-Kapitel (Kap. 3) schon erwähnt wurde, findet auch bei niedrigeren Temperaturen noch Photosynthese statt. Die dabei hergestellten Zucker werden im Herbst nicht mehr für das Wachstum der Pflanze oder den Aufbau neuer Blätter benötigt und daher in den Beeren eingelagert. Je länger die Trauben also am Rebstock bleiben, desto höher wird ihr Zuckergehalt. Winzer wissen nur allzu gut, wie beliebt die süßen Früchte bei Vögeln sind, die ja eigentlich die Kerne ein Stück weit transportieren und wieder ausscheiden sollen – im Sinne der Pflanze. Zuckersüße Weine Die Qualität eines Weines wird in Deutschland mit Bezeichnungen wie Prädikatswein angegeben. Zwei besondere Rubriken stellen die Beerenauslese und der Eiswein dar. Beide werden erst spät geerntet und haben die Gemeinsamkeit, dass auf natürliche Weise der Wassergehalt im Most reduziert wird. Für die Beerenauslese werden nach besonders lichtreichen und heißen Sommern die Beeren von Hand verlesen, also gepflückt. Erst ab 80°Oechsle wächst der Schimmelpilz Botrytis cinerea auf den Beeren und überzieht sie wie Reif. Für diese Edelfäule braucht es warmes, aber auch feuchtes Herbstwetter. Da diese Faktoren nur selten zusammen kommen, ist die Beerenauslese rar. Der Schimmelpilz gibt Enzyme ab, um die Zellwände der Beerenhaut zu durchlöchern. Bei trockenem Wetter tritt nun der zuckerhaltige Zellsaft aus, das Wasser verdunstet und der Pilz kann Zucker und andere Inhaltsstoffe verwerten. Im Gegenzug gibt er Glycerin ab, das ein dreifacher Zuckeralkohol ist – der einfachste Alkohol mit drei OH-Gruppen, die ja für Alkohole charakteristisch sind. Glycerin ist manchen auch als Frostschutzmittel bekannt und wird in einigen Ländern auch Weinen zugesetzt, um sie zu süßen. Bei der Beerenauslese geschieht dies rein biologisch, und der Zuckergehalt der Trauben steigt extrem an, viel höher als ohne Schimmelpilz möglich. Außerdem greift der Pilz mit weiteren Stoffen in den Stoffwechsel ein, sodass sich die Farbe ändert. Ein Riesling wird so zur honigfarbenen Beerenauslese. Die Hefen können beim Gären den Zucker nicht mehr zur Gänze umsetzen, sodass ein sehr süßer Wein entsteht. Oechslegrade von 300 sind üblich für den Most, nach dem „Supersommer“ im Jahr 2003 wurde mit 331°Oechsle ein Rekord aufgestellt.

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Im Falle des Eisweins werden gefrorene Beeren verwendet. Die Ernte erfolgt also noch deutlich später. Ab −7 ℃ gefriert das in den Beeren enthaltene Wasser. Werden derart kalte Trauben gepresst, ist im Saft nur das Wasser enthalten, das an die Zuckermoleküle im Zellsaft gebunden war. Das übrige Zellwasser bleibt als Eis in der Hülle der Beeren zurück. Entsprechend enthält der Most extrem viel Zucker. Das Ergebnis sind natursüße Weine und je nach Sorte – etwa beim Riesling – auch sehr helle. Bereits für das Jahr 1830 ist der erste Eiswein dokumentiert. Nach einem schlechten Weinjahr blieben an einigen Stöcken die Trauben ungeerntet, weil sich die Mühe nicht lohnte. Nach starken Frösten sollte im Februar 1830 damit das Vieh gefüttert werden – wodurch der süße Geschmack entdeckt wurde. Eiswein ist unter anderem deswegen so rar, weil die Trauben ganz durchfrieren müssen und dann noch gefroren gepresst werden. Entsprechende Pressen lohnen sich meist nicht, da auch immer ein Totalausfall der Eisweinernte möglich ist. Denn nur unbeschadete Beeren können noch gefroren geerntet werden. Befallen Pilze die Trauben, verdampft das Zellwasser und sie trocknen ein – nicht jeder Schimmelpilz lässt den Wein sanft süßer werden wie bei der Edelfäule. Je später strenge Fröste einsetzen, desto länger besteht die Gefahr, dass die feuchte und warme Witterung zu Fäulnis führt. Rotwein oder Weißwein? Von den Farbstoffen des Rotweins ist ein Anthocyan, das Oenin, besonders charakteristisch. Wann immer Farben von blau über violett bis rot in Blüten, Blättern und Früchten zu sehen sind, sind meist Anthocyane der Grund. Diese pflanzlichen Farbstoffe locken Tiere an, was die Verbreitung der Samen fördert. Zugleich absorbieren sie das Sonnenlicht, insbesondere dessen UV-Anteil – und da sie meist, wie beim Wein, vor allem in der Fruchthaut vorkommen, ist das eigentliche Fruchtfleisch vor zu starker Strahlung geschützt. Da sie auch Radikale (Glossar) gut binden, schützen sie doppelt vor dem Stress, den das Sonnenlicht auslösen kann. Nach dem Keltern werden die Beeren des Weins zerkleinert und die gut wasserlöslichen Anthocyane aus der Haut der Beeren treffen auf den Fruchtsaft. Aus den Zellvakuolen, von Membranen umhüllten Speichern, treten Zucker und Fruchtsäuren aus. Der Inhalt der Vakuolen macht 90 % des Traubensaftes aus. Die hohe Zuckerkonzentration kommt durch einen Protonenaustausch-Prozess zustande. Während des Wachstums der Trauben pumpt die Pflanze unter Energieverbrauch Protonen (H+) in die Vakuolen. Diese Protonen streben danach, wieder ein Ladungs- und Konzentrationsgleichgewicht mit dem

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umgebenden Zellsaft herzustellen. Indem die Protonen aus den Vakuolen strömen, betreiben sie in deren Membran Pumpen, die im Austausch zu ihrem Austritt Zucker in die Vakuole hinein verfrachten. So gelingt es der Pflanze, den für Tiere attraktiven Zucker in den Trauben anzusammeln. Der Saft ist an und für sich farblos. Wie ändert sich das Blau der Traubenhaut zum Rot des Weins? Was geschieht, wenn sich der Farbstoff Oenin mit dem Inhalt der Vakuolen durchmischt? Die Farbe des Weins basiert darauf, dass ein Lichtfänger, das Chromophor, einen Teil des eintreffenden Lichts absorbiert und einen anderen Teil reflektiert. Dieses Chromophor entsteht durch die Spaltung des Anthocyans Oenin, das chemisch zu den Glykosiden zählt. Bei diesen ist ein Zuckerbaustein mit einem weiteren Molekülteil verbunden, dem sogenannten Aglykon. Für die Farbe ist das Aglykon verantwortlich – im jungen Rotwein ist dies der Farbstoff Malvidin. Anfangs ist dessen Konzentration hoch; sie sinkt jedoch beim Reifen des Weines, wobei stabilere Farbstoffe entstehen, die charakteristisch für die jeweilige Rebsorte sind. Rotweine nehmen also mit der Reifung eine dunklere Farbe an. Dabei beschleunigen die Gerbstoffe aus Eichenholz diesen Prozess, und die Frage, welche Stoffe der Wein aus dem Eichenholz löst, können Weinkenner natürlich beantworten: Es sind Tannine. Diese adstringierenden Gerbstoffe können beim Verkosten von Wein das Gefühl erzeugen, dass sich etwas im Mund zusammenzieht. Vor allem wirken diese Polyphenole als Radikalfänger und damit antioxidativ. Die gelösten Tannine lagern sich im Wein mit Malvidin zu stabileren Farbstoffen zusammen, wobei sich der rote Farbton zu einem dunklen Violett ändert. Rote Farbe und Säure? Rotkohl! Anthocyane färben nicht nur Wein, sondern auch den Rotkohl. Hier zeigt sich, dass sich die Farbe mit dem Säuregehalt ändert. Einige kennen das Experiment aus dem Chemieunterricht: Fein geschnittener Rotkohl wird mit etwas Wasser aufgekocht und der abfiltrierte Saft eignet sich dann als Indikator für den pH-Wert von Lösungen. Dies ist ein in jeder Hinsicht „schöner“ Versuch, da das Farbspektrum von gelben und grünlichen Tönen über Blau zu Rot bis zu Violett reicht. Wer mag, kann es leicht selbst ausprobieren: Den frischen Rotkohlsaft mit gelöster Seife oder mit Essig mischen. Im ersten Fall bitte nicht mehr verzehren! Recht einfach wird so anschaulich, was der Begriff Indikator bedeutet, nämlich „Anzeiger“. Der Farbstoff im Rotkohlsaft zeigt an, ob sich viele oder wenige Protonen (H+) in der Lösung befinden und mit dem Chromophor wechselwirken.

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In der Natur gibt es zahlreiche Indikatoren, so etwa die Hortensien. Im Frühjahr stehen sie mit blauer Blütenfarbe zum Verkauf. Blühen sie nach dem Auspflanzen im zweiten Jahr rot, liegt dies an dem Boden, der offenkundig weniger sauer ist. Der niedrige pH-Wert (Glossar) erleichtert das Lösen von Aluminiumsalzen, die für die blaue Blütenfarbe benötigt werden. Spezielle Erden mit vielen Huminsäuren (Kap. 5) und Dünger mit Alaun (Kalium-Aluminiumsalzen) sorgen dafür, dass sich die Blüten wieder blau entwickeln. Der Boden beeinflusst auch den Kohlkopf. Wo der Boden sehr kalkhaltig ist, sehen die Rotkohlköpfe sehr bläulich aus. Bei einer säurefreien Zubereitung bleibt auch das gekochte Gemüse eher blau, manchmal noch verstärkt durch eine Prise Soda – Blaukraut eben. Sobald mit Zitronensaft oder Essig gewürzt wird oder Äpfel dem Kraut beim Kochen beigefügt werden, wandelt sich die Farbe in einen satten Rotton.

Ernte erst nach dem Frost? Vom roten nun zum grünen Kohl – saisonal werden ab Oktober vermehrt Kohlsorten angeboten. Im Gegensatz zu den Sommermonaten ist es dann allein schon durch den Tau in den Nächten meist gleichbleibender feucht–, sodass diese späten Gemüse noch lange wachsen. Überliefert ist für den Grünkohl, dass er erst nach den ersten Nachtfrösten richtig gut schmecke. Mittlerweile ist er so gezüchtet, dass die Ernte für den Handel bereits im September beginnen kann. Denn die Fröste bauen nicht etwa bestimmte Stoffe im Blatt ab. Vielmehr ist der Frostschutz durch hohe Gehalte an Vitamin C und Mineralien so gut, dass die Photosynthese weiter läuft. Weil aber der Stoffwechsel insgesamt bei Kälte verlangsamt ist, wird nicht mehr so viel der entstehenden Glucose fürs Wachstum benötigt. Sie sammelt sich, stärkt so den Frostschutz und mildert den Geschmack, doch dazu später mehr. Die Temperatur wirkt sich bei den alten Sorten nicht nur dadurch aus, dass die Bitterstoffe durch mehr Zucker überdeckt werden. Die Kälte zerstört auch Glucosinolate, also Enzyme, die sonst beim Zerschneiden in Kontakt mit den Zellinhaltsstoffen kommen und den Kohl bitterer machen. In der Summe kommt es bei den älteren Kultursorten mehr auf eine lange Standzeit im kühlen Herbst denn auf tatsächliche Minustemperaturen an. Bei der Zubereitung gibt es viele Varianten von gekocht bis roh. Traditionell werden die harten Grünkohlblätter lange gekocht und mit fettigen Würstchen serviert. Über Apfelmus oder Senf als Ergänzung scheiden sich bis heute die Geister. Dabei ist Senf durchaus eine spannende Würzpaste.

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Senföle: mehr als eine Geschmacksexplosion Botanisch ist die Stoffklasse der Senföle der Klassiker unter den von Pflanzen produzierten Insektiziden und charakteristisch für die Pflanzenfamilie der Kreuzblütler. Senföle schmecken scharf bis bitter und wehren fressende Larven und Raupen ab. Auch der Mensch schmeckt die Note „bitter“ besonders gut. Dennoch findet er Senf, Meerrettich und Kresse geschmacklich verlockend. Insgesamt klingt die Liste der Kreuzblütler wie ein herbstliches Menü: Weißkohl, Brokkoli, Blumen-, Grün- und Rosenkohl. Im zeitigen Frühjahr folgen Radieschen und Kresse. Senföle sind Abwehrstoffe, die zunächst als inaktiver Vorläufer, nämlich als Senföl-Glykosid, in der Pflanze gespeichert sind. Im Falle der Senföle handelt es sich bei der Schutzgruppe um den Einfachzucker Glucose, der über ein Schwefelatom mit einer Vielzahl anderer Moleküle verknüpft sein kann. Daher werden die Senföl-Glykoside auch Glucosinolate genannt (Abb. 10.3). Die Glucose sorgt hier vor allem dafür, dass das Senföl-Glykosid wasserlöslich ist. Was macht Senföl-Glykoside für blätterfressende Larven gefährlich? Die Jenaer Max-Planck-Forscherin und Biologin Franziska Beran hörte den Begriff „Senföl-Bombe“ während ihres Studiums an der Berliner Humboldt-Universität und fand ihn sehr anschaulich für das, was das Enzym Myrosinase auslöst. Während Senföl-Glykoside an sich noch nicht toxisch sind, werden sie durch die Zuckerabspaltung sozusagen scharf gestellt. Dabei entstehen je nach Verknüpfung verschiedene Stoffe, eben die nach ihrer Herkunft benannten Senföle. Chemisch gesehen handelt es sich dabei um Isothiocyanate (R–N = C = S, das R steht für den Rest des organischen Moleküls). Diese schmecken charakteristisch scharf und mischen sich nicht mit Wasser – daher die Bezeichnung „Öl“. Neben dem Zuckerbestandteil können noch weitere Seitenketten im Molekül gebunden sein, etwa kurze, mitunter schwefelhaltige, Kohlenwasserstoffketten oder komplexere organische Reste. Es gibt also eine Vielzahl unterschiedlicher Glucosinolate. In Pflanzen kommen oft Mischungen von zwei bis sechs verschiedenen Varianten vor.

Abb. 10.3  Glucosinolate. Das „R“ steht für einen Rest – so ist eine Formel stellvertretend für viele Varianten

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Beide Stoffe, Vorläufer und Enzym, sind in den Blättern der Kreuzblütler gespeichert, allerdings normalerweise nicht miteinander in Kontakt. (Abb. 10.4) Durch das Zerquetschen der Blätter treffen sie aufeinander und reagieren. Die frei werdenden Isothiocyanate stören unter anderem die Verdauung der Insekten und wirken somit giftig. Manche Insekten allerdings haben sich darauf eingestellt; so ist beispielsweise die Kohlmotte (Plutella xylostella) bestens gewappnet. Ihre Raupen verfügen über ein Enzym (kurz GSS genannt), das zu unschädlichen Abbauprodukten führt. Überlistet Noch weiter führt die Strategie der Kohlerdflöhe, die die Senföle sogar nutzen, um sich selbst zu verteidigen. Diese Käfer fliehen vor Fressfeinden, indem sie wie Flöhe springen. Sie treten in Massen etwa in kanadischen Rapsfeldern oder im taiwanesischen Kohlanbau auf und richten dort großen Schaden an. Sie locken sich gegenseitig mit Duftstoffen an. In Südostasien wird der Gestreifte Kohlerdfloh (Phyllotreta striolata) besonders gefürchtet, wo zu seinem Menü Rettich und Pak Choi zählen. Hierzulande ist unter anderem der Meerretticherdfloh (Phyllotreta armoraciae) bekannt. Er ist etwa 3 mm groß und rettet sich vor Fressfeinden durch die namensgebenden Sprünge. Allerdings ist der heimische Vertreter der Kohlerdflöhe nicht so gefürchtet, weil er nur einmal im Jahr Eier legt, während die tropische Verwandtschaft neun Generationen pro Jahr schafft. Das Anlocken weiterer Artgenossen zum gemeinsamen Fressen könnte den Vorteil haben, dass die Tiere die Wachsschicht der Blätter nicht so oft selbst durchbrechen müssen, um an die wohlschmeckenden Blattschichten zu kommen.

Abb. 10.4  Abwehr von Fraßfeinden durch Senföle

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Abb. 10.5  Kohlerdflöhen können Senföle wenig anhaben. Sie sind durch eine eigene Myrosinase „immunisiert“

Das Überraschende dabei: Die Erdflöhe fressen Kohlblätter, aber statt krank zu werden lagern sie die Senföl-Glykoside sogar im Körper ein. Pflanzen mit hoher Konzentration der Abwehrstoffe vermiesen zwar auch diesen Käfern die Mahlzeit, doch auf weniger angereicherten Pflanzen halten sie es aus. Obwohl die Käfer mit dem Nahrungsbrei auch das Enzym Myrosinase aufnehmen, gelingt es ihnen, das unzerstörte Glykosid einzulagern. Ihr Trick besteht darin, dass sie selbst den Bauplan für eine Myrosinase im Erbgut tragen (Abb. 10.5). Ob das eigene Enzym wie eine Impfung wirkt? Jedenfalls zerlegt dasjenige aus der Pflanze nicht wie sonst das Senföl-Glykosid in Glucose und schädigende Senföle, die weiter in Thiocyanate und andere Verbindungen abgebaut werden. Stattdessen lagert der Käfer die Senföl-Glykoside ein. Diese wirken überdies antibakteriell, was ihn schützt, während er im Boden überwintert.

Vorbereitung auf kalte Nächte Während Pflanzen viel Zucker für den Winter einlagern, ist es bei Tieren eher Fett. Wieso eigentlich? Der Grund ist die in den chemischen Bindungen gespeicherte Energiemenge, die bei Fetten deutlich höher ist. Wenn Zucker eingelagert wird, ist stets auch Wasser daran gebunden, sodass auf 1 g Kohlenhydrate rund 5 g Wasser kommen – Kohlenhydrate sind eine „schwere“ Reserve. Dafür sind sie schneller verfügbar. Fette werden als Lipidtröpfchen in Speicherzellen eingelagert und bilden so stoßdämpfende und wärmeisolierende Schichten.

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In Muskeln und Leberzellen werden Kohlenhydrate als Glykogen eingespeichert, ein Mehrfachzucker, der nicht vom Blut abtransportiert wird und als schnelle Reserve vor Ort ist. Darüber hinaus können aus überschüssigen Zuckern in der Glykolyse Glycerin und in weiteren Stoffwechselzyklen verschiedene Fettsäuren aufgebaut werden. Allerdings ist die Umkehrung, die Gewinnung von Energie aus Fetten, daran gekoppelt, dass die Leber einen abfallenden Blutzuckerspiegel misst und Enzyme aktiviert, um Fette abzubauen. Tiere, die Winterschlaf halten, fressen sich im Laufe des Sommers und Herbstes ein Fettpolster an. Sie fahren ihren Stoffwechsel in ein Energiesparprogramm herunter, und die Energiepolster bringen sie über den Winter. Selbst wer, wie etwa das Eichhörnchen, Nahrungsdepots anlegt und zwischendurch frisst, also nur Winterruhe hält, braucht eine wärmeisolierende Fettschicht. Ist Winterschlaf erholsam? Der vermeintliche Schlaf entspricht einem Sparzustand: Atemfrequenz und Körpertemperatur sinken, und die Stoffwechselvorgänge verlangsamen sich. Auch das Herz schlägt seltener. Insgesamt also eher ein Ausnahmezustand als ein erholsamer Schlaf. Biologen, genauer Winterschlafforscher, nennen diese Phase den Toporzustand. Je nach Tierart dauert er Tage oder Wochen wie bei Igeln und Siebenschläfern oder wenige Stunden wie bei den Fledermäusen. Der Igel wacht ungefähr alle zehn Tage auf und wärmt sich einmal durch. Die biologischen Gründe sind unklar, allerdings schmelzen so die Fettreserven dahin. Im Winterschlaf kann die Körpertemperatur fast auf die Umgebungstemperatur sinken – mit einer Schwelle bei 4–5 ℃ Körpertemperatur. Sinkt die Außentemperatur weiter, müssen die meisten Tiere mehr Energie aufwenden, um die Körpertemperatur aufrechtzuerhalten. Nur wenige Säugetiere kühlen noch stärker aus, ohne Schaden zu nehmen. Den Rekord hält das Arktische Ziesel mit −2,9 ℃. Für Säugetiere ist eine erste Reaktion auf Kälte das Muskelzittern. Unwillkürlich, also ohne bewusste Entscheidung, beginnen die Muskeln sich anzuspannen: Die freigesetzte Energie wird nicht in Bewegung umgesetzt, sondern als Wärme abgestrahlt. Dies ist für den Körper Schwerstarbeit und kann nur kurzfristig durchgehalten werden. Die Glykogenspeicher erschöpfen sich, und Nachschub aus Fettzellen wird über die Leber aktiviert. Daher ist das Muskelzittern keine langfristige Strategie, um Wärme zu erzeugen.

