Filme über Vernichtung und Befreiung: Die Rhetorik der Filmdokumente aus Majdanek 1944-1945 [1. Aufl.] 9783658305307, 9783658305314

Dieses Buch leistet einen wichtigen Beitrag zur Filmgeschichtsschreibung der frühen alliierten KZ-Befreiungsfilme. „Majd

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German Pages XLVI, 542 [580] Year 2020

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Filme über Vernichtung und Befreiung: Die Rhetorik der Filmdokumente aus Majdanek 1944-1945 [1. Aufl.]
 9783658305307, 9783658305314

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XLVI
KL Lublin und Vernichtungslager Majdanek 1944–45: Namen der Orte – Personen – Filme (Natascha Drubek-Meyer)....Pages 1-56
Farnichtung – die osteuropäische Rezeption und Darstellung des Genozids an den Juden (Natascha Drubek-Meyer)....Pages 57-120
Schädel, Objets trouvés und fiktiver Rauch: Wie und wozu Orte der Vernichtung filmen? (Natascha Drubek-Meyer)....Pages 121-178
Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute (Natascha Drubek-Meyer)....Pages 179-237
Produktion der Filme (Natascha Drubek-Meyer)....Pages 239-283
Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten (Natascha Drubek-Meyer)....Pages 285-341
Die Filmteams (Natascha Drubek-Meyer)....Pages 343-419
Film-Vorschriften und Zensur: das unterdrückte Zeugnis und „organisierte“ Zeugen (Natascha Drubek-Meyer)....Pages 421-484
Die ersten Filme über die farnichtung: Chancen und Hindernisse (Natascha Drubek-Meyer)....Pages 485-542
Erratum zu: Filme über Vernichtung und Befreiung (Natascha Drubek-Meyer)....Pages E1-E1

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Natascha Drubek-Meyer

Filme über Vernichtung und Befreiung Die Rhetorik der Filmdokumente aus Majdanek 1944 –1945

Filme über Vernichtung und Befreiung

Natascha Drubek-Meyer

Filme über Vernichtung und Befreiung Die Rhetorik der Filmdokumente aus Majdanek 1944–1945

Natascha Drubek-Meyer Institut für Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft Freie Universität Berlin Berlin, Deutschland

ISBN 978-3-658-30530-7 ISBN 978-3-658-30531-4  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30531-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail­ lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Wytwórnia Filmów Dokumentalnych i Fabularnych/WFDiF/ Documentary and Feature Film Studios Filmoteka Narodowa – Instytut Audiowizualny/FINA/National Film Archive – Audiovisual Institute © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Titelbild: Still aus dem Film Majdanek – Cmentarzysko Europy (1944)

Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Zur Entstehung des Buchs und Danksagung

Die Forschung am Thema Majdanek wurde noch während meines Heisenbergstipendiums begonnen, das Manuskript entstand jedoch danach, im Zeitraum 2015-2020. Die Arbeit am Buch, die mit eigenen Mitteln bestritten wurde, strebt nach einer unabhängigen Darstellung der Sachlage – stets auf der Suche nach historischer Wahrheit und bemüht um ein Maximum an Objektivität, ohne einem der sich oft widersprechenden nationalen Narrative zum Thema der Befreiung der Konzentrationslager 1944-45 verpflichtet zu sein. Als Film- und Medienwissenschaftlerin, Slavistin und Historikerin erforsche ich vielmehr den Spannungsraum zwischen historischer Wahrheit, ihrer Dokumentation und Zensur bzw. den Grenzen ihrer Verbreitung. Geschrieben wurde das Buch in Berlin, wo ich in den Jahren der Forschung am Thema an der FU Berlin gelehrt habe, in meiner Geburtsstadt Prag, während meines Aufenthalts am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa in Leipzig und in Hove an der englischen Küste, wo während der Corona-Quarantäne die Korrektur der Fahnen stattfand. Während der Pandemie wurde überdies offenbar, wie fragil unser Zugang zu Daten ist und wie wichtig die digitale Zugänglichkeit von wissenschaftlicher Literatur und Quellen, aus denen sich historische Wahrheit konstituiert. Seit meinem ersten Auslandsaufenthalt anlässlich eines Marie-Curie-Fellowships an der Filmhochschule FAMU in den Jahren 2006-9 ist mir bewusst, wie privilegiert diejenigen sind, die in gut bestückten Bibliotheken freien Zugang zu wissenschaftlicher Literatur in Monografien, Sammelbänden und Periodica haben. Seitdem hat mich der Gedanke eines gerechten Zugangs zum Wissensvorrat der Welt nicht mehr losgelassen. Ich bemühe mich daher aufgrund der Thematik dieses Buchs, offen zugängliche Quellen und Sekundärliteratur zu verwenden, da sie für eine breite Leserschaft auf der ganzen Welt – auch die nicht-privilegierte – nachvollziehbar und nachprüfbar sind.

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Zur Entstehung des Buchs und Danksagung

Besonderen Dank schulde ich Fabian Schmidt für die Redaktion des Manuskripts wie auch die anregende Diskussion. Ohne die Unterstützung von Ewa Ciszewska, Katia Forbert Petersen, Konrad Klejsa, Valerij Fomin, Konstantin von zur Mühlen und Ela Wysocka hätte dem Buch Entscheidendes gefehlt. Aufrichtigen Dank möchte ich denen ausdrücken, die mich auf dem Weg zum Manuskript inspiriert, unterstützt, beraten und begleitet haben: Günther Agde, Nigel Algar, Anna Andreeva, Ulrich Baumann, Krzysztof Bielawski, Benjamin Blinten, Jacek Chachaj, Maurizio Cinquegrani, Adrian Cioflâncă, Michał Danielewicz, Martin Dean, Aleksandr Derjabin, Vladimir Dmitriev (†), Ştefan Dobroiu, Aleksandra Dzięciołowicz, Stephen Feldman, Winfried Garscha, Christian Goswig Olesen, Erika Gregor, Elena Hamidy, Jochen ­Hergersberg, Jeremy Hicks, Stefan Hördler, Nikolaj Izvolov, Łukasz Janik, Karol Jóźwiak, Alon Judkowsky, Natal’ja Kalantarova, Ursula von Keitz, Naum Kleiman, Efrat Komisar, Anna Kovalova, Petr Koura, Mark Lipovetsky, Nikolai Izvolov, Elena Hamidy, Tomasz Majewski, Witold Matwiejczyk, Stephan Matyus, Lukas Meissel, Valerij Merlin, Rimma Moiseeva, Łukasz Myszala, Maria Oprea, David A. Rich, Maksim Pavlov, Tat’jana ­Platonova, Valérie Pozner, John Leman Riley, Erich Sargeant, Efraim Sicher, Anna ­Sienkiewicz– Rogowska, Lesley Swift, Ulrich Tempel, Thomas Tode, Maya Turovskaja (†), Björn Weigel, Lindsay Zarwell, Alexander Zöller und meine beiden Töchter Nina und Marie. Für Ihre außerordentliche Professionalität und Geduld danke ich Barbara Emig-Roller und Monika Mülhausen vom Verlag Springer VS, einem essentiellen Partner in diesem Buch-Projekt.

Zum Geleit Zum Geleit

Die Sprache hat es unmißverständlich bedeutet, daß das Gedächtnis nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist sondern deren Schauplatz. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eignen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. „Ausgraben und Erinnern“ [1932] „Das sind keine Menschen, das sind Figuren.“ [1943]1 wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng „Tangoul morții“ [1944/47])

Ausgraben – Erinnern – Schreiben Ausgraben – Erinnern – Schreiben

Zwei erstrangige Denker und Künstler der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts haben Texte über das (Aus)Graben verfasst. Ich spreche von Walter Benjamin und Paul Celan – beide waren Verfolgte des sogenannten „Dritten Reiches“. Während das Denkbild „Ausgraben und Erinnern“2 am Vorabend der Machtergreifung der Nationalsozialisten entstand, wurde das Gedicht „Tangoul morții“ / „Todestango“ über ein Jahrzehnt später begonnen, und zwar bereits während des rapiden Zerfalls dieses kürzesten aller tausendjährigen Reiche. Benjamin und Celan fielen dem sich über nahezu ganz Europa erstreckenden Imperium an zwei peripheren geographischen Punkten zum Opfer – im Südwesten Frankreichs

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Ein SS-Mann zu Sonderkommandomitglied Józef Reznik, zitiert im Bericht über den Prozess gegen Rudolf Theimer und Paul Heilig in Heilbronn: tz/jah/leh, „Ich dachte nur an Gott und betete um mein Leben“, Heilbronner Zeitung, 18.5.1962, S. 3. Das „Denkbild“ wird gewöhnlich auf das Jahr 1932 datiert: Walter Benjamin: Ausgraben und Erinnern [WBA 398/24]. In: Walter Benjamin Digital. https://www.walter-benjamin.online/seite/ projekte/wba_398_24 [19.1.2020]. Es ging auch leicht verändert in die posthum herausgegebene „Berliner Chronik“ ein: https://www.walter-benjamin.online/seite/projekte/wba_359 [15.1.2010] VII

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Zum Geleit

Abb. 0.1

Polen – Sowjets – Deutsche im August 1944 in Majdanek vor einem geöff neten Massengrab; Foto links: Michail Trachman, rechts: Autor unbekannt, möglicherweise Samarij Gurarij; http://www.artnet.de/k%C3%BCnstler/ mikhail-trachman/citizens-of-majdanek-mourning-the-concentrationciqcIJ0jbPj_2tf3uDU22g2

war es das mit Hitler kollaborierende Vichy-Regime und in der Bukowina, „am östlichen Rande des deutschen Sprachgebiets“3, wie Celans Heimat ein weiteres Jahrzehnt später ein Literaturkritiker, der einst seine universitäre Lehre in SS-Uniform leistete, es beschrieb. Auf die „imperialistische Mentalität“ (Leslie 2006, S. 112), die aus Räumen europäischer Geschichte einen germanischen ‚Lebensraum‘ machen wollte, reagierte der Berliner Walter Benjamin im Pariser Exil mit „Träumen, die fast immer einen politischen Gegenstand haben“ und „einen Bilderatlas zur geheimen Geschichte des Nationalsozialismus“ darstellen (Brief an Gershom Scholem vom 3. März 1934). Innerhalb Europas vermochte Benjamin kein Ort zu retten.4 Er wählte seinen Freitod 1940 in Portbou. Celan überlebte zwar den

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H. E. Holthusen 1954, S. 395. „Space – the space-time, the time of dreams, Zeitraum, Zeittraum − has become a map of Lebensraum, the living space that Hitler’s army set out to conquer in the East. While the Nazis pushed one way, Benjamin has moved in the opposite direction: from country to country, stumbling finally to ground on a stretch of no-man’s-land between Spain and France.“ (Leslie 2006, S. 112)

Ausgraben – Erinnern – Schreiben

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Genozid an den Juden Europas in Rumänien, doch auch er – ein von den Folgen des Mords an den Juden Verfolgter5 – sollte seinen 50. Geburtstag nicht erleben. Celan hat den künstlerisch wohl kompromisslosesten Text über den Völkermord an den Juden geschrieben. Doch war „Todestango“, später „Todesfuge“ genannt, auch ein poetisches Kenotaph für seine Mutter, die kein physisches Grab hatte. So empfand er den Vorwurf einer „,wurzellosen‘ Artistik“6 eines weiteren, ebenfalls westdeutschen Kritikers Ende der 1950er als „Schändung jüdischer Gräber“.7 Selbst die über seine Vertraute Ingeborg Bachmann an Max Frisch gerichtete Bitte um eine Solidaritätsbekundung führte zu Herabsetzung und Demütigung: Der Schweizer Autor meinte, Celans „Anrufung der Todeslager“ – sollte es um „Autoren-Eitelkeit“ gehen – wäre „unerlaubt und ungeheuer“. So wird Celan auch im Jahr 1959 nicht zugestanden, als deutschsprachiger Autor das zu schreiben, was nur er zu schreiben vermag – als Sohn seiner Eltern, als ehemaliger Zwangsarbeiter, als unmittelbarer Zeuge, als in Paris lebender Weltbürger und als spätes Opfer eines auf dem Rassegedanken errichteten Imperiums, dessen Nachwirkungen er auch nach dem Krieg nicht entkommen kann. Für den Menschen Celan endet das Schreiben deutscher Gedichte – ein wagemutiges Zeugnisablegen in der Sprache seiner Verfolger – in einem Albtraum, dem er, ähnlich wie Benjamin dreißig Jahre zuvor, selbst ein Ende setzt. Sein lebloser Körper wurde im April 1970 in der Seine gefunden. Wie Ingeborg Bachmann es ausgedrückt hat: „er ist auf dem Transport im Fluß ertrunken.“8

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Jana Hrdličková (2019, S. 52) charakterisiert Paul Celan als direkt „von der Shoah betroffen, wobei sein Lebensweg als exemplarisch gelten kann für verfolgte und lebenslang traumatisierte Juden, deren ,Seelenmord‘ nicht selten eine Vorstufe des Selbstmords war.“ Der Begriff geht auf W. G. Niederlands Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom. Seelenmord (1980) zurück, der als einer der ersten posttraumatische Belastungsstörung von NS-Verfolgten untersuchte und zu Konzepten des survivor’s guilt (auch KZ-Syndrom) bzw. posttraumatic stress disorder (PTSD) beitrug. Aufgrund des Mords an seinen Eltern hatte Celan unter Überlebensschuldgefühlen zu leiden wie auch Angriffen anderer Art, die in der BRD wie auch in Frankreich auf ihn als Dichter gerichtet waren. Zu seinen Verfolgern gehörten deutsche Kritiker wie Holthusen oder G. Blöcker (Schmitz 2010, S. 259). In einem Brief vom 6.11.1959 von Frisch an Celan, dargestellt bei Walter Schmitz 2010, S. 259. Im Brief Celans an Rolf Schroers, 30.10.1959: „nicht der Kritiker Blöcker hat zur Feder gegriffen, um ein Stück (oder Stückchen) Literatur herunterzumachen, sondern der Antisemit Blöcker hat ein jüdisches Grab und damit alle jüdischen Gräber, auch das Grab Kafkas, geschändet.“ (Celan und Wiedemann 2011, Nr. 129) Zitiert in Peter Hamm, „Wer bin ich für Dich?“ 21. August 2008, Die Zeit https://www.zeit. de/2008/35/L-Bachmann-Celan/komplettansicht [27.1.2020] IX

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Zum Geleit

Aschenschriften Aschenschriften

Aschenberge und „Friedhof Europas“ Im Sommer 1944 fand die Rote Armee die Mord- und Grabstätten der von der deutschen Besatzung befreiten Gebiete und in ihnen die sterblichen Überreste von Millionen – es handelte sich überwiegend um Menschen, die als Juden verfolgt und ermordet worden waren. Die Befreiung der KZs wird mit Kameras dokumentiert und so für das Weltgedächtnis bewahrt. Aber was wird gefilmt? Die Befreier suchen nach Überlebenden und Toten und finden verwischte Spuren des Verbrechens. In Majdanek und Lublin filmen sie die materiellen Überreste jener menschlichen Körper aus ganz Europa, die an den anderen Orten – Treblinka, Sobibor, Belzec9 – verwesen, über deren flachen Gräbern schnellwachsende Pflanzen wuchern, die in Aschebergen aufgetürmt sind, deren sterblichen Überreste selbst in die Pflanzen einging. Oder die als Wolken von Staub, Asche und Geruch in der Sommerhitze aufgewirbelt werden, wie in der Erinnerung des Warschauer Kameramanns Stanisław Wohl, der erzählt, wie er am 21.7.1944 zusammen mit der Roten Armee die im Freiheitstaumel feiernde polnische Stadt Chełm verlassen musste, um nach Lublin weiterzuziehen: […] wir machten uns auf in Richtung Lublin, direkt der Front folgend. Wir bewegten uns langsam, in Staubwolken und dem Gestank der Leichen. Die Front führte uns zu den Toren des Lagers Majdanek, das sich östlich von Lublin befindet. Wir erreichten es buchstäblich innerhalb von Minuten nach der Flucht der Deutschen. (Wohl 1969, S. 8)

Wohl beschreibt seinen Schock wie auch die Aufnahmen des „ersten gefilmten Zeugnisses der Hitlerlager in Polen.“ Die Bedeutung der surrealen Landschaft des Grauens im befreiten Polen wird sich den Befreiern – darunter waren auch die Filmleute Aleksander und Olga Ford, Jerzy Bossak, Ludwik Perski und Adolf und Władysław Forbert, die als „flight survivors“10 aus der UdSSR nach Polen zurückkehrten – jedoch erst später erschließen. Bei den Prozessen des Ausgrabens und Begrabens, die im August 1944 im Lager Majdanek stattfanden, beginnt die Arbeit mit dem von Benjamin erwähnten Medium des Erdreichs, oft durchmischt mit Asche – die abzutragenden Schichten werden aufgenommen von den politischen Objektiven der Roten Armee und der ihr untergeordneten polnischen Division. Verwendet wurden diese „Filmdokumente“ in den ersten Dokumentarfilmen, die in und über ein deutsches KZ gemacht wurden. Sie tragen den Namen „Majdanek“ im Titel, und hier findet bereits die erste Umschichtung jenes medialen Erdreichs statt, eine sprachliche Verschiebung von der NS-Bezeichnung „Konzentrationslager/KL Lublin“ zum „Vernichtungslager Majdanek“, dem Begriff der Befreier, die den Namen der polnischen Stadt nicht unnötig belasten wollen. Ein Kampf um die Erinnerung beginnt, und er wird am Ort des 9

Ich verwende die deutsche Schreibung, wenn es sich um NS-Ghettos bzw. deutsche KZs und Mordstätten handelt, also Belzec, nicht Bełżec, Theresienstadt und nicht Terezín. 10 Den Begriff der vor Hitler in den Osten geflüchteten polnischen Juden prägten Eliyana R. Adler und Natalia Aleksiun (2014).

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Verbrechens ausgetragen. Wer gestaltet das Gedächtnis von Majdanek? Wer ist Täter, wer Opfer, wer liegt in den Massengräbern, wessen Asche verbirgt sich in dem unweit vom Krematorium hochragenden Hügel? Denn dies war das erste, was viele Soldaten der Roten Armee sahen, als sie das Lager auffanden, einen „ungeheuren Berg von Asche“ (Abb. 0.2).11

Abb. 0.2

Später begrünter Berg aus Menschenasche vor dem Schornstein des Krematoriums, Foto 1947; Quelle: Archiwum Państwowego Muzeum na Majdanku (APMM), http:// www.majdanek.com.pl/gallery/majdanek/k-d/k-d(m).html [6.2.2918]

Aschenabdrücke Das opake „Denkbild“, aus dem das Benjamin-Motto zum Erdreich-als-Medium stammt, lässt sich durch ein anderes Werk erhellen, das auch den Kontext der Grabung nachliefert. Es ist Benjamins Rundfunkgeschichte „Untergang von Herculaneum und Pompeji“ (1931), wo es über das „Schauspiel“ der „Ausgrabung von Pompeji“ heißt: Der Vulkan nämlich hat abwechselnd schwarze Asche, dann wieder ungeheure Mengen grauen Bimssteins ausgeworfen. Die Schichten kann man in Pompeji genau unterscheiden. Es hat mit

11 Das Augenzeugnis von Bernhard Storch, eines Soldaten der Roten Armee, am 23. Juli 1944: „We saw a tremendous mound of ashes.“ https://www.facinghistory.org/resource-library/video/ red-army-enters-majdanek [14.9.2019] XI

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ihnen aber eine besondere Bewandtnis. Den Aschenschichten verdanken wir etwas, was auf der ganzen Erde sich nie wiederfand: vollkommen scharfe, lebenswahre Abbilder von Menschen, die vor 2000 Jahren gelebt haben. Das kam folgendermaßen. Während der Bimsstein die Menschen, auf die er niederging, förmlich erschlug, so sehr sie sich auch mit Tüchern und Kopfkissen, die sie umnahmen, dagegen zu schützen suchten, hat der Aschenregen die Pompejaner erstickt. Zwischen den Bimssteinen faulten die Leichen, und als man nachgrub, stieß man nur auf Skelette. Ganz anders in den Aschenschichten. Sei es, daß die Asche aus dem Innern des Kraters feucht war, wie manche vermutet haben, sei es, daß Wolkenbrüche nach dem Vulkanausbruch sie durchfeuchteten – jedenfalls hat sie sich ganz genau an jede Kleidfalte, in jede Windung der Ohren, überall zwischen Finger, Haare, Lippen der Menschen eingeschmiegt. Dann aber ist sie sehr viel schneller, als die Leichen sich zersetzt hatten, erstarrt, und so besitzen wir heut eine Fülle von lebenswahren Abdrücken der Menschen, wie sie im Laufe niederfielen und gegen den Tod ankämpften. (Benjamin 1991, VII/1, S. 217–218)

Durch die im 18. Jahrhundert erfolgten Ausgrabungen wird der Zusammenhang zwischen der verschütteten Stadt und der Asche hergestellt, der die zentrale Trope in Benjamins späterem „Denkbild“ über Erdschichten als Medium des Gedächtnisses hervorbringt, wobei dort die Asche fehlt – es ist nur noch von „Erdreich“ die Rede. Die heiße Vulkanasche konservierte die vom Vesuv Überraschten in exakt jenem Zustand oder der Bewegung im Moment ihres Todes in „scharfe[n], lebenswahre[n] Abbilder[n] von Menschen“, wie Benjamin es in der Radiosendung für Kinder beschreibt. Es sind jedoch Ascheabdrücke, mit denen wir zu tun haben, Negative der Sterbenden. Aus ihnen müssen erst Positive gemacht werden – wie in der archäologischen Gipsgießerei von Pompei, die bis heute immer wieder neue Figuren der im Jahr 79 vom Vesuv Verschütteten liefert, darunter ein Gipsausguss einer Mutter mit Kind, die im Haus des Goldenen Armreifs von Asche und Lava überrascht worden war. Den Kameraleuten bot sich in Majdanek nach den Exhumierungen ein ähnliches Schauspiel – in einem Drehbericht vom August 1944 (Montageliste VS 1104) steht: „Die Lubliner besuchen Majdanek, Exhumierungen. Leichnam einer Mutter mit Kind, lebendig begraben.“ So wie die Vulkanasche einen Abdruck und eine Momentaufnahme des vergangenen Lebens schuf, gelingt dies auch den Kameras der Befreier. Doch findet sich jene Einstellung des „Leichnams einer Mutter mit Kind“ in keinem der Filme, die 1944–45 aus diesem Material geschnitten und distribuiert wurden. Viele Aufnahmen der im Juli 1944 entdeckten und auf Filmnegative gebannten Katastrophe warten bis heute darauf, rezipiert zu werden. Denn die Kamera ist wie die Asche ein automatisches Werkzeug der Dokumentation, und funktioniert als Medium nur im Verbund mit dem bewegten Erdreich, jenem unscheinbaren Schauplatz des Gedächtnisses. Benjamin schreibt in seinem „Denkbild“, „dass das Gedächtnis nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist, sondern deren Schauplatz“. Die Durchforschung des Gedächtnisses ähnelt dem Abtragen von Schichten, des „Ausgrabens“ von Vergangenheit: Die Erinnerung ermöglichende Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart bedarf eines „Mediums“, und dies ist laut Benjamin das zu Tage geförderte Erdreich, und – so möchte ich ergänzen, die Asche. In den Benjaminschen Aschenschichten von Pompeji fand sie sich in die „Kleidfalte, in jede Windung der Ohren, überall zwischen Finger, Haare,

Aschenschriften

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Lippen der Menschen eingeschmiegt.“ Aus dem unwillkürlichen Aschenabdruck der Naturkatastrophe entwickelt sich ein kulturelles Konzept des materiellen Gedächtnisses – bis hin zur Aschenschrift, auf die ich noch zurückkommen werde. (Be)graben und „Enterden“ der „Figuren“ Während Benjamins „Denkbild“ von seiner Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Grabungen herrührt – bereits auf seiner Reise nach Italien hatte er Pompei besucht und zusammen mit Asja Lacis das Denkbild „Neapel“ (1924) geschrieben – und zu einem metaphorischen Kulturbegriff der Archäologie gelangt, begann Paul Celans erwachsenes Arbeitsleben mit dem realen Schaufeln, und zwar als Zwangsarbeiter in der Walachei. Celan-Biographen sprachen bisher von „Straßenbau.“12 Alle 1943–44 in Achsenstaaten geschaufelte Erde war Zeugin des Verbrechens – ob Straßen für Panzer gebaut wurden, oder Schützengräben gegen „bolschewistische Horden“ ausgehoben. Auch wenn Celan über diesen Lebensabschnitt schwieg, hat sich seine deutsche Herausgeberin Barbara Wiedemann gefragt, ob sich hinter Celans „einsilbiger“ Beschreibung seiner Tätigkeit im rumänischen Arbeitslager als „Schaufeln“13 nicht eine Arbeit mit Erdreich besonderer Art verbirgt. Schließlich findet sich in Osteuropa überall vom ‚Lebensraum‘-Gedanken belasteter Boden – ein ganzes Reich an genozidal kontaminierter Erde, Mittel des Vergessens wie auch Medium der Erinnerung. Die „Erde“ lässt Celan nicht los, 1959 schreibt er das Gedicht „Es war Erde in ihnen“, in dem das Wort „graben“ ein Dutzend Mal vorkommt – nicht umsonst suchte der Komparatist Péter Szondi, der im Sommer 1970 an der Freien Universität Berlin Celan einen Kurs widmete, im Motiv der Erde den Schlüssel zur Metaphorik des Gedichts (Szondi 2003, S. 100). Szondi, der durch Bergen-Belsen gegangen war, folgte seinem Freund 1971 auf dem Weg durch das Wasser. Ein Weg der Asche führte aus dem Vernichtungslager Treblinka II, 1943 ausgestreut von den „Kindern von der schwarzen Straße“, wie der Autor eines Textes für Das Schwarzbuch über die verbrecherische Massenvernichtung der Juden durch die faschistischen deutschen Eroberer in den zeitweilig okkupierten Gebieten der Sowjetunion und in den faschistischen Vernichtungslagern Polens während des Krieges 1941–1945 es beschreibt: Wir gingen ein Feld entlang, das dicht mit Lupinen bewachsen war. Die Sonne brannte, das Rascheln trockener Blätter und das Knistern der Schoten verschmolz in traurige, fast melodiöse Töne. Seinen grauen, zittrigen Kopf entblößend bekreuzigte sich der ortskundige Alte und sagte: „Ihr geht über Gräber.“

12 „Es handelt sich um eine auf drei Jahre angelegte Zwangsarbeit, zu der das faschistische Antonescu-Regime jüdische Männer statt zur Wehrpflicht einzog. Paul Antschel wird zum militärisch wichtigen Straßenbau nach Tabaracti bei Buzau abkommandiert […].“ (Stiehler 1995). 13 Seine Jugendfreundin Ilana Shmueli (Cernăuți 1924 – Jerusalem 2011) erinnerte sich an die Kriegszeit: „Wenn man ihn nach dem Lager fragte, sagte er einsilbig: ‚Ich grabe‘ … ‚Ich schaufle‘.“ (Celan und Shmueli 2004, S. 161) XIII

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Zum Geleit

Wir schritten über die Erde des Todeslagers Treblinka, in das die Deutschen aus ganz Europa und den besetzten Gebieten der UdSSR Juden gebracht hatten. Hier haben die Deutschen Millionen Menschen getötet. Eine furchtbare schwarze Straße teilt das Feld von Treblinka; sie ist schwarz, weil sie auf drei Kilometern mit menschlicher Asche bedeckt ist. Tonnenweise wurde Asche auf den Karren hochgebracht, elf- bis dreizehnjährige Kinderhäftlinge verstreuten sie mit Schaufeln auf der Straße. Sie wurden „Kinder von der schwarzen Straße“ genannt. (Apresjan 1980; aufgezeichnet nach der Erzählung des Überlebenden Max Levit u. des Bauern Kazimierz Skarżyński)

Diese Dokumentensammlung – von Vasilij Grossman und Il’ja Ėrenburg auf Russisch geplant als Černaja kniga – konnte in der UdSSR lediglich auf Jiddisch erscheinen.14 Eine andere für Das Schwarzbuch aufgezeichnete Erinnerung an die Arbeit im Sonderkommando von Ponary (heute: Paneriai in Litauen) stammt von dem Moskauer Julij,15 der im Winter 1943/44 Leichen ausgraben und verbrennen musste. Den Anlass – „Feindpropaganda“ – teilte ihm ein SS-Mann mit: Im Dezember 1942 und Januar 1944 wurden insgesamt 18.000 Figuren verbrannt. In der Zeit bis zum 15. April 1944 wurden unter Beteiligung des Autors dieser Zeilen 38.000 Figuren verbrannt, wie viele noch übrig sind, ist unbekannt, aber es ist sicher bekannt, dass sie alle unschuldige Opfer dieser brutalen Banditen sind. All dies sinnlose Blutvergießen schreit nach Rache. Die hitleristischen Sadisten müssen sich für jeden zertrümmerten Kinderkopf verantworten. Die ganze Welt muss von den Verbrechen der Gestapo erfahren. Aus diesem Grund hat eine sowjetische Gruppe, trotz der wachsamen Aufsicht ihrer Vorgesetzten, sie an bestimmten Orten im Sand begraben und ein Dutzend Figuren nicht verbrannt. […] Die Bedeutung dieser „besonderen Arbeit von staatlicher Bedeutung“ ist klar. Die Mörder versuchen, die Spuren ihrer Verbrechen zu vertuschen. Der Sturmführer verbirgt das nicht. Er sagt: „Feindliche Propaganda verbreitet Gerüchte, dass 80.000 Menschen in Ponary erschossen wurden. Unsinn. Soll in ein paar Monaten jemanden suchen wo und wie er will, keine einzige Figur wird er hier finden.“ Man kann ihm nicht widersprechen. (Farber / Makarov 2006)

Der der deutschen Sprache mächtige Farber erläutert, dass „Figuren ein von den Deutschen befohlener“16 Euphemismus für Ermordete in Massengräbern war – zum Zweck der Geheimhaltung des Prozesses der „Enterdung“: nach außen hin sollte das etwa 80 Personen umfassende Leichenkommando – es bestand aus Leichenziehern, Brennern und Stampfern – vortäuschen, dass es sich um Holzarbeiten handele.

14 Fotos aus „Ėrenburgs Archiv“ mit der Aufschrift „Henker an der Arbeit“ finden sich etwa hier unter: „A panel from an exhibition in the Jewish museum in Vilnius showing execution of Jews.“ http://www.holocaustresearchproject.org/ghettos/vilniusgal/ [2.2.2020] 15 Hier auch als Jurij bzw. Arie Farber angeführt (mit Foto): https://www.infocenters.co.il/gfh/ notebook_ext.asp?book=33967&lang=eng&site=gfh [2.2.2020] Auch in Neumärker und Nachama (2016, S. 265). 16 „‚фигура‘, (немцы велели так называть трупы)“ (Farber / Makarov 2006). Ein Foto von exhumierten „Figuren“ in Ponary findet sich hier: https://bit.ly/2IrDvR5 [2.2.2020]

Aschenschriften

Abb. 0.3

XV

„Figuren“ in Ponary/Paneriai. Fotograf unbekannt; http://www. holocaustresearchproject.org/ghettos/vilniusgal/ https://bit.ly/2It49JF

Der „geheime“ Charakter dieser „Reichssache“ erforderte eine Verschlüsselung, mit deren Hilfe die Fortschritte bei der Leichenbeseitigung gemeldet wurden. Man wählte einen meteorologischen Code. Ihre Statistiken wurden als „Wettermeldungen“ getarnt, als „Niederschlagsgebiete“ bezeichnete man die Orte der Massengräber, die Menge der Leichen wurde als „Wolkenhöhe“ beziffert und die Zahl der nach Abschluss der Arbeiten ermordeten Häftlinge als „Regenmenge“ (Angrick 2018, S. 366–367, 1036). So gab etwa SS-Stubaf Friedrich Hegenscheidt am 28.3.44 einen geheimen Funkspruch durch: „4. Einsatz der SK 1005 A und B, GrS-Auftrag RFSS an SS-Staf. Blobel im Raum BdS-Schwarzes Meer nicht möglich. Erfaßte Niederschlagsgebiete nur noch im Raum KdS-Krim. Einsatz dort bei Front- und Bandenlage z.Zt. untunlich. Transportraum für Gesamtkommando nicht vorhanden. Gerüchteweise verlautet, daß Räumung Krim bevorsteht. Schlage Auflösung beider Kommandos bzw. Einsatz in anderem Raume vor.“17 Paul Blobel leitete ab 1942 die „Enterdung“, wobei er in verschiedenen „Niederschlagsgebieten“ Experimente zur effizienten Beseitigung der Leichen (durch Sprengungen oder in Feuergruben) durchführte.18 17 Barch, B 162/204 ARZ 419/62, Band 1, Bl. 146. Veröffentlicht in Hoffmann 2008, S. 127. Vgl. auch: Sergey Romanov. 9.9.2016. http://holocaustcontroversies.blogspot.com/2016/02/once-more-with-feeling-deniers-and.html [5.2.2020] 18 So etwa im besetzten Weißrussland, wo zu diesem Zweck Patienten psychiatrischer Kliniken eigens ermordet wurden oder in Kulmhof (Warthegau), wo auch die ersten Gaswagen systemaXV

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Zu den Bergen von Asche kommen Berge von ausgehobener Erde, und neue Asche als Produkt des Verbrennens der Exhumierten, mit der man zunächst nichts anzufangen wusste. Die künstlichen Hügel, die die Rote Armee im Juli 1944 vorfand, standen also für mehr als eine einfache Verbrennung. Es war das Begraben und das Ausgraben in einer „Aktion“ der Vertuschung der Vernichtung, die Heinrich Himmler mit einem bürokratischen Neologismus der „Enterdung“ versah. Die Exhumierung von Leichen ist ein Prozess, der zwar auf horrende Weise physisch ist, jedoch eine geradezu metaphysische Dimension hat, nämlich den Massenmord an Millionen unsichtbar und unbeweisbar zu machen; das Wissen – insb. in der Form der im physischen Prozess des Exhumierens eingesetzten Geheimnisträger – konsequent zu vernichten und so den nachfolgenden Generationen die damit verbundene Scham zu ersparen. Das kriminelle Ziel des gigantischen Projekts der alleuropäischen Enterdung von Opfern aus Massengräbern betraf die nationale Sicherheit und das Vermeiden rechtlicher Konsequenzen für jeden beteiligten Kriegsverbrecher, SS-Mann, SD-Offizier,19 durch die Vernichtung der Vernichtung soll eine Entschuldung und ein Vergessen eingeleitet werden. Das Verbrennen der barbarisch Bestatteten soll die Anamnese des Völkermords verhindern. Und das einzige sichtbare Produkt dieser doppelten Vernichtung ist wieder Asche. Sie trägt den Decknamen „[Sonder]Aktion 1005“ und soll alle Erinnerung auslöschen dort, wo Massenmord stattfand, also an den Orten Osteuropas, wo die deutschen Besatzer die meisten Massengräber hinterlassen hatten, die schon im folgenden Sommer am Geruch zu erkennen waren und das Grundwasser zu vergiften drohten. „Aktion 1005“ war eine gefährliche Rückkehr der Verbrecher an den Tatort, doch war sie notwendig, wollte man der Strafe und dem Urteil der Nachwelt entgehen. Bei der Arbeit selbst wurden jüdische Zwangsarbeiter eingesetzt, die man nach getaner Arbeit ebenfalls spurlos verschwinden lassen konnte. Einige wenige dieser jüdischen Zwangsarbeiter überlebten wider Erwarten und wurden von Kameraleuten und Filmemachern befragt. Heute kennen wir die Schicksale der sog. „Arbeitsjuden“ in erster Linie aus Claude Lanzmanns Filmen, sie tragen die Namen Abraham Bomba, Itzhak Dugin, Richard Glazar, Filip Müller, Mordechai Podchlebnik, Simon Srebnik oder Motke Zaidl. Wenig bekannt ist der in zwei Versionen vorliegende Bericht Farbers über seine Arbeit im Sonderkommando von Ponary. Der technisch versierte Ingenieur erklärt die Prozedur des Enterdens und Verbrennens: Das jüdische Kommando musste die „Figuren“ von Sand

tisch als genozidales Werkzeug angewandt wurden. Paul Blobel (Potsdam 1894 – hingerichtet am 7. Juni 1951 in Landsberg am Lech) hatte beim Massenmord an den sowjetischen Juden eine führende Rolle gespielt, etwa beim Massaker in der Schlucht von Babij Jar/Babyn Jar am 29.–30. September 1941 (Neumärker und Nachama 2016, S. 197). 19 Die SS (Schutzstaffel) kontrollierte die Konzentrationslager. Der SD („Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS“, d. i. Heinrich Himmler) war der Geheimdienst der NSDAP und unterstand ab 1939 dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Der SD organisierte und überwachte die SS-Einsatzgruppen, die in den besetzten Gebieten Europas die Vernichtung der Juden in die Tat umsetzten.

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reinigen und dann zu bis zu 4 m hohen Pyramiden aus je 3500 Leichen aufschichten. Die Scheiterhaufen brannten mehrere Tage: Die Figuren brennen länger als 3 Tage – bis ein Aschehaufen mit verbrannten Knochen übrig ist. Diese Knochen werden durch Stampfen in einen Pulverzustand versetzt. Das Pulver wird durch kleine Metallnetze geschaufelt, damit die Asche keine großen Teile enthält, die gesiebte Asche wird mit einer großen Menge Sand gemischt, genug, um die Farbe des Sands nicht zu ändern, und in die Grube (kotlovan) geschüttet, aus der bereits alle Figuren extrahiert sind. (Farber / Makarov 2006)

Zuletzt wurde der Prozess der Vertuschung perfektioniert: Asche wird zerstampft und zermahlen, gesiebt und in einem letzten Schritt der Vertuschung mit Sand vermischt, in die Grube des früheren Massengrabs gefüllt oder als Düngemittel verwendet (wie in den Majdanek-Filmen erklärt). In Lublin/Majdanek wurde diese Arbeit nicht zu Ende geführt, wie man auf Abb. 0.4 sehen kann.

Abb. 0.4

Die Sowjetische Außerordentliche Untersuchungskommission nimmt in Majdanek nicht gänzlich zermahlene Knochen in Augenschein; Foto vom August 1944 mit Kommissionsstempel; https://ds03.infourok.ru/uploads/ex/0c28/0001cd5f-21248a51/ img64.jpg

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„ein Bild zugleich von dem der sich erinnert geben“ […] die Bilder nämlich, die aus allen früheren Zusammenhängen losgebrochen, als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht – wie Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen.20

Der deutsch-jüdische Philosoph Walter Benjamin – zur geologischen und topografischen Genauigkeit mahnend – leitet uns an, wie wahrhaft erinnert werden kann: So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. Im strengsten Sinne episch und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem der sich erinnert geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene andern vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren.21

Auch jener Beschreibung des Durchstoßens der späteren Schichten der Nachkriegszeit widmet sich mein Buch, dem Abtragen des ans Licht beförderten Erdreichs, dem bald ein Schließen der Gräber nachfolgte. Mit der Befreiung des Vernichtungslagers ging auch ein Ignorieren, eine Vernichtung oder Geheimhaltung der Spuren am Tatort der Massenmorde einher.22 Zahlreiche im Jahr 1944 gemachten Aufnahmen waren der Kriegssituation geschuldet – seien es die Filme über Katyn’ oder Majdanek. Auch deshalb ist aus heutiger Sicht kaum festzustellen, wer von den Aufgenommenen im Majdanek-Filmmaterial Täter und wer Opfer ist – unter den Befreiten befanden sich SS-Leute, Funktionshäftlinge, darunter ein redseliger Kapo, der sich als Kommunist zu erkennen gibt. Und ein Mitglied eines „Sonderkommandos“ namens Józef Reznik. Er wurde aus dem Lager in der Lipowa-Straße in Lublin zusammen mit 61 anderen in das Wäldchen Borek bei Chelm gebracht, wo er im Winter 1943/44 Zwangsarbeit leisten musste – der gleichen Stadt Chełm, 65 km östlich von Lublin, in der „flight survivor“ Stanisław Wohl einige Monate später als Befreier begrüßt wurde. Reznik musste im „Sonderkommando 1005 Borek“, geleitet von Herrmann Rohlfing, dienen. Den Zwangsarbeitern sagte man, sie erhielten „als ‚auserwählte Juden‘ eine ,gute und schöne Arbeit.‘“ Doch beim ersten Spatenstich habe Reznik bemerkt, um welche Art von Arbeit es sich handelte. Reznik erinnerte sich daran, dass ihm ein SS-Mann eine Zigarette gab, damit er den aus dem Massengrab ausströmenden Gestank besser ertragen könne. Weiter erinnert er sich: „Ich schrie unwillkürlich auf und sagte zu Rohlfing: ‚Herr, 20 Walter Benjamin: Ausgraben und Erinnern [WBA 398/25]. In: Walter Benjamin Digital. https:// www.walter-benjamin.online/seite/projekte/wba_398_25 [19.1.2020] 21 Walter Benjamin: Ausgraben und Erinnern [WBA 359] https://www.walter-benjamin.online/ seite/projekte/wba_359 [19.1.2020] 22 Bis heute tauchen unverwendete Filmfragmente aus dem Sommer 1944 auf, wie jüngst im Dokumentarfilm zu John Demjanjuk, The Devil Next Door (R: Yossi Bloch und Daniel Sivan, 2019, Netflix), wo angeblich eine Filmszene der Erschießung von Wachpersonal in Treblinka durch den sowjetischen Geheimdienst zu sehen ist. Doch wer hat diese Szene wann gefilmt?

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da liegt doch ein Mensch!‘ Darauf sagte der danebenstehende Raschendorfer: ‚Was hast Du Angst, das sind doch nur Figuren!‘“23 Die Arbeit war die Beseitigung von Leichen, von denen manche dort seit 1941 begraben waren. In den Massengräbern lagen sowjetische Kriegsgefangene (darunter auch Juden), ermordete Polen, italienische Soldaten, Ukrainer, Roma, und jüdische Frauen und Kinder aus der Umgebung. Die Leichen durften nicht beschädigt werden beim Ausgraben – dies geschah nicht aus Gründen der Pietät, sondern zur Feststellung der genauen Zahl der Ausgegrabenen: „Der SS-Mann Theimer sagte uns, wir sollen beim Graben aufpassen und die Ganzheit der ›Figuren‹ nicht verletzen.“ (zitiert in Angrick 2018, S. 833) Aus diesem Grund wurden jeweils genau 1000 „enterdete“ Personen zu Asche gemacht: Das Holz wurde quadratmässig aufgeschichtet, dann wurden auf je eine Holzschicht Leichen gelegt, wobei die Köpfe oft nach außen herausragten. Jede Schicht wurde mit Öl oder Petroleum begossen. Der Scheiterhaufen war einige Meter hoch. In jedem Scheiterhaufen waren genau 1000 Leichen. Der Scheiterhaufen wurde angezündet. (Aussage J. Reznik vom 1.9.1961, Bl. 124f., zitiert in Angrick 2018, S. 832–833)

Reznik war in Majdanek ein erstrangiger Zeuge für diese Vernichtung der Leichen, die sowohl Massenmordopfer als auch corpora delicti waren, seine Erinnerung an die Greuel war frisch und sein Überleben war ein Wunder. Benjamin schrieb, dass „wirkliche Erinnerung zugleich ein Bild von dem der sich erinnert“ (Benjamin 1991, VII/1, S. 401)24 erfordere. Wie ist es möglich, dass Rezniks „Bild“ nicht in die Filme aufgenommen wurde? Dem Filmen der Überlebenden folgt in Moskau ein Aussortieren und Archivieren eines Großteils des einmaligen Filmmaterials, und aus ihrem Zusammenhang gerissen werden die Gefilmten zu „Torsi in der Galerie des Sammlers,“ Figuren in einem strategischen Schachspiel der Befreier. In die Filme gelangte nur das, was sich politisch und propagandistisch eignet, und wenn der Kommunist eine Vergangenheit als Kapo hat, dann wurde auch mal ein Auge zugedrückt: Die Persona des ‚Politischen‘ (der fiktive Tomasek) schlägt das Sonderkommandomitglied (den realen Überlebenden Reznik). Mit Asche Schreiben: Die Gräber von Lublin und Celans Poesie Nicht die forschen Filmleute, sondern die Dichter teilten dem befreiten Osteuropa mit, was im ehemaligen Generalgouvernement Polen gefunden worden war. Es waren durch den Völkermord Verwaiste, die die ersten Grabschriften für die Totenstadt Lublin/Majdanek und die umliegenden Mordstätten verfassen und öffentlich machen konnten. Grossman bereits 1944, Celan im Jahr 1947.

23 Aussage J. Reznik vom 1.9.1961, Bl. 124f., zitiert in Angrick 2018, S. 832–833. 24 Walter Benjamin: Ausgraben und Erinnern [WBA 359] https://www.walter-benjamin.online/ seite/projekte/wba_359 [19.1.2020] XIX

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Paul Celan wusste 1944 um das Ausgraben jenes „Erdreichs“, das das Jetzt der „verbrannten Erde“ und der deutschen Rückzugsverbrechen25 von der „Vergangenheit“ des Genozids trennte, und die vergrabenen, und bald wieder ausgegrabenen „Figuren“ und das Verbrennen der „Torsi“, die zu Asche wurden, unkenntlich gemacht hat. In einem rumänischen Arbeitslager hat Celan selbst die „schwarze Milch der Frühe“26 getrunken, zeitlebens wird er die Natur als von Menschenasche durchdrungen wahrnehmen – so entstehen Gedichttitel wie „Aschenkraut“,27 über die Cineraria congesta, eine Pflanze, die „nasse Wiesen, Ufer, Gräben“ liebt und in Brackwasser wachsen kann,28 und für die ihn Madame Goll verfolgte – als könnte man das Schreiben mit Asche monopolisieren. Wenn Benjamin noch von fruchtbarem Erdreich schreibt, so bleibt Celan nur die Archäologie der genozidalen Erde. Asche wird ihm zum Medium, das Kontakt mit der Vergangenheit hält, denn sie ist Teil der verfärbten und verseuchten Landschaft Osteuropas geworden. Wenn Asche zum Material der Erinnerung und Dichtung wird, entsteht daraus Celans Poetologie, in Gedichten, in denen Pflanzen und Bäume aus der entweihten Erde sprießen, oder in der farblos gewordenen Welt wie im Gedicht der „Espenbaum“, den der Dichter anspricht: „dein Laub blickt weiß ins Dunkel. / Meiner Mutter Haar ward nimmer weiß.“ (aus dem Zyklus Mohn und Gedächtnis, 1952) Celan war einer, der für den Faschismus „graben“ und „schaufeln“ musste. Ein Betroffener und Zeuge, der selbst mit dem „Spaten tiefer in die Erde gestochen“ hat, und später in der „Todesfuge“ vom „Grab in den Wolken“ schreiben wird. Wie wir aus Kafkas „In der Strafkolonie“ wissen, sind das deutsche „Stechen“, wie auch das „Graben“ Synonyme des „Schreibens“ („ganz im Sinne von Adelung als Synonym für ‚graben‘ in der Bedeutung von ‚schreiben‘: ‚Eine Schrift graben, wofür doch stechen üblicher ist‘.“ Bost 2014, S. 7). Der Folterapparat der Strafkolonie ist „Einheit von Schrift und Tod, von Ekstase und Thanatos“,29 und der SS-Mann, der in Celans „Todesfuge“ im Haus wohnt und mit den Schlangen spielt, „der schreibt“ auch, „der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland.“ Das Schreiben ist in dem Gedicht nach dem Trinken das häufigste Verbum, es kommt fünf Mal vor. So sticht Celan mit seinem verbalen Spaten tiefer, das Erdreich des Vergessens zerteilend befördert er die Vergangenheit hervor – gleichzeitig das Erdreich wie auch die Asche selbst als „Medium“ des Vergessens und daher nun auch des Erinnerns enthüllend. Eine wahre 25 „Ab Anfang 1943 zwingt die Rote Armee die Wehrmacht endgültig zum Rückzug. Die Deutschen hinterlassen dabei ‚verbrannte Erde‘. Sie begehen weitere Massenmorde, v. a. an nichtjüdischen Zivilisten, und zerstören die Infrastruktur. Jüdische Zwangsarbeiter des ‚Sonderkommando 1005‘ müssen in der besetzten Sowjetunion Massengräber öffnen und Leichen verbrennen, um so Spuren zu beseitigen. Danach wurden sie ermordet.“ (Neumärker und Nachama 2016, S. 30) 26 Text und die Aufnahme von Paul Celans Rezitation der „Todesfuge“ findet sich hier: https:// www.lyrikline.org/de/gedichte/todesfuge-66 [2.12.2019] 27 Vgl. auch die Zeile „Auch trank ich aus hölzernen Schalen die Asche der Brunnen von Akra“ aus „Ein Lied in der Wüste“. Beide stammen aus Mohn und Gedächtnis (1952). 28 https://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/104458. „Bekanntlich bezichtigte ihn nach dessen Ableben in der sogenannten Goll-Affäre die Witwe des Plagiats.“ (Hrdličková 2019, S. 54) 29 Peter-André Alt 2005, S. 486.

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Drecksarbeit – doch sie ist notwendig, um zur Wahrheit über die Täter, auch die an den Schreibtischen, vorzustoßen. In diesem Sinne, und in tiefer Verbeugung vor denen, die diese künstlerische Arbeit geleistet haben, bemüht sich das vorliegende Buch die historischen Schichten von Majdanek abzutragen – doch nicht, ohne seine Lagen „im heutigen Boden“ zu bezeichnen: „Doch ebenso ist unerläßlich der behutsame, tastende Spatenstich ins dunkle Erdreich. Und der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt.“ (Benjamin 1991, VII/1, S. 400) Oder – wie es in einer Variante des Benjamin-Texts heißt – dafür zu sorgen, dass „neben dem „Inventar der Funde“ […] „auch dies dunkle Glück des Findens selbst in seiner Niederschrift bewahrt“ wird.30 1944 geht es nicht mehr um Archäologie, denn im befreiten Polen ist das Erdreich als „Medium des Erlebten“ mit frischer Asche und Knochen durchmischt. Asche hat es auch in den vom Touristen Benjamin besuchten verbrannten Häusern in Pompei gegeben, doch in Polen war es keine vulkanische Naturgewalt, sondern ein geplantes Verbrennen von Ermordeten, wovon die gigantischen Aschenberge zeugten, die die SS in Lublin/Majdanek hinterließ. Etwa acht Monate vor dem Abzug wurden bei diesem Lager im Rahmen der „Aktion Erntefest“ 18.000 Menschen (die meisten davon als Juden) erschossen – begleitet von lauter Tanzmusik, um die Schreie zu übertönen. An vielen Orten Europas mussten jüdische „Sonderkommandos“ ausgraben, aufschichten und verbrennen, um sodann vom „Meister aus Deutschland“ als Geheimnisträger mit „bleierner Kugel“ erschossen zu werden, und zwar mit „genauer“ Treffsicherheit. Celan spricht zu einem „Du“, dem „ein Grab in der Luft“ geschenkt wird.31 Paul Antschel-Celan weiß mehr als die meisten seiner Zeitgenossen, und dies wird in der Poetik seines im Krieg begonnenen Gedichts offenbar. In seinem „Tangoul morții“ / „Todestango“ dichtet er nichts als die Wahrheit über die Stufen des Völkermords, und seine Metaphern entstanden nicht durch die „Freiheit des Phantasierens“ – wie Holthusen (1954) oder die Gruppe 47 behaupteten. In Celans Gedicht hat jedes Motiv eine historische, musikalische und topografische Referenz, von der konkreten Musikgattung des Todestanzes über die Namen im Gedicht bis hin zum Ort des Geschehens. Und hier erwartet uns eine Überraschung, denn Celans „Todestango“ wurde bei seinem Erscheinen geografisch verortet, und zwar an unserem Tatort. Die einleitenden Worte zum rumänischen Erstdruck des Werks am 2. Mai 1947 in der Zeitschrift Contemporanul lauteten:

30 https://www.walter-benjamin.online/seite/projekte/wba_398_25 [19.1.2020]. 31 „[…] der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau / er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau / ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete / er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft / er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland / dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith“ (P. Celan) https://www.lyrikline.org/de/gedichte/todesfuge-66 [2.12.2019] XXI

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Das Gedicht, dessen Übersetzung wir hier veröffentlichen, beruht auf der Beschwörung einer wahren Begebenheit. In Lublin wie in anderen „nazistischen Todeslagern“ zwang man eine Gruppe von Verurteilten, wehmütige Lieder zu singen, während andere Gräber schaufelten. (Abb. 0.5)32

Abb. 0.5

Das rumänische Periodicum, in dem am 1.5.1947 Celans „Todestango“ erschien; Foto: Irene Fishler 2011; https://1.bp.blogspot.com/-QwGUUUCsjz4/ThnYeRio9AI/ AAAAAAAAOm0/oDsY0DFNK7Q/s1600/IMG_1435.jpg

32 In Kap. 2. werde ich auf diesen Umstand der Genese von Celans Meisterstück eingehen, der auch zu einer neuen Interpretation im Hinblick auf die Referenzen des Gedichts führt.

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Die Kameraleute belichteten wochenlang Filmstreifen und nahmen Zeugnisse in verschiedenen Sprachen auf, doch die Worte vieler Zeugen verschwanden zusammen mit vielen hundert Meter Befreiungsfilm im Orkus der sowjetischen Zensur. In Lublin entwickelte Filmstreifen wurden zu neuen Schichten, die uns durch ihre Abwesenheit von der Vergangenheit trennen. Und doch brach 1944 Wahrheit durch – nicht im technischen Medium, sondern es ist das literarische Wort, das mühelos durch das Erdreich fährt wie der allerschärfste Spaten – „episch und rhapsodisch“, wie Benjamin einst forderte. In einer der größten literarischen Leistungen der 1940er Jahre führt Vasilij Grossman uns in seinem knappen Text direkt in „Die Hölle von Treblinka“, setzt denen ein Denkmal, den die Gegenstände in der Erde oder im Sand gehört haben. Als hätte er Benjamins „Denkbild“ gelesen, lenkt Vasilij Grossman in seiner literarischen Reportage über die „Richtstätte“ Treblinka II seine Aufmerksamkeit auf „die grundlose Erde von Treblinka“, die „wogt wie ein abgrundtiefes Meer“. Hier muss nicht einmal gegraben werden, die dünne Erdschicht wird selbst zum Medium der Erinnerung und erzählt als materieller Träger eine eindringliche Geschichte davon, was hier geschehen ist, denn die Erde „speit Knochensplitter aus, Zähne, Dinge, Papiere, sie will das Geheimnis nicht bewahren. Und die Dinge kriechen aus der berstenden Erde, aus ihren unvernarbten Wunden.“ Der Schriftsteller geht weiter und findet „gelbe, kupferrote wellige, dichte Haare, feine, wunderbar zarte Mädchenhaare sind in die Erde getreten, und daneben liegen helle Locken, und etwas weiter auf dem leuchtenden Sand liegen schwarze, schwere Zöpfe“ (Grossmann 1946, übersetzt von Lilly Becher33). Grossmans archäologisch-forensischer Text ist poetisches Totengebet, Grabinschrift und Anklage zugleich. Das Aufdecken der Wahrheit über die Millionen Ermordeten und das Erinnern an die Toten kann nur Kunst leisten. Etwas Ähnliches strebten offensichtlich die Filmleute an. Doch wie kann man den Völkermord in einem Film zeigen? Mit einem J gestempelte Reisepässe und Tausende von Koffern sind prima-facie-Beweise. Sie tragen Namen und Nummern und gehörten Europäerinnen und Europäern, die zu Asche geworden sind. Dazu kommen künstliche Hügel, es sind Haufen von Schuhen, Scheren und Brillen. Vor diesen surrealen Mounds von Majdanek steht eine Frau, begleitet von Kameraleuten, die mal Russisch, dann Polnisch sprechen. Auch das Lager in der Chopin-Straße im Zentrum von Lublin ist voller beschlagnahmter Dinge: Es sind Kleider, Accessoires, Spielsachen und immer wieder beschriftete Koffer. Wie mir scheint, beginnt hier Olga Mińska-Fords Arbeit in Lublin und Majdanek, im Warenhaus und auf dem „Friedhof Europas“. Mit Sorgfalt durchforscht dieser weibliche Leutnant der „Czołówka Filmowa Ludowego Wojska Polskiego“ („Filmspeerspitze der Polnischen Volksarmee“) die jüngste Geschichte der Juden Europas, deren Lebensweg hier ihr Ende gefunden hat.

33 Ich gehe davon aus, dass es sich bei der Übersetzerin um J. R. Bechers letzte Frau Lilly handelte, die 1901 in eine Nürnberger jüdische Familie geboren wurde. XXIII

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In den ersten Kriegsjahren werden die Aschehügel von Majdanek zu einem anonymen Mound des Gedenkens zusammengefasst, auf den ich im letzten Kapitel zurückkommen werde. In Polen stehen einige kegelförmige Hügel dieser Art, so etwa der 1823 errichtete „Kosciuszko Mound“ in Krakau, dem polnisch-amerikanischen Kämpfer für Freiheit, gegen Sklaverei und für Bürgerrechte gewidmet.34 Es handelt sich um einen nationalen Erinnerungsort, der keine sterblichen Überreste enthält. Der Mound von Majdanek ist jedoch ein überirdisches Massengrab, ein Hügel aus Asche, der zur Erinnerung an die Toten mit einem Kreuz versehen wurde, wie auf dem Foto auf Abb. 0.2 zu erkennen ist – auch wenn die Asche in erster Linie von Juden Polens und Europas stammt. So wird das 1943–44 Ausgegrabene zu einem stummen Denkmal, dem Vergessen anheimgestellt.

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Hrdličková, Jana. 2019. Zweiter Weltkrieg und Shoah in der deutschsprachigen hermetischen Lyrik nach 1945. Habilitationsschrift, Brno 2019. https://is.muni.cz › Habilitace_Hrdlickova_2019_PDF Zugegriffen: 29.12.2019. Leslie, Esther. 2006. Ruin and Rubble in the Arcades. In: Walter Benjamin and the Arcades Project (Walter Benjamin Studies), hrsg. B. Hansen, 87–112. London: Continuum. https://eprints.bbk. ac.uk/5695/ Neumärker, Uwe (Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas) und Andreas Nachama (Stiftung Topographie des Terrors) (Hrsg). 2016. Massenerschießungen. Der Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer 1941–1944. Katalogband zur gleichnamigen Ausstellung. Berlin: Topographie des Terrors. Schmitz, Walter. 2010. „Was hat unsereiner denn eigentlich getan?“ Die Erinnerung an die Shoah im Werk Max Frischs. In: Die ersten Stimmen: Deutschsprachige Texte zur Shoah 1945–1963, hrsg. Ruth Vogel-Klein, 243–69, Würzburg: Königshausen & Neumann. Scholem, Gershom (Hrsg.). 1980. Walter Benjamin/Gershom Scholem. Briefwechsel 1933−1940 Frankfurt: Suhrkamp. Stiehler, Heinrich. Schwarze Flocken, Die Zeit, 27.11.1995, https://www.zeit.de/1995/44/Schwarze_Flocken/komplettansicht Zugegriffen: 1. Oktober 2019. Szondi, Peter. 2003. Celan Studies. Stanford: Stanford UP. Wiedemann, Barbara. 2010. Enthüllt. Welt 9.10.2010. https://www.welt.de/print/die_welt/vermischtes/ article10169465/Enthuellt.html Zugegriffen: 10. August 2019. Wohl, Stanisław. 1969. W Chełmie i Lublinie: O historycznych dniach lipca 1944 roku. Film 9 (28/9): 8–9.