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In kühlen Klimazonen verfügen Säugetieren häufig über braunes Fettgewebe. Auch Jungtiere und Säuglinge haben es im Bereich der Schulterblätter und im oberen Brustbereich. Die Zellen dieses spezifischen Gewebes sind nicht nur besonders reich an Lipidtröpfchen, sondern haben auch eine hohe Zahl an Mitochondrien, den Zellkraftwerken, die hier zudem für die bräunliche Färbung sorgen. Fette setzen sich aus dem Dreifachalkohol Glycerin und Fettsäuren zusammen. Bei der Wärmeproduktion werden diese Verbindungen gespalten. Im normalen, weißen Fettgewebe werden die Fettsäuren ans Blut abgegeben und gelangen dann in die Leber. Beim braunen Fettgewebe werden die Fettsäuren gleich in den Mitochondrien als Energiespeicher genutzt und weiter aufgespalten. Die frei werdende Energie wird somit an Ort und Stelle zu Wärme. Säuglinge und Jungtiere schützt dieses Gewebe vor dem Auskühlen, das für sie eine besondere Bedrohung darstellt; die Extraheizung ist hier überlebenswichtig. Für den Winterschlaf haben diese Gewebe eine wichtige Funktion. Zuckende Muskeln würden viel zu viel Energie verbrauchen, um aus dem Schlaf zu erwachen. Überleben dank Frostschutzmittel Während sich der Stoffwechsel der Tiere beim Torpor oder Winterschlaf aktiv verändert, bedeuten die sinkenden Temperaturen für wechselwarme Tiere eine passive Anpassung: Sie fallen in Winterstarre. Darauf bereiten sie sich mit der Bildung von Frostschutzmitteln vor. Genau wie bei den Pflanzen geht es darum, die spitzen Eisnadeln zu verhindern, die Zellmembranen durchstechen würden. Die Zellflüssigkeit besteht vor allem aus Wasser, doch je mehr Stoffe darin gelöst sind, desto tiefer liegt der Gefrierpunkt. Die Flüssigkeit in den Zellen gefriert erst bei minus zwei bis minus drei Grad, diejenige in den Zwischenzellräumen schon bei minus ein Grad. Es gibt zwei Wege des Frostschutzes: Entwässern oder Gefrierschutzmittel. Beim Entwässern bleiben gelöste Stoffe in höherer Konzentration zurück, der Gefrierpunkt sinkt. Dabei besteht jedoch die Gefahr auszutrocknen, oder die Proteine vertragen die hohe Konzentration gelöster Stoffe nicht und denaturieren, wodurch die Zelle stirbt. Daher sind häufiger Gefrierschutzmittel zu finden, die wasserlöslich sind und die Eiskristallbildung stören. Zu ihnen zählen unter anderem Stoffe, die mehrere Hydroxy-Gruppen (OH) tragen, wodurch sie sich an den wachsenden Eiskristall lagern: So bleibt er sowohl klein als auch stumpf. Glycerin ist ein Beispiel, ein anderes ist Ethylenglykol in Borkenkäfern. Auch gelöste Zucker hemmen schon die Eisbildung.

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Schmetterlinge wie der Zitronenfalter, die in Nordeuropa als erwachsener Tiere (Imago) überwintern, fahren ihren Stoffwechsel herunter, wenn die Tage kürzer werden und die Temperaturen sinken. Als Reservestoff dient ihnen Glykogen, um den Stoffwechsel aufrecht zu erhalten. Um Frostschäden durch gefrierendes Wasser zu vermeiden, lagern sie in ihren Zellen Glycerin und den Zuckeralkohol Sorbit mit sechs OH-Gruppen ein. Daneben gibt es spezifische Gefrierschutzproteine, die sich an kleine Eiskristalle anlagern und diese ummanteln. So wird das Kristallwachstum gebremst. Dies ist keine fest umrissene Stoffklasse, sondern zeichnet sich durch ein erkennbares Muster in der Struktur aus: Abwechselnd folgen hydrophile und hydrophobe Abschnitte aufeinander, also wasserliebende und -abstoßende Abschnitte. Die hydrophilen Bereiche mögen Wasser und lagern sich an den Eiskristall an, die hydrophoben enthalten häufig die Aminosäure Alanin und bilden einen Abstandhalter. Amphibien können wie gefroren aussehen, doch Gefrierschutzmittel in den Zellen und im Blut sorgen dafür, dass ein aus gefrorenem Boden ausgegrabener Salamander bald wieder laufen kann. Bei gefrierresistenten Arten wie einigen Fröschen gefrieren Blut und Lymphe und nur die Flüssigkeit in den Zellen bleibt flüssig. Wenn sogar Eis in den Zellen entstehen kann, ohne dass das Tier stirbt, ist es so gefriertolerant wie eine antarktische Zuckmückenart. In ihren Zellen ist das Eis amorph und nicht kristallin, es bildet also keine spitzen Kristalle aus.

Leben in polaren Gewässern Nicht erst im Oktober, schon im Sommer ist der Arktische Ozean über weite Flächen mit Eis bedeckt. Das Wasser ist kalt und Frostschutz für alle Lebewesen dort dringend geboten. Die vom Meer überfluteten Kontinentalsockel markieren das Schelfmeer mit einer Wassertiefe bis etwa 200 m in der Arktis und 600 m in der Antarktis. Sowohl im Norden, im Arktischen Ozean, wie auch im Südmeer rund um die Antarktis sind im Plankton unter anderem kleine Floh- und Ruderfußkrebse zu finden. Daneben gibt es Schnecken und lumineszierende Rippenquallen. Sie ernähren sich von einzelligen Algen, allen voran den Kieselalgen (Diatomeen). Vom Plankton wiederum ernährt sich Krill. Diese Bezeichnung entlehnte sich dem norwegischen Sammelbegriff für „Walnahrung“. Ein spezieller Vertreter darunter ist der Antarktische Krill, die im Südpolarmeer lebende Leuchtgarnele Euphausia superba, die nicht nur von Walen gefressen wird, sondern auch

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von Pinguinen und Robben. Während Krill generell als Modell für Klima-Toleranz gilt, da er vom Mittelmeer bis zur Arktis überlebt, kommt die Leuchtgarnele nur im antarktischen Südpolarmeer vor. Je weniger Packeis vorhanden ist, desto weniger Algen können von der Unterseite des Packeises abgeweidet werden, die gerade im Winter eine wichtige Nahrungsquelle sind. Krill lagert nur wenige Lipide ein und ist auch im Winter auf Nahrung angewiesen. Seine Laichzeit ist der Hochsommer – wobei er erst im dritten Lebensjahr geschlechtsreif wird. Je weniger Winternahrung vorhanden ist, desto weniger Krill wird alt genug für die Fortpflanzung. Vielleicht überrascht es, dass Krill bis zu sieben Jahre alt wird. Dann sind die Tiere im Schnitt 6 cm groß bei einem Gewicht von 1–2 g. Der Nordische Krill (Meganyctiphanes norvegica) lebt in den Gewässern von Helgoland bis in die Arktis und ist hier Nahrungsgrundlage für Fische und Hummer. An dieser Art wurde untersucht, wie sich Krill ans Klima anpassen kann. In kalten, nordischen Gewässern beeinflusst vor allem die Wassertemperatur Wachstum und Fortpflanzung. Gelangt eine Population durch Meeresströmungen in wärmere Gewässer, überwiegt der Einfluss des Nahrungsangebots, also das regionale Plankton-Angebot. So lebt in den warmen Gewässern nur im Frühjahr reichhaltig Plankton, der dabei steigende Nährstoffverbrauch schränkt das Phytoplankton im Sommer ein. Im kalten Wasser hingegen verlangsamt sich der Stoffwechsel unter anderem dadurch, dass die Enzyme nicht mehr optimal arbeiten und weniger umsetzen. Sie sind wichtig, um Energie bereitzustellen oder auch das Plankton zu verdauen. Fische mit Frostschutz Im Blut von Fischen in polaren Gewässern finden sich Frostschutzproteine. Ein aus 37 Aminosäuren verknüpftes Protein gilt noch als sehr klein und wird daher Peptid genannt. Ein solches Peptid verhindert im Blut der Winterflunder (Pseudopleuronectes americanus), dass das in Zellen enthaltene Wasser gefriert. Der Trick ist bei ihr, dass dieses Peptid viele solcher Aminosäuren enthält, die gern Wasser anlagern, wie zum Beispiel Asparagin, Threonin und Leucin. Sie sind so eingebaut, dass sich das Molekül zu einer „Schraube“ wickelt die so entstehende Röhre nimmt kleine Eiskristalle auf. Damit wird ein Anwachsen der Kristalle zu Eisnadeln unterbunden. Eine etwas andere Wirkung entfalten die Frostschutz-Glykoproteine, also Proteine, die zusätzlich Zucker-Reste tragen. Der Aufbau ist relativ einfach, vor allem Wiederholungen der Sequenz Alanin-Alanin-Threonin kommen vor, wobei die Aminosäure Threonin jeweils einen Zucker-Rest trägt.

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Gefunden wurden bislang acht verschiedene solcher Frostschutz-Glykoproteine, die sich vor allem in der Länge der Aminosäureketten unterscheiden. Mit Computersimulationen wurde ihre Art, die Eiskristalle am Wachstum zu hemmen, untersucht. Demnach können die Moleküle sich zunächst locker an die Oberfläche des Eiskristalls binden und dann daran entlangwandern, bis eine passende Bindungsstelle gefunden ist. Solekanäle im Eis als Lebensraum für Eisalgen Zum Überleben gehört natürlich Nahrung, und die besteht für die Fische aus Algen. Selbst in der Arktis wachsen diese – trotz der langen Polarnacht. Einige Arten leben unter dem Eis oder im Eis. Diese Algen sind extrem widerstandsfähig und passen sich an, wenn sich die Welt um sie herum ändert. Es gibt unzählige Arten solcher Eis- und Schneealgen. Vor allem finden sich Kieselalgen (Diatomeen) darunter. Sie können Sporen bilden, die zum Meeresboden sinken. Selbst nach Jahren können sich bei günstigen Lebensbedingungen daraus massenhaft neue Algen bilden – was mit einer der Gründe für „Algenblüten“ ist. Dann färbt sich die Unterseite des Packeises und der Eisschollen braunrot oder grau. Denn natürlich steht der Begriff nicht dafür, dass die Algen farbenfrohe Blüten hervorbringen, sondern dafür, dass sie sich rasch vermehren. Je nach Algenart und Standort können Altschnee oder Eis auch grün oder rot eingefärbt werden. Auch im Inneren des Eises leben diese Algen, da sich beim Gefrieren des Wassers feine Solekanäle bilden. Das im Meerwasser gelöste Salz senkt die Temperatur, bei der das Wasser gefriert und sich zu Eiskristallen ordnet. Die ersten Kristallisationskeime bestehen aus reinem Süßwasser, das gelöste Salz wird nicht ins Kristallgitter eingebaut. Bei wachsender Eisausdehnung wird das verbleibendende Wasser immer salzreicher: diese Sole sickert in Zwischenräume. So bilden sich feine Kanäle mit einem Durchmesser von 5 μm bis etwa 1 mm. Die Dichte ist höher als im umgebenden Meerwasser, sodass mit der Zeit die Sole immer weiter nach unten sinkt und schließlich abfließt. Beträgt der Volumenanteil der Sole anfangs etwa 35 % des Eises, liegt dieser Anteil bei mehrjährigem Eis nur noch bei fünf Prozent. Entsprechend sinkt die Dichte des Eises und der Auftrieb wird größer. Im Südpolarmeer wurde die Kieselalge Fragilariopsis cylindrus gut untersucht. Sie vermehrt sich noch unter 0 ℃, wenn das Seewasser zu gefrieren beginnt, und enthält Proteine, die entstehende Eiskristalle strukturell verändern können. Die Alge überlebt auch den Einschluss im Eis und setzt die Photosynthese fort, sobald Sonnenlicht auf sie trifft. Während für die Photosynthese meist Eisen in Proteine eingelagert wird, da das Metallatom den

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Transport von Elektronen erleichtert, nutzt die Alge im Eis Kupfer hierfür. Ein klarer Vorteil, da das Wasser des Polarmeeres kaum gelöstes Eisen enthält und die Konkurrenz um diese Ressource mit anderen Kieselalgen groß ist. Zurück in den Norden, nach Grönland. Auf Grönland schmilzt die Sommersonne die Schneeschichten fort und zurück bleibt graues Eis mit Pfützen und Rinnsalen. Dieses Grau ist ein Zeichen für die Algenblüte. Interdisziplinär interessiert Forschergruppen, wie die Algenblüten die Rückstrahlkraft des Sonnenlichts von Schnee- und Eisflächen beeinflussen. Bis zu 70 % mehr Sonnenlicht werden durch sie absorbiert, was einen erheblichen Einfluss auf die Wärme hat. Dieser Frage widmen sich im Projekt „Black and Bloom“ Forschende der Disziplinen Biologie, Chemie, Glaziologie und Physik. Black steht hierbei für dunkle Partikel und Bloom für mikrobielle Prozesse wie die Algenblüte. Das verdunkelte Eis schmilzt deutlich schneller als das weiße. Hohe Konzentrationen von 10.000 Eisalgen befinden sich in 1 ml geschmolzenen Eises. Insgesamt gibt es weltweit zwei häufig vorkommende Arten von Eisalgen und sieben Arten von Schneealgen (Abb. 10.6). Die runde, rot pigmentierte Schneealge Chlamydomonas nivalis schützt sich mit dem Farbstoff Astaxanthin vor zu viel Sonnenlicht. Ihr massenhaftes Vorkommen auf den polaren Eisschilden oder Gletschern färbt den Schnee, sodass von „Blutschnee“ gesprochen wird.

Abb. 10.6  Unter dem Mikroskop lassen sich die länglich-bräunlichen Eisalgen (links) gut von den runden, rot pigmentierten Schneealgen unterscheiden

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Mit Fettpolstern und Zuckern wappnen sich Tiere und Pflanzen für die dunkle Jahreszeit. Doch ganz gleich, ob Weinreben an späten Sonnentagen die Früchte noch besonders süß nachreifen lassen oder Kohlpflanzen die feuchte Herbstwitterung zum Wachsen nutzen – statt damit Überleben und Fortpflanzung zu sichern, werden sie in der Regel geerntet und verarbeitet. Rotwein und Rotkohl haben nicht nur die gleichen Farbstoffe, sondern prägen auch die späte Erntezeit. Statt Speck anzusetzen, können wir Vorräte anlegen. Auch fand der Mensch Wege, die Dunkelheit zu mindern. Die immer kürzer werdenden Tage werden vielerorts mit Laternenumzügen erhellt, manchmal begleitet von Fackelträgern. Diese Leuchtmittel haben eine sehr lange Tradition, die im nächsten Kapitel, nun ja: beleuchtet wird.

11 November – In der dunklen Jahreszeit

Die Nächte werden im November immer länger, und die dunkle Jahreszeit führt bei vielen dazu, dass sie morgens im Dunkeln das Haus verlassen und abends auch im Dunkeln heimkehren. In klaren Nächten sind am Himmel viele Sterne zu sehen – wieso erhellen diese das Firmament eigentlich nicht? Die einzigen Lichter am Himmel sind die selbst leuchtenden Sterne, zu denen auch unsere Sonne zählt und von denen wir mit bloßem Auge etwa 3000 sehen können. Ihr Licht lässt die vielen Planeten erstrahlen, denn diese reflektieren einen Teil des Lichts. Dazwischen ist Schwärze – sehr viel Schwärze.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Feil, Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59264-9_11

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Im Weltall gibt es jedoch zahlreiche Sonnensysteme. Wer sich nun einen Nachthimmel voller Sterne vorstellt, mag sich durchaus darüber wundern, dass es dunkel ist. Ist das Weltall so unendlich, dass es die Lichtenergie verschluckt? Ist zwischen den Sternen so viel dunkle Materie, dass nur ein Bruchteil der Strahlung bis zu Erde gelangt? Oder sind die Energiemengen gar nicht so groß? Einige Forscher nehmen tatsächlich an, dass die Menge der Photonen nicht so groß ist. Womit wir mitten in der Quantenphysik wären: Photonen können als Elementarteilchen mit Wellen- oder Teilcheneigenschaften angesehen werden. Sie sind masselose Überträger der Sonnenenergie, auch Lichtquanten genannt. Der Nachthimmel zeigt eine Sternenkarte mit Sternen von endlicher Existenz. Irgendwann ist ihr Brennstoff verbraucht – bei der Sonne etwa wird sämtlicher Wasserstoff einst zu Helium fusioniert sein, und unser Sonnensystem wird nach einer hochaktiven Übergangsphase als „Roter Riese“ zu einem „Weißen Zwerg“ und nach dem Abkühlen zu einem „Schwarzen Zwerg“ werden. Dieser strahlt keine weiteren Photonen mehr aus. Bis dahin strahlt die Sonne zwar für menschliche Begriffe unendlich viele Photonen aus, doch letztlich ist sowohl die Masse als auch die Energie begrenzt und damit die Zahl der Photonen. Insgesamt ist die Zahl der Sterne im Vergleich zum Raum somit zu gering, um den Nachthimmel zu erleuchten. Auf der Erde gibt es verschiedene Lichtquellen – schon von Natur aus. Hier soll es um die Entwicklung gehen, die mit den ersten Feuern begann. Unsere Vorfahren entdeckten neben Wärme und Licht auch die Möglichkeit, Stoffe umzuwandeln. So erwärmten sie bereits farbige Gesteine wie Ocker, sodass sich die Farbe des Pigments in ein intensives Rot änderte, wovon Höhlenmalereien zeugen. Wenn Stoffe ihre Eigenschaften ändern, handelt es sich um eine chemische Reaktion. Die Menschen, die in Höhlen farbige Steine wie Malsteine verwendeten, konnten wirklich nicht ahnen, dass sich aus dem Experimentieren mit Stoffen innerhalb von Jahrtausenden gezielte Versuche in chemischen Laboren entwickeln würden. Mit Wärme bringen wir alltäglich Reaktionen in Gang, sei es beim Kochen, Schweißen oder beim Anzünden von Kerzen. Eine der bahnbrechenden Entwicklungen waren auch künstliche Lichtquellen. Wie kann elektrische Energie so umgewandelt werden, dass Photonen im sichtbaren Bereich ausgestrahlt werden?

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Glühende Kohlenstoffpartikel Nachdem der Mensch gelernt hatte, das Feuer zu bewahren, erfand er offenbar schon bald die Kerze oder zumindest Dochte in einer Schale mit Wachs oder Talg, sogenannte Unschlittlampen. Die Erfindung der urzeitlichen Lampen war ein großer Fortschritt, da die Dochte im Talg oder Wachs den Brennstoff schmelzen und im Gewebe des Dochtes hochsteigen ließen, dabei aber selbst nur langsam abbrannten. Als Schalen dienten ausgehöhlte Kalk- oder Sandsteine, in die der Brennstoff gefüllt wurde. Fundstücke mit Brandspuren bestätigten, dass die Steine vor rund 40.000 Jahren als Lampe genutzt wurden. Da Kalksteine die Wärme kaum leiten, kann eine solche Lampe noch brennend in der Hand getragen werden. Sandsteine dagegen werden heiß, was zusätzliche Griffe nötig machte. Am häufigsten sind bearbeitete Fundstücke mit Vertiefungen, in denen das schmelzende Fett nicht seitwärts ablief. Chemische Analysen ergaben, dass vor allem tierische Fette und Wachse geschmolzen wurden. Das Wort Unschlitt steht für das Fettgewebe, eine andere Bezeichnung ist Talg. Als Docht verwendeten unserer Vorfahren vermutlich Flechten, Moos oder auch Wacholderrinde, die den schmelzenden Brennstoff ansaugten und zur Flamme transportierten. Inuit behelfen sich bis heute mit ähnlichen Lampen aus einer Steinscheibe, Seehundspeck und Flechten. Das Licht einer solchen Lampe ist spärlich, und meist wurden an Fundstellen gleich zwei oder mehrere Lampen dieser Bauart gefunden – zum Teil auch im Gelände an schwierigen Wegpunkten wie Felsüberhängen oder an Kreuzungen und Abbiegungen. Unterdessen wurden auch Wachsfackeln erfunden. Dürre Äste brennen schnell herunter; wenn sie in Talg getaucht wurden, verzögert sich ihr Abbrand bereits, da zunächst der Talg verbrennt und dann erst das Holz. Heute werden Fackeln als Gartenillumination oder zu besonderen Anlässen entzündet und sind zusätzlich mit einem Textilgewebe umwickelt. Später verbreiteten sich Lampen mit einem Kienspan, der in einen Halter aus Stein oder Ton, den sogenannten Maulaffen, gesteckt wurde. Halterungen aus Metall wurden noch länger verwendet. Die Entwicklung mag auf die Beobachtung zurückgehen, dass harzreiche Hölzer gut brennen. Spaltstücke und Späne aus dem Kiefernstamm, je nach Waldgebiet aber auch Fichten, Tannen oder Laubhölzer, eignen sich dafür. Das Harz dient dem lebenden Baum als Wundverschluss. Harzeinlagerungen kristallisieren im Holz als Harz und bleiben erhalten. Ein altes Wort dafür ist das Verkienen, daher auch der Name Kienspan.

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So wurde der Kienspan noch lange verwendet, um Licht in W­ohnhäuser und auch Bergbaustollen zu bringen. Für größere Leuchtkegel wurden manchmal Körbe aus Kienholz geflochten, die dann langsam abbrannten und leuchteten – so auch als Warnung bei Eisgang auf der Elbe. Lampenöl und Talgkerzen Als nächstes wurden Talgkerzen entwickelt; sie brachten neben Öllampen Licht in die ansonsten dunklen Wohnräume. Allerdings rußten sie sehr stark. Talg wird beim Schlachten aus dem Eingeweidefett gewonnen, wie etwa das Nierenfett von Rindern und Schafen. Dieses „Baufett“ umgibt die inneren Organe wie ein Stoßdämpfer. Nach der Schlachtung wird das Fett ausgeschmolzen. Schweine und Geflügel eignen sich nicht, da ihre Fette einen niedrigeren Schmelzbereich haben und nur Schmalz ergeben. Der seit dem 17. Jahrhundert ausgeübte Walfang zielte ebenfalls auf das Fett der Tiere. Walöl (Tran) verbrennt hell und geruchsfrei in Lampen, Walrat lieferte die ersten von Natur aus weißen Wachskerzen. Auch Bienenwachskerzen haben eine lange Tradition, waren hingegen teuer, da der Rohstoff rar war. Dafür wurden sie allein schon ihres Geruchs wegen gern in Kirchen und bei Hofe verwendet. Die heute üblichen Stearin- oder Paraffin-Kerzen sind so gesehen eine noch junge Erfindung. Das Wachs Stearin brennt rußarm ab. Mit Stearin wurden Kerzen dann erschwinglicher und vor allem tropfarm. Die enthaltenen Fettsäuren können aus pflanzlichen oder tierischen Fetten gewonnen werden. Für die industrielle Produktion wurde das wachsartige Paraffin der wichtigste Rohstoff. Dieses Wachs ist ein Nebenprodukt der Erdölaufbereitung. Licht bündeln Wer die Gelegenheit hat, sich einmal die Linsen im Inneren eines Leuchtturms anzusehen, sollte dies tun. Denn erst die Fresnel-Stufenlinse bündelte das Licht so gut, dass es als Leuchtstrahl über große Entfernungen hinweg Schiffen den Weg in eine Hafeneinfahrt weisen oder sie vor Klippen sowie anderen Gefahren warnen konnte – vor allem in der dunklen Jahreszeit ein unglaublicher Fortschritt in der Navigation. Die Eigenschaften von Linsen wurden bereits im Jahre 424 v. Chr. von dem griechischen Dramatiker Aristophanes in der Komödie Die Wolken erwähnt. Zu dieser Zeit wurden Wachstafeln als Schreibutensil genutzt, wofür auf dünne Holztafeln Wachs aufgetragen wurde, in das Schreibkundige dann die Schriftzeichen ritzten. Im Stück kommt der verschuldete Strepsiades auf die Idee, Licht mit einem Brennglas zu sammeln, um so das Wachs einer Tafel zu schmelzen – und

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dadurch seine darauf festgehaltenen Schulden zu tilgen. Solche Tafeln waren noch bis ins Mittelalter in Gebruch, da Papier sehr kostspielig war. Im antiken Griechenland wurden mundgeblasene Glaskugeln mit Wasser gefüllt, wodurch sie das Licht der Sonne oder von Kerzen bündelten und quasi verstärkten. Die Lichtstrahlen werden dabei durch die im Vergleich zur Luft höhere Dichte des Wassers und aufgrund der Kugelform auf einen kleinen Bereich fokussiert und wirken so heller. Im Sonnenlicht konnte auf diese Weise sogar leicht brennbares Material entflammt werden; diesen Effekt kennen wir auch von Linsen, mit denen ja Löcher in Papier gebrannt werden können. Eine andere Art, das Licht zu verstärken, boten Sammellinsen. Fundstücke wie geschliffene Bergkristalle stammen aus der Zeit ab etwa 2000 vor Christi, die möglicherweise diese Funktion hatten. Noch im 19. Jahrhundert waren Sammellinsen im Einsatz, um Kerzenlicht in einem Brennpunkt zu verstärken. Die Erkenntnis, dass andere Linsen – je nach Schliff – das Licht streuen, führte zur Entwicklung von Brillengläsern. Seit Ende 14. Jahrhunderts wurde dadurch auch das Lesen bei schlechten Lichtverhältnissen erleichtert. Je heller es ist, desto leichter kann die Linse des menschlichen Auges Bildpunkte scharf erkennbar machen. Die Blende der Pupille ist bei hellem Licht eng und die Streuung der Lichtstrahlen entsprechend gering. Je schlechter aber das Licht, desto mehr muss sich die Pupille weiten, und die Schärfe nimmt ab. Besonders wer kurz- oder weitsichtig ist, kann dann nicht mehr gut lesen. Brillengläser gleichen diesen Effekt aus.

Die Kerzenflamme als Reaktionszone Die große Bedeutung des Lichts für biologische Prozesse wurde in den Kapiteln zum Jahresanfang (Kap. 2 und 3) bereits vertieft. Hier soll es um die physikalisch-chemischen Prozesse gehen, denen sich der Engländer Michael Faraday (1791–1867) in seiner legendären Weihnachtsvorlesung für Kinder im Winter 1860–1861 in der Royal Institution in London mit dem Titel Naturgeschichte einer Kerze widmete. Faraday stammte aus einfachen Verhältnissen und wurde später Naturforscher und schließlich Experimentalphysiker. Zunächst aber erlernte er das Handwerk des Buchbinders und stieg zum Laborgehilfen der Royal Institution auf. Ein für seine Zeit sehr ungewöhnlicher Lebensweg – der in seiner Aufnahme als Gelehrter der Royal Institution gipfelte. Die seit 1825 stattfindenden Weihnachtsvorlesungen der Royal Institution richteten sich an

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Jugendliche und junge Erwachsene, die zur Weihnachtszeit schulfrei hatten und denen man aktuelle Forschungsergebnisse in verständlicher Weise präsentierte. Berühmt wurde die Naturgeschichte einer Kerze (engl. Chemical History of a Candle ) auch deshalb, weil sie in Buchform erschien. Der schmale Band gilt heute noch als lesenswerter Klassiker für alle, die Wissen vermitteln wollen. Die scheinbar einfache Kerzenflamme birgt wahrhaft genügend Chemie für die sechs Vorlesungskapitel. Der Aufbau erscheint zunächst simpel: ein fester Brennstoff mit einem Docht darin. Nach dem Entzünden bildet sich eine Flamme, in der sich der Docht leicht seitwärts biegt. Die Flamme selbst hat einen unteren, bläulichen Flammenkelch, einen schwach leuchtenden Flammenkern und darüber einen gelb leuchtenden Flammenmantel, bevor sie im Flammensaum ausläuft, der manchmal rußt. Faraday unterhielt sein wissbegieriges Publikum mit allerlei Experimenten, die erklären, warum die Flamme genau so aussieht, wie sie aussieht. Erst schmelzen, dann verbrennen Wachse bestehen aus aneinandergereihten Kohlenwasserstoffen, deren Grundgerüst eine Kette von Kohlenstoffatomen ist, die mit Wasserstoffatomen verbunden sind. Die Bindungen zu den Wasserstoffatomen und zwischen den Kohlenstoffatomen werden beim Verbrennen gelöst und Oxide des Kohlen- und des Wasserstoffs entstehen. Letzteres ist nichts anderes als Wasser. Zumindest geschieht dies, solange die Temperatur hoch genug und genügend Sauerstoff verfügbar ist. Eine sehr bekannte Wachsquelle sind Bienenwaben. Dass Wachse bei Raumtemperatur fest und nach leichtem Erwärmen knetbar sind, lässt sich beim Bienenwachs gut nachvollziehen. Auf den jetzt nahenden Weihnachtsmärkten werden garantiert auch Wachsplatten zum Selbstdrehen von Kerzen angeboten. Dabei ist Bienenwachs eigentlich der Baustoff für die Waben der Honigbiene, in denen die Königin ihre Eier ablegt. Bereits nach drei Tagen schlüpfen die Larven, die von den Arbeiterinnen gefüttert werden. Die Umwandlung zur geflügelten Biene geschieht, nachdem die Wabe mit einem Wachsdeckel verschlossen wird. Etwa drei Wochen nach der Eiablage verlassen die Bienen dann als Fluginsekt ihre Wabe. Die Arbeiterinnen durchlaufen innerhalb weniger Wochen verschiedene Lebensphasen. Die ersten Wochen verbringen sie im Stock, wo sie sich unter anderem als Baubienen betätigen; in dieser Phase scheiden sie aus Drüsen Wachs aus. Als „Honigmacherinnen“ wandeln sie in ihrem Honigmagen den von Sammlerbienen gesammelten zuckerhaltigen Nektar zu Honig um

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und speichern diesen in den Waben. In ihrer letzten Lebensphase fliegen sie dann selbst als Sammlerinnen aus. Das Wachs der Bienen besteht aus einer Vielzahl von Verbindungen, die lange Ketten aus Kohlenwasserstoffen enthalten. Die Produktion des Wachses braucht viel Energie; in dieser Phase müssen die Bienen viel Honig aufnehmen. Fünf Tage lang scheiden sie als Baubienen das Wachs aus Drüsen am unteren Hinterleib aus. Sie formen es dann mit dem Oberkiefer zu einer sechseckigen Wabe, wobei benachbarte Waben sich stets die Wände „teilen“. Diese Bauform ist materialsparsam und füllt zugleich den Raum gut aus. Im Sommer steigt die Temperatur im Bienenstock unter anderem durch das Ausschwitzen des Wachses. Bei Bedarf wird durch Flügelfächeln gekühlt, sodass die Temperatur konstant 35 ℃ beträgt. Im Winter ruhen die Bienen bei 20 ℃; darunter würden sie in Kältestarre fallen und wären mangels Frostschutzmitteln vom Kältetod bedroht. Daher bilden sie eine Wintertraube, in der sich die Individuen gegenseitig wärmen. Das Wachs wird im Winter nicht etwa durch Exkremente verschmutzt, sondern die Bienen sammeln ihre Ausscheidungen und fliegen bei geeignetem Wetter aus, um diese loszuwerden. Das eigentlich weiße Wachs färbt sich durch Öle im Pollen gelb; daher hat es seinen typischen Geruch. Der Baustoff ist Grundlage für die Nachzucht der Bienenvölker und kann nicht in beliebiger Menge „geerntet“ werden. Die industrielle Kerzenproduktion greift auf Paraffine zurück. Auch sie bestehen aus einem wachsartigen Stoffgemisch, dessen Komponenten lange Kohlenwasserstoffketten enthalten. Im Mittel reihen sich um die 25 CH2-Segmente aneinander – bei Paraffinen reicht das Spektrum insgesamt von 19 bis 36 Segmenten. Beim vollständigen Verbrennen entstehen daraus Wasserdampf und Kohlendioxid – und jede Menge Licht und Wärme. Eine Kerze von 2 cm Durchmesser brennt in einer Minute um ein Zehntelgramm herunter und gibt 70 W als Wärme ab. Die dazugehörige Reaktionsgleichung zeigt, wie aus einem Wachsmolekül durch Verbrennung viele kleinere Moleküle werden: C25 H52 + 38 O2 → 25 CO2 + 26 H2 O

Wieso braucht es eigentlich einen Docht, wo doch Paraffin und Bienenwachs brennbar sind? Der Grund: Bei Raumtemperatur gibt das feste Paraffin so gut wie keine Moleküle an die Luft ab; der sogenannte Dampfdruck ist gering. Über dem Wachs sind also keine Moleküle, die leicht entflammbar sind. Chemiker machten Versuche, um zu messen, ab welcher Temperatur erhitztes Wachs nicht nur verdampft, sondern sich auch ohne Docht

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entflammen lässt. Das ist erst bei 282 ℃ möglich, der Flamm- oder Zündtemperatur. Die Siedetemperatur von 391 ℃, bei der das Wachs „kochen“ würde, liegt oberhalb der Zündtemperatur, bei der sich das Gemisch spontan entzündet. Das Paraffin siedet also erst dann, wenn eigentlich schon kein Sauerstoff mehr vorhanden ist, der für die Entzündung und Verbrennung nötig wäre. Ein entzündeter Wachsdampf ist im Übrigen eine unkontrollierbare offene Flamme. Würde Wasser darauf gegossen werden, würde dieses sofort verdampfen und den Feuerball noch vergrößern. Darin gleicht der brennende Wachsdampf einem Fettbrand, der genauso wenig mit Wasser in Berührung kommen sollte, sondern erstickt werden muss. Im Umkehrschluss macht erst der Docht die Kerze zu einer kontrollierbaren Flamme. Eine Wissenschaft für sich: der Docht Für den Docht eignet sich Baumwolle, die Flüssigkeiten gut transportiert. So steigt das geschmolzene Wachs empor und verdampft an der Dochtspitze. Zugleich entflammt Baumwolle schwer und schmilzt nicht, sondern verglüht am Flammensaum, der Spitze der Flamme. Wenn der Docht nicht verglüht, ragt er aus der Flamme heraus, und die Kerze rußt, wie einst die Talgkerzen – deren Dochte regelmäßig geschnitten („geschnäuzt“) wurden. Feine Baumwollfäden werden zum Docht geflochten, sodass er sich schraubenförmig dreht. Die Zahl der Fäden und ihre Stärke beeinflussen die Sogwirkung durch Kapillarkräfte (Glossar). Liefert der Docht zu wenig geschmolzenes Wachs nach, erlischt die Flamme, ist es zu viel, rußt sie. Damit der Docht der heißen Flamme gut trotzen kann und nur in geringem Maße verbrennt, hilft eine Vorbehandlung. Ein Tauchbad in einer Lösung mit Ammoniumsalzen wirkt wie ein Flammschutz. Nur der zur Seite geneigte Teil, der in die heißeste Zone ragt, verglüht. In der Lösung sind auch Borsäure und Phosphate enthalten, die am Dochtende eine glasige Salzperle bilden. So rieseln die Ascheteile nicht in das flüssige Wachs, und nach dem Löschen der Flamme glüht der Docht nicht lange nach. In der Flamme aufgehen Nun klangen die chemischen Reaktionen schon mehrfach an, und es ist an der Zeit, die Kerze zu entzünden. Der wachsgetränkte Docht wird heiß und verdampft die schmelzenden Kohlenwasserstoffe. Der Wachsdampf entzündet sich und verbrennt. Die nun ablaufenden Reaktionen und ihre Produkte hängen von der Temperatur und dem Sauerstoff-Gehalt ab. Dass sich die Flamme in verschiedene Zonen gliedern lässt, ist mit bloßem Auge zu sehen (Abb. 11.1).

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Abb. 11.1  Flammenzonen einer Kerzenflamme

Der Bereich am unteren Rand leuchtet blau und wird als Flammenkelch bezeichnet. Dieses Leuchten ist quantenmechanisch zu erklären, denn im Inneren des Flammenkelches werden die langen Kohlenwasserstoffe gespalten. Hier im Kelch ist zu sehen, wie insbesondere die kleinsten Bruchstücke – Bausteine mit zwei Kohlenstoffatomen und CH-Gruppen – energetisch angeregt aus dieser Spaltung hervorgehen. Auch angeregte OH-Gruppen geben überschüssige Energie als Licht ab. Hier kommt der Wachsdampf auch mit der Luft und dem darin enthaltenen Sauerstoff in Kontakt. Der Sauerstoff diffundiert in den Flammenkegel, und das Gemisch steigt zum Flammenmantel auf. Zwar ist die Temperatur mit ein paar Hundert Grad noch vergleichsweise gering, doch erwärmt sie schon die Umgebungsluft, die dadurch ebenfalls nach oben strömt. Daraus ergibt sich die Tropfenform der Kerzenflamme. Auch rund um das obere Ende der Flamme diffundiert der Sauerstoff von der Umgebung in die Reaktionszone hinein, und die Luft wird von unten nachgesogen. Im gelb leuchtenden Flammenmantel reagieren die Spaltprodukte aus dem inneren Flammenkern mit Sauerstoff, weshalb der Flammenkern sauerstoffarm ist.

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Welche Bruchstücke sind vorhanden? In den Flammenkern steigen die verdampfenden Kohlenwasserstoffe auf. In der Hitze spalten sich die langen Ketten auf und bilden kürzere Ketten und Ringe. Bei dieser Pyrolyse findet noch keine Verbrennung statt, und die Temperatur beträgt nur etwa 600 ℃. Die Bruchstücke werden immer kleiner, jedoch leuchtet die Flamme nicht. Erst im Flammenmantel setzen sich diese Bruchstücke wieder neu zusammen und reagieren dann unter Wärmeabgabe und hellgelbem Leuchten. Wird die Flamme durch Windstöße gestört, werden die Produkte dieser Zone aus der Mitte herausgeschleudert, und die Flamme rußt. Die Bruchstücke werden durch den Auftrieb nach oben gezogen, sodass sie – wie auch an den Rändern – wieder mit Sauerstoff in Kontakt treten. Bei Temperaturen um 1400 ℃ entstehen Kohlendioxid und Wasser. Der sauerstoffreiche Flammenrand kommt auf gut 1200 ℃, hier ist die Flamme gelblicher, da noch vorhandene Rußteilchen verbrennen. Insgesamt verdampfen je Stunde etwa 7–10 g Wachs. Bevor die Hauptreaktionszonen der Flamme gleich noch einmal näher betrachtet werden, bieten sich hier zwei kleine Versuche an. Wer eine Kerze und eine Tasse zur Hand hat, kann es selbst ausprobieren. Die Frage: Wo in der Flamme bildet sich am meisten Ruß, wenn die Tasse hineingehalten wird? Dazu wird die Tasse von oben nach unten geführt, und die Antwort findet sich dort, wo sich Flammenkern und Flammenmantel treffen. Denn die Tasse stört die Sauerstoffzufuhr, und mehr Ruß entsteht. Ein zweites Experiment wird als springende Kerzenflamme bezeichnet. Eine gut brennende Kerze wird ausgepustet und sogleich wird in den verlöschten Flammensaum wieder eine Flamme gebracht – zum Beispiel mit einem Feuerzeug. Die Flamme entzündet sich innerhalb der Rauchsäule und wandert hinunter zum Docht. Die kleinen, bereits erwärmten Wachsbruchstücke reagieren mit dem Luftsauerstoff, zugleich bremst die Flamme das Verströmen der noch vorhandenen Bruchstücke. Stattdessen brennt sie herunter, bis sie den Docht erreicht, und die Kerze entzündet sich wieder. Im Labor zeigt ein chemisch-physikalisches Experiment die Anwesenheit der Bruchstücke, die ein Plasma bilden. Wird die Kerze in ein starkes elektrisches Feld gestellt, flacht die Flamme ab. Das erklärt sich damit, dass im Inneren des Flammenkegels Bruchstücke der Moleküle als geladene Teilchen, also Ionen, vorliegen und ein heißes Plasma bilden. Nach außen ist das Gas neutral, doch die Ionen werden vom elektrischen Feld angezogen oder abgestoßen und strömen nicht mehr allein aufgrund des Teilchenstroms direkt nach oben.