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Inhalt Inhalt Inhalt

1 KL Lublin und Vernichtungslager Majdanek 1944–45: Namen der Orte – Personen – Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Das „furchtbare Wort“ und der Koffer der Rosa Stern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Majdan(ek) als Schau- und Kampfplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.2.1 Erster Befreiungsfilm oder sowjetische „Gräuelpropaganda“? . . . . . . . . 15 1.2.2 Das jüdische und das polnische Lublin 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.3 Der Titel Majdanek – cmentarzysko Europy: Der Friedhof Europas als universelle Trope des KZ-Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.4 Weiße Stellen in der Filmografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.4.1 „Sojuzversion“ und „Exportversion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.4.2.1. Die polnische Version (UA 11/1944). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2.2. Die russische Version (UA 1/1945) 1.4.2 Rekonstruktion der Versionen aus Montagelisten, Vorspann, Filmografien und Katalogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.5 Vertovs Novosti dnja № 18 über Lublin (November 1944) . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.6 Majdanekaufnahmen in Deutschland, den USA und nach Kriegsende . . . . . 48 2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption und Darstellung des Genozids an den Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Begriff des „Holocaust“ im osteuropäischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Auf der Suche nach einem Namen für den Genozid an den Juden . . . . . . . . . 2.3 „Chasidic gothic mode“? Die Grabstätte als Motiv des jiddischen Films . . . . 2.4 Erste Filme über den Holocaust oder die farnichtung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 ‚Nach Majdanek‘ – der historische Rezeptionskontext von Paul Celans „Todesfuge“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Die „Meister aus Deutschland“ – Celans Konfrontation mit der farnichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Celan in der Nachkriegs-BRD: „Fremdling und Außenseiter der dichterischen Rede“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57 57 63 79 84 90 95 99

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Inhalt

2.5.3 Rumänischer Surrealismus, Cadavre exquis und die „reale Begebenheit“ von Lublin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2.5.4 „Niederschlagsgebiete“ und Vorgeschichten der Literaturwissenschaft nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2.5.5 „Schaufeln“ in Rumänien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3 Schädel, Objets trouvés und fiktiver Rauch: Wie und wozu Orte der Vernichtung filmen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das von den Kameras der Roten Armee „auf frischer Tat ertappte“ Lager? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Juristische Aspekte und visuelle Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Topik und Poetik sowjetischer Exhumierungsfilme . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Grauen, Detail und Zeuge als Verfahren der evidentia . . . . . . . . . . . . . 3.3 Ästhetische Bezugspunkte: Expressionismus und Surrealismus . . . . . . . . . . 3.4 Tomaseks „Kamin des gewesenen Krematoriums“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Das 1944 aufgezeichnete und vernichtete Lager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Majdanek als kapitalistisches „Lager der Vernichtung“ . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Literarische Bewahrung des Vernichteten: Vasilij Grossmans „Die Hölle von Treblinka“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 „Anna Weissbarth“ und Spuren eines Zensureingriffs? . . . . . . . . . . . . 3.5.4 Der antifaschistische Film: Marxistische Analyse statt „erster Film über den Holocaust“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.5 Treblinka II: „Ober-Majdan“, eine fiktive Station der realen farnichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.6 Totalitär belasteter Boden: Exhumierung damals und heute . . . . . . . . 3.6 Was die „Filmdokumente“ 1944 hätten bewirken können . . . . . . . . . . . . . . . 4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Operation Bagration und die Heimatarmee im Sommer 1944 . . . . . . . . . . . . 4.1.1 „Die tragische Stadt Lublin“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Befreiung von Lublin und Einnahme von Majdanek . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Arbeit der Untersuchungskommission und inszenierte Filmdokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Katyn’ und Majdanek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Wer filmte 1944 in Katyn’? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Im Wald von Katyn. Dokumentarische Bildstreifen (1943) und Filmdokumente aus Majdanek (1944–45) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die ersten Berichte der sowjetischen und die Reaktionen der internationalen Presse im August 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Der kleine Unterschied: Lubliner farnikht.ungs-lager Maydanek.. vs. Vernichtungs-Lager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121 124 128 130 134 135 140 143 143 147 151 152 156 166 170 179 179 180 182 187 189 192 195 198 202

Inhalt

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4.6 Karmens Spezialaufgaben: Kameramann und Journalist . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Fehlende filmische Steckbriefe der Herren des Lubliner „Todeskombinats“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 Diskussionen um die Authentizität der Filmaufnahmen und Holocaustleugnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Deutsche Gegenpropaganda: Die Theresienstädter Duschen im Sommer von 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 Produktion der Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Zur Wahl des Filmsets Majdanek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Postproduktion in Lublin und/oder Moskau? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Filmset Lublin: Globocniks Ghettos und das „liederlichste Lager“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Die „Filmfabrik“ in Globocniks ehemaliger Villa und eine Tonkamera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Die ersten Montagelisten zum „Vernichtungskombinat Majdan“ . . . . 5.2.5 Widersprüchliche Überlieferungen zum Aufnahmebeginn und den Teams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.6 Die Montagelisten von Lublin/Majdanek als Primärquelle und heuristisches Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.7 Kooperation der Filmleute in Lublin und Majdanek . . . . . . . . . . . . . . .

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6 Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten . . . . . . . 6.1 Unterschiede zwischen der polnischen und der russischen Version . . . . . . . 6.2 Der Appell an die „jüdischen Brüder“ und die Filmpremiere in der Stadt des Lubliner Komitees . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die verspätete Majdanek-Nachricht und der Warschauer Aufstand . . . . . . . 6.4 Aufenthaltsorte der Majdanek-Teams in der 2. Hälfte des Jahres 1944 . . . . . 6.5 Bulganin in Lublin und kein „Wunder an der Weichsel“ im Jahr 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Geheimabkommen zum sowjetischen Oberbefehl und PKWN-Dekrete . . . 6.7 Der polnische Herbst 1944: Stalin und Serov ziehen die Schrauben an . . . . 6.8 Zensur im befreiten Volkspolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

7 Die Filmteams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die Filmspeerspitze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Aleksander und Olga Ford – von Legion ulicy bis zu Film Polski . . . . 7.1.2 Jerzy Bossak: Von der Grabstätte Europas (1944) zum Requiem für 500 000 (1962) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Die Forberts: jiddisch-polnische Filmkultur, sowjetische Internierung und Filmarbeit in Zentralasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: (Unterschlagene) Aufnahmen aus Auschwitz und die Genossenschaft Kinor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.4 Olgierd Samucewicz / Oleg Samucevič . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.5 Evgenij Efimov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.6 Stanisław Wohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.7 Ludwik Perski und Ljudmila Nekrasova/Ludmiła Niekrasowa . . . . . 7.1.8 Władysław Krasnowiecki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die sowjetischen Kameramänner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 R. L. Karmen – Die Familien Muskat-Leipuner und KorenmanKarmen aus Odessa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Viktor Štatland und Avenir Sof’in . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 „Mehrheitlich jüdisch?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Film-Vorschriften und Zensur: das unterdrückte Zeugnis und „organisierte“ Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Drehanweisungen, Motivlisten und der Faktor der sowjetischen Zensur . . . 8.2 Die Montageliste von 1949: „Regisseur“ Setkina und die getilgten ‚jüdischen‘ Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Der mehrstufige Zensurprozess im Allgemeinen und im Besonderen . . . . . 8.4 Gefilmte Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1 Die unterschlagene Tonaufnahme des SonderkommandoMitglieds J. Reznik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Fiktive und echte Nationalitäten der Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.3 Das Anton Behnen-Missverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Reznik sagt aus – in Lublin (1944) und in Jerusalem (1961) . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Weitere Überraschungen im archivierten Filmmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7 Opferbiografien und -narrative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7.1 Die gestreifte ‚Uniform‘ des politischen Gefangenen . . . . . . . . . . . . . . . 8.7.2 Kapo 181 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Doppelgänger in Wien. Leopold Tomasek / Tomašchek – Karl Tomašek – Ludwig Tomas(ch)ek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8 Das falsche Familiengrab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.9 Der Name Tomasek in Majdanek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.10 „Er war ein sehr guter Kamerad“ – Soswinskis Zeugnis zu Tomasek . . . . . . 8.11 Opferuniversalismus und Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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421 421 424 434 440 441 443 444 447 451 454 456 461 466 472 474 477 481

Inhalt

9 Die ersten Filme über die farnichtung: Chancen und Hindernisse . . . . . . . . . . . 9.1 Die verschenkte Gelegenheit einer medialen Intervention . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Karmens Widersacher: Viktor Štatland und Vasilij Stalin? . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Die Ausnahme-Poetik der Majdanek-Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Funktionen des Filmmaterials 1944–45 und Nachkriegsbiografien . . . . . . . 9.5 Unterdrückte Filmkader vs. Undarstellbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6 Luftbilder und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7 Europäische Pläne für die Majdanek-Aufnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.8 Majdanek in Bernsteins German Concentration Camps Factual Survey . . . . 9.9 „Majdanek“ als gescheitertes Projekt sowjetischer Propaganda? . . . . . . . . . . 9.10 Grabstätten und Kenotaphe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abb. 0.1 Polen – Sowjets – Deutsche im August 1944 in Majdanek vor einem geöffneten Massengrab; Foto links: Michail Trachman, rechts: Autor unbekannt, möglicherweise Samarij Gurarij; http://www.artnet.de/ k%C3%BCnstler/mikhail-trachman/citizens-of-majdanek-mourningthe-concentration-ciqcIJ0jbPj_2tf3uDU22g2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Abb. 0.2 Später begrünter Berg aus Menschenasche vor dem Schornstein des Krematoriums, Foto 1947; Quelle: Archiwum Państwowego Muzeum na Majdanku (APMM), http://www.majdanek.com.pl/gallery/majdanek/ k-d/k-d(m).html [6.2.2918] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Abb. 0.3 „Figuren“ in Ponary/Paneriai. Fotograf unbekannt; http://www. holocaustresearchproject.org/ghettos/vilniusgal/ https://bit.ly/2It49JF . . . . 13 Abb. 0.4 Die Sowjetische Außerordentliche Untersuchungskommission nimmt in Majdanek nicht gänzlich zermahlene Knochen in Augenschein; Foto vom August von 1944 mit Kommissionsstempel; https://ds03. infourok.ru/uploads/ex/0c28/0001cd5f-21248a51/img64.jpg . . . . . . . . . . . . 15 Abb. 0.5 Das rumänische Periodicum, in dem am 1.5.1947 Celans „Todestango“ erschien; Foto: Irene Fishler 2011; https://1.bp.blogspot.com/QwGUUUCsjz4/ThnYeRio9AI/AAAAAAAAOm0/oDsY0DFNK7Q/ s1600/IMG_1435.jpg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Abb. 1.1 Fotografie V. Temin auf der Webseite des Multimedia Art Museums Moskau, versehen mit der Unterschrift: „Igruški plennych detej, Majdanek“/ „Spielsachen kriegsgefangener Kinder“, mit dem symbolischen Befreiungsjahr 1945 post-datiert.Quelle: https:// russiainphoto.ru/photos/62357/ МАММ / МДФ [12.12.2017] . . . . . . . . . . . . 6 Abb. 1.2 Die Fotografen und Korrespondenten Viktor Temin, Evgenij Chaldej und Evgenij Dolmatovskij vor dem Reichstag am 2.5.1945; https:// russiainphoto.ru/photos/63150/ [5.3.2019] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

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Abb. 1.3 United States Holocaust Memorial Museum, aus dem Archiv von Dorothy Isaacsohn, https://collections.ushmm.org/search/catalog/ pa1118749 [5.10.2018] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Abb. 1.4 Esther Yocheved Meiersdorf: „Portrait of a young Jewish girl holding a porcelain doll“ (Polen, vor 1939); United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Zev and Yehudit Malach; https://collections. ushmm.org/search/catalog/pa1084108 [5.10.2018] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Abb. 1.5 Die aus ihrem Kontext gerissene Puppe in der Lubliner Chopinstraße in den Filmen (1944 und 1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Abb. 1.6 Die Lubliner Bevölkerung trauert um die anonymisierten Opfer von Majdanek; Foto: V. Temin. Quelle: МАММ / МДФ [5.10.2017] . . . . . . . . . . 13 Abb. 1.7 Fotograf: Falk, Mitglied einer Propagandakompanie, fotografiert orthodoxe Juden im September 1939; Originalbeschriftung: „Lublin, Männliche Juden eilen im Laufschritt durch die Stadt; PK 637 (Ost)“; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_101I012-0048-17,_Polenfeldzug,_Juden_in_Lublin.jpg?uselang=de . . . . . . . . . . 18 Abb. 1.8 Wachen, Spaten und Schädelreihen an einer „Grabstätte Europas“. Fotograf unbekannt. https://commons.wikimedia.org/wiki/ Category:Treblinka_extermination_camp?uselang=de#/media/ File:Z%C5%82ote_%C5%BCniwa-Treblinka_fotografia.jpg . . . . . . . . . . . . . 22 Abb. 1.9 „MAJDANEK. Dokumentarfilm über das Todeslager“, letzte Zeile: „1. November 1944 – 570 m“ (Abb. in Goergen 2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Abb. 1.10 Vorspann der polnischen Version (FINA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Abb. 1.11 Zwei „MAJDANEK“-Titelkarten der 1940er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Abb. 1.12 Das Kino Novosti dnja auf dem Tverskoj Bul’var (früher: Velikij nemoj), Moskau 1948. Fotograf unbekannt; https://pastvu.com/p/35084?fbclid= IwAR1ftNg5Y9NXBasr9bVxJZR9kpFLy2JtxjMuDH6ZVic0T6wyAffx lEcIyAU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Abb. 1.13 Der deutsche Vorspann: „Filmdokumente“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Abb. 1.14 Deutscher Vorspann und Eindeutschung der drei sowjetischen Kameraleute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Abb. 2.1 „Smoke over Majdanek – 3 November 1943“; https://www. holocausthistoricalsociety.org.uk/contents/naziseasternempire/ aktionerntefest.html . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Abb. 2.2 Vermutlich ein Tefillin (jüdischer Gebetsriemen), aufgenommen in Treblinka im Sommer 1945, abgebildet in J. Gumkowski, A. Rutkowski, Treblinka, Warszawa 1962; https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/8/8b/Treblinka_death_camp_summer_1945_02.jpg? uselang=de . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

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Abb. 2.3 Judenstern aus Klooga in Filmdokumente über die von den deutschfaschistischen Invasoren verübten Gräueltaten (1945/46) . . . . . . . . . . . . . . . 79 Abb. 2.4 Zygmunt Turkow und Henryk Tarło auf dem Friedhof von Vilna (aus dem Film Tkies khaf, 1924, Studio: Leo Forbert); Abb. in Hoberman 1991, S. 79 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Abb. 2.5 Der Schädel des toten Geliebten im Film Der dibbek (1937) . . . . . . . . . . . . . 83 Abb. 2.6 Hinweise auf die farnichtung im polnischen Vorspann . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Abb. 2.7 Olga (links unten) und Aleksander Ford beim Dreh von Ulica Graniczna (1948), in Barrandov bei Prag, Kino 4, 3.3.1949, č. 5, II. . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Abb. 2.8 Rauchbilder: Konspirative Fotos von Alberto/Alex Errera (Sonderkommando) in Auschwitz II-Birkenau im August 1944; https:// de.wikipedia.org/wiki/Holocaust_(Begriff)#/media/File:Auschwitz_ Resistance_280_cropped.jpg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Abb. 3.1 Rauch im befreiten Majdanek; Film Majdanek – cmentarzysko Europy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Abb. 3.2 Finger zeigt auf exhumierten Schädel und Bäuerinnen in Vskrytie moščej Sergija Radonežskogo (1919) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Abb. 3.3 Die Majdanek-Evidenz 1944: ante oculos ponere; Foto: unbekannt; Yad Vashem; http://www.majdanek.com.pl/gallery/majdanek/ archiwalne/big/35.jpg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Abb. 3.4 Eine Toilette, „NUR für SS“; Film Majdanek – cmentarzysko Europy . . . . 136 Abb. 3.5 Das Schädel- und Kohlfeld im Film Majdanek – cmentarzysko Europy . . 137 Abb. 3.6 Zyklon-B- Kristalle. Cernas-geste im Foto von Viktor Temin. Quelle: МАММ / МДФ; Останки пленных концлагеря Майданек . . . 138 Abb. 3.7 und 3.8 Die hyperbolischen Formen Majdaneks: Knochenpyramiden und Schuhberge: Film Majdanek – cmentarzysko Europy . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Abb. 3.9 und 3.10 Die Produkte der Fabrik Majdanek: Schuhe und Scheren „aus Europa“ . . 146 Abb. 3.11 Das Nichts hinter dem Stacheldraht auf der deutschen Ausgabe von Grossmans „Die Hölle von Treblinka“ (Moskau 1946) . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Abb. 3.12 „Der Patriotismus der Sowjetbürger zeigt sich in großartig gebauten Fabriken. I. Stalin“ (antisemitisches nationalsozialistisches Plakat aus der Zeit des 2. Weltkriegs, das sich auf Russisch an die Bewohner der besetzten Gebiete wendet) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Abb. 3.13 Ein Foto von Karmen in Majdanek, wie er die in eine DreiecksOrdnung gebrachten und aufgerichteten Schädel filmt, die in eine

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Richtung schauen (vgl. Abb. 1.6, wo die Schädel durcheinander liegen). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Abb. 3.14 Artikel von Oleg Chlebnikov über die von den blauen Dienstmänteln der begrabenen Polen verfärbte „blaue Erde“ bei Tver’ in der Novaja gazeta vom 24.4.2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Abb. 3.15 Kaliber 7,65 mm. Munitionsverpackung der Fa. Genschow, die 1995 in Mednoe gefunden worden war [Screenshot aus dem Internet 28.4. 2019]; https://www.worthpoint.com/worthopedia/ammo-box-lugerp08-65-geco-parabellum-478835643 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Abb. 3.16 Im Artikel „Archäologie des Terrors“, 5.11.2015 http://www.radiodienst. pl/archaeologie-des-terrors/ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Abb. 4.1 Von der Sowjetischen Außerordentlichen Untersuchungskommission gestempeltes Majdanek-Foto (1944) http://i.imgur.com/n6c7Vc8.jpg . . . . 188 Abb. 4.2 Screenshot des Vorspanns: Tragedija v Katynskom lesu / Tragödie im Wald von Katyn’ (März 1944) mit dem Begriff „Kinodokumenty“ (Filmdokumente) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Abb. 4.3 Exhumierungen und Familienfotos aus den Gräbern: Screenshots aus dem Film Im Wald von Katyn. Dokumentarische Bildstreifen (Deutsches Reich, 1943); https://www.youtube.com/watch?v= ThkUp0rning [15.3.2018] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Abb. 4.4 Katalogkarte des sowjetischen Films „Die Tragödie im Walde von Katyn“, „Bild A. Lewitan“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Abb. 4.5 Maïdanek, un camp d’extermination. Suivi du compte rendu de la commission d’enquête polono-soviétique, erschienen 1945 in Paris . . . . . . 198 Abb. 4.6 Lubliner farnikht. ungs-lager Maydanek.. Moskau: OGIZ, Melukhefarlag „Der emes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Abb. 4.7 Ohne Toponym: Zwei Deutschsprachige Ausgaben (Moskau 1944 und Berlin o. J.); polnische („Lager der Vernichtung“, Moskau 1944) und tschechische Ausgabe („Todeslager“, Praha: Nakladatelství Svoboda, 1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Abb. 4.8 Außenaufnahme: „Eine der sechs Gaskammern“; Majdanek. Kinodokumenty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Abb. 4.9 Schaltraum für Gas und Guckfenster; Majdanek. Kinodokumenty . . . . . . 220 Abb. 4.10 Das vergitterte Guckfenster in der Wand; Majdanek. Kinodokumenty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Abb. 4.11 Zurück nach draußen: Schild „Bad und Desinfektion II“ auf Holzbaracke; Majdanek. Kinodokumenty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

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Abb. 4.12 Zugangsbad (Duschraum) in Baracke Nr. 41, der der Gaskammer vorgelagert ist (mit Kommissionsmitgliedern nur in der russischen Version); Majdanek. Kinodokumenty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Abb. 4.13 Der gleiche Duschraum mit Fenstern im Jahr 2019 in Baracke Nr. 41 (vgl. 4.12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Abb. 4.14 Umkleideraum im Männerbad mit Cyanid-Spuren, der auch zur Entwesung verwendet wurde (Baracke Nr. 41) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Abb. 4.15 Kohlenmonoxid-Flaschen für eine der Gaskammern und das im Film aufgenommene Guckfenster (vgl. Schaltraum 4.10., dort noch mit Leitungen) im „Badehaus und Gaskammer für Männer“ (Baracke Nr. 41) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Abb. 4.16 Position des Gitters im Guckfenster im Schaltraum des „Badehauses und Gaskammer für Männer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Abb. 4.17 Eine der fensterlosen Gaskammern im „Badehaus und Gaskammer für Männer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Abb. 4.18 Eine weitere fensterlose Gaskammer mit sichtbaren Blausäure-Spuren im „Badehaus und Gaskammer für Männer“ (Baracke Nr. 41) . . . . . . . . . . 226 Abb. 4.19 und 4.20 Männerduschen und Männerumkleideraum in Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (1944–45) . . . . . . 229 Abb. 4.21 und 4.22 Die Männer verlassen das „Zentralbad“ in einer Holzbaracke; Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Abb. 4.23 Das Vorzeige-Lager auf deutscher Seite: universelle Baracken in Theresienstadt in Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Abb. 4.24 Die Bade- bzw. Gasbaracken in Majdanek ca. 2005. Fotograf unbekannt; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Majdanek__enterace.jpg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Abb. 5.1 Arbeit am Kommentar und Vorzensur in Odilo Globocniks ehemaliger Villa in der ul. Boczna Lubomelskiej 4/6, erbaut 1937 von Tadeusz Witkowski. Quelle: http://bloglublin.blogspot.de/2014/ 12/willa-prowizora-haberlau-i-aptekarza.html . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Abb. 5.2 Unbekannter Fotograf; vorne: Das jüdische Viertel in den 1930ern; https://pl.wikipedia.org/wiki/Dzielnica_%C5%BCydowska_w_ Lublinie#/media/File:Lublin_z_lotu_ptaka_lata_30te_(01).jpg . . . . . . . . . 248 Abb. 5.3 Roman Karmen und Adolf Forbert filmen in Majdanek mit der 35 mm Akeley Tonkamera (abgebildet in Jewsiewicki 1972) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 XXXVII

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Abb. 5.4 Zum Vergleich: Eine Akeley Sound Newsreel Camera, verwendet im Jahr 1945 auf Borneo. https://www.awm.gov.au/index.php/ collection/C201973 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Abb. 5.5 VS 1008: Erste Seite der langen Montageliste von Karmen (aus Fomin 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Abb. 5.6 Vladimir Tomberg (Bild aus Fomin 2018, S. 156) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Abb. 5.7 Fotograf: V. Temin (?). „Lagerhäftlinge nach ihrer Befreiung am 22.7.1944“. (Laut Fotoarchiv Yad Vashem 933/8/27); http://www. yadvashem.org/yv/ru/holocaust/about/chapter_5/images/death_ camps/05.jpg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Abb. 5.8 Simonov und seine dritte Frau Valentina Serova, der er sein Gedicht „Ždi menja!“ / „Wart auf mich!“ (1941) gewidmet hatte. Hier: Die Schauspielerin während ihrer Konzertreise an der Front. Fotograf unbekannt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Abb. 5.9 Tabelle der in Lublin/Majdanek durch die sowjetischen Kameraleute erstellten Montagelisten (montažnye listy) von Juli-August und November 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Abb. 5.10 Montageliste über doppelte Aufnahmen („plany dublirovany“) . . . . . . . . . 279 Abb. 6.1 Befreite hinter Stacheldraht in Majdanek. Kinodokumenty (RU) . . . . . . . . 286 Abb. 6.2 Stacheldraht trennt die Kamera der Befreier vom SS-Wachpersonal in Majdanek. Kinodokumenty (RU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Abb. 6.3 Sowjetische Kriegsgefangene in nicht in die Filme aufgenommenen Aufnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Abb. 6.4 Die 7. Seite der „Kopie der Montageliste“ 1949; Einstellung 84 wurde zensiert „gemäß Rundschreiben Nr. 50/49“ („iz’’jato soglasno cirk. Raspr. Nr. 50/49“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Abb. 6.5 Schild „Bad und Desinfektion I“ („das echte Bad“); nur in der polnischen Version: Majdanek – cmentarzysko Europy . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Abb. 6.6 Anzeige für den im Bałtyk laufenden Film Tkies khaf / Ślubowanie / Die Verlobung (R: H. Szaro, Leo-Film) in der Zeitung Lubliner Sztyme, 10, 1937, nr 46, www.polona.pl; Quelle: https://teatrnn.pl/ miastozydowskie/kino-teatr-widowiska/ [10.4.2018] . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Abb. 6.7 Im sowjetischen Konsulat 1943 in den USA: Icik Fefer (Feffer), Sänger und Aktivist Paul Robeson, Michoel’s; Quelle: https://legallegacy. wordpress.com/2017/08/12/august-12-1952-night-of-the-murderedpoets/ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Abb. 6.8 Der Physiker Albert Einstein mit Dichter Fefer und Schauspieler Michoel’s, USA, 1943; https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Itzik_Feffer,_Albert_Einstein_and_Solomon_Mikhoels_1943.jpg . . . . . . 300

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Abb. 6.9 Links, mit Vollbart: Sommerstein; Majdanek – Opfer und Täter . . . . . . . . . 302 Abb. 6.10 Deutsche Foto-Dokumenta-tion der sowjetischen MajdanekPropaganda in Ostpreussen „With Mai-danek‘s memory unceased, fighter, wreack more havock on the beast!“; Bundesarchiv Bild_1461987-062-17A https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_ Bild_146-1987-062-17A,_Ostpreu%C3%9Fen,_Goldap.jpg . . . . . . . . . . . . . 307 Abb. 6.11 Die Maschinenpistole der Heimatarmee, genannt Błyskawica; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Uprising_defender.jpg . . . . . . 308 Abb. 6.12 Untergrund-Radio Błyskawica; http://www.warsawuprising.com/ paper/radio.htm [10.4.2018] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Abb. 6.13 und 6.14 Frauen und Kinder in Pfadfinderbataillonen kämpfen im Warschauer Aufstand um die Freiheit ihrer Stadt. Foto rechts: Tadeusz Rajszczak („Maszynka“) und Henryka Zarzycka-Dziakowska („Władka“) kommen aus dem Kanal in der Warecka-Straße (Jerzy Tomaszewski, 2.9.1944); https://sassik.livejournal.com/19998.html; https://wwwwww.ipn.gov.pl/en/news/2041,Photographs-from-the-WarsawUprising.html . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Abb. 6.15 Fotograf: Juliusz Bogdan Deczkowski. Jüdische Gefangene des Warschauer Gęsiówka-Lagers nach ihrer Befreiung durch polnische Heimatarmee-Einheiten am 5.8.1944; in Tadeusz Sumiński (Hg.), Pamiętniki żołnierzy baonu „Zośka“. Warschau: Nasza Księgarnia 1959; https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f5/Jewish_ prisones_of_KZGesiowka_liberated_by_Polish_Soldiers_of_Home_ Army_Warsaw1944.jpg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Abb. 6.16 und 6.17 Zivia Lubetkin. Porträt und Aussage beim Eichmann-Prozess. Foto: Unbekannt; https://wagner.edu/holocaust-center/survivorcollections/women-resistance/; http://www.infocenters.co.il/gfh/ notebook_ext.asp?book=18612&lang=eng&site=gfh . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Abb. 6.18 Die Filmgruppe der 1. Belorussischen Front nach dem Sieg (Berlin, Mai 1945); Abb. Aus Fomin 2018. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Abb. 6.19 Demonstration gegen die „Londoner Reaktion“ in Lublin („Fotografia z 1945 r. – manifestacja na Krakowskim Przedmieściu w sprawie Tymczasowego Rządu Narodowego“; ML/H/12/F/37). Foto von Władysław Forbert; http://teatrnn.pl/kalendarium/sites/default/files/ imce/4/6._copy.jpg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Abb. 6.20 „Sitzung des PKWN“ in Lublin (ML/H/12/F/21). Foto: Władysław Forbert (1944) – http://teatrnn.pl/kalendarium/node/1785 . . . . . . . . . . . . . 332 XXXIX

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Abb. 6.6 Einige Monate später, „Rückkehr der Mitglieder des PKWN aus Moskau, 1944“ („przylot członków PKWN z Moskwy, 1944“ ML/H/ 12/F/24). Fotograf: Władysław Forbert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Abb. 7.1 Alexander Ford, Quelle: Nathan Gross: Die Geschichte des jüdischen Films in Polen. 1910–1950, Magnes Press, The Hebrew University, Jerusalem 1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Abb. 7.2 Nach der Premiere von Legion ulicy, 1932: Olga Mińska-Ford(owa) ganz rechts, dritter von rechts: Kazimierz Prusiński, Direktor des Kinos Stylowy; sitzend: links, Maria Hirschbein; in der Mitte: Aleksandra Piłsudska. Foto in Swiat 27, Nr. 15, 9.4.1932 . . . . . . . . . . . . . . . 352 Abb. 7.3 Plakat für den Tonfilm Sabra / Chalutzim (1933; A. und Olga Ford); https://zacheta.art.pl/pl/kalendarz/sabra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Abb. 7.4 Liste der Filmspeerspitze vom 18. April 1945, in Jewsiewicki 1972, S. 217, mit A. Ford, der hier u. a. als „künstlerischer Leiter“ bezeichnet wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Abb. 7.5 Foto von Janina Wieczerzyńska, Mutter von Aleksander (*1944); https://www.myheritage.com/names/janina_wieczerzy%C5%84ski . . . . . 360 Abb. 7.6 Abb. 7.6 Foto aus dem Bildteil von Jewsiewicki 1972: Wanda Wasilewska, Zygmunt Berling und Kaplan Franciszek [sic!] Kubsz . . . . . . 362 Abb. 7.7 Georgij Žukov auf dem Cover der amerikanischen Illustrierten Life, 31. Juli 1944. Foto: Gregory Weil; https://en.wikipedia.org/wiki/ Georgy_Zhukov#/media/File:Zhukov-LIFE-1944.jpg . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Abb. 7.8 Jerzy Bossak. Fotograf unbekannt https://ru.wikipedia.org/wiki/ Боссак,_Ежи . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Abb. 7.9 Plakat für Requiem dla 500 000 von Leszek Holdanowicz . . . . . . . . . . . . . . 380 Abb. 7.10 Yehudia Sommerlager für orthodoxe Kinder in Długosiodło (2. Polnische Republik). Fotografie: Leo Forbert; https://www.pinterest. com.au/pin/261208847109272132/ [5.9.2018] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Abb. 7.11 Leo Forbert (in der Mitte sitzend) mit der Crew des Films Der Lamedvovnik / Jeden z 36 / Einer von 36; 1925; R: Jonas Turkow); Abb. in Hoberman 1991, S. 81 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Abb. 7.12 Befreiungskameramann Władysław Forbert in den 1940er Jahren, aus dem Film Mand med Kamera (1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Abb. 7.13 Aus dem Bildteil von Jewsiewicki 1972: W. Forbert, L. Perski und W. Krasnowiecki in Aschgabat (1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Abb. 7.14 Oleg Samucevič (Foto aus Fomin 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Abb. 7.15 Abb. 7.15 Evgenij Efimov (Foto aus Fomin 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

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Abb. 7.16 Wohl nach dem Krieg http://www.filmpolski.pl/fp/index.php?osoba =119367 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Abb. 7.17 Ludmiła Niekrasowa und Luwik Perski. Fotograf unbekannt; https://bit.ly/2SJ3kAZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Abb. 7.18 Krasnowiecki als Gen. Bourgoyne in G. B. Shaws The Devil’s Disciple (1946) im Theater der Polnischen Armee in Łódź. Aus: Film Nr. 2, 16.8.1946. https://pl.wikipedia.org/wiki/Władysław_ Krasnowiecki#/media/File:Władysław_Krasnowiecki_-_Film_nr_02_ -_1946-08-16.JPG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Abb. 7.19 Roman Karmens Mutter Dina Leipuner (verh. Muskat) und sein Großvater Arieh Leipuner (+ 1929 in Tel Aviv); Quelle: https://www. jewage.org/wiki/en/Profile:P1194185998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Abb. 7.20 Romans Vater Lazar’ Korenman, Pseudonym „Carmen“; http://jewish-memorial.narod.ru/Karmen.htm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Abb. 7.21 Viktor Aleksandrovič Štatland (links) auf der Seite „Alleja Slavy Alatyrja“/ „Ruhmesallee von Alatyr’“. http://gov.cap.ru/home/56/ album2009/album2014/news2014/17062014.pdf [13.10.2018] . . . . . . . . . . . 411 Abb. 7.22 Avenir Sof’in (Fotografie: aus Fomin 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Abb. 8.1 Links: „Józef Reznik playing for Maccabi Grodno“ (ca. 1932 in Grodno, „Familienarchiv Y. Reznik“); https://sprawiedliwi.org.pl/en/storiesof-rescue/story-rescue-bojarska-stefania [12.12.2018] . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Abb. 8.2 „Der ehemalige Majdanek-Häftling, HOLENDER [ein HOLLÄNDER]“ im Film: Majdanek – cmentarzysko Europy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Abb. 8.3 Der nicht in die Filme von 1944–45 aufgenommene J. Reznik im KL Lublin/Majdanek 1944 (aus Majdanek 1944 – Opfer und Täter, 1986) . . . . 449 Abb. 8.4 bis 8.6 Reznik legt auf Jiddisch Zeugnis ab im Eichmannprozess 1961 (screenshots von https://collections.ushmm.org/search/catalog/ irn1001693) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Abb. 8.7 Der stumme Behnen mit Halsbinde (aus: Majdanek. Kinodokumenty) . . 452 Abb. 8.8 und 8.9 Tomasek in dunkler Jacke links und rechts oben in zwei nicht in den Filmen enthaltenen Aufnahmen (erstmals in Majdanek 1944 – Opfer und Täter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Abb. 8.10 Tomasek spricht vor der Kommission; nicht in den Filmen enthalten, erstmals in Majdanek 1944 – Opfer und Täter (1986) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Abb. 8.11 „Eine Weltanschauung, die den Grundsätzen des Nationalsozialismus widerspricht“: Tomasek im Film Majdanek – cmentarzysko Europy . . . . . 453 XLI

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Abb. 8.12 Nummer 9724 auf der Häftlingsjacke von Corentin Le Dû; Majdanek – cmentarzysko Europy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 Abb. 8.13 Anonyme Jacke eines sowjetischen Kriegsgefangenen; Majdanek – cmentarzysko Europy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Abb. 8.14 Kapo 181 oben auf der Liste von Verantwortlichkeiten im KL Lublin, 2.10.1943, verantwortlich für die „Wohnung des Kommandanten“; http://starewww.majdanek.eu/articles.php?acid=283&lng=1 [4.4.2016] . . 462 Abb. 8.15 Screenshot von www.doew.at: Erkennungsdienstliche Gestapo-Fotos von 1939, unter der Nummer 1295 [4.4.2016] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Abb. 8.16 Leopold Tomasek, Gestapo-Foto von 1941, Stapo-Leitstelle Wien Nr. 3503 http://www.doew.at/cms/images/ab9d2/default/1361790870/ Tomasek-Leopold.png [4.4.2016] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Abb. 8.17 Eisenbahnwerkzeugschlosser Karl Tomašek, Gestapo-Foto von 1941, Stapo-Leitstelle Wien Nr. 3688 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Abb. 8.18 Karl und Leopold Tomasek gemeinsam auf einer Gedenktafel im Landesgericht für Strafsachen Wien (http://karl-tomasek. zurerinnerung.at/) [1.2.2018] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Abb. 8.19 „Sterbefall“ von „Strassenbahner Leopold Tomašchek“ 1943 auf obsoletem „Ostmark“-Formular (links oben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 Abb. 8.20 „Sterbefall“ von „Karl Tomasek“ auf „Alpen- und Donau-Reichsgaue“Formular (1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Abb. 8.21 Leopold und Karl Tomasek im Wortlaut des Gerichtsurteils vom 9.11.1942 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Abb. 8.22 Ludwig Soswinski als Häftling in Dachau (DÖW Foto 6026); https://www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938-1945/ der-erste-dachau-transport-aus-wien-1-april-1938/soswinski-ludwigdr [4.4.2018] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Abb. 9.1 „Begräbnis in Lublin“, in der US-Illustrierten Life vom 28.8.1944 . . . . . . . 488 Abb. 9.2 Der am Kopf verwundete Roman Karmen im Mai 1945 vor dem Brandenburger Tor; Fotografie: Evgenij Chaldej; http://waralbum.ru/ 270575/ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 Abb. 9.3 Nina, Aleksandr und Roman Karmen 1941; https://csdfmuseum.ru/ articles/76-роман-с-острым-сюжетом . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 Abb. 9.4 Vasilij Stalin, Hauptmann bei der 23. Jagdfliegergruppe (1942); Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Wassili_Iossifowitsch_Stalin . . . . . 498 Abb. 9.5 „Die Apotheose des Krieges“ (1871–72); Foto: Kairzhan Orynbekov (2016), Tret’jakov-Galerie Moskau; https://gramho.com/media/ 1077566782668788445 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502

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Abb. 9.6 Fotografie Viktor Temins mit dem Titel „Apotheose des Kriegs“; Quelle: https://perexilandia.net/pamyat/lichnosti/viktor-temin-korolfotoreportazha-3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 Abb. 9.7 Foto: V. Temin (am Rand: „Press Photoagency“); Quelle: Archiwum Państwowego Muzeum na Majdanku (APMM), http://www.majdanek. com.pl/gallery/majdanek/archiwalne/big/63.jpg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 Abb. 9.8 bis 9.11 Foto: unbekannt („Mitnehmen von Knochen ist streng verboten“), Foto: unbekannt (Yad Vashem); Foto von Karmen eine ähnliche Pyramide filmend (mit zusätzlichen Schädeln), Filmbild der Knochen; https://www.histoire-image.org/sites/default/styles/galerie_principale/ public/russes-camps-maidanek-f.jpg?itok=gvC47l03 [4.4.2017] . . . . . . . . . 504 Abb. 9.12 und 9.13 Kohlköpfe auf einem Samenpäckchen und einer amerikanischen Werbung für Krautsamen, die auf das Sauerkraut in Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ anspielt; http://www.cardigansandcravats.com/ blog/2015/4/15/anthropomorphic-seed-packets; https://www.pinterest. de/pin/239464905173667939/ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Abb. 9.14 Polnisches Plakat zu Der dibbek (1938) Abb. In Hoberman 1991, S. 280. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 Abb. 9.15 Leah tanzt mit dem Tod (Schauspieler mit Schädelmaske; aus dem der Film Der dibbek) Abb. https://he.wikipedia.org/wiki/‫סרט(_הדיבוק‬,_ 1937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Abb. 9.16 Temins Foto des leeren Duschraums im Badeshaus, der zur Gaskammer führt; Quelle: МАММ / МДФ [5.10.2017] . . . . . . . . . . . . . . . . 510 Abb. 9.17 Temins Foto der Badehaus-„Ausgänge“ Quelle: МАММ / МДФ [5.10.2017] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Abb. 9.18 Zur Weiterverwendung: in Lublin/Majdanek gefilmtes Menschenhaar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Abb. 9.19 MAJDANEK in kyrillischer Schrift im Vorspann der russischen Version . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Abb. 9.20 Schnee auf dem Aschenhügel von Majdanek; Foto unbekannt,1964. Quelle: Archiwum Państwowego Muzeum na Majdanku (APMM), http://www.majdanek.com.pl/gallery/majdanek/archiwalne/big/ 78.jpg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 Abb. 9.21 Verborgene Asche im Mausoleum von Majdanek. Fotografie: Claudia Schmuck (2006); https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Majdanek.monument.700px.jpg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538

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Abb. 9.22 DDR-Briefmarke (1980) mit Tołkins Tor von 1969: „Mahnmal Majdanek“; https://pl.wikipedia.org/wiki/Pomnik_Walki_i_M%C4% 99cze%C5%84stwa_na_Majdanku#/media/Plik:Stamps_of_Germany _(DDR)_1980,_MiNr_2538.jpg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539

KL Lublin und Vernichtungslager Majdanek 1944–45: Namen der Orte – Personen – Filme 1 KL Lublin und Vernichtungslager Majdanek 1944–45

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Das „furchtbare Wort“ und der Koffer der Rosa Stern

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Das „furchtbare Wort“ und der Koffer der Rosa Stern

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In diesen Tagen flog ein furchtbares Wort um die ganze Welt: Majdanek.1 Offiziell nannte es sich Kriegsgefangenenlager der Waffen-SS Lublin.2

Die ersten Dokumentarfilmaufnahmen der Alliierten, die ein KZ von innen zeigten, waren nicht die in der westlichen Welt weithin bekannten Befreiungsfilme von auf deutschem Territorium befindlichen Lagern aus dem Frühjahr 1945, sondern entstanden neun Monate früher, im deutschen Konzentrationslager (KL) Lublin3, das in der letzten Juliwoche 1944 von seinen Befreiern die Bezeichnung Majdanek erhielt.4 Das KL Lublin wurde am Abend des 22. Juli 1944 von der SS verlassen und am 23. abends oder 24. morgens von der Roten Armee erreicht.5 Das Lager befand sich an der 1 2

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„V ėti že dni ves’ mir obletelo strašnoe slovo – Majdanek.“ (Russische Filmversion) Simonow 1979, Kap. 20. Der Kriegsberichterstatter K. Simonov spricht 1944 stets vom Lubliner Lager bzw. Lager bei Lublin, nicht von Majdanek, was darauf hindeuten kann, dass die Sprachregelung erst nach seiner Abreise bzw. dem Erscheinen seiner Artikel konsequent durchgesetzt wurde (erst in späteren Ausgaben von Simonovs Texte wird Lublin mit Majdanek ersetzt). Das in Majdanek gelegene Lager hieß ab Oktober 1941 zunächst „Kriegsgefangenenlager der Waffen-SS Lublin“, ab Februar 1943 „Konzentrationslager Lublin“ (Tomasz Kranz 2008). „The proximity led the camp to be named Majdanek (‘little Majdan’) by local people in 1941 because it was adjacent to the suburb of Majdan Tatarski in Lublin.“ (https://en.wikipedia.org/wiki/ Majdanek_concentration_camp, 2.2.2018) Die gleiche Auskunft zum „volkstümlichen Namen“ erteilt Chocholatý 2015. Die (gedächtnis)politischen Hintergründe der Umbenennung werde ich unten erläutern. In einer Anfrage über „the exact time of the liberation“ an die Majdanek-Gedenkstätte Państwowe Muzeum na Majdanku im September 2018 erhielt ich vom Historiker und Archivar Łukasz Myszala folgende Auskunft hierzu: „In our Museum we do not really use the term ‚liberation‘ but ‚liquidation‘. The last group of evacuated prisoners marched out of the camp on July 22 around 6 pm. Only ill Soviet POW who cooperated with German forces and groups of civilians who were captured several days before were left in the camp. Most of civilians dispersed after acknowledging that SS-forces left the camp. Soviet POW stayed in the camp for the following three months and were transported back to Russia as traitors. According to our knowledge the

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Drubek-Meyer, Filme über Vernichtung und Befreiung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30531-4_1

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Peripherie der polnischen Stadt Lublin, in der Nähe des erst in den 1930ern so genannten Stadtteils Majdan Tatarski und wurde daher von den Lublinern als Lager „na Majdanku“ (auf dem Majdanek) bzw. einfach Majdanek bezeichnet.6 Majdan(ek) ist ein urbanistischer bzw. topografischer Begriff, der – im Gegensatz zu vielen anderen Städtenamen oder Toponymen – eine von der konkreten Geschichte oder landschaftlichen Beschaffenheit des Ortes unabhängige Semantik hat. Das in slawische Sprachen als Lehnwort übernommene maydān bezeichnet einen offenen Platz. Das Lager Lublin war 1941 tatsächlich auf einer flachen Hochebene errichtet wurden. Der Lubliner Lokalhistoriker Jacek Chachaj erläutert den Namen, die Funktion und die geografische Lage von Majdanek: Der Name hatte keine Bedeutung. Der Ort wurde aufgrund der Lage gewählt, der relativ kurzen Entfernung vom Bahnhof und der Hauptgleislinie und Abstellgleisen. Die Häftlinge konnten ohne den Bau eines separaten Abstellgleises transportiert werden, ohne durch die Innenstadt fahren oder marschieren zu müssen. Gleichzeitig bot die unmittelbare Nähe der Straße nach Chełm die Möglichkeit, Fußgänger oder Automobiltransporte nach Lublin zu schicken. Man sollte auch die Lage des Lagers bedenken (das ursprünglich viel größer sein sollte), gelegen auf einer Art Plateau, das für den Bau geeignet war und es einfacher machte, eine Flucht zu verhindern.7

Das Lager lag im Südosten der Stadt, wo sich auch der Schlachthof und der ehemalige Flugplatz befand. Dies war keine gute Wohngegend, was auch erklärt, warum hier im April 1942 im Majdan Tatarski von den NS-Behörden ein Übergangsghetto für die noch lebenden Lubliner Juden errichtet wurde (Schwindt 2005, S. 115). Jacek Chachaj schreibt:

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Red Army entered the camp July 23 in the evening or July 24 in the morning. German forces defended themselves in the city until July 25. The Polish Army entered the city soon after and they are visible in the parade on July 26. […] Majdanek was always an unofficial and the most popular form of calling the place. Even during the functioning of the camp prisoners, guards used it instead of official name.“ (Łukasz Myszala, e-mail vom 24.9.2018, in Bezugaufnahme auf die Forschung von Krzysztof Tarkowski, Historiker am Państwowe Muzeum na Majdanku). In der Erinnerung eines polnischen Soldaten der Roten Armee, Bernhard Storch, war die Ankunft am 23.7.: „But before we entered Lublin, we entered a real extermination camp. […] And that was on the 23rd of July. One day later was the Majdanek. And of course, the same thing. We enter very, very carefully. We open the doors.“ https://www.facinghistory.org/resource-library/ video/red-army-enters-majdanek [14.9.2019] Bis heute wird diese Gegend so bezeichnet: „Im alltäglichen Gebrauch bedeutet die Redewendung ‚Fahren nach Majdanek‘ nicht den Besuch in der Gedenkstätte Majdanek, sondern eher die Fahrt in Richtung des Stadtteils Majdan Tatarski.“ (Kranz 2016, S. 13) Chachaj bestätigt auch die Darstellung bei Kranz, nach der es keinen Ort namens Majdanek gab, nur die Nachbarschaft zu Majdan Tatarski: „Nie była to zatem nazwa miejsca, bo to miejsce tak się nie nazywało. Polska nazwa ‚Majdanek‘ pojawiła się jednak już w 1941 roku, a jej geneza prawie na pewno wiązała się z faktem, że teren obozu od północy przylegał do Majdanu Tatarskiego.“ (e-mail von J. Chachaj, 9.9.2018) – Alle Übersetzungen aus dem Polnischen und Russischen stammen von der Verfasserin.

1.1 Das „furchtbare Wort“ und der Koffer der Rosa Stern

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In den Vorkriegsplänen steht an der Stelle des späteren Lagers Lublin der Name Kośminek, dort war das „Hundefängerdorf“ oder die „Ausputzersiedlung“, und auf der anderen Seite der Straße nach Chełm (jetzt die Straße der Märtyrer von Majdanek) waren zwischen Majdan Tatarski und dem Lager ein Vorwerk namens Bronowice und ein Kalkofen.8

Wenn man sich die anderen landläufigen Bezeichnungen für Konzentrationslager im besetzten Mittel- und Osteuropa vergegenwärtigt, zeichnen sie sich meist dadurch aus, dass sie eine lokale, überwiegend auf das slawische Toponym zurückgehende Bezeichnung haben und eine deutsche, zuweilen neugebildete Bezeichnung tragen: der Lagerkomplex Auschwitz liegt in Oświęcim, der Name des im Februar 1940 errichteten Ghettos in Łódź bzw. Lodsch hieß ab April 1940 Litzmannstadt. Die Verschiebung von „Lublin“ zu „Majdan(ek)“ zur Bezeichnung des im Sommer 1944 befreiten Lagers stellt dagegen eine in der damaligen Praxis selten vorkommende Umbenennung eines von deutschen Besatzern errichteten Lagers dar, die einer Erklärung bedarf. Auch wenn sich bis heute die im Zuge der sowjetischen Liquidation des Lagers eingeführte Bezeichnung Majdanek statt des historisch korrekten „KL Lublin“ erhalten hat, kann man davon ausgehen, dass die Prägung des Namens „KZ Majdanek“ durch eine propagandistische Intention auf Seiten der Befreier bedingt war, die sich auf den ersten Blick der Bezeichnung des Lagers durch die Lubliner Bevölkerung anzupassen scheint. Der Direktor des Majdanek-Museums Tomasz Kranz gibt wichtige Hinweise zu dieser Bezeichnung: Majdanek ist also keine eindeutige semantische Kategorie und gilt nicht ausschließlich als Bezeichnung des historischen Ortes oder der musealen Institution. In Lublin gibt es zudem keinen Stadtteil und keine Siedlung mit diesem Namen. Es ist eine umgangssprachliche Benennung, die im Zweiten Weltkrieg als Bezeichnung für das beschlagnahmte Terrain, auf dem die Deutschen ein Konzentrationslager gegründet haben, entstand. Das Gelände gehörte zum Stadtteil Kośminek und den Dörfern Dziesiąta, Abramowice und Kalinówka. Die Tatsache, dass das kein geografischer Name, sondern ein in der Lubliner Tradition gefestigter Begriff ist, verursacht oft Missverständnisse. Im Ausland, wo die Besonderheiten dieser Lubliner Ortsbezeichnung nicht bekannt sind, wird „Majdanek“ automatisch mit dem musealen Raum des ehemaligen Lagers assoziiert […]. (Kranz 2016, S. 14)

Was Kranz hier beschreibt, ist jedoch nicht die semantische Kategorie majdanek, denn eine Kategorie wäre eine Menge oder Klasse von gleichartigen Referenten. Es gibt tatsächlich eine solche Kategorie des ‚Platzes‘, den majdan oder majdanek bezeichnet, und in Polen 8

E-mail von J. Chachaj (9.9.2018). In Kośminek entstand zu Beginn des 20. Jh. ein Industriegebiet mit Gerberei und Eisengießerei („Czuhunnyj Zawod A. Fridman-Kośminek“). Zahlreiche Betriebe gehörten jüdischen Familien: Sender Zylber hatte eine Schnapsfabrik und brannte koscheren „Pejsach-Spir“, auch „Kośminek“ genannt. http://teatrnn.pl/leksykon/artykuly/ dzielnice-lublina-kosminek/ Unter der NS-Besatzung wurden in Kośminek ab 1940 Rohstoffe für Kaffee-Ersatz für die Ostfront hergestellt (Zuckerrüben, Zichorie und Getreide). Vgl. Jerzy und Krystyna Pletnia zur 1940–41 neu gebauten Trocknungsanlage (heute eine Süßwarenfabrik): https://www.suszarnia-cykorii-i-buraka-cukrowego-w-lublinie-polska.com/ [2.2.2020] 3

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eine Menge von solchen majdany, die manchmal auch zu Ortsnamen werden. Essentiell ist seine Aussage, dass Majdanek kein Ortsname war, und das Lagergelände in Kośminek und auf den Feldern der Dörfer Dziesiąta, Abramowice und Kalinówka lag. Zum Zeitpunkt der Entdeckung behinderte die Nachricht über ein Lager namens „Majdanek“ jedenfalls eine eindeutige Identifikation des Lagers und der Tatorte der von Lublin aus betriebenen „Aktion Reinhard[t],“ d. h. der Ermordung von bis zu zwei Millionen Juden sowie etwa 50.000 Roma in Sobibor, Belzec und Treblinka ab Juli 1942.9 „Aktion Reinhardt“ war ein deutscher Tarnname für die systematische Ermordung der Juden und Roma im Generalagouvernement, gewählt im Gedenken an den Leiter des Reichssicherheitshauptamts Reinhard Heydrich (Halle a. der Saale 1904–10.6.1942 Prag), der den Folgen eines von zwei Tschechoslowaken am 28.5.1942 in Prag verübten Attentats erlegen war. Der sowjetische Verzicht auf eine genaue Verortung und die Bevorzugung von generischen Begriffen im Titel war in der sowjetischen Filmpropaganda dieser Periode gängig. Aufschlussreich ist, dass 1944, kurz vor der Majdanek-Produktion im Zentralen Dokumentarfilmstudio in Moskau (CSDF), ein Film mit dem ebenfalls geografisch unbestimmten Titel Getto/Ghetto (146 m; Regie: Viktor[as] Starošas, Kaunas 1921–2016) produziert wurde – vermutlich gefilmt Anfang August in Litauen.10 Der mit einem Toponym als Titel versehene Film Koncentracionnyj lager’ Salaspils / Konzentrationslager Salaspils wiederum, der nach der Befreiung des im besetzten Lettland errichteten Lagers am 11.10.1944 gedreht wurde, kam nicht in die Distribution. 1948 schreibt der Filmminister Ivan Bol’šakov in seinem Werk Sowjetische Filmkunst in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieg: „Die Bezeichnung des kleinen polnischen Städtchens Majdanek, in dessen Nähe die Deutschen eine Todesfabrik auf dem allerneuesten Stand der Technik gebaut haben, flog um die ganze Welt.“11 Es schien ihm nicht bewusst zu sein, dass es weder dieses „Städtchen namens Majdanek“ gab, noch ein Lager mit einem solchen Namen. Das phantomhafte Majdanek war vier Jahre nach der Befreiung bereits zu einer Abstraktion geworden. Die Ersetzung von „Lublin“ durch „Majdanek“ war in diesem Sinne repräsentativ für den sich bereits Ende Juli 1944 herausbildenden sowjetischen Umgang mit Informationen zu den Lagern auf befreitem Territorium. Daraus resultierte eine Propagandastrategie und in enger Folge darauf eine Gedächtnispolitik, die sich im Verlauf des Jahres 1944 allmählich auch als Politik der Bilder in Bezug auf Lublin/Majdanek-Fotos und -Filme etablierte. 9

Beide Schreibweisen (mit und ohne t) sind historisch. Zu aktuellen Zahlen vgl. „Operation Reinhard (Einsatz Reinhard)“ https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/article/operation-reinhard-einsatz-reinhard [2.2.2020] 10 Es bezieht sich auf das Ghetto von Kaunas, das am 1.8.1944 befreit wurde und dessen Massengräber von der Roten Armee entdeckt wurden. Mislavskij (2013, S. 173) beschreibt den Inhalt: „Deutsche Kriegsgefangene befördern Leichen zu Tode gequälter sowjetischer Bürger aus Gräben und tragen sie auf Tragbahren fort.“ 11 „Название маленького польского местечка Майданек, близ которого немцы построили по последнему слову техники фабрику смерти – облетело весь мир.“ Советское киноискусство в годы Великой отечественной войны. М.: Искусство, 1948.“ (Zitiert in Mislavskij 2013, S. 173)

1.1 Das „furchtbare Wort“ und der Koffer der Rosa Stern

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Im Kapitel „Liberation of the Camps“ seines Buchs First Films of the Holocaust schreibt Jeremy Hicks (2012), dass der Umgang der sowjetischen Führung mit deutschen Kriegsverbrechen und insb. dem Genozid an den Juden von Uneindeutigkeit gekennzeichnet war. Man kann hinzufügen, dass 1944 im Hinblick auf diese exzeptionellen Filmaufnahmen in zunehmendem Maße ein pragmatischer, ja, utilitaristischer Zugang vorherrschte. Angesichts des mangelnden Interesses der sowjetischen Führung an der Verbreitung der Wahrheit über die Ermordung der erklärten Hauptfeinde des Deutschen Reichs im Jahr 1944 ergibt sich heute der Eindruck, als bestünde beim Umgang mit dem Filmmaterial aus Lublin/Majdanek der Stalin-Hitler-Pakt fort – insb. im Hinblick auf die proportional größte Opfergruppe, d. h. die Juden,12 aber auch die Polen.13 Das Interesse der Ende 1944 fertiggestellten Majdanek-Propaganda-Filme richtet sich auf politische Häftlinge, europäische Vertreter der Arbeiterklasse, nicht-jüdische Zivilisten aus Europa bzw. Kriegsgefangene, die ein osteuropäisches Publikum unschwer als Sowjetbürger identifizieren konnte, die jedoch in keiner Filmfassung zu Wort kommen. Wenn Originalton verwendet wird, sprechen dankbare kommunistische Häftlinge und Arbeiter in vier west-europäischen Sprachen (Deutsch, Österreichisch, Französisch, Flämisch/Niederländisch). Weder das in Lublin vor dem Krieg stark verbreitete Jiddisch noch die im Lager vertretenen slawischen Sprachen (v. a. Polnisch, Russisch und Ukrainisch) sind zu vernehmen. Die emotionale Losung des „furchtbaren Worts Majdanek“, mit dem die russische Filmversion beginnt, bezieht sich ganz allgemein auf ein grausames deutsches Lager auf besetztem Gebiet, ohne dass Opfer identifiziert und unterschieden werden. Diese Verallgemeinerung mochte damals gerecht erscheinen: im Tod sind alle gleich – dies war zumindest die sowjetische Auffassung, und die UdSSR hatte in absoluten Zahlen tatsächlich die meisten Toten zu beklagen. Die Universalisierung der Opfer stellte sich jedoch laut der Darstellung der „kinematografischen Geschichte der sowjetischen Juden“ von Miron Černenko (so der Untertitel seines Werks Roter Stern, gelber Stern, 2000) nach dem Wendepunkt in der „Kriegswende nach Stalingrad und Kursk“ ein, als die „reine Filmchronik als konkrete Grundlage der Anti-HitlerPropaganda mit ihren Berichten über das Thema des Genozids, Nazi-Bestialitäten und

12 2005 kam der Leiter der Gedenkstätte Majdanek Thomas Kranz (2005) zu dem Schluss, dass von den insgesamt im „KL Lublin“ ermordeten 79.000 ca. 59.000 Juden (56.000 davon sind namentlich bekannt) waren, d. h. drei Viertel der Gesamtzahl. 13 Wenn ich von „Polen“ spreche, sind damit Bürger der 2. Polnischen Republik gemeint, die – im Gegensatz zu den Juden – keine Minderheit in ihrem Staat darstellten. Das Konzept der polnischen Nation war in der Zwischenkriegszeit Wandlungen unterworfen und zumindest verfassungsmässig nicht rein sprachlich-ethnisch geprägt, da zumindest auf dem Papier ein „multiethnic Jagiellonian principle“ (Prizel 1998, S. 63) proklamiert wurde. Nationale Identität wurde laut Ilya Prizel (1998, ibid.) erst in der polnischen Volkszählung von 1931 durch die Muttersprache bestimmt; damals gaben 87 % – aufgrund der Zuwanderung aus der UdSSR – der in Polen lebenden Juden Jiddisch oder Hebräisch als ihre Muttersprache an: „Whereas initially national identity was a matter of self-definition, in 1931, after more than a decade of widespread Polish language schooling, national designation became contingent on a person’s native tongue (język ojczysty).“ (ibid.) 5

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1 KL Lublin und Vernichtungslager Majdanek 1944–45

Kriegsverbrechen von einem optimistischem Thema langsam aber unaufhaltsam verdrängt wurde“. Dieses neue Thema der nunmehr „abstrakten Filme“ führte zu einem „Verlust der Erinnerung im Volk an die Tragödie der Kriegsjahre“ („рассчитанной на медленную, но целенаправленную потерю народной памяти о трагедии военных лет“ ibid.). Das bereits während des Kriegs periodisch verordnete Schweigen über die Hauptzielgruppe des im Sommer 1944 entdeckten industriell betriebenen Genozids bedingt bis heute schmerzhafte Lücken nicht nur bei der Erinnerung an konkrete Opfer, sondern kann auch zu Missverständnissen führen, die im schlimmsten Fall die historische Wahrheit verzerren – wie etwa eine heutige Bildunterschrift unter einem Bild des sowjetischen Fotografen Viktor Temin aus dem Jahr 1944 zeigt. Diese einmalige Fotografie wurde 1944 im Lager der Lubliner Chopinstraße 27 gemacht und ist Bestandteil einer 2016 auf Crowdsourcing beruhenden Foto-Zusammenstellung mit dem Titel Uzniki voennych mgnovenij / Häftlinge der Kriegsmomente (https://russiainphoto.ru/exhibitions/402/#1) auf der Seite des Multimedia Art Museums Moskau / Moskauer Haus der Fotografie (Abb. 1.1).