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Knallgasreaktion und Rußbildung Im Inneren der Flamme, dem Flammenkern, verdampft das Paraffin ohne Zutritt von Sauerstoff. Hierfür ist noch eine Energiezufuhr nötig: anfangs per Streichholz und später aus anderen Zonen der Flamme. Die hohe Temperatur kommt aus der als Knallgasreaktion bekannten Synthese von Wasser: Bei der Bildung der Molekülbruchstücke wird auch Wasserstoff frei, der mit dem Sauerstoff zu Wasser reagiert. Hierbei wird viel Energie frei, die in Form von Wärme den Flammensaum auf mehr als 1000 ℃ erhitzt. Besonders reaktive Bruchstücke wie Acetylen (C2H2) bauen aromatische Verbindungen auf, die Kohlenstoffsechsringe und viele Elektronen enthalten. Diese können auch mit weiteren Ringen verbunden sein, sodass polyzyklische Aromaten entstehen können, kurz PAK genannt (Glossar). Sie leuchten und geben der Flamme ihre gelbliche Farbe. Wenn sie zum Flammensaum gelangen, steigt die Temperatur nochmals an, und sie zersetzten sich zu Kohlendioxid. Die schwarzen Rußteilchen entstehen, indem sich die Bruchstücke der Wachsmoleküle im heißen Flammenmantel wieder zu größeren Molekülen zusammenlagern und verknüpfen. Wer an einem offenen Feuer steht, kannt beobachten, wie die Verwirbelung der Flammen zur Rußentwicklung beiträgt. Zwar gelangt mehr Sauerstoff in die Flamme, und die Verbrennung könnte theoretisch vollständig ablaufen. Doch die Flammenkegel können sich nicht so ungestört aufbauen, und Ruß entweicht. Unter den vielen PAKs gibt es solche, die zunächst ein Sauerstoffatom binden und durch eine Bindungsöffnung sehr reaktiv werden. Reagieren sie mit der DNA, also dem Erbgut, kann sie nicht mehr normal abgelesen werden und entartete Zellen entstehen, aus denen sich ein Tumor entwickeln kann. Neben diesen krebserregenden PAKs ist vor allem die Feinstaubbelastung ein Problem. Atemwegserkrankungen infolge offener Herdstellen zählen weltweit gesehen noch heute zu den häufigsten Todesursachen. In Industrieländern sind die Quellen andere, wie etwa Heizungsanlagen, Dieselruß, Abrieb von Autoreifen, Rauchen und Grillfeuer. Für Kerzen mit RAL-Gütesiegel kann Entwarnung gegeben werden, sie brennen rußfrei ab. Auch die Farben im Wachs sind unbedenklich. Erst bei stark mit Duftöl getränkten Kerzen ist der Abbrand nicht mehr ganz frei von Rußstoffen, aber noch gesundheitlich unbedenklich. Leuchtkraft Als Lichtquelle sind Kerzen nicht sehr effizient. Während die mittlerweile nicht mehr hergestellte Glühlampe rund fünf Prozent der Energie in sichtbares Licht wandelte, sind es bei der Kerze nur 0,4 %. Der Hauptanteil des

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Lichts der Kerzen liegt im roten Bereich, etwas grünes und blaues Licht mischt sich hinein. Die leuchtenden Rußteilchen kommen dem sogenannten schwarzen Körper in ihren Eigenschaften recht nahe, das heißt, sie absorbieren praktisch alle Strahlungsenergie, die auf sie eintrifft, und geben sie auch nahezu vollständig wieder ab. Dabei hängt das Strahlungsspektrum von der Temperatur des schwarzen Körpers ab: Je heißer, desto heller und gelblicher. Bei Glühlampen ist die Wattzahl ein Indikator dafür, wie stark sich der Glühdraht erhitzt – je mehr Watt, desto heller, bis zum Warmweiß einer 100-Watt-Glühlampe, deren Glühdraht 2500 ℃ erreicht. Die abgegebene Wärmestrahlung beginnt im infraroten Bereich und ist für uns nicht sichtbar, aber fühlbar. Leuchtstofflampen wandeln bereits die Hälfte der elektrischen Leistung in Licht um (zu ihnen später mehr), und Leuchtdioden liegen zwischen 50 und 90 %. Kerzen im Weltall Immer wieder kommt die Frage auf, wie eine Kerzenflamme wohl im Weltall aussehen mag. Tatsächlich wurde dies bereits getestet. Schon im Jahr 1992 zündeten NASA-Astronauten im Space Shuttle zehn Kerzen an. Ohne Schwerkraft strömten die glühenden Wachsteilchen in alle Richtungen und bildeten keine Flamme mit einem Konvektionsstrom, dessen Auftrieb wie ein Sog die Flamme in die Länge zieht. Im All gibt es nur Mikrogravitation und kein Oben und Unten; die Stoffströme bewegen sich zum Beispiel durch Wärmeentwicklung, die in Bewegungsenergie gewandelt wird. Folglich bildete sich eine kugelige Flammenzone, die blau leuchtete. Da zwar Sauerstoff im Space Shuttle vorhanden war, aber die Luftströmung fehlte, diffundierte das Gas langsamer in die Flamme hinein. Dadurch wurden die Temperaturen nicht so hoch, dass glühender Kohlenstoff entstanden wäre, der die gelbe Farbe der Kerze ausmacht. Bei der Verbrennung entstehen so mehr Kohlenstoffmonoxid und auch Formaldehyd, statt wie sonst Kohlendioxid, Ruß und Wasser. Wie löscht man solche sphärischen Flammen? Sie sind schlicht kaum zu sehen und auch gar nicht so leicht zu löschen – da das Wasser sich ebenfalls in alle Richtungen verteilt. Zwar fragt sich bei der NASA niemand ernsthaft, wie eine brennende Kerze in der Schwerelosigkeit zu löschen wäre. Gleichwohl forschen Mitarbeitende der NASA seit dem Jahr 2009, wie auf Weltraummissionen Flammen zu erkennen und zu löschen wären. Als Modell für offene Flammen entzünden sie kleine Tropfen des leicht brennbaren flüssigen Kohlenwasserstoffs Heptan (C7H16).

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Lichterketten Im November treffen Brauchtum und moderne Tradition aufeinander. Der Monat beginnt mit der Nacht vor Allerheiligen (engl. Halloween ). Vielerorts werden liebevoll Gesichter und Figuren in Kürbisse geschnitzt und dann von innen mit einer Kerze erleuchtet. An Allerheiligen wiederum werden die Ewigkeitslichte auf den Friedhöfen angezündet, und eine ganz eigene Stimmung hält Einzug. Vor allem in katholisch geprägten Gemeinden werden diese sonst eher dunklen Orte zu Lichtermeeren. Da die Kerzen in der Regel in roten Plastikbechern stehen, schimmert das Licht warm. Genau hier kommt aber auch ein Funken Moderne zum Tragen. Denn längst brennen nicht mehr überall Wachskerzen, häufig werden LED-Lampen in Kerzenform aufgestellt. Im Laufe des Novembers gelangen dann noch viele weitere Gestaltungen mit LED-Lichtern in Wohnungen, Vorgärten, aber auch Straßenbäume und Straßenbeleuchtung. Dies sind dann zum Beispiel Lichterketten, Sterne oder Rentiere. Wann die Beleuchtung beginnt, hängt wiederum davon ab, wer da so wohnt – Viele schalten schon Mitte November ein, andere warten bis nach dem Totensonntag und damit bis zum Beginn der Adventszeit. Die ersten elektrischen Lichterketten wurden noch zur Miete angeboten, weil sie für eine Anschaffung zu teuer und somit nicht massenmarkttauglich waren. In Amerika startete dieses Modell im Jahr 1903. Mittlerweile werden Tausende Lämpchen zu Ornamenten und Figuren vereint, und kilometerlange Kabel hängen über Straßen. In manchen Innenstädten werden Bäume sogar mit leuchtenden Netzen überzogen, die mitwachsen und so das ganze Jahr über in der Krone bleiben können. Die LED-Lampen haben die kreative Laune befeuert. Sie verbrauchen deutlich weniger Strom als klassische Glühlampen. Dies liegt unter anderem daran, dass klassische Glühlampen hohe Temperaturen für helles Licht benötigten. Glühlampen Die Technik der Glühlampe entwickelte sich über die Zwischenform der Kohlefadenlampen direkt aus dem Verbrennen von Dochten. In den Anfangsjahren der Elektrifizierung sollten die Gaslampen durch elektrisches Licht ersetzt werden, das auch sicherer war. Hier soll es nicht um die einzelnen Entwicklungsschritte gehen. Die Kohlefadenglühlampe wurde inspiriert als Forschende Kohleblöcke als Elektroden verwendeten und einen Lichtbogen zwischen zwei Elektroden beobachteten. Anfangs wurde Gleichstrom

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in die Netze gespeist, und ein verkohlter Baumwollfaden wurde in einen Glaskolben eingeschmolzen. Der dann angelegte Gleichstrom wurde durch die Kohle geleitet, wobei sie sich erwärmte und zu glühen begann. Allerdings brannte der Glühfaden recht schnell durch. Ein Kuriosum ist eine Glühlampe in der Feuerwache im kalifornischen Livermore. Seit 1901 brennt sie – von anfangs 60 W ist heute noch eine Leistung von vier Watt übrig. Damit ist sie jedoch eine absolute Ausnahme; schon sehr bald begann die Suche nach einem Material, das nicht so leicht verdampfte und damit eine längere Lebensdauer der Glühlampen ermöglichte. Das Ergebnis dieser Suche waren metallische Drähte. Wolfram schmilzt erst bei hohen Temperaturen, hat einen geringen Dampfdruck und erwärmt sich durch den Stromfluss bis zum hellen Glühen. Im Jahr 1910 gelang es, das eher spröde Metall zu biegsamen Drähten zu verarbeiten. Der Widerstand, der für die Erwärmung sorgt, ist viel geringer als bei Kohle. Daher muss der Glühfaden lang sein, und trotz seiner Länge darf er die Position nicht verändern. Daraus ergab sich die Aufhängung an Haltedrähten. Das Aufwickeln zu Spiralen erlaubte zum einen die kompakte Bauweise bei zugleich langen Glühfäden. Zum anderen stieg die Temperatur im Inneren der Spirale sehr schnell an, und die Lampe leuchtete rasch. Wie effizient wird die elektrische Energie in Strahlungsenergie umgewandelt? Im Strom leitenden Draht werden neben dem Weitertransport des Stroms viel Wärme und etwas Strahlung frei. Die Temperaturen im Glaskolben der Glühlampe steigen auf über 1000 ℃ nahe dem zur Spirale aufgewickelten Glühdraht. Zugleich werden die Atome im Draht beweglicher, und es bleibt nicht aus, dass einzelne sich aus dem Verbund lösen und als Gas im Lampenkolben bewegen. Deswegen muss dieser eine gewisse Größe haben, damit sich das Gas an den Außenwänden abkühlen kann. Das Schutzgas ist bei einfachen Glühlampen meist eine Mischung aus Stickstoff und dem Edelgas Argon. Zum einen schirmt es den glühenden Wolframdraht vom Luftsauerstoff ab, mit dem er schnell zu Wolframoxid reagieren würde, zum anderen nimmt es einen Teil der Wärme auf und transportiert sie zu den Außenwänden, wo sie abgestrahlt wird, weshalb eine große Oberfläche des Glaskolbens die Funktionsdauer erhöht. Besteht die Gasfüllung aus dem Edelgas Krypton, verdampft weniger Wolfram – doch der Preis der Glühlampe steigt. Die mit der Zeit nachlassende Leuchtkraft erklärt sich zum Teil daraus, dass ein dünner Film von Metallatomen das Glas verdunkelt. Wird der Glühfaden zu dünn, reißt er schließlich, und die Glühlampe ist kaputt – durchgebrannt im Wortsinne.

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Leuchtstoffröhren und Halogenlampen – nur eine vorübergehende Erscheinung? Halogenglühlampen verfolgen eine ähnliche Technik wie Glühlampen, nur ist ihre Temperatur noch höher. Dafür enthält ihr Füllgas Halogene wie Brom, das mit Wolfram und dem noch in geringen Mengen vorhandenen Sauerstoff instabile Verbindungen bildet. Dadurch setzt sich das Metall nicht am Glaskolben ab, sondern die Zwischenprodukte zerfallen, sodass Wolfram wieder am Draht kondensiert – das erhöht die Lebensdauer der Lampe und erlaubt die höhere Betriebstemperatur, wodurch der Kolben kleiner werden konnte. Die höhere Temperatur verschiebt den Anteil der Photonen, die Licht im sichtbaren Bereich aussenden, und dies ist der eigentliche Grund für die bessere Lichtausbeute. Die Technik der Leuchtstoffröhren ist länger im Einsatz als die Halogenlampen. Sie werden auch als Gasentladungslampen bezeichnet und standen Pate für die zwischenzeitlich verwendeten Energiesparlampen. Diese enthielten jedoch Quecksilber und sind daher wieder vom Markt verschwunden. Noch werden Neonröhren für Außenwerbung verbaut, da die Glaskolben formreich gestaltet werden können und die Farbe des ausgesandten Lichtes intensiv ist. Die Strahlung entsteht bei den Röhren nicht thermisch, sondern durch das Anlegen einer Spannung, bei der aus den Kathoden Elektronen austreten und das enthaltende Gas zu einem Plasma ionisieren. Bei der Entladung wird dann die Energie als Strahlung emittiert. Die ersten Neonröhren enthielten das Edelgas Neon und gaben rotes Licht. In Leuchtstoffröhren wird der Glaskolben dann mit verschiedenen Stoffen beschichtet, die das ausgesandte energiereiche UV-Licht in sichtbares Licht umwandeln. Hierfür nehmen die Moleküle das Licht auf und geben es einerseits als Wärme, vor allem aber als Licht mit definierter Wellenlänge wieder ab. Für weißes Licht stecken entsprechend mehrere Stoffe in der Schicht, die sich wie im Sonnenlicht zu weiß addieren. Zunehmend nehmen LED-Lampen den Platz von Neonröhren in der Werbung ein. Auch in Lichterketten setzten sich schon vor dem Glühlampenverbot die kleineren und energieeffizienteren Halogenlampen in Lichterketten durch; sie werden nun von LED-Lampen abgelöst. Diese Leuchtmittel sind nochmals kleiner und werden nicht warm, vor allem aber unterscheiden sich die chemisch-physikalischen Prozesse erheblich von denen im Wolframdraht einer Glühlampe oder der Gasentladung in Leuchtstoffröhren.

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Licht emittierende Dioden Schon lange schien das Prinzip der Licht emittierenden Diode, kurz LED, interessant, doch technisch zog sich die Entwicklung in die Länge, da das Erzeugen weißen Lichts lange Schwierigkeiten bereitete. Im Jahr 1997 gelang dann die technische Lösung. Anders als im Glühdraht wird die Strahlung nicht mit einem Metall und damit einem elektrischen Leiter erzeugt, sondern mit zwei Halbleitern. Ein Halbleiter transportiert zwar den Strom, aber anders als bei Metallen bewegen sich die Elektronen nicht schon von vornherein relativ flexibel im Kristallgitter, also der Anordnung der Atome zu einem regelmäßigen Aufbau. In Halbleitern wie Silicium oder Galliumarsenid wandern Elektronen und/oder die Stellen, an denen Elektronen fehlen. Energetisch gibt es sogenannte Leitungsbänder, die Energiezuständen entsprechen, in denen die Elektronen leicht ihren Aufenthaltsort ändern können, solange die Gesamtladung erhalten bleibt. Bei Metallen sind die äußersten Elektronen aus der Atomhülle in diesem Leitungsband versammelt. Bei Halbleitern braucht es einen Anstoß, etwa eine charakteristische Mindesttemperatur, damit die Elektronen dieses Band besetzen. Da in den Dioden Galliumarsenid verwendet wird, sei dieses als Beispiel herangezogen. Bei diesem Material mischen sich Gallium und Arsen; dabei hat Gallium in der äußersten Atomhülle drei Elektronen und Arsen fünf. Immer dort, wo Atome des Galliums an solche des Arsens angrenzen, passt das Muster der Elektronenverteilung nicht. Gallium möchte mit drei Nachbarn Elektronen austauschen, Arsen mit fünf. Die Galliumatome bieten den Arsenatomen zu wenige Elektronen zur Kontaktaufnahme an. So kommt es zu Fehlstellen, die durch weiter entfernt liegende Elektronen aufgefüllt werden. Dies ist dann die p-Leitung, weil die negative Ladung „wandert“ und positiv geladene Fehlstellen („Löcher“) entstehen. Diese werden wiederum durch andere Elektronen aufgefüllt, und an der Herkunftsposition entsteht ein neues Loch. Durch das Anlegen einer Spannung entsteht eine gerichtete Bewegung der Elektronen (und damit der Fehlstellen), und der Strom fließt durch den Halbleiter hindurch. Tatsächlich wird durch das Verhältnis zwischen Gallium und Arsen bestimmt, ob Löcher oder Elektronen wandern – wenn viel Arsen enthalten ist, sind viele Elektronen im Leitungsband und die negative Ladung ist hoch, sodass von einer n-Leitung gesprochen wird. Der Begriff Diode beinhaltet bereits ein elektronisches Bauprinzip. Zwei unterschiedlich leitfähige Schichten liegen als Elektrode aufeinander, und die Polung der angelegten Spannung entscheidet darüber, ob Elektronen durchgelassen oder gestoppt werden. Bei der Leuchtdiode liegen eine dünne p-Schicht und eine dickere n-Schicht so aufeinander, sodass beim Anlegen

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Abb. 11.2  Aufbau einer LED

der Spannung die Elektronen von der n-Schicht zur p-Schicht durchgelassen werden: Loch und Elektron rekombinieren an der Grenzschicht, und dabei wird Energie frei, die als Licht abgestrahlt wird. Diese Bauart liefert bereits bei sehr kleinen Stromstärken helles Licht, was insbesondere für Displays, Bildschirme und auch Lichterketten enorm vorteilhaft ist (Abb. 11.2). Da auch bei LEDs neben Licht noch Wärme entsteht, ist die Ableitung derselben wichtig, um die Lebensdauer der Lampe zu garantieren. Durch die Auswahl unterschiedlicher Materialien kommt Farbe ins Spiel. Weitere Atomsorten können enthalten sein, was den Übergang der Elektronen ins Leitungsband erschwert – etwa wenn Phosphor enthalten ist. Dafür wird dann auch die bei der Rekombination frei werdende Strahlung energiereicher und geht von Rot zu Gelb über. Für weißes Licht wurden anfangs drei LEDs in rot, grün und blau kombiniert, sodass sich die Lichtfarbe zu weiß addierte. Praktischer war die Entwicklung einer blauen LED, die kombiniert mit einer ultravioletten LED in ein Polymer eingebettet wird, das wie die Leuchtstoffschicht in Leuchtstoffröhren die Farbe des Lichts wandelt. Mittlerweile gibt es verschiedene Ansätze, darunter auch den, ganz wie bei der Leuchtstoffröhre das Licht im UV-Bereich zu emittieren und anschließend durch drei Leuchtstoffe auf der Basis von Seltenerdemetall-Salzen in weißes Licht zu wandeln. Lichtverschmutzung Der Begriff Lichtverschmutzung ist erst mit der starken Beleuchtung vor allem innerhalb von Städten entstanden. Nachts wird es nicht mehr richtig dunkel, was ökologische Folgen hat. Neben diesen wird es natürlich immer schwieriger, den Sternenhimmel nach astronomischen Erscheinungen abzusuchen.

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Übrigens war es die Entwicklung von hitzebeständigem Glas, die den wirtschaftlichen Erfolg der Firma Schott in Jena begründete. Aus den Glaskolben wurden Glühlampen, also Leuchtmittel, gefertigt. Mehr zum Werkstoff Glas erfahren wir im folgenden Kapitel.

12 Dezember – Glaskugeln und Sternenschweif

Die Tageslänge nimmt im Dezember immer weiter ab – bis sie im letzten Drittel wieder zunimmt. Diese Wintersonnenwende wird in vielen Ländern gefeiert. Die Schweden nennen es das Lichterfest, in Deutschland kehrt mit dem hellen Stern das Licht symbolisch zu Weihnachten wieder. Tannenbäume werden mit vielen Lichtern erhellt. Ihr Licht reflektiert sich in Glaskugeln und wird von spiegelnden Oberflächen verstärkt. Dieses Kapitel soll sich diesen zwei Themen widmen – dem Material Glas, aus dem auch der Baumschmuck traditionell gefertigt wird, und den geschweiften Sternen, die mit Weihnachten verbunden werden. Ist das wirklich nur ein Mythos? Tatsächlich zog Mitte Dezember 2017 der Asteroid © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Feil, Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59264-9_12

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Phaeton über den Nachthimmel und hinterließ eine Spur winziger kosmischer Staubkörner, deren Verglühen in der Erdatmosphäre als Sternschnuppe zu sehen war. Glas als Werkstoff ist einerseits spröde – es zerbricht leicht – und kann andererseits bei dünnen Wanddicken durchaus stabil sein. Wie können Weihnachtskugeln so dünn geblasen werden? Gibt es auch andere Gläser als solche, die aus Sand geschmolzen werden? Wir kommt es zu den leuchtenden Farben der Gläser? Im Dezember sind himmlische Zeichen Teil der Weihnachtsgeschichte. Was hat es damit auf sich? Gibt es geschweifte Sterne?

Ornamente aus Glas Der gläserne Weihnachtsschmuck soll im Erzgebirge erfunden worden sein. Dort gab es viele Glashütten, weil sowohl der Ausgangsstoff Sand als auch das zum Heizen der Schmelzöfen benötigte Holz und die daraus gewonnene Holzkohle reichlich vorhanden waren. Für Funde von ägyptischen Glasperlen wurde ein Alter von 7000 Jahren ermittelt. In Europa wurden sie mit der Kupfergewinnung in der Bronzezeit entwickelt und schon damals gefärbt und verziert. Glasbläser fertigen mit ihrer Handwerkskunst schon seit gut 2000 Jahren Gebrauchsgegenstände wie Kelche, Becher und Flakons. Flachgläser herzustellen und diese als Fensterglas zu verwenden, gelingt etwa seit dem Jahr 800. Kleine Figuren aus Glas wurden also schon lange produziert, der Weihnachtsschmuck aber ist relativ jung. Erst einmal musste das bürgerliche Weihnachtsfest aufkommen, bei dem Tannenbäume oder zumindest Tannengrün in die Wohnstuben gebracht werden. Das war zwar schon länger eine exklusive Mode, aber erst etwa in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte es sich auch in bürgerlichen Kreisen durch. Geschmückt wurde anfangs mit Äpfeln, Nüssen, Gebäck und Süßigkeiten wie Zuckerstangen. Lametta erinnerte an Eiszapfen – feine Metallfäden aus Zinnfolie und viel später aus metallisierter Kunststofffolie. Sterne aus Papier oder Stroh zu falten wurde zur Tradition, ebenso wie Bilderbogen aus Pappe, aus denen sich Motive wie Spielzeuge basteln ließen. Ab dem Jahr 1848 tauchen dann in den Bestellbüchern thüringischer Glasbläser Weihnachtskugeln auf (Abb. 12.1). Da gleich mehrere Größen bestellt wurden, war dies gewiss kein Eigenbedarf mehr, sondern Handelsware. Die Kugeln wurden anfangs mit Zinn und Blei verspiegelt, bis dieses gesundheitsschädigende Verfahren ab 1870 durch eines mit Silbernitrat abgelöst wurde. Welche Faktoren ebneten den Weg zur Weihnachtskugel?

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Abb. 12.1  Weihnachten ist ohne Glaskugeln schwer vorstellbar

Werkstoff Glas Der Werkstoff Glas wurde jahrhundertelang von Mund geblasen. Hohlformen ermöglichten eine Fertigung in Serie. Dazu wurde beispielsweise Borosilicatglas verwendet. Es hat einen geringen Ausdehnungskoeffizienten, dehnt sich also durch das Erwärmen nicht aus und springt nicht beim Abkühlen. Seit 1892 wird es für Geräte in chemischen Laboratorien verwendet und darüber hinaus auch als Thermometer. Die Glaszylinder für Gasglühlichter bereiteten der Innovation den Weg. Auch in die Küche hielt dieses hitzebeständige Glas unter den Namen „Pyrex“ und später auch „Duran“ als Auflaufform, für Kaffeekannen und Teegeschirr Einzug. Letzteres ist eng mit der Geschichte des Bauhauses verknüpft, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Architektur und Design von der Inneneinrichtung bis hin zu Geschirr und Textilien stilprägend war. Nach dem Ende des Gasglühlichts als Straßenbeleuchtung rettete eine gläserne Milchflasche die Firma Schott. Vor einem Jahrhundert, genauer: 1918 kam sie auf den Markt – sicher, hygienisch und außerdem mit einer Skala zum Abmessen des Milchpulvers versehen. Andere Gläser jedoch zerspringen bei Temperaturwechseln. Wer zu Weihnachten oder Silvester nicht mit Sekt anstoßen will, trinkt aus der Sektflöte gewiss keinen Tee. Das Glas würde zerspringen. Die chemische Zusammensetzung ist auf den ersten Blick nicht so viel anders, und doch beeinflusst sie den Aufbau des Netzwerks erheblich. Sand, Soda und Kalk sind die Grundstoffe für Gläser. Der Sand, genauer gesagt Quarzsand, besteht aus Siliciumdioxid (SiO2) und ist der eigentliche Netzwerkbildner im Glas. Soda (Na2CO3) wurde anfangs als natürlichen Lagerstätten abgebaut und zugesetzt. Formal ist sie das Natriumsalz der Kohlensäure. Viel günstiger wurde dieser Ausgangsstoff, als im 18. Jahrhundert eine industrielle Herstellung möglich wurde. Der Kalk in Form von fein gemahlener Kreide oder Kalkstein hat einen Anteil von 10 bis 20 % am Gemenge. Seine Aufgabe wird später ausführlicher beschrieben.

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Während die Grundstoffe zu weißen Pulvern vermahlen gemischt werden, ist das Produkt nach dem Schmelzen und Abkühlen glasklar. Eindeutig läuft hier also eine chemische Reaktion ab, denn Stoffe verändern ihre Eigenschaften. Für farbige Gläser werden vor dem Schmelzen Metallsalze zugemischt. Die Farbpalette ist groß, und die Rezepturen sind gut gehütete Firmengeheimnisse. Unter den verwendeten Metallsalzen sind solche mit Eisen, Kupfer, Nickel oder auch Silber und Gold. Letzteres ist entsprechend teuer und wird nur relativ selten zugesetzt, färbt aber zum Beispiel das Glas leuchtend rot wie einen Rubin, und so heißt es auch Goldrubinglas. Glasbläserei Die gemischten Rohstoffe werden im Schmelzofen in der Werkhalle erhitzt. Wo noch mundgeblasen wird, arbeiten mehrere Mannschaften je Ofen zusammen. Die „Glasmacherpfeife“ dient zum Einblasen der Luft. Mit dem unteren Ende dieses 1–2 m langen Eisenrohrs nimmt am Anfang der erste Arbeiter, schlicht „Anfänger“ genannt, geschmolzenes Glas im „Hafen“ auf. Letzteres ist der Schmelztiegel des Ofens. In einer Hohlform bläst er das Glas zur Kugel auf, die er dann an den Meister übergibt. Der Meister bläst die Kugel zur endgültigen Größe auf. Dabei kann er die Oberfläche des Glases strukturieren. Die Glasblase wird „umgeheftet“, also mit einem geschmolzenen Glastropfen an ein zweites Werkzeug geheftet. Der Glasbläser sprengt die Kappe ab und arbeitet anschließend die Mündung des Werkstücks aus. In einer Kühlstraße senkt sich die Temperatur langsam, und so lösen sich Spannungen im Glas. Für Glasscheiben werden die Enden aufgeschnitten und geweitet, sodass Zylinder entstehen. Diese werden längs aufgeschnitten, nochmals erwärmt und mit einem Bügeleisen genannten Werkzeug zu Scheiben flach gestrichen. So werden zum Beispiel Echtantikgläser für Kirchenfenster hergestellt. Hitze statt Licht: die Glasmacherlampe Als Glasmacherort in Thüringen ist Lauscha bekannt. Die dort ansässigen Glashütten gelten als Ursprungsort des Weihnachtsbaumschmucks, und noch älter ist ihre Spezialisierung auf Zierfiguren. Hierfür wird das Glas vor der sogenannten Lampe geblasen, die eine sehr heiße Flamme erzeugt. Anfangs wurden diese Lampen mit Öl und Spiritus betrieben, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem Gas-Gebläse. Die Formen wurden aus Glasrohren und Stäben schrittweise hergestellt, immer wieder erwärmt und weiter verformt, manchmal auch aus mehreren Teilen zusammengesetzt.

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Zur Veredelung wurden Farbpulver oder farbige Glasstränge aufgeschmolzen. Auch Überfangtechniken kamen zum Einsatz; dabei wird der Glaskörper in eine farbige Glasschmelze getaucht und so mit einer dünnen Glasschicht überzogen. Die Technik des lampengeblasenen Glases ist schon sehr alt, so wurde sie bei Fundstücken aus dem Jahr 50 v. Chr. nachgewiesen. Auch die Venezianer schufen im 16. Jahrhundert damit Glasperlen. Was faszinierte so früh am Glas? Es ist ein transparenter Feststoff, der sich gut formen sowie färben lässt und im Licht aufleuchtet. Aber – ist es wirklich ein Feststoff?

Zutatenliste für Silicatgläser Der Hauptbestandteil der Gläser ist Siliciumdioxid (SiO2), das in der Natur als Quarzsand leicht verfügbar ist. Abhängig davon, welche andere Minerale im Sand noch beigemischt sind, werden die Eigenschaften des Glases beeinflusst, etwa die Farbe und die Formbarkeit. Schon die Römer importierten Sand für die Glasmacher. Rohstoff Sand Als Grundstoff für die Glasproduktion war und ist Quarzsand unerlässlich. Es gibt ihn in Wüsten, Dünen am Meer und in Flussbetten. Unter dem Mutterboden schließt sich vielerorts eine Sandschicht an. Doch Sand ist nicht gleich Sand. Während Wüstensand sehr rieselfähig ist, weil die Körner recht rund sind, ist der Sand aus Flussbetten kantiger, und die Körner gleiten nicht so leicht übereinander hinweg. Daher purzeln sie eher statt zu gleiten. Sandstrände von Vulkaninseln enthalten viel verwitterte Lava und können grün oder schwarz sein. Feine Sandkörner werden in die Luft aufgewirbelt und in höheren Luftschichten über die Kontinente hinweg transportiert. So gelangt immer wieder Sahara-Sand bis nach Nordeuropa. Wer einen Sandstrand betrachtet, sieht ein Wellenmuster: Es sind Sandrippel – quasi Minidünen. In Wüsten und bei den trockenen Dünen lassen herunterfallende Sandkörner, dort, wo sie aufprallen, andere in die Luft springen. So stöbern lokale Windwirbel verstärkt Sand auf; dessen „Sprünge“ waren namensgebend für den Prozess der Saltation (lat. saltus, „Sprung“). Wie die Luft kann im Küstenbereich auch das Wasser kleine Sandkörner aufwirbeln, und diese lagern sich dann an anderen Stellen wieder ab. Nur kleinere Teilchen wirbeln auf, größere Sandkörner bleiben liegen. Kleine Sandkämme entstehen.

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Wenn sie höher werden, greift der Wind schließlich ein und trägt die obersten Körner davon. Bei Dünen kommt eine fließende Bewegung des Sandes hinzu. Die Masse der Körner bewegt sich dann so, dass ihre physikalischen Eigenschaften eher einer Flüssigkeit als einem Festkörper gleichen. Die Oberfläche bildet eine zerklüftete Grenzfläche zwischen einem nicht starren Festkörper und entweder der Luft und damit einem Gas oder dem Wasser, also einer Flüssigkeit. Durch feine Reibungen kann es sogar zu laut grollenden Geräuschen kommen, deren Name „singende Dünen“ etwas irreführend ist. Selbst Mondstaub besteht aus Sand Der Mondstaub ist eine meterdicke Sandschicht, die beim Einschlag von Kometen entstand. Das Oberflächengestein wurde zertrümmert und sank nach dem Aufstäuben wieder herab. Da der Mond keine Atmosphäre hat, entstehen auch keine Luftbewegungen wie Winde und somit auch keine Dünen. Die zwar im Vergleich schwächere, aber doch vorhandene Schwerkraft hält die Sande an der Oberfläche; Planeten mit Lufthülle weisen Dünen auf, wie etwa der Mars. Dort gab es einst Wasser, was die Verwitterung von Gesteinen begünstigt. Die dünne Atmosphäre ließ die Verwirbelung zu, und Dünen bildeten sich. Auf Kometen sind Dünen nicht zu erwarten. Als kleine Himmelskörper haben sie eine so geringe Masse, dass sie eine geringe Anziehungskraft haben und der Staub leicht davonfliegt – es sei denn, er ist in Eis gebunden. Im kalten Weltall schmilzt das staubdurchsetzte Eis nur in der Nähe der Sonne. So lautet zumindest die Theorie, doch die europäische Raumsonde Rosetta erkundete den Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko in den Jahren 2014–2016 und fand wellige Strukturen aus lockerem Material, also Dünen. Diese bestanden allerdings nicht aus Sand, sondern aus Partikeln aus Kohlenstoffverbindungen. Kommt Chury, wie der Komet in Kurzform genannt wird, der Sonne näher, verflüchtigen sich zum Teil die gefrorenen Gase wie Stickstoff (N2), Methan (CH4) sowie Kohlenmonoxid (CO); dabei sammeln sich dann die lockeren Verbindungen in geschützten Senken an, statt wegzufliegen. Der Sand wird knapp Doch zurück zur Erde. Neben der Glasproduktion wird Sand vor allem für Zement und Beton benötigt. Die Baubranche braucht eher den kantigen Sand der Flussbetten. Der Abbau stört das Ökosystem, und Sand wird zur Mangelware.

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Der Begriff „Sand“ allein sagt noch nichts über dessen Zusammensetzung aus – er wird für Gemenge mit einer Korngröße bis zu 2 mm benutzt. Von welchem verwitternden Gestein – Kalkstein oder quarzhaltige Mineralien – der Sand stammt, ist regional verschieden. Für Gebrauchsgläser sind Quarzsande nötig, die Silicate enthalten. Die Verwitterung liefert nahezu sortenreine Sande – doch sie werden immer rarer; unser enormer Sandverbrauch lässt die natürlichen Vorkommen erschöpfen. Wer kann sich schon vorstellen, dass im Schnitt pro Kopf in einem Menschenleben rund 300 t Sand verbraucht werden? Dieser geht in den Straßenbau sowie in die Herstellung von Halbleitern und anderen Werkstoffen für Elektrogeräte, Solarzellen und natürlich Gläsern. Man nehme: Kalk und Pottasche Im Gemenge hat Kalk (CaCO3) die Aufgabe, die Wasserlöslichkeit des Glases zu vermindern; er wirkt so als Stabilisator. Der Kalk hat eine Schmelztemperatur von rund 2500 ℃. Zusätze von Soda (Natriumcarbonat, Na2CO3) oder Pottasche (Kaliumcarbonat, K2CO3) setzen diese herab. Vor der synthetischen Gewinnung von Pottasche wurde diese aus Holzasche in großen Töpfen, also im Pott, ausgelaugt. Die Pottasche wirkt mit einer Schmelztemperatur von 840 ℃ als Flussmittel. Zwar hatten Glashütten überwiegend einen festen Standort, doch wurden bis ins 17. Jahrhundert in den Wäldern immer wieder neue errichtet; sie produzierten das Waldglas, ein oft grünlich schimmerndes Gebrauchsglas vor allem für Trinkgläser und Krüge. Die Färbung stammte von Eisensalzen aus der Asche. Der Kaliumanteil der Pottasche verleiht dem Glas Glanz und macht es sehr hart. Es wird auch Kalisalz genannt. Als alternatives historisches Flussmittel gab es Soda, das bei 890 ℃ schmilzt. Es wurde vor allem aus natürlichen Mineralvorkommen, etwa aus Ägypten, importiert. Die venezianischen Glasmacher stellten Sodagläser her, die sich gut mit Schliff versehen ließen.

Amorphe (Un)ordnung Nachdem nun gängige Grundzutaten geklärt sind, ist die Frage nach dem Feststoff noch nicht beantwortet. So transparent wie Glas sind auch Bergkristall und Wassereis. Beide haben als Schmelze jedoch ganz andere Eigenschaften als die Glasschmelze. Doch auch beim Glas wird (mit Ausnahme von gegossenen Glasscheiben) nicht die Schmelze selbst geformt, sondern das weiche Glas wird bearbeitet

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und kühlt dabei schon so weit ab, dass sich ein Netzwerk aus Siliciumdioxid bildet. Der formbare Temperaturbereich liegt nahe dem sogenannten Erweichungspunkt. Netzwerkbildner Siliciumdioxid Wenn eine Schmelze erstarrt, bildet sich ein Feststoff. Kristalline Feststoffe haben eine Fernordnung, was so viel heißt, dass sich die Anordnung der Elementarzellen unendlich fortsetzt und auch am anderen Ende des Kristalls noch eingehalten wird. Daraus ergeben sich Eigenschaften, die von der Anordnung der Atome im Kristall abhängen. Beim Bergkristall ist dies die klare Geometrie und die Transparenz. Anders als beim Bergkristall, der ebenfalls aus Siliciumdioxid besteht, gibt es allerdings im Glas Abweichungen von der Ordnung. Wird ein Stoff fest, lagern sich die Atome nahe zusammen. Beim Siliciumatom ist es energetisch günstig, wenn es sich mit Sauerstoffatomen umgibt. Da an allen vier möglichen Bindungsstellen Sauerstoffatome sitzen, entsteht formal gesehen ein SiO4-Tetraeder (Abb. 12.2). Diese Baueinheit gibt die räumliche Anordnung wieder; tatsächlich teilen sich benachbarte Elementarzellen die Sauerstoffatome, sodass in den Knotenpunkten Siliciumatome sitzen und zwischen ihnen, entlang der Kanten des Tetraeders, die Sauerstoffatome. Da die Elementarzellen nicht so ordentlich wie Bausteine angeordnet sind, sondern sich geordnete mit noch ungeordneten Bereichen abwechseln, ist die Raumordnung amorph (Abb. 12.3). Deshalb wird Glas auch als unterkühlte Schmelze bezeichnet. Durch das Blasen der Gläser senkt sich die Temperatur relativ sprunghaft. Bereiche, in denen die Kristallisation bereits eingesetzt hatte, werden gegeneinander verschoben. So durcheinandergewürfelt ergibt sich einfach nicht mehr die Fernordnung eines Kristalls.