Abb. 1.1

Fotografie V. Temin auf der Webseite des Multimedia Art Museums Moskau, versehen mit der Unterschrift: „Igruški plennych detej, Majdanek“/ „Spielsachen kriegsgefangener Kinder“, mit dem symbolischen Befreiungsjahr 1945 post-datiert. Quelle: https://russiainphoto.ru/photos/62357/ МАММ / МДФ [12.12.2017]

Was hier in der Interpretation eines russischen Bürgers im Jahr 2016 als „Spielzeug kriegsgefangener Kinder“ („Igruški plennych detej“) bezeichnet wird, sind Spielsachen im besetzten Polen ermordeter jüdischer Kinder, die 1944 zur Wiederverwendung im „Reich“ vorgesehen waren. In der Moskauer Online-Sammlung von 2016 fehlt nicht nur der Kontext des Mords

1.1 Das „furchtbare Wort“ und der Koffer der Rosa Stern

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an den europäischen Juden, sondern ihr anonymer Autor scheint davon auszugehen, analog zur russischen Erfahrung der Verbannung oder des sowjetischen Beispiels des Lager, dass die Kriegsgefangenen in Majdanek Kinder gezeugt hätten, die im Lager mit Puppen gespielt haben; es handelt sich offensichtlich um eine Rationalisierung der durch die Namen von Individuen auf den Koffern unterschwellig unheimlich wirkenden Fotografie. Sie ist darauf zurückzuführen, dass in der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung bzw. auch in der Erinnerung russischer, weißrussischer und ukrainischer Familien Majdanek als Kriegsgefangenenlager für sowjetische plennye vorkam – ohne zu erwähnen, wie später die Funktion des Lagers im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ erweitert wurde. Doch Temins Fotografie erfaßt genau diesen Teil der Geschichte des Lagers. Auf dem Foto sieht man nämlich ein verräterisches Nebenprodukt dieser „Aktion“, einen Koffer, beschriftet mit dem Namen ROSA SARA STERN, wobei der mittlere Name „Sara“ von der Zwangsidentifikation einer Jüdin im Deutschen Reich herrührt. Der Fotograf hat hier also bewusst ein Motiv gewählt, das den in den Koffer eingeritzten Namen der vor der Deportation Rosa Stern heißenden Frau („R.St.“) dokumentiert.14 Die visuell dargebotene Geschichte der europäischen Juden, ihr spezifisches Schicksal, das der im Gouvernement Kazan’ geborene Fotograf 1944 so trefflich in seinem Bildwerk bewahrt hat, wird in der heutigen, vom Museum sich selbst überlassenen Rezeption durch das Fehlen des historischen Kontexts verrätselt, ja, gelöscht – und mit ihm buchstäblich die Erinnerung an Rosa [Sara] Stern, deren Koffer der Fotograf Temin für sein Foto ausgewählt hatte. Wer war Viktor Temin (Abb. 1.2)?

Abb. 1.2 Die Fotografen und Korrespondenten Viktor Temin, Evgenij Chaldej und Evgenij Dolmatovskij vor dem Reichstag am 2.5.1945; https:// russiainphoto.ru/photos/ 63150/ [5.3.2019] 14 Es handelt sich vermutlich um Rosa Stern, wohnhaft in der Schmelzgasse 13/9, Wien-Leopoldstadt, deportiert über Theresienstadt nach Treblinka, und zwar am 26.9.1942 mit dem Transport Br, Nr. 1778. Das Hab und Gut vieler Opfer der „Aktion Reinhradt“ wurde im Lager in der Chopinstraße in Lublin gebracht, heute ein Gebäude der Katholischen Universität Lublin. 7

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Von Temin stammt das berühmte Foto „Das Siegesbanner über dem Reichstag“, das in einer tollkühnen Aktion am 1.5.1945 von einem Flugzeug über dem in Rauch gehüllten Berlin aufgenommen worden war. Laut David Shneer handelte es sich bei dem Fotografen um einen der erfahrensten Kriegsberichterstatter der Vorkriegszeit („Victor Tyomin, Pravda’s most experienced military photographer“; Shneer 2010, S. 87) – in diesem Sinne war er das Pendant des Filmreporters Roman Karmen, mit dem er zeitgleich im Sommer 1944 Majdanek dokumentiert hatte. Doch wie wir später sehen werden, findet sich in den Darstellungen durch die jeweiligen Kameramedien ein entscheidender Unterschied. Shneer geht davon aus, dass Temin jüdischer Herkunft war („Tyomin was a second-generation Jewish photographer born on the Volga.“ Ibid, S. 53), jedoch ohne Angabe einer Quelle. Da alle mir zugänglichen Enzyklopädien seinen Vater als Priester der Voskresenskij-Kathedrale in Carevokokšajsk (heute: Joschkar-Ola) – wo Viktor 1908 geboren wurde – angeben, müsste man annehmen, dass Viktor von seinem Vater Anton Anatol’evič Temin adoptiert wurde. Doch stellt sich hier zugleich die Frage, ob die Verpflichtung zur Dokumentation des Genozids an den Juden tatsächlich eine Frage der Herkunft ist – wie wir sehen werden, führt der ethnisch-kulturelle Zugang in die Irre, da in Osteuropa gerade eine jüdische Herkunft meist keine gute Voraussetzung war, den Genozid aufzudecken und an die Öffentlichkeit zu bringen. Auch wenn Temins Herkunft jüdisch war, könnte man argumentieren, dass ihn seine christliche Erziehung oder sein Ethos als sowjetischer Reporter dazu bewegte, den Mord an den Juden in einer Form zu dokumentieren wie andere Berichterstatter es nicht wagten. Faktum bleibt, dass Temin mit seiner Fotografie etwas einfängt, was in den Filmen nicht gelungen ist. Das einzigartige Schicksal der ermordeten jüdischen Kinder, die auf diesem Foto durch die nackten und teils gliederlosen Puppen vertreten sind – wurde in der verallgemeinernden russischen Erinnerungskultur nicht aufbewahrt, sondern ist schlichtweg abhanden gekommen. Es gibt keinen vergleichbaren Genozid an Kindern aus oder in Europa – und das war dem Fotografen offensichtlich bewusst. Er hielt es jedenfalls für seine Pflicht, dieses ihm 1944 in einem Lubliner Lager erschlossene Wissen in visueller Form festzuhalten. Hierher gehört auch die Nacktheit der Puppen, deren Kleider aus hygienischen Gründen offensichtlich mit Zyklon-B desinfiziert oder verbrannt wurden – ähnlich wie die ihrer ehemaligen Puppenmütter, deren entblößte Kinderkörper ebenfalls für das Gas bestimmt waren. Die Nacktheit der Puppe auf der Fotografie ist daher das einzige Zeichen, das metaphorisch wie auch metonymisch die toten Kinder repräsentieren kann. Es ist die letzte Spur, die zur Geschichte der während der „Aktion Reinhardt“ ermordeten Kinder und der Erinnerung an sie führt, denn hätten die Puppen lebendigen Kindern gehört, wären sie nicht nackt und mit Gewalt in einem Lager in Lublin „entlaust“ worden. Zum Vergleich möchte ich dieses Foto der Berlinerin Dorothea Isaacsohn und ihrer noch bekleideten Puppe aus dem Jahr 1941 abbilden, dem Jahr des Beginns der sog. „Endlösung“, d. h. der Ermordung der Juden Europas (Abb. 1.3).

1.1 Das „furchtbare Wort“ und der Koffer der Rosa Stern

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Abb. 1.3 United States Holocaust Memorial Museum, aus dem Archiv von Dorothy Isaacsohn, https://collections. ushmm.org/search/catalog/ pa1118749 [5.10.2018]

Und selbst wenn die Puppe ihre Kleider verloren hatte, mühte sich auch die kleinste Puppenmutter, ihren Schützling zu bedecken, wie hier Esther zu Zeiten der Zweiten Polnischen Republik (Abb. 1.4).

Abb. 1.4 Esther Yocheved Meiersdorf: „Portrait of a young Jewish girl holding a porcelain doll“ (Polen, vor 1939); United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Zev and Yehudit Malach; https:// collections.ushmm.org/search/ catalog/pa1084108 [5.10.2018] 9

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1 KL Lublin und Vernichtungslager Majdanek 1944–45

Temin hat den Nachgeborenen mit seiner Fotografie eine Forschungsaufgabe aufgegeben, denn wir sehen Zahlen und den Teil eines Namens auf einem weiteren Koffer unten rechts: Julie Lauscher, diesmal mit Geburtsdatum: 8.5.1875. Wer war die zu dieser Zeit bereits über sechzig Jahre alte Frau Lauscher, woher kam sie und gehörten die Puppen ihren Töchtern oder Enkelinnen? Wie Rosa Stern war sie eine Wienerin, wohnhaft in der Heinrichsgasse 4, Wien-Innere Stadt.15 Julie hatte im Gegensatz zur gehorsamen Rosa den Zwangsnamen Sara nicht auf ihren Koffer geschrieben. Auf dem – für die Aufnahmen – mit Puppen prall gefüllten Koffer steht „514 AaH“. AaH stand für den direkten Straftransport aus Prag nach Polen, der als Vergeltung für das Attentat auf Heydrich angesehen wurde. Der Transport mit 1000 Menschen verließ Prag am 10.6.1942 Richtung „KZ Lublin-Ujazdow“ und Sobibor, nur 3 Personen überlebten.16 Unter der Nr. 514 wurde der unverheiratete Advokat Rudolf Oppenheimer (*28.7.1880) deportiert, ihm gehörte das Spielzeug also nicht – die Befreier mit der Kamera konnten dies freilich nicht wissen, als sie Puppen in seinem Koffer arrangierten.17 Durch im Internet verfügbare digitale Datenbanken können wir heute die Identitäten, die sich hinter diesen Nummern verstecken, im Handumdrehen feststellen – wenn sie damals dokumentiert wurden, wie durch Temins Fotoarbeit und durch die Auswahl des Bildausschnitts. Gleichzeitig besteht jedoch immer wieder die Gefahr der digitalen Zensur bzw. des Verschüttens dieser Informationen, wie im Fall der heutigen digital-musealen Ausblendung des historischen Kontexts des Genozids, in dem Rosa Sterns Koffer steht. So wird die persönliche Geschichte all jener Namen und „Nummern“ erneut gelöscht und missbraucht. Dies geschah bereits in der filmischen Repräsentation derselben Szene, die – im Gegensatz zu Temins Fotografie – den Koffer mit dem Namen nicht zeigt, zumindest nicht in den 1944 hergestellten polnischen und russischen Filmfassungen, um die es in meinem Buch gehen wird (Abb. 1.5). Namen, Nummern und Sterne fehlen auch in den vier Einstellungen von Koffern in Auschwitz, die im sowjetischen Filmbeitrag zum Nürnberger Prozess Kinodokumenty o zverstvach nemecko-fašistskich zachvatčikov / Filmdokumente über die von den deutsch-faschistischen Invasoren verübten Gräueltaten (1945/46), die in Nürnberg gezeigt und mit dem ursprünglichen Majdanek-Motiv „Menschen aus ganz Europa“ versehen wurden.

15 lettertothestars.at/liste_opfer.php?numrowbegin=0&action…). [2.5.2018] Während vor der Heinrichsgasse 3 ein Erinnerungsstein verlegt wurden, fehlt vor der Nr. 4 der Stein für Rosa Stern. https://www.tracesofwar.com/sights/96156/Where-is-Remembrance-Stone-Heinrichsgasse-3.htm [2.11.2018] 16 http://www.deathcamps.org/reinhard/terezintransports.html und https://www.holocaust.cz/ transport/74-aah-praha-ujazdow/strana/45/ [2.2.2020] 17 https://www.holocaust.cz/en/database-of-victims/victim/147399-rudolf-oppenheimer/ [2.2.2020]

1.1 Das „furchtbare Wort“ und der Koffer der Rosa Stern

Abb. 1.5

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Die aus ihrem Kontext gerissene Puppe in der Lubliner Chopinstraße in den Filmen (1944 und 1945)

Die Ausblendung des auf eine bestimmte Nation oder ethnische Gruppe von Menschen gerichteten Genozids hat im russischen Majdanek-Film ihre Vorgeschichte, da in ihm weder Juden noch Polen noch die sowjetischen Kriegsgefangenen als Opfergruppen identifiziert wurden. Wenn im russischsprachigen Majdanekfi lm Polen erwähnt werden, dann nur, wenn es Häft linge progressiver Denkungsart waren, also Arbeiter oder Mitglieder der kommunistischen Partei, die in den Reihen der Funktionshäft linge – neben den Berufsverbrechern – stark vertreten waren. Es handelt sich nur um Männer – im Film findet sich von überlebenden Frauen keine Spur; Frauen repräsentieren die andere Seite, die lokale Bevölkerung, die entweder – in der Gestalt von jungen Frauen – die Rote Armee begrüßt oder, hier handelt es sich um ältere Frauen, meist im Kopftuch, Angehörige beweint. Für die internationale, v. a. westliche Öffentlichkeit diente das befreite Lublin/Majdanek als Trope für das unterjochte Osteuropa, dem die deutsche Besatzung als Gewalt der modernisierten Form einer kolonialen Germanisierung angetan wurde. Dieses vereinfachte Geschichtsbild verschweigt freilich, dass die Polnische Republik 1939 von zwei expansiven Imperien angegriffen wurde und so zu einem Stück des europäischen „Blutlands“ wurde,

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1 KL Lublin und Vernichtungslager Majdanek 1944–45

wie es Timothy Snyder 2010 in seiner von der Rhetorik der 1940er angeregten Metapher der bloodlands beschworen hat. Allerdings herrschte 1944 noch Krieg. Im Vergleich zum ein halbes Jahr später befreiten Auschwitz ist Lublin/Majdanek historisch und geopolitisch für die Regierung in Moskau von größerer Bedeutung, da hier zwei Propagandastrategien umgesetzt werden konnten. Die filmbaren Gebäude und Überlebenden repräsentieren in der nach innen gerichteten Propaganda die NS-Agression in Form einer faschistisch-kapitalistischen „Todesfabrik“ quasi vor der Haustür der Sowjetunion – schließlich lag Lublin von 1815–1915 als Bestandteil Kongresspolens im Russischen Teilungsgebiet. In der nach außen gerichteten Propaganda dagegen ist Majdanek der universalisierbare Ort des Massenmords an sog. „Untermenschen“ (seien es nun Slawen oder Juden), um nicht zu sagen, der universale Ort des Leidens des ‚Ostens‘. Ich habe bereits erwähnt, dass zur Zeit der Uraufführungen 1944–45 „das furchtbare Wort Majdanek“ – im Gegensatz zum Orts- und Lagernamen Lublin – weder im Deutschen Reich noch bei den Alliierten eine konkrete Bedeutung hatte. Da sowohl Täter wie auch Opfer den Ort als KL Lublin kannten, war durch die Wahl des Titels für den im Jahr 1944 uraufgeführten Film Majdanek – cmentarzysko Europy / Majdanek – Friedhof Europas keineswegs klar, um welches Lager es sich handelte. Wozu diese Verrätselung? Wie ich zeigen möchte, fungieren die Menschen und Gegenstände im befreiten Lager – wie auch seine Umbenennung in „Majdanek“ – als Trope des von den deutschen Besatzern eingenommenen Osteuropa. Majdanek ist zum einen ein seiner Einmaligkeit beraubter Ort in einem abstrakt und universell begriffenen Land der Opfer, auf dem die deutschen Besatzer und Kolonisatoren ihre „faschistischen Todesfabriken“ errichtet hatten, zum anderen eine Realisierung des gewählten Decknamens Majdan(ek), der das Wesen des Lagers nach seiner Befreiung ausdrückt: ein Ort, der niemandem zu gehören scheint, wo jüdische, polnische und sowjetische Opfer ihren Tod gefunden haben. Zahllose menschliche Überreste, Dinge und Wertsachen finden sich auf diesem majdan, im Lager selbst wie auch in Massengräbern in der Umgebung. Bis Juli 1944 befand sich in Lublin/Majdanek ein gigantisches Sortier- und Ausbesserungswerk. Nach der Einnahme durch die Rote Armee in der letzten Juliwoche 1944 setzt sich das Sortieren und die Verwertung fort – nun in Form des Herausfilterns des für die sowjetische Führung Nützlichen aus den von der SS-Führung im KL Lublin hinterlassenen Gegenständen und aus den Massengräbern. Und zugleich wird dieser majdan jener Schauplatz, auf dem sich auch der Kampf um das Erbe der Ermordeten und das Gedenken an polnische, sowjetische und jüdische Opfer abspielen wird (Abb. 1.6).

1.2 Majdan(ek) als Schau- und Kampfplatz

Abb. 1.6

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Die Lubliner Bevölkerung trauert um die anonymisierten Opfer von Majdanek; Foto: V. Temin. Quelle: МАММ / МДФ [5.10.2017]

1.2

Majdan(ek) als Schau- und Kampfplatz

1.2

Majdan(ek) als Schau- und Kampfplatz

Heute assoziieren wir mit „Majdan“ in erster Linie den Euromaidan, d. h. die revolu­ tionären Ereignisse in Kyiv (Kiew) im Jahr 2014, die nach dem zentralen, am Chreščatyk liegenden Platz der ukrainischen Hauptstadt benannt sind, dem „Majdan der Unabhängigkeit“ (Майдан Незалежності). Es gibt ihn seit 1991, dem gleichen Jahr, in dem auch im unabhängigen Georgien am früheren Leninplatz ein Freiheitsplatz errichtet wurde, der Tavisuplebis moedani heißt, wobei moedani vom gleichen Wort abstammt. Moedani, majdan, meydan – alle diese Worte bezeichnen einen offenen, leeren Platz, der allen gehört, Allmende (engl. common) ist. Er kann als Markt dienen wie auch als Kampfplatz mit Publikum. Das indo-europäische *médʰyos (dazwischen), auf das all diese Wörter zurückgehen, ist zudem mit dem lateinischen medius, media, medium verwandt. Majdaneks und Majdans gab und gibt es in Osteuropa viele – allein in Polen mindestens 15018 – und so wird „Majdanek“ in dieser Substitution des unter deutscher Besatzung ein KZ 18 Thomas Prymak unterstreicht, dass das Toponym Majdan(ek) in Russland kaum vorkommt, sondern überwiegend in den Gebieten, die Snyder als bloodlands bezeichnet hat, d. h. die slavisch besiedelten Gebiete „zwischen Stalin und Hitler“ (so der Untertitel von Snyders Buch): Polen und Ukraine. Prymak (2016) schreibt: „As place names, the word occurs quite often in both 13

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1 KL Lublin und Vernichtungslager Majdanek 1944–45

beschreibenden Ortsnamens Lublin zu einer abstrakten Leerstelle ohne feste geografische Verortung, zu jenem „leeren Platz“, den ein majdan bezeichnet. Samuel Bogumił Linde führt in seinem Wörterbuch der polnischen Sprache unter dem Stichwort „maydan“ und seinem Diminutiv „maydanik“ an: „ein öffentlicher viereckiger Platz, der Platz oder die Straßen zwischen den Zelten, der Marketenderplatz im Lager“, „place d’armes“ (Paradeplatz), circus, Waffenplatz, als „plac fabryki“ ein „Bauplatz“, der „maydannik“ wiederum ist der „Platzaufseher“.19 Majdan kann auch Dinge, Zeug, Gepäck, Klamotten, bewegliche Habe (engl. stuff, clobber) bedeuten.20 Majdan gilt im Polnischen wie auch im Russischen als ein Fremdwort. Auch wenn majdan selbst kein slawisches Wort ist, wird es durch die Diminutivendung -ek zu einem solchen gemacht. Majdanek kann man wörtlich mit ‚kleiner Platz‘ übersetzen. Das aus dem Arabischen (maydān) bzw. Persischen (meydân) bzw. Turksprachen (meydan) wie dem Krimtatarischen in slawische Sprachen übernommene majdan bedeutet aber auch eine Arena, einen Ort des Wettstreits vor den Toren der Stadt. Wie wir später sehen werden, ist der slawische Begriff des majdan tatsächlich Kampfplatz, Bazar und Propaganda-Medium zugleich. Technisch-mediale Einsätze des sowjetischen Konstrukts Majdanek sind nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern auch als Waffe einsetzbar, mit dem Lager als Paradeplatz mit neuem Arsenal. In der Wort-Geschichte des Lubliner Lagers – Majdanek genannt – ist also nach seiner Befreiung bzw. Liquidation und der Umbenennung das agonale wie mediale Moment angelegt. Dieses Majdanek wird im Sommer 1944 zum Schauplatz der Auseinandersetzung um die Nationalität der Toten bzw. dem Grund ihrer Ermordung wie auch um die allerersten Kamera-Aufnahmen dessen, was später im Westen als industrieller Holocaust bezeichnet wurde. Der am sowjetisch befreiten, für eigene Zwecke verwendeten und früh musealisierten Leidensort Lublin/Majdanek gedrehte Film versucht dies einzulösen bzw. reflektiert die Aporien ungewollt: Das ehemalige KZ ist das neue Forum, auf dem sich die Sieger Europa zeigen wollen, zugleich das Blutland, außerhalb der Stadtmauern gelegen, die Arena, auf der um die künftige Interpretation und Bedeutung dieses Ortes und seiner „Todesfabrik“ gerungen wird wie auch um die Erinnerung an seine Opfer – so etwa zwischen Polen und Sowjets, oder zwischen sowjetischen Berichterstattern jüdischer und nicht-jüdischer Herkunft. Nachvollziehbar ist dies als Wettstreit christlicher, jüdischer und atheistischer Symboliken und Narrative zum 2. Weltkrieg.21 Als Gedenkstätte wird Lublin/Majdanek

Ukraine and Poland; and on the contemporary map of the latter country about 150 examples may be found.“ 19 In der Ausgabe des Słownik języka polskiego von 1807 (3. Bd., S. 46). 20 „ogół czyichś licznych rzeczy lub bagaży, z którymi ktoś się przemieszcza.“ https://www.wsjp. pl/index.php?id_hasla=60124&id_znaczenia=5164569&l=16&ind=0 [2.6.2019] 21 So erstaunt es nicht, wenn Thomas Prymak (2016) daran erinnert, dass eine alternative Etymologie die älteste Stufe von majdan im Aramäischen findet, das nicht nur die Amtssprache des Persischen Reichs war, sondern auch die Sprache der Juden vor ihrer Diaspora: „However, there seems to be no agreement among Middle East specialists as to the distant origins of this

1.2 Majdan(ek) als Schau- und Kampfplatz

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im Sommer 1944 zu einer Art Turm von Babel, der aufgrund von einer ‚Sprachverwirrung‘ nicht fertiggestellt werden kann, da die Beteiligten verschiedene Ziele und Verpflichtungen haben. So wird Majdanek zu einem Außen-Ort der Stadt Lublin, die nach der Befreiung mit dem Lager nichts zu tun haben will, es ist eine Grabstätte, doch nur zum Teil die eigene: Majdanek – Friedhof Europas. Dort liegt mit Erdreich unschädlich gemachte ‚fremde‘ Asche – ein Hügel, der dem Zikkurat ähnelt. Das in einen majdan deterritorialisierte KL Lublin ist also ein beliebiger Ort universaler Propaganda. Ein frühes Beispiel mediatisierter Globalität, die keinen Bezug zum Lokalen hat und auf dessen Boden Welten eines befreiten Europas inszeniert werden, erzählt von Arbeitern und Kommunisten. Majdanek ist überall und nirgends. Doch vor Ort und für viele Osteuropäer und v. a. die Juden unter ihnen wird Majdanek zum Kürzel für die stalinistische Vereinnahmung des ersten befreiten Konzentrations- und Vernichtungslagers auf polnischem Boden.

1.2.1 Erster Befreiungsfilm oder sowjetische „Gräuelpropaganda“? Für das Deutsche Reich war die Kunde, dass in einem befreiten Konzentrations- und Vernichtungslager Fotos und Filmaufnahmen gemacht wurden, unerwartet. Bis dahin waren nur verbale Zeugnisse, Beschreibungen und Zeichnungen der Lager bekannt geworden. Allein der Umstand, dass feindliche Kameras in ein deutsches Lager mit nicht vollends zerstörten Vernichtungseinrichtungen eingedrungen waren, war sowohl für die deutsche Außenpolitik als auch die NS-Propaganda höchst unangenehm. Man war daher bemüht, die mit modernen Medien angefertigten Bildveröffentlichungen – es handelte sich zunächst nur um mit Bildtelegrafie übertragene Fotos niedriger Qualität – als sowjetische „Gräuelpropaganda“ abzutun, was im übrigen bis zu einem bestimmten Grad gelang, denn auch im Sommer 1944 wollten viele nicht glauben, dass in einem Vorort von Lublin eine deutsche „Todesfabrik“ von solch gigantischen Ausmaßen errichtet worden war. Erst als die westlichen Armeen im Frühjahr 1945 KZs befreiten, begannen die Zweifel zu weichen. Auch wenn ihre Verwendung in einem Film auf sich warten ließ, waren die Majdanek-Filmaufnahmen bereits Bestandteil einer sowjetischen Propagandastrategie, die das auf befreitem polnischem Territorium befindliche KL Lublin als Vernichtungslager Majdanek zum medialen Ereignis und – noch während des Kriegs – zur ersten Gedenkstätte der NS-Kriegsverbrechen machen sollte. Es wurden Interviews mit SS-Offizieren, den Kapos und den ehemaligen Häftlingen gefilmt. Neben der russischsprachigen wurde auch eine polnische Version für die lokale Bevölkerung erstellt, die in der Tongestaltung und der Komposition der Bilder eine eigene Botschaft überbrachte – zugeschnitten auf ein polnisches

peculiar word. According to some of them, even the Persians did not invent this word; rather these scholars derive it from Aramaic, an old Semitic language once spoken widely throughout the Middle East and used as an administrative language in the ancient Persian Empire.“ 15

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1 KL Lublin und Vernichtungslager Majdanek 1944–45

Publikum. Die Erstaufführung der Majdanekfilmaufnahmen, d. h. der polnischsprachigen Fassung, ging derjenigen in der UdSSR um einige Wochen voraus. Die Verwendung des Lagergeländes als Original-Schauplatz und die Film-Aufführungen im Zusammenhang mit den ersten Kriegsverbrecherprozessen im befreiten Polen im November 1944 stellen Vorfigurationen des Umgangs der West-Alliierten mit einem befreiten KZ dar – sowohl vor Ort als auch in der medialen Aufbereitung für ein Kino-Publikum. Deutsche Kriegsgefangene, sowjetische Soldaten vor ihrem Fronteinsatz wie auch Lubliner Bürger wurden im Sommer 1944 durch das Lager geführt (vgl. Abbildung 1.1 rechts). Die Konfrontation der deutschen Soldaten mit den Kriegsverbrechen antizipierten die späteren von General Patton u. a. vorgeschriebenen Zwangsbesuche der KZs im Frühjahr 1945 durch deutsche Anwohner wie auch einige Konzepte der Re-education in der Trizone. Man darf auch davon ausgehen, dass die Aufmerksamkeit, die in den Majdanek-Filmen den zahlreichen Synchronaufzeichnungen auf Deutsch (darunter die Rede eines Wiener Kommunisten) zukam, von Anfang an auch das deutschsprachige Publikum im Blick hatte, sowohl die feindliche Hitlerregierung wie auch diejenigen Deutschen, die mit einem Film über die Wahrheit der KZs angesprochen werden konnten, d. h. die (künftigen) deutschsprachigen Freunde der UdSSR. Widersprechen sollten die Filme denjenigen, die behaupten würden, dass die Lager im Osten anständig geführt worden waren. Das deutschsprachige Publikum bekam das Filmmaterial ab dem Sommer 1945 in West und Ost zu sehen. Die deutschen Versionen dürften aufgrund der großen Anzahl an Kopien die am häufigsten aufgeführten gewesen sein.

1.2.2 Das jüdische und das polnische Lublin 1944 Wir bekamen die Tora am Sinai Und gaben sie zurück in Lublin. Die Toten loben nicht Gott. (Jacob Glatstein, Shtralndike yidn / Strajlende Juden, 1946)22

Wie ich im Folgenden zeigen möchte, entwickelt sich der Umgang mit dem Wissen über Lublin/Majdanek, und auch sein Einsatz in der Filmpropaganda, aus den ideologischen, 22 Jacob Glatstein (Lublin 1896 – New York 1971) war ein jiddischer Autor, der in die USA emigriert war und 1934 Lublin besuchte. Auch in Glatsteins Artikel über eine Historikerin des jüdischen Lublin, die 1943 ermordete Bella Mandelsberg, kommt es 1965 noch zu einer Vermengung von Majdanek mit dem Vernichtungslager Belzec, worauf Monika Adamczyk-Garbowska hiwneist: „The last part of the article, entitled ‚Poylish-yidishe geshikhte,‘ (‚Polish-Jewish History‘) is devoted to Mandelsberg-Schildkraut’s book, published posthumously in Tel Aviv by her friends, and contains more biographical information on Mandelsberg, some of it wrong. For instance, Glatstein claims that she perished in Majdanek in 1943, when in fact she was taken to the Belżec death camp in 1942.“ (A Writer in the Spa: Identifying Jacob Glatstein’s Protagonist, In geveb, January 2017: https://ingeveb.org/blog/a-writer-in-the-spa-identifying-jacob-glatsteinsprotagonist.) [1.2.2020]

1.2 Majdan(ek) als Schau- und Kampfplatz

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politischen und militärischen Zusammenhängen der 1940er Jahre. Die Berichte und Reportagen über Lublin/Majdanek werden von den aktuellen propagandistischen Bedürfnissen und der Gedächtnispolitik der Befreier und nicht von der historischen Wirklichkeit des KZ Lublin oder die Trauer um und das Gedenken an die Opfer bestimmt, die aufgrund ihrer Herkunft ermordet worden waren. So erklärt sich auch die Verschiebung von „Lublin“ zu „Majdanek“, wie das Lager in erster Linie durch die polnische Bevölkerung Lublins bezeichnet wurde. Hier beginnt der Wettkampf um das Gedächtnis des Lagers Lublin/Majdanek – und das KZ-Territorium auf dem majdan wird zur Arena dieser Auseinandersetzung. Es ist ein Kampf um die Erinnerung an eine aus der Mitte Lublins verdrängte Opfergruppe, mit der dieser Ort und seine jeweiligen loci (Baracke, Effektenlager, Gaskammer, Badehaus, Krematorium, Kohlfeld) verbunden sein werden. Lublins zentral gelegene Podzamcze, das einstige historische Judenviertel, wurde im März 1941 zu Lublins erstem NS-Ghetto.23 Nach einem Jahr musste die verbleibende jüdische Bevölkerung an die Peripherie der Stadt, den erwähnten „Tataren-Majdan“ (Schwindt 2005, S. 115).24 Eine weitere und oft letzte Station für die Lubliner Juden war das KL Lublin/Majdanek. Auch wenn wir heute wissen, dass mindestens drei Viertel der Opfer des Lagers Juden waren, war diese Information 1944 nicht allgemein zugänglich. Das Wissen um die Natur der Vernichtungslager und der jüdischen Opfer des KL Lublin bzw. der von dort gesteuerten „Aktion Reinhardt“ hätte sich aus der Zeugenschaft bzw. Trauer und Erinnerung am Ort des Lagers konstituieren können, doch genau diese war aus verschiedenen Gründen erschwert bzw. unmöglich: nicht nur aufgrund des politischen Kalküls der Befreier, die zunächst bemüht waren, die polnische Perspektive zu stärken, sondern es hatten nur wenige Juden überlebt, die es zudem gewagt hätten in Lublin öffentlich zu beten und trauern. Das jüdische Lublin, das seit dem 13. Jahrhundert existierte und als eine Hochburg der Orthodoxie bzw. ein Zentrum des Chassidismus galt,25 war fast ausgelöscht, die Synagogen 23 „Two ghettos existed in Lublin under the German occupation. The first one, created in 1941, was situated in Podzamcze, the site of the historic Jewish quarter. It operated for one year and was the first ghetto liquidated within the Action Reinhardt, ‘the Final Solution of the Jewish Question’ in the General Government. The liquidation of the ghetto begun at night of 16th /17th March 1942. On the 15th of April 1942, the area was already empty. The Jews present at that time in the ghetto were transported to the Bełżec extermination camp. Those who managed to obtain the relevant documents were transferred to a new ghetto, established in the district of Majdan Tatarski. It functioned until the end of the Action Reinhardt, the 3rd of November 1943 (Action Erntefest), when the remaining Jews were taken to the concentration camp at Majdanek and shot there.“ http://teatrnn.pl/lexicon/articles/podzamcze-and-majdan-tatarski-ghettos/ [4.9.2018] 24 U. U. beginnt hier die Kette der Benennungen, vom Ghetto Majdan Tatarski zum Lager Majdanek bis hin zu Obermajdan (vgl. Kap. 3). Vgl. auch: http://teatrnn.pl/leksykon/artykuly/lublin-dzielnica-majdan-tatarski/ und http://teatrnn.pl/lexicon/articles/the-ghetto-in-majdan-tatarski/) [5.7.2019] Zu der Institution des Kulturvereins „Brama Grodzka – Teatr NN“ in Lublin, die diese verdienstvolle Seite betreibt, vgl. Henry Foy, The lost faces of Lublin, 20.11.2015: https:// www.ft.com/content/3045ba30-8e34-11e5-8be4-3506bf20cc2b [2.2.2020] 25 „Im Umbruch des 18. und 19. Jahrhunderts war die Region um Lublin ein wichtiges Zentrum des Chassidismus, welcher sich in der Ukraine auf Grundlage der Lehren von Israel ben Elie17

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1 KL Lublin und Vernichtungslager Majdanek 1944–45

verwüstet oder umgenutzt. Und nicht nur die Menschen (Abb.1.7), Gebäude und Dinge, sondern auch immaterielle Güter waren für immer verloren: Die unpublizierten Schriften des 1900 in Lublin gestorbenen chassidischen Kabbalisten Tzadok Hakohen oder Tzadok von Lublin etwa sind mit der Liquidation des Lubliner Ghettos unwiederbringlich untergegangen.26 Vom „jüdischen Oxford“, das Rabbi Meir Szapiro in der Chachmei Lublin Jeschiwa aufgebaut hatte, blieb nichts erhalten und das änderte sich auch nicht nach dem Krieg, als die Synagogen als Kinos oder zu anderen Zwecken verwendet wurden. Auch wenn ein Rabbi zur Verfügung gestanden haben sollte, er wurde nicht dazugebeten: am 6. August 1944 blieb es bei einer Trauerfeier mit katholischen Vertretern und Heiligenbildern.

Abb. 1.7

Fotograf: Falk, Mitglied einer Propagandakompanie, fotografiert orthodoxe Juden im September 1939; Originalbeschriftung: „Lublin, Männliche Juden eilen im Laufschritt durch die Stadt; PK 637 (Ost)“; https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Bundesarchiv_Bild_101I-012-0048-17,_Polenfeldzug,_Juden_in_Lublin. jpg?uselang=de

ser, genannt Baal Schem Tov, entwickelte. Ab dem 18. Jahrhundert wurde dank des Zaddiks Jakub Icchak Horowitz, dem Seher von Lublin, die Stadt zu einem der wichtigsten Zentren des Chassidismus im ganzen Land […] Anfang des 19. Jahrhunderts stellten Juden fast die Hälfte der Stadtbevölkerung, Lublin selber hingegen war bis zur Jahrhundertmitte das größte jüdische Zentrum (nach Warschau) im Königreich Polen. Im Jahre 1864 zählte die jüdische Gemeinschaft in Lublin 12922 Personen, was über 60 % der Stadtbevölkerung ausmachte.“ https://sztetl.org. pl/de/stadte/l/264-lublin/99-geschichte/137601-geschichte-der-gemeinde#footnote130_ol2bs4u [13.10.2018] Noch 1940 wohnten 43.000 Juden in Lublin (Kuwałek / Wysok 2001, S. 61), stellten also etwa ein Drittel der Bevölkerung. 26 https://en.wikipedia.org/wiki/Zadok_HaKohen#cite_ref-2 [3.5.2019]

1.2 Majdan(ek) als Schau- und Kampfplatz

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Auf der Webseite Virtuelles Schtetl (sztetl.org.pl) des Warschauer Museums POLIN ist die Rede von 300 Juden in Lublin im Sommer 1944, jedoch nur 5 % davon waren Lubliner: Laut Schätzungen haben von den 40 000 Juden, die vor dem Krieg in Lublin lebten, nur ca. 1200 überlebt. Anfang August 1944 lebten in dem von den Sowjets kontrollierten Lublin ca. 300 Juden, von denen aber nur 15 bereits vor dem Krieg in Lublin wohnten. Zum Jahresende stieg diese Zahl auf 3000 Juden an, wenngleich sie in den ersten Monaten 1945, nach dem Einmarsch der Roten Armee in Warschau, Lodz und Krakau, auf 2500 fiel.

Man versuchte nach dem Krieg das jüdische Lublin wieder zu beleben: Am 8. August 1944 entstand in Lublin die erste Organisation, die die Lubliner Juden vereinte – das Selbstständige Referat zur Unterstützung der Jüdischen Bevölkerung. Zwei Tage später hingegen entstand das Jüdische Hilfskomitee, welches nach kurzer Zeit in das Jüdische Komitee in Lublin umbenannt wurde. Einige Monate später, im November 1944, wurde in Lublin das Zentralkomitee der Juden in Polen gegründet. Die Stadt selber wurde zur „Hauptstadt“ der polnischen Juden. In der Stadt entstanden erneut politische Parteien sowie gesellschaftliche und kulturelle Institutionen, es wurden wieder jüdische Pressetitel herausgegeben, das Schulwesen und das religiöse Leben wurde wieder aufgenommen.

Eine Wiederherstellung jüdischen Lebens in Lublin vergleichbar mit dem Vorkriegsniveau fand jedoch nicht statt. Die Beziehungen zwischen Juden und Polen waren durch die antisemitische Propaganda der deutschen Besatzer nicht verbessert worden und „in den Jahren 1944–1946 kam es in Lublin sogar zu Überfällen auf Juden.“27 Hannah Maischein (2015, S. 178–179) gibt in Bezug auf den Film zu bedenken: „Es waren auch die anwesenden polnischen Bewohner der Stadt Lublin und ihr Bedürfnis nach Trauer, denen der Film gerecht werden sollte.“ Wie wir sehen werden, waren es diese sogar in erster Linie – denn den 300 bis maximal 3000 Juden in Lublin standen Zehntausende von Polen gegenüber, die Angehörige verloren hatten oder im Lager oder Gefängnis gewesen waren. Juden wurden als Opfergruppe im Voice Over der Majdanekfilme nicht erwähnt. Dieser Umstand und die Hervorhebung der polnischen Opfer auf der Filmleinwand war ein sowjetisch geförderter Versuch, mit dem Film die gegenwärtige Bevölkerung Lublins anzusprechen – jedoch war auch dies vergeblich, denn kollektive Trauer um die aus „Europa“ herbeigeschafften Opfer wie auch eine abstrakte Gedenkkultur ließen sich nicht dekretieren. Auch die nicht-jüdischen Zeugen, die über den Massenmord an den Juden auszusagen bereit waren, erwiesen sich als für die Polnisch-Sowjetischen Außerordentlichen Untersuchungskommission, für die die Kameraleute filmten, als von nur begrenztem Interesse.

27 In Einzelfällen gingen sie tödlich aus. Ein Opfer „war Chaim Hirszman, der von den Partisanen der Nationalen Streitkräfte (NSZ) in seinem Haus am 19. März 1946 ermordet wurde“. Der Autor des Artikels https://sztetl.org.pl/de/stadte/l/264-lublin/99-geschichte/137601-geschichte-der-gemeinde#footnote130_ol2bs4u zitiert das Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego (JHI), Sign. 301/1476. [4.4.2019] 19

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1 KL Lublin und Vernichtungslager Majdanek 1944–45

Hierauf basiert Hicks seine These, dass die im Sommer 1944 aufgenommenen Filme einem vorgegebenen Narrativ zu folgen hatten, und dies sei bedingt gewesen durch eine Zunahme des Antisemitismus in der Sowjetunion. Hicks zieht daraus weiter den Schluss, das Verschweigen der jüdischen Herkunft der Mehrzahl der Opfer von Majdanek wäre einem vorgefertigen politisch-ideologischen Plan gefolgt, der bereits den in Majdanek aufgezeichneten Verhören zugrundeliegt: „The Soviet film in particular attempted to shape the evidence collected to a predetermined narrative wherein the Nazis killed people of all nationalities from all over occupied Europe.“ (Hicks 2012, S. 165) Wie ich im Weiteren zeigen werde, erweist sich dieses Narrativ der jüdischen Katastrophe im Sommer 1944 keineswegs als festgeschrieben – vielmehr findet in Polen und spezifisch in Lublin/Majdanek eine Auseinandersetzung um die Repräsentation des Judenmords unter sowjetischer Anleitung bzw. Beobachtung statt. Doch kann man im Hinblick auf den Sommer 1944 (noch) nicht von einem flächendeckenden sowjetischen Antisemitismus sprechen, der bereits die Filmaufnahmen, die zum Teil von Kameraleuten jüdischer Herkunft gemacht wurden, beeinflusst hätte. Es ist vielmehr die politische Führung in Moskau, die am Beispiel von Lublin/Majdanek ihren Zugang zum Genozid herausarbeitet bzw. abwägt. Das Resultat dieser Überlegungen sieht freilich der einflussreichen These von Stuart Liebman und Jeremy Hicks ähnlich, auf die noch die Rede kommen wird: die geringe Relevanz des Genozids an den Juden im Kontext der sowjetischen militärischen und ideologischen Auseinandersetzungen in Polen wie auch weltweit, führt dazu, dass die Informationen zum Judenmord in Lublin/Majdanek nicht in die endgültigen Filmfassungen aufgenommen werden. Dieser Beschluss fällt jedoch in Moskau und ist keine Entscheidung der Filmleute an der Front. Majdaneks stumme Zeugen – Gebäude und Lagerlandschaften – eigneten sich zudem für andere, also konkurrierende Narrative, entweder universeller oder nationaler Art; widerspruchslos ließen sich die Skelette oder die Asche – ohne nationale Zugehörigkeit – mit propagandistischen Zuschreibungen, von der Wahrheit abweichenden Interpretationen, ja, Falsifikationen versehen. Gerade im Fall der sauber aufgeschichteten Schädel und Knochen sieht man sich einer bereinigten und weitgehend keimfreien Vergangenheit gegenüber, aus der keine Erinnerung an Individuen erwachsen kann. Man kann aus den universalisierten Filmbildern nicht erkennen, wem die Schädel gehört haben und wer für die konkreten Morde in Majdanek/Lublin Verantwortung trägt, ganz abgesehen von der menschlichen Asche, die sich – wie uns das Film-Voiceover aufklärt – inzwischen in Kohlköpfe verwandelt hat. In diesem Sinne arbeiteten die Schergen Hitlers und Stalins Hand in Hand. Hannah Maischein schreibt: Indem die Opfer über die Täter definiert wurden und diejenigen, die ihrer gedachten, unter die „polnische Nation“ subsumierten wurden, wurde die jüdische Identität von rund 75 Prozent der Opfer dieses Lagers unkenntlich gemacht. (Maischein 2015, S. 178)

In diesem Kontext fällt auch auf, dass in den Filmen keine Leichen mit individuellen Gesichtszügen gezeigt werden, was nicht so sehr auf Fragen des Dekorums zurückzuführen

1.3 Der Titel Majdanek – cmentarzysko Europy

21

(vgl. die Diskussion bei Barbie Zelizer 1998), sondern der erwähnten Universalisierungstendenz geschuldet ist.

1.3

Der Titel Majdanek – cmentarzysko Europy: Der Friedhof Europas als universelle Trope des KZ-Systems

1.3

Der Titel Majdanek – cmentarzysko Europy

Ich habe angekündigt, dass – im Gegensatz zum Toponym Lublin – der Name Majdanek in nuce die Problematik der polnischen, sowjetischen und nach der Befreiung nur in geringfügiger Weise repräsentierten jüdischen Ansprüche an diesen Ort enthält. Majdan/ meydan als medialer Schauplatz, als Arena und Kampfplatz ist dadurch selbst prädestiniert, zu einem Ort des Wettstreits um die Bedeutung des Ortes für das Gedächtnis der Opfergruppen zu werden. Für viele der nicht-kommunistischen Polen wird Majdanek bereits 1944 ein kontroverser Ort, da die im Lager Befreiten und dann aber v. a. auch die am Kampf gegen die Wehrmacht beteiligten Offiziere der polnischen Heimatarmee (Armia krajowa/ abgekürzt AK) vom Wohlwollen der Roten Armee und dem von der UdSSR gestützten Lubliner Komitee abhängen, das zahlreiche AK-Offiziere und polnische Oppositionelle nach der Befreiung auf dem Territorium desselben Lagers festhält. Pietätlos wird unbequemer polnischer, nichtkommunistischer Widerstand gegen NS-Deutschland in den ehemaligen KZ-Baracken untergebracht. Bereits H.-J. Bömelburg (2003, S. 52) hat auf die „politischen und ideologischen Verzerrungen kommunistischer Erinnerungspolitik“ hingewiesen. Wie Maischein (2015, S. 181) gezeigt hat, ist das KL Lublin/Majdanek sowohl in der polnischen „Lagererinnerung“ als auch in der Gedächtniskonkurrenz an die Opfer des KL Lublin bis heute aufgrund verschiedener Opfergruppen umstritten. Die einzelnen Stränge der Geschichte des Lagers werden in den 1944 produzierten Filmen nicht ent- sondern bis zur Unkenntlichkeit verflochten, so dass verschiedene Gruppen wie die sowjetischen Kriegsgefangenen der Frühgeschichte Majdaneks, Polen, politische Häftlinge unterschiedlicher Nationalitäten und dann die ungenannten Juden aus Polen und ganz Europa (in den Befreiungsfilmen von 1944 unter dem Label „Europäer“ geführt) zum anonym-universalen Opfer werden.28 Anders als dem slawischen Lublin – angenehm klingt die russische Variante des Stadtnamens, Ljublin, das für das russische Ohr das Wort ljubit’ (lieben) aufruft – ist dem Toponym Majdanek das Fremde bereits eingeschrieben; die sowjetische Propaganda bedient sich also bei der Neubenennung des deutschen Lagers der Figur des Barbarismus. Und tatsächlich: Dem ‚fremden‘ Majdanek – situiert in der Lubliner Vorstadt des ehemaligen „Tatarischen Majdan“ – wird im befreiten Polen keine Pietät zu Teil. Kein Frieden herrscht auf diesem „Friedhof Europas“, einem der geschändeten Orte der „Goldenen Ernte“ (Gross / Grudzinska-Gross 2011), wo von der polnischen Presse als Schakale bezeichnete

28 Maischein 2015, S. 178. Vgl. auch Myszalas (2018) Äusserung hierzu. 21

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1 KL Lublin und Vernichtungslager Majdanek 1944–45

Goldsucher unterwegs waren und Massengräber v. a. jüdischer Opfer plünderten, auch in Majdanek;29 in einem Artikel der Zeitung Robotnik ist 1946 von „Friedhofshyänen“ die Rede („Hieny cmentarne“).30 In den unmittelbaren Nachkriegsjahren wurde so intensiv nach Wertsachen gegraben, dass Wachen aufgestellt werden mussten (Abb. 1.8).

Abb. 1.8

Wachen, Spaten und Schädelreihen an einer „Grabstätte Europas“. Fotograf unbekannt. https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Treblinka_ extermination_camp?uselang=de#/media/File:Z%C5%82ote_%C5%BCniwaTreblinka_fotografia.jpg

Im Titel Majdanek – Friedhof Europas begegnen sich verschiedene Tropen: Majdanek wurde im Sommer 1944 von der sowjetischen Propaganda ausgewählt, als pars pro toto das gesamte, der sowjetischen Führung inzwischen wohlbekannte deutsche KZ-System zu vertreten. Das Wort Majdan(ek) steht als universalisierende Synekdoche für alle deutschen „Todesfabriken“ in Osteuropa, während der Friedhof Europas umgekehrt eine hyperbolische Metonymie aktualisiert, die aber durchaus ihr reales Fundament hat: Ganz Europa ist 29 Vgl. hierzu die Auswertung der Presse in Klaus-Peter Friedrich 2002, S. 441ff, darunter den Majdanek-Artikel der Schriftstellerin Helena Boguszewska, „Nikdy nie zapomnę“, Robotnik Nr. 69, 10.3.1946, mit der Olga und Aleksander Ford 1938 an einem Film zusammengearbeitet hatten. 30 Robotnik Nr. 245, 5.9.1946, zit. nach Friedrich 2002, S. 441.

1.4 Weiße Stellen in der Filmografie

23

aufgefordert, um seine Toten auf dem Friedhof Majdanek zu trauern, der deutsch besetzten Territorien verkörpert. Auch wenn wir dies 1944 aus dem Film nicht erfahren können, in welchem wir überlebende Franzosen, Wallonen und Österreicher sehen und hören, liegen v. a. jüdische Opfer auf diesen Friedhof Europas, denn sie sind die Mehrzahl jener Euro­ päer, die in das besetzte Polen gebracht wurden, um dort ermordet zu werden. Es sind v. a. die Juden, die dieser Umschreibung bedürfen, denn die anderen „Europäer“ haben ihre eigene Nationalität, wie es in den Filmaufnahmen, auch durch abgefilmte Ausweise und Pässe, evident wird: Es sind Italiener, Griechen, Jugoslawen usw. Wir sehen aber keinen einzigen Pass, der darauf hindeuten würde, dass er einem jüdischen Opfer gehört haben könnte. Also werden die Juden in den Filmen weder als Überlebende, noch in ihren Pässen oder vermittels der Koffer, die mit Zusatznamen Israel und Sara beschriftet wären (Abb. 1.1) identifiziert, noch durch einen Gebetsschal oder Tefilin als solche auch nur indirekt bezeichnet (vgl. zu diesem Motiv Hicks 2012). Die Antonomasie der Juden als Europäer erlaubt es den Autoren des polnischen Films zumindest durch dieses nomen improrium die primären Opfer in der Lubliner Region in den Titel aufzunehmen – auch wenn es im Vorgriff auf den traurigen Begriff der Kosmopoliten geschieht, der einige Jahre später als Antisemitismus tarnendes Schimpfwort für „Vaterlandslose“ verwendet wurde. Der polnische Filmtitel ist also tatsächlich – unter gegebenen Umständen – ein von der Ford-Gruppe nicht ungeschickt gewählter.

1.4 Weiße Stellen in der Filmografie 1.4 Weiße Stellen in der Filmografie

1.4.1 „Sojuzversion“ und „Exportversion“ Die westlichen Filmwissenschaftler, die sich bisher mit den Majdanek-Filmen befasst haben, bezogen sich auf unterschiedliche Fassungen des Filmmaterials, die ihnen in den jeweils zugänglichen Archiven und Kinematheken vorlagen; oft behandeln sie sie als einen Titel.31 Doch handelt es sich hier nicht um ein einheitliches Werk, das lediglich in verschiedenen Sprachversionen vorläge. Die Sachlage ist komplizierter und harrt einer gründlichen filmphilologischen Untersuchung bzw. digitalen Kollation, die einen Vergleich der verschiedenen Fassungen ermöglichen würde. 31 Vgl. die filmografische Angabe „Majdanek: Burial Sites in Europe. Aleksander Ford & Irina Setkina. Studio of the Polish Army. Soviet Union/Poland. 1944“ bei Jean-Michel Frodon (2010, S. 249). Ähnlich in Michalczyk: „The two films edited by Irina Setkina and Aleksander Ford“ (2014, S. 57). Auch wird der polnische Titel kombiniert mit den sowjetischen Namen Setkina/ Karmen und als Laufzeit 21 Min. angegeben. Eine gute aktuelle Beschreibung des politisch-propagandistischen Kontexts der polnischen Fassung bietet Maischein 2015, S. 176ff., die jedoch aufgrund der Ausrichtung ihrer Monografie auf den polnischen Kontext den Umstand der zwei Fassungen vernachlässigt. Sie geht von A. Ford als dem maßgeblichen Autor der filmischen Botschaft aus. 23

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1 KL Lublin und Vernichtungslager Majdanek 1944–45

Andrzej Selerowicz und Winfried R. Garscha (2011, S. 65) erfassen in ihrer knappen, jedoch zutreffenden Schilderung, wie es zu den Filmaufnahmen in Majdanek kam: Im Gefolge der sowjetischen und polnischen Soldaten, die am 23./24. Juli 1944 Lublin befreiten, befanden sich zwei Filmteams. Das sowjetische wurde von Roman Karmen vom Zentralen Dokumentarfilmstudio in Moskau geleitet. Das prominent besetzte polnische Team unter der Ägide des Regisseurs und Filmtheoretikers Aleksander Ford hatte sich erst kurz zuvor als Wytwórnia Filmowa Wojska Polskiego [Filmproduktionsgesellschaft des polnischen Heeres] konstituiert. Ford standen Veteranen der polnischen Kino-Avantgarde der dreißiger Jahre zur Seite, darunter Stanisław Wohl sowie Adolf und Władysław Forbert, die als Kameraleute im Einsatz waren.