Abb. 12.2  Der SiO4-Tetraeder

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Abb. 12.3  Netzwerkbildner Siliciumdioxid. Von links nach rechts: im Quarzkristall, Quarzglas und Alkalisilicatglas

Sprunghaft erstarrt statt in Reihen geordnet Physikalisch wurde die Glasbildung sehr eingehend untersucht, da die Frage im Raum stand, ob das Erstarren der Schmelze ein Phasenübergang ist. In einer Phase haben die Atome oder Moleküle gleicher Sorte ungefähr die gleiche Bewegungsenergie. Diese ist in Gasen hoch, weshalb die Abstände zwischen den Teilchen groß sind; in Flüssigkeiten, wo noch viel Bewegung stattfindet, ist sie schon geringer, und in Festkörpern, in denen nur noch Vibrationen und Schwingungen, aber nur selten Ortswechsel auftreten, ist sie ganz gering. Die Aggregatzustände sind gut bekannt – und im Namen steckt schon das lateinische Verb aggregare für das Zusammenkommen vieler Teilchen. Neben diesen drei klassischen Aggregatzuständen gibt es gerade bei Festkörpern noch eine Vielzahl unterscheidbarer Phasen, die sich in der Anordnung der Teilchen unterscheiden. Entscheidend und charakteristisch ist, dass bei jedem Phasenübergang der Aggregatzustände die Temperatur konstant bleibt, bis alle Teilchen die Phase gewechselt haben. So kocht Wasser bei 100 Grad – die Temperatur steigt nicht ständig weiter, obwohl die Herdplatte weiterheizt. Erst wenn alle Wassermoleküle vom flüssigen in den gasförmigen Zustand gewechselt sind, steigt die Temperatur weiter an. Augsburger Physiker fragten sich, ob das Erstarren der Glasschmelze ein dynamisches Phänomen oder ein Phasenübergang ist. Beim Phasenübergang des Erstarrens koordinieren sich die Teilchen in der Flüssigkeit, sodass kollektiv eine geordnete Struktur eingenommen wird.

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Im Falle eines dynamischen Prozesses nehmen die Molekülbewegungen immer weiter ab, und am Ende sind die Teilchen erstarrt. Die dabei eingenommenen Strukturen würden nicht zu einem dreidimensionalen Netzwerk führen, sondern die Schmelze bliebe flüssig, wenngleich so hoch viskos, dass sie von außen fest zu sein scheint. Tatsächlich wird beim Glas eine amorphe Ordnung gefunden, was für einen Phasenübergang spricht, wenngleich für einen ungewöhnlichen. Die eingenommene Position ist zwar nicht über den gesamten Kristall geordnet, aber doch definiert. Damit sind die Materialeigenschaften auch planbar – letztlich bestätigt die hohe Kunst der Glasbläser, wie genau sie ihr Material kennen. Die Physik beim Glasblasen Glasblasen gilt zu Recht als Kunst, weil sich das Glas nur dann bildet, wenn die Geschwindigkeit des Kristallwachstums, also das Anwachsen der sich bildenden Kristalle, gering ist und das Senken der Temperatur rasch erfolgt. Beim Wachsen des Kristalls lagern sich weitere Siliciumdioxidmoleküle an den Kristallisationskeim an. In der Schmelze ist die Geschwindigkeit des Kristallwachstums relativ gering, da die Moleküle so viel Energie haben, dass sie sich in der Flüssigkeit bewegen, statt Energie abzugeben und sich fest anzulagern. Beim Unterkühlen der Schmelze durch das Einblasen von Luft gibt es einen Temperaturbereich, in dem sich die Moleküle sehr schnell nach Netzwerkpartnern umsehen. Wird es noch kühler, fehlt ihnen schon wieder die Energie, um noch neue Bindungen zu knüpfen, und die Glasbildung kommt zum Erliegen. Zu schnell abgekühlte Gläser sind daher spröder. Zugleich ist dieser Effekt auch wichtig, da sonst kein metastabiler, salopp gesagt „halbwegs“ stabiler Zustand erreicht würde. Bewusst wird das zu schnelle Unterkühlen für den Crackled-Effekt genutzt: Frisch geblasene Gläser werden in Wasser getaucht. Die oberste Glasschicht springt. Daraufhin wird das Glas nochmals erwärmt und die erweichte oberste Schicht verglast, aber die vorherigen Risse bleiben deutlich im Glas sichtbar. Andere Effekte wie Bläschen im Glas werden erzielt, wenn feine Holzspäne im Gemenge sind. Das Holz verbrennt in der Schmelze, und zurück bleiben die feinen Gasblasen, die in der viskosen Flüssigkeit nicht so schnell entweichen. Die Farbigkeit durch Metallsalze entsteht, wenn die Metallkationen die Plätze im Kristallgitter einnehmen. Oft werden Metalloxide verwendet, wie Cobalt(II)-oxid (CoO), welches das Glas blau färbt. Zwei Effekte sind wesentlich: Das Cobaltatom hat nur zwei Elektronen abgegeben, ist also elektrisch zweifach positiv geladen, im Gegensatz zum

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Siliciumatom, welches vier Elektronen für die Bindungen zu Sauerstoffatomen bereitstellt. Die Anordnung der Sauerstoffatome in der Elementarzelle mit Cobaltatomen ist dadurch verändert. Somit ist klar, dass nur wenig Cobalt(II)-oxid zugegeben werden darf, um die Glasbildung nicht zu sehr zu stören. Die Farbigkeit entsteht wiederum durch genau diese Störung: Die Elektronen in den Bindungen zum Sauerstoff haben kein Gedächtnis dafür, von welchem Bindungspartner sie stammen. Daher gelangen sie auch in die Hülle des Cobaltatoms. Für jedes Element ist durch seine eigene Struktur vorgegeben, welche Energie die Elektronen in der Hülle des Atoms haben können, um dauerhaft einen Platz einzunehmen. Passt die Energie nicht, wird ein Teil zu Strahlung umgewandelt, bis das Elektron ein passendes Niveau erreicht hat. Diese Strahlung liegt beim Cobaltglas im sichtbaren Bereich und färbt es blau. Auf das Glas treffendes Licht regt Elektronen an, und einige wechseln die Position. Geraten sie mit zu viel Energie an ein Cobaltatom, emittieren sie blaues Licht. Historische Kostbarkeit: Rubinglas Ein besonders wertvolles Glas war Rubinglas, das mit Gold, Kupfer oder Selen gefärbt wurde. Es wurde im 17. Jahrhundert entwickelt. Es ist ein sogenanntes Anlaufglas, dessen Farbigkeit sich erst ausprägt, wenn das Glas nochmals erwärmt wird. Doch zu seiner Chemie und Physik später mehr. Das älteste bekannte Rubinglas ist der „Lycurgus-Kelch“ (Abb. 12.4) im Britischen Museum. Römische Glasmacher schufen ihn im 4. Jahrhundert. Seine Farbigkeit ist besonders, denn im Auflicht sieht er opak-gelbgrün aus; wenn Licht hindurchscheint, ist er intensiv rot. Diesem Glas wurden feingemahlenes Gold und Silber beigemengt. Dabei sind die Pigmente so fein, dass von Nanopartikeln gesprochen werden kann. Die Mischung besteht aus sieben Teilen Silber auf drei Teile Gold. Der Glasmacher beherrschte sein Handwerk meisterlich. Auch die Technik des Becheraufbaus wirft noch Rätsel auf, denn er zählt zu den Netzbechern oder auch Diatretgläsern: Zeitgleich mit dem inneren Glasbecher entstand über Stege verbunden eine dünne äußere Glashülle. Diese ist häufig als netzartiges Ornament gearbeitet, im Falle des Lycurgus-Kelchs zeigt sie Szenen aus der griechischen Mythologie, genauer: aus dem Leben des thrakischen Königs Lykurgos (latinisiert Lycurgus). Entweder wurde ein Glasblock derart geschliffen, oder eine Gipsform wurde ausgegossen und später weggeschabt. Derartige Prachtgläser waren eine hohe Kunstform der römischen Glasmacher, die mit dem Ende des römischen Reiches zunächst in Vergessenheit geriet. Später wurden die Rubingläser für Kirchenfenster verwandt. Zu erkennen sind die Färbungen durch kolloide Metalle daran, dass die Farben auch im

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Abb. 12.4  Lycurgus-Kelch. Links im Auflicht, rechts bei durchscheinendem Licht. (© The Trustees of the British Museum)

Gegenlicht noch intensiv leuchten, wie in der berühmten Fensterrosette der Kathedrale Notre-Dame in Paris. Dieses historische Fenster überstand den Großbrand im April 2019. Scheint intensives Licht hindurch, werden die „gewöhnlichen“ Farben überblendet, die mit Gold gefärbten Fensterelemente leuchten hingegen in tiefem Rot auf. Dieser Effekt soll bei Sonnenuntergang besonders eindrücklich sein. Bei der Anlauffärbung der Rubingläser entsteht aus zwei zugesetzten Salzen durch eine chemische Reaktion fein verteiltes Metallpulver. So wurden schon im Altertum Nanopartikel hergestellt. Das Gold entsteht in kleinen Ansammlungen und vermischt sich nicht vollständig mit dem Netzwerk des Siliciumdioxids: Es ist kolloidal verteilt. Das Färbeverfahren wurde posthum nach seinem Entwickler, dem Hamburger Arzt Andreas Cassius benannt, der um das Jahr 1660 „Cassius’sches Purpur“ erforschte. Wässrige Lösungen von Gold- und Zinnchlorid reagieren miteinander zu kleinen Partikeln von Zinnoxid, das mit Gold überzogen ist. Das Blasen des Glases erfolgt schneller, als für die Diffusion der Metallsalze nötig wäre. So ist das Glas nach dem Blasen zunächst schwach farbig; dies intensiviert sich, wenn das Glas anschließend nochmals für einige Zeit erwärmt wird. Dabei „läuft es an“, nimmt also seine Färbung an. Der Farbeffekt entsteht durch eine spezielle Wechselwirkung der Elektronen des Goldatoms, die sogenannte Plasmonenschwingung.

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Plasmonen – Licht im kleinsten Bereich Der Name klingt schon verdächtig nach Physik, genauer: nach Quantenphysik. Es geht um kollektive Phänomene, die sich im Nanobereich abspielen. Im Goldkristall sind die Elektronen nicht an einen festen Ort gebunden wie die Atomrümpfe, sondern sie können sich recht frei bewegen. Dies bewirkt die elektrische Leitfähigkeit und gute Wärmeleitfähigkeit, bedeutet aber auch, dass die Dichte der Elektronen schwankt. Bei der metallischen Bindung wird auch von einem Elektronengas gesprochen. Da in einem Partikel selbst in einer zwergenhaften Größenskala von Milliardstel Metern, also Nanometern (nm, 10−9 m), noch viele Atome zusammenkommen, bewegen sich hier auch viele Elektronen. Wer sich mit Physik befasst, rechnet eigentlich immer dann, wenn kleine Atomverbünde im Spiel sind, mit einem nichtklassischen Verhalten. Tatsächlich schwankt auch hier die Dichte nicht willkürlich, sondern kollektiv. Der Eindruck entsteht, dass hier ein Teilchen wirkt, weshalb von Quasiteilchen die Rede ist. Die Schwingung dieser Quasiteilchen lässt sich quantenmechanisch beschreiben, dann wird von Plasmonen gesprochen (Abb. 12.5). Dieses Kapitel befasst sich doch gerade mit Glas, und nun ein Exkurs über die Quantenphysik von Dichteschwankungen der Elektronen in Metallen? Ganz richtig: Es geht immer noch um das Goldpurpurglas. Denn beim Anlaufen sammeln sich die fein verteilten Goldatome. Das Werkstück wird erwärmt, und dabei diffundieren die Goldatome durch den Kristall, wobei sie sich zu Nanopartikeln zusammenlagern. Das zunächst fast farblose Glas färbt sich intensiv rot. Der Durchmesser der Partikel ist

Abb. 12.5 Plasmonenschwingung

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mit etwa 70 nm kleiner als die Wellenlängen des eintreffenden Lichts. Die Schwankung der Ladung kann nach außen annähernd wie ein oszillierender Dipol beschrieben werden. Das eintreffende Licht regt die Elektronen kollektiv zu Schwingungen an. Daher werden die einzelnen Farbbereiche des Lichts – abhängig von den Wellenlängen, die im Bereich mehrerer Hundert Nanometer liegen – unterschiedlich stark absorbiert. Es handelt sich also um eine subtraktive Farbmischung – beim Goldrubinglas werden vor allem die blauen sowie grünen Lichtanteile absorbiert, und zu sehen ist ein intensives Rot. Erwärmt der Glasmacher das Glas zu lange, wachsen die Goldkristalle zu sehr an. Zwar ist hindurchtretendes Licht noch immer rot gefärbt, die Oberfläche jedoch erscheint in der Aufsicht braun, die Handwerker sagen, „so braun wie Leber“. Daher heißt dieser Prozess Lebrigwerden. Die Schwingung wird dann besonders gut angeregt, wenn Wellenlängen des Lichts zur Wegstrecke der Elektronen passen, dann stimmt die Frequenz überein. Dies wiederum erklärt, weshalb an der Oberfläche von Nanopartikeln aus Gold oder Silber plasmonische Schwingungen entstehen, bei anderen Metallen jedoch nicht. Ihre Dimensionen eignen sich, um das Licht aufzufangen und damit das Schwanken der Elektronendichte anzuregen. Mit Licht lässt sich also eine Elektronenschwingung steuern. Die Plasmonen hingegen kommen aktuell wieder in den Fokus. Was den Glasmachern schon seit mehreren Jahrhunderten gelingt – die Herstellung von Nanopartikeln –, inspiriert aktuell Ingenieurinnen. Denn die metallische Lichtabsorption ist effektiver als die von Farbstoffmolekülen. Angewandt wird dies beispielsweise in Schwangerschaftstests, in denen Goldkugeln in der Größenordnung von Nanometern mit Antikörpern gegen Schwangerschaftshormone beschichtet sind. Daneben gibt es unbeschichtete Goldkugeln. Hält eine Schwangere dann den Teststreifen in den Urin, nimmt das Vlies die Flüssigkeit auf und bringt die Goldkugeln damit in Kontakt. Das im Urin enthaltene Schwangerschaftshormon hCG (humanes Choriongonadotropin) bindet an die beschichteten Goldkugeln, die dadurch verklumpen. Zusammen mit der Flüssigkeit wandern diese in Richtung der Teststreifen. Der Test enthält zwei Streifen mit immobilisierten Goldteilchen: Am ersten bleiben nur die verklumpten Goldkugeln haften. Am zweiten alle, unabhängig von anhaftenden hCG-Molekülen. Dieser zweite Streifen zeigt an, ob der Test funktioniert und wird in jedem Fall rot (Abb. 12.6). Der erste Streifen verfärbt sich nur, wenn tatsächlich hCG gebunden wurde und die Schwangerschaft bestätigt wird. Grundsätzlich lassen sich so hoch sensitive Tests auf alle möglichen Naturstoffe entwickeln. Schon einzelne Moleküle

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Abb. 12.6  Plasmonen leuchten sehr farbintensiv, was beim Schwangerschaftstest genutzt wird

beeinflussen die Schwingung der Plasmonen und können so sichtbar gemacht werden. Eine weitere Anwendung könnte im Bereich der Photovoltaik liegen. Der Wirkungsgrad ließe sich steigern, wenn das Sonnenlicht direkt in plasmonische Schwingungen oder „heiße Elektronen“ gewandelt werden würde. Andere interessiert wiederum die Aufhebung der Beugungsgrenze: Neuartige Drucker könnten miniaturisierte Seriennummern und Barcodes drucken und so vor Fälschungen sichern.

Metallische Gläser Bevor wir uns den geschweiften Sternen zuwenden, noch ein Blick in aktuelle Entwicklungen. Zwar ist Glas ein ein uralter Werkstoff, doch die unterkühlte Schmelze fasziniert die Materialforschung bis heute, denn grundsätzlich eignen sich viele Verbindungen von Metallen und Sauerstoff ebenso als Netzwerkbilder. Auch solche Gläser haben eine Nah-, aber keine Fernordnung – bilden also keine festen Kristalle, sondern erstarrte Schmelzen, die beim Erwärmen allmählich erweichen und formbar sind. Der glasartige Zustand kann auch von Metallen oder Mischungen von Metallen,

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den Legierungen, gebildet werden. Die sogenannten metallischen Gläser sind elektrisch leitend – im Gegensatz zu jenen, die aus Silicaten bestehen. Die amorphe Struktur ist weniger geordnet, dennoch sind entsprechende Metalle härter als ihre gewöhnlichen, kristallisierten Festkörper. Feststoffe bilden ein charakteristisches Kristallgitter. Bei Metallen wie Eisen sind bestimmte benachbarte Positionen energetisch besonders günstig; dort platziert sich das Nachbaratom, wenn die Schmelze abkühlt. Diese energetisch günstige Position ergibt sich aus der Struktur der Eisenatome, so besteht der Atomkern von Eisen aus 26 Protonen, den positiv geladenen Kernbauteilchen, und meist 56 Neutronen, den neutralen Kernbauteilchen. Umhüllt wird der Kern dann von 26 Elektronen, die verschiedenen Bedingungen unterliegen und daher sehr unterschiedliche Energien beinhalten. Dieses Setting ist zwar komplex, doch letztlich identisch für jedes Eisenatom, sodass sich in einer Schmelze die Atome rund um einen Kristallisationskeim anlagern und nach allen Seiten die gleiche Ordnung im Kristall aufbauen: Die sogenannte Fernordnung entsteht. Die amorphe Struktur hingegen hat eben diese Fernordnung nicht. Die Schmelze erstarrt, und dabei entsteht eher eine Art unregelmäßiges Patchwork. Kleine Bereiche mit einer Nahordnung stoßen verdreht aneinander. Allerdings sind gerade Metalle meisterhaft gut im geordneten Kristallisieren. Die Schmelze für Silicatgläser ist ein schlechter Wärmeleiter, die Eisenschmelze jedoch würde beim Unterkühlen noch immer geordnet kristallisieren. Daher werden diese Werkstoffe meist aus Legierungen hergestellt, also einer Mischung zweier metallischer Atomsorten, wie Gold und Indium, oder aus einem Metall und einem Nichtmetall, wie Phosphor (P) oder Bor (B), wobei das Nichtmetall als Glasbildner bezeichnet wird. Die Schmelzen lassen sich dann unterkühlen, sodass die Anordnung nicht ganz so schnell erfolgt. Stark vereinfacht kann man sich die Metallschmelze wie ein Spiel vorstellen, bei dem sich alle schnell auf die Stühle setzen, wenn die Musik stoppt. Sind die Spielenden dabei schon nah an den Stühlen, klappt das schnell und geordnet. Sind sie unterschiedlich schnell oder weiter weg, dauert es ein wenig und von außen kann Einfluss genommen werden. Die Funktion, die Metallatome auf Abstand zu den günstigen „Sitzpositionen“ zu halten, übernehmen somit Atome anderer Metalle oder Nichtmetalle. Die physikalische Untersuchung der Struktur zeigt eine fraktale Ordnung – die Atome umlagern sich in bevorzugter Weise und wiederholen dieses Muster, das von außen betrachtet chaotisch wirkt, sich aber immer selbstähnlich zusammensetzt. Letzteres auch unabhängig davon, wie groß das Werkstück wird. Dieses Muster erstarrt beim Unterkühlen der Schmelze. Anders als bei einer gewöhnlichen Metallschmelze nimmt das

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Volumen durch das fraktale Muster beim Festwerden nicht ab. Daher können Bauteile präziser gearbeitet werden, da die Atome beim Abkühlen nicht näher zusammenrücken. Leicht verformbar sind die metallischen Gläser nicht, jedoch elastisch und hart zugleich. Ein Golfschläger aus metallischem Glas überträgt einen stärkeren Impuls auf den Ball als ein Schläger aus gewöhnlichem Metall. In diesem wird ein Teil des Aufpralls in die Verschiebung von Gitterebenen abgeführt, und auf mikroskopischer Ebene kommt es zu Verformungen. Das metallische Glas jedoch nimmt die Energie elastisch auf und gibt sie wieder ab. Allerdings setzt sich in einem amorphen Gitter ein Defekt gleich durch das ganze Werkstück fort. Ein Bruch ist also ähnlich wie bei Gläsern fatal. Der hohe Preis macht solche Materialien aktuell nur für Hightech-Anwendungen interessant. So werden in der Luft- und Raumfahrt metallische Gläser getestet. Teile der Sonnenwindkollektoren der Genesis-Sonde bestanden beispielsweise aus amorphem Metall. Auch als Skalpell werden sie verwendet, da sie länger scharf bleiben. Entwickelt werden zudem entsprechend gefertigte Skier und Snowboards, aber auch Fahrräder. Da metallische Gläser äußerst kratzfest sind und eine glatte, schimmernde Oberfläche haben, sind sie zudem Grundlage exklusiver Gehäuse von Mobiltelefonen und auch USB-Sticks.

Sternenschweif Nun ist ein Zusammenhang von Gläsern und Glasfärbung mit dem Schwangerschaftstest gefunden. Derlei gab es zu biblischen Zeiten noch nicht: Die Heilige Schrift schildert, wie der Geburtstermin von Jesus Christus durch kosmische Zeichen vorhergesagt wurde. Die drei Weisen der biblischen Weihnachtsgeschichte sollen Sternenkundler gewesen sein, die einem Kometen auf der Spur waren. Für Kinder ist der Weihnachtsstern denn auch ein Stern mit einem Schweif, auch wenn sie selbst noch nie einen Kometen sahen, allenfalls eine Sternschnuppe – ein ganz anders Ereignis. Kometen können wochenlang sichtbar sein. Sie entstehen, salopp gesagt, durch schmutzige Schneebälle, die der Sonne zu nahe kommen. Dabei schmilzt ein Teil von ihnen und verteilt sich in einer Staubwolke um den Kometen herum. Das Material eines Kometen besteht aus gefrorenen Gasen und Staub. Die Form des Himmelskörpers hängt von der Entstehung des Kometen ab sowie davon, ob er Kollisionen erlebte und wie oft schon Material abgeschmolzen wurde. Kurzum, Kometen sind unregelmäßig geformt.

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Auf der Erde sichtbar sind solche ab einem Durchmesser von 10 km. Die Bahn der Himmelskörper ist stark elliptisch; die Brennpunkte des als Halleyscher Komet bekannten sind etwa die Sonne sowie ein Punkt außerhalb der Neptunbahn – und damit außerhalb des Sonnensystems! Wenn er sich der Sonne nähert, verdampfen Gase an der Oberfläche und bilden um den Kern eine Hülle, die Koma genannt wird. Diese Koma dehnt sich um ein Mehrfaches weiter aus. In diesem Nebel mischen sich Wasser, Methan (CH4) und Ammoniak (NH3) mit anderen Gasen. Der Schweif streut das Sonnenlicht, sodass er sichtbar ist. Außerdem kann es zu Fluoreszenzen kommen. Der Halleysche Komet kann beobachtet werden, wenn er die Bahn des Jupiters passiert. Je näher er der Sonne kommt, desto stärker wird die Verdampfung. Vom Mars an bildet sich die gestreckte Schweif-Form. Im Unterdruck des Weltalls ist diese Form nicht Resultat der Flugbahn, sondern entsteht durch den Sonnenwind, der die Hülle wegdrückt. Diffuse Schweife entstehen, wenn Partikel im Größenbereich von Mikrometern das Sonnenlicht streuen. Solche Staubschweife sind breiter und diffuser, aber auch von der Sonne weg ausgerichtet. Zwar kehren die Kometen mit gleichmäßiger Periode auf, doch können diese recht lang sein. Der Halleysche Komet erreicht den sonnennächsten Punkt wieder am 28.07.2061. Sternschnuppen Sternschnuppen sind für viele mit dem Sommer verbunden, wenn die Perseiden durchquert werden. Die „Trümmerbahn“ von Kometen sind Meteore. Die des Halleyschen Kometen sind die Orioniden, deren Maximum im Oktober erreicht wird. Zur typischen Leuchterscheinung kommt es beim Verglühen millimetergroßer Bruchstücke oder Staubpartikel der Himmelskörper, wenn diese mit einer Geschwindigkeit von mehr als zehn Kilometern pro Sekunde in die Erdatmosphäre eintreten. Kollidieren die Partikel in 60–120 km Höhe mit Gasmolekülen der Atmosphäre, regen sie diese zum Leuchten an. Durch die Zusammenstöße ionisieren sie die Luftteilchen, und die bei der Rekombination dieses Plasmas freiwerdende Strahlung ist sichtbar und verstärkt die Leuchterscheinung. Die Leuchterscheinungen durch Meteore sind kürzer, und ihr Leuchten ist deutlich schwächer als das von Kometenschweifen. Pro Stunde sind dann theoretisch mehr als 100 Sternschnuppen zu sehen – praktisch schaut ein Mensch ja in eine Richtung, sodass die Beobachtung von um die 20 bei sternenklarem und dunklem Himmel realistisch ist.

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Aktive Asteroiden Im Dezember durchquert die Erde die Geminiden und Ursiden in den Sternbildern Zwillinge und der Kleineren Bärin. (Wer jetzt meint, es müsste Kleiner Bär heißen, hat insoweit recht, als sich dieser Name eingebürgert hat, wenngleich das Sternbild Ursa Minor heißt, was eben auf Lateinisch „kleinere Bärin“ bedeutet.) Der Name Geminiden bezieht sich auf das Sternbild Zwillinge (lateinisch gemini ). Stammen die verglühenden Meteore normalerweise von Kometen, ist die Quelle im Falle der Geminiden jedoch ein Asteroid, was bislang selten beobachtet wurde. Asteroide sind, wie Meteore, Kleinkörper im Weltall. Die Geminiden stammen vom Asteroiden Phaeton, der im Jahr 1983 entdeckt wurde und ungefähr 5 km im Durchmesser misst. Er umläuft die Sonne auf einer elliptischen Bahn und kommt ihr dabei alle 1,4 Jahre besonders nah – auch wenn 20 Millionen Kilometer noch gigantisch weit entfernt klingt. Die Temperatur auf dem Himmelskörper steigt in dieser Entfernung auf 700 Grad. Der Begriff aktiver Asteroid beschreibt diesen Sonderfall, den Jessica Agarwal am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung in Göttingen erforscht. Bei den Meteoren, die vor allem aus gefrorenen Gasen und Staub bestehen, schmilzt das Eis nicht, sondern verdampft direkt: Es sublimiert. Das Vakuum im Weltall bewirkt, dass sich einzelne Moleküle sehr leicht aus dem Festkörper lösen, und dieses Gas reißt die Staubkörner mit. Die Oberfläche eines Asteroiden ist allerdings eisfrei. Die meisten Asteroiden umkreisen zwischen den Planeten Mars und Jupiter die Sonne, weshalb vom Hauptgürtel gesprochen wird. Die meisten aktiven Asteroiden sind nur wenige Kilometer groß. Der größte aktive Asteroid Ceres ist zugleich der erste Asteroid, der vor rund 200 Jahren überhaupt entdeckt wurde. Ceres hat einen Durchmesser von 975 km; seit März 2015 umkreist die Raumsonde Dawn den Asteroiden. Seit Juni 2018 ist die Umlaufbahn der Sonde elliptisch und nähert sich auf bis zu 35 km der Oberfläche. Auf den Fotos der Raumsonde sind helle Einschlagkrater zu sehen, die etwas über die Geologie aktiver Asteroiden verraten. In der Mitte liegt eine Vertiefung, aus deren Zentrum wiederum eine Kuppe hervortritt. Hier trat einst eine salzhaltige Lösung aus, wobei das Wasser schnell verdampfte und das Salz sich niederschlug. So entstand die helle Kruste aus Natriumcarbonat. Im Falle von Ceres wird vermutlich immer wieder Eis durch Meteoriteneinschläge und Erdrutsche freigelegt, verdampft und hinterlässt Salzkrusten. Derzeit sind 18 aktive Asteroiden bekannt, und ihre Gemeinsamkeit ist, dass sie Staub abgeben können. Durch Kollisionen werden sie kleiner, wobei sich ihr Schweif von dem der Kometen unterscheidet. Da den Kometen in

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Sonnennähe kontinuierlich Staub- und Gasteilchen umhüllen, breitet sich die Leuchterscheinung fächerförmig aus. Beim Asteroiden ist durch das punktuelle Freilegen des Eises der Schweif kompakter und geradliniger. Beim Asteroiden P/2010 A2 wurde auf Bildern des Hubble-Weltraumteleskops im Frühjahr 2010 über fünf Monate beobachtet, wie sich der Schweif entwickelt. Die Kollision lag bereits eine Weile zurück und wird auf 2009 datiert. Ein Lichtpunkt trat auf, der auf ein im Durchmesser 120 m großes Bruchstück zurückgeht. Der Staubschweif begann unmittelbar dahinter. Doch nicht immer ist die Unterscheidung zwischen Asteroiden und Kometen eindeutig, da es auch unter den aktiven Asteroiden welche gibt, bei denen sublimierendes Eis Staubkörnchen mitreißt. Missionen zu aktiven Asteroiden werden die Forschung weiter voranbringen. Konkret plant die japanische Agentur JAXA eine Mission zu Phaeton als Quelle des Geminidenstroms; sie soll im Jahr 2022 starten. Der Weihnachtsstern Ganz sicher sind sich die Astronomen nicht, welches Phänomen Pate für den hellen Stern der Weihnachtsgeschichte stand. Zwar wäre ein Komet wegen der geschweiften Sterne naheliegend, doch galt ein solcher vor zwei Jahrtausenden noch als Unglücksbote und wäre wohl nicht als Symbol der Hoffnung in die biblische Geschichte eingegangen. Halbwegs sicher ist eine Sternenkonstellation sieben Jahre vor Christi Geburt, bei der Jupiter und Saturn ihre Bahnen überlagerten. Möglicherweise leuchtete im reflektierten Licht besonders viel komischer Staub auf, der wie ein Wegweiser besonders gut von Bethlehem aus zu sehen war. Es gibt noch weitere Thesen, nach denen im Jahr von Christi Geburt, allerdings im April, die Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn mit Sonne und Mondsichel einen Lichterbogen bildeten. Allerdings geschah dieses tagsüber und war mithin gar nicht sichtbar. Nur Sterndeuter wussten davon und könnten dies als Vorhersage für die Geburt eines mächtigen Königs gedeutet haben – was allerdings noch nicht erklärt, warum sie sich dann auf den Weg gemacht haben sollten, um im Dezember in Bethlehem anzukommen. Letztlich bleibt die Einsicht, dass die früheste Weihnachtsgeschichte rund 80 Jahre nach dem Ereignis von dem Evangelisten Matthäus aufgeschrieben wurde. Bei der bis dahin mündlichen Überlieferung mag sich manches im Ablauf dieser besonderen Nacht verändert haben. Beeindruckend bleibt, dass all diese astronomischen Ereignisse in babylonischen Schriften festgehalten sind und somit auch ohne Teleskop schon genau beobachtet wurden.

12  Dezember – Glaskugeln und Sternenschweif     245

Die Vorlage für den geschweiften Stern soll ein Fresko in der Capella degli Scrovegni in Padua von Giotto di Bondone aus dem Jahr 1304 sein. Andere Künstler kopierten die Szene der Anbetung der drei Heiligen Drei Könige, und Krippenbauer orientierten sich daran. In diesem Fresko ist ein geschweifter Stern zu sehen, wie ihn vermutlich Giotto 1301 selbst sah, als der Halleysche Komet am Nachthimmel leuchtete. Zumindest ist es wohl die älteste Darstellung des Kometen. Damit neigt sich das Jahr zum Ende. Zu Silvester werden farbig glühende Salze den Himmel erhellen; was chemisch und physikalisch dahinter steckt, verrät das Januar-Kapitel (Kap. 1).

Glossar

Adhäsion   Haftwirkung

zwischen Stoffen. Mischung fein verteilter Feststoffe oder Flüssigkeiten in einem Gas wird Aerosol genannt, anzutreffen etwa in Dämpfen, Nebel und bei der Wolkenbildung. Aggregatzustand   Je nach Druck und Temperatur kommen Stoffe fest, flüssig oder gasförmig vor. Physiker betrachten außerdem das Plasma als vierten Aggregatzustand. Stoffe bestehen aus kleineren Teilchen, den Atomen oder Molekülen. Diese üben mehr oder weniger starke Anziehungskräfte aufeinander aus, sie wechselwirken. In einem Gas sind diese Kräfte sehr gering; die Teilchen haben einen großen Abstand zueinander. Daher kommen Atome und Moleküle vereinzelt vor, und eine definierte Menge nimmt im Vergleich zu einer Flüssigkeit oder einem Feststoff desselben Stoffes viel Raum ein. In einer Flüssigkeit ziehen sich die Teilchen bereits so stark an, dass sie sich zusammenlagern, aber noch sehr beweglich sind. Im Feststoff sind die Kräfte unter den Teilchen dann so stark, dass sich Atome und Moleküle zu einem soliden, geordneten Verbund zusammenlagern. Aromaten (aromatische Kohlenwasserstoffe)   Organische Moleküle die einen oder mehrere Ringe enthalten und elektronenreich sind. Die Anordnung der Doppelbindungen folgt der sogenannten Hückel-Regel und erzeugt energetisch einen besonders günstigen Zustand, sodass Aromaten in der Regel sehr stabil sind und noch andere besondere Eigenschaften haben. Dadurch sind auch elektronisch geladene Aromaten stabiler als vergleichbare nichtaromatische organische Moleküle. Atom   Atome sind die kleinsten Teilchen eines Stoffes, sie sind unteilbar – so dachten antike Naturgelehrte. Längst ist klar, dass die Atomkerne aus den Kernbauteilen Neutronen (ungeladen) und Protonen (positiv geladen) bestehen. Die Atomhülle bilden die Elektronen (negativ geladen). Dabei ist die Anzahl der Aerosol   Die

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Protonen und Elektronen ausgeglichen und charakteristisch für die Atomsorte, also das chemische Element. Die Anzahl der Neutronen ist in engen Grenzen variabel, wodurch die sogenannten Isotope entstehen. Base   Stoffe, die basisch reagieren, nehmen Protonen (H+) auf und erhöhen so den pH-Wert einer Lösung. Mit Metallkationen reagieren sie zu Salzen. Historisch begründet gibt es diverse Definitionen der basischen Eigenschaften; diese folgt der des Dänen N. J. Brönsted. Beim Lösen zerfallen Moleküle in mehrere Bruchstücke. Ein so entstandenes, elektrisch negativ geladenes Anion, das ein Proton (H+) aufnimmt, ist ebenfalls eine Base. Benetzung   Die Benetzung entscheidet, ob eine Flüssigkeit an einem Festkörper haftet. Je kleiner der Randwinkel zwischen einem Tropfen und der Fläche, desto stärker haftet die Flüssigkeit. Beim Kleben oder auch Waschen benetzen Stoffe die Oberfläche von Feststoffen, je nach Prozess also die Werkstücke oder die Schmutzpartikel. Beim Kleben fügt die haftende Flüssigkeit zwei Werkstücke aneinander. Beim Waschen haftet eine Molekülseite gut am Feststoff, die andere zieht Wassermoleküle an: Der Schmutz wird von Wasser umhüllt und fortgespült. Carbonsäure   Wichtige Stoffklasse der organischen Chemie. Organische Säuren mit der chemischen Gruppe –COOH, die leicht ein Proton abspalten kann. Die einfachste und kleinste Carbonsäure ist die Ameisensäure (HCOOH). Essigsäure enthält eine Methyl-Gruppe (CH3COOH). Langkettige Carbonsäuren werden Fettsäuren genannt. Chromophor   Ein Chromophor ist ein Molekül oder Teil eines Moleküls, das bzw. der Energie aus Licht aufnehmen kann. Dampfdruck   Der Dampfdruck ist ein Maß dafür, wie leicht Teilchen eine Flüssigkeit oder einen Festkörper verlassen und in die Gasphase übergehen. Stark gekrümmte Oberflächen und ein hoher Zerteilungsgrad erleichtern dies. Entatischer Zustand   Der entatische („gespannte“) Zustand beschreibt die räumliche oder elektronische Struktur solcher Atome oder funktioneller Gruppen, die sich durch die Bindung an ein Protein, insbesondere ein Enzym, angepasst haben. Ihre Reaktionsbereitschaft ist erhöht. Ein Beispiel ist Retinal. Fette   Synonym Triglyceride. Glycerin, ein Dreifachalkohol, ist dabei mit drei Fettsäuren verbunden, die unterschiedlich lange Ketten tragen können. Fettsäuren    Längerkettige Carbonsäuren bilden die Stoffgruppe der Fettsäuren, wovon ab einer Kettenlänge von vier Kohlenstoffatomen die Rede ist; die Buttersäure (CH3–(CH2)2–COOH) macht hier also den Anfang. In der Natur kommen vor allem unverzweigte Ketten mit bis zu 21 Kohlenstoffatomen vor. Noch längere Ketten zählen zu den Wachssäuren. Enthalten die Fettsäuren Doppelbindungen, wird von ungesättigten Fettsäuren gesprochen. Diese sind meist bei Raumtemperatur flüssig. Glykosid    Kurzkettiges Kohlenhydrat, das mit einem sogenannten Aglykon verbunden ist – einem Nicht-Kohlenhydratbestandteil. Glykoside werden oft mit

Glossar    249

Einfachzuckern gebildet und nach dem enthaltenen Zucker benannt, wie die mit Glucose gebildeten Glucoside. Je nachdem, ob an der brückenbildenden Bindung Sauerstoff (O) oder Stickstoff (N) beteiligt ist, wird von O- bzw. N-Glykosiden gesprochen. Wichtige N-Glykoside sind die Nukleoside der DNA. Viele Glykoside haben eine pharmakologische Wirkung. Glykoprotein   Proteine, die mit kurzkettigen Kohlenhydraten verbunden sind. Häufig vorkommende Kohlenhydrate sind Mannose und Glucose. Ion    Elektrisch geladenes Atom oder Molekül; im Fall einer Elektronenabgabe (Ladungsmangel) entsteht ein positiv geladenes Ion, also Kation; im Fall eines Ladungsüberschusses (Elektronenaufnahme) entsteht eine negative Ladung, also ein Anion. Isopren   Wichtiger Grundbaustein für die Polymerisierung, z. B. zu Terpenen oder Hormonen, mit der Summenformel C5H8 (H2C=C(CH3)–CH=CH2). Isopren ist bei Raumtemperatur ein farbloses, leicht entflammbares Öl mit einer Siedetemperatur von 34 ℃. Kohäsion   Zusammenhalt durch zwischenmolekulare Kräfte, Anziehung zwischen Molekülen eines Stoffes. Kohlenhydrate   Organische Stoffe, auch Zucker oder Saccharide genannt. Sie bilden eine wichtige Stoffklasse, kommen einzeln oder auch zu größeren Molekülverbänden verknüpft vor. Aufgebaut sind Kohlenhydrate aus einem Kohlenstoffgerüst, in dem jedes Kohlenstoffatom mit einem Sauerstoffatom verbunden ist: eines doppelt gebunden, die anderen als OH-Gruppe. Daraus ergibt sich die allgemeine Summenformel CnH2nOn oder Cn(H2O)n – deshalb wird von „Kohlen-hydraten“ gesprochen. Länge   Basiseinheit ist der Meter (m). Mit bloßem Auge erkennbar sind in etwa noch 50 Mikrometer (μm), das menschliche Haar hat eine Dicke im Bereich von 2–120 μm. 1 Millimeter (mm) = 10−3 m 1 Mikrometer = 1 μm = 0,001 mm = 10−3 mm = 10−6 m 1 Nanometer (nm) = 10−3 μm = 10−9 m Laugen (basische Lösungen Base)   Entstehen beim Lösen eines Salzes negativ geladene Hydroxid-Anionen (OH–), werden diese von Wassermolekülen umlagert und stabilisiert. Der pH-Wert liegt oberhalb von pH 7. Solche Lösungen nennt man Laugen. Logarithmus   Rechenoperation, z. B. auf der Basis 10 gibt der dekadische Logarithmus den Exponenten der Zehnerpotenz an (log−2 10 = −2). Diese häufige Operation hat eine eigene Abkürzung (lg): log10 = lg. Mol   Festgelegte Anzahl der Teilchen (Atome oder Moleküle) eines Stoffes. Ein Mol (1 mol) sind rund 6 · 1023 Teilchen eines Stoffes. Das Gewicht korreliert nicht und wird durch die Masse der Teilchen bestimmt. Das Mol ist eine wichtige Referenz zur Berechnung von Stoffmengen oder zum Aufstellen von Reaktionsgleichungen.