Das bis zum Kriegsende vorgeführte und verbreitete Majdanek-Filmmaterial fand in zwei Premierenversionen Niederschlag, erstens einer polnischen vom November 194432, als deren Autoren Aleksander Ford (bzw. in manchen Darstellungen der Szenarist und „künstlerische Leiter“ Jerzy Bossak) angesehen werden; das polnische Kamerateam bestand aus Stanisław Wohl, Adolf und Władysław Forbert bzw. Olgierd Samucewicz und Evgenij Efimov. Die zweite Version, die vom Ende des Jahreswechsel 1944 stammt und Anfang Januar 1945 in Moskau zur Aufführung kam, ist russischsprachig; sie wurde maßgeblich von Roman Karmen geplant – jedoch in enger Zusammenarbeit mit Ford und Bossak. Aufgrund von Fords Moskaureise im Oktober 1944, könnte man ihn auch als den „Regisseur“ beider, also auch der russischen Version ansehen, mit Bossak als Textautor, denn es gibt entscheidende Überschneidungen im Bereich der Sprechertexte. Aleksander Ford und seine Regieassistentin Olga Mińska verantworteten – gemeinsam mit Karmen – die ungewöhnliche visuell-ästhetische Gestalt aller Majdanek-Filme. Irina Setkina (1900–1990), die etwa von Černenko (2000) als Regisseurin genannt wird, hat zumindest eine der Schnittvarianten der 1940er Jahre in Moskau geliefert, kann jedoch nicht als Autorin oder „Regisseurin“ verstanden werden; es handelt sich offensichtlich um eine Übernahme aus Černenko (2000)33 oder um ein Missverständnis bei der Übersetzung des russischen Credits „Regisseurin des Schnitts.“34 Da Setkina u. U. lediglich für die Version von 1949

32 Auch Selerowicz / Garscha (2011, S. 65) weisen auf die unstabile Titelverwendung hin: „Fords Film wird seit 1949 von der WFDiF (Wytwórnia Filmów Dokumentalnych i Fabularnych [Dokumentar- und Spielfilmproduktionsgesellschaft]) vertrieben; in später hergestellten Kopien fehlte im polnischen Titel oft das deutsche Wort ‚Vernichtungslager‘.“ 33 So wertvoll Černenkos (2000) Buch im Hinblick auf die Spielfilmproduktion ist, in Bezug auf den Majdanekfilm ist es keine geeignete Quelle: Er übernimmt mechanisch aus späteren Filmografien die Bezeichnung „Regisseur Setkina“ und spricht von einer identischen Laufzeit der beiden Versionen. 34 Zu diesem spezifisch russischen Begriff vgl. A. Heftberger und K. Perlman 2018: „If one translates it as ‘director of editing’ it is analogous to director of photography, a role that in English we would simply call ‘editor’, as in the person who collaborates with the director in the realisation of the film’s form. However, if one translates it as ‘director by editing’ or ‘directing through

1.4 Weiße Stellen in der Filmografie

25

zuständig war, kann man nicht von „Setkina’s Film“ sprechen.35 Ford wiederum wird in der polnischen Fassung mit der bei Chronikfilmen im Russischen üblichen Terminus als „Regisseur der Montage“ (wörtlich heißt es jedoch „Montaż reżysera A. Forda“: „Montage des Regisseurs A. Ford“) bezeichnet. Von den Majdanek-Filmaufnahmen gibt es zahlreiche Fassungen in Ost und West, die sich nicht nur in Bezug auf ihre Sprache,36 sondern auch auf ihren Umfang37 und den Schnitt unterscheiden. Inhaltlich gleichen sie sich jedoch, da ihnen nicht nur identisches, von polnischen und sowjetischen Kameraleuten aufgenommenes Material, sondern auch eine einheitliche ideologische, d. h. marxistische Ausrichtung zugrunde liegt, die sich in beiden Fällen auch darin ausdrückt, dass der in Lublin/Majdanek vollbrachte Massenmord an den Juden nicht eigens erwähnt wird. Eine der jüngst von Valerij Fomin zur Edition vorbereiteten „Montagelisten“ (russ. montažnye listy) vom August 1944 enthält eine wichtige Information, die nicht nur einen Schlüssel zur sowjetischen Propagandastrategie liefert, sondern auch zur konkreten Genese der Filmversionen: bereits während der Aufnahmen vor Ort waren zwei Versionen geplant, eine „sowjetische“ („sojuznaja“) und eine für den „Export“ („ėksportnaja“; in Fomin 2018, S. 553).38 Die polnisch- wie auch die russischsprachige Version kann man als „sowjetisch“ in dem Sinne bezeichnen, dass sie in Moskau fertiggestellt wurden (Ozimek 1988, Liebman 2006, Hicks 2012) und dort die Zensur passieren mussten; man kann sie als zwei Sprachversionen der „sowjetischen“ Version („Sojuzversion“) ansehen. An der Zensur ist maßgeblich das Zentrale Dokumentarfilmstudio beteiligt bzw. derjenige Kameramann, der die höchsten Befugnisse hatte, d. h. Viktor Štatland, der auch selbst vor Ort gefilmt hatte. Von Mai 1944 bis Mai 1945 ist er Stellvertreter des Leiters der Front-Filmgruppen. Auf seine leitende – und im Hinblick auf das Dokumentarfilm-Ethos – fragwürdige Rolle werde ich noch eingehen. In diesem Zusammenhang ist ein Zeugnis des einstigen Vertov-Mitstreiters und Kinoks Il’ja Kopalin (1900–1976) aufschlussreich, der editing’ or ‘director-editor’, one gets something else: the unique role performed in the making of compilation films.“ 35 „The Sovietizing tendency was strongest in Setkina’s film“ (Hicks 2012. S. 160). 36 Neben den polnischen und russischen Versionen gibt es weitere übersetzte Fassungen, etwa ins Französische, Englische und Deutsche, vermutlich liegen weitere osteuropäische Sprachfassungen vor. 37 Die mir zugänglichen Versionen betragen von 410 m bis 735,5 m. 38 Beim montažnyj list handelt sich um einen Drehbericht, der von den Frontkameraleuten als Begleittext zu ihren Aufnahmen verfasst wurde (vgl. Kap. 5.2.5 zu der Analyse der Montage- oder Schnittlisten aus Majdanek). Diese schriftliche Dokumentation wurde vom Kameramann oder der Kamerafrau bzw. später auch von dem jeweiligen Leiter der Filmgruppe unterschrieben und in der versiegelten Filmdose in das Filmstudio geschickt. Die Montageliste ist das sowjetische Analogon zum deutschen „Filmaufnahme-Tagesberichts“ der Filmberichter der Propagandakompanien der Wehrmacht (freundliche Mitteilung von A. O. Zöller) und entspricht dem heutigen Cutterbericht (ich danke J. F. Schmidt für den Hinweis). 25

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1 KL Lublin und Vernichtungslager Majdanek 1944–45

einen Einblick in die Entstehung der politischen Abteilung der Frontaufnahmen zu einem früheren Zeitpunkt beschreibt. Er schildert seine Tätigkeit als stellvertretender Leiter der Filmchronik 1958 in einer Vorlesung am VGIK folgendermaßen: Bei der Hauptverwaltung der Roten Armee wurde eine Frontabteilung gegründet, welche die Aufnahmen an der Front leitete. Bei der Politischen Abteilung der Frontabschnitte (Politupravlenie frontov) wurden sogenannte Gruppen gegründet mit dem Frontgruppenleiter an der Spitze. Manchmal war das ein Direktor der Gruppe (direktor gruppy), aber meistens war es ein Regisseur oder Kameramann. Am Anfang bestanden diese Frontgruppen aus Kameramännern des Zentralen Moskauer Studios [damit ist das Zentrale Studio der Chronik gemeint, ab 1944 Zentrales Studio der Dokumentarfilme, CSDF; d. Verf.], aber nach einer Weile war klar, dass sich die Front auf Hunderte von Kilometern ausweitet, und es wurden Kameraleute aus nahezu allen Studios der Sowjetunion einbestellt. Die Spielfilmproduktion hat weitergearbeitet, aber die Mehrheit der Kameraleute-Reporter sowie einige Kameraleute der Spielfilmstudios wurden zu Mitarbeitern des Zentralen Moskauer Studios und wurden in die Frontabteilungen und in den Bestand der Frontgruppen aufgenommen. Sie gehörten zur politischen Abteilung der Frontaufnahmengruppe. Auch wenn sie nicht den Divisionen angehörten, erreichten die Kameraleute manchmal die Kompanie, – d. h. den Truppenteil an der Front, der immer ganz vorne ist. So war das System. Die Führung wurde hauptsächlich von der Frontabteilung verwirklicht. Diese existierte bis 1944, geleitet vom Vorgesetzten der Hauptverwaltung Vasil’čenko, ehemals bei der Kriegsflotte. Sein unmittelbarer Stellvertreter bezüglich der Aufnahmeleitung war ein Regisseur. Zunächst war das Grigor’ev, aber er wurde im Juli in die Armee einberufen. Dann wurde ich zum Stellvertreter ernannt und bis zum Januar 1942 befand ich mich auf dieser Stelle. Nach der Zerschlagung des deutschen Heers vor Moskau ist Grigor’ev zurückgekehrt und hat die Leitung dieser Abteilung wieder übernommen.39

Im Mai 1944 kam es nach einer Intervention von Stalin zu einer Reorganisation des Studios, und damit auch der Frontfilmgruppen. Zum Direktor wurde der Spielfilmregisseur Sergej Gerasimov ernannt: „An interesting appointment was that of Sergei Gerasimov, made head of the Documentary Film Studio, a post that he kept through the end of the war.“ (Leyda 1960, S. 385) Die im Juni 1944 stattfindende Ablösung des dort seit Dezember 1943 waltenden Mark Trojanovskij als Leiter der Abteilung der Frontfilmgruppen hatte direkten Einfluss auf die Produktion der Majdanek-Aufnahmen. Auf Wunsch Bol’šakovs war Gerasimov gleichzeitig Vizepräsident des Filmkomitees, was zu einer stärkeren Überwachung durch dasselbe geführt hat.40 Natacha Laurent sieht den Umbau als eine Zentralisierungsmaßnahme („mesure centralisatrice“) an, die jedoch nicht durch eine mangelnde Qualität der Studioproduktion bestimmt war, sondern von Stalins plötzlichem Interesse an Filmdokumenten. Konkret ging es im April 1944 um die Darstellung der Befreiung der Krim, die Stalin nicht gefiel und die grundlegend verändert 39 Kopalin/Iševskaja 2005. 40 Zum Kontext dieses Umbaus, der auf einen Erlass des Zentralkomitees der Partei zur Produktion der Filmchronik und von Dokumentarfilmen am 15. Mai 1944 zurückgeht, vgl. N. Laurent (2000, S. 123).

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werden musste, damit die Stärke der Roten Armee hervorgehoben würde (Laurent 2000 S. 122–124). Dies mag auch erklären, warum die lediglich zwei Monate später beginnende Produktionsgeschichte des Majdanek-Befreiungsmaterials langwierig und komplex ist. Im Prinzip war die politische Abteilung der Frontaufnahmengruppe für die ideologische Ausrichtung beider Versionen verantwortlich, allerdings wirken gerade im Sommer 1944 viele verschiedene Kräfte und konkurrierende Institutionen auf die Filmproduktion ein. Auch wenn die beiden Versionen eine ähnliche politische Grundausrichtung aufweisen, ist die konkrete propagandistische Funktion der beiden Fassungen – wie ich zeigen werde – nicht identisch. Beiden Sojuzversionen ist gemeinsam, dass sie die von der Filmcrew in Majdanek aufgenommene jüdische Motive ebenso wie eine explizite Thematisierung des Genozids der Juden in Bild und Ton unterdrücken. Auf der kürzeren russischsprachigen Sojuzversion, die spezifisch polnische Anliegen nicht enthält, sondern die Architektur des deutschen Vernichtungslagers und seiner internationalen politischen Häftlinge zum Hauptthema macht, beruhen zahlreiche Synchronfassungen in verschiedenen Sprachen, die Laufzeiten zwischen 14 und 16 Minuten aufweisen. Im russischen RGAFKD-Archiv in Krasnogorsk werden zwei polnische Versionen aufbewahrt (570 m bzw. 735,5 m), die längere heißt Majdanek – cmentarzysko Europy (Кладбище Европы / Friedhof Europas). Es scheint, dass es nur eine übersetzte Fassung der polnischen Sojuzversion gibt, und dies ist die längere deutsche Version, die ca. 21 Minuten dauert (570 m). Sie trägt den aus dem Polnischen übernommenen Titel Majdanek – Friedhof Europas, ist jedoch kürzer als die polnische Fassung, die ihr zugrunde liegt. Den beiden grundlegenden Sprachfassungen der Sojuzversion (der polnischen und der russischen), auf denen weitere Schnittfassungen beruhen, steht eine Version gegenüber, die ebenfalls nicht sprachlich bestimmt ist, sondern als geplante Auslandsversion charakterisiert werden kann und die das ‚internationale‘ Publikum ansprechen sollte; ich nenne sie in Anlehnung auf die bereits zitierte Montageliste die Exportversion. Meine Hypothese ist nun, dass der ursprüngliche Plan der Verwertung der Majdanekaufnahmen war, mit der Sojuzversion eine Fassung für Osteuropa bzw. alle ehemalig besetzten Gebiete, die Achsenstaaten (bzw. auch das befreite/besetzte Deutschland) herzustellen und eine Exportversion für das restliche alliierte bzw. neutrale Ausland. Diese für die Ausfuhr gedachte Fassung hätte sich an ein internationales, freies (nicht ‚befreites‘) und progressives Publikum gerichtet und eine Schilderung des Lagers Majdanek geliefert, deren genaue Beschaffenheit aus sowjetischer Sicht jedoch abhängig von den jeweiligen (tages)politischen und juristischen Anforderungen gewesen wäre. Konkret handelte es sich bei diesem imaginierten Zuschauer in erster Linie um ein anglo-amerikanisches Publikum – d. h. jene Menschen, die keine deutsche Besatzung erlebt hatten und auch nicht antisemitischer Hetzpropaganda ausgesetzt gewesen waren. Um meine These zu verfeinern: nur für dieses Publikum, das vom Holocaust (noch) keine praktische Vorstellung hatte und auch nicht in seine Umsetzung verstrickt war, war überhaupt eine Fassung mit der Thematisierung des Judenmords in Osteuropa vorgesehen – abseits vom Ort des Geschehens. Dort konnte das Thema der Judenverfolgung aus sowjetischer Sicht propagandistisch zur Geltung kommen. Dies wird durch den irri27

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tierenden Umstand bestätigt, dass die Majdanekaufnahmen in keinem der potentiellen Länder während der letzten Kriegsmonate als Propaganda gegen den Feind eingesetzt wurden. Allerdings wurde die Entscheidung, inwiefern die Information über die jüdische Herkunft der Mehrzahl der Opfer der „Todesfabrik“ Majdanek – von den Filmemachern dokumentiert – tatsächlich zum Einsatz kommen sollte, nicht im Sommer 1944 getroffen, sondern im Verlaufe der folgenden Kriegsmonate, in denen sich die Beziehungen zwischen den Alliierten verschlechterten, und die Chancen der Verbreitung eines sowjetischen Films im Westen immer geringer wurden. Demzufolge hat sich die Exportversion in der geplanten Form nicht gänzlich verwirklichen lassen, das Material wurde zensiert und archiviert – vermutlich bis zu seiner Verwendung in den 1980er Jahren durch deutsche Dokumentarfilmer, das Ehepaar von zur Mühlen, im Dokumentarfilm Majdanek 1944 – Opfer und Täter (BRD 1986). Den Willen zum Verweis auf die intendierte Dokumentation des Massenmords an den Juden findet man jedoch im polnischen Titel, der Majdanek zur Grabstätte von Bürgern aus ganz Europas erklärt. Zudem wurden die für die Exportversion bestimmten Aufnahmen auch für das internationale Gerichtsverfahren 1945–46 in Nürnberg verwendet. Der Bedarf an der Wahrheit über den Genozid der Juden war aber auch hier gering.

1.4.2 Rekonstruktion der Versionen aus Montagelisten, Vorspann, Filmografien und Katalogen In diesem Kapitel findet sich eine Rekonstruktion der Stablisten aus einem Vergleich der Filmografien, Kataloge, Sekundärquellen, den mir zugänglichen Vorspännen und den Montagelisten, die in dieser Funktion erstmalig ausgewertet wurden. Diese Rekonstruktion wirft mehr Fragen auf als sie Antworten gibt. Doch erscheint es mir sinnvoll, mit der Formulierung von Hypothesen zur Versionierung zu beginnen, die in einem weiteren Schritt – unter Beteiligung der Archive – verifiziert werden kann. Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass die polnischsprachigen Versionen (23:35 bis zu 26:53 Minuten) um etwa ein Drittel länger als die russischsprachigen Versionen sind, die eine Länge von 15:02 bis 17:55 Minuten haben. Wie bereits angedeutet, stimmen die Credits für die Sprachversionen nicht oder nur teilweise überein und entsprechen nicht immer den realen Gegegebenheiten. Die Gestalter des Vorspanns des Studios der Chronikproduktion CSDF (Central’naja studija dokumentarnych fil’mov) legten offensichtlich großen Wert darauf, nur ausgewählte oder aber unvermeidbare Namen der Stabliste (in den Titeln) zu nennen, wobei man davon ausgehen kann, dass in den Jahren ab 1948/49 bis zu Stalins Tod Anpassungen erfolgten. Die Motivationen hinter diesen angepassten Credits sind politischer Natur und stellen entweder eine Art antizipierte Selbstzensur des Filmstudios dar, oder aber Zensureingriffe. Wie ich zeigen werde, spielt im Fall der Majdanek-Stablisten die vermeintliche Nationalität oder Ethnizität der Namensträger eine ausschlaggebende Rolle. Dies erklärt, warum in der russischen Version lediglich drei Namen auftauchen, und zwar in einer Reihenfolge, die

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weder dem Alphabet noch ihrem Rang bzw. ihrer Bekanntheit entspricht: Sof’in, Karmen, Štatland. Als letzter wird der nicht russisch klingende Name (Aussprache: Stadtland) angeführt, obgleich es sich um den russisch-sowjetischen Leiter der Filmgruppe handelt. Andere Kameraleute wie Tomberg, Arons, Solov’ev, Efimov, Posel’skij, Šnejderov und Ibragimov, deren Aufnahmen u. U. auch verwendet wurden, wurden nicht in den Vorspann aufgenommen bzw. auch nicht in anderen Quellen erwähnt. Außer Solov’ev und Efimov tragen alle Erwähnten nicht-slavische Namen oder aber sind jüdischer Herkunft. Hier geht es zunächst nicht um Volkszugehörigkeit, sondern um Zuordnung von Nationalität bzw. Assoziationen, die Klänge und Buchstaben beim Publikum hervorrufen könnten. Die beiden Filmografien der polnischen und der russischen Fassung lassen sich so darstellen:

1.4.2.1 Die polnische Version (UA 11/1944) Majdanek – cmentarzysko Europy / Majdanek – Friedhof [Grabstätten]41 Europas (Polen, UdSSR 1944, 35 mm) Oder auch: Vernichtungslager Majdanek – cmentarzysko Europy42 Gattungsbezeichnung im Vorspann: „Filmdokument“ („Dokument filmowy“) Es gibt verschiedene Schnittversionen der polnischen Fassung: Durch das polnische Staatsfilmarchiv Filmoteka narodowa (FINA) wurde mir eine von 23:35 Minuten Länge zugänglich gemacht.43 Die im russischen RGAFKD-Archiv aufbewahrte polnische Kopie ist mit 735,5 m um über drei Minuten länger (4 Akte; entspräche ca. 26:53 Min.). Eine weitere Version in diesem russischen Archiv hat nur zwei 2 Akte und ist 570 m kurz. Dies ist aber laut der bei Jeanpaul Goergen (2015) abgebildeten Quelle die Version, die im Herbst in Lublin lief (Abb. 1.9).

41 Neben dem heute üblichen Wort für Friedhof (cmentarz) gibt es im Polnischen das Wort cmentarzysko, das für prähistorische Gräberfelder, Nekropolen (Totenstädte) oder Deponien verwendet wird (cmentarzysko samochodów – ,Autofriedhof‘). Auf Englisch wird der Untertitel daher auch als Burial Sites in Europe übersetzt. Allerdings ist bereits in dem Artikel „Fabrik des Todes in Majdanek“ von Jerzy Putrament vom 5.8.1944 in der Zeitung Rzeczpospolita (Nr. 3, S. 3) die Rede von „auf widerlichen Grabfeldern (potwornych cmentarzyskach) wachsendem Kohl“. 42 Kyrillisch: „Ферниxтунгс-лагерь Майданек – кладбище Европы“ (Derjabin 2016, S. 727). 43 Diese polnische Fassung ist auch auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=KHhh9YI_BbU 29

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Abb. 1.9

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„MAJDANEK. Dokumentarfi lm über das Todeslager“, letzte Zeile: „1. November 1944 – 570 m“ (Abb. in Goergen 2015)

Die Version in der FINA enthält folgende Namen im Vorspann (ich behalte die polnische/ polonisierte Schreibung der russischen Namen bei). Hier finden sich einige Unterschiede, die wichtigsten sind, dass Efimov nicht mehr genannt wird und sowohl Ford wie auch Bossak eine andere Funktion zugeschrieben wird (Abb. 1.10). http://www.repozytorium.fn.org.pl/?q=pl/node/4499

Abb. 1.10 Vorspann der polnischen Version (FINA)

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Namen, die nicht im Vorspann genannt werden, sind in eckige Klammern gesetzt: Regisseur / Schnitt („Montaż reżysera“) im Vorspann bzw. Realisierung („Realizacja“)44: Aleksander Ford „Text“ (Kommentar) bzw. künstlerische Leitung („kierownictwo artystyczne“)45: Jerzy Bossak Es liest: Władysław Krasnowiecki Musik: Sergjusz Potocki46 Kameraleute: Stanisław Wohl, Adolf [und Władysław] Forbert,47 Olgierd Samucewicz48; Roman Karmen, Awenir Sofin, Wiktor Sztatland „und andere“, dazu ist der im Vorspann fehlende [Evgenij Efimov]49 zu zählen. Ton: W. Kotow, S. Sienkiewicz Regieassistenz: Olga Mińska, Ludmiła Niekrasowa, Ludwik Perski50

44 So auf einer polnischen Quelle (einem Katalogeintrag?), abgebildet bei Goergen 2015. Vgl. Abb. 1.9. 45 Auf dem von J. P. Goergen (2015) reproduzierten Katalogeintrag heißt es „Kierownictwo literackie“, also „literarische Redaktion“. Dort ist als Länge angegeben: „2 Akte, 570 m (= 20’50“)“ mit Verweis auf Wytwórnia Filmowa Wojska Polskiego (Hg.): Katalog produkcji 1943–1946. Lódz 1947, unpag.; vgl. auch die identische Filmografie in der Online-Datenbank: http://filmpolski. pl/fp/index.php?film=421255 [2.4.2019]. 46 Im Katalogeintrag (Goergen 2015) vom 1.11.1944: J. Sergiusz Potocki. 47 Während im Vorspann Władysław Forbert fehlt, erwähnt Hicks (2012, S. 159) umgekehrt seinen Bruder Adolf Forbert nicht. Sowohl St. Wohl als auch mindestens einer der Forberts drehten während des Prozesses in Lublin im November und Dezember 1944 bzw. der öffentlichen Hinrichtung der Verurteilten. Einer oder beide Forberts drehten im Januar auch in Auschwitz (s. u.). 48 Auf der Webseite des Film Polski wird er als Assistent des Regisseurs angeführt: http://www. filmpolski.pl/fp/index.php?film=421255 Diese zusätzliche Qualifikation seiner Beziehung zum polnischen Team bekräftigt Samucewiczs Zugehörigkeit zum Team Ford (er drehte später mit den Fords auch den Film Ulica graniczna). 49 Auf dem Katalogeintrag vom 1.11.1944 (Abb. 1.9) und aufgeführt als Eugeniusz Jefimow in http://filmpolski.pl/fp/index.php?film=421255. Auch Toeplitz (1987, S. 1665) führt ihn an. Der von A. Misiak als sowjetischer Informant bezeichnete Efimov dreht in Polen bis 1946 vier weitere Filme in der Wytwórnia Filmowa Wojska Polskiego, zwei mit Bossak (darunter die Spezialausgabe der Polnischen Filmchronik unter dem Titel Die Vernichtung Berlins: Zagłada Berlina. Specjalne wydanie Polskiej Kroniki Filmowej Nr. 15–17, 1945; http://www.repozytorium.fn.org.pl/?q=pl/node/4499), zwei mit Stanisław Urbanowicz und Eugeniusz Cękalski (1906 Saratov – 1952 Prag). http://filmpolski.pl/fp/index.php?osoba=1113502 [5.5.2019] 50 Mińska [Ford] und Perski waren polnische Bürger, die sich während des Kriegs in der UdSSR aufgehalten hatten. Mińska war Aleksander Fords Ehefrau und erscheint in russischen Quellen in der russifizierten Form als Ol’ga Minskaja, ebenso Perski als Perskij. 31

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Produktion: Filmproduktionsgesellschaft der Polnischen Armee (Wytwórnia filmowa wojska polskiego)51 unter Beteiligung des Zentralen Dokumentarfilmstudios (Centralnego Studio Filmów Dokumentalnych w Moskwie = CSDF Moskau)52 Premiere: 1.53 bzw. 26. November 1944 Lublin, im Kino Apollo54 bzw. im Kino Baltyk.55 Der Majdanek-Film begleitete in zwei öffentlichen Kinos das Sonderstrafgericht gegen das Majdanek-SS-Endkommando ab dem Vorabend des Verfahrens, das am 27.11.1944 um 9.00 Uhr begann.56 M. Białous (2015, S. 103) erklärt die komplizierte Nennung der Produktionseinheiten durch die Beteiligung und Abfolge verschiedener Körperschaften der Produktion: Im Sommer 1944 kamen Ludmila Nekrasova-Perska, Oleg Samucewicz und Evgenij Efimov hinzu. Die Zuordnung wurde ebenfalls geändert: im August 1943 zum Ersten Korps, im März 1944 zur Ersten Armee und im Oktober 1944 zur Polnischen Volksarmee. Ab November 1944 war die Gruppe als Filmproduktionsgesellschaft der Polnischen Armee tätig. Im Jahr 1944 wurde Majdanek – cmentarzysko Europy gedreht, und ab November, geleitet von Jerzy Bossak, begann die Polnische Filmchronik zu erscheinen.57

51 Diese Produktionsgesellschaft existierte bis 1949: http://filmpolski.pl/fp/index.php?osoba=1113502 [5.5.2019] 52 Vgl. hierzu auch Mikołaj Jazdon 2014, S. 66. 53 Laut Katalogeintrag (Abb. 1.9) und Toeplitz (1987, S. 1665) war die Premiere bereits am 1.11.1944, möglicherweise war dies nur eine interne Vorführung. Konrad Klejsa hat mich darauf hingewiesen, dass die Premiere am 1. November auf den im katholischen Polen als Hochfest gefeierten Allerheiligen-Tag fiel, dem Allerseelen folgt, wenn aller Toten gedacht wird. 54 Jolanta Leman-Zajiček 2003, S. 11. Liebman (2006, S. 337) zitiert Jewsiewicki, der zusätzlich das Kino Baltyk erwähnt: „According to Władysław Jewsiewicki, it premiered at the Apollo and Baltyk movie houses in Lublin in late November, shortly before the trial of the camp guards began.“ In der Gedenkstätte von Majdanek war die polnische Version bis Mitte der 1990er Jahre zu sehen, vermutlich in verschiedenen Sprach- und Schnittfassungen. Bis zum 3.12.1944, ab dem 6.12.1944 lief laut Ankündigung in den Dezembernummern der Rzeczpospolita 1944 im Apollo der sowjetische Film über eine Partisanin, die sich für den Mord an ihrem Baby rächt: Ona zaščiščaet rodinu / Sie verteidigt die Heimat (Friedrich Ėrmler, SU 1943). 55 Ebenfalls im Programm war die Chronik Film Polska walczącą Nr. 1 / Kämpfendes Polen Nr. 1 (1944, 302 m, Regie und Drehbuch: A. Ford, Kamera: W. Forbert, S. Wohl; Musik: Z. Lissa, V. Ivannikov, G. Gamburg; Sprecher: W. Krasnowiecki; vgl. Rzeczpospolita 26.11.1944, Nr. 113 und W. Jewsiewicki 1972, S. 176). 56 Die kündigte Rzeczpospolita vom 27.11.1944 kündigte an: „Prozessbeginn heute, um 9.00.“ Das Sonderstrafgericht dauerte laut Musial (1999, S. 36), bis zum 2.12.1944. 57 Die genauen Aufenthaltsorte der Mitglieder des Filmteams in der UdSSR sind nicht dokumentiert, einige von ihnen waren interniert bzw. hatten Erfahrungen mit „Evakuation“, Verschleppungen und sowjetischen Lagern gemacht, wie viele Polen in der UdSSR ab 1939. Aus der Darstellung in W. Jewsiewicki (1972) geht hervor, dass nicht nur die Fords in Zentralasien waren, sondern auch St. Wohl, Perski und W. Forbert.

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Dies bedeutet auch, dass das Team während der Majdanek-Aufnahmen durch Samucewicz, Nekrasova und Efimov verstärkt wurde. Bezeichnet wird diese Gruppe als „Czołówka“ („Czołówka Filmowa Ludowego Wojska Polskiego“), d. h. Film-Front oder Filmspeerspitze der Polnischen Volksarmee. Czołówka bezeichnet auch den Filmvorspann. Mimi Ash beschreibt die Karriere von A. Ford und seinen Kollegen in der polnisch-sowjetischen „Czołówka“: Während des Zweiten Weltkrieges floh Ford in die Sowjetunion, wo ihm Asyl gewährt wurde und er sich mit anderen linken und progressiven Filmemachern zusammenschloß, von denen viele einen jüdischen Hintergrund hatten. Sie bildeten die Filmeinheit Czołớwka innerhalb der polnischen Division, die an der Seite der Roten Armee gegen Nazideutschland kämpfte. Aleksander Ford, Jerzy Bossak, Stanisław Wohl, und Ludwik Perski, die alle vor dem Krieg Mitglieder oder Sympathisanten von START gewesen waren, kehrten als Offiziere mit der Roten Armee nach Polen zurück. (Mimi Ash o. J.)

Die Genannten waren alle Teilnehmer der Majdanek-Produktion (die weiblichen Namen – Mińska und Nekrasova – fehlen hier, wie in den meisten westlichen Darstellungen). Im Katalog des RGAFKD-Archivs wird der Ford-Film in seiner Langversion (4 Akte, 735,5 m) nur mit dem Untertitel Friedhof Europas (Кладбище Европы; 1944, A. Ford, Registrierungsnummer 5200) aufgeführt. Als Kameraleute werden Wohl, Forbert, Samucewicz,58 Roman Karmen, Evgenij Efimov59, Avenir Sof’in, Viktor Štatland genannt.

1.4.2.2 Die russische Version (UA 1/1945) Auch wenn in späteren Filmografien und Filmgeschichten oft von Majdanek die Rede ist, trägt die originale russische Version des Films einen längeren Titel, der sich wie der Bestandteil einer Klageschrift mit Rubrum (Ort und Tat des Prozessgegenstands, Nationalität der Täter) liest: Majdanek. Kino-dokumenty o čudoviščnych zlodejanijach nemcev v lagere uničtoženija na Majdaneke v gorode Lublin / Filmdokumente über die ungeheuerlichen Verbrechen der Deutschen im Vernichtungslager Majdanek in der Stadt Lublin (UdSSR 1944). Wie aus einem späteren Zensurdokument vom Oktober 1949 hervorgeht, wurde die russische Fassung des Films ursprünglich am 18.12.1944 genehmigt und hat(te) 490 m (2 Akte).60 Das mit dem mit dem Datum „12.X.1949 g.“ versehene Dokument ist überschrieben mit dem Titel „Kopie der Montageliste. Filmkomitee beim SNK UdSSR. Leitung der Auf58 Hier als Assistent des Regisseurs angeführt: http://www.filmpolski.pl/fp/index.php?film=421255 [2.2.2018] 59 Nicht erwähnt in der russischen Fassung des Vorspanns. Zu Efimov s. u. 60 „Kopija montažnogo lista. Komitet po delam kinematografii pri SNK SSSR. Upravlenie po kontrolju za kinorepertuarom“ (12.10.1949). Das Filmkomitee beim SNK der UdSSR (SNK oder Sovnarkom steht für Sovet Narodnych Komissarov, Rat der Volkskommissare). Das SNK war ein gesetzgebendes und exekutives Organ. Sein Vorsitzender war ab Mai 1941 Stalin, unter seinen zahlreichen Stellvertretern waren bis zum 15. Mai 1944 N. Bulganin und L. Mechlis (vgl. Kap. 3). Das Dokument ist unterschrieben vom Leiter dieser Aufsichtssstelle, Vasil’evskij („Načal’nik upravlenija po kontrolju za kinorepertuarom Vasil’evskij“). Auffälligerweise findet sich auf dem Zensurdokument keiner der ursprünglichen Namen aus dem Vorspann, und auch 33

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sicht über das Filmrepertoire“ für den „1944 im CSDF produzierten Tonfilm Majdanek“. Es ähnelt einem Post-Shooting-Script und gibt den Namen Setkina an. Auffällig ist, dass auf diesem Dokument von 1949 der Titel nicht korrekt angegeben wird. Da hier also ein anderer Titel – der verkürzte Titel Majdanek – genannt wird, der das für seine Schöpfer 1944 so bedeutungsvolle Wort „Vernichtungslager“ nicht mehr enthält (s. u.), kann man nicht ausschließen, dass sich in der 1949 erfolgten Kürzung auch eine inhaltliche Zensur niederschlägt. Somit würde es sich um eine alternative und spätere russische Version handeln. Im Katalog von Krasnogorsk wird eine russische Version verzeichnet, Majdanek, die um etwa 15 % kürzer ist, nämlich 417,6 m (2 Akte), so dass ich vermute, dass Setkina 1949 mehrmals zur Schere greifen musste: Es gab Umschnitte der Originalversion und eine Umbenennung, wobei das oben genannte Dokument eine Vorlage des Setkina-1949-Schnitts darstellt, die dann noch einmal um 73 m gekürzt wurde. Solche Umarbeitungen waren im CSDF und auch anderen Studios gang und gäbe, wie man sowjetischen Katalogen der erhältlichen Filme (Katalog fil’mov dejstvujuščego fonda) entnehmen kann. Sie werden als „Umschnitt“ (peremontaž), „neue Redaktion“ („novaja redakcija“; im Fall des 1945er Films Osvoboždennaja Čechoslovakija, CSDF)61 und im Fall des Kompilationsfilms Padenie dinastii Romanovych / Fall der Romanov-Dynastie (1927) der verstorbenen Esfir’ Šub (1894–1959) als 1967 „wiederholter Release“ („povtornyj vypusk kinostudii Mosfil’m“) bezeichnet, wobei in diesem Fall der „Regisseur der rekonstruierten Version“ („režisser vosstanovlennogo varianta“) angeführt wird, Ja. Charon. Man kann also davon ausgehen, dass der 1949 mit einem neuen Titel versehene russische Majdanek-Film der vom Titel und Laufzeit her gekürzten Version entspricht, die im Katalog des RGAFKD zu finden ist.62 Dies bedeutet jedoch, dass wir nicht mit Sicherheit sagen können, ob Setkina wirklich bereits 1944 mit dem Schnitt betraut war. Der Verweis des Katalogs des RGAFKD-Archivs hierauf ist nicht hinreichend, da er sich auf den Umschnitt und die dejudaisierende Bereinigung der Credits von 1949 beziehen könnte, auf die ich noch eingehen werde. Polnische Filmwissenschaftler berichten, dass in der UdSSR zwei Filme aus dem von Ford und Karmen aufgenommenen Material gemacht wurden, die auch zwei verschiedene Titel aufweisen, so Jolanta Leman-Zajiček (2003). Marek Haltof (2012, S. 212) schreibt ebenfalls, jedoch ohne näher darauf einzugehen: „The footage was additionally used to make two other films about the camp in Soviet Russia.“ Weder Liebman noch Hicks gehen

die Zeile „Komponist“ wird freigelassen. Der einzige Name (mit Funktion) ist hier: „Regisseur Setkina.“ Einsicht in dieses Dokument gab mir dankenswerterweise Jeremy Hicks. 61 Katalog fil’mov dejstvujuščego fonda. Vypusk III. Chronikaln’o-dokumental’nye film’y, Moskau 1972, S. 182, 188. Hier wird etwa der frühere Kinok I. Kopalin als „Autor des Drehbuchplans“ („avtor scenarnogo plana“) wie auch als „Regisseur“ (der „neuen Redaktion“, wie man annehmen muss) angegeben. Karmen war aus sowjetischer Sicht (unter Weglassung der polnischen Kollegen) ein solcher „Autor des Drehbuchplans“ des Majdanekfilms. 62 Die Existenz einer solchen 1949er Version des Films wurde mir erst im Endstadium meiner Forschung bewusst, so dass ich diesen Umstand nicht mehr nachprüfen konnte.

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im Kontext ihrer Argumentationen zu den „First Films of the Holocaust“ auf die Existenz zweier russischer Schnittfassungen ein. Es könnte sich um die beiden Versionen von 1944 und 1949 handeln, von denen die längere mit 490 Metern im RGAKFD-Katalog nicht verzeichnet ist, woraus ich schließe, dass sie unter Umständen im Jahr 1949 gekürzt und mit einer angepassten Musik- und Kommentarspur versehen wurde, ohne dass die neue Versionierung im Katalog als solche markiert wurde bzw. einen neuen Titel erhielt, wobei auch der Titel selbst – stillschweigend – verkürzt wurde in Majdanek; im RGAKFD-Katalog ist nämlich keine Fassung mit dem vollständigen Originaltitel, wie er im Vorspann zu sehen ist, verzeichnet. Des Weiteren weisen weitere Unterschiede in der Stabliste der Filmografie des RGAFKD-Katalogs darauf hin, dass es einen solchen Nachkriegs-Umschnitt gegeben haben könnte: für die kürzere 417,6 m-Version wird als Musikbearbeiter (muzoformitel’) der Name David Štil’man (nicht wie sonst, Potockij) angeführt, zusammen mit dem Tonmeister V. Kotov, der auch im russischen Vorspann zu finden ist (gemeinsam mit Sienkiewicz).63

Abb. 1.11 Zwei „MAJDANEK“-Titelkarten der 1940er Jahre

Die rechte der beiden Karten findet sich am Anfang der IWM-Version des Films und informiert darüber, dass es sich um eine „Spezialausgabe“ der Filmchronik handelt. Man würde vermuten, dass dies die ältere Titelkarte ist (mit weiterem Lauf des Schriftbilds), während die linke Karte sich vom Font und dem Hintergrund her unterscheidet; „MAJDANEK“ wird in den Untertitel überblendet, allerdings nach einem Schnitt und einem

63 In manchen späteren, auch den aktuellsten Filmografien findet man aber auch nur den Titel Majdanek / Майданек oder den an die polnische Fassung angelehnten russischen Titel: Majdanek – Friedhof Europas („Майданек - кладбище Европы“) in Derjabin 2016, S. 804; unter Umständen handelt es sich bei Majdanek um die erwähnte kürzere Nachkriegsfassung, dies wird jedoch in keiner Filmografie erwähnt und daher auch in den Studien nicht ausgewiesen und unterschieden. Eine Analyse der Natur etwaiger politisch motivierter Kürzungen des ersten KZ-Befreiungsfi lms, die im „anti-kosmopolitischen“ Klima im Jahr 1949 erfolgten, steht noch aus. 35

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Schwarzkader, nachdem das Wort MAJDANEK noch einmal erscheint, und dann überblendet wird (Abb. 1.11). Im RGAFKD-Katalog gibt es insgesamt drei Filme zum Thema Lublin/Majdanek, deren Registrierungsnummern nicht weit voneinanderliegen: 5047 (Vertovs Novosti dnja Nr. 18), 5193 und 5200. Nr. 5200 trägt im Katalog den aus dem Polnischen ins Russische übersetzten Titel Kladbišče Evropy / Friedhof Europas und hat 735,5 m. Laut dem Krasnogorsker Katalog gibt es also mindestens zwei der Majdanek-Befreiung gewidmete Schnittversionen, die von der Länge her stark variieren: 735,5 m bzw. 417,6 m (mit dem Kurztitel Majdanek, Registrierungsnummer 5193; 2 Akte). Ausser dem Vorspann ist mir nichts bekannt, was fünf Jahre nach der ersten Aufführung entfernt oder angepasst wurde.64 Soweit es aus den Katalogaufzeichnungen des Imperial War Museum, das seine Kopie wahrscheinlich in den 1950er Jahren erhalten hat,65 nachvollziehbar ist, stammt die im IWM London zugängliche russische Version des Films aus dem War Office; auf die von T. Haggith (IWM) 2017 angekündigte Provenienzforschung darf man gespannt sein. Die Kopie trägt den Archivtitel „SCENES AT MAIDANEK CONCENTRATION CAMP, POLAND [ALLOCATED TITLE]. IWM: A 70 514/93 and 94“ (2 Akte, 15:02 Min.). Sie wurde meist als eine der beiden Originalversionen von 1944/45 behandelt, allerdings kommen mir nun aufgrund ihrer Kürze von lediglich 15:02 Minuten Zweifel. Ob diese Londoner Version eine annähernde Übereinstimmung der russischen Originalversion von Ende 1944 aufweist, wäre erst zu belegen, da deren Laufzeit mit 490 m nahezu 18 Minuten – also 3 Minuten mehr – betragen sollte. Es ist also auch denkbar, dass in London nicht die vollständige 1944er-Fassung vorliegt, sondern die spätere, gekürzte (ca. 417 m), jedoch mit dem – nachträglich hinzugefügten? – Vorspann von 1944, der in der IWM-Version den Namen Potockij enthält. Die Beschreibung des Titels als „allocated“ würde diese Vermutung bestätigen, da der Film im IWM offensichtlich ohne Vorspann ankam – sonst wäre der interne Archivtitel „Szenen im Majdanek Konzentrationslager, Polen“ nicht entstanden. Oder aber es handelt sich im IWM um die Version von 1949 mit korrektem Vorspann und dem als Decknamen (nachträglich?) eingefügten Namen Potockij, der im Antikosmopolitenkampagnen-Jahr 1949 eingesetzt wurde. In der IWM-Fassung jedoch fehlt die Nennung der Musiker. Als Regisseure werden in der Sekundärliteratur entweder der vor Ort filmende Dokumentarist Roman Karmen und/oder die Cutterin Irina Setkina angeführt.66 Wie ich

64 Falls die Outtakes mit dem aus der polnischen Version „Herausgeschnittenen“ übereinstimmen sollten (eine Liste dieser „Odrzuty“ gibt es im FINA), hätte man eine genauere Vorstellung (hierzu s. u. mehr). 65 „I presume the film came to us from the War Office in the 1950s with the other related material.“ (schrieb mir 2017 die Mitarbeiterin des IWM, Fiona Kelly) https://www.iwm.org.uk/collections/ item/object/1060013243 66 „Director: Irina Setkina“ (Hicks 2012, S. 287). Setkina wird von der wichtigen Forscherinstanz Derjabin (2016, S. 15–16) im Gegensatz zu Karmen, Kopalin, Medvedkin oder Svilova in der Liste der 44 Regisseure der Frontkinochronik nicht angeführt.

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im Weiteren zeigen werde, gibt es keinen Grund, Karmen die intellektuelle und kreative Autorschaft für den Film, die er sich im Hinblick auf die Filmpoetik und -rhetorik ohnehin mit den Fords und Bossak teilen muss, streitig zu machen. Setkina ist für den Schnitt in Moskau und u. U. auch für die spätere Redaktion und Kürzung von 1949 zuständig. In den meisten russischen Filmografien und Biografien wird Setkinas Name weder für den Katyn’- noch die Majdanek-Filme angeführt. Umgekehrt wird auf der Seite des Dokumentarfilm-Studios Karmen als der Autor des Majdanek-Films genannt.67 Auch wenn beide in diesen Funktionen im Vorspann der mir zugänglichen Versionen nicht genannt werden, führe ich sie im Sinne einer Rekonstruktion der Autorschaften an. Weitere Namen sind aus Katalogen (v. a. Krasnogorsk) und Filmografien rekonstruiert: Die russische Version Majdanek. Kino-dokumenty o čudoviščnych zlodejanijach nemcev v lagere uničtoženija na Majdaneke v gorode Lublin [„Autor-Regisseur und Leiter der Aufnahmen“68 vor Ort: Roman Karmen] [„Regisseur des Schnitts“ in Moskau 1949?: Irina Setkina] Ton: [S. Sienkiewicz, Viktor Kotov? – u. U. erst 1949] Regieassistenz: [Ol’ga Minskaja, Ljudmila Nekrasova und Ludvik Perskij] Musik: [Sergej Potockij und/oder David Štil’man]69 Kameraleute: Avenir Sof’in, Roman Karmen, Viktor Štatland.70 Nicht im Vorspann: [Oleg Samucevič], [Vladimir Šnejderov am 13.8.44], [Igor’ Komarov],71 [Evgenij Efimov].72

67 Setkina wird jedoch in keinem der Vorspanntitel, die ich sichten konnte, angeführt. Es ist durchaus möglich, dass sie erst 1949 für den Umschnitt hinzugezogen wurde. Majdanek fehlt auch in der Filmografie ihres Werks auf der Seite des CDSF: https://csdfmuseum.ru/names/16ирина-сеткина-нестерова [1.9.2019] 68 Zu dieser üblichen Beschreibung von Karmens Funktion vgl. weiter unten. 69 Im Krasnogorsker Katalog für die 417,6 m-Version. Vgl. hierzu mehr im Kap. 5. 70 In dieser nicht-alphabetischen Reihenfolge: S – K – Š (die letzteren beiden, deren Namen nicht slavisch klingen, sind Parteimitglieder, Sof’in nicht). 71 Da er aus Gomel’, Weißrussland (Derjabin 2016, S. 429), stammte, findet man auch die Schreibung Igar. 72 Auch der Name David Ibragimov [am 27.11.44] taucht zuweilen auf. Fomin (2018, S. 63) erwähnt seine Beteiligung an den Majdanek und Lublin-Aufnahmen, er ist jedoch in keinem der Vorspanne, ebensowenig wie Efimov. Der Tatare Ibragimov war – wie Sof’in – aus Saratov und wurde wie dieser mehrmals ausgezeichnet. Da er ein Spezialist für Luftaufnahmen war, kann es sein, dass er im November 1944 zusätzliche Einstellungen aus dem Flugzeug drehte. Verbürgt ist jedoch nur sein Name (unter dem Sof’ins) auf einer Schnittliste vom 27.11.44 zu Aufnahmen des Lubliner Gerichts (VS 1641 in Fomin 2018, S. 560). Daraus entstanden zwei Filme, einer hieß Sud nad palačami Majdaneka Gerichtsverfahren der Henker von Majdanek und der zweite: Sud nad palačami nemeckogo fašistskogo konclagerja Majdaneka / Gericht der 37

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Produktion: Zentrales, mit dem Roten Banner ausgezeichnetes Dokumentarfi lmstudio Moskau Premiere: 4.-12. Januar 1945, in den Moskauer Wochenschaukinos Novosti dnja und Vostokkino. (Abb. 1.12)73

Abb. 1.12 Das Kino Novosti dnja auf dem Tverskoj Bul’var (früher: Velikij nemoj), Moskau 1948. Fotograf unbekannt; https://pastvu.com/p/35084?fbclid=IwAR1ft Ng5Y9NXBa sr9bVxJZR9kpFLy2JtxjMuDH6ZVic0T6wyAff xlEcIyAU

1.4.2.3 Hinweise auf eine „Exportversion“ Es haben sich im Krasnogorsker Archiv außerdem 19 Rollen im Umfang von 2483,3 m (1:30:46) erhalten, die auch von den zur Mühlens ausgewertet wurden. Sie enthalten auch das Material, das in keine der überlieferten Versionen der 1940er eingegangen ist (bzw. später aus ihm entfernt wurde). In Krasnogorsk sind diese eineinhalb Stunden unter der Registrierungsnummer 10856 katalogisiert.74 Als Studio wird das CSDF angeführt, kein Henker des deutschen faschistischen Lagers Majdanek (Bestandteil der Nummer 18 der sowjetischen Chronik Novosti dnja, s. u.), beide CSDF, 1944. 73 Zur russischen Premiere findet sich am meisten bei Hicks 2012, S. 172. 74 Die russische Beschreibung im Katalog lautet: „1-19 ч. - Деятельность Советско-польской комиссии по расследованию злодеяний, совершенных в лагере смерти Майданеке: осмотр лагеря, допрос обвиняемых и бывших заключенных. Заседания комиссии, выступления ее участников. 20 ч. - Панихида по жертвам Майданека в г. Люблине. Прим.: нег: 1–70; 2–248; 3–150; 4–166; 5–45; 6–55, 4; 7–203; 8–944 9–102: 10–74, 7; 11–168, 9; 12–194, 6; 13–94;

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Regisseur genannt und als Kameraleute Sof’in, Štatland, Solov’ev, Wohl und Forbert, wenn auch falsch geschrieben als Vol’t und Farbert (Вольт, Фарберт); dies bedeutet, dass die Namen nicht aus einem (entfernten) Vorspann oder schriftlichen Dokumenten wie Montagelisten stammen, sondern aus einer mündlichen Mitteilung oder einer fehlerhaften Überlieferung in kyrillischer Schrift. Nicht aufgeführt werden Karmen oder Samucevič, was darauf hindeuten könnte, dass es sich – aus der Sicht des CSDF bzw. des Archivs – hier in erster Linie um unverwendetes und archiviertes Material der Sojuzversion handelte, denn der Sowjetbürger Samucevič wurde dem polnischen Team zugerechnet (wir erinnern uns: als „Samucewicz“ in polnischer Schreibung galt er als Fords Assistent)75 und Karmen wurde nach dem in Nürnberg gezeigten Film v. a. als Autor der Exportversion wahrgenommen.76 Da von Samucevič keine Montagelisten überliefert sind, er jedoch im RGAFKD-Katalog erwähnt wird, möchte ich vorschlagen, den Assistenten Samucewicz/ Samucevič als Verbindungsglied zwischen den Fords und Karmen anzusehen, d. h. auch als weiteren Hinweis auf ihre Kooperation. Wie man diesen Aufstellungen entnehmen kann, wurden die polnischen Kameraleute im sowjetischen Vorspann nicht angeführt, ihre sowjetischen Kollegen sind umgekehrt jedoch in der polnischen Fassung überwiegend namentlich genannt. In den jeweiligen Katalogen der nationalen Filmotheken und Archive werden diese und andere Versäumnisse manchmal nachgetragen oder berichtigt, so dass sich parallele Filmografien ergeben, die des Vorspanns, die der Archivkataloge bzw. von öffentlich zugänglichen Datenbanken. Die aus den Montagelisten gewonnenen Filmografien dürften jedoch die zuverlässiger sein und erlauben auch alternative Rückschlüsse auf den Stab bzw. Autorschaft für bestimmte Ideen und Sujets. Wie ich schon erwähnt habe, sind auch nicht alle Kameraleute, die mit Hilfe der Montagelisten zugeordnet werden können, im russischen Vorspann vertreten. So stammen etwa die Luftaufnahmen mit Sicherheit von Vladimir Šnejderov (laut seiner Montageliste Nr. 1052 vom 13.8.44). Die Trauerfeier und Anderes wurde auch von I. Komarov („Ассистент оператора: И. Комаров“; s. u.) gefilmt, der als Hilfskameramann von Štatland in Majdanek tätig war (vgl. Montagelisten 1020, 1021 in Fomin 2018, S. 415), jedoch als Assistent nicht genannt wurde. In den späteren veröffentlichten Schnitt- und Kompilationsfilmen wurden ebenfalls auch nur die sowjetischen Kameraleute erwähnt, was Hicks (2012, S. 159) als „ungerechten Lapsus“ auffasst: „Film Documents Atrocities Committed by the German-Fascist Invaders, the Soviet film shown at Nuremberg Tribunal, attributes all its footage from Majdanek to the Soviet team, with the Polish cameramen receiving no credit, though this may well be 14–32; 15–171, 2: 16–119, 5; 17–286; 18–105; 19–76, 5; 20–330, 5 м. Язык русский, возможн. и др. языки ч. 6–19 синхр.“ 75 Derjabin führt in seinem Artikel über Samucewicz im Werkverzeichnis die polnische Version des Films an, nicht die russische (ibid., S. 727). 76 Die späteren Bemühungen um Eintragungen bzw. Nachträge im RGAFKD-Katalog mögen auch buchhalterische oder rechtliche Gründe gehabt haben. 39

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an unjust lapse.“ Das Auslassen der nicht-slawischen Namen der Kameraleute Wohl und der Brüder Forbert, von denen einer den 1945–46 denkbar unpassenden Namen Adolf trug, ist jedoch bei einem nach Nürnberg geschickten Film sicherlich kein Zufall; man wollte keine germanischen Namen auf der Leinwand während eines Tribunals sehen, das sich gegen die Deutschen wandte. Zudem ist die Nichtnennung in einem Kontext der zunehmenden Dejudaisierung und Degermanisierung nach Kriegsende zu sehen. Soweit dies durch das Studio selbst vorgenommen wurde, kann man von einer Art reaktiven Antisemitismus bzw. einer defensiven Reaktion der Filmleute selbst auf die in der UdSSR erstarkenden antisemitischen Stimmungen sprechen. Ein aggressives Herausstreichen und Löschen von Namen durch verschiedene Zensurmechanismen ist gerade gegen Ende der 1940er nicht ausgeschlossen.

1.4.2.4 Die französische Fassung (UA 4/1945) Eine für die Rekonstruktion wichtige Rolle nimmt die französische Fassung ein, da sie laut Vorspann 1944 fertiggestellt, aber – laut Hicks (2012, S. 173) – erst im letzten Drittel des Monats April 1945 distribuiert wurde. Hicks schreibt, dass der französische Zensor die Premiere aufgeschoben habe, um die Angehörigen der nach Majdanek Verschleppten nicht unnötig zu beunruhigen.77 Offensichtlich repräsentiert sie einen frühen Versuch, „Exportversionen“ im Westen zu vertreiben. Rezensiert wurde sie laut Hicks (2012, S. 255) von Georges Sadoul in Lettres françaises (21.4.1945, S. 5), unter dem Titel „Le Camp d’extermination Maidaneck.“ Sadoul verwendete eine ‚germanisierte‘ Schreibung des polnischen Wortes (mit dem Monat „Mai“ verknüpfend und das -ek durch -eck ersetzend wie in Grafeneck) und führte damit eine weitere Variante des uneindeutigen Lager-Toponyms ein, die das Slawische minimiert und das Germanische betont.78 Maïdanek. Camp d’extermination Kamera: A. Sofine, G. [sic] Karmen, V. Statland. Produktion: „Une production U.R.S.S Intorgkino.“ CSDF 1944. U.F.P.C. (Union de Française Production Cinématographique).79 14:25 Minuten. Dieser kurze Film entspricht von allen mir bekannten 1944 fertiggstellten Fassungen am ehesten einer aktuellen Nachricht über ein befreites Lager. Anders als die im Kommentar77 Diese Begründung verwundert, da das Lager ja bereits seit neun Monaten liquidiert war und die in Lublin/Majdanek befreiten Franzosen – so heißt es im französischen Film – bereits zu Hause waren: „Der Franzose Corentin Le Dû ist dem Tode entronnen und ist nun zurück in Frankreich“. 78 Diese Schreibung wird in Frankreich zuweilen noch verwendet wie etwa hier: http://www. monument-mauthausen.org/+-LUBLIN-MAJDANECK-114-+.html?lang=fr [15.8.2018] 79 Es handelt sich um eine französische Produktions- und Distributionsfirma, die ab den 1930ern und auch während des Kriegs tätig war: https://www.unifrance.org/annuaires/societe/351382/ union-francaise-de-production-cinematographique-ufpc [15.8.2018]

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text eigenständigeren Beiträge von British Pathé und der amerikanischen Wochenschau, die die Stadt Lublin zum Thema machen, konzentriert er sich auf das Vernichtungslager (bezeichnenderweise fehlen die Szenen der Ermordeten in Lublin bzw. die Trauer um sie, die sonst in allen Filmen enthalten sind). Teile des Kommentars wurden ins Französische übersetzt und es wurde eine andere Musik verwendet. Der Film enthält eine geografische Verortung von „Maidaneck, 2 km von Lublin“ und das Wort „Vernichtungslager“ auf Deutsch. Die polnischen Kameraleute und andere Teammitglieder werden im Vorspann nicht angeführt, betont wird jedoch das Wirken der polnisch-sowjetischen Kommission und andere Formen der Zusammenarbeit zwischen Polen und Sowjets. Als Länder, aus denen die Häftlinge deportiert wurden, werden u. a. genannt: „France, Belgique, Tchécoslovaquie, Yougoslavie“ und Polen sowie die besetzten Gebiete der UdSSR. Juden kommen auch in dieser Aufzählung nicht vor. Erwähnt wird Himmlers Besuch und ein kurzer Ausschnitt des Verhörs des SS-Manns Schollen ist zu sehen (ohne Originalton, der hier überhaupt fehlt). Ordentliche Reihen von Schädeln und aufgeschichtete Knochen werden halbnah gezeigt. Der Begriff der „Sonderbehandlung“ wird erwähnt wie auch die Ermordung griechischer Intellektueller. Erklärt wird, dass in Majdanek Menschen „durch Gas oder andere giftige Substanzen erstickt wurden“ („l’asphyxiation par le gaz et les substances toxiques“). „Eine der sechs Gaskammern“ („Zellen“) wird gezeigt und ihre Funktion erklärt: Die Häftlinge mussten sich ausziehen, „Zyklon wurde eingeführt“. Der Sprecher sagt, dass das „Gas“ manchmal durch eine Mischung Namens Zyklon ersetzt wurde (Großaufnahme der Büchse mit Zyklon-B). Die französische Fassung enthält ein Motiv, das in den anderen Fassungen zu fehlen scheint und eine gewisse Exportqualität aufweist: Der polnische Häftling Stanislawski erzählt von Jazzmusik („musique de jazz“) aus Lautsprechern, die die Schreie der Opfer während der Massenerschießung am 3. November 1943 übertönen sollte;80 auch hier wird nicht erklärt, dass dieses sog. „Erntefest“ sich gegen Juden richtete. Während dieser „Aktion“ erschossen Polizisten und SS-Leute im Distrikt Lublin über 42.000 Juden. B. Schwindt (2005, S. 280) nennt dieses im Westen bis heute wenig bekannte Ereignis „eines der größten Massaker im Kontext der ‚Endlösung‘.“ Es ist der Schriftsteller Konstantin Simonov (Petrograd 1915 – Moskau 1979), der als erster beschreibt, wie am 3.11.1943 aus Lautsprechern („rupory“) Tag und Nacht Foxtrott und Tango gespielt wurde.81 Obwohl er zuvor mehrmals Juden in den Aufzählungen 80 „On November 3, 1943, in Operation ‘Erntefest’ (Harvest Festival), special SS and police units dispatched to Lublin specifically for that purpose shot 18,000 Jews just outside the camp. At least 8,000 of the victims were Majdanek prisoners; the remaining 11,000 were forced laborers from other camps or prisons in Lublin city. During the operation, music was played throughout the camp over loudspeakers to drown out the sounds of mass murder. This massacre at Majdanek on November 3, 1943, was, in the number of victims, the largest single-day, single-location killing during the Holocaust.“ http://www.ushmm.org/wlc/en/article.php?ModuleId=10005190 [15.1.2016] 81 „Всего их прошло в этот день 18 тысяч. Половину составляли мужчины, другую – женщины и дети. Дети до восьми лет шли вместе с женщинами, а те, что старше, составляли 41

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erwähnt,82 werden sie nicht als Grund und Ziel der in Majdanek 18.400 zählenden Opfer der „Aktion Erntefest“ identifiziert. Und doch begriffen 1944–45 aufgrund der zynischen Bezeichnung viele Menschen – v. a. in Osteuropa – wovon die Rede war. Dies zeigt das Schaffen des bedeutendsten deutschsprachigen Dichters des Holocausts bzw. der farnichtung der Juden (zum Begriff vgl. Kap. 2). Paul Celan (Cernăuţi 1920 – 1970 Paris) hat in Rumänien sein Gedicht „Todesfuge“ über die Vernichtung der Juden 1944 unter dem Eindruck der sowjetischen Berichterstattung zu Lublin/Majdanek begonnen, in der das Spielen von Tanzmusik erwähnt wurde.83 Celan übersetzte damals bereits aus dem Russischen, konnte also alles im Original rezipieren. Die französischsprachige Intorgkino-Produktion Maïdanek. Camp d’extermination stellt somit eine eigene Fassung dar. Aufgrund der Aussparung des Originaltons der Zeugenaussagen ist sie näher an der russischen Fassung, die offensichtlich auch die „Exportfassung“ vormodellierte. Wäre die filmische Information über den Judenmord in einen Majdanek-Film von 1944 eingegangen, wären sie in dieser gut aufgehoben gewesen. Diese Version von 1944 trägt jedoch bereits die Spuren der Unterschlagung des Genozids und entsprechend dürfen wir auch hier wieder die Puppe nur in Nahaufnahme sehen – ohne den Koffer mit dem Namen Rosa Sara Stern.