250     Glossar Molekül   Wenn

zwei oder mehr Atome durch chemische Bindungen verknüpft sind, bilden sie ein Molekül. Dabei enthalten Moleküle Atome des gleichen Elements (Gase wie Sauerstoff (O2) und Wasserstoff (H2)) oder verschiedener Elemente (wie Wasser (H2O)). Nano-   Die Vorsilbe leitet sich von nannos ab, dem griechischen Wort für Zwerg. Es handelt sich um einen Vorsatz für Maßeinheiten (Präfix), es bezeichnet ein Milliardstel (10−9) einer Einheit. Daher muss bei der Größenangabe auch die Einheit genannt werden. Nanomaterialien bezeichnen Materialien, deren Teilchendurchschnitt einer Länge im Bereich von Nanometern entspricht, in Abgrenzung zu Millimetern (10−3) und Mikrometern(10−6). Die Wellenlänge von Licht wird häufig in Nanometern angegeben. Osmose   An einer Membran gleicht dabei z. B. ein- oder ausströmendes Wasser eine ungleiche (Salz-)Konzentration aus. Parts per Billion (ppb)   Ein Teil pro eine Milliarde Teilchen (1:109). Parts per Million (ppm)   Ein Teil pro eine Million Teilchen (1:106). pH-Wert   Der pH-Wert gibt als negativer dekadischer Logarithmus die Konzen­ trationen der Protonen in einer Lösung an. Je höher dabei der pH-Wert, desto geringer der Anteil an Protonen. Der Neutralpunkt ist pH 7, Werte darunter bedeuten einen Protonenüberschuss und somit saure Lösungen. Die Skala reicht bis pH 14 für basische Lösungen. Plasma   Ein hochenergetisches Gas, das neben ungeladenen Atomen und Molekülen auch in Ionen zerfallene Moleküle sowie Radikale enthält. Auch als vierter Aggregatzustand bezeichnet, kommen Plasmazustände in Flammen, Blitzen, im Inneren der Sonne und im interstellaren Raum vor. Plasmon   Quasiteilchen: Die Elektronen in Metallen sind nicht an feste Gitterplätze gebunden, sodass ihre Dichte schwankt. Dieses kollektive Verhalten breitet sich in Wellen über den Festkörper aus. Es gibt drei Arten von Plasmonen: Volumen-, Oberflächen- und Partikelplasmonen. Schwingungen der Partikelplasmonen färben beispielsweise Rubinglas rot. Pollen (Blütenstaub)   Blütenstaub besteht aus Pollenkörnern und enthält das männliche Erbgut bei sich sexuell fortpflanzenden Pflanzen. Polymere   Große Molekülverbände (Makromoleküle) aus miteinander verknüpften, kleineren Einzelmolekülen. Beispiele Mehrfachzucker wie Stärke oder Cellulose, die sich aus Einfachzuckern zusammensetzen (Kohlenhydrate), oder Proteine, die aus Aminosäuren bestehen. Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffverbindungen (PAKs)   Aromaten mit mehreren miteinander verbundenen Ringen werden polyzyklische Aromaten genannt. Dabei können die Ringe miteinander über eine Bindung verknüpft sein oder direkt aneinandergrenzen und sich somit eine Bindung teilen. Viele dieser Verbindungen sind krebserregend. Proteine   Langkettige Moleküle aus zu Strängen verknüpften Aminosäuren, die eine charakteristische Faltung aufweisen. Radikal   Ein Atom oder Molekül, das ein ungepaartes, reaktives Elektron enthält.

Glossar    251 Salze   Chemisch

gesehen handelt es sich um Verbindungen, die durch ionische Bindungen zustande kommen. Letztere bilden sich als elektrische Anziehung zwischen unterschiedlich geladenen Atomen oder Molekülresten aus. Das bekannteste ist Kochsalz, also Natriumchlorid (NaCl), welches Natrium-Kationen und Chlor-Anionen enthält. Es löst sich leicht in Wasser. Als Feststoff ordnen sich die Ionen in ein geordnetes Kristallgitter. Säuren   Stoffe, die leicht ein Proton (H+) abgeben. In sauren, wässrigen Lösungen liegt der pH-Wert unterhalb von pH 7. Stoffe   Stoffe bestehen aus Teilchen. Sie können Reinstoffe oder Gemische verschiedener Elemente sowie Verbindungen sein, haben aber immer charakteristische Stoffeigenschaften – etwa Schmelz- bzw. Siedetemperatur, Dichte oder elektrische Leitfähigkeit. Stratosphäre   Luftschicht in der Atmosphäre in einer Höhe von etwa 12–50 km über der Erde. Troposphäre    Luftschicht in der Atmosphäre, in der sich das Wettergeschehen abspielt. Sie reicht bis in eine Höhe von etwa 12 km.

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Breuer R (2018) Das Licht der Plasmonen. Frankfurter Allg. Sonntagszeitung v. 7.01.2018: 51 http://www.genios.de/presse-archiv/artikel/FAS/20180107/das-licht-der-plasmonen/SD1201801075224016.html Dambeck T (2018) Sonderlinge im Sonnensystem. MaxPlanckForschung 3:48–53 Links

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Stichwortverzeichnis

A

Acetyl-Coenzym-A 154, 155 Acetylsalicylsäure 154, 182 Adenosin 55 Adhäsion 71, 247 Admiral 28 ADP (Adenosindiphosphat) 54, 60 Aerosol 106, 117, 122, 155, 247 Aggregatzustand 113, 155, 233, 247 Aglykon 195 Alge 137, 204 Algenblüte 204 Alkaloid 187 Alkoholgehalt 192 Allergie 119, 121 Altweibersommer 189 Ambrosia artemisiifolia 122 Ameise 164 Ameisensäure 129 Aminosäure 129, 203 Anion 11, 72 Anlauffärbung 236 Anlaufglas 235 Antarktis 202 Anthocyan 49, 51, 194 Antibiotika 148

Antitranspirant 128 Apoptose 137 April 67 Arktis 202 Aromastoff 170, 178 Aromaten 247 polyzyklische 217, 250 Astaxanthin 139 Asteroid 243 Asymmetriezentrum 178 Atmosphäre 106, 107 Atom 247 ATP (Adenosintriphosphat) 54, 55, 60 ATP-Synthase 60 August 145 Auxin 100 B

Barrique 166 Base 248 Basilikum 183 Baum 146 Beerenauslese 193 Benetzung 74, 248 Benzaldehyd 186

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Feil, Fliegenfüße, Sonnencreme, Pfefferminz und Kerzenschein | Mit Bio und Chemie durchs Jahr, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59264-9

259

260     Stichwortverzeichnis

Bergkristall 232 Bewegung, hydraulische 100 Biene 22, 70, 212 Bienenwachs 212 Bindung chemische 54 ionische 11 Bionik 64, 76 Biopolymer 83, 92 Bitterstoff 185 Blatt 44 Blattfarbstoff 47 Blausäure 185 Blitz 106 Blütenstaub 120, 156, 250 Borkenkäfer 159 Brennhaar 123 Buttersäure 129 Byssusfaden 82 C

Calcitriol 24 Calciumchlorid 11 Calciumkonzentration 25, 27 Calciumsulfat 12 Calvin-Zyklus 57, 59 Capsaicin 133, 174, 175 Capsanthin 173 Capsorubin 173 Carbonsäure 68, 248 Carotin 49, 173 Carotinoid 62, 139, 173 Carvon 177, 179, 180 Cellulose 47 Ceres 243 Chemorezeptor 171 Chemosensor 162 Chili 172, 173 Chlor 15 Chlorat 15 Chlorophyll 44, 91, 173 Chloroplast 47

Cholecalciferol 24 Chromophor 48, 195, 248 Chronobiologie 22 Chury 230 Cobalt(II)-oxid 234 Cobaltglas 235 Coenzym A 154 Cortisol 39, 41 Cryptochrom 32, 37 Cumarin 185 Cumin 181 Curcumin 182 D

Dampfdruck 213, 248 Deodorant 128 Dermcidin 130 Dezember 225 Diatomeen 202 Dichte 5, 192, 237 Diode 222 Dipol 72, 238 Distelfalter 28, 29 Docht 209, 214 Doldenblütler 170 Donnern 107 Doppelbindung 49, 180 Druck 7, 100 Düne 229 Durchmesser, aerodynamischer 119 E

Edelfäule 193 Edelgaskonfiguration 15 Eichen-Prozessionsspinner 123 Eis 1, 202 Eisalge 204, 205 Eiswein 194 Elektron 16, 53, 109, 111, 135, 222, 237 Elementarzelle 232

Stichwortverzeichnis    261

Emulsion 132 Enantiomer 180 Enantiomerenpaar 178 Energieumwandlung 53, 56 Epidermis 44, 68, 99, 100 Erdmagnetfeld 31, 114, 116 Erweichungspunkt 232 Ester 69 Ethen 153, 160 Eugenol 185 Evolution 52, 58 Explosion 19, 155 Exzitone 60, 142 F

Faraday, M. 211 Farbe 171, 223 Februar 21 Fehlstelle 222 Feinstaub 15, 118 Fernordnung 232, 240 Feststoff 71, 231 Fett 153, 199, 209, 248 Fettgewebe, braunes 201 Fettsäure 68, 129, 248 Feuerwerk 14, 17 Flammenkegel 215 Flammenkelch 215 Flammenkern 216 Flammenmantel 215 Flechte 93, 94 Fliege 71, 74, 96 Franklin, B. 109 Fresnel-Stufenlinse 210 Frostschutz 196, 201 Frostschutz-Glykoprotein 203 Frühjahrsmüdigkeit 41 G

Galliumarsenid 222 Gartengrasmücke 32

Gasentladungslampe 221 Gecko 71, 74, 75 Gefrierschutzmittel 201 Gelbwurz 181 Gerbstoff 92, 154, 166, 195 Geruch 169 Gerüststoff 92 Geschmack 169 Geschmacksknospe 171 Geschmacksrichtung 171 Gewitter 105, 108 Gips 12 Glas 226, 227 metallisches 239 Glasbläser 228, 234 Glasmacherlampe 228 Gletscher 8 Glucose 46, 57, 151 Glucosinolat 196, 197 Glühlampe 219 Glycerin 201 Glykogen 200 Glykoprotein 249 Glykosid 195, 197, 248 Gold 235 Graupel 2 Grünkohl 196 H

Halbleiter 222 Halleyscher Komet 242 Halogenglühlampe 221 Herbst 48, 151, 190 Herzinfarkt 41 Heuschnupfen 119, 121 HMHA (3-Hydroxy-3-MethylHexansäure) 132, 135 Hochmoor 87 Hormon 39, 131, 133 Hortensie 196 Humifizierung 92 Huminsäure 196

262     Stichwortverzeichnis

Huminstoff 92 Humus 150 Hydronium 54 Hyphe 147 I

Imago 202 Indikator 195 Ingwer 181 Inklinationskompass 30, 32 Ion 11, 72, 109, 134, 216, 249 Ionenkanal 131, 171, 178 Ionisierung 113 Ionosphäre 109 Isopren 154, 178, 249 Isoprenoid 25 Isothiocyanat 197 J

Januar 1 Juli 127 Juni 105 K

Kaliumcarbonat 231 Kalk 227, 231 Kälte 39, 196 Kambium 150 Kapillarkraft 73, 150 Kation 11, 72, 109 Kerze 209 Kerzenflamme 212, 215 Kienspan 209 Kieselalge 202, 204 Klebefalle 96 Klebstoff 73, 76 Knallgasreaktion 217 Knochen 26 Kohärenz 61 Kohäsion 71, 249 Kohlenhydrat 46, 199, 249

Kohlenwasserstoff, aromatischer 247 Kohlenwasserstoffverbindungen, polyzyklische aromatische 250 Kohlerdfloh 198, 199 Kollagen 78 Komet 230, 241 Halleyscher 242 Kommunikation 153 Kondensation 156 Korbblütler 170 Körper, schwarzer 218 Körpertemperatur 130 Krause Minze 177, 180 Kräuter 170 Kreuzblütler 198 Kreuzkümmel 181 Krill 202 Kristallisationskeim 2, 204, 234 Kristallstruktur 5 Kümmel 179–181 Kurkuma 181 L

Ladung 16 Länge 249 Lauge 249 Lawine 7 Lebertran 27 LED-Lampe 221, 223 Legierung 240 Leim 77, 97 Leitkanal 111 Leitungsband 222 Leuchtstoffröhre 221 Licht 18, 23, 178, 223 polarisiertes 178 Lichterkette 219 Lichtsammelkomplex 53 Lichtschutzfaktor (LSF) 140 Lichtspektrum 36, 115, 135 Lignin 92 Linse 210 Lippenblütler 170

Stichwortverzeichnis    263

Lithium 13 Lithiumsalz 13 Loch 222 LOFAR (Low frequency array) 110 Logarithmus 89, 249 Londonscher Dispersionskraft 72 Lutein 173 Lycurgus-Kelch 235, 236

Natriumcarbonat 12, 231 Natriumchlorid 12 Navigation 30 Neonröhre 221 Nervus trigeminus 171 Netzwerkbildner 233, 239 Niedermoor 86 November 207 Nozizeptor 175

M

Magnesiumchlorid 12 Mai 85 Malaria 87 März 43 Melanin 134 Melatonin 39 Menthol 155, 177, 178 Metall 222, 239 kolloides 235 Metallgitter 19 Meteor 242 Methan 54, 160, 230 Mineralisierung 92 Mitochondrien 40, 201 Mol 249 Molekül 250 Molekülformel 46 Moor 85 Most 192 Mumie 93 Muschel 80, 84 Muskelzittern 200 Mykorrhiza 148 Myzel 147 N

Nadelbaum 155 NADPH (Nicotinsäureamid-Adenin-Dinukleotid-Phosphat) 57 Nano 250 Nanopartikel 236, 237

O

Oberflächenspannung 68, 71, 73 Oechsle-Waage 191, 192 Oenin 194 Oktober 189 Öl, ätherisches 152, 170 Opsin 23, 34 Optogenetik 23 Ordnung, amorphe 234 Orientierungssinn 30 Orionid 242 Osmose 131, 150, 250 Oxidationsmittel 16 Oxidationsstufe 16 Oxidationszahl 16 Oxonium 54 Ozon 123, 155, 161 P

PAK (Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffverbindungen) 217, 250 Paprika 172, 174 Paprikapyrazin 173, 174 Paraffin 213 Parasit 164 Parenchym 44, 99, 100 Partikel 117, 242 Parts per Billion (ppb) 174, 250 Parts per Million (ppm) 250 Peperoni 172 Perchlorat 15, 16

264     Stichwortverzeichnis

Periodensystem 15, 54 Perseide 242 Pfeffer 186 Pfefferminze 155, 177 Phaeton 243 Phase 28, 233 Phasenübergang 233 Pheromon 133 Phloem 73, 150, 159 Photodermatitis 142 Photon 32, 35, 53, 60, 208 Photosynthese 43, 97, 150, 151, 196 Photosystem 56 pH-Wert 23, 88, 89, 130, 195, 250 Phyllobilin 49, 51 Phytochrom 47 Phytonzid 160 Pigment 23, 48, 139 Pilzgeflecht 146, 161 Pinen 155 Piperin 187 Planet 207 Plankton 202 Plasma 113, 114, 216, 250 Plasmon 237, 239, 250 Plasmonenschwingung 236, 237 Polarlicht 114 Pollen 120, 156, 250 Polymer 79, 250 Polymerisation 79 Polysaccharid 46, 97 Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffverbindungen s. PAK Pottasche 231 Protein 48, 102, 250 Proton 11, 54, 89, 194 Protonenpumpe 55, 101 Pulverschnee 3, 7 Purpurbakterien 61 Purpurmembran 23 Pyrazin 173 Pyrolyse 216

Q

Quantenbiologie 59 Quantensprung 135 Quasiteilchen 237 R

Rachitis 26 Radikal 33, 49, 134, 250 Reaktionsgleichung 46, 213 Reduktion 16 Reibung 7 Reifegrad 173 Rest 11, 68, 197 Retinal 23, 34 Rhodopsin 23, 34 Rhythmus, zirkadianer 37 Riesen-Bärenklau 142 ROI (Reactive oycgen intermediates) 123 Rotkohl 195 Rubinglas 235 RuBisCO 57, 58 Ruderfußkrebs 138 Runaway-Elektron 112 Ruß 216 S

Saccharid 46 Saccharose 46 Salicylsäure 154, 182 Saltation 229 Salz 10, 89, 131, 156, 204, 251 Salzbildner 16 Sand 227, 229 Sauerstoff 6, 46, 129, 217 Säure 11, 68, 129, 132, 251 Schärfe 171 Schärfeskala 176 Schirmakazie 153 Schlaf-Wach-Zyklus 39

Stichwortverzeichnis    265

Schmelze 231, 234 unterkühlte 232 Schmerz 175 Schmetterling 28 Schnee 1 Schneealge 204, 205 Schneeflocke 2, 4 Schutzgruppe 84, 197 Schwangerschaftstest 238, 239 Schwefeldioxid 161 Schweiß 128 Schweißdrüse 129, 130 apokrine 129 ekkrine 129 Scoville-Schärfeskala 176 Seepocke 80 Sehfarbstoff 23 Sehpurpur 34 Sehzelle 34 Senföl 175, 197, 198 Senföl-Glykosid 197 September 169 Silicium 222 Siliciumdioxid 227, 232, 233 Silvester 14 Soda 12, 196, 227, 231 Sole 10, 204 Sonnenbrand 136, 141 Sonnencreme 141 Sonnenlicht 44, 53, 106, 134, 137 Sonnenschutz 62, 134, 139 Sonnenstrahlung 115 Sonnentau 94, 95, 99 Sonnenwind 114, 116 Spannung 110, 222 Spektrum 36, 115, 134 Sphagnum 87 Spin 33, 60 Spitzenentladung 112 Sporopollenin 120 Standardbedingung 5 Stärke 47, 151 Staub 9, 51, 117, 124, 156, 241

Stearin 210 Stereoisomerie 178 Stern 207 Sternenschweif 241 Sternschnuppe 242 Stickoxid 123, 161 Stickstoff 94, 230 Stoff 251 hydrophober 8 photosensibilisierender 142 wasserabweisendender 68 Stratosphäre 106, 251 Stress 39, 156 Strom 109, 222 Struktur 180 Sublimation 5 Symbiose 147, 164 Synthese 217 T

Tageslänge 22 Tagesrhythmus 36 Tannenbaum 226 Tannin 166, 195 Tau 68, 73 Taufliege 37 Tentakel 98 Terpen 120, 152, 154, 160, 179, 183 Terpenoid 159 Terpentin 158 Thermoregulation 130 Thermorezeptor 178, 187 Thermosphäre 114 Thylakoid 47, 60 Titandioxid 141 Torf 86 Torfmoos 87, 90 Torpor 201 Traube 190 Traubenzucker 46 Treibhausgas 161 Trigeminus 172, 179

266     Stichwortverzeichnis

Tropopause 106 Troposphäre 106, 108, 251 Turgor 100 U

Überspannung 113 Uhr, innere 22, 38 UPF (ultraviolet protection factor) 140 V

Van-der-Waals-Wechselwirkung 28, 72 Vanille 170 Venusfliegenfalle 102 Verbrennung 213 Vernalisation 22 Vesikel 131 Vitamin D 24 VOC (volatile organic compunds) 152

Wasserleitung 149 Wasserstoff 6, 217 Wasserstoffbrücke 6, 78 Weihnachtsbaum 155 Weinanbau 190 Weinlese 189 Wellenlänge 18, 36, 50, 56, 134, 238 Widerstand 111 Winterruhe 41 Winterschlaf 41, 200, 201 Wolfram 220 Wolke 2, 106, 152, 156 Wolkenkeim 152 X

Xanthophyll 139, 173 Xylem 150 Z

W

Wachs 8, 68, 154, 209, 212 Wachsschicht 51, 69, 161 Wald 146 Waldbrand 155 Wanderflug 29 Wasser 2, 217 Wasserdampfdestillation 183

Zimt 184 Zimtaldehyd 184, 185 Zimtsäure 184 Zucker 39, 46, 97, 98, 150, 192, 199 Zugunruhe 31 Zugvogelschwarm 30 Zündtemperatur 214 Zunge 171 Zustand, entatischer 248