отдельную колонну. Они тоже шли по пяти в ряд, сцепившись руками. Через два часа после того, как голова колонны втянулась в лагерь, по всему лагерю и в окрестностях заиграла музыка. Из нескольких десятков рупоров летели оглушительные фокстроты и танго. Радио играло все утро, весь день, весь вечер и всю ночь.“ (Simonov, „Lager‘ uničtoženija“, Krasnaja zvezda, 10. August 1944, S. 3) 82 Simonov mag für das Schicksal der Juden und antisemitische Diskriminierung sensibilisiert worden sein, da seine beiden ersten Frauen aus jüdischen Familien stammten: Natal’ja Ginzburg (Odessa 1916 – Moskau 2002) und Evgenija Laskina (Orša 1915 – Moskau 1991). Auch wenn er von der literarischen Redakteurin Laskina seit 1940 getrennt war, hatten sie doch einen gemeinsamen Sohn, Aleksej Simonov (*1939). Er setzte sich – wie bereits seine unerschrockene Mutter, der wir die Publikation von V. Šalamov und Bulgakovs Master i Margarita/ Meister und Margarita verdanken – gegen die Zensur und für Menschenrechte ein. Laskina wurde laut A. Simonov aufgrunddessen, dass sie Jüdin („za evrejstvo“) war, 1949 entlassen und konnte erst sieben Jahre später wieder als Redakteurin arbeiten: „В 49-м году, возглавляя Литдрамвещание, Сергей Георгиевич уволил за еврейство из этого самого Литдрамвещания мою маму Евгению Самойловну Ласкину, после чего она 7 лет оставалась безработной и не могла никуда устроиться, пока не начала работать в только что образовавшемся журнале „Москва“.“ (Simonov, A. / Kiselev 2009) 83 Vgl. den mit seltenen Illustrationen zum Thema ausgestattete Blog-Eintrag von Edgar Hauster vom 23.5.2013 http://hauster.blogspot.com/2013/05/the-genesis-of-paul-celans-todesfuge.html [12.12.2018]

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1.5 Vertovs Novosti dnja № 18 über Lublin (November 1944) 1.5

Vertovs Novosti dnja № 18 über Lublin (November 1944)

Im Archiv von Krasnogorsk ist unter der Nummer 18 der sowjetischen Novosti dnja / Neuheiten des Tages eine Wochenschau über das Lubliner Gerichtsverfahren im November 1944 verzeichnet (Новости дня № 18, Registrierungsnummer 5047: „Польша. Город Люблин. Судебный процесс над немецкими палачами из концентрацинного лагеря смерти Майданек. Приведение приговора в исполнение.“ – „Polen. Die Stadt Lublin. Gerichtsverfahren der deutschen Henker des deutschen Konzentrationstodeslagers Majdanek. Ausführung des Todesurteils.“ 1 Akt, 302,6 m). Als Regisseur wird Dziga Vertov angeführt, der damals im sowjetischen Wochenschaustudio arbeitete, das auch für die Postproduktion der Majdanek-Filme verantwortlich war. Vertovs Frau Elizaveta Svilova sollte in demselben Studio später leitend am Schnitt einiger KZ-Filme und eines Gerichtsfilms über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess beteiligt sein, so an Auschwitz: Kinodokumenty o čudoviščnych prestuplenijach germanskogo pravitel’stva v Osventsime / Filmdokumente über die ungeheuerlichen Verbrechen der deutschen Regierung in Auschwitz (1945), dann Kinodokumenty o zverstvach nemecko-fašistskich zachvatčikov (1945/46) und dem sowjetischen Film über Nürnberg Sud narodov / Gericht der Völker (1946). Man darf davon ausgehen, das Svilovas Arbeit an diesen für die visuelle Erschließung der Zeugnisse des Mords an den Juden zentralen KZ- und Nürnbergreportage- und Gerichtsfilmen zu einem Austausch zu dem Thema des Judenmords zwischen Vertov und seiner Frau geführt hat; u. U. hatte das seine Auswirkung auf Svilovas Zusammenarbeit mit Karmen, der in einem unveröffentlichten Gedicht Vertovs („Parodie auf die ‚Sympathisanten‘ und „‚Tröster‘“) als einer der Bannerträger der „Methode Dziga“ erwähnt wird – wenn auch ironisch:84 „Alles ist gut, glücklicher Dziga / Alles läuft gut. / Ihre Methode lebt. / Ehefrau Liza / Hat sie auf andere übertragen. / Sei es ein Film. Sei es eine Skizze. / Sei es Vojtechov oder sei es Karmen. / Überall Ihr Stil, überall Ihre Handschrift. […] Es begeistert der Film Auschwitz. / Und Svilovas Gericht der Völker, / Und ihr (zusammen mit Rajzman) gemachtes Berlin.“85 Hier wird erstens Karmen als Erbe der Methode genannt, zweitens der „Stil“ wie auch die „Handschrift“, die in den sowjetischen Filmen zum Sieg über Deutschland und die Enthüllung der Gräuel 84 Wenn die Beziehungen zwischen Vertov und Reporter Karmen nicht immer wolkenlos waren, sollte man die angebliche Feindschaft zwischen ihnen nicht überbewerten. Wie zahlreiche andere Regisseure (etwa Ėjzenštejn) verübelte Vertov es dem jüngeren Karmen, dass er 1936 nach Spanien geschickt wurde (vgl. Šumjackijs Schreiben an Stalin und Molotov, veröffentlicht als Dokumente № 121, 134; in: Kremlevskij kinoteatr 2005). 85 „Пародия на „сочувствующих“ и „утешающих“ / Все хорошо, счастливец Дзига. / И хороши у Вас дела. / Ваш метод жив. Супруга Лиза / Его к другим перенесла. / И будь то фильм. И будь то очерк. / Будь то Войтехов, иль Кармен. / Везде Ваш стиль, везде Ваш почерк. […] Волнует фильм „Освенцим“. / И свиловские: „Суд народов“, / и (вместе с Райзманом) „Берлин“.“ (RGALI: f. 2091, op. 2, ed. chr. 232, l.54). Ich danke Luis Felipe Labaki, der mir im November 2018 eine Transkription dieses Gedicht zur Verfügung gestellt hat. Laut seiner Datierung wurde dieser Text Ende 1946 oder Anfang 1947 verfasst. 43

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der Konzentrationslager wahrnehmbar sind – sie alle sind den „tugendhaften Weg der Kinopravda und der Poeme“ („Путь киноправды и поэм“) gegangen. Luis Felipe Labaki weist darauf hin, dass nur bei dem KZ-Befreiungsfilm der Autor nicht bezeichnet ist86: „Es begeistert der Film Auschwitz.“ Deutet Vertov hiermit an, dass in diesem Film am stärksten sein „Stil“ und seine „Handschrift“ vertreten sind? Bei anderen ist penibel die Beteiligung der Hauptautoren vermerkt: Svilova bzw. Svilova und Rajzman. Unter Umständen könnte man daraus bei Svilovas Schnitt des Auschwitzfilms eine gemeinsame Redaktion ableiten, oder zumindest jene Ko-Autorschaft, die Svilova und Vertov von frühester Zeit bei ihren Filmarbeiten verband.87 Karen Pearlman, John MacKay und John Sutton (2018) sprechen bei dem Filmemacherpaar von einer „verteilten Kognition“88, die sowohl im gemeinsamen Sichten des Materials („Watching is one of the forms of cognitive expertise they shared, and through which they would „familiarise“ […] themselves with the material together“) als auch der Montage bestand. Christopher Penfold hat in seiner Dissertation Elizaveta Svilova and Soviet Documentary Film (2013) einen Vorstoß in Bezug auf das Lebenswerk von E. Svilova gemacht. Allerdings ist seine Interpretation des Films Auschwitz: Kinodokumenty o čudoviščnych prestuplenijach germanskogo pravitel’stva v Osventsime, hier bezeichnet mit dem polnischen Ortsnamen Oświęcim, aus verschiedenen Gründen nicht haltbar: Oświęcim’s absence of singular Jewish suffering, recognising it – if at all – in only vague and almost abstract terms within the realm of universality, lies as much in Svilova’s shot selection as it does in the act of cutting them together, and not only in the shots selected for inclusion but in the shots that were not. It is for this reason that a study of Svilova’s role in the film cannot be overlooked, despite her absence from the shooting location. The result of her selection and rejection process is a film that suggests Jews suffered almost inadvertently, embroiled in Hitler’s war against the Slavic people, a line that followed the Soviet authorities’ rejection of the Holocaust and “restricted the representation and discussion of the fate of Jewish victims as being separate from that of Soviet citizens more generally and other occupied peoples”.89

86 E-Mail-Korrespondenz vom Dezember 2018. 87 „Vertov was very proud of Svilova’s work on the Sud Narodov film.“ (Mitteilung von John MacKay am 12.8.2018). Vgl. auch die wertvollen Erinnerungen von Semiramida Pumpjanskaja, in denen sie über ihre Zeit im kasachischen Alma-Ata spricht, wo sie das unzertrennliche Paar 1941 kennenlernte, das jedoch in der Filmstudioevakuation, wo ein „furchtbarer Antisemitismus herrschte“, wenig freudig empfangen wurde: „Irgendwelche Vertovs sind angekommen“ („Kakie-to Vertovy priechali“ – Pumpjanskaja 2003, S. 66–67). 88 „The distributed cognition framework postulates that the work of mind is not exclusively taking place inside individual brains. Rather, complex cognitive processes are distributed across ‘material, symbolic, technological, and cultural artifacts and objects as well as other people’ (Sutton 2008: 227).“ (Karen Pearlman, John MacKay, John Sutton 2018) 89 Penfold (2013, S. 104) bezieht sich in dem Zitat auf Zvi Gitelmans Bitter Legacy: Confronting the Holocaust in the USSR (1997).

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Es sind rein formale Gründe der studiointernen Zensur, die hier greifen und auf die ich im Weiteren eingehen werde. Abgesehen von der engen Zusammenarbeit von Vertov und Svilova, die Penfold ebenfalls erwähnt (so etwa das noch offiziell gemeinsame Pojekt Znamja pobedy / Siegesbanner, 1943, das in der Evakuation nach Zentralasien beendet wurde)90, ist es notwendig, sich den lebensgeschichtlichen Hintergrund von Svilova ins Gedächtnis zu rufen, der ein antisemitisches Herunterspielen der Judenvernichtung ihrerseits ausschließt. Ihr Mann Dziga Vertov wurde 1896 als David Abelevič / Abramovič Kaufman in Białystok91 geboren und hatte eine direkte Beziehung zur Befreiung der von den Deutschen besetzten ost-polnischen Gebiete, da der überwiegende Teil seiner Herkunftsfamilie dort noch lebte – bzw. während des Kriegs ermordet worden war. John MacKay rekonstruiert die Lage des Dokumentaristen Vertov, der nicht an die Front durfte und das bereits evakuierte Moskau bis zum letzten Moment nicht verlassen wollte.92 Er konnte während des Kriegs das Schicksal seiner jüdischen Familie nur aus der Ferne verfolgen: „Along with Mikhail and Boris, Vertov attempted to uncover the details of his family’s fate, but to no avail;“ (MacKay 2012, S. 291). Die Familie hatte in Białystok bereits 1906 ein Pogrom erlebt und lebte ab 1914 in Moskau, die Eltern waren jedoch später wieder nach Polen zurückgekehrt. David/Dziga hatte zwei Brüder: Mojsej/Michail Kaufman und Boris Kaufman, der später in die USA emigrierte. Die Verbindung der Brüder Kaufman zu den wechselnd besetzten

90 „At the Alma-Ata studio she directs Soviet Kazakhstan (Sovetskie Kazakhstan, 1942) and Banner of Victory (Znamia pobedy, 1943); the latter, co-directed with Vertov, indicates that their professional separation is not clear-cut – they take this opportunity to direct together one last time. In 1944 Soiuzkinokhronika became the Central Studio for Documentary Film. By then it had more than twenty divisions collecting newsreel material from across the Soviet Union and its output amounted to seventeen per cent of all film production. At the Central Studio for Documentary Film, Svilova cemented her status as a director-editor. She began directing episodes of News of the Day (Novosti dnia) in 1944 […].“ (Penfold 2013, S. 21) 91 Bzw. weißruss. Belastok, heute Białystok. Um die Jahrhundertwende, als Vertov dort lebte, waren mindestens zwei Drittel der Einwohner Juden. Seine russisch assimilierten und gebildeten Eltern waren Antiquare bzw. Bibliothekare, die Mutter war Tochter eines Rabbiners: „Chaja Ester Helena Kaufman nee Halpern was born in Bialystok, Poland in 1873 to Yerakhmiel and Hinda. She was a library director and married to Avraham. Prior to WWII she lived in Bialystok, Poland. During the war she was in Bialystok, Poland.“ (https://yvng.yadvashem.org/ index.html?language=en&advancedSearch=true&sln_value=Proginin_Halpern&sln_type=synonyms&sfn_value=Miriam&sfn_type=synonyms) Vgl. die Kurzbiografie des Vaters auf der Seite von Yad Vashem: „Abram Kaufman was born in Janowo, Poland in 1872 to Yekutiel. He was a business owner. Prior to WWII he lived in Bialystok, Poland. During the war he was in Bialystok, Poland. Abram was murdered in the Shoah.“ https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=1619515&ind=5 [5.3.2018] 92 Pumpjanskaja (2003, S. 66, 80) rätselt, warum im Oktober 1941 so auf seine Evakuierung aus Moskau gedrängt wurde und spricht die Vermutung aus, dass I. Bol’šakov befürchtet hätte, dass Vertov – obgleich Jude – aufgrund seiner „Bekanntheit im Westen“ mit den Deutschen kollaborieren würde (zu dem Fall eines für dieses Verbrechen von einem Tribunal Ende 1943 zum Tode verurteilten Kameramanns namens A. T. Emel’janov, vgl. Derjabin 2016, S. 17, 997). 45

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Grenzgebieten (Białystok liegt in den sog. Kresy in Ostpolen)93 schlugen sich in Michail Kaufmanns Film-Einsatz in diese Gebiete nieder, deren Resultate jedoch nie das Licht der Öffentlichkeit sahen.94 Vanessa Voisin präsentierte 2015 hierzu ihre Forschung auf einer Konferenz zu sowjetischer und NS-Filmpropaganda in der Kinemathek von Toulouse: „Before 1941, Soviet film material shot in Eastern Poland, in China (Roman Karmen’s film crew), and Mongolia was intended to improve the Red Army’s international image. Vanessa Voisin listed numerous Soviet filmmakers sent to document ‚the liberation of Western Ukraine and Western Belorussia‘ (that is, the annexation of the Polish Kresy) in 1939. Among the filmmakers appointed from Moscow, were Iakov Bliokh, Mikhail Romm, Aleksandr Medvedkin, Iakov Posel’skii, Mikhail Kaufman and Mark Troianovskii.“ (Tcherneva 2016) Laut MacKay plante Vertov während des Kriegs eine Dokumentation der Besetzung seiner Geburtsstadt plante, ein potentiell kontroverses Unternehmen.95 Aus dem Film Dziga Vertov i ego brat’ ja / Dziga Vertov und seine Brüder (2002, R: Evgenij Cymbal, RU) geht hervor, dass die beiden älteren Söhne sich um eine Reise zur Mutter (im Film heißt sie: Feiga Halpern) nach Białystok bemühten, die nur Michail gelang. Er versuchte jedoch vergeblich, sie nach Moskau zu bringen, da der NKVD nicht mitspielte. Białystok gehörte einst dem Geschlecht der Potocki, war seit 1807 Bestandteil des Zarenreichs und wurde als solches zu einem seiner bedeutendsten jüdischen Zentren, unweit der Grenze zu Kongresspolen. Białystoks Judenheit ereilte jedoch ein tragisches Schicksal, als die Stadt zu einem Spielball zwischen Hitler und Stalin wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Białystok Teil der 2. Polnischen Republik, im September 1939 von deutschen Truppen eingenommen, nach geheimer Absprache im Nichtangriffspakt unter seinem weißrussischen Namen Belastok am 22. September 1939 wieder sowjetisch. Im Zuge der am 22. Juni 1941 begonnenen Invasion der UdSSR wurde Białystok erneut von der Wehrmacht besetzt und bereits fünf Tage später am 27. Juni 1941 brannte ein deutsches Poilizeibataillon die Große Synagoge nieder, in die zuvor Hunderte von Juden getrieben worden waren. Die neuen Machthaber errichteten das Ghetto Bialystok, in dem es – neben dem Warschauer – einen der entschlossensten Aufstände gegen die deutsche 93 So wurden zwischen 1918 und 1939 die Gebiete östlich der Curzon-Linie genannt. Im September 1939 fiel das Gebiet unter sowjetische Besatzung, später unter deutsche. 94 „Two other film crews came from the Minsk studio (Iossif Veinerovich, Vladimir Tsitron) and the Kiev studio (led by Aleksandr Dovzhenko). Besides, Moscow offered the Red Army the services of two other film crews: Ivan Beliakov, Boris Burt and Abram Khavchin were assigned to film in ‘Western Ukraine’ (Tarnopol’, Lwów) and Aleksandr Brantman and Andrei Sologubov were delegated to ‘Western Belorussia’ (Białystok). However, though these crews shot a great deal of footage, the film administration in Moscow sharply criticised it for the lack of coordination between filmmakers and the armed forces and the absence of important military operations on screen. Neither the better known documentary Osvobozhdenie / Liberation (Aleksandr Dovzhenko, 1940, USSR) distributed one year later nor the short film Sovetskii L’vov / Soviet Lvov (Iakov Avdeenko, 1940, USSR) made much use of the 1939 footage, rather focusing on the benefits of Soviet annexation in the following year.“ (Tcherneva 2016) 95 Mitteilung von John MacKay am 12.8.2018.

1.5 Vertov Novosti dnja № 18 über Lublin (November 1944)

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Verwaltung gab. Die meisten der jüdischen Einwohner wurden in den Vernichtungslagern (darunter auch im 235 km entfernten KL Lublin/Majdanek und in Treblinka) ermordet. Vertovs Eltern überlebten nicht – ihr Schicksal und der Todestag sind in der Vertov-Forschung erst vor einigen Jahren diskutiert worden, die genauen Todesumstände sind jedoch weiterhin unbekannt. John MacKay (2012, S. 284) geht davon aus, dass sie in den Jahren 1941–43 ermordet wurden, da das von den Besatzern errichtete Ghetto in ihrer Stadt durch SS-Gruppenführer Odilo Globocniks Mannschaft Ende 1943 liquidiert wurde. Vertovs Tante Miriam (Maša) gab in Yad Vashem jedoch 1944 als Todesjahr von Chaja und Avram an, was durchaus bedeuten könnte, dass sie zu denjenigen Juden gehörten, die auf tragische Weise kurz vor der Befreiung von Białystok ermordet wurden.96 Dieser unmittelbare persönliche Bezug zur farnichtung spricht für eine weitere Motivation der Familie der Brüder Kaufman und auch der Ehefrau E. Svilova, über den Mord an den Juden im befreiten Polen zu berichten und die Welt darüber aufzuklären.97 Dies war für das Künstlerpaar Svilova und Vertov/Kaufman nicht ein abstrakter Genozid, sondern auf bittere Weise erlebte eigene Geschichte. Doch wie groß war das Interesse in der UdSSR an solch einem Projekt, und wollte man es Vertov anvertrauen? Dziga Vertov eignete sich als aus Białystok stammender Jude – trotz langjährigem slavischem Künstlernamen – aus der Sicht des Studios eher nicht für solch eine Arbeit, zumindest nicht in Form der öffentlichen Nennung seines Namens in einem Vorspann. Eine an Eigennamen erkennbare jüdische Identität – auch wenn durch ein Pseudonym negiert oder kaschiert – erhöhte im sowjetischen Kontext der zweiten Hälfte der 1940er Jahre nicht die Glaubwürdigkeit der „Kinodokumente“ über faschistische Gräueltaten. Und diese Auffassung vertraten nicht nur Antisemiten, sondern oft jüdische Filmleute selbst und die Produzenten. Hier erschien es offensichtlich dem Dokumentarfilmstudio selbst überzeugender, und war auch für die Studiofunktionäre sicherer, wenn im Vorspann russische Namen standen; so kann man davon ausgehen, dass (die Namen) Setkina und Svilova in autorenähnliche Positionen rückten, die sie eigentlich nicht innegehabt hatten – ein seltener Fall, dass Frauennamen Männernamen in Urheberfunktionen verdrängen. War vorher Vertov der führende Name des kreativen Gespanns, mag es nun umgekehrt gewesen sein. Vertovs psychische Verfassung war so angeschlagen, dass er sich von dem Eindruck der Ereignisse des Jahres 1944, in dem er fünf Drehbücher vergeblich eingereicht hatte, nicht mehr erholte; dies war auch das Jahr, in dem ihn die Kunde der Ermordung seiner Familie erreichte, er das Majdanek-Material sichtete und für eine Wochenschaunummer der Novosti dnja verwendete. Dies bedeutet, dass er wohl noch vor Svilova mit Filmmaterial, das die 96 Vgl. zu den Juden von Białystok F. Ackermann 2010, S. 171, der sich auf Sara Benders The Jews of Bialystok during World War II and the Holocaust (1998) bezieht. 97 Mehr hierzu wäre in den Boris Kaufman Papers zu finden, die sich im Edwin J. Beinecke Book Fund in der Yale University befinden: http://drs.library.yale.edu/HLTransformer/HLTransServlet?stylename=yul.ead2002.xhtml.xsl&pid=beinecke:kaufman&clear-stylesheet-cache=yes [15.9.2018] 47

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farnichtung enthielt, in Berührung kam, jedoch ohne den Grund des Todes der Millionen von Opfern – darunter seine eigenen Eltern – benennen zu dürfen. MacKay (2012, S. 291) schreibt über dieses Jahr: „After this point – that is from 1944 to 1954, when he died – Vertov stopped presenting ideas for fi lms, or new ideas about fi lm.“ Das Ende der (öffentlichen) Karriere Vertovs ist also nicht nur politisch und gesundheitlich bedingt, sondern es ist auch mit der individuellen Biografie des Dokumentarfi lmpioniers und seiner jüdischen Herkunft verbunden – ein Umstand, dem bisher in den meisten Darstellungen kaum Interesse entgegengebracht wurde.

1.6

Majdanekaufnahmen in Deutschland, den USA und nach Kriegsende

1.6

Majdanekaufnahmen in Deutschland, den USA und nach Kriegsende

Hier, vor den Toren von Lublin, wurden die Schandtaten verübt, die jedes Herz erstarren lassen, und dabei ist Maidanek nur ein Beispiel von vielen! DAS BLUT DER OPFER SCHREIT ZUM HIMMEL! (Vorspann der deutschen Filmversion Majdanek, Abb. 1.13)

Abb. 1.13 Der deutsche Vorspann: „Filmdokumente“

Da im Kontext von 1944–46 im Hinblick auf die Kopienanzahl – laut Hicks (2012, S. 260) waren 37 Kopien im Umlauf! – das historische Hauptpublikum der Majdanekaufnahmen Deutsche waren, möchte ich auf die deutsche Fassung eingehen, auch wenn sie erst nach Kriegsende zum Einsatz gekommen ist. Goergen hat sie 2015 fi lmografiert:

1.6 Majdanekaufnahmen in Deutschland, den USA und nach Kriegsende

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Maidanek. Filmdokumente von den ungeheuerlichen Verbrechen98 der Deutschen im Todeslager [sic] Maidanek in der Stadt Lublin (Sowjetunion 1944) Produktion: Zentralstudio für Dokumentarfi lme, Moskau / Kamera: A. Sofjin [= Avenir Sofin, auch: Avenir Petrovič Sofin], R. [= Roman] Karmen, W. Statland [im Vorspann: Stadtland] / Deutsche Bearbeitung: Tobis Format und Länge: 35 mm, s/w, 436 m, Kopienzahl: 37,99 deutsche Erstauff ührung: 3.8.1945, Berlin FN 8. Belegte Auff ührungen: 3.-11.8.1945, Berlin (Marmorhaus, Kurfürstendamm 236, „täglich“ um 17.30 und 18.00 als ausschließliches Programm). Es gibt auch eine längere deutsche Fassung der polnischen Version, die ca. 21 Minuten beträgt (570 m) und den Titel Majdanek – Grabstätten Europas trägt. (Abb. 1.14)100

Abb. 1.14 Deutscher Vorspann und Eindeutschung der drei sowjetischen Kameraleute

Günter Jordan (o. J.) schreibt über die Rezeption der Majdanekaufnahmen in Deutschland: Zwei Filme über die Befreiung von Konzentrationslagern und die darin verübten Verbrechen wurden nachweislich in Deutschland gezeigt, finden sich aber nicht im Verleihprogramm und wurden folglich für eine gezielte Aufk lärung der Bevölkerung nicht eingesetzt: „Maidanek“

98 In der deutschen Übersetzung des Titels von 1945 wird der Unterschied zwischen Übeltaten (zlodejanija) und Verbrechen aufgehoben. 99 Vgl. die Publikation Sowjetische Filme in Deutschland 1945–1948. Ein Nachschlagewerk. Berlin 1949, S. 155. Goergen bezieht sich auf die Rubrik „Berliner Bühnen“ in der Berliner Zeitung, 3.-10.8.1945. Die Urauff ührung fiel mit der Wiederöff nung der Kinos zusammen. 100 Deutschsprachige 35mm Kopie im BA-FA (Bundesarchiv-Filmarchiv): BA-FA Nr. K 241862-1. 49

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(1944), „Auschwitz“ (1945/1949). Bemerkenswert an dem zweiten Film ist, dass er 1949 noch einmal in die SBZ kam und nun auch eingesetzt wurde, als „unauslöschliches Brandmal“.101

Hier werden auch Vertovs Novosti dnja erwähnt: In der Wochenschau „Nowosti dnja“ (Das Neueste vom Tage) wurde über Prozesse gegen Naziverbrecher und Urteilvollstreckungen berichtet. Die sowjetische Wochenschau in deutscher Sprachfassung wurde allerdings nur bis Mitte 1946 in den Kinos eingesetzt.

Laut Hicks (2012, S. 174) wurde in den USA Ende April 1945 eine gekürzte Fassung von 14 Minuten gezeigt, die zusätzlich Aufnahmen von der Exekution vom 3.12.1944 enthielt, die auch in Kazimierz Czyńskis Dokumentarfilm Swastyka i szubienica / Das Hakenkreuz und der Galgen (1945) zu finden waren.102 Hicks erwähnt, dass im Sommer 1945 eine deutsche Fassung mit 16 Minuten Länge gezeigt wurde und weist darauf hin, dass Sojuzintorgkino in Berlin unter Entfernung des Siegesnarrativs deutsche Fassungen der Filme über Majdanek und Auschwitz erstellte (ibid., S. 185, 257). Dies führt vor Augen, dass die Majdanekaufnahmen, was die Chronologie angeht, sich zuerst an die Polen in Lublin richtete, jedoch die größeren Publikumszahlen wohl in Deutschland zu suchen sind.103 Majdanek-Material liefert einen zentralen Bestandteil des Films, der am 19.2.1946 im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess gezeigt wurde. Die nahezu einstündige sowjetische Filmkompilation (Document USSR-81), trägt zudem einen Titel, der dem des KZMajdanek-Befreiungsfilms ähnelt: Majdanek. Kinodokumenty o čudoviščnych zlodejanijach nemcev v lagere uničtoženija na Majdaneke v gorode Lublin / Majdanek. Filmdokumente über die ungeheuerlichen Übeltaten der Deutschen im Vernichtungslager Majdanek in der

101 Es wäre zu prüfen, inwieweit Jordans Behauptung zur frühen sowjetischen Filmpropaganda in der SBZ zutrifft – in Bezug auf die Majdanek-Aufnahmen ist sie nicht korrekt: „Es bleibt festzustellen, dass es von sowjetischer Seite kein spezielles Filmprogramm zur Aufklärung und Meinungsbildung in Deutschland gab. Die sowjetische Filmpolitik in der sowjetischen Besatzungszone überließ die Produktion von Filmen aller Gattungen der Deutschen Film A.G. (DEFA), die am 17. Mai 1946 ihre Produktionslizenz erhielt und zunächst als deutsche Firma, von Ende 1947 bis Mitte 1950 als sowjetisch-deutsche Aktiengesellschaft, dann wieder als GmbH fungierte, bis sie sich 1952 in Einzelstudios aufgliederte, die 1953 in volkseigene Betriebe umgewidmet wurden.“ (Jordan O. J.; https://www.politische-bildung-brandenburg. de/themen/ernstfall-demokratie/themen/das-re-education-programm-wird-gestartet/filmals-zeugnis-und-2) [12.8.2016] 102 „Das Filmstudio der polnischen Armee drehte 1944 auch den Kurzfilm SWASTYKA I SZUBIENICA [Das Hakenkreuz und der Galgen] (35mm, 590 m = 21’34“) über den ersten Majdanek-Prozess gegen vier Angehörige der SS-Wachmannschaften und zwei ,Kapos‘ vom 27.11. bis 3.12.1944 in Lublin. Benutzerkopie im Bundesarchiv- Filmarchiv (35mm, polnisch mit deutschem O-Ton, 703 m = 25’42“).“ (Goergen 2015) 103 Die deutsche Version ist auf der Seite des USHMM verfügbar: Opfer Schreit zum Himmel!“. https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn1000161

1.6 Majdanekaufnahmen in Deutschland, den USA und nach Kriegsende

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Stadt Lublin (1944/1945). Zum Vergleich der Titel des für Nürnberg gemachten Films: Kinodokumenty o zverstvach nemecko-fašistskich zachvatčikov / Filmdokumente über die von den deutsch-faschistischen Invasoren verübten Gräueltaten (1945/46; Leitung: Vladimir Bol’šincov, Kamera: Aleksandr Voroncov, Rafail Gikov, Kenian Kutub-Zade, Evgenij Dobroniickij, Mark Trojanovskij, Michail Posel’skij, Vasilij Solov’ev, Roman Karmen und andere; Schnitt: Elisaveta Svilova).104 Während „Gräueltaten“ (oder Bestialitäten, denn „zverstva“ kommt vom russischen Wort zver’, das Tier) ein Synonym der „ungeheuerlichen Übeltaten“ ist, enthält der für Nürnberg gewählte Filmtitel zusätzlich noch den politischen Begriff der „Faschisten“. Auf den Begriff des Filmdokuments (kinodokument) werde ich später eingehen. Ähnlich wie der Ende November 1945 im Gerichtssaal gezeigte amerikanische Film enthält auch der sowjetische Film ein Affidavit. Am 21.12.1945 unterschrieben verschiedene Kameraleute, darunter Aleksandr Voroncov, Rafail Gikov, Kenian Kutub-Zade, Evgenij Dobroniickij, Mark Trojanovskij, Michail Posel’skij, Vasilij Solov’ev und Roman Karmen dieses Dokument. Dieses wiederum wird betätigt vom Direktor des CSDF Vladimir Bol’šincov, der mitteilt, die Aufnahmen wären „sofort“ („nemedlenno“) nach der Befreiung gemacht worden, dass die Originalfilmstreifen in der „Filmothek des Studios“ (CSDF) aufbewahrt werden, und dass keine „Korrekturen von dem Moment an, als sie aufgenommen wurden“ („popravki s togo momenta kogda oni byli snjaty“) stattfanden. Da nicht nur sechseinhalb Minuten Majdanekaufnahmen in den in Nürnberg gezeigten 1-stündigen Film Filmdokumente über die von den deutsch-faschistischen Invasoren verübten Gräueltaten eingingen, sondern auch zahlreiche der Wort- und Bildmotive in Anwendung auf den etwa zehnminütigen Teil über Auschwitz übernommen wurden, könnte man dies auch als finale „Exportversion“ des Majdanek-Films ansehen. Majdanek-Einstellungen wurden später immer wieder in der UdSSR und auch im Ausland verwendet: So etwa in Michail Romms Obyknovennyj fašizm / Der gewöhnliche Faschismus (1965; Mosfil’m), in Karmens Dokumentarfilm Velikaja otečestvennaja / Der große vaterländische Krieg von 1965 und der sowjetisch-britisch-amerikanischen Ko-Produktion Neizvestnaja vojna / The Unknown War (Regie: R. Karmen, 1978) im Teil 16: Osvoboždenie Pol’ši / Befreiung Polens, der das Schicksal der polnischen Juden, das 1944–45 den sowjetischen Zuschauern nicht erzählt worden war, zumindest zum Teil aufgriff. Dieser Film, produziert von Fred Weiner (Air Time International, New York) gemeinsam mit Sovinfilm, hatte auch zwei Versionen – eine englischsprachige und eine russische (Velikaja otečestvennaja vojna). Die Serie kam auch ins DDR-Fernsehen, unter dem Titel Die entscheidende Front.

104 Кинодокументы о зверствах немецко-фашистских захватчиков (1945; 1623,9 m; CSDF; Nr. 6820). Die Aufnahmen der im Vorspann Genannten aus Lublin und Majdanek kamen von Karmen, Solov’ev und Michail Posel’skij. Der Film kann hier angesehen werden: https://www. youtube.com/watch?v=RKgnIdUCQkA [1.9.2019] Weder Štatlands noch Sof’ins Aufnahmen wurden in den sowjetischen Beweisfilm aufgenommen, Štatland durfte jedoch in Nürnberg filmen, wofür er später eine Auszeichnung erhielt. 51

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Etwas später kaufte sie auch der Westdeutsche Rundfunk (WDR) an, da diese alliierte Schilderung einmaliges Filmmaterial zu enthalten versprach. Der Spiegelredakteur Heinz Höhne schrieb nach der Sendung im September 1981: Prominente Kriegsveteranen hatten dabei assistiert: Der amerikanische Rußland-Experte Harrison E. Salisbury, im Zweiten Weltkrieg UPI-Korrespondent in Moskau, schrieb die Drehbuchentwürfe, der US-Produzent Isaac Kleinerman übernahm die künstlerische Oberleitung, der sowjetische Dokumentarfilmer Roman Karmen suchte mit 500 Helfern in den Filmarchiven geeignetes Material heraus, und am Ende setzte Armeegeneral Pawel Alexejewitsch Kurotschkin, im Krieg Befehlshaber mehrerer Armeen, an Text und Film den Zensorenstift an.

Höhne geht auch auf die Vielfalt der Schnitt-Fassungen ein, die der des Majdanek-Materials ähnelt: Das zeigte schon die Behandlung des Gemeinschaftswerks in Ost und West. Die Sowjets schnitten – entgegen der Vereinbarung einer identischen Fassung – für den Gebrauch in der UdSSR einige der Szenen, in denen Stalin auftritt, heraus und gaben ihm auch einen eigenen Namen, der den Zweck aufzeigt: „Der Große Vaterländische Krieg“. In den USA lief das Mammutwerk als „Der unbekannte Krieg“ – weil dem US-Produzenten Fred Wiener („Air Time International“) „das alles unbekannt war, doch nicht nur mir, sondern, so meine ich, den meisten Amerikanern“. Geldgeber waren die American Express Company und die Chase Manhattan Bank. (Höhne 1981)

Höhne weist auf die unüberbrückbaren Probleme hin, die historischen Fehler und Verfälschungen der Weltkriegspräsentation durch den Zensor Kuročkin, aber auch durch Karmen, zu berichtigen. Und wieder war Katyn’ der zentrale Stein des Anstosses: Doch als WDR-Redakteur Michael Eickhoff begann, das Drehbuch der amerikanischen Serienversion zu übersetzen, merkte er, daß die vielgerühmte Serie eine arge Schwäche hat: einen kümmerlichen Text. Eickhoff stieß auf „historische Ungereimtheiten, propagandistische Übertreibungen“, und bald erkannte er: „Die Sicht der Sowjets hat sich gegenüber den Amerikanern doch weitgehend durchgesetzt.“ Beispielsweise war die Stelle im Film, in der den Deutschen die Ermordung Tausender polnischer Offiziere bei Katyn angelastet wird, durch einen Hinweis auf die sowjetische Täterschaft ergänzt worden […] Je mehr aber die WDR-Redakteure den US-Text durchforsteten, desto unheimlicher wurde ihnen ihre Arbeit. Der Text enthielt so viel Fehlerhaftes, daß sie gut die Hälfte des ganzen Drehbuches hätten ändern müssen. Korrigierten sie aber nur einige Fehler und ließen die Masse der anderen unangetastet, so belasteten sie den WDR mit der Verantwortung für alle übriggebliebenen Ungereimtheiten – ein Risiko, das die Herren der Fernsehanstalt aus gutem Grund scheuten. (Höhne 1981)

Die Redakteure des WDR entschieden sich, Serie und Text unkorrigiert auszustrahlen – als „eine sowjetische Dokumentation“ (Hübner). Die Korrekturen wurden wieder rückgängig gemacht; Katyn bleibt im Film

Literaturverzeichnis

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ein deutsches Verbrechen […] Der Serientext macht ihnen die Arbeit nicht sonderlich schwer, denn hier stimmt vieles nicht: Zahlen und Daten sind meist falsch, strategische Konzepte werden mißverstanden, Armeen postiert, wo sie nie waren, und nicht selten Kampfhandlungen „dokumentiert“, die gar nicht stattfanden. (ibid.)

Und das „plakative“ Geschichtsbild dieser Serie, an der Karmen federführend beteiligt war, betrifft auch die Themen, die bereits in den Majdanek-Aufnahmen propagandistisch aufbereitet aufgetaucht waren, darunter auch das Thema der Vernichtung der Juden: Manche der schlimmsten deutschen Verbrechen sind nur angedeutet, weil sie gleichfalls nicht ins Bild passen: der Hungertod von Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen – weil Gefangenschaft als unehrenhaft galt; die Deportation von Millionen Zwangsarbeitern – weil viele der Rückkehrer nach dem Krieg zur Umerziehung in russische Lager gesteckt wurden; die Massaker der SD-Einsatzgruppen, weil überwiegend jüdische Sowjetbürger die Opfer waren, was in der UdSSR heute noch verschwiegen wird. Er bleibt im Plakativen stecken und verschleiert eher, als daß er aufklärt. (ibid.)

Da es sich bei den Majdanek-Filmaufnahmen um die frühesten Aufnahmen von Häftlingen in einem befreiten KZ handelt, finden sie sich auch in westlichen bzw. israelischen Dokumentarfilmen über den Holocaust wieder, obgleich keine Juden unter denen sind, die am Stacheldrahtzaun stehen. Gehören die Majdanek-Filme zu den „ersten Filmen des Holocaust“, wie sie von Liebman und Hicks beschrieben wurden? Hierfür bedarf es einer Definition des Begriffs des Holocaust – etwa in Abgrenzung zu dem Begriff des Genozids oder Mords an den europäischen Juden.

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Farnichtung – die osteuropäische Rezeption und Darstellung des Genozids an den Juden 2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

2

Niemand zeugt für den Zeugen (Paul Celan, „Aschenglorie“, 1967)

2.1

Der Begriff des „Holocaust“ im osteuropäischen Kontext

2.1

Der Begriff des „Holocaust“ im osteuropäischen Kontext

Der Begriff „Holocaust“ geht auf das griechische holókaustos („gänzlich verbranntes Opfer“) zurück, der in der Bibel bzw. in der klassischen Antike im Kontext der Brandopferung von Tieren verwendet wurde. In einem antijüdischen Zusammenhang taucht es zum ersten Mal im Mittelalter in einem christlichen Chroniktext auf, der ein Pogrom gegen die Londoner Juden beschreibt. Der sich ursprünglich auf Opfertiere beziehende Begriff wird erst im 20. Jahrhundert hauptsächlich auf Menschen übertragen, d. h. „Holocaust“ bezeichnet nun ein mit Hilfe von Feuer gebrachtes Menschenopfer. Ohne an dieser Stelle die Diskussion um die mangelhafte Eignung dieses Begriffs für die nicht-rituelle Verbrennung von Menschen im 21. Jahrhundert führen zu wollen, ist das Entscheidende, dass sich in dieser abstrahierenden und euphemistischen Trope eine verzerrende Distanz manifestiert, generiert aus einer vermeintlich unbeteiligten, abendländisch-christlichen Perspektive auf das historische Ereignis. Es ist a priori eine Außenperspektive auf das unerhörte Ereignis der von den Deutschen in Osteuropa scheinbar sinnlos nun im forensischen Sinne ‚gänzlich verbrannten‘ Opfer, die aber keinen Anteil an der Erfahrung selbst hat. D. h. auch überlebende Juden, etwa die der Vernichtung entkommenen Menschen in den Kindertransporten, können den Judenmord eher als „Holocaust“ wahrgenommen haben denn als Shoah oder farnichtung.105

105 Der Begriff „Vernichtung“ kommt allerdings in zahlreichen religiösen wie auch gelehrten Kontexten der 1940er Jahre vor und kulminiert in dem Buch eines Wieners, der vor den Nazis fliehen konnte: Raul Hilberg schrieb die Geschichte der Vernichtung der europäischen Juden (erschienen 1961 unter dem Titel The Destruction of the European Jews). Die deutsche Verwendung des Wortes als Lehnwort aus dem Englischen wiederum stellt eine Appropriation der distanzierten Haltung durch die Nachkommen der Täter dar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Drubek-Meyer, Filme über Vernichtung und Befreiung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30531-4_2

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2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

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Abb. 2.1 „Smoke over Majdanek – 3 November 1943“; https://www. holocausthistoricalsociety. org.uk/contents/ naziseasternempire/ aktionerntefest.html

Auch die am Tatort angekommenen „flight survivors“ als frühe Zeugen des „Holocaust“ können nur noch den Rauch dieses (Brand)Opfers wahrnehmen – so mögen sich die Fords und Karmen instinktiv für dieses indexikalische Zeichen des Genozids als Vernichtung durch Feuer entschieden haben – sei es als Rauch, der aus einer „Hölle“ kommt (einer häufige Bezeichnung für die Feuergruben und Scheiterhaufen), denn nicht überall standen Krematoriumsöfen, wie es sich die westliche Wahrnehmung und das auf Gaskammern und Krematorien verengend-gesäuberte „Holocaust“-Narrativ vorstellt. Das Feuer dieser Vernichtung können nur die Täter bzw. überlebende Mitglieder der Sonderkommandos als Augenzeugen beschreiben, auch „bystanders“ (Hilberg) berichten nur vom Geruch, der durch den Rauch nach Lublin getragen wurde. Wie in dem Foto von der sog. „Aktion Erntefest“ im November 1943, als Zehntausende Juden erschossen und verbrannt wurden und „der Gestank von verbranntem Fleisch bis in die Altstadt drang“ (Abb. 2.1). These horrible months are remembered by every old inhabitant of Lublin. Old Lubliners stated that the smoke and stench of burning bodies was realized in the whole town. After burning the bodies at Majdanek, members of the Sonderkommando were sent to other places in the Lublin district where other mass executions took place. They had to excavate the mass graves and burn the bodies. There are four known testimonies written by Jewish survivors of the Erntefest from Majdanek. The Sonderkommando was executed probably in Poniatowa and Chelm. Only two Jews escaped: Josef Reznik and Josef Sterdyner. The selected women were transferred to Auschwitz-Birkenau in March 1944. On the way to Birkenau Ida Mazower escaped, all the others were sent to the gas chambers. One survivor, Chaim Zacharewicz from Bialystok, was transferred to the Gestapo prison in Lublin. He survived the last executions in this prison during July 1944. Aktion Erntefest. Mass Murder of the Jewish Workforce in the Lublin District – November 1943106

106 Holocaust Historical Society 2014, https://www.holocausthistoricalsociety.org.uk/contents/ naziseasternempire/aktionerntefest.html [9.9.2018]

2.1 Der Begriff des „Holocaust“ im osteuropäischen Kontext

59

Im Rauch wie auch der Asche scheint der Beginn der metonymischen Poetik der Majdanek-Filme begründet, die sich auch auf andere Bereiche der Darstellung ausweitet. Wir werden speziell auf die Rolle von diesen Indizes und Spuren in den Filmen zurückkommen, doch schicke ich vorweg, dass es kein vom Genozid herrührender Rauch war, sondern ein sekundärer, u. U. gar nachträglich für die Kameras ‚inszenierter‘, der auch sogleich auf jegliche Vermitteltheit der filmischen Darstellung eines befreiten Lagers hinweist, seine Semiotik. Sollte es sich bei den Einstellungen tatsächlich um denjenigen Rauch handeln, der noch von der SS-Brandschatzung bzw. der Dokumentenverbrennung im Juli 1944 stammt, wären die Rauchbilder tatsächlich „allererste“ Aufnahmen, aber nicht vom „Holocaust“, sondern von seiner Vertuschung, die sich in der Zerstörung der Vernichtungsanlagen niederschlug. Auf die „Nacht-und-Nebel“-Aktionen107 der Nationalsozialisten gegen Widerstand in den besetzten Gebieten im Westen Europas, die auf den Hitler-Erlass vom 7. Dezember 1941 zurückgingen, folgte die „Aktion 1005“, die mit Hilfe von jüdischen Sonderkommandos in „Enterdungen“ die physischen Beweise des Massenmords samt ritueller Kleidung oder Ausweisen, die den Alliierten als Asservate hätten dienen können, in Rauch verwandelte. Die Film-Bilder des Rauchs sind also die frühesten Kameradokumentationen108 einer Praxis der Vertuschung und Leugnung des Völkermords, die Kameraleute in situ gemacht haben. Oder die Nachinszenierung dieses post-genozidalen Rauchs, der die jüdische Katastrophe (Shoah, churbn oder farnichtung) auf einen „Holocaust“ reduziert, ein Brandopfer sozusagen, dass die Täter bringen müssen, um der Verfolgung durch alliierte Gerichte zu entgehen oder zumindest ihr Gesicht zu retten. Denn auch wenn die grausame Arbeit der Exhumierung in ganz Osteuropa v. a. von jüdischen Zwangsarbeitern verrichtet werden musste, die mit wenigen Ausnahmen kurz danach selbst ermordet wurden, sah Himmler als oberster Chef des RSHA und Auftraggeber das Morden der „Einsatzgruppen“ wie auch die Überwachung der Sonderaktionen als Opfergang an, ein grauenhaftes, aber unvermeidliches Opfer, dass ‚seine‘ Männer bringen mussten. Die Sowjets wussten um die großangelegten „Enterdungen“ spätestens seit dem November 1943, als Kiew zurückerobert worden war. Paul Blobel war im August 1943 nach Babij Jar zurückgekehrt, um mit Hilfe von „300 Häftlingen des nahegelegenen KZ-Außenlagers Syretz, die Gräber zu öffnen“ und die Spuren seiner eigenen Tat zu verwischen; dazu gehörte die Vernichtung der dort im Herbst 1941 verscharrten „Figuren“, von denen die Untersuchungskommission „nur Asche und verkohlte Leichenteile“ vorfand (Neumärker und Nachama 2016, S. 196–197). Einigen der Zwangs-„Enterder“ von Babij Jar gelang die Flucht und „sie berichten noch im selben Jahr in den sowjetischen Medien“ (ibid.). Die Informationen waren ab 1943 also nicht nur den Geheimdiensten bekannt, sondern drangen auch an die Öffentlichkeit. I. Ėrenburgs interner Bericht spricht über „Nach-Arbeiten“ („In der letzten Zeit haben die Deutschen mit dem Verbrennen zuvor begrabener Menschen

107 Vgl. den Titel von Alain Resnais’ Dokumentarfilm Nuit et brouillard (1956, Frankreich). 108 Sie stammen aus der Zeit vor den geheimen Fotografien, die Alberto/Alex Errera einige Wochen später in Auschwitz-Birkenau angefertigt hat (vgl. G. Didi-Huberman 2007). 59

60

2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

begonnen“)109 vor dem Rückzug der Wehrmacht. Ab 1944 scheint dieses Thema jedoch in den Hintergrund zu rücken, wie auch Shneers Darstellung der (Foto)Dokumentation der Lager im Sommer und Herbst 1944110 oder der Artikel „Fabrika smerti v Sobibure“ zu Sobibor in Kosmomol’skaja Pravda vom 2. September 1944 zeigen. Auch die Majdanek-Filme brachten weder den ‚Nebel‘ noch den ‚Rauch‘ der „Aktion 1005“ zur Sprache. Möglicherweise gemahnen die Beschreibungen von Exhumierungspraktiken, die spätestens ab 1943 auf den besetzten (auch den sowjetischen) Territorien auf Hochtouren liefen, allzu sehr an die eigenen Gräber-Manipulationen, wie sie Anfang des Jahres 1944 in Katyn’ geschehen waren. Eine Ausnahme stellt Konstantin Simonov dar, der diese heiklen Themen im zweiten Artikel seiner Artikelserie vom August 1944 miteinander verbindet, auf die ich später noch zurückkommen werde: er sieht aber – voll und ganz auf der Parteilinie – die „Aktion 1005“ bzw. den Krematoriumsbau in Lublin bedingt durch „die Geschichte mit Katyn‘“ („istorija s katynskim delom“).111 Trotzdem kämpfte der Reporter und erfahrene Frontkameramann Roman Karmen – gemeinsam mit seinen polnischen Kollegen und Kolleginnen – um die Repräsentation dieser farnichtung, möglicherweise sogar auch um die Darstellung der Vernichtung der Beweise der farnichtung der Juden. Was Karmen und das Ford-Team aber im Sommer 1944 erst schrittweise nachvollzogen, ist, dass das KL Lublin/Majdan(ek) nicht das zentrale Vernichtungszentrum der Region war, sondern die eigentlichen Vernichtungsfabriken an anderen – nun camouflierten – Orten gestanden hatten; und eine war dort, wo sich jetzt Karmens Reporter-Kollege Vasilij Grossman befand. Einige Wochen später ging sie als „Treblinka-Obermajdan“ (Grossman 2002, erstmals in der sowjetischen Zeitschrift Znamja 1944, Nr. 11) in die Weltliteratur ein (Abb. 2.2). Karmen und Fords Team trafen in Majdanek auf einen Zeugen, der ihnen die „Nach-Arbeiten“ (Ėrenburg) in ihnen geläufigen Sprachen, also auf Jiddisch oder auf Polnisch, 109 Der Bericht wurde übersetzt und annotiert von Leonid Smilovitsky 1999: „During the attack on the Germans, I found myself in Bolshoi Trostinets. There were lying people from collective farms, killed by the Germans. The last Jews were killed, but they did not have time to burn them, so hundreds of corpses were lying there in stacks, like wood, and were recognizable. Among them there were women and children. There were huge piles of human remains, dug out for burning. Lately the Germans were burning previously buried people. This became their after-work when the notion of retreat became possible. All this left a horrible, extraordinary impression. Great number of skulls, numbered in thousands, was piled in the field. On the opposite side there were corpses, neatly stacked but not burned.“ https://www.jewishgen.org/ Yizkor/belarus/bel234.html [2.2.2020] Vgl. auch den Bericht von Julij Farber (1980), der bereits im April 1944 aus Ponary fliehen konnte. 110 Shneer (2010, S. 170–174 und S. 149–50) zu I. Ėrenburgs Bericht zum weißrussischen Maly Trostinets für das Jüdische Antifaschistische Komitee, der bereits am 24. Juli 1944 verfasst worden war, aber erst nach der Majdanek-Nachricht, im September, veröffentlicht. 111 „Необходимость постройки крематория была в значительной степени вызвана историей с катынским делом.“ (Simonov 1944, S. 3). Dies fehlt in der späteren ost-deutschen Publikation seiner Kriegstagebücher von 1979, die den aus Kolberg (Pommern, heute Polen) stammenden Egon Krenz als „militärischen Berater“ ausweist (Simonow 1979).

2.1 Der Begriff des „Holocaust“ im osteuropäischen Kontext

61

erklären konnte, etwa, dass die Verbrennung der bereits begrabenen und wieder exhumierten Leichen Bestandteil der von Himmler befohlenen und von Paul Blobel geleiteten „Entderdungsaktion“ war. Sie hatten die einmalige Möglichkeit, darüber aus erster Hand zu erfahren, denn der in dem oben angeführten Zitat zur „Aktion Erntefest“ erwähnte Josef Reznik war einer der wenigen Überlebenden, die nicht nur dabei waren, sondern auch Zeugnis ablegen wollten – und zwar zweimal: einmal auf Polnisch in Lublin (1944) und einmal auf Jiddisch in Jerusalem (während des Eichmannprozesses, 1961). Damit traten sie, wie auch Vasilij Grossman oder Helena Boguszewska, in einen „Kreis der Zeugenschaft“ (im Sinne von Arthur Franks „circle of testimony“ aus The Wounded Storyteller, 1995) ein, wie dies Eva Karpinski (2015, S. 22–23) im Fall nicht-jüdischer Autorinnen und Autoren nachzeichnet. Sie spricht bei der polnischen Autorin Zofia Nałkowska von einem Zuhören („listening to the stories of the embodied others“), aus dem ihr Buch Medaliony / Medallions (1946) entstand, ähnlich wie Jahrzehnte später die Werke der weißrussischen Autorin Svetlana Aleksievič. Doch auch diese sekundären ‚Ohrenzeugen‘ verdrängen in einer Art Selbstzensur manche Informationen – geleitet meist von einer Selbstschutzreaktion. Dies gilt gerade auch für jüdische sekundäre Zeugen wie die „flight survivors“ (Adler und Aleksiun 2014), darunter viele sog. „Asiatics“, über die Atina Grossmann (2017, S. 206) bemerkt, dass ihre Erfahrungen in Zentralasien sich von der ihrer Landsleute wie auch der in Polen überlebt habenden Juden unterschied: „Polish and Polish Jewish experiences have been narrated separately; we need to know much more about their encounters in the Soviet camps and in Central Asia and what their differing memories signaled after the war.“ Viele dieser 1939 vor Hitler in die UdSSR Geflüchteten kehrten nun mit der Roten Armee in ihre Heimat zurück und trafen dort auf die Spuren der Vernichtung bzw. die wenigen Überlebenden in Polen: Often, despite their awareness of German atrocities on the Eastern Front, it was at these border crossings that the “Asiatics” first came face-to-face with incontrovertible evidence of the Final Solution, confirming rumors that had been hopefully discounted as Soviet propaganda. (Grossmann 2017, S. 202)

Die Hoffnung der jüdischen Heimkehrer, dass es sich bei der „Endlösung“ lediglich um ein Gespinst „sowjetischer Propaganda“ handelte, zerschlug sich, sobald sie im Sommer 1944 Augenzeugen der ersten Lageröffnungen wurden. Angesichts dieser Schauplätze des industriell organisierten Massenmords traten bei den meisten „flight survivors“ die eigenen Leidensgeschichten in den Hintergrund: Members of the historical commissions set up in Poland or the DP centers to document and commemorate the Khurbn (as the DPs referred in Yiddish to the catastrophe that we generally name as the Holocaust or, even more recently, the Shoah), who had themselves survived in the Soviet Union, mostly silenced their own experiences and recorded only the stories of the camps, the ghettos, and the partisans. Journalists and poets, who published in the lively DP press, focused on memoirs of persecution and resistance, Zionist politics, and everyday life of the displaced, but hardly ever on the struggle for survival in Siberia or Central Asia. (Grossmann 2017, S. 205) 61

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2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

Dies galt v. a. für junge Männer wie Bossak, die Forberts oder Wohl bzw. Perski, die aus der UdSSR auch eine Frau mitgebracht hatten. Nicht ganz so einfach war es für diejenigen, die Familienmitglieder im Gulag oder in der sowjetischen Evakuation verloren hatten – wie etwa Olga Ford, die ihr Leben lang den Verlust des zweijährigen Sohns während der Evakuierung nach Taschkent112 nicht verwinden konnte.113 Ihr Schicksal illustriert das Dilemma der „flight survivors“, deren privates Leid, das sie dem unmenschlichen System der sowjetischen Lager und Deportationen zuschrieben, eine politische Bedeutung annehmen konnte, die in einem von der Roten Armee besetzten Land untragbar war. Hier kam es offensichtlich auch zur Entfernung von ihrem Ehemann, der als gläubiger Kommunist weiterhin tapfer in die Zukunft blickte; während er 1944 mit einer anderen aus Polen in die UdSSR verschleppten Frau einen zweiten Sohn zeugte, wird Olga selbst nie ein weiteres Kind haben. Wie ich später zeigen werde, ist es eben der Verlust eines nahen Familienmitglieds, der Olga Mińska-Ford als eine (vor dem Genozid) Geflüchtete empfänglich macht für die Erfahrungen der zu Hause gebliebenen Überlebenden. Als verwaiste jüdische Mutter ähnelt ihr Trauma demjenigen, das die empfinden, die Familienmitglieder in der farnichtung verloren haben. Atina Grossmann beschreibt das Trauma des Verlusts der Kinder: When the trainloads of Jewish repatriates arrived in Lodz, Radom, Krakow, and Warsaw, the few survivors of ghettos, camps, hiding, and partisan units “turned out to welcome the repatriates and gape,” but “they came not to stare at rags and pinched faces—any Jew who survived the Nazis inside Poland was familiar enough with these things.” In a world where, among the 3.3 million Polish Jews “alive when Hitler invaded that land” there were “hardly more than a hundred Jewish families [that still] stood intact,” they “came instead to gaze on walking miracles—whole Jewish families, complete with fathers, mothers and children!” Or as other repatriates recalled: “When the women saw our children they could not believe their eyes. They all said, ‘You still have children! Ours have all been killed by the Nazis.’” (Grossmann 2017, S. 202)

112 Zahlreiche Geflüchtete ließen sich vom Titel – nicht dem Inhalt – des sowjetischen Romans Taschkent, die brotreiche Stadt (Aleksandr Neverov, 1923) verführen sich in den Süden aufzumachen: „Following ‘rumors of warm climates and abundance of fruits and other food products’ or sometimes simply an attractive sounding place-name and the associations provided by a well-known novel with the enticing, if dangerously misleading, title Tashkent, City of Bread, the ‘amnestied’ embarked on a rush south to what they imagined were better and safer conditions in the Central Asian republics. Huddled in and around train stations, forced to keep moving when denied entry to the overwhelmed Uzbek capital, refugees were greeted instead by widespread hunger, severe overcrowding and poverty, typhus, dysentery, cholera, crime, and despair. The general confusion and hardship were exacerbated by the upheaval of mass evacuations of Soviet citizens, particularly the cultural, technocratic, and educational elite, as well as entire industrial plants, away from the advancing front into Uzbekistan, a gargantuan undertaking later stigmatized in antisemitic terms as the ‘Tashkent Front’ where ‘Avram speculated while Ivan fought’.“ Grossmann (2017, S. 186) 113 Berichtet von Fords zweiter Frau, der Amerikanerin Eleanor Griswold (Danielewicz 2019, S. 55, 116).

2.2 Auf der Suche nach einem Namen für den Genozid an den Juden

63

Aus osteuropäischer Perspektive zeigt sich der „Holocaust“-Begriff auch darin ungeeignet, dass er weder die Massenerschießungen (auch „Holocaust by Bullets“ genannt) noch die Sowjetflüchtlinge bzw. die „flight survivors“ einschließen kann. Auf diese Aporie hat John Goldlust hingewiesen – ohne jedoch den Begriff selbst zu kritisieren.114

2.2

Auf der Suche nach einem Namen für den Genozid an den Juden

2.2

Auf der Suche nach einem Namen für den Genozid an den Juden

Abb. 2.2

Schimmelgrün ist das Haus des Vergessens. Vor jedem der wehenden Tore blaut dein enthaupteter Spielmann. Er schlägt dir die Trommel aus Moos und bitterem Schamhaar; mit schwärender Zehe malt er im Sand deine Braue. Länger zeichnet er sie als sie war, und das Rot deiner Lippe. Du füllst hier die Urnen und speisest dein Herz. (Paul Celan, Der Sand aus den Urnen, Mitte der 1940er Jahre)

Vermutlich ein Tefi llin (jüdischer Gebetsriemen), aufgenommen in Treblinka im Sommer 1945, abgebildet in J. Gumkowski, A. Rutkowski, Treblinka, Warszawa 1962; https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/8b/Treblinka_death_ camp_summer_1945_02.jpg?uselang=de

114 „Does this suggest that there is a broad consensus in place that the term Holocaust survivor should be applied only to those Jews who were liberated from the Nazi concentration and labor camps, or who remained in hiding somewhere in Nazi-occupied Europe, or who found shelter with some anti-Nazi resistance or partisan group?“ (Goldlust 2017, S. 31) 63

64

2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

Oft wird den Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks vorgeworfen, der „Holocaust“ wäre nicht Teil ihres öffentlichen Diskurses gewesen, und dieser Generalverdacht ist auch der Ausgangspunkt von zahlreichen Werken amerikanischer und britischer Forscher der frühen Lagerfilme: Stuart Liebmans Kritik an der frühesten filmischen Darstellung des Genozids, Jeremy Hicks’ Ausgestaltung der These in First Films of the Holocaust (2012) oder Olga Gershenzons Buch von 2013: The Phantom Holocaust, das bereits den verfeinernden Untertitel trägt: Soviet Cinema and Jewish Catastrophe. Die Monografien von Hicks und Gershenzon demonstrieren zugleich, dass dieser Vorwurf nur bedingt gerechtfertigt ist, da die frühesten öffentlichen – oft künstlerischen – Darstellungen des Völkermords an den Juden gerade in der Sowjetunion entstehen konnten und nicht in den USA oder in Großbritannien. Aber es waren keine Filme, die versuchten ein Konzept eines abstrakten „Holocaust“ zu generieren, sondern vielmehr die Bemühungen derjenigen Künstler und Kameraleute, die mit der Nachricht von oder der Erfahrung mit dem Völkermord konfrontiert wurden, diese in wahrhaftiger und künstlerischer Form an die Öffentlichkeit zu bringen. Karmen (*1906), A. Ford (*1907/8), und Bossak (*1910) waren im Abstand von je zwei Jahren im Russischen Reich geboren, waren Kommunisten und nicht religiös. Das polnisch-jüdische Team, das sich um Ford und seine Frau Olga scharte, bestand aus der Gruppe von „flight survivors“, die zugleich auch „Asiatics“ waren. Dass Filmleute, die vor Hitler in die UdSSR geflohen waren und dort auch das Stalinsche Lagersystem und antisemitische Anfeindungen in der Evakuation kennengelernt hatten, nicht jedoch den industriellen Genozid an den Juden, beeinflusste die Machart der frühesten dokumentarischen Filmbilder eines deutschen KZs. Und es sind die Bilder dieser sekundären Zeugen, die maßgeblich unsere Vorstellung vom Mord an den Juden in Osteuropa, geprägt haben. Atina Grossmann (2017, S. 205) gibt einen Einblick in das Dilemma, vor dem die „geflüchteten Überlebenden“ standen, die überdies oft ihre jüdische Identität als aufgezwungen empfanden: We would confront more clearly the fraught slippage—in both contemporary and retrospective accounts—between descriptions of National Socialist and Soviet terror. We would have to consider the ways that the language of a “concentration camp universe” is insistently present in accounts of Soviet internment and how reactions to encounters with the traumatized, emaciated Teheran Children both anticipate and mirror depictions of Nazi camp survivors. (Grossmann 2017, S. 206)

Diesen Lebensgeschichten der aus Polen stammenden Majdanek-Filmleute wurde bisher weder bei der Erforschung der Befreiungsfilme noch in den Holocaust Studien Aufmerksamkeit gezollt. Die Rezeption der Nachrichten über den Mord an den Juden in Osteuropa war vielfältig und fand – wie wir auch am Beispiel Paul Celan sehen werden – auf unterschiedlichen Wegen statt. Im Gegensatz zu Medienkonsumenten in den USA oder Großbritannien hatten die mehrsprachigen Juden Osteuropas 1944–45 Zugang zu einer ganzen Reihe von Informationsquellen. So konnten sie etwa die Sendungen der BBC mit Meldungen der sowjetischen Medien und jiddischer Presse und Radio vergleichen bzw. oft auch Überlebende und Augenzeugen befragen. Es gab unter den Juden Osteuropas zu dieser

2.2 Auf der Suche nach einem Namen für den Genozid an den Juden

65

Zeit noch einen einenden Faktor: Dies war nicht mehr die jüdische Religion, sondern die Sprache des Jiddischen, insb. dort, wo dieses Ididom sowohl linguistisch, sprachpolitisch als auch institutionell-kulturell belebt worden war, d. h. in Schulen unterrichtet wurde bzw. mancherorts den Status einer Amtssprache erhielt, wie dies in der UdSSR bis in die 1930er Jahre hinein der Fall war. Einen Einblick in den „Traum von einem jiddischen Volk“, der noch zu Zeiten des Russischen Reichs begann, verschafft Börries Kuzmany (2017, S. 88): Die letzten dreißig Jahre vor dem Ersten Weltkrieg waren jedoch nicht nur von einem wirtschaftlichen und sozialen Niedergang sowie rechtlicher Diskriminierung geprägt, sondern markierten auch den Anfang einer sehr vielgestaltigen und vielsprachigen jüdischen Renaissance im gesamten östlichen Europa. Im Zarenreich waren insbesondere Warschau, Wilna und Odessa die Zentren dieser Erneuerung, die unter anderem im Bereich der Literatur, der Publizistik, des Theaters und der bildenden Kunst ihren Niederschlag fand (Bechtel 2002,13–16).

Während „eine Kolonialisierung Palästinas“ anstrebenden Zionisten auf das Hebräische als Sprache der Juden setzten, waren die politischen Verfechter des Jiddischen der „Bund“ (Jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland) sowie die sozialistische „Farejnikte“:115 Diese auf Jiddisch kurz auch als Farejnikte bezeichnete Gruppierung war insbesondere in der revolutionären Ukraine aktiv. Beide waren radikal säkular und „jiddischistisch“ ausgerichtet; das heißt, sie traten für die politischen Rechte und sozialen Forderungen des jüdischen Proletariats ein und strebten nach einer nichtterritorialen, auf der jiddischen Sprache basierenden Kulturautonomie für das osteuropäische Judentum. (Kuzmany 2017, S. 91)

In der UdSSR unterlagen die Hebraisten den Jiddischisten. Laut Kuzmany ging jiddischistisches Gedankengut in die frühe sowjetische Parteiarbeit ein, an der nicht-kommunistische linksgerichtete Parteien teilnahmen: So wurde innerhalb des Volkskommissariats für nationale Minderheiten eine jüdische Unterabteilung geschaffen wie auch innerhalb der Kommunistischen Partei eine jüdische Sektion, die sogenannte Jewsekzija eingerichtet […]. Die Politik der Bolschewiki zielte nun in den folgenden zwanzig Jahren darauf ab, das Judentum in eine atheistische, sowjetjüdische Nation auf der Basis der jiddischen Sprache umzuformen. Dementsprechend startete die Jewsekzija nicht nur Kampagnen gegen die jüdische Bourgeoisie und deren politische Repräsentanten, sondern auch gegen das jahrhundertealte, von religiösen Traditionen bestimmte Leben der breiten Masse der jüdischen Bevölkerung. Hauptangriffsziele waren die religiösen Schulen, die Chederschulen und Jeschiwes, die religiöse Festkultur und die alt- und modernhebräische 115 „Die zionistische Bewegung hatte sich nach 1897 rasant in Russland ausgebreitet; wegen ihres Fokus auf die Kolonialisierung Palästinas stand die Bildung einer einheitlichen russischen Gesamtpartei nicht im Vordergrund. Neben den dominierenden bürgerlichen Gruppierungen wurde die 1906 gegründete Partei Poale Zion ein bedeutender marxistischer Vertreter der Idee der Schaffung eines jüdischen Nationalstaats (Pinkus 1988, 39–45). Die wichtigsten Gegenspieler des Zionismus waren der 1897 in Wilna gegründete Jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland, kurz Bund, sowie die 1917 durch den Zusammenschluss mehrerer linker Parteien entstandene Vereinigte Jüdische Sozialistische Arbeiterpartei.“ (Kuzmany 2017, S. 91) 65

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Sprache – wobei Letztere stärker von in die Jewsekzija eingetretenen ehemaligen Bundisten als aufgrund von Vorgaben der kommunistischen Parteizentrale verfolgt wurden. Die Bolschewiki duldeten etwa noch linke Hebräischaktivisten aus dem Umfeld der bis 1928 legalen Poale Zion oder die erste professionelle hebräische Theatergruppe, die Habima […]. (Kuzmany 2017, S. 96)

Doch die Truppe des hebräischen Habima-Theaters verließ 1926 das Land für immer. In der Sowjetunion blieb die jiddische Bühnen-Kultur, die Mitte der 1920er ihre auch international wahrgenommenen Erfolge feierte und sich darüber hinaus bis ins furchtbare Jahr 1949 halten konnte. Ihr Mittelpunkt war das Moskauer GOSET (Gosudarstevennyj evrejskij teatr), dessen Regisseur A. Granovskij die Prinzipien der Avantgarde mit jiddischen Themen, Schauspielern116 und (Bühnen)Künstlern wie Isaak Rabinovič oder „the shtetl-born child of a Chassidic family“ Mark Chagall verband (Hoberman 1991, S. 89). Granovskij führte sowohl die Meyerholdsche Biomechanik, aber auch konstruktivistische und expressionistische Stilelemente in die jiddische visuelle Kultur ein, die so einen spezifisch sowjetischen Charakter erhielt. Als Granovskij von einer Tournee 1928 nicht zurückkehrte, wurde die Leitung dem Schauspieler Michoel’s übertragen. Aleksandr Granovskij (Moskau 1890 – Paris 1937), der aus der russisch-assimilierten jüdischen Bourgeoisie stammte, musste für das GOSET Jiddisch erst lernen.117 Ähnlich wie Franz Kafka, der die Sprache seiner Großeltern nicht mehr beherrschte, sich aber von osteuropäischen jiddischen Theatertruppen, die 1911 nach Prag kamen, faszinieren ließ, strebten zahlreiche Künstler aus aschkenasischen Familien, die Parteigänger und Förderer des Jiddischen waren, danach, sich die Sprache in einem bewussten Prozess wieder anzueignen.118 Die im Zarenreich bzw. Polen geborenen um eine Generation jüngeren jüdischen Filmleute waren also mit dem Jiddischen auch über diese kulturelle Renaissance vertraut. Kuzmany (2017, S. 88) schreibt, dass im Zarenreich für „neunzig Prozent der jüdischen Bevölkerung Jiddisch die dominante Sprache des Alltags“ darstellte, der „trotz Modernisierungstendenzen weiterhin von religiösen Traditionen geprägt“ war. Einige stammten aus gebildeten Elternhäusern wie etwa Mińska-Ford. Roman Karmens Mutter war eine Übersetzerin aus dem Deutschen, und sein Vater Lazar’ ein Schriftsteller, der laut Efraim Sichers (1995, S. 236) Charakterisierung in seinen russischen Texten über den Hafen von 116 Solomon Michoel’s (geb. Shloyme Vovsi 1890 in Dvinsk/Daugavpils, Lettland), am 12.1.1948, ermordet auf Befehl von Stalin auf der Datsche von L. Canava in Steljanka, heute Minsk (getarnt als Autounfall) https://ru.wikipedia.org/wiki/Михоэлс,_Соломон_Михайлович) [6.5.2019] und Veniamin Zuskin (geb. 1899 in Panevėžys, Litauen – Moskau, erschossen am 12.8.1952). 117 Hoberman 1991, S. 50ff; zu weiteren Autoren, die zuerst Russisch und erst später Jiddisch schrieben, wie etwa Dymov, ibid., S. 273. Er erwähnt auch, dass 1937 Leo-Film und Sfinks in Warschau jiddische Filme mit polnischen Untertiteln aufführten (ibid., S. 277). 118 Dies gilt umgekehrt auch für amerikanische Schauspieler, so etwa den New Yorker Vaudeville-Star Molly Picon, die auf den Wunsch ihres Ehemanns und Impresarios in Europa ihr „kontaminiertes“ Lower-East-Side-Jiddisch authentischer machen sollte. Dies gelang ihr auch und sie feierte nach der Rückkehr in die USA als „europäischer Import“ große Erfolge (Hoberman 1991, S. 127),

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Odessa aktiv mit dem Jiddischen arbeitete: „Others who had described Odessa’s underworld and its racy slang, a mixture of Yiddish, Russian and Ukrainian, include L. Kornman (‚Karmen‘).“ Auch Ford war, wie seine Filmkarriere an verschiedenen Punkten zeigt, mit dem Jiddischen vertraut. Das Gleiche gilt für die Forberts, deren Vater ein Filmproduzent jiddischer Filme in Polen war. Anders als in der UdSSR hatte sich in Polen die assimilierte Mittelklasse bereits vom Jiddischen distanziert, was in der Zwischenkriegszeit zu einer sekundären Aneignung führte, etwa in Fällen professioneller Notwendigkeit, die Sprache der Vorfahren aufzufrischen.119 Denn das Jiddische war – wie alle hybriden Sprachen – laut Ohad Kohn (2016, S. 76) „Träger unterdrückter Sprachangst des Bildungsjudentums“: „Consequently, Yiddish becomes the perfect bearer for the projected repressed lingual anxiety of the Bildungsjudentum about the German language.“ Wenn diese Filmleute im Sommer 1944 versuchen werden, nicht nur zu dokumentieren, sondern auch ihren Brüdern und Schwestern in der ganzen Welt mitzuteilen, was im KL Lublin geschehen ist, können sie jedoch zum Jiddischen greifen: und ist es nicht der „Holocaust“, den sie mitteilen werden, sondern hier kommen andere Begriffe zum Tragen. Harriet Murav (2011, S. 151) beschreibt seine osteuropäischen Pendants: The term “Holocaust” (kholokost) did not enter Russian scholarly discourse until the last decade – the word katastrofa (catastrophe) was used in its place. In Yiddish-language works published in the Soviet Union and elsewhere in Eastern Europe in the 1940s, other terms were used for both the event and those it killed, including, for example, khurbn, a word that originally referred to the destruction of the first and second Temples; and karbones (victims), the biblical meaning of which is “sacrificial offerings.

Sie erläutert den Begriff anhand des „Rufs der Toten“, der jüdischen Opfer (karbones): David Bergelson used the term karbones when he asked the Jews of the entire world to respond to the call of the dead: “our victims [karbones] have not yet been counted and not even brought to their graves.” (Tsu di yidn fun gor der velt 1942, 2). Neither khurbn nor karbones is identical to the term “Holocaust,” which began to circulate in the 1950s. However, both Yiddish terms link the events of the war to traditional Jewish forms of responding to catastrophe. (Murav 2011, S. 151)

Das Wort „Holocaust“, seine griechische Herkunft signalisiert es bereits, ist die abendländische bzw. (post)christliche Sicht auf ein „Ganzopfer“, wie Luther es in seiner Übersetzung von holokauston beschreibt, d. h. – und das wird noch klarer aus protestantischer 119 So erging es M. Waszyński, als er den Auftrag erhielt, Der dibbek (1937) auf Jiddisch zu verfilmen. Wie andere assimilierte Juden schaute der als Mosze Waks in Wolhynien geborene Waszyński (Kovel 1894 – Madrid 1965) auf das Jiddische als niedrige Sprachform hinab, was seinen Grund darin hatte, dass er aus bescheidenen Verhältnissen stammte (vgl. Kap. 20 in Hoberman 1991). Laut Ilya Prizel (1998, S. 64) gaben 1921 nahezu drei Viertel der in Polen lebenden Juden Jiddisch oder Hebräisch als ihre Muttersprache an, im Jahr 1931 waren es sogar erstaunliche 87 %. 67

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Sicht – auf eine grausame Opferung von Tieren oder Menschen außerhalb des eigenen kulturellen und religiösen Kontexts. Daher ist es durchaus passend, dass der Mord an den Juden von den (Post)Christen (namentlich der englischsprachigen, christlich geprägten westlichen Nachkriegswelt), als „Holocaust“ bezeichnet wird. Das Wort selbst stammt aus diesem weltanschaulichen Kontext, auch wenn es bis in die 1970er Jahre nicht sehr häufig verwendet wurde; Churchill wandte es 1929 auf den Völkermord an den Armeniern an. Heather Blurton (2014) beleuchtet die erste bekannte ‚abendländische‘ Verwendung des Worts im Kontext der Judenverfolgung und setzt sich mit der Auslegung des Worts in G. Agambens Remnants of Auschwitz: The Witness and the Archive 1999 auseinander: In his discussion, Agamben further identifies the use of the word holocaust here for the first time in connection with the murder of Jews as an example of ‘euphemism’: ‘insofar as it implies the substitution of a literal expression with an attenuated or altered expression for something that one does not actually want to hear mentioned’ (Agamben, 1999, 31). For Agamben, ‘holocaust’ is euphemistic insofar as it has come to mean ‘supreme sacrifice in the sphere of a complete devotion to sacred and superior motives’ (Agamben, 1999, 30). So the linguistic desire to articulate a connection ‘between death in the gas chamber and the “complete devotion to sacred and superior motives”’ (Agamben, 1999, 31) renders the proper noun, ‘Holocaust,’ for Agamben as for many others, ‘an incorrect term.’

Der „Holocaust“-Begriff ist also nicht nur inkorrekt und Verantwortung leugnend, sondern sein Entstehungskontext antisemitisch, worauf Blurton (2014) hinweist: „Agamben concludes his discussion of ‘the history of an incorrect term’ with an indictment of its use by Richard of Devizes: ‘holocaust’ he writes, thus ‘contains a heredity that is from its inception anti-Semitic’ (Agamben, 1999, 30–31).“ Der Mönch Richard von Devizes war ein christlicher Historiker, und der historische Blick auf das Pogrom in London im 12. Jahrhundert selbst ist informiert von einer dezidiert antijudaischen Sicht, die laut Blurton den Mord bzw. Totschlag der in ihren Häusern verbrannten Juden im ersten Schritt auf ein bloßes Tieropfer (holocaustum) reduziert – als wären es „nur“ Tiere, oder „nur Juden“. In einem zweiten Schritt vergleicht, so Blurton (2014), der ansatzweise satirische Text des Mönchs das Pogrom als „Brandopfer“ in einer negativen theologischen Parallele mit dem ‚wahren‘ Opfer von Jesus Christus am Kreuz. Denn aus christlicher Perspektive ist das Verbrennen der Juden eine Opferung, die „ihrem Teufel“ (suo diabolo) gilt, und damit aus der Perspektive des Chronisten Richard ein zu rechtfertigendes Handeln: incoeptum estin civitate Londoniae immolare judaeos patri suo diabolo. Es ist eben diese rhetorische Parallele, verkehrt in einem Chiasmus (aus unserem Gott wird der fremde diabolus), die der Verbrennung ihre horrende Logik gibt: Wenn unser Erlöser im Namen Gottes am Kreuz gestorben ist, dann sterben die Juden in einer Feuersbrunst im Namen des Teufels. Während der christliche Gott im Himmel weilt, ist der Gott der Juden in der Hölle (parallel dazu das bevorzugte „Holocaust“-Bild der brennenden Öfen der Konzentrationslager, das andere Mordmethoden verdrängt hat). Diese antijudaische Rhetorik war und ist auch deshalb notwendig, da es ja eigentlich der gleiche (jüdische) Gott ist, in dessen Namen Christus geopfert wird – analog zu Isaak, der jedoch

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vom alttestamentarischen Gott verschont wurde. Die jüdische Genealogie des Opferns muss unsichtbar gemacht werden – und hier liegt tatsächlich einer der Grundsteine des mittelalterlichen christlichen Antijudaismus und modernen Antisemitismus. Man setzt sich ab als abendländische Kultur und distanziert sich vom Osten – sowohl dem ‚Morgenland‘ als auch Osteuropa – mit einer Anleihe aus dem griechischen Wortvorrat, die alles ebenso mit Rauchschwaden verhüllt und vernebelt wie es die Nacht-und-Nebel-Aktionen der Nationalsozialisten vermochten. Nur ein Angehöriger des sog. abendländischen Kulturkreises wird den Judenmord der Nationalsozialisten als – wie Blurton am Text von Richard von Devizes nachweist – unerwünschte oder das christliche Kreuzopfer persiflierende Opferung bezeichnen, und damit zugleich seine (unterschwellig antisemitische) Distanz dazu ausdrücken. Es erscheint logisch, dass Juden das Wort „Holocaust“ meiden, es sei denn sie sehen sich primär als Teil dieser (post)christlichen Welt, die auch dazu beigetragen hat, den Genozid an den europäischen Juden erst zu ermöglichen und die nicht gegen den Völkermord selbst eingeschritten ist. In Wort „Holocaust“ ist also durch seine Herkunft und seine Übersetzungen bereits eine westliche Einstellung zum Judenmord eingeschrieben, wobei das Geschehen dieses fremden „Brandopfers“ Täter und Opfer miteinschließt, als handele es sich um ein im fernen barbarischen Osten stattfindendes Ritual, aus dem die eigentlichen Initiatoren und Verantwortlichen entfernt werden – v. a. in Verbindung mit dem Vorwurf, die Juden wären wie Schafe (hier wieder das Motiv des Opfertiers akzentuierend) zur Schlachtbank gegangen. In diesem Sinne kann die Verwendung des Begriffs „Holocaust“ eine ähnlich verzerrende Wirkung haben wie die abzulehnende Wortkombination „polnisches KZ“, gegen die sich jüngst die polnische Regierung gewendet hat. Da das Wort „Holocaust“ eine Distanz zum Ereignis impliziert, sollte es eigentlich auch in einem durch Demokratie und Reue geläuterten post-nationalsozialistischen Land nicht zur Verwendung kommen. Yad Vashem, eine israelische Institution, die sich der Erinnerung und Erforschung des Mords an den europäischen Juden widmet, definiert den Begriff so: The Holocaust, as presented in this resource center, is defined as the sum total of all anti-Jewish actions carried out by the Nazi regime between 1933 and 1945: from stripping the German Jews of their legal and economic status in the 1930s; segregating and starvation in the various occupied countries; the murder of close to six million Jews in Europe. The biblical word Shoah (which has been used to mean “destruction” since the Middle Ages) became the standard Hebrew term for the murder of European Jewry as early as the early 1940s. The word Holocaust, which came into use in the 1950s as the corresponding term, originally meant a sacrifice burnt entirely on the altar. The selection of these two words with religious origins reflects recognition of the unprecedented nature and magnitude of the events. http://www. yadvashem.org/yv/en/holocaust/resource_center/the_holocaust.asp [7.7.2018]

Eine essentialistische Definition als „Summe der antijüdischen Handlungen des Naziregimes“ unterschätzt den Unterschied zwischen „Holocaust“ und den anderen – zum Teil älteren und geeigneteren – Begriffen. Doch genau um diesen Unterschied geht es hier, da er für das Verständnis des Verhaltens und der sprachlich-kulturellen Reaktion der jüdi69

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schen Zeugen auf die Öffnung des Lagers notwendig ist. Es handelt sich schließlich um die Urszene der medialen Repräsentation von Tatorten und Mordräumen, das Filmen der Badehäuser-Gaskammern, der Effektenberge, der Knochen und der Krematorien in einem von Starkstrom und Stacheldraht umgebenen ‚Majdan‘ auf einem Grundstück am Rand von Lublin. Hier werden von Osteuropäern jene Bilder gemacht, die später im Westen als „Holocaust-Ikonen“ und als diejenige Darstellung des ansonsten Undarstellbaren akzeptiert werden – und zu Recht: Ein westliches Bewusstein kann 1944 die farnichtung nicht fassen und nicht jeder Künstler kann sie darstellen. Zugleich hat aber die von den mit einer Kamera ausgestatteten Zeugen gewählte elocutio für die Topoi des Lagers einen nachhaltigen Effekt, denn sie ist nicht nur auf die Referenzfunktion gerichtet, sondern auch auf Ausdruck und Appell. Um erinnert zu werden, müssen die Topoi organisiert und räumlich zugeordnet werden; in dieser Majdanek-Motivik als konkreter Topografie der Vernichtung entsteht die memoria des ersten öffentlich gemachten Vernichtungslagers, die sich aus Bild und (erklärendem) Wort zusammensetzt. Dieser Schritt wird in den meisten Studien des (kulturellen) Gedächtnisses und den Holocaust Studien, die sich mit dem Gedächtnisbegriff befassen, übersehen. Erst das Durchlaufen der officia der Redekunst – inventio, dispositio, elocutio – ermöglicht eine nachhaltige memoria, und auch sie steht immer im Kontext des Funktionierens des menschlichen Gedächtnisses, das mit Bildern und konkreten Räumen arbeitet. Im Kapitel „Human Memory“ schreiben John O’Keefe und Lynn Nadel (1978, S. 383): „Any item entering the human memory system gets routed through a series of stores, some organized hierarchically, others in parallel, each analysing it and storing it in a particular form.“ Die Neuropsychologen sprechen von „imaginal technique“ (Bildtechnik). Menschliche Erinnerung zieht konkrete abstrakten Begriffen vor und das Funktionieren von Langzeitgedächtnis ist bei der Kodierung von Erinnerungen in Bildform („encode memory in imaginal form“) am effektivsten: The importance of spatial context in these effects is brought out clearly in the study of ‘the method of loci’, an imaginal technique known to the ancients and described by Yates (1966) in her book The art of memory as well as by Luria (1969). In this technique the subject memorizes the layout of some building, or the arrangement of shops on a street, or any geographical entity which is composed of a number of discrete loci. When desiring to remember a set of items the subject literally ‘walks’ through these loci and commits an item to each one by forming an image between the item and any distinguishing feature of that locus. Retrieval of items is achieved by ‘walking’ through the loci, allowing the latter to activate the desired items.120

Auf Majdanek angewendet geht es nicht nur um die Paarung von Wort und Bild, sondern um das Durchlaufen der loci des Lagers. O’Keefe und Nadel sprechen auch von „interaction, preferably spatial, within the image“ – dies war in den 1940er Jahren in erster Linie 120 O’Keefe und Nadel 1978, S. 389–390. Die Autoren beziehen sich auf das Buch des sowjetischen Wissenschaftlers A. R. Luria, das auf Englisch unter dem Titel The mind of a mnemonist (London 1969) erschienen ist.

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im Filmmedium möglich, wobei der Zuschauer eher passiv die Auseinandersetzung der Kameraleute mit dem Raum nachverfolgt. Es gibt also kein Gedächtnis des Lagers an sich, sondern jede einzelne Erinnerung bezeichnet „genau den Ort […], an dem der Forscher ihrer habhaft wurde“ (Benjamin), zugleich sein oder ihr Bild vermittelnd. Dies gilt genauso für die Berichterstatter mit ihren medialen Instrumenten. Allerdings produzieren auch sie „Bilder […] die aus allen früheren Zusammenhängen losgebrochen […] wie Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen“ werden.121 Meist haben sie keine Gewalt über diese Bilder, die in einer dispositio anderswo angeordnet und zu den jeweiligen Narrativen gruppiert werden. Im schlimmsten Fall schreitet die Zensur ein, im besten haben wir es mit einer „Kunst des Gedächtnisses“ zu tun, wie sie von Frances Yates anhand der Gedächtnistheater untersucht. Im System der Rhetorik entspräche die dispositio der endgültigen Schnittfassung des Films, die bei Frontaufnahmen nicht vor Ort gemacht wurde, sondern in Moskau. In einer Analyse des frühen sowjetischen Films Vskrytie moščej Sergija Radonežskogo / Die Exhumierung des Sergij Radonežskij (L. Kulešov, D. Vertov 1919) habe ich die Entstehung der Film-Rhetorik aus dem Geist atheistischer Propaganda untersucht: Aus der rhetorischen evidentia stammt die detaillierende Nahaufnahme (enargaia), in der dem Filmmedium eigenen Lebendigkeit (energeia) und die memoria sichernde Auswahl der Motive (Grab, Skelett, ein prominenter Heiliger). Der Dokumentarfilm verbindet seine „Sachzugewandtheit“ mit „eindringlichen Phantasiebildern“ des Schreckens und der Spannung während des Auswickelns der Gebeine, die den Affekt des Publikums sicherstellen. Den Endpunkt bildet ein „leibhaftiges“ Detail des Heiligen: Der Schädel in einer Hand als demonstratio ad oculos (Drubek 2012a, S. 84)

Auch in Majdanek handelte es sich um einen Film über eine Graböffnung und Exhumierung – wenn auch mit anderer Intention. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die Filmleute im Lager ebenfalls nach „eindringlichen Phantasiebildern“ gesucht haben – in der polnischen Version des Films ist die Rede vom „fantastischen Bild“ („fantastyczny obraz“), das sich den Befreiern in Majdanek bot. Die künstlerische Form der memoria ist auf die Merkbarkeit der grotesken, ja, surrealen Topoi ausgelegt, so etwa die Effektenberge – durch Nahaufnahmen und Aufnahmewinkel wird ihre Wirkung verstärkt und Bedeutung generiert (vgl. hierzu Kap. 3). David Shneer (2010, S. 164) schreibt, dass in der sowjetischen Befreiungsfotografie Nahaufnahmen, insb. von Lebenden, rar sind. In den Majdanek-Filmen haben wir einen solchen Fall bei dem Porträt eines Befreiten, der seine Brust entblösst, um seine Häftlingsnummer zu zeigen. Shneer, der die Majdanek-Fotos von Boris Cejtlin, S. Gurarij, V. Temin und M. Trachman untersucht hat, hebt hervor, dass sie künstlerisch hoch ambitioniert sind: „such images transcend police photography and function as memorial devices, art, and photojourna-

121 Walter Benjamin: Ausgraben und Erinnern [WBA 398/24r]. https://www.walter-benjamin. online/seite/projekte/wba_398_25 [19.1.2020] 71

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lism.“ (Shneer 2010, S. 164)122 Künstlerisch gestaltete Bilder und Filme wirken als genuine Erinnerungsinstrumente. Doch geht es 1944 noch um etwas Anderes in Lublin/Majdanek – und dies findet vor der Erinnerung statt, bzw. bildet ihre Grundlage. Es ist die Konfrontation einer Gruppe jüdischer Filmemacher mit den ersten von den Alliierten aufgefundenen Gaskammern. Dies geschah nur einmal, und zwar im KL Lublin im Sommer 1944. Für die gläubigen Kommunisten unter ihnen war dies ein wahrer Kairos der jüdischen und der sowjetischen Geschichte.123 Ein kritischer Moment, an dem nicht nur ein alliiertes Heer die Gebäude und Apparate des Genozids in Augenschein nahm, sondern ein Aufeinanderstoßen von Identitäten wie der des loyalen Sowjetbürgers und Marxisten auf der einen Seite und auf der anderen des Kameramanns jüdischer Herkunft, der die moralische Pflicht empfindet, den Mord an seinem Volk zu dokumentieren und vielleicht sogar in den Lauf der Geschichte dieser farnichtung einzugreifen. Die Interna dieses Aufeinanderprallens von Identität und Ideologie, von dokumentarfilmerischem Ethos und sowjetpatriotischem Pathos können wir nur vermuten oder aus den politischen Rahmungen (wie den später für den Majdanek-Film nicht verliehenen Stalinpreisen) ablesen. Der Unterschied zwischen der Intention eines rein referentiellen Abbildens und der Suche nach einer expressiven bzw. appellativen Funktion der Filmaufnahmen ist gewaltig. Während dokumentierende Reporter wie Simonov und Štatland um Faktivizität bemüht sind, genügt das einem Karmen oder den Fords nicht. Da die Juden unter ihnen in Lublin/ Majdanek erstmals mit der Wirklichkeit der auf jüdische Personen gerichtete Massenvernichtung konfrontiert und ihrer konkreten Architektur gewahr wurden, ist ihre Reaktion tatsächlich anders. Allerdings muss sie nicht notwendigerweise zum Bedürfnis der Mitteilung des Gesehenen führen – wie im Fall von A. Ford, der sich abwandte. Auch wenn die meisten Autoren – allen voran David Shneer – davon ausgehen, dass jüdische Zeugenschaft eine ethische Verpflichtung mit sich bringt, konnte die traumatisierende Begegnung mit den Toten umgekehrt auch eine Verdrängung zur Folge haben, eine Reaktion, die aus dem Umgang jüdischer Überlebender (und hier sind die „flight survivors“ einzuschließen) mit dem Völkermord wohlbekannt ist, zumal wenn die eigene Familie betroffen ist. Oft wird erst später eine Auseinandersetzung mit der farnichtung möglich. Meine Untersuchung zu den Reportagen über den Genozid an den Juden im Jahr 1944 ergibt, dass jüdische Autoren keine – weder im essentialistischen noch im strukturellen Sinne – geschlossene Gruppe darstellen, die nach bestimmten Maßgaben handeln würde. Jerzy Bossak hatte zum Thema der Judenvernichtung eine andere Einstellung als etwa Olga Ford – auch wenn beide aus wohlhabenden Familien stammen, den Großteil ihres Lebens in Vorkriegspolen verbracht und als „flight survivors“ in der UdSSR überlebt hatten. Bossak 122 „at Majdanek the documentary nature of the Extraordinary Commission photographs met the more aesthetically interesting and compelling photographs that had graced the pages of the Soviet press since June 23, 1941.“ (Shneer 2010, S. 156) 123 E. C. White (1987) definiert den Kairos als „a passing instant when an opening appears which must be driven through with force if success is to be achieved.“

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fühlte sich in Lublin 1944 nicht verpflichtet über den spezifischen Grund der Verfolgung seiner Mitbürger oder anderer Europäer Zeugnis abzulegen, – schließlich war er in erster Linie ein internationalistischer Marxist, ebenso wie Roman Karmen, dessen ‚jüdisches Gewissen‘ sich jedoch etwas stärker zu Wort meldete.124 Lediglich erfahrene Reporter wie Karmen, Temin oder auch Grossman suchen und finden einen Weg, die jüdische Dimension des Vorgefundenen mitzuteilen – wenn auch manchmal mit zeitlicher Verzögerung. Karmen strebt nach einem Film im genus iudicale, Grossman greift zu Verfahren der literatura fakta, indem er in seinem literarischen Text konkrete Namen und Orte nennt. Einen besonderen Fall stellen diejenigen dar, die zum Zeitpunkt der Konfrontation mit den ersten Vernichtungslagern eine nicht primär berichterstattende, sondern eine künstlerische Verarbeitung anstreben: Dies sind Vasilij Grossman, Paul Celan und die Regieassistentin Olga Ford, die aufgrund ihrer politisch-biografischen Situation bereits im Sommer 1944 zur Darstellung der farnichtung bereit und fähig sind. Celan erlebte die Ghettoisierung und war Zwangsarbeiter. Er hatte seine Eltern verloren und trauerte um seine Mutter, ähnlich wie der aus Berdičev / Berdyčiv stammende Vasilij Grossman. Unter „Holocaust“ wird in diesem Buch nicht das blanke historische Ereignis verstanden, sondern seine jeweilige „Lesbarkeit“ (Benjamin), die (Bedingungens seiner) Rezeption, und zwar meist aus einer Distanz erfolgend: die Geschichte des Völkermords, sein Studium, das historische Wissen, das Verständnis des Phänomens und die daraus resultierende Ermahnung zu der Haltung einer moralischen Verantwortung für den systematisch und industriell betriebenen Mord an den Juden Europas wie auch die Erinnerung an seine Opfer. In der westlichen Welt erforderte es den zeitlichen Abstand einer (Nachkriegs)Generation, damit der „Holocaust“ benannt und verstanden wurde – aber auch nur als „Holocaust“, und nicht als farnichtung, Shoah (Ha’Shoah; die Heimsuchung, bevorzugt verwendet von Zionisten)125 oder das seinerzeit im Jiddischen geläufige churbn, das an die Zerstörung des ersten (586 v. Chr.) und des zweiten Jerusalemer Tempels anknüpft und von osteuropäischen jüdischen Gemeinden seit 1940 verwendet wurde.126

124 Unter Umständen könnte man eine strukturelle Ähnlichkeit bei Überlebenden oder denjenigen finden, die eine Überlebensschuld empfinden und unter einer Verwaisung leiden (entweder als Eltern oder als Kinder von gewaltsam zu Tode Gekommenen) – wie etwa Paul Celan, aber auch die Fords (Olga Ford litt unter dem Tod ihres Kinds, A. Ford und Celan nahmen sich beide das Leben). Die Biografien der anderen „flight survivors“ – wie etwa die Forberts oder Wohl – sind, obgleich jüdischer Herkunft, weniger durch psychische Probleme gekennzeichnet. 125 Die Jewish Agency for Israel verwendete diesen Begriff 1939 für das Schicksal der Juden in Polen; Bencion Dinur bezeichnet mit Shoah im Jahr 1942 die Einzigartigkeit des Genozids an den Juden vgl. https://eleven.co.il/jewish-history/holocaust/12007/ [12.4.2019]. 126 Auch „Dritte Churban“ genannt. Bereits der russisch-jüdische Schriftsteller und Ethnograf S. An-skij verwendete das hebräische Wort in seiner Beschreibung der Pogrome während des 1. Weltkriegs: Der yidisher churbn fun poyln, galitsiye, un bukovine (New York 1921) bzw. in einer späteren Ausgabe: Der Churbn fun galicia un poyln, Wilna 1926. Vgl. auch das Buch Churbn Lettland von Max Kaufmann (1947). Zu „churban als der traditionellen Bezeichnung eines 73

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2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

Yad Vashem geht davon aus, dass die Begriffe verschiedene semantische Schattierungen („different shades of meaning“) wiedergeben: Consequently, we consider it important to use the Hebrew word Shoah with regard to the murder of and persecution of European Jewry in other languages as well. Various interpretations of these historical events have given rise to several other terms with different shades of meaning: destruction (used in Raul Hilberg’s book), catastrophe (in use mainly in the research literature in Soviet Russia), and khurbn (destruction). http://www.yadvashem.org/yv/en/holocaust/resource_center/the_holocaust.asp

Auch wenn dies sicherlich korrekt ist, liegt der Unterschied weniger in der Semantik der Begriffe, sondern in ihrer Verwendungsgeschichte und ihren Kontexten. Die Worte bezeichnen alle mehr oder weniger das Gleiche (abgesehen von der Öffnung in Bezug auf andere Opfergruppen), haben also den gleichen Referenten, den man auf Deutsch mit der ‚Ermordung der Juden Europas‘ beschreiben kann. Wollen wir den entscheidenden Unterschied zwischen farnichtung, Shoah bzw. churbn auf der einen und Holocaust auf der anderen Seite herausstellen, können wir uns darüber Gedanken machen, wer über dieses Phänomen spricht. Von dieser Subjektposition ergeben sich dann verschiedene Pfade, die auch zu der Singularitätskonstellation führen, die in erster Linie Juden und Deutsche betrifft und sie in einer Weise aneinander bindet, wie sie etwa andere Völker, die im Krieg ebenfalls enorme Opfer bringen mussten, nicht erfahren haben: denn es waren Deutsche, die ab 1933 in einzigartiger Weise für das Unglück der Juden in Europa verantwortlich waren und es waren die europäischen Juden, die am schlimmsten unter dieser „Heimsuchung“ (Shoah), einer Verfolgung als Juden und Vernichtung um ihrer selbst willen, gelitten haben.127 Der Vorgang der Vernichtung hat in dieser Perspektive ein Subjekt und ein Objekt. Dies bedeutet, dass die Einmaligkeit der Judenvernichtung/farnichtung in der von Yad Vashem beschriebenen Form primär für Juden und Deutsche gilt – was im Übrigen auch bedeutet, dass die anderen Völker (mit Ausnahme der Sinti und Roma) an dieser Einzigartigkeit nicht teilhaben oder sie nicht notwendigerweise akzeptieren – und auch sie sprechen dann allenthalben vom „Holocaust“ anstatt von farnichtung, zagłada (polnisch) oder vyhlazení (tschechisch). Doch aus deutscher und jüdischer Sicht wird das Ereignis der Judenvernichtung, das beide Gruppen jeweils aus ihrer Sicht erfahren und deren Folgen sie zu tragen haben, immer einzigartig bleiben.128 Diese Beziehung ist dann

Unglücks in der jüdischen Literatur“ vgl. https://eleven.co.il/jewish-history/holocaust/12007/ [12.4.2019] 127 Allerdings hat diese Vernichtung nicht im Gebiet des deutschen Altreichs stattgefunden, sondern im „Osten“, wo man Vernichtungslager zwischen zwei totalitären Zentren errichtete, dem Deutschen Reich und der Sowjetunion. Hier hofften die deutschen Besatzer auf eine Mitarbeit der lokalen Bevölkerung, die zuvor selbst Objekt von Ausrottung oder Umsiedlung gewesen war oder wurde, seien es Volksdeutsche, Ukrainer oder Tataren. 128 Israel Gutman thematisiert diese Problematik als Herausgeber der deutschen Ausgabe der Enzyklopädie des Holocaust; er erläutert, dass man sich dafür entschieden habe, für den Titel

2.2 Auf der Suche nach einem Namen für den Genozid an den Juden

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aber nicht mit dem Wort „Holocaust“ zu fassen, denn mit diesem Begriff kann auch der Genozid an den Armeniern oder der in Ruanda bezeichnet werden. In linguistischer Hinsicht ist die Verwendung des Begriffs weniger eine Frage der Semantik, sondern der Pragmatik. Hier gilt es, nach dem Subjekt der Rede fragen, wie dieses zu dem Ereignis steht, welchen Anteil es daran hat. Und wenn es sich statt um Feuer, Opfer und Tod um die Worte Mord und Vernichtung handelt, dann haben diese ein Subjekt und ein Objekt. In diesem Bewußtsein sollte jeder selbst entscheiden, welcher Begriff geeignet ist. Das Gleiche lässt sich auch auf die kategoriale Bezeichnung von Majdanek anwenden: Während in einem „Todeslager“ der abstrakte Tod regiert, ist bei einem „Vernichtungslager“ von Ausführenden der Vernichtung auszugehen, den konkreten Tätern. So verstehen wir nun, warum Juden, die im „Holocaust“ verfolgt wurden, diesen als farnichtung, Shoah, churbn oder Katastrofa wahrnahmen und erinnerten – dies waren die Begriffe, mit denen sie die Verfolgung und Vernichtung der Juden durch das Deutsche Reich und die Achsenmächte bezeichneten, während dieselben stattfanden. Die damaligen westlichen Medienproduzenten und ihr ‚abendländisches‘ Publikum hatten jedoch noch keinen Begriff davon, erst später setzte sich der Terminus „Holocaust“ durch, und wurde für (westliche) Historiker zentral. Auch die nachgeborenen Deutschen und die meisten Deutschsprachigen – gleichgültig ob sie selbst Nachkommen der Täter sind oder nicht – verwenden seit einigen Jahrzehnten aufgrund einer amerikanischen medialen Intervention das Wort „Holocaust“ (der TV-Serie von 1979 folgend) und reihen sich damit in die gleiche Gruppe ein wie die genannten Historiker. Aber auch Richard von Devizes gehört in diese Reihe der Geschichtsschreiber, die ein scheinbar unschuldiges Wort verwenden, um den Tatbestand eines (genozidalen) Massakers oder Massenmords zu beschönigen. Das Fremdwort leistet eine entlastende Abstraktion, die sich bei einem deutschen Wort wie ‚Judenmord‘ nicht einstellt, da es den deutschen Sprecher an das bis in die heutige Zeit hineinreichende, kriminelle Geschehen erinnert. Denn Mord verjährt bekanntlich nicht. Schon der SS-Jargon der „Endlösung der Judenfrage“ hatte diese abstrahierende Wirkung. Begriffe wie ‚Töten‘ oder ‚Morden‘ verursachten auch bei den Tätern unangenehme Gefühle der Schuld und der Scham. Jürgen Habermas (1986) spricht von der Notwendigkeit, die „historische[n] Haftung für die Lebensform zu übernehmen, in der Auschwitz möglich war“. Hier wird mit „Auschwitz“ im Übrigen eine andere geläufige Trope verwendet: sie ist jedoch zumindest geografisch konkreter als das nicht verortbare und auch auf andere Orte und Ereignisse anwendbare „Holocaust“. Die Rede vom „Holocaust“ erfüllt zwei Funktionen: Zum einen ermöglicht sie den Nachkommen der Täter überhaupt erst vom Judenmord zu sprechen und sie rückt den Sprecher näher an die internationale Beobachterposition, die sich von der Schuldfrage in der nationalen deutschen Geschichte entfernt bzw. davon abstrahiert. Zum anderen impliziert der Begriff, dass man sich – obwohl man ein deutscher Sprecher ist – linguistisch der deutschen Ausgabe den Begriff Holocaust zu verwenden, weil Shoa „ganz aus der Sichtweise der Opfer stammt und nach der Meinung der Redaktion im Land der Täter nicht gebraucht werden sollte“ (Gutman 1993, S. XVIIIf.). 75

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2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

über das sich nur auf Genozide beziehende griechische Fremdwort von dem Judenmord zu distanzieren vermag. Die Verwendung des Anglizismus rückt den Sprecher näher an die internationale Beobachterposition, die sich von der Schuldfrage in der nationalen deutschen Geschichte entfernt. In der SBZ und später der DDR und in den ehemalig deutsch besetzten Gebieten oder den mit dem Achsenstaaten im Osten (etwa Rumänien) hat sich ein anderes Verständnis desselben historischen Phänomens entwickelt – was aber nicht bedeutet, dass es keine Analyse und Repräsentation der farnichtung oder Katastrofa gab. Nur war sie als Erforschung des Judenmords mit wenigen Ausnahmen nicht staatlich anerkannt oder gefördert – anders als später etwa in der BRD. In der Öffentlichkeit der Ostblockstaaten verschwand die spezifisch jüdische Katastrophe und wurde bestenfalls Bestandteil des universalisierenden, den kommunistischen Widerstand betonenden Narrativs des 2. Weltkriegs, das eine heroische Perspektive einnahm, in der wenig Platz für passive Opferrollen war. Der Begriff des „Holocaust“ entstand im Westen in einem Lernprozess, der auch nicht unmittelbar eintrat, jedoch in den demokratischen Gesellschaften gerade auch von Einzelinitativen Überlebender (Simon Wiesenthal, der – aus Lemberg-Janowska geflohen – ein ähnliches Schicksal hatte wie Reznik), Familienmitgliedern oder Aktivistinnen (Beate Klarsfeld) getragen wurde. In der BRD war es ein Annäherungsprozess an die amerikanische Perspektive auf die Vernichtung der Juden – was auch erklärt, warum im Deutschen das Wort oft auf Englisch ausgesprochen wird. Als Kontrastbeispiel zur insgesamt gelungenen Auseinandersetzung mit dem „Holocaust“ möchte ich den „Holodomor“ erwähnen. So wird heute die aus Moskau gesteuerte Hungersnot in der Ukraine 1932–33 – mit jahrzehntelanger Verspätung – bezeichnet. Der Holodomor, in dessen Verlauf im Europa des 20. Jahrhunderts Millionen von Menschen verhungerten, durfte weder in der sowjetischen Öffentlichkeit erwähnt werden noch wurde er im historischen Bewusstsein international bekannt und in seinen auch heute umstrittenen genozidalen Teilaspekten verstanden. Auch wenn es im Ausland bereits vor dem 2. Weltkrieg Ansätze zu seiner Benennung gab, blieb das Ereignis der Millionen von Hungertoten während der Kollektivierung der Landwirtschaft quasi unsichtbar, da nicht analysiert, nicht beschrieben und nicht erinnert.129 Ähnlich wie das Wort „Holocaust“ benennt „Holodomor“ die überwiegend ukrainischen Opfer nicht explizit – diese fehlende Benennung ist aber in der Wahl der Sprache enthalten; ähnlich wie das hebräische churbn oder Shoah ist Holodomor ein ukrainisches Wort, das eine überwiegend, aber nicht ausschließlich ukrainische Erfahrung beschreibt (denn auch viele Russen, Juden und Polen waren von der Hungersnot betroffen). Holodomor (Голодомор von морити голодом) heißt wörtlich: durch Hunger sterben lassen/vernichten. Und hier tritt der andere Begriff auf den Plan, der im Osten häufig vorkommt und auch im Westen mit dem Begriff des „Holocaust“

129 Die ukrainische Emigration verwendete den Begriff Haladamor in tschechoslowakischen Exilplublikationen bereits in den 1930ern (Applebaum 2017, S. 363).

2.2 Auf der Suche nach einem Namen für den Genozid an den Juden

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konkurriert,130 es ist der Begriff der „Vernichtung“ in den verschiedenen Transliterationen aus dem hebräischen Alphabet: farnikhtung oder farnichtung, der im Jiddischen ähnlich klingt wie im Deutschen. So findet man Artikel in der jiddischen Presse der Jahre 1941–42, die von Juden in der „natsisher farnikhtung-mashin“ sprechen. Wenn von jiddischen Sprechern als „a festung fun vidershtand kegn farnikhtung“ – „einer Widerstandsfestung gegen die Vernichtung“ die Rede ist, ist klar, dass mit farnichtung die Vernichtung der Juden gemeint ist, ohne dass dies ausbuchstabiert werden muss.131 Dies heißt aber zugleich, dass Ford, Bossak und Karmen mit dem Wort „Vernichtungslager“ auf Deutsch in den Titeln Worte wählten, die das jiddische Wort durch das Zitieren der deutschen SS-Jargons (Vernichtung durch Zyklon B, ein Insektenvertilgungsmittel) hineinschmuggeln. Zumindest Sprechern des Jiddischen konnte das signalisieren, um was es in dem Film, der die universalisierte Vernichtung in Lublin/Majdanek beschrieb, ging: nämlich um farnichtung. Um den sprachlichen Ausdruck der Beschreibung des Mords an den Juden bemühten sich mehrmals Dokumentar-Filme jüdischer Autoren: Der französische Jude Claude Lanzmann nannte sein Interview-Werk Shoah (1985) und veränderte unsere Sicht auf den zuvor etablierten „Holocaust“ als narratives und fiktives Konstrukt, indem er unsere Wahrnehmung für die Stimmen der Zeugen der „Heimsuchung“ öffnete. Vierzig Jahre zuvor sprachen Karmen und Ford von „Vernichtung“, auf Russisch übersetzt als уничтожениe/ uničtoženie, wie es auch in den verschiedenen Titeln zur Geltung kommt, die das Material aus Lublin/Majdanek 1944–45 verwenden: Zunächst im alternativen polnischen Titel, der das Polnische mit dem Deutschen mischt: Vernichtungslager Majdanek – cmentarzysko Europy. Bei den russischen Titeln gibt es zwei Verweise auf die farnichtung (der Juden): Majdanek. Kino-dokumenty o čudoviščnych zlodejanijach nemcev v lagere uničtoženija na Majdaneke v gorode Lublin / Filmdokumente über die ungeheuerlichen Verbrechen der Deutschen im Vernichtungslager Majdanek in der Stadt Lublin (UdSSR 1944) oder in der kyrillischen Schreibung, und dann in allernächster Nähe zu farnichtung: Ферниxтунгс-лагерь Майданек – кладбище Европы (Fernichtungs-lager’ Majdanek – Friedhof Europas). Vgl. auch die filmografische Angabe in Transliteration in der polnischen Publikation von Jewsiewicki (1972, S. 214): FERNICHTUNGSLAGER MAJDANEK. Wenn Ford, Bossak und Karmen, denen das Jiddische vertraut war, den Begriff des Vernichtungslagers prägen und offensichtlich auf ihm bestehen, dann ist dies ihre Form einer chiffrierten Mitteilung, dass es sich hier in erster Linie um die Vernichtung ihres 130 Vgl. den Buchtitel von Hannah Maischeins Dissertation von 2015: Augenzeugenschaft, Visualität, Politik: Polnische Erinnerungen an die deutsche Judenvernichtung. 131 Y. Hart: „Die yidn in der natsisher farnikhtung-mashin,“ in Undzer tsayt (1941, 1): 10–16 und M. Feldman „Yidishe kultur— a festung fun vidershtand kegn farnikhtung“, Yidishe kultur 4.1 (1942). 77

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2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

eigenen Volkes handelt. Sie hätten schließlich auch den griffigeren Begriff des Todeslagers wählen können, wie er auch im deutschen Nachkriegsfilmtitel vorkam, aus dem das Wort „Vernichtung“ entfernt wurde.132 Auch der ubiquitäre Begriff der „Todesfabrik“ – Jerzy Putraments (1944) „Fabrik des Todes in Majdanek“ auf polnisch und Evgenij Kriger in der sowjetischen Zeitung Izvestija vom 12. und 13.8.1944: „Deutsche Fabrik des Todes bei Lublin“ – wurde nicht titelgebend. In den beiden in den USA erschienenen Artikeln von Karmen figuriert das Wort auf Deutsch, am 14. August, im Daily Worker: „I have never seen a more abominable sight than ‘Maidan’ near Lublin, Hitler’s notorious Vernichtungslager – extermination camp“ (Karmen 1944b, S. 8), und am 21. August 1944 im deutschsprachigen Titel „Vernichtungslager“ seines Artikels in der amerikanischen Zeitschrift Time – unter der Rubrik: „Foreign News; POLAND“ (Karmen 1944b, S. 38). Zudem ist verbürgt, dass Karmen früh vom „Vernichtungskombinat“ gesprochen hat, wie der Titel seiner (undatierten) Schnittliste Nr. 1008 zeigt: „TODESLAGER. ‚ALLEUROPÄISCHES KOMBINAT‘ DER VERNICHTUNG VON MENSCHEN IN MAJDAN“). Kameramann V. Štatland jedoch verwendet im gleichen Zeitraum oder etwas später die Wendung „Lager des Todes“ (Todeslager) in den Schnittlisten VS 1020, 1021 (Fomin 2018, S. 415). ,Tod‘ bedeutet nicht nur etwas Anderes als ‚Vernichtung‘, sondern ist auch ein Symptom der Vertuschung, die sich nicht nur auf die Dokumentation der Majdanek-Filmleute richtet, sondern auch auf die Titelgebung. Ein nur einige Wochen später, im September 1944, gedrehter Film, der von den Leningrader Kameraleuten Efim Učitel’ und O. Ivanov aufgenommen wurde, trägt dann bereits den neutraleren Titel Klooga – lager’ smerti / Das Todeslager Klooga (Regie: S. Jakušev). Die furchtbaren Bilder der Gräuel, deren Spuren im besetzten Estland gefunden wurden, übertreffen den sog. ‚Naturalismus‘ der Majdanek-Filme um ein Mehrfaches und fanden ihren Weg in die Filmdokumente über die von den deutsch-faschistischen Invasoren verübten Gräueltaten (1945/46), die in Nürnberg zu sehen waren. Und es ist eine Klooga-Einstellung, die etwas für einen 1944–6 veröffentlichten Dokumentarfilm Einmaliges enthält: Für einen Bruchteil einer Sekunde gleitet die Kamera vom Kopf eines Leichnams hinab zu einem auf das Hosenbein aufgenähten Judenstern mit Häftlingsnummer (Abb. 2.3).

132 Sof’in verwendet für seine frühe Dreharbeiten protokollierenden Schnittliste Nr. 1104 ebenfalls den Begriff „Vernichtungslager“ im Titel: „Material für die Ausgabe ‚Vernichtungslager‘/ Majdanek in der Stadt Lublin/ „Material dlja vypuska ‚Lager‘ uničtoženija‘ v gor. Ljublin“) und spricht von den „Fotos der im Lager Vernichteten“ („Фотографии уничтоженных в лагере“; Fomin 2018, S. 418–419). Offensichtlich war Vernichtungslager Majdanek (in der Stadt Lublin) der vor Ort von der Autorität Karmen eingeführte Arbeitstitel, der sich in der russischen Fassung dann aber nicht als Haupttitel durchsetzen konnte.

2.3 „Chasidic gothic mode“? Die Grabstätte als Motiv des jiddischen Films

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Abb. 2.3 Judenstern aus Klooga in Filmdokumente über die von den deutsch-faschistischen Invasoren verübten Gräueltaten (1945/46)

2.3

„Chasidic gothic mode“? Die Grabstätte als Motiv des jiddischen Films

2.3

„Chasidic gothic mode“? Die Grabstätte als Motiv des jiddischen Films

The Dybbuk is a Kaddish, a prayer for the dead, that asks us to remember its dead. But along with our nostalgia we bring to the film a sense of the tragic that may not have fully been there to begin with […] (Ira Königsberg 1997, S. 25, über den Film The Dybbuk, 1937)

Sowohl in der UdSSR wie auch in Polen entstanden in den zwei Jahrzehnten vor den Majdanek-Aufnahmen zahlreiche Filme mit jüdischer Thematik. Nicht nur jüdische Settings, jüdische Autoren und Motive, sondern auch Schauspielerinnen jüdischer Herkunft und ihre sich vom psychologischen Realismus unterscheidende Schauspielkunst waren zu bestimmten Zeiten so populär, dass eine ganze Welle von jüdischen Bühnenstücken und Filmen folgte.133 In der sowjetischen Zeit geschah dies während der Aufhebung der zaristischen Zensur 1917 und in den Jahren 1924–1926, v. a. im ukrainischen Studio VUFKU, das Drehbuchautoren wie Isaak Babel’ beschäftigte und künstlerisch ehrgeizigen Regisseuren wie Dziga Vertov eine Produktionsstätte bot. Sogar der ukrainische Regisseur Dovženko begann damals eine Komödie über Juden in Palästina (Hoberman 1991, S. 127). Abram Room produzierte für VUFKU den Dokumentarfi lm Evrei na zemle / Juden auf der Erde (1927),134 für den Viktor Šklovskij das Drehbuch schrieb, Lilja Brik die „Aufnahmen organisierte“135 und Vladimir Majakovskij die Zwischentitel gestaltete. Hinzu kam der hohe 133 Hoberman (1991, S. 127) benutzt hierfür den Begriff des Exploitationfi lms. 134 Die ukrainischen Titelvarianten sind: Evrei na zemli / Євреї на землі oder Єврей і земля / Evrej i zemlja (Der Jude und die Erde). 135 „After a break of ten years Brik began working on the documentary fi lm Evrei na zemle / Jews on Earth (Abram Room, 1927), and appears as „organiser of footage“ (организатор съемок) 79

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2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

Prozentsatz von jüdischen Zuschauern, v. a. in der Ukraine, in der damals mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung der UdSSR lebte.136 In der Geschichte des jüdischen bzw. jiddischen Films der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, auf die ich später im Kontext der Familie Forbert zu sprechen kommen werde, gibt es einige Standardmotive: Die Verkennung, d. h. die verstellte oder verborgene Identität (oft von Waisen wie im ersten jiddischen Tonfilm, Al chet/ Ich habe gesündigt, R: Aleksander Marten, 1936 oder Der dibbek / Dybuk; R: Michał Waszyński, 1937, Polen), von Verarmten und daher Unerkannten oder mit falschen oder ungeeigneten Papieren Ausgestatteten, wie etwa dem jüdischen Pass im deutschen Film Der gelbe Schein (R: Victor Janson und Eugen Illés, 1918, zum Teil in Warschauer Viertel Nalewki gefilmt), in dem die polnische Schauspielerin Pola Negri eine Jüdin spielt, die diesen gegen einen gelben Ausweis (der Prostituierten) austauscht, um in St. Petersburg Medizin studieren zu können. Ein weiteres Motiv ist der verborgene Wertgegenstand oder versteckte Schatz, der plötzlich wie durch ein Wunder oder an einem eigentlich zugänglichen Ort auftaucht: wie die Familienjuwelen in Leo Forberts 1924 produzierten Film Tkies khaf (Abb. 2.4), oder der mehrmals verfilmte russische Roman Dvenadcat’ stul’ev/ Die 12 Stühle (1928).137 Oder der Konflikt zwischen alter und neuer Welt, der in einer ‚Mesalliance‘ zu seinem kritischen Höhepunkt geführt oder im Ritual der Hochzeit in Wohlgefallen aufgelöst wird – hier wird sowohl das Thema der Mischehe wie auch der Gegensätze der Generationen verhandelt (vom Henrik-Galeen-Film Judith Trachtenberg von 1920 bis zu zeitgenössischen Fernseh-Serien wie Shtisel, Israel, 2013–2016 und der überwiegend jiddisch-sprachigen Miniserie Unorthodox, D-USA, 2020). Viele dieser Fabulae führen unweigerlich auf einen jüdischen Friedhof. J. Hoberman (1991, S. 84) hält dies für ein alleuropäisches Motiv nicht nur des jiddischen Films: For those European movies that treated Jewish subjects, the latter site seems to have been almost obligatory. The ominous image of the weed-choked, tumbledown Jewish graveyard occurs in films as otherwise disparate as The Yellow Passport, The Golem, Judith Trachtenberg, Yisker, and Thies Kaf.

Die transgressive Verknüpfung der Friedhofsszenerie mit dem anderen bei Filmemachern beliebten jüdischen Ritual, der Hochzeit, kulminiert im Film Der dibbek. Gerade aufgrund seiner Schauerromantik mitsamt Friedhofslandschaft wurde dieser Film im „Chasidic

in the opening credits. Maiakovskii und Shklovskii collaborated to transform the screenplay into the film script.“ (Heftberger 2018) 136 Hoberman (1991, S. 124) zitiert die Feststellung eines Hebraisten, dass im Jahr 1924 „Ukrainer und Weißrussen unsere Publikationen auf Jiddisch mehr als befürworteten“, u. a. um das dominante Russisch in ihren Republiken zurückzudrängen. Das Jiddische war vor dem Krieg eine der Amtssprachen der weißrussischen Sowjetrepublik. 137 Von Il’ja Il’f (Odessa 1897– Moskau 1937; Akronym des Namens Iechiel Leib Fainzil’berg und Evgenij Petrov (d. i. Kataev, Odessa 1903 – als Kriegskorrespondent im Gebiet Rostov 1942).

2.3 „Chasidic gothic mode“? Die Grabstätte als Motiv des jiddischen Films

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gothic mode“ (Hoberman 1991, S. 300) von einigen Zeitgenossen kritisiert.138 Goebbels sah den Film im Februar 1942 und war aufgrund seiner Erwartung, es würde sich um einen „jüdischen Propagandafilm“ handeln, irritiert und interpretierte ihn als Beispiel von Selbstbezichtigung.139 Ablehnend äußerte sich die amerikanische Kritik in Time, die von einem drittklassigen Melodrama mit hyperreligiösem Abrakadabra spricht und den Vergleich mit Halloween-Ritualen zieht.140 Dessen ungeachtet lief der Film jedoch mit großem Erfolg sowohl in Polen als auch in New York. Tatsächlich hat der 1937 gemachte Film etwas Anachronistisches an sich, was sich durch die literarische Vorlage der 1910er Jahre erklären lässt, die Der dibbek (Abb. 2.5) sowohl ästhetisch als auch durch seinen Mystizismus in die Nähe des dekadent-symbolistischen Filmwerks von Evgenij Bauer rückt, das in den letzten vier Jahren des Zarenreichs entstand (Drubek 2012b). Hoberman weist auf die zentrale Stellung des Todes im Film hin, den „fanciful toytntants“, den Judith Berg in den nach den „Beschreibungen ihrer Großmutter choreografierten“ (Toten)Tänzen in Szene gesetzt hat (Hoberman 1991, S. 281). Judith Berg141 überlebte den Krieg und ist in einem Tanz in dem jiddischen Nachkriegsfilm Mir Lebn Geblibene (1947) zu sehen: Sie tanzt die Rolle eines Chassiden im Kaftan. In diesem Film findet sich die (neo)romantische Ineinssetzung von Stadt und Friedhof, jedoch erweitert um die Allegorie eines Gerichts der Toten, wie Hoberman sie beschreibt: The living mingle with the dead, who are manifest as spirits, as hobgoblins, and as monuments. The climax offers the fantastic spectacle of a “lawsuit” in which the plaintiff is a wandering soul and the defendant a living man. The heroine not only visits the cemetery to ritually invite her mother to her wedding, her village is itself cemetery – the “holy grave” in the town marketplace memorializes a bride and groom murdered under the khupe by Khmielnitsky’s Cossacks 200 years ago. (Hoberman 1991, S. 280)

Das Gerichtsverfahren – angestrengt von einem Toten gegen einen Lebenden – ist ein weiterer Berührungspunkt mit dem Anliegen der Filmleute in Majdanek. Die Gleichsetzung von Hochzeit mit Begräbnis wiederum mag auf den expressionistischen Vampirfilm 138 Zu Edgar G. Ulmers Remake dieser Szene als „Cholera wedding“ in seinem jiddischen Film Die klyatshe /The Light Ahead (1939) vgl. Hoberman 1991, S. 303. 139 Hoberman 1991, S. 285. 140 „Here and there are pictorial groupings, interesting enough in themselves, but poorly related in the general clutter of hyper-religious abracadabra and the familiar hocus-pocus of third-rate melodrama. […] the exorcising of the dybbuk from her body by the rabbinical council, makes the rites of witchcraft seem like Halloween pranks.“ (The Dybbuk. In: Time 7. 2.1938). Frank S. Nugent kritisierte in der New York Times vom 28.1.1938 seine „semi-fantastic quality“: „Sets, costumes, make-up appear to have borrowed the almost cubistic unreality of, say, The Cabinet of Dr. Caligari.“ (https://www.nytimes.com/1938/01/28/archives/the-screen-the-continentalbrings-in-a-film-of-the-dybbuknew.html) [9.5.2019] 141 Hier finden sich spätere Fotos der Tänzerin, mit ihrem Mann und Tanzpartner Felix Fibich: https://access.cjh.org/home.php?type=extid&term=307599#1; https://www.filmweb.pl/film/ Mir%2C+lebngeblibene-1947-176087 [9.5.2019] 81

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2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

der 1920er Jahre zurückgehen, ein Motiv, das Roman Polański in seiner Horrorkomödie Dance Of The Vampires / Tanz der Vampire (GB, 1967) drei Jahrzehnte später aufgreift und unschädlich macht. Aber auch im Tonfi lm-Remake von Ties khaf (1937) schieben sich Trauerrituale unweigerlich in den Vordergrund: „It’s striking that the Jewish custom given pride of place is the shive (the week of mourning that follows a death in the family).“ (Hoberman 1991, S. 279) Man kann noch den sowjetischen Film Benja Krik (USSR, 1926, R. Vladimir Vil’ner) nach einem Drehbuch von Isaak Babel’ hinzufügen, da in dieser fi lmischen Travestie des jüdischen Begräbnisrituals die Trauernden über „imposing monuments of Odessa’s Jewish cemetery“ (Hoberman 1991, S. 127) klettern. Auf dem jüdischen Friedhof von Odessa lag Karmens Vater, Lazar’ Karmen, begraben – bis der Friedhof in sowjetischer Zeit eingeebnet wurde, woraufhin Roman Karmen zur Umbettung seines Vaters nach Odessa reiste, eine der wenigen Bezugnahmen auf seine jüdische Herkunft in den zahlreichen biografischen Publikationen.

Abb. 2.4

Zygmunt Turkow und Henryk Tarło auf dem Friedhof von Vilna (aus dem Film Tkies khaf, 1924, Studio: Leo Forbert); Abb. in Hoberman 1991, S. 79

2.3 „Chasidic gothic mode“? Die Grabstätte als Motiv des jiddischen Films

83

Die erste meinerseits geortete Verwendung des Begriffs cmentarzysko (Grabstätte) für Majdanek kam nicht vom polnischen Filmteam selbst, sondern fand sich am 5.8.1944 in Putraments Artikel „Fabryka śmierci w Majdanku“ („Fabrik des Todes in Majdanek“) in der in Lublin erscheinenden Zeitung Rzeczpospolita. Hier ist die die Rede von „grün-violettem Kohl“, der auf „10 Hektar widerlicher Grabfelder“ wächst („Że kapusta, bujnie rosnąca na dziesiątkach hektarów dokoła, zasadzona zosta ła na potwornych cmentarzyskach, na rupach setek tysięcy pomordowanych tu ludzi.“) Der aus einer russisch-orthodoxen Familie stammende polnische Schriftsteller Jerzy Putrament (Minsk 1910–1986 Warschau) war einer der Mitgründer des „Bundes Polnischer Patrioten“ (ZPP) in der UdSSR, wo er den Krieg überstanden hatte. Die „Grabstätte“ im polnischen Majdanek-Filmtitel wie auch die das Schädelmotiv verwendende Gestaltung der polnischen Titelsequenz korrespondieren mit dem jiddischen Filmkorpus. Einem Publikum, das diese Filme kannte, wurde mit dem Titel Friedhof oder Grabstätte Europas (1944) auf äsopische Weise signalisiert, dass es sich bei dem „Vernichtungslager Majdanek“ im Bezirk Lublin überwiegend um eine Grabstätte für Juden handelt. Dadurch wird implizit jene jüdische Tragödie benannt, die im Juli 1944 entdeckt wurde und in diesem Film zu sehen ist – auch wenn nicht von ihr gesprochen werden kann.

Abb. 2.5

Der Schädel des toten Geliebten im Film Der dibbek (1937)

83

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2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

2.4

Erste Filme über den Holocaust oder die farnichtung?

2.4

Erste Filme über den Holocaust oder die farnichtung?

Der historische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, dass sie einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, dass sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen. Und zwar ist dieses „zur Lesbarkeit“ gelangen ein bestimmter kritischer Punkt der Bewegung in ihrem Innern. Jede Gegenwart ist durch diejenigen Bilder bestimmt, die mit ihr synchronistisch sind: jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit. In ihm ist die Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen geladen. (Dies Zerspringen, nichts anderes, ist der Tod der Intentio, der also mit der Geburt der echten historischen Zeit, der Zeit der Wahrheit, zusammenfällt.) […] Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrundeliegt. (W. Benjamin, Passagen-Werk, Konvolut N 3,1)

Wenn von den „ersten Filmen des Holocaust“ gesprochen wird, dann ist damit die (spätere) westliche Perspektive gemeint, die nicht ohne weiteres auf die Wahrnehmung am Tatort bzw. das osteuropäische und zuweilen auch jüdisch-religiöse Verständnis anwendbar ist. Vereinfacht gesagt: In Großbritannien bzw. den USA wurde der Mord an den Juden – in Analogie zu der Verwendung mit Bezug auf den armenischen Völkermord – als „Holocaust“ bezeichnet, jedoch ist dieser „Holocaust“ nicht identisch mit dem Begriff, der Erfahrung, der Erinnerung und dem Wissen (über das Geschehen) in Osteuropa. Und auch nicht synonym mit der Shoah, mit churbn und farnichtung oder wie dem ebenfalls aus dem Griechischen stammenden Katastrofa / Катастрофа, die alle Aspekte der jüdischen Perspektive ausdrücken. Die Osteuropäer Karmen, das Ehepaar Ford, Bossak, Wohl und die Brüder Forbert dokumentierten nicht den „Holocaust“. In diesem Kontext sind nicht nur die originalen russischen und polnischen Titel des Films aufschlussreich, die beide eben diesen Begriff der Vernichtung der Juden aufgreifen, und dann im Verlauf der Nachkriegszeit getilgt werden. Die farnichtung des europäischen Judentums ist im Titel „Friedhof Europas“ und in dem Titel-Begriff „Vernichtungslager Majdanek“ enthalten, von den Filmleuten 1944 vor Ort eingeführt und 1949 als Fremdwort (aus dem Deutschen kommend) in Moskau entfernt: Ферниxтунгс-лагерь – Майданек кладбище Европы, d. h. ‚Vernichtungslager‘ kyrillisch geschrieben (Derjabin 2016, S. 727).142 In manchen Filmografien kommt auch das verfremdende Fernichtungslager Majdanek (s. o.) in Lateinschrift vor, das auch optisch das jiddische Präfix evoziert: Fer statt Ver. Eine Spur der farnichtung an der Grenze zwischen Titelsequenz und Film hatte jedoch diese Ausmerzungen überdauert: als Insert der Graphik eines Holzschilds mit dem Wort „Vernichtung“ (aus dem Titel „Vernichtungslager“) hebt die polnische Fassung mit einer gemalten Aufschrift vor. Es ergibt sich folgende, an ein barockes Concetto gemahnende

142 In der deutschen Fassung, die auf der Webseite des USHMM einsehbar ist, wird „Todesfabrik“ als bekannter Begriff verwendet, „Vernichtungslager“ jedoch als ein neu aus deutschen Quellen hervorgegangener.

2.4 Erste Filme über den Holocaust oder die farnichtung?

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Kombination von Bild und Schrift, die im Paratext des Films (Titel) realisiert wurde und nur dort erhalten blieb (Abb. 2.6):

SS

Vernichtung[s] lager [Schädel mit gekreuzten Knochen als Warnzeichen] Majdanek

Auch wenn es sich um kein Kamerabild handelt, gab es in Majdanek ähnliche Motive. Der in St. Petersburg geborene Russlandkorrespondent der BBC, Alexander Werth, der Ende August 1944 im Lager war, beschrieb das Auftreten dieser Ikonografie des Schädels mit gekreuzten Knochen darunter, in Kombination mit dem Wort ‚vergast‘ in einer der Gaskammern: Then the touch of blue on the floor caught my eye. It was very faint, but still legible. In blue chalk someone had scribbled the word “vergast” and had drawn crudely above it a skull and crossbones. I had never seen this word before, but it obviously meant “gassed” – and not merely “gassed” but, with that eloquent little prefi x ver, “gassed out”. That’s this job finished, and now for the next lot. The blue chalk came into motion when there was nothing but a heap of naked corpses inside. (Werth 1984, S. 891)

Ob mit „touch of blue“ Zyanidspuren gemeint sind, ist unklar – Werth spricht von blauer Kreide.

Abb. 2.6 Hinweise auf die farnichtung im polnischen Vorspann

Diese kleine paratextuelle Errungenschaft wird durch die mangelnde Distribution des Films, der 1944 international nicht verbreitet wurde, gebremst: die Kunde von der farnichtung gelangt nicht über die Grenzen Polens.

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2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

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Abb. 2.7

Olga (links unten) und Aleksander Ford beim Dreh von Ulica Graniczna (1948), in Barrandov bei Prag, Kino 4, 3.3.1949, č. 5, II.

So kam es, dass zwei andere Produktionen zu den „ersten Filmen des Holocaust“ wurden. Und zwar Filme, die auch im Westen glaubwürdig und nachhaltig die Verfolgung der europäischen Juden vermitteln konnten. Sie wurden beide 1947 gedreht und 1948 auf Festivals gezeigt; einen von ihnen schufen Mitglieder des Majdanek-Teams: die Fords, mit O. Samuciewicz an der Kamera (Ulica Graniczna / Die Grenzstraße, 1948; Abb. 2.7), der andere stammt von der Kommunistin Wanda Jakubowska, die ihre Erfahrungen aus dem Frauenlager Auschwitz einbrachte: Ostatni Etap / Die letzte Etappe (1948). Laut Hanno Loewy (2004) war es eben die nichtjüdische Jakubowska, die sich gegen die Forderungen des kommunistischen Lagerüberlebenden Hołuj, das jüdische Schicksal zu universalisieren, durchsetzen konnte: And she also did not respond to Tadeusz Hołuj’s demand, not to portray the arriving deportees as “Jews”, but as “human beings” (in order not to “suggest, that what happened mainly concerned the Jews”). On the contrary, in the dialogues of the fi lm, the particular emphasis of the Nazis on the extermination of the Jews is refered to explicitly. (Loewy 2004)

2.4 Erste Filme über den Holocaust oder die farnichtung?

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Eine der Figuren in Ostatni Etap ist die belgische Jüdin Marta Zimetbaum, die angesichts ihrer bevorstehenden Exekution den SS-Mann wegstößt und sich die Pulsadern aufschlitzt, oder, in einer anderen Version, von der Roten Armee befreit wird (Loewy 2004). Wie es scheint, fiel es Jakubowska leichter als ihren jüdischen Kollegen, das Schicksal der Juden zumindest nicht auszublenden,143 wobei sie zahlreiche Motive aus deren früheren Filmen, auch den dokumentarischen Majdanek-Aufnahmen, verwendet: den Spanienkämpfer, die Kapos, die Interviews mit der SS; im Vorfeld der Arbeit am Film kooperiert sie mit der deutschen Kommunistin Gerda Schneider und lernt aus den Inszenierungen, die zum Reenactment wurden (sie setzte Überlebende in Häftlingskleidung ein, jedoch nicht als Hauptfiguren, sondern Statisten). Hier beginnt die Geschichte des neuen Genres der Holocaust (Docu)Fiction, die nicht auf der Erfahrung der unmittelbaren Bedrohung durch die Gaskammer basiert. Es ist eine bereinigte Darstellung des Undarstellbaren, die allerdings vorrangig die Geschichte des kommunistischen Widerstands in Auschwitz erzählt. Dieser Film erhielt 1948 den ersten Kristallglobus in Mariánské lázně / Marienbad (später zog das Festival nach Karlovy Vary). Loewy (2004) nennt ihn die „die Mutter aller Holocaust-Filme.“ Der Begriff „Holocaust“ reflektiert die Perspektive derjenigen, die die Ausgrenzung und Vernichtung nicht am eigenen Körper erlebt haben, und auch nicht unmittelbar familiär betroffen sind144; dies sind in erster Linie Nicht-Juden, aber nicht ausschließlich. Leute wie Karmen oder Ford standen am Rand des Abgrunds, konnten aber nicht vordringen in die Erfahrung des Genozids, etwa im Vergleich zu Grossmans – auch familiär bedingtem – Abstieg in die Hölle des Bezeugens von Treblinka. Hätte man den aus der UdSSR kommenden 143 Loewy (2004) weist darauf hin, dass der Film des Majdanek-Kameramanns St. Wohl aus dem Jahr 1946 nicht in die Kinos kam: „The first fictional film made in Poland after war, that portrayed the camps and the Holocaust, or more precisely the trauma, that it produced, was in fact not shown until 1957, but produced in 1946. Stanisław Wohl’s Dwie godziny (Two Hours) deserves still proper attention (and research). Kept on the shelf for eleven years, this film with its late expressionist aesthetics and its harsh portray of a corrupt Polish post-war society, demoralized and deteriorated by war, occupation and collaboration, never had a chance. It’s narrative, set in the two hours between the late night arrival of a train and the departure of the next and in the chiaroscuro of the dark streets, a train station and a nightbar, centers on a young couple, Marek and Weronika, who represent a higher morale and a better future – and on two survivors from Majdanek: a former Kapo and his victim, a traumatized Jewish shoemaker, both caught by their past. The plot turns to the better only when the shoemaker, who had to search the shoes of thousands of victims, murdered in the gas chamber, for hidden valuable items, takes revenge and kills the Kapo in a dramatic climax, while at the same moment the shoemaker’s wife gives birth to their child. Dwie godziny clearly relies on Majdanek as the emblematic site of memory, representing the dark heritage of extermination, the place where Stanisław Wohl, Jerzy Bossak and Aleksander Ford themselves had encountered the fate of European Jewry, without recognizing this as such, when they came as the ‘Filmaktiv’ of the 1. Polish division with the Russians to liberate Lublin in summer 1944 and produced their documentary film Majdanek.“ 144 Dies trifft zumindest auf Karmens Eltern zu, die bereits vor dem Krieg gestorben waren: https:// www.geni.com/people/Dina/6000000071204124851 [5.4.2018] 87

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2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

Majdanek-Filmleuten freie Hand gelassen, hätten sie bereits 1944 „Holocaust“-Filme für die ganze Welt schaffen können. Wie hätten die Majdanek-Filme ausgesehen, wenn die Zensur bzw. übervorsichtige Redaktion des Moskauer Studios nicht eingeschritten wären? Die Filmleute brachten gute Voraussetzungen mit. Sollte man hier vom Plan eines ersten Filmens des churbn, der Katastrofa und farnichtung sprechen, allerdings nicht durch unmittelbar Betroffene, sondern Profis jüdischer Herkunft? Wurde aus diesem Grund wurde Roman Karmen als einer der im Westen bekannten Kameraleute für diese Aufgabe ausgewählt, der nicht nur für seine Landsleute die Spuren der Verbrechen dokumentieren, sondern als jüdischer Kommunist auch für das westliche Publikum eine glaubwürdige audiovisuelle Repräsentation des „Holocaust“ (der abgemilderten Form der farnichtung) schaffen sollte? V. a. in der erst 1945 aufgeführten russischen Version war das Resultat ein dejudaisierter „Holocaust“-Film, an dem das einzige (vermeintlich) Jüdische nicht-slawische Eigennamen im Vorspann waren. Beide Filmversionen hätten zumindest der Rauch sein können, der vom Tatort aufsteigt und die Ausmaße der Judenvernichtung begreiflich macht. Im Herbst 1944 hätten sie sich als Rauchzeichen an jene wenden können, die das Signal erkennen und zur Tat hätten schreiten können. An den letzten Sommer des Kriegs und der Menschenvernichtung in deutschen Lagern erinnert die Diskussion um eine aktuelle filmische Annäherung an die Gaskammern und die Sonderkommandos im ungarischen Film (Fia Saul / Sauls Sohn, 2015) von László Nemes. Seinen engeren historischen Rahmen – die kulminierende Phase der Vernichtung – erfaßt Pau Bosch Santos (2016): „the film is easily the most vivid and grisly plunge into what it might have felt like to work in a Birkenau Crematorium during its most frantic period (the action is set in an imaginary time frame between August and October 7, 1944, a time when, according to Yad Vashem, some 424,000 Hungarian Jews were deported to Auschwitz-Birkenau, most of them to be gassed and burned right away).“145 Genau in dieser Zeit fanden nicht nur die Filmproduktion in Lublin/Majdanek statt, sondern auch jene fotografische Dokumentation durch widerständige Sonderkommando-Häftlinge, die der Aussenwelt mit Hilfe von Fotos beweisen wollten, was in den Lagern vor sich geht. Den Resultaten dieser gefährlichen Foto- und Schmuggelaktion hat der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman ein Buch mit dem Titel Bilder trotz allem gewidmet. Er pries den Film Fia Saul nach dem Drehbuch von Nemes und Clara Royer als „dokumentarische Geschichte“, wie Pau Bosch Santos in seinem kritischen Essay zum Film ausführt („,Documentary’ not only because Son of Saul is almost 100 % faithful to what is known about Auschwitz’s historical reality – the Crematorium’s structure, all the tongues one could hear at that time in the camp, the taking of the photographs, the Sonderkommando revolt […]“). Es erscheint nun vor dem Hintergrund der Rote-Armee-Filmaufnahmen auf der anderen Seite der (so nahen!) Front kurios, dass angesichts dieser Gleichzeitigkeit der 145 Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass es sich um lokale Widerständler in Polen handelte, die diese Fotos im September im noch besetzten Krakau entwickelten, wo sich damals übrigens auch der Majdanek-Kameramann Wohl befand.

2.4 Erste Filme über den Holocaust oder die farnichtung?

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ersten Kamerabilder aus einem KZ – dem befreiten und dem weiter funktionierenden Lager – die abstrakte Diskussion über grundsätzliche Darstellbarkeit des Massenmords, der Gaskammern oder der Leichenbeseitigung in der Form geführt werden konnte, wie dies ab den 1970er Jahren geschah – parallel zum Siegeszug der post-strukturalen (Sprach) Philosophie und Literaturwissenschaft frankophoner Autoren in den USA. Das Theorem der ‚Undarstellbarkeit‘ ist Bestandteil des französischen Diskurses über eine (von französischem Boden aus beobachtete und erinnerte) „Shoah“, nicht über die reale farnichtung, die auch von der Vernichtung der Spuren derselben spricht. Der Völkermord an den Juden wird mit Lanzmanns Shoah (1985) zur „Shoah“, einer neuen Ebene der diskursiven Abstraktion durch das plakativ proklamierte Desinteresse nicht nur am historischen (Archiv) Bild, sondern auch visueller Historiographie. Dass bis heute niemand die Frage nach der sowjetischen bzw. alliierten Verantwortung für die ‚Nichtgezeigtheit‘ von gefilmten Gaskammern im Sommer 1944 gestellt hat, ist in erster Linie ein Hinweis darauf, dass der Westen mit „Shoah“ und „Holocaust“ etwas Universales, nicht-Historisches, nicht-Nachprüfbares schafft, am historischen Faktum der Dokumentation der Spuren der farnichtung durch Kameras im besetzten Polen vorbei. Die postmoderne Diskussion um die (Un)darstellbarkeit erscheint aus dieser Perspektive unethisch, da sie faktisch die 1944 erfolgte Unterdrückung von visuellen Beweisen indexikalischer Art ex-post gutheißt. Das Ford-Team und Karmen hatten 1944 Formen filmischer Darstellung gefunden, die dem Thema adäquat waren und in ihrer Anklage performativ hätten wirken können. Daher ist es tragisch, dass keine „Exportversion“ dieses „Holocaust“-Films hergestellt und rechtzeitig verliehen und aufgeführt wurde.146 Dies hatte zur Folge, dass das 300 Kilometer südwestlich weiterhin brennende, reale Feuer, dessen Rauch mit der Kamera eines todesmutigen Häftlings eingefangen wurde (Abb. 2.8),147 nicht gelöscht wurde. Obgleich seine

146 Allerdings gelang es sogar im Westen hergestellten Filmen mit christlicher Ikonografie, die die Zerstörung abendländischer Kultur (auch in Polen) anprangerten, nicht, in den Filmvertrieb zu gelangen, wie etwa dem britisch-polnischen Propagandafilm Calling Mr. Smith (Concanen Films) von Franciszka und Stefan Themerson, in Dufaycolor fertiggestellt im Oktober 1943. „The British censors considered Calling Mr Smith too brutal and requested its removal. The Themersons refused to do so and the film was only shown privately in October 1943 at the Polish Film Unit and the Edinburgh Film Guild.“ (Kamila Kuc 2016, S. 165) Ein weiteres Argument war die Ermüdung der Leser bzw. auch Bedenken der Redakteure, was Gräuelberichterstattung angeht. Mangelndes Interesse des britischen Publikums an atrocities als Phänomen in der 2. Hälfte des Jahres 1943 wird direkt thematisiert in Calling Mr. Smith. 147 Der Unterschied zwischen dieser Dokumentation mit Todesfolgen und der Pflanzenfotografie der Insassin Jakubowska ist gewaltig: „Wanda Jakubowska herself used a camera, when she was a prisoner of Auschwitz, too. She was assigned by the SS to photograph leaves of rubber plants that were cultivated in an experimental plantation near Auschwitz, maybe the one in Harmence, Tadeusz Borowski described in one of his vicious novellas. Realizing the discrepancy between the disturbing photographs taken by the Sonderkommando, and her own photographic work for the SS may have been a sour experience for Wanda Jakubowska.“ (Loewy 2004) 89

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2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

potentiellen Befreier und Kollegen an den Kameras so nah waren, überlebte der Fotograf und mit ihm Hunderttausende die farnichtung im doppelten Sinne nicht.

Abb. 2.8

Rauchbilder: Konspirative Fotos von Alberto/Alex Errera (Sonderkommando) in Auschwitz II-Birkenau im August 1944; https://de.wikipedia.org/wiki/Holocaust_ (Begriff )#/media/File:Auschwitz_Resistance_280_cropped.jpg

2.5

‚Nach Majdanek‘ – der historische Rezeptionskontext von Paul Celans „Todesfuge“

2.5

‚Nach Majdanek‘ – historischer Rezeptionskontext von Celans „Todesfuge“

So wollen wir auch Szondi zustimmen, wenn er mit dem Blick auf Celan Adornos Satz abändert: Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz. (Harald Weinrich)148

1944, als zu den Hinweisen handfeste Beweise kamen, konnten auch viele Juden in Europa noch nicht an die furchtbare Nachricht über die farnichtung glauben. Manche wiederum – und zu ihnen gehörte der Regisseur Ford, wie wir sehen werden – wandten sich voller Grauen von den befreiten bzw. bald besetzten Schauplätzen der Vernichtung ab.

148 Im Artikel: „Ein deutscher Dichter nach Auschwitz. Befangenheit vor Paul Celan. Der Poet des Schweigens und die Beredsamkeit seiner Interpreten“, Die Zeit, 23.07.1976, S. 38.

2.5 ‚Nach Majdanek‘ – historischer Rezeptionskontext von Celans „Todesfuge“

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Anders reagierte der junge Dichter Paul Celan, dem es gelang, seine Erfahrungen wie auch sein persönliches Trauma in Poesie von Weltrang zu verwandeln – treu der „selbst­ übernommenen Aufgabe, Zeugnis abzulegen“ (Hamburger 1995, S. 302) und unter dem Eindruck von Nachrichten über die ersten befreiten KZs, die ihm in Rumänien früher als vielen anderen Europäern, nämlich bereits 1944, zur Verfügung standen. Auch wenn Celan zu einem der ersten literarischen Zeugen der farnichtung wird, brauchte sein deutsches Gedicht nahezu drei Jahre, bis es erscheinen konnte – und das einstweilen nur in einer Übersetzung, ergänzt durch eine politische Rechtfertigung, die besagt, dass die surreal anmutenden Motive auf „einer wahren Begebenheit in Lublin“ beruhen (Contemporanul, 2. Mai 1947, S. 1). Celans Schicksal ähnelt dem der in die Sowjetunion geflüchteten Überlebenden insoweit, dass er vor dem Krieg mit der Linken und den Spanienkämpfern sympathisierte und 1940–41– als seine Heimatstadt als Folge des Hitler-Stalin-Paktes von der UdSSR annektiert wurde – zu einem sowjetischen Staatsbürger wurde. Seine 1940 um das Russische erweiterten Sprachkenntnisse ermöglichten ihm nach der Befreiung unmittelbaren Zugang zur russischsprachigen Welt (Nachrichten wie Literatur), was nicht ohne Wirkung auf seine Dichtung blieb. Obwohl Celans „Todesfuge“ zu den meistdiskutiertesten Texten deutscher Nachkriegslyrik zählt, wurden gerade die realen Bezüge der farnichtung und der konkrete Kontext seiner Entstehung in der BRD der 1950er und 1960er Jahren angezweifelt bzw. unterdrückt und sind daher heute weitgehend unbekannt. Paul Celan wurde als P. Antschel im rumänischen Cernăuţi (heute: Чернівці / Černivci in der Ukraine) geboren und besuchte deutsche, hebräische und rumänische Schulen.149 Sein Vater, ein überzeugter Zionist, hatte ihn auf die hebräische Safah Ivriah-Schule geschickt, doch Paul bevorzugte als Sprache seiner Dichtung das Deutsche. Zu den Sprachen in Czernowitz schreibt Ohad Kohn (2016, S. 27) der sich auf Marianne Hirschs und Leo Spitzers Ghosts of Home: The Afterlife of Czernowitz in Jewish Memory (2010) bezieht: „on one hand, a naive multi-cultural and multilingual idyll, where the streets are equally filled by the sounds of Romanian, Ruthenian, German and Yiddish; on the other hand, a naive Habsburgian idyll, where all nations and ethnicities are culturally and lingually united under German dominance in a vision of Czernowitz as a klein Wien.“ Im Juni 1940 wurde Cernăuţi sowjetisch besetzt: Obwohl im geheimen Zusatzprotokoll zum „Hitler-Stalin-Pakt“ vom 23. August 1939 nur auf Bessarabien ein Anspruch erhoben worden war, forderte die sowjetische Regierung kurz vor Ablauf eines Ultimatums an Rumänien (26. Juni 1940) auch die Annexion der Buko-

149 „the interest in Hebrew relies on the knowledge acquired during his (hateful) years in the ‘Safa Ivria’ elementary school, which were later succeeded by private lessons Hebrew. The synagogue and the family home, where religious customs and liturgy were usually practiced, are cultural spaces where Yiddish and Hebrew traditionally co-existed in the Ashkenazi culture.“ (Felstiner 1997, S. 126) Celan legte 1938 an einem rumänischen Gymnasium das Abitur ab: http://www. museumoffamilyhistory.com/czernowitz-school-lmvm.htm 91

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2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

wina. Am 28. Juni 1940 wurde die Nordbukowina inklusive Czernowitz von sowjetischen Einheiten besetzt.150

Im Juli 1941 holte sich das inzwischen mit Hitler verbündete Rumänien die Stadt Czernowitz zurück. Viele Juden wurden deportiert und fielen entweder Massenerschießungen, Krankheit oder den NS-Todesmühlen zum Opfer. Nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion kam es in Czernowitz ab dem 6. Juli 1941 zu Verbrechen an der großen jüdischen Bevölkerungsgruppe, nachdem rumänische Einheiten und ein Kommando der SD-Einsatzgruppe D unter Otto Ohlendorf die Stadt erreicht hatten. […] Fast 50.000 Czernowitzer Juden wurden in einem Ghetto zusammengepfercht. Im Oktober und November 1941 und im Juni 1942 folgten Deportationen von 32.530 Juden in die Lager Transnistriens. Mit Hilfe von Sonderausweisen (Autorisationen) konnten 15.633 Juden in Czernowitz verbleiben. https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/orte/ czernowitz-cernivci [2.2.2020]

Pauls Eltern wurden – in seiner Abwesenheit – im Juni 1942 nach Transnistrien verschleppt und kehrten nicht zurück; der junge Mann, der eine versiegelte Wohnung vorfand, brachte seine Sorge um seine Mutter Fritzi, mit der ihn ein enges Verhältnis verband, in einem Brief zum Ausdruck. Im Juli 1942 meldete er sich zum Arbeitsdienst, um der Deportation bzw. dem Militärdienst zu entgehen und durfte aus dem Arbeitslager einmal im Monat nach Hause, wo ihm nach dem Tod seines Vaters gestattet wurde, die „Trauerwoche Schiwa, das siebentägige unbeschuhte Sitzen auf einem Schemel, in Czernowitz zu verbringen (Stiehler 1995). Celan anagrammiert 1947 für die rumänische Publikation von „Todestango“ den Namen des toten Vaters (Leo / Leib Antschel / Ancel) als sein Pseudonym. Bei dieser literarischen Trauerarbeit handelt es sich auch um die Verarbeitung eine konkreten Traumas, das auf den Verlust der Eltern, die der Sohn nicht beschützen konnte, zurückzuführen ist – ähnlich wie bei den Brüdern Kaufman (siehe Kap. 1). An der Stelle, wo für den Heros der Avantgarde Dziga Vertov mit dem Mord an seiner Familie eine Ära unwiederbringlich zu Ende geht, beginnt für den jungen Dichter Antschel-Celan eine Epoche nach dem Genozid, die im Zeichen der Trauer, aber auch eines Schaffens im Angesicht dieses schmerzhaften Selbstvorwurfs steht. Hrdličková (2019, S. 53) fasst es so zusammen: Das dem Vater abgetrotzte Studium in Frankreich sollte sich für die ganze Familie Antschel als fatal erweisen; das Geld dafür hätte die vom Vater erwogene Auswanderung nach Südamerika ermöglicht, was höchstwahrscheinlich alle drei gerettet hätte (CHALFEN 1979: 79). Die Folgen sind bekannt: die Schikanen im Ghetto Czernowitz, Zwangsarbeit, Deportationen, der Tod.

150 Czernowitz wurde nach knapp vier Jahren Herrschaft durch die Achsenmächte wieder befreit bzw. besetzt: „Am 28. März 1944 erreichte die Rote Armee Czernowitz. Von 1947 bis 1991 gehörte die Stadt zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik.“ https://ome-lexikon. uni-oldenburg.de/orte/czernowitz-cernivci [2.2.2020]

2.5 ‚Nach Majdanek‘ – historischer Rezeptionskontext von Celans „Todesfuge“

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Aus Celans Konfrontation des eigenen Überlebens mit der „Vernichtung“ seiner Eltern, die „nicht einmal ein Massengrab“ (Wiedemann 2010) haben, entstehen seine Gedichte über die farnichtung in der Form von Tango und Fuge, in denen von blondem und aschenem Haar und von Knochenmühlen („SPÄT UND TIEF“: „Ihr mahlt in den Mühlen des Todes das weiße Mehl der Verheißung“; Mohn und Gedächtnis, 1952) die Rede ist. Doch eine Knochenmühle wurde nicht nur in Janowska, sondern auch vom Pravda-Fotografen V. Temin fotografiert, nämlich in Lublin/Majdanek.151 Wie ich in diesem Celan gewidmeten Kapitel zeigen will, ist „Todesfuge“ tatsächlich keine Dichtung „nach Auschwitz“, sondern hier dichtet noch Antschel, und zwar „nach Majdanek“ – mit seiner eigenen, spezifisch osteuropäischen Erfahrung und ihren ästhetischen Traditionen und frankophilen Vorbildern; darin beschlossen ist auch die Befreiung/ Vernichtung der Kultur, die er als deutschsprachiger Dichter jüdischer Herkunft vertritt und die ausgelöscht wird durch die deutschen und sowjetischen Umsiedlungen der Czernowitzer Deutschsprachigen ab 1939, darunter auch die sowjetischen Deportationen von Juden ab 1939, zunächst nach Sibirien, ab dem Sommer 1941 durch die Achsenmächte in NS-Ghettos und faschistische Lager. Er ist Zeuge nicht nur der farnichtung, sondern auch der Vernichtung der multilingualen Kultur der Bukowina, insb. seiner deutschen Komponente. Da er auf Deutsch schreibt, bleibt ihm nichts Anderes als eine mehrstufige Emigration, die aber auch eine Flucht vor dem sich senkenden Eisernen Vorhang war: Nach der Bukarester Zeit floh er 1947 über Ungarn nach Wien und siedelte 1948 nach Paris über. Paul Antschel erlebte zweimal die negativen Auswirkungen der sowjetischen Besatzung, dazwischen das Ghetto von Czernowitz, und nach dessen Auflösung etwa 20 Monate rumänischer Arbeitslager (genannt wird Tăbărăști in der Walachei). Hier klafft bis heute in der Biografie eine Lücke – es ist nicht bekannt, welche Zwangsarbeit genau er verrichtete bzw., wie, wo und wann genau er auf die sowjetische Seite wechselte – zumeist ist von Februar 1944 die Rede (Stiehler 1995). Wenig beachtet wurde die Angabe, dass er als Arzthelfer in einer psychiatrischen Institution in Černivci und später in Kiew (Juli 1944) arbeitete, um dem Militärdienst in der sowjetischen Armee zu entgehen.152 Offensichtlich war er zur Zeit der Befreiung Majdaneks in einer der befreiten sowjetischen Metropolen, wo er – im Krankenhaus – von Zeugen oder Überlebenden über das Leben und deutscher Besatzung und die Gräuel von Babij Jar/Babyn Jar erfahren konnte. Da die Befreiung seiner Heimatstadt im August 1944 stattfand – also kurz nach der von Lublin – lebte der Dichter nach seiner Rückkehr aus Kiew bis Anfang 1945 in der sowjetisch besetzten Stadt, die als Černivci/Černovcy nun Teil der Ukrainischen Sowjetrepublik war. Später wird er den (symbolischen) Monat des Kriegsendes in Europa als Entstehungszeit des Gedichts „Todestango“/„Todesfuge“ angeben, was seine deutsche Herausgeberin Barbara Wiedemann (2010) jedoch anzweifelt:

151 „Kostedrobilka.“ https://russiainphoto.ru/exhibitions/727/#22 [1.11.2019] 152 So dargestellt in Celan, Celan-Lestrange und Celan 2001, S. 397. 93

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2 Farnichtung – die osteuropäische Rezeption des Genozids an den Juden

Die „Todesfuge“ habe er, so erinnert sich Paul Celan im Herbst 1960, im Mai 1945 geschrieben, nach der Lektüre von Berichten über das Lemberger Ghetto in der „Izvestija“. Dem Hinweis nachzugehen ist schon deshalb eine Herausforderung, weil Celans Angaben irreführend sind. Nicht erst im Mai 1945, sondern schon am 23. Dezember 1944 erschien in der sowjetischen Regierungszeitung ein anderthalbseitiger Bericht der staatlichen Kommission zur Aufklärung und Verfolgung von Nazi-Verbrechen mit dem Titel „Über die Verbrechen der Deutschen auf dem Gebiet des Bezirks Lemberg“. Ähnliche Berichte wurden vorher zu Majdanek, Minsk, Estland und Litauen veröffentlicht, auch schon erste Informationen über Auschwitz.

Wiedemann hat recht, dass dies nicht die erste Konfrontation mit Greueltaten in der Presse war, allerdings greift ihre Datierung auf Dezember 1944 zu kurz. Denn zahlreiche Details in Celans Werk aus dieser Zeit weisen darauf hin, dass er nach der Deportation seiner Eltern, d. h. noch vor der Befreiung seiner Heimat, deren Schicksal erforschte – als 24-jähriger konnte er sich 1944 aus sowjetischen Medienberichten bereits ein Bild machen, wobei auch hier ein Lesen zwischen den Zeilen notwendig war.153 Celan erhielt aber auch Informationen von seinen jüdischen Freunden und Kollegen, die zurückkehrten (seine Cousine, die Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger, war nicht darunter), und zweifellos hatte jeder eine andere Geschichte zu dem gleichen Thema mitgebracht: Celan had returned from the forced labor camp run by the Romanian army in combination with Todt Organization and German military engineers in Tăbăreşti, near Bucharest, in the spring of 1944, just two months before Alfred Kittner and Immanuel Weissglas, fellow poets, were repatriated from their deportation to Cariera de Piatră and later to the Obodovka ghetto in Transnistria. They all met again at Rose Ausländer’s house and exchanged their war experiences and poems they had written during forced labor, ghetto life, and deportation. It was there also that Celan found out more details about his parents’ fate in the Mihaelovka camp on the German side of the river Bug, where many of the 1942 deportees were sent to do forced labor on military roads and bridges for the Todt Organization. Celan’s father died of typhus during this ordeal, and his mother, too exhausted to continue laboring, was shot by the Nazis. (Hirsch und Spitzer, 2010, S. 244)

Auf den in der Celanforschung kaum gewürdigten Aspekt des Austauschs über das Erlebte unter ästhetisch ähnlich Gesinnten bei Rose Ausländer154 nach der Befreiung werde ich noch zurückkommen. Von Belang ist die Erwähnung der Beteiligung der Organisation 153 Vgl. auch diese Datierung: „Awaiting a chance to leave the Soviet Union, he continued adding to the handwritten collection of approximately ninety German language poems he had written in the early 1940’s and in Tăbăreşti – poems he hoped to publish as a book. It was during this time that Celan composed some of his early ‘postwar’ poems, including the emblematic „Todesfuge“ (Hirsch und Spitzer, 2010, S. 244). 154 Rose Ausländer (1901 Czernowitz – Düsseldorf 1988). Nachdem im Juni 1940 die UdSSR Czernowitz und die nördliche Bukowina besetzt hatten, wurde sie aufgrund ihrer Ehe mit einem US-Amerikaner als Spionin vom NKWD verhaftet und verbrachte vier Monate im Gefängnis. Als die Stadt ihren Herren wechselte, versteckte sich Ausländer in einem Keller im Ghetto Czernowitz, wo sie auf Paul Celan traf. Nach dem Krieg wanderte Rose Ausländer abermals nach New York aus und dichtete bis 1956 auf Englisch. 1957 traf sie in Paris Paul Celan wieder

2.5 ‚Nach Majdanek‘ – historischer Rezeptionskontext von Celans „Todesfuge“

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Todt, die in den besetzten Gebieten für „Straßenarbeiten“ zuständig war155 – so etwa auch in Michajlovka, wohin seine Eltern deportiert worden waren. Diese Arbeiten bedeuteten für die jüdischen Zwangsarbeiter meist einen tödlichen Ausgang, wie bereits in der Wannseekonferenz geplant: „In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird.“156 Die Organisation Todt verfügte über schweres Gerät wie Bagger, Kräne und Walzen (die probeweise Verwendung von Baggern der Organisation Todt bei Exhumierungen der „Aktion 1005“ in Pinsk beschreibt Wolfgang Curilla 2006, S. 761). Auch wenn Péter Wéber, der das Schicksal der Juden der Bukowina untersucht hat, „Enterdungen“ nicht anspricht, zitiert er eine Quelle, die vor Augen führt, was bei den (Grabungs)Arbeiten der Organisaton Todt nebenher vorkam: Another survivor of the slave labour camp of Mikhailovka is Tvi Zemel, living now in Haifa, Israel, known in Daghani’s diary as Zwie Herschel Semmel […]. Tvi Zemmel was born in Czernowitz in 1920 and was deported together with his family in June 1942 first to Transnistria and then to the slave labour camp of Mikhailovka. […] Tvi Zemmel was one of the few detainees in the camp of Mikhailovka who did not obey Nathan Segall’s order to dig out the head of a dead man lying in a mass grave and to take out the golden crowns of the corpse’s mouth. (Wéber 2007, S. 98)

2.5.1 Die „Meister aus Deutschland“ – Celans Konfrontation mit der farnichtung Wiedemann liefert eine Rekonstruktion von Celans Lektüre der sowjetischen Presse im Dezember 1944 und erwähnt im Zusammenhang des Izvestija-Berichts über Lemberg-Janowska157 ein Vernichtungslager im System der „Aktion Reinhardt“, Belzec, von dem Celan befürchtete, dass seine Eltern dorthin gebracht worden waren:

und siedelte in den 1960ern in die BRD über. Sie verbrachte ihren Lebensabend im Nelly-SachsHaus, dem Pflegeheim der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf. 155 „After negotiations between the OKW and the minister for Armaments and Munitions, Fritz Todt (until his deadly accident in February 1942), Todt’s department was charged with the construction and maintenance of the roads in the occupied territories. In his turn, Fritz Todt entrusted Albert Speer (General Construction Inspector at the time) with the implementation of this task.“ (Wéber 2007, S. 202) 156 Wéber (2007, S. 197) zitiert Andrej Angrick, „The Escalation of German-Rumanian Anti-Jewish Policy after the Attack on the Soviet Union, June 22, 1941“ in: Yad Vashem Studies, vol. XXVI, 1998, S. 236. 157 Die endgültige Auflösung der Überreste des Zwangsarbeitslagers Lemberg-Janowska durch die SS fand am 19.7.1944 statt, also einige wenige Tage vor der von Lublin/Majdanek. Beide wurden multifunktional genutzt. Die größtenteils jüdischen Janowska-Häftlinge wurden entweder für 95

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Von Deportationen aus Janowska nach Belzec erfährt der Leser nichts, der Name des im „Generalgouvernement Polen“ liegenden reinen Vernichtungslagers erscheint nur im Ghetto-Teil. Dort wiederum wird zwar in einem Zeugenbericht nach der Schilderung von jüdischen Kinderschicksalen eindrücklich gefordert, der Welt das Schreckliche zu berichten; der Schluss hat aber mit dem Vorausgehenden wenig zu tun: „Das Leiden sowjetischer, französischer, englischer und amerikanischer Gefangener muss gerächt werden. Erinnert Euch Euer ganzes Leben daran.“ Die Sätze fassen den Grundgedanken des gesamten Artikels zusammen: Es sind die von den deutschen Unmenschen verursachten Leiden der sowjetischen Kriegsgefangenen, die nicht vergessen werden sollen. Das Verdrängen und Vergessen der jüdischen Opfer aber wird geradezu befördert durch das Wie der Darstellung. (Wiedemann 2010)

Ich stimme Wiedemann zu, dass „Todesfuge“ kein Gedicht „über Auschwitz“ oder allgemein „über den Völkermord an den Juden“, aber auch keines „über das Ghetto von Lemberg“, sondern ein Text [ist], der durch ein konkret datierbares Ereignis ausgelöst wurde und davon ein sehr persönliches Zeugnis gibt. Nicht nur die durch den Artikel wiedergegebenen Fakten sind wichtig - Celan hätte sie auch aus anderen Quellen erhalten können -; wesentlich ist die Art und Weise, wie diese Fakten am 23. Dezember 1944 den Lesern präsentiert wurden. (ibid.)

„Todesfuge“ ist jedoch ein Gedicht, das bereits durch das im August bekannt gewordene Ereignis Lublin/Majdanek initiiert worden war wie auch durch den damit verbundenen Diskurs und u. U. auch durch die nicht-mimetische Darstellung in den visuellen Medien, ihren künstlerischen Anspruch und die fantastisch-surrealistischen Motive in den Berichten über das erste befreite industriell betriebene Konzentrationslager. Wiedemann geht recht in der Annahme, dass Celans erste Quellen für Informationen über die bizarren Begleitumstände der Massenvernichtung – wie etwa das Spielen von Unterhaltungsmusik – die sowjetischen Medien ab 1944 waren. Jedoch gibt es keinen Grund, davon auszugehen, dass er diese Details über die Lager und Ghettos erst im Dezember erfahren hat. Bereits im August 1944 berichteten Simonovs Texte über den Lubliner „Foxtrott und Tango“ in der Krasnaja zvezda. Speziell über das Schicksal der Czernowitzer Juden wiederum hatte die Agentur JTA am 21. Juni 1944 im Beitrag „Only One-third of Czernowitz’ 80,000 Jews Remain Alive, Russian Correspondent Reports“ berichtet, auf Simonov verweisend.158 Zu den Simonov-Berichten sollte Celan Zugang gehabt haben, da er Russisch verstand, später Simonov übersetzen wird, und zu dieser Zeit schon aus den Fängen der Faschisten befreit worden war. Hinzu kommt, dass Celan sowohl während seines Aufenthalts in Kiew als auch in seiner Heimat jiddische Quellen rezipieren konnte.

Belzec selektiert oder – sobald sie nicht mehr gebraucht wurden – in den Sandhügeln (Piaski) hinter dem Lager erschossen. 158 https://www.jta.org/1944/06/21/archive/only-one-third-of-czernowitz-80000-jews-remain-alive-russian-correspondent-reports [1.12.2019]

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Wiedemann geht davon aus, dass die Erwähnung des einen „Todestango“ spielenden Häftlingsorchesters sich auf Lemberg-Janowska bezieht, da Celan 1960 schrieb: „Das Jüdische – / als ich im Mai 1945 die Todesfuge schrieb, ich hatte damals, in der Izvestia, wie ich mich zu erinnern glaube, die Berichte zum Ghetto in Lemberg gelesen.–“159 Bei der Erwähnung des „Ghettos von Lemberg“ geht es Celan m. E. darum, seine Kenntnis eines offiziellen sowjetischen Berichts zu Massenmorden an Juden zu markieren, und nicht um sein Wissen vom Judenmord im Allgemeinen. Davon erfuhr er nicht erst Ende 1944. Lemberg, wo sich laut Angrick (2018) ein Schulungszentrum für Kommandoführer zur „Enterdung“ befand, mag für Celan auch für die „Sonderaktion“ zur Leichenbeseitigung gestanden haben, auf die ich noch einmal kommen werde. Das Motiv des Tangos wiederum kann sich genausogut auf die früheren Berichte aus Lublin (Majdanek) beziehen – wie in der Einleitung zur rumänischen Fassung des Gedichts ausdrücklich erwähnt. In der Tat gab es Orchester in zahlreichen Ghettos und Konzentrationslagern – vom ostgalizischen Jaktorov (Jaktorów), wo die SS dem Häftling Leopold Kozłowski befahl, einen „Todestango“ zu komponieren und bei Hinrichtungen zu spielen bis hin zu Karel Ančerls Orchester oder den Ghetto Swingers im Vorzeige-Ghetto Theresienstadt. Während zahlreiche Musiker direkt in den Lagern ermordet wurden, geschah dies im böhmischen Ghetto nicht – allerdings wurde ein Großteil dieser Musiker und Komponisten nach Auschwitz geschickt, das die wenigsten überlebten: der Dirigent Ančerl konnte sich retten, der an Asthma leidende Komponist Pavel Haas und andere Musiker jedoch überstanden nicht einmal die erste Selektion. Das Motiv der während der „Aktion Erntefest“ aus Lautsprechern erschallenden Musik kommt übrigens in den polnischen und russischen Majdanek-Filmfassungen nicht vor, ich konnte es nur in der französischen Fassung finden, dort als „musique de jazz“ während der Majdanek-Massen­ erschießung am 3.11.1943 bezeichnet. Beschönigte Informationen über Häftlingsorchester konnte Celan auch während seiner Zeit im Ghetto bzw. als Zwangsarbeiter erhalten haben – in der Form deutscher oder rumänischer Propaganda. Der Tango wurde als Gattung im „3. Reich“ und bei seinen Verbündeten als Antidot zum Swing bzw. Jazz gefördert. Über den Argentinier E. Bianco („proche des idées nazies“)160, dessen Tango-Orchester in Paris – zu der Zeit, als Celan in Frankreich Medizin studierte – wie auch 1939 in Berlin vor Hitler und Goebbels auftrat, schrieb als erster der Celan-Biograph John Felstiner.161 Der „Todestango“ von Janowska basiert jedoch auf einem Stück mit dem Titel „Plegaria“/„Prière“ („Gebet“),162 komponiert 159 Zitiert nach Wiedemann, in ihrem Kommentar zu Celan 2018. 160 Vgl. Michel Torres’ Seite Musique dans les Camps de Concentration et les Camps d’Extermination http://www.musiques-regenerees.fr/GhettosCamps/MusiqueCamps3.html [1.12.2019] 161 Er geht darauf ein, dass im Lager Janowska Biancos Musik als „Todestango“ auf der Violine für todgeweihte Häftlinge gespielt wurde (vgl. auch Solomon 2019, S. 52–53). 162 Auf der Seite Musique dans les Camps de Concentration et les Camps d’Extermination fehlt die Information zu Boulanger, genannt wird Yakub Munt. http://www.musiques-regenerees.fr/ GhettosCamps/MusiqueCamps3.html [1.12.2019] 97

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von einem Geiger aus Rumänien namens Georges Boulanger (geb. als Gheorghe Pantazi, Tulcea 1893 – Buenos Aires 1958), der seine Roma-Herkunft in eine griechische umdeutete und so in allen Achsenmächtenländern wie auch im besetzten Europa Karriere machen konnte; 1948 wanderte er nach Argentinien aus.163 Der Salongeiger verfaßte 1926 die besagte Komposition unter dem Titel „Avant de mourir“ / „Bevor ich sterbe“, von der es viele Aufnahmen gibt, von Glenn Miller bis zur doo-wop-Version der Platters (1956), die noch in Twin Peaks (2017) zu hören ist.164 Zweifellos waren auch in Rumänien vor dem Krieg und in der Antonescu-Ära Schallplatten dieser (Todes-)Tango-Gebete verbreitet. Die Inspiration Celans durch den Artikel zu Janowska betrifft m. E. nach zwei Elemente: Das für die sowjetische Kommission angefertigte Foto des Sonderkommandos vor der Knochenmühle165 und die Figur des SS-Oberscharführers Richard Rokita, der vor dem Krieg Kaffeehausmusiker gewesen war und einen Lemberger Musiker zur Komposition eines „Todestangos“ zwang. Da Rokita eigenhändig Ende 1942 auf dem Appellplatz Mitglieder des spielenden Orchesters erschossen haben soll, ist er als Vorbild für den sein „Eisen“ schwingenden „Meister“ anzusehen (in „Todesfuge“ heißt es über ihn: „Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt / er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau / stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen spielt weiter zum Tanz auf“). Rokita wurde 1964 in Stuttgart vor Gericht gestellt. Es gibt zahlreiche Interpretationen des Celanschen „Meisters“, eine möchte ich hinzufügen, da sie die „Enterdung“ und Verbrennung – also das „Schaufeln“ der Luftgräber – betrifft. In der russischsprachigen Beschreibung der Verbrennungsanlage in Ponary erwähnt Julij Farber eine charakteristische Bezeichnung, die Celan unter Umständen in der jiddischen Version des Schwarzbuchs (Merder fun felker, 1944) untergekommen sein kann, den „Feuermeister“ (kyrillisch: файермайстер): Die Pyramide galt als fertig, als sie dreieinhalbtausend Leichen hatte. Sie wurde nicht nur von oben, sondern auch von den Seiten reichlich mit brennbarem Öl übergossen, mit speziellen trockenen Stämmen an den Seiten ausgekleidet, mit ausreichend Benzin übergossen, eine oder zwei Brandbomben wurden gelegt und die gesamte Pyramide wurde in Brand gesteckt. Die Deutschen richteten jeden Brennvorgang sehr feierlich aus. Die Pyramide brannte normalerweise drei Tage lang und hatte eine charakteristische niedrige Flamme. Dichter, schwarzer, schwerer Rauch stieg widerwillig auf. Er enthielt große schwarze Rußflocken.

163 Vgl. die Odeon-Aufnahme „Was ein Zigeuner fühlt. Tango und Czárdás aus der MetropolTheater-Operette Melodie der Nacht“ (Ludwig Schmidseder) Georges Boulanger mit seinem Orchester“, Berlin, Nov. 1938: https://www.youtube.com/watch?v=dc4irHK2a5Q [1.12.2019] 164 Eine Instrumentalversion des Todestango wurde von Telefunken (A 1693, mx. 19742) vertrieben und kann hier gehört werden: https://www.youtube.com/watch?v=xIHURuiPi0I [1.12.2019]. Es gab auch verschiedene ‚nationale‘ Fassungen, so singt Norma Bruni 1940 auf italienisch „Sì, voglio vivere ancor!“ 165 https://de.wikipedia.org/wiki/Zwangsarbeitslager_Lemberg-Janowska#/media/Datei:Jewish_prisoners_forced_to_work_for_a_Sonderkommando_1005_unit_pose_next_to_a_bone_crushing_machine_in_the_Janowska_concentration_camp.jpg [1.2.2019]

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Ein „Feuermeister“ (fajermajster) mit einer Schaufel stand in der Nähe des Feuers, er musste dafür sorgen, dass das Feuer nicht erlischt. (Farber 1980)

Diese modernen Scheiterhaufen der „Aktion 1005“ wurden von „Feuermeistern“ mit Schaufeln in Gang gehalten. Dies konnte sich durchaus auf Rokita beziehen, der den Rang eines SS-Oberscharführers hatte, des niedrigsten Rangs der Unteroffiziere mit Portepee der Schutzstaffel. Sowohl der (Feuer)Meister als auch sein charakteristisches Attribut (die Schaufel) gehen in Celans Gedicht ein. 1945 übersiedelte Celan nach Bukarest, wo er beim Verlag Cartea Rusă „russische Manuskripte lektorierte und ins Rumänische übersetzte“, darunter das Theaterstück Die Russische Frage von Konstantin Simonov.166 Ab spätestens August 1944 (bzw. bereits im Februar) konnte Celan also nicht nur die sowjetische Presse, sondern auch die zeitgenössische russische Literatur (wie etwa die faktenorentierte Treblinka-Publikation V. Grossmans im Herbst 1944) rezipieren, aus der er Informationen über die Vernichtung der Juden und damit das Schicksal seiner Eltern schöpfen konnte, von denen er seit 1942/3 wusste, dass sie nicht mehr am Leben waren. Dieser Hinweis wie auch die Erwähnung des „Nazi-Lagers Lublin“ in der Zeitschrift Contemporanul erfordern also eine Korrektur des frühesten Entstehungsdatums (vgl. Abb. 0.5). Celans eigene Erfahrungen des Lebens als Jude in einem faschistischen Achsenstaat wie auch die sowjetische Berichterstattung gingen in die Genese von „Todestango“ ein. Dies bedeutet, dass Celan, der sich 1944 in den entscheidenden Monaten in der sowjetischen Sphäre befand, ein erstrangiger literarischer Rezipient der Kunde von Lublin/Majdanek war, der zugleich Zeuge wurde, wie der Genozid von den Befreiern oft verunklart oder beschwiegen wurde. Oft, aber nicht immer. Celan erhielt genug Informationen, um zu verstehen, was mit seiner Familie geschehen war und wie der Massenmord an den Juden Europas vollbracht und vertuscht wurde.

2.5.2 Celan in der Nachkriegs-BRD: „Fremdling und Außenseiter der dichterischen Rede“ Zehn Jahre später bezichtigt ausgerechnet ein Lyriker in der deutschen Zeitschrift Merkur Celan der Inanspruchnahme einer „absoluten Freiheit des Phantasierens“. Der Skandal besteht darin, dass der auch als Kritiker aktive Hans Egon Holthusen als einstiger Nationalsozialist und Mitglied des SD durchaus wissen musste, wie die „Endlösung“ ablief – und wenn ihm Details unbekannt waren oder entfallen sein sollten, hätte er sich darüber zu diesem Zeitpunkt informieren können. Holthusen war bereits 1933 in die SS eingetreten (SS-Standarte Julius Schreck), betätigte sich als Schulungsredner, trug seine schwarze Uniform im Münchner Universitätsgebäude und rechtfertigte 1939 in der Zeitschrift Eckart 166 Als Übersetzer verwendete er Pseudonyme, so etwa die russische Form seines Vornamens Paul: A. Pavel, aber auch Paul Aurel (Felstiner 1997, S. 43). 99

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den Überfall auf Polen mit Hinweis auf Ordensritter. Holthusen, der einer kriminellen NS-Organisation angehört hatte und daher als Täter eingestuft werden kann, behauptete also 1954, dass Celans Gedicht nichts mit der Wirklichkeit zu tun hätte und der Leser die „Mühlen des Todes“ trivial fände. Auch wenn viele Leser dies nicht geahnt haben mögen, kam diese Rezension dem nahe, was wir heute als Holocaustleugnung bezeichnen – und Holthusen mag seine Gründe gehabt haben, warum er gerade Celans „hermetische Lyrik“ (Hrdličková 2019), die jedoch zahlreiche Details der Massenvernichtung punktgenau thematisierte, auszubremsen versuchte, indem er ihre direkten Referenzen auf den Völkermord und seine Vertuschung auf eine überbordende Tropik reduzierte. Es erscheint fast, als fürchtete der einstige SS-Offizier in Celan den Geheimnisträger wider Willen. Celans „halsbrecherische Experimente“ (Holthusen 1954, S. 389; das Adjektiv wirkt bedrohlich) wurden von deutschen Literaturkritikern der 1950er und 1960er Jahre, die selbst in der Wehrmacht gedient oder eine Vergangenheit bei der SS hatten, als surrealistische und daher nicht-mimetische abgetan. Abgesehen davon, dass zumindest zur Entstehungszeit des Gedichts in den 1940ern Jahren der Surrealismus noch kein Schimpfwort war, sondern eine literarische Richtung,167 grenzte die Vernichtung der Juden oft an das Surreale. Wenn ein ehemaliger SS-Mann dies leugnet, zeugt dies von zynischem Kalkül. Jana Hrdličková (2919, S. 74) fasst die schmerzhaften Berührungen Celans mit der deutschen literarischen Welt der Nachkriegszeit so zusammen: […] 1954 steigert sich Celans Unbehagen am westdeutschen Literaturbetrieb, als der Lyriker und mächtige Literaturkritiker Hans Egon Holthusen, als „christlicher Existentialist“ für seine Essay-Sammlung Der unbehauste Mensch von 1951 gewürdigt, im „Merkur“ seinen Rivalen „Fremdling und Außenseiter der dichterischen Rede“ nennt und der „Todesfuge“ konzediert, zwar „wahre und reine Dichtung“ zu sein („ohne eine Spur von Reportage, Propaganda und Räsonnement“; HOLTHUSEN 1954: 390), doch fähig, „der blutigen Schreckenskammer der Geschichte [zu] entfliehen […], um aufzusteigen in den Äther der reinen Poesie.“ (HOLTHUSEN 1954: 390)

Dem Rhetoriker Walter Jens erklärte Celan, dass „,Das Grab in der Luft‘ […] weder Entlehnung noch Metapher“ 168 sei und die „schwarze Milch“ 169 aus der „Wirklichkeit“ käme. Laut Celan bezieht sich des Meisters „Spiel mit den Schlangen“ auf Haar. Es geht um einen Haarschopf oder Locken, die nicht dort sind, wo sie hingehören – nämlich auf dem Kopf, sondern sich auf dem Boden unter den Stiefeln des „Meisters“ schlängeln. Das Motiv der abgeschnittenen Zöpfe und des aus der Erde hervorragenden Haars finden wir als wieder-

167 In vielen besetzten Ländern Europas waren Mitglieder der surrealistischen Gruppen im Widerstand aktiv. 168 „Zur ›Todesfuge‹: Das ›Grab in der Luft‹ – lieber Walter Jens, das ist, in diesem Gedicht, weiß Gott weder Entlehnung noch Metapher“ (Brief an Walter Jens vom 19.5.1961, in Wiedemann 2000, S. 532). 169 Das (vermeintliche) Oxymoron ist entstanden aus: „seine Milch war schwarz“ (d. h. sie war im Lager mit Hilfe eines Schleichhandels „organisiert“). Undatierte Notiz Nr. 588 in Celan 1999.

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kehrendes Motiv sowohl in den Bildern der Befreier (auch in den Filmen in der Form von mit Haar und Zöpfen gefüllten Säcken) als auch in V. Grossmans Prosa, wo explizit auch von hellem Haar die Rede ist: „Gelbe, kupferrote wellige, dichte Haare, feine, wunderbar zarte Mädchenhaare sind in die Erde getreten, und daneben liegen helle Locken, und etwas weiter auf dem leuchtenden Sand liegen schwarze, schwere Zöpfe.“ (Vgl. mein Geleitwort) So erscheint im Hinblick auf das goldene Haar von Margarete die übliche Interpretation vom Faustschen Gretchen etwas zu geradlinig. Allerdings kommt das „deutsche Gretchen“ in der polnischen Filmfassung vor – ob Paul Antschel 1944–45 eine Version des Majdanek-Films zugänglich war, wäre erst zu erforschen, jedoch ist es wahrscheinlich, dass er nach der Besetzung seiner Heimatstadt durch die Rote Armee den Majdanek-Film gesehen hat, da die sowjetische Propaganda in einem der ersten eingenommenen Achsenstaaten von großer Bedeutung war, wovon auch die rumänische Übersetzung des Kommuniqués der polnisch-sowjetischen außerordentlichen Kommission zur Untersuchung der von den Deutschen im Vernichtungslager Majdanek bei der Stadt Lublin begangenen Missetaten zeugt (vgl. Kap. 4). 1954 verunglimpfte Holthusen seinen begabten Dichterrivalen als „Fremdling und Außenseiter der dichterischen Rede.“ Weitere zehn Jahre später nahm sich Holthusen Celan erneut vor – diesmal anhand von Die Niemandsrose – und hieb in die nämliche Kerbe, wenn er von „der damaligen Vorliebe für die ‚surrealistische‘, in X-Beliebigkeiten schwelgende Genitivmetapher“ (und das Mehl der „Mühlen des Todes“) schrieb; im „weißen Mehl der Verheißung“ identifizierte er – treffgenau ein weiteres letales Adjektiv wählend – eine „künstliche und tote Metapher“.170 Holthusen ließ nicht locker – schließlich hatte er als SS-Obersturmführer im Amt III des Reichssicherheitshauptamts (SD-Inland) gelernt, wie man „innere Feinde“ bekämpft, und bezichtigte Celan nicht nur bei der Auswahl seiner Motive der Beliebigkeit bzw. bemühte sich, ihren referentiellen Bezug literaturkritisch zu neutralisieren. Als könnte man das wirre „Phantasieren“ der Opfer nicht entziffern. Holthusen und der Korpsgeist in der Gruppe 47 sorgten dafür, dass es nicht dazu kam, denn dies hätte SS-Veteranen in Gefahr gebracht. Schließlich war die SS dafür verantwortlich gewesen, dass Juden aus der realen „blutigen Schreckenskammer“ als Rauch aufsteigen und, wenn der eine oder andere doch überlebt hatte und darüber zu schreiben wagten, „in den Äther der reinen Poesie.“ (Holthusen 1964, S. 390) Doch ein anderer Überlebender, Péter Szondi, entgegnet Holthusen und erklärt, dass die „Mühlen des Todes“ keine Metapher seien, sondern aus dem SD-Jargon stammen: In der Eichmann-Abteilung des RSHA hätte man den Begriff der „Mühlen“ für die Massenvernichtung verwendet. Auch wenn die FAZ am 13.5.1964 Szondis Verweis auf die einstige SS-Uniform des deutschen Kritikers tilgte, begann sich in der BRD etwas zu ändern.171 170 Hans Egon Holthusen, „Das verzweifelte Gedicht“, FAZ Nr. 102, 2.5.1964, S. 65. 171 Dargestellt bei Robert Kleindienst 2007, S. 74–75 und Jana Hrdličková 2019, S. 22, 73ff. Holthusen jedoch zählte sich selbst zu den Leidtragenden des 2. Weltkriegs, doch versagte sich ihm die Sprache deutscher Dichtung, wie er selber schreibt: „Und doch, wir leiden. Sprachlos. […] Wer zählt die Trümmer unsrer Welt – und mehr: Die Dunkelheiten, die dazwischen liegen.“ Und die 101

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Die Bezeichnung Celans als „Fremdling“ ist deshalb von Bedeutung für unsere Argumentation, da sowohl die Gruppe 47 als auch Holthusen einen (Neo)Realismus empfiehlt, wenn es um die Nazizeit geht, oder aber ein Schweigen zum Thema. Wie Walter Jens über Celans Vorlesen der „Todesfuge“ bei dem Treffen der Gruppe an der Ostsee im Mai 1952 schreibt: „Er wurde ausgelacht […] Die ‚Todesfuge‘ war ja ein Reinfall in der Gruppe! Das war eine völlig andere Welt, da kamen die Neorealisten nicht mit, die sozusagen mit diesem Programm großgeworden waren.“172 Welcher „völlig anderen Welt“ gehörte diese Celansche Poetik an?

2.5.3 Rumänischer Surrealismus, Cadavre exquis und die „reale Begebenheit“ von Lublin Aufgrund der irrigen Vorstellung der Unvereinbarkeit von Surrealismus und einer adäquaten Repräsentation des Mords an den Juden ist kaum bekannt, dass Celan in den 1940er Jahren ein Vertreter surrealistischer Poetik war. Der Schriftsteller J. M. Coetzee erfaßt diesen literaturhistorischen Kontext der „Todesfuge“ ohne im Detail darauf einzugehen: „It absorbs from the Surrealists everything worth absorbing.“173 Celans Freund und Mit-Übersetzer Petre Solomon (2019, S. 91) schreibt: „Celan was very attracted to the ludic dimension of Surrealism – an essential dimension, which belongs to his configuration, characteristic rather of the south than the north.“ Was Solomon hier als „Ludismus“ beschreibt, meint die Technologie der Herstellung von Texten, wie sie Breton in seinem Surrealistischen Manifest niedergelegt hatte: das automatische Schreiben, ohne Zensur, das Ausblenden individueller Autorschaft und des Konzepts des einsam schaffenden „Genies“. Solomon unterstreicht den „verbal automatism“ und den Aspekt des Humors, der sich beim schnellen, nicht-reflektierenden Schreiben ergibt (ibid.). Er erwähnt das wohl bekannteste, da auch in der bildenden Kunst vorkommende Verfahren (vor dem Krieg

Zeit gab Celan recht: Die Relevanz von Gedichten, in denen jemand „raunend in Verborgenheit […] ein Tropfen Ewigkeit / Im dunklen Wirbel unserer Untergänge […] keltert“ beschränkt sich auf eine politisch-historische Fußnote. 172 Laut Hrdličková (2019, S. 54) hatten viele Mitglieder der Gruppe 47 „eine ähnliche soldatische Erfahrung bei der Deutschen Wehrmacht (EMMERICH 2001: 92) – was wohl die Basis eines ausgeprägten Gruppengeistes, einer Kameraderie über das Kriegsende hinaus, gebildet haben musste, der der höfliche Einzelgänger Celan, von Kaschnitz einmal ‚anima candida‘ genannt (KASCHNITZ 2000 I: 439), nicht teilhaftig werden konnte. Auch poetologisch tendierten sie eher zum ,Kahlschlag‘ und Neorealismus, und Celans Vortrag der ‚Todesfuge‘, am altösterreichischen Bühnenton orientiert, war ihnen nicht nur lächerlich pathetisch, sondern in einer eigenartigen Projektion ‚ja wie [jener von] Goebbels‘ (so erinnert sich z. B. Walter Jens, durch Hitlerjugend, NS-Studentenbund aber auch Thomas Mann sozialisiert), oder aber ein ‚Singsang […] wie in einer Synagoge‘ (Hans Werner Richter).“ 173 Vorwort in Solomon 2019, S. XV.

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verwendet von zahlreichen Künstlern),174 den köstlichen Leichnam: „Prototype of these Surrealist games was the famous Cadavre exquis called thus after the phrase ‚Le cadavre exquis boira le vin nouveau‘ (The exquisite corpse will drink the new wine), a phrase obtained by the participants in playing one of these collective games.“ Solomon betont, dass dieses surrealistische Gesellschaftsspiel unter dem Namen Ioachim sich bereits während und unmittelbar nach dem Krieg in Rumänien großer Beliebtheit erfreute: As mentioned above, Celan’s circle of friends played a version of the game called Ioachim. Both Paul and I looked forward to the afternoons and evenings when we played Ioachim, usually at Nina Cassian’s place: seated before a blank sheet of paper, we would start writing words at random, according to the Surrealist instructions for Cadavre exquis. The moment of reading aloud the collective texts was wonderful, eagerly expected by each of the participants. After the intense concentration on the sheets of paper, relaxation finally came—peals of laughter accompanied the reading … this verbal lottery to which everybody contributed (“Le surréalisme est à la portée detous les inconscients” [Surrealism is the capacity of all unconscious] announced a papillon at the launch of the in 1924).

Während Coetzee erwähnt, dass Celan bereits während seines Medizinstudiums in Frankreich mit dem Surrealismus Kontakt gehabt habe (ibid., S. XI), geht Solomon davon aus, dass Celan dieses Spiel erst nach dem Krieg für sich „entdeckte“: During the war, Nina Cassian, her husband, and I had often played a version of Ioachim in verse, on given rhymes, so I was prepared, in a way, but Paul was only now discovering the delights of this Surrealist game, for which he had, of course, a much more profound affinity than I did. (Solomon 2019, S. 92)

Allerdings hat er Celan erst in Bukarest bei Cartea Rusă kennengelernt. Entscheidend ist, dass die Verwendung dieser surrealistischen Verfahren des kollektiven automatischen Schreibens für Celan und seinen Freundeskreis in den 1940er Jahren eine Selbstverständlichkeit darstellte, die sich im Übrigen auch in den späteren Äußerungen von Immanuel Weissglas und sogar auch der einer älteren Generation angehörenden Rose Ausländer wiederfindet, bei der Celan sich seine „schwarze Milch“ geholt hat, oder zumindest ihre literarische Version. Man kann sich diese surrealistisch-performative écriture als Wettbewerb vorstellen, ein kollektives und zugleich individuelles Schaffen eines surrealistischen Werks – strukturell ähnlich der gemeinsam gebauten ,köstlichen Leiche‘, die durch das Umknicken von Papier entsteht. Wenn es sich um die visuelle Form handelt, besteht die Spielregel darin, dass die Figur, die entstehen soll, Kopf, Rumpf, Beine usw. haben soll. Der Rest ist jedem Künstler überlassen. In dieser Hinsicht ähnelt das surrealistische Verfahren 174 Einen „Cadavre exquis“ von André Breton, Nusch und P. Éluard und Valentine Hugo: https:// artuk.org/discover/artworks/exquisite-corpse-cadavre-exquis-260210 [2.1.2020] oder von Pablo Picasso, Cécile und Paul Eluard, Man Ray (Emmanuel Radnitzky) findet man hier: https:// www.europeana.eu/portal/en/record/08502/Athena_Update_ProvidedCHO_The_Israel_Museum__Jerusalem_225639.html [2.1.2020]. 103

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der Montage im Film, jedoch nach dem halbzufälligen Prinzip, als würde der Filmschnitt selbst nach dem hazard objectif (Breton) erfolgen (was im Übrigen bei den Filmaufnahmen, die von der Front ins ferne Studio in Moskau geschickt wurden, zuweilen der Fall war). Als Vorgabe zum Erstellen des ‚köstlichen Kadavers‘ kann man folgende Motive erkennen: die Luftgräber, das Schaufeln, das Spielen auf der Geige, das Tanzen, der (deutsche) Meister im Haus, die Figur oder der Name Margarete/Gretchen (im polnischen Majdanek-Film kommt das „deutsche Gretchen“ vor, das gestohlene Strümpfe trägt. Celan wird später in seinem Brief an Walter Jens die Namensform „Gretchen“ verwenden). Ohne im Detail auf die Beziehungen zwischen diesen beiden Gedichten eingehen zu können, kann man davon ausgehen, dass die befreundeten Poeten, die überlebt haben, an denselben Motiven gearbeitet haben, und zwar entweder im Hinblick auf eine gemeinsame Vorlage oder in der Form eines surrealistischen Schreibspiels, das identische Motive – gewonnen aus Presse, Radio, Filmen und literarischen Texten – auf je eigene Weise verarbeiteten. Weissglas sprach 1975 in Bezug auf Celan von einem „kameradschaftlichen Kontrapunkt“ (Stiehler 1982, S. 233). Ich hatte bereits Hirsch und Spitzer (2010, S. 244) dazu zitiert, wie man nach dem Krieg bei Rose Ausländer „Kriegserfahrungen und Gedichte, die während Zwangsarbeit, Ghettoleben und Deportation entstanden sind,“ austauschte. Celan fügt von sich aus den Titel hinzu, der sich zweier Musikgattungen bedient: Tango bzw. Fuge, das Motiv des Trinkens der „schwarzen Milch“, des blauen Auges, des Schreibens (vgl. Weissglas: „ER spielt im Haus mit Schlangen, dräut und dichtet. / In Deutschland dämmert es wie Gretchens Haar.“), der Asche und des mit Asche auf dem Haupthaar als Zeichen der Trauer verbundenen biblischen Namens Sulamith. Durch die Aufnahme der Tanzgattung in den Gedichttitel verbindet er zum einen seinen Text mit vorgängigen Komplexen wie dem Totentanz oder dem danse macabre, aber auch dem dekadente und frivole Leidenschaft evozierenden Gesellschaftstanz des Tango, zum anderen verknüpft er – gemeinsam mit seinem Übersetzer Petre Solomon – durch die Wahl der Genitivverbindung „Tangoul morții“ („Tango des Todes“; bzw. auf deutsch, als Kompositum: Todestango) die anderen damals neuen Wortverbindungen dieser Art: Lager des Todes/ der Vernichtung (Todeslager/ Vernichtungslager), Fabrik des Todes usw., die im August in der ersten detaillierten Berichterstattung über ein befreites KZ verwendet wurden; in der Einleitung wurde der mit dem Genitiv gebildete Begriff in Anführungszeichen gesetzt: „In Lublin wie in anderen ,nazistischen Todeslagern‘ (,lagăre naziste ale morții‘)“ (Abb. 0.5). Aus der Quelle Simonov (sei es der Artikel „Lager‘ uničtoženija“ / wörtl. „Lager der Vernichtung“ oder die in viele Sprachen übersetzte Broschüre) konnte er das Motiv der ununterbrochen gespielten Musik schöpfen – dort jedoch nicht auf einem Instrument, sondern aus Lautsprechern, aus denen „ohrenbetäubende Foxtrotts und Tangos schallten“ [leteli – wörtlich: flogen].175 Auf Jiddisch lautet die Stelle im Simonov-Text: „…hat inem ganzen Lager un in der umgebent umgehoiben spilen muzik. fun etliche zehndlik rufern sainen gefloigen fartoibentike 175 Simonov (1944, S. 3). Die rumänische Übersetzung der Simonov-Broschüre ins lautete Lagărul nimicirii.

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foxtroten un tangos. di radio hat gespilt dem ganzen inderfri, dem ganzen tog, dem ganzen avent un di ganze nacht.“ Das „inderfri“, „tog“, „avent“, „nacht“ findet seinen Nachhall in der Celanschen höchst suggestiven Zeile „Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends.“ Es scheint, dass Celan aktiv mit der jiddischen Übersetzung von Simonovs Lublin/Majdanek-Text gearbeitet hat – ohne jedoch die lebendigen Musiker aus dem Janowska-Bericht aufzugeben. In „Todestango“ werden Janowska und Jaktorov mit Lublin bzw. Majdanek hybridisiert. Zeitlich fallen in Celans Texten das ludistische Wortspiel und surrealistische Textgenerationstechniken mit dem Abschnitt in seiner Biografie zusammen, in der er um seine Eltern bangt und trauert. Als er von ihrem Tod erfährt, klafft schmerzhaft die Schuld wie auch das Fehlen der Leichname seiner Eltern, für die er nach Grabschriften sucht. Poetologisch liegt hier der Griff zur Gattung der cadavre exquis nahe, die den menschlichen Körper oder einen sprachlichen Satz in spielerisch-humorvoller Form zerstückelt und neu-montiert. Celans reale Rezeptionsbedingungen bezüglich der Vernichtung der Juden wurden bisher auch aus dem Grund übersehen, da der Dichter seine Interpreten selbst auf eine falsche Fährte geführt hat, als er 1962 bemerkte, dass er sich zu erinnern meint, die „Todesfuge“ im Mai 1945 verfaßt zu haben. Bemerkenswert ist, dass Celan später seine erste Publikation in den Kontext der Befreiung Europas vom Faschismus stellt, nämlich des im sowjetisch besetzten Osteuropa aufwändig gefeierten Jahrestags der deutschen Kapitulation – in diesem Fall war es der zweite Jahrestag im Mai 1947. Celans dialogische Ausrichtung auf seine Leser schlägt sich, und nicht nur im übertragenen Sinne, in der Orientierung auf das konkrete Publikum nieder, das der Dichter im Auge hat, und auf das er zeitlebens empfindlich reagieren wird. Wenn im Frühjahr 1947 in Bukarest der verzweifelt-frivole, sarkastische „Todestango“ sich an ein junges Publikum im befreiten und immer noch kosmopolitischen Rumänien und (namentlich mit dem Namen Sulamith, der in „ER“ von Weissglas fehlt) seine jüdischen Überlebenden wendet, addressiert die um einige Ernsthaftigkeitsregister tiefere Gattung der „Todesfuge“ in Wien eine gespaltene deutschsprachige Leserschaft, die sich vor kurzem noch als homogen denkende Volksgemeinschaft anzusehen hatte und 1947–48 immer noch reichlich ‚braun‘ war, und die andere bestand aus der beachtlichen Anzahl von deutschsprachigen und deutsch verstehenden Displaced Persons, zu denen Celan damals selbst gehörte. Auch wenn viele von ihnen deutsch verstanden, war 1948 das Deutsche in großen Teilen Europas eine verpönte Sprache, insbesondere deutsche Lyrik. Dass gerade Celan, der durch die Vernichtung seiner Familie schwer Betroffene, am Deutschen festhält, hängt wohl damit zusammen, dass er auf diese paradoxe Weise trotzig die Germanophilie seiner ermordeten Mutter Friederike hochhält. Celans Ko-Übersetzer Petre Solomon (2019, S. 52) vermutet, der Titel „Todestango“ sei ein „testing board“ gewesen und sagt zugleich, dass Celan fortwährend an dem Gedicht arbeitete – seit 1944 bis zur Publikation 1947. Der Tango der südlichen Halbkugel steht der protestantischen deutschen Fuge gegenüber – Eduardo Bianco vs. J. S. Bach. Beide haben synkopisch komponiert. Celan setzt beide Musikgattungen, populären Tanz und 105

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barocken Kontrapunkt um, fliehend aus der Sprache als Heimat und der Heimat selbst, die die eigene Sprache nicht mehr erlaubt, die fuga der Geflüchteten und Flüchtenden wie auch die fugue der vom Schuldgefühl Irrgewordenen beschwörend. Auf geniale Weise stellt diese Änderung des Titels das Gedicht vom romanischen Kopf auf germanische Füße und funktioniert doch weiter als Tango, als wäre der „Todestango“ der begleitende comes der führenden „Todesfuge.“ Aus dem erotischen Schiebe- wird ein ernster Totentanz mit den entsprechenden kulturellen Konnotationen. Diese interlinguale Poetik läßt sich am besten mit Ohad Kohns Konzept von Celans „dualem Sprachsystem“ mit einer Außenschicht (Deutsch) und einer Innenschicht (Jiddisch) beschreiben: Such non-German elements are highly present but hidden, however, within the underlying syntax and semantics. As a result, the text maintains a dual lingual system: a German outer-layer and a Yiddish inner-layer. Furthermore, Yiddish lexemes can only be inferred from their German cognates, as they never appear transliterated. This is surely a stylistic choice—in other cases, Celan incorporates non German elements, for instance the Hebrew lexemes Kaddisch, and Jiskor in the poem “die Schleuse”, (GW, 1: 222) or even transliterated Yiddish in “Benedicta”–”‘s mus asoj sajn” (GW, 1: 249). In these cases, however, the foreign component is highly marked on the lexical level. In “Benedicta” the Yiddish phrase is evenypographically marked. The difference is nonetheless more essential than stylistic. For these foreign words retain a degree of alienation within the poetic framework. (Kohn 2016, S. 83)

Auch wenn es sich hier nicht um ein rigides „System“ handelt, ist Kohns Beschreibung der Sprachlichkeit der Juden inspirierend. Man kann sich die „layers“ der Mehrsprachigen als Hautschichten vorstellen: Epidermis (Oberhaut: Schutz und Tastsinn), Dermis (Lederhaut: Nahrung, Nerven) und Hypodermis/Subcutis (Unterhaut: Fettpolster gegen Verletzungen) haben je verschiedene Funktionen und bilden doch ein Organ, die Haut. Die Metapher der Haut des Menschen, die nach außen anders als nach innen wirkt, ist zugleich ein Bild für Mehrsprachigkeit. Auch wenn man nur die Oberhaut sieht, ist sie doch verbunden mit den anderen Hautschichten – dieses Bild zeigt die Untrennbarkeit von Sprachen wie Deutsch, Russisch, Polnisch, Hebräisch oder Jiddisch für viele Juden Osteuropas. Kohns Konzept ist strukturell übertragbar sowohl auf hybride Sprachen wie auch auf Multilingualität. Auch der Doppeltitel „Todestango“/„Todesfuge“ ist in diesem Sinn zu verstehen, weniger als historische Entwicklung zu einer finalen Bedeutung hin, sondern als hätte das Gedicht eine rumänische Hautschicht wie auch eine deutsche: seine finale deutsche Titeloberfläche schält sich erst aus dem rumänisch-surrealistischen Kontext, der für Celan in Wien weniger relevant wird (obgleich er dort in Zeitschriften veröffentlicht, die eine internationale Ausrichtung hatten und dem Surrealismus verpflichtet waren).176 176 Er publiziert Gedichte aus dem Zyklus Der Sand aus den Urnen in der von Otto Basil 1945–48 herausgegebenen Zeitschrift Plan (Texte von Ilse Aichinger, Ivan Blatný, E. F. Burian, A. Camus, Jean Cayrol, Peter Demetz, Erich Fried, Friederike Mayröcker, Jiří Kolář, H. W. Kolben, Tristan Tzara; Künstler: Arp, Dali, Picasso oder Toyen). Plan war bereits 1938 erschienen (es gab ein Sonderheft zum Surrealismus wie auch zu Kafka) und knüpfte an die expressionistische

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Kohn spricht von Celans „lingual mimicry“ (Kohn 2016, S. 150): „What makes Celan’s act of re-appropriation so strong is not just the particular Jewish origin of influence, but rather its universal act of hybridization, expressed in the very nature of Yiddish as a fusion language.“ Diglossie erfordert Code-Switching.177 Ähnlich verhält sich der russische Titel des Majdanek-Films und das in ihm zitierte deutsche NS-Wort. Der Titel wird erst durch die Kontexte verständlich und hat mehrere Bedeutungen. Die deutsch-jiddische Paronomasie Ver/far-nichtung beschreibt jeweils den gleichen Vorgang, einmal aus der Perspektive der Täter und einmal aus der der Opfer.

2.5.4 „Niederschlagsgebiete“ und Vorgeschichten der Literaturwissenschaft nach 1945 Abhub alles Gegenständlichen, der saugende Rhythmus, die romantisierende Metapher, die lyrische Alchimie (Helmuth de Haas)178

Petre Solomon (2019, S. 20) spricht von Celans Verschwiegenheit: „Taciturn, reserved, he used to answer those who asked him what he had been doing in the forced-labour camp near Buzau with a single word: ‘Digging’ (Schaufeln).“ Alle Nachfragen der rumänischen Freunde Celans in den 1940ern konnten ihm nicht entlocken, was genau er von 1942–44 schaufeln musste. Harald Stiehler (1995) kolportiert Straßenbauarbeiten. Juden wurden in diesen Jahren an vielen Orten Europas angeblich „beim Straßenbau“ (Angrick 2018, S. 981) eingesetzt und dafür auch angeworben, mussten aber oft in Wirklichkeit Leichen ausgraben und beseitigen. Dabei wurden Knochenreste in Mühlen oder mit einer Straßenwalze zerkleinert, also einer Baumaschine. Ist es denkbar, dass Celan mit „Enterdungs“-Arbeiten in Berührung kam oder gar selbst ausführen musste? Details des Gedichts „Todesfuge“ weisen auf ein einschlägiges (Geheim)Wissen hin – und und surrealistische Dichtung der 1920er an bzw. die von den Nationalsozialisten verbotene „entartete Kunst“. Celan fungierte für das 1. Heft der Surrealistischen Publikationen 1950 als Übersetzer („Im Zentrum standen der Surrealismus aus Frankreich und ganz besonders der Kreis um den Gründervater André Breton.“). https://www.onb.ac.at/oe-literaturzeitschriften/ Surrealistische_Publikationen/Surrealistische_Publikationen.htm [2.1.2020] 177 „A diglossic language, necessitating constant Code-Switching is the epitome of lingual hybridity and the antipode to notions of racial or ethno-lingual purity. Celan’s subtleness in implementing his ‘Jewification’, his Jiddishdeutsch, is truly remarkable for it successfully injects the phenomena which are most saliently different in Yiddish in relation to German, without injecting the foreign elements that informed them. Hebraisms, Aramaisms and Slavicisms are intentionally completely left out. […] Celan uses syntactic constructions derived from either Slavic or Semitic sources (or both), but leaves outside the explicit presence of the Slavic and Semitic components that gave rise to these constructions. This subtlety is successful exactly because it remains both German and Jewish without becoming a macaronic caricature of Yiddish.“ (Kohn 2016, S. 150) 178 Der Curtius-Schüler De Haas (1970) ist einer der wenigen deutschen Kritiker, der die „surrealistische Züge“ der „Todesfuge“ würdigte. 107

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geheim blieb es trotz der Aussagen von Leuten wie Reznik oder Farber auch nach der Befreiung. Manche der überlebenden Schaufler mögen sich auch entschieden haben, diesen Lebensabschnitt nie zur Sprache zu bringen – zum einen verbietet das jüdische religiöse Recht der Halacha Orthodoxen eine Exhumierung von Juden, zum anderen konnte eine Offenlegung der Beteiligung an Enterdungen nach der Befreiung lebensgefährlich sein, da diese Geheimnisträger etwa konkrete Zahlen der Entderdeten (Ermordeten) kannten; da im Plan der „Aktion 1005“ nicht vorgesehen war, dass sie überleben, mussten sie sich daher auch nach dem Krieg vor den Tätern fürchten, v. a. wenn ein einstiges SS-Mitglied ihre Gedichte als „halsbrecherische Experimente“ bezeichnet. Hier möchte ich noch einmal den im Geleitwort zitierten Funkspruch (Odessa Nr. 1626) erwähnen. SS-Sturmbannführer Hegenscheidt schreibt an den Chef der Sipo und des SD und Einsatzgruppe C Lemberg, Abw. Stab am 28.3.1944, also im Monat nach Celans Befreiung über Massengräber in Südosteuropa („Niederschlagsgebiete“): 1. Nach Frontlage Aufgabe des transnistrischen Raums in Kürze zu erwarten. Heeresgruppe Süd bereits in Bessarabien. […]. 3. Erbitte Grundsatzentscheidung über Tätigkeit von Sipo und SD bei Heeresgruppe A und D im eigentlichen rumänischen Hoheitsbereich bei weiterer Rückverlegung der HKL. 4. Einsatz der SK 1005 A und B, GrS-Auftrag RFSS an SS-Staf. Blobel im Raum BdS-Schwarzes Meer nicht möglich. Erfaßte Niederschlagsgebiete nur noch im Raum KdS-Krim. Einsatz dort bei Front- und Bandenlage z.Zt. untunlich. Transportraum für Gesamtkommando nicht vorhanden. Gerüchteweise verlautet, daß Räumung Krim bevorsteht. Schlage Auflösung beider Kommandos bzw. Einsatz in anderem Raume vor.179

Allein diese Beschreibung eines potentiellen Einsatzes des Sonderkommandos 1005 im „eigentlichen rumänischen Hoheitsbereich“ (der sich weit nach Osten erstreckte), deutet darauf hin, dass eine Korrelation dieses Kapitels des Rückzugs der Wehrmacht aus der Ukraine und Südosteuropa und der Begleitmaßnahmen des SD mit Celans Zwangsarbeit weiterführend wäre. Die historische Perspektive könnte seine Biografie während des Kriegs kontextualisieren und über das „rumänische Arbeitslager“ hinaus vervollständigen.180

179 BArch, B 162/204 ARZ 419/62, Band 1, Bl. 146. http://holocaustcontroversies.blogspot. com/2016/02/once-more-with-feeling-deniers-and.html [2.2.2020] 180 Hierfür wären Dokumente relevant, die im Bundesarchiv unter „Auswärtiges, Kolonial- und Besatzungsverwaltung, BArch R 70-SOWJETUNION Deutsche Polizeidienststellen in der Sowjetunion“ bis Juli 1944 aufbewahrt werden. In R 70 finden sich Quellen zu „Polizeidienststellen in Russland-Süd, Schwarzes Meer und Kaukasus“ bzw. HStSSPF Ukraine (manche stammen aus dem russischen Sonderarchiv, Fond 1323, Opis’ 2, Nr. 267) oder „Einsatz der Polizei im rückwärtigen Heeresgebiet Russland-Süd.“ Man findet Dokumente wie „Beschaffung von Arbeitskräften zum Stellungsbau im Bereich des SSPF Charkow, 9. Sept. 1943; Einsatzbefehle des BdS und SD für die Ukraine vom 18. Jan. 1944 betr. Kampfgruppe von dem Bach, Jan. 1944; Personalliste der für den weiteren Einsatz beim BdS Schwarzes Meer vorgesehenen Kräfte, 29. Mai 1944.“ https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/3QLHUKCPNJIHUDYSDXSIC4NNOG4LDMIC [2.2.2020]. Auch Tätigkeitsberichte der „SS-Wehrgeologengruppe“ sind von Interesse (BArch R 70-SOWJETUNION/90).

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Eins kann man jedoch bereits jetzt festhalten, und das ist Celans kondensierte Geschichte der farnichtung und ihrer Vertuschung. Sie ist chiffriert, war in den 1940ern jedoch all denjenigen verständlich, die an den Tatorten der „Endlösung“ zugegen waren, sei es als Täter oder (überlebende) Opfer, Vernichter oder als Befreier (Sicherheits- und Geheimdienste, Untersuchungskommissionen), die die Verbrechen begangen bzw. dokumentiert haben, wobei sich diese Rollen nicht gegenseitig ausschließen, wie man an den Beispielen der offiziellen und privaten Filme und Fotografien Deutscher im Osten erkennt.181 Hinzu kamen einige wenige Nutznießer und Bystanders, die von den neu geöffneten Massengräbern profitierten und dadurch kompromittiert wurden. Sie hatten kein Interesse an Öffentlichkeit. Da der Aspekt der „Enterdung“ kaum zu einem öffentlichen Thema wurde, kann man sagen, dass sich Celans poetische Historiografie der farnichtung mit den Motiven der Erde, Asche, des Golds (Haar oder Ring) und Luft in „Todesfuge“ und auch noch in Die Niemandsrose an privilegierte Leser wendet. Hier hinein passt das Konzept des holókaustos als eines „gänzlich verbrannten Opfers“, das die die (ehemaligen) SS/ SD-Offiziere anstrebten: die Vernichtung der Spuren der farnichtung. Als Celan mit seinem poetischen Kenotaph („Grabmal“) der Auslöschung der Erinnerung an die doppelte Vernichtung – physisch und geistig – noch in seiner Heimat einen Riegel vorschob, war ihm die Brisanz seiner Entscheidung, auf Deutsch zu schreiben und damit Teil der deutschen Literatur zu werden, wohl nicht ganz bewusst. Doch als seine bundesdeutschen Kritiker in den 1950er Jahren versuchten, ihn als Dichter zu marginalisieren oder ihn gar persönlich angriffen (bis hin zu dem geschmacklosen Vergleich seines mündlichen Vortrags mit dem von Goebbels), war das mehr als ein Residuum brauner Ideologie. Nein, Celan hatte neben seiner allgemeinen auch seine spezifische Leserschaft gefunden – und offensichtlich auch aufgeschreckt. Schließlich war Holthusen unter den Philologen nicht der einzige Täter, wie die posthume Kontroverse um die „stringente und stimmige SS-Karriere“ des Romanisten Hans-Robert Jauss zeigt (Westemeier 2016, S. 116) Ähnlich wie Holthusen, der in der UdSSR, Rumänien und Ungarn gekämpft hatte, war auch Jauss an der Ostfront eingesetzt, und hat als politisch geschulter Pädogoge als Ausbilder an Orten, die bald hinter dem Eisernen Vorhang verschwanden, in leitender

181 Fotos von nackten Frauen in Erwartung der Erschießung in Micocz in Wolhynien und ihre Leichen in Gruben vom Oktober 1942, geschossen vom Warnsdorfer Reservepolizisten Gustav Hille (1899–1956), der diese Aufnahmen in seine Heimat mitnimmt und noch vor Kriegsende dem Strumpf-Fabrikbesitzer Kunert zeigt, der diese an den Vatikan schicken lässt (die Fotos wurden 1946 bei „in der wiedererstandenen Tschechoslowakei in einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt“ und befinden sich heut im Národní archiv, Prag). Oder Fotos des PK-Bildberichters Johannes Hähle (1906–1944), die an Orten der Massenerschießungen in der besetzten Ukraine gemacht wurden, darunter zahlreiche farbige Nahaufnahmen von Kleidung, Schuhen und Handtaschen im Sand, die weder dokumentarischen noch propagandistischen Wert haben konnten – zusammen mit einer sachlichen Dokumentation von sowjetischen Kriegsgefangenen in Babij Jar, die „das Massengrab einebnen und Bäume pflanzen müssen. Im Vordergrund ist ein bewaffneter Angehöriger der Waffen-SS zu erkennen.“ (Neumärker und Nachama 2016, S. 47–49, 61, 73, 119, 191–192). 109

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Funktion gewirkt. Kaum eine Biografie wurde so sorgfältig untersucht wie die von Jauss – man darf sie stellvertretend für jene bundesdeutschen Karrieren ansehen, die als Forscher oder ‚Pädadogen‘ im Dienst des SD begannen und nach dem Krieg unter demokratischen Bedingungen fortgeführt werden konnten. Im 2. Weltkrieg bot der Alltag in einigen besetzten Ländern dieser Generation junger Deutscher ein einladendes Reservoir: sei es sorglose Entspannung oder Zugang zu Bibliotheken und Hochschulbildung.182 In Prag konnte Jauss sich etwa mit der zukunftsweisend apolitischen Wissenschaftskultur der „Prager Schule“ bekannt machen, die in der Form des Prager linguistischen Kreises (1926) entstanden war und deren führende Köpfe, insofern sie nicht von den Nürnberger Gesetzen betroffen waren, während der Okkupation weiterpublizieren konnten. Das vom Kriegsgeschehen weitgehend verschonte Prag blieb – trotz Roman Jakobsons Flucht vor der deutschen Besatzung und Schließung der tschechischen Universität – eine Oase der Theoriebildung im Bereich Sprache, Poetik und Ästhetik in Mitteleuropa. Im April 1944 hatte das SS-Führungshauptamt Jauss als Chef der X. Inspektion an die SS-Panzer-Grenadier-Schule Kienschlag (Prosečnice) bei Prag versetzt, wo er die weltanschauliche Festigkeit von französischsprachigen Freiwilligen prüfte. Bereits am 22. Mai 1944 stellte der 22-jährige SS-Hauptsturmführer einen Antrag auf Immatrikulation an der „Reichsuniversität“ in Prag und nahm im Juni sein Romanistik-Studium auf. Auch wenn er im August an die Ostfront musste, finden sich in seinen späteren Arbeiten zur Rezeptionsästhetik Echos des tschechischen Strukturalismus, wie ihn Jan Mukařovský (Artefakt vs. ästhetisches Objekt) und Felix Vodička (Theorie der literarischen Rezeption in ihrer historischen Dimension) entwickelt hatten und die in der westlichen Literaturwissenschaft keine geradlinige Rezeption erfahren hatten. Auch die für den reifen tschechischen Strukturalismus typische Verbindung von strukturaler mit historischer bzw. sozialer Analyse fand sich in Jauss’ Arbeiten zur Rezeptionsgeschichte wieder. Dies ist insofern für unsere Thematik relevant, als die Kriegs-Biografien eines Holthusen oder Jauss von ihrem späteren Wirken – sei es im Feuilleton, hochschulpolitisch oder durch die Beschaffenheit ihrer Literaturtheorie – nicht zu trennen sind. Viele Jahre vor Roland Barthes wurde in der linguistisch dominierten Prager Schule der post-strukturale „Tod des Autors“ (1967) wie auch die reader-response theory der 1960er-70er (Iser, Jauss, Fish) vorbereitet bzw. antizipiert, d. h. die Position der Leser in ihrer jeweiligen historischen Konkretisierung des Werks gestärkt. Die hermeneutische Auslegung des Texts war bereits im tschechischen Strukturalismus der Vorkriegszeit in den Hintergrund getreten und wurde in der Rezeptionsästhetik bzw. im Post-Strukturalismus zugunsten des Akts des Lesens und der Intertextualität (Julia Kristeva) weiter zurückgedrängt. Die im Strukturalismus noch legitime Arbeit mit Sinn und Bedeutung der Literatur zerstob in eine Vielzahl von Lesarten (mit der Option, einige Deutungen außen vor zu lassen, etwa wenn sie politisch oder anderweitig nicht passten). Der Begriff der Intertextualität eliminierte

182 Westemeier 2016, S. 84.

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die Historizität von literarischen Aussagen, die nun ebenso zeitlos (,universal‘) wie auch apolitisch waren; ihre schier unendlich verzweigte Rhizomatik wurde unhintergehbar – eine Entwicklung zugunsten der mächtigen Figur des Literaturwissenschaftlers, der allein das klandestine Wurzelwerk bewirtschaftete, denn nur er (nicht der Autor) kannte alle intertextuellen Wurzelnetze. Wollte der Literaturwissenschaftler leben, musste der Autor sterben – zum stummen Humus unter dem Wurzelwerk verurteilt. Das Leben des Autors war bereits in der Formalen Schule und im Strukturalismus ausgeblendet worden und konnte nur durch die psychoanalytische Literaturtheorie der 1970er Jahre partiell, aber auch nicht in der Form der Verantwortung des Autors für den Text oder aufgrund des Verdachts der intentional fallacy, wieder eingeführt werden. Doch in den letzten Jahrzehnten – im Kontext des Falls der Mauer und des Eisernen Vorhangs, der Öffnung der Archive Osteuropas und des damit verbundenen gesamteuropäischen archival turn, manchmal als ethical turn bezeichnet (besagt dieser Begriff etwa, dass alle Forschung davor unethisch war?) – mussten sich die Koryphäen des Poststrukturalismus bzw. der Dekonstruktion eine fundamentale Kritik ihrer Theorien als Vehikel der Beliebigkeit und der Aufgabe des Wahrheitsanspruchs gefallen lassen. Dies gilt etwa für Paul de Man (1919 Antwerpen – 1983 New Haven), dem man das Verschweigen seiner journalistischen Kollaboration (antisemitische Artikel im besetzten Belgien) nicht verzeihen kann ebenso wie H. R. Jauss’ Manipulationen seiner Biografie bei der Immatrikulation an der Bonner Universität 1945. So attraktiv die Entmachtung des Autors für die Zunft der Literaturwissenschaftler und sein Theoriewachstum auch sein mochte, so gering war die Relevanz dieser Theorien für nicht-akademische Kreise, die lediglich indirekt von dem innerhalb der Literaturwissenschaft geförderten Verzicht auf eindeutige Interpretationen, Intentionalität, auf ethische Verantwortung für künstlerische Werke und Wahrheitsanspruch in der Literatur betroffen waren. Und dies sowohl im positiven wie auch negativen Sinne: geschlechtliche oder nationale Identität wurde als Konstrukt entdeckt, aber auch das Konzept der ‚alternative truths‘ stammt aus dieser (literatur)theoretischen Schmiede. Aufschlußreich ist freilich, dass es an Philosophie und Rhetorik interessierte Literaturwissenschaftler sind, die sich hier hervorgetan haben – also Spezialisten für die Gestaltung überzeugender (auto)biografischer Narrative. Die Dechiffrierung eines Textes wird mit dem Verschwinden des Autors unnötig, umgekehrt kann man folgern, dass der Verzicht auf diese Hermeneutik mit Hinblick auf eine reale, ja, juristisch relevante Referenz auch den Autor als rechtliches Subjekt annuliert. Es kommt zu einer Kappung der Verbindung zwischen dem flämischen Kollaboranten Paul Deman und dem amerikanischen Star der Yale Critics, Paul de Man. Sowohl de Man als auch Jauss – beide promovieren über französische Autoren – verleugnen in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht nur ihre Naziära-Identität bzw. Biografie bis hin zum Geburtsort im Fall von Jauss (statt Göppingen Prenzlau, und daher „Ostflüchtling“, statt „Waffen-SS“ ein „Gebirgsjäger-Regiment“; Westemeier 2016, S. 108; im Fall von de Man

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bezüglich der Autorschaft antisemitischer Sudeleien),183 sondern fälschen auch Bestandteile ihrer akademischen Laufbahn – bei Jauss handelt es sich namentlich um seine Prager Zeit, wo er angeblich bis März 1945 studiert hat, doch die Bestätigung hierfür vom 27.3.1945 stammt von einem Rektor, der sich bereits im August 1944 das Leben genommen hat.184 So zeigt Westemeier durch den Hinweis auf dieses Detail im Curriculum vitae den Literaturwissenschaftlern eine Fährte auf, die eben dorthin führt, wo Jauss sich seine Inspirationen für seinen Beitrag zur Konstanzer Schule geholt haben mag. Betrachtet man die Biografien eines Jauss, de Man185 oder auch einer Kristeva186, wird offenbar, dass diese mit Literatur befassten Personen ein genuines Interesse daran haben mussten, dass eine Beziehung zwischen ihrem eigenen Leben, in dem sie auf der falschen Seite der Geschichte gestanden hatten, und der Autor-Persona ihrer theoretischen Texte gekappt wird. Die Trennung von Biografie und Text ist eine der Grundforderungen der innovativen Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts, beginnend mit dem Russischen Formalismus ab den 1910er Jahren. Der Ertrag war beträchtlich, doch was geschieht, wenn das Wesen einer Theorie selbst von der Biografie des Literaturtheortikers affiziert oder durch sie erst möglich wurde? Zu einem ähnlichen Schluß kommt Claude Haas: 183 De Man arbeitete ab 1940 für belgische Blätter wie Het Vlaamsche Land und Le Soir. Im Artikel „Les Juifs dans la littérature actuelle“ (Le Soir, 4.3.1941, S. 45) erwägte der 22-jährige eine „isolierte jüdische Kolonie“ zum Zwecke der Verhinderung der „Korruption“ europäischer Literatur durch Juden. Dieser Artikel fällt in die Zeit, als der Madagaskar-Plan (vgl. Eichmanns Memorandum Reichssicherheitshauptamt: Madagaskar Projekt vom August 1940) aufgrund militärischer Entwicklungen undurchführbar geworden, aber noch nicht völlig fallengelassen worden war. 184 „Jauß legte seine für die Immatrikulation nötigen Bewerbungsunterlagen und Zeugnisse vor – sie waren durchweg gefälscht.“ (Westemeier 2016, S. 108; am 22.5.1945 hatte er sich in seiner alten Heimat „amtliche Abschriften seiner Immatrikulationsbescheinigung der Deutschen Karls-Universität“ ausstellen lassen, ibid. 106). Dadurch vermied Jauss auch unangenehme Fragen zu seinem letzten Abschnitt bei der „Feldtruppe“, also ab August 1944 in Pommern u. a.. SD-Offiziere wurden in ähnlichen Täuschungsmanövern unterwiesen bzw. mit falschen Identitätspapieren ausgestattet. Mit seinem Vater korrespondierte Jauss 1945 mit Hilfe eines Codes (ibid., 109). Haas verweist auf Ottmar Ettes Analyse von Jauss’ „kryptographischem Schreiben“, das „die eigene SS-Zugehörigkeit gerade dort thematisiere, wo sie bewusst verschwiegen werde, wo sie sich im Akt des Verschweigens paradoxerweise jedoch stets vernehmen lasse. […] Zwar tauche das Problem der eigenen Verantwortung zwischen den Zeilen mitunter fast schon penetrant auf, doch werde es im gleichen Atemzug verstellt, verschoben, verallgemeinert oder schlechterdings verdreht.“ (Haas 2017) 185 Tom Bartlett, Paul de Man’s Many Secrets, 21.10.2013. https://www.chronicle.com/article/ The-Many-Betrayals-of-Paul-de/142505/ [3.2.2019] 186 Der bulgarisch-französischen Literaturtheoretikerin Kristeva (* 1941) wurde 2018 vorgeworfen, als Agentin für die bulgarische Staatssicherheit gearbeitet zu haben: „the Committee for Disclosing the Documents and Announcing the Affiliation of Bulgarian Citizens to the State Security and Intelligence Services of the Bulgarian National Army—claims that Kristeva was an agent and a ‚secret associate‘ for the First General Department of the State Security, a bureau that collected foreign political intelligence“, recruited in 1971. https://www.artforum.com/ news/philosopher-julia-kristeva-accused-of-being-a-secret-agent-for-bulgaria-74784

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Zu den vielleicht spektakulärsten Erkenntnissen bereits seiner Proust-Dissertation von 1955 zählte Jauß’ narratologische Unterscheidung zwischen „erinnertem“ und „erinnerndem Ich“ und die Feststellung, dass ersteres letzteres auch am Ende des Proust’schen Romans nicht ganz einholen könne. Diese Entdeckung dürfte maßgeblich biographisch motiviert gewesen sein. Die Vorstellung, dass erinnertes und erinnerndes Ich keine Einheit eingehen können, irritierte zwar das Bild einer tiefen ästhetischen Geschlossenheit und perfekten Zyklik des Proust’schen Romans – für einen ehemaligen SS-Mann hingegen muss dieselbe Vorstellung ein fulminantes Versprechen gewesen haben. (Haas 2017)

Nun wurde jedoch in den letzten Jahren immer lauter nach einer Wiederherstellung ethischer Verantwortung für Texte gerufen. Und nicht nur literarische: Paul de Man hat zwar einen der berückendsten Texte über die Prosopopeia und die Rhetorik des autobiografischen de-facement verfaßt, doch handelt es sich auch hier um eine Form autobiografisch konditionierter Theoriebildung, die sich der Unkenntlichmachung widmet. Barthes meinte, dass die Geburt des Lesers nur mit dem Tod des Autors zu erkaufen sei. Doch je geringer der Stellenwert der Autorschaft wird, desto unklarer wird auch die Verantwortlichkeit für das jeweilige Werk, womit wir wieder bei unserem Thema der Autorisierung eines Filmdokuments sind. Im Fall der Frontaufnahmen war es Autoren wie Karmen oder den Fords schlechthin unmöglich, ihre Aufnahmen und ihren Schnitt zu autorisieren. Dies übernahmen das sowjetische Studio und die Zensurinstitutionen für sie. Das Jahr 1941 gestaltete sich für die drei jungen Männer De Man (*1919), Celan (*1920), Jauss (*1921) so: De Man schrieb seinen Artikel über die Juden als das Unglück europäischer Literatur. Jauss musste bei seinem ersten Auslandseinsatz in Prag im Juni 1941 am „Kragenspiegel den Totenkopf der SS-Totenkopf-Verbände“ tragen,187 dem Monat, als Celan seine Eltern, die als Juden aus Czernowitz deportiert wurden, das letzte Mal sah. Auf welcher Ebene konnten sich die späteren Romanisten und Komparatisten an westlichen Universitäten und der in Paris lebende deutsche Dichter begegnen? Und dies ist kein Einzelfall – ich möchte noch einmal auf den um einige Jahre älteren Holthusen zurückkommen, dem ein „Generationskamerad“ ohne „saubere“ Vorfahren auf seine in Fortsetzung im Merkur erschienene apologetische Bekenntnis entgegnete: Sie gingen zur SS, freiwillig. Ich kam anderswo hin, ganz unfreiwillig. Doch habe ich nicht zu richten und zu rechten. Die acht sauberen Urgroßeltern, das damals von der „schicken“ SS geforderte Körpermaß, sie mögen als determinierende Faktoren schon ins Gewicht gefallen sein. In der Generation unserer Väter holten sich junge Leute aus dem Bürgerstand manchmal die Syphilis – welche Schande und welches Unglück. In unserem Jahrgang holte man sich, eine stimmige Ahnentafel vorausgesetzt, die SS. (Améry 1967, S. 393)

187 „Selbst auf einem SS-Führerlehrgang ausgebildet, vermittelte er als Kompaniechef seinen Männern und als Inspektionschef an einer Junkerschule auch die SS-Weltanschauung. Frühe Nachkriegsaussagen von Jauß beinhalten Leitmotive dieser SS-Weltanschauung.“ (Westemeier 2016, S. 39, 116) Es ist der Universität Konstanz hoch anzurechnen, Westemeiers Arbeit in Auftrag gegeben zu haben. 113

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Jean Améry (1912 als Hans Mayer in Wien – 1978 in Salzburg durch Selbstmord) floh aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach Belgien, wo er nach dem Einmarsch deutscher Truppen im Mai 1940 als „feindlicher Ausländer“ im südfranzösischen Lager Gurs interniert wurde. Er entkam, engagierte sich im Widerstand, wurde in Brüssel von der Gestapo verhört, sah zahlreiche Lager und KZs Europas wie Fort-Breendonk bei Antwerpen (wo er gefoltert wurde) und Auschwitz von innen. Befreit wurde er in Bergen-Belsen, litt jedoch – wie viele Überlebende – unter Depressionen und versuchte sich 1974 das Leben zu nehmen. Nach dem Krieg kehrte er in das befreite Belgien zurück (das Paul de Man aufgrund seines Verhaltens während der Besetzung verlassen musste). Améry und de Man befanden sich an entgegengesetzten Enden des besetzten und im Herbst 1944 befreiten Belgien, der eine als an den „Folgen der Verfolgung“ leidender jüdischer Überlebender, der andere als Flame, der sich auf einem Dampfer nach Amerika nach dem Krieg der Justiz entzog. Holthusen, der einstige Leiter des Goethe House New York (1961–64) und bis 1963 Leiter der Literaturabteilung der Berliner Akademie der Künste hatte seine autobiografische Notiz „Freiwillig zur SS“ (Holthusen 1966) begonnen mit einem Satz, in dem er sich Gedanken macht, was „Ausländer“ von ihm denken mögen: Der Mensch, den ich im Auge habe, gehört zu jener mittleren deutschen Generation, die heute von vielen jüngeren Landsleuten, vor allem aber von Ausländern mit Scheu, ja mit Argwohn betrachtet wird, weil sie „damals“ jung war, und „damals“ jung gewesen sein heißt, daß man mit hoher Wahrscheinlichkeit zu den Mannschaften zählte, mit denen Hitler seine Organisationen gefüllt und seine Kriege geführt hat. (Holthusen 1966, S. 921)

Meinte er mit „Ausländern“ Leute wie Mayer-Améry oder Ancel-Celan? Beide Überlebende mögen Leute wie Holthusen oder de Man mit Argwohn betrachtet haben – und doch waren es die „scheuen“ und „argwöhnischen“, die die Zeche mit ihrem von Schwermut geplagtem Leben bezahlen mussten.

2.5.5 „Schaufeln“ in Rumänien In der Einführung von Ovid S. Crohmălniceanu188 zu „Todestango“ heißt es: „während andere Gräber schaufelten“, doch in Celans Gedicht kommen folgende Zeilen vor: „wir schaufeln ein Grab in der Erde“, „läßt schaufeln ein Grab in der Erde“ und „wir schaufeln ein Grab in den Lüften“. Das „Schaufeln“ bezieht sich also nicht nur, oder nicht in erster Linie auf das eigene Grab, wie dies in der Celan-Literatur mehrheitlich angenommen wird, sondern gibt in und durch die Komposition des Gedichts der farnichtung eine geschichtliche Perspektive. Sie beginnt mit der Erde und dem Graben und steigt in die Luft. In Celans dichterischem Vortrag von „Todesfuge“ für eine Schallplatte im Günther Neske 188 Pseudonym von Moise Cahn (Galați 1921 – Berlin 2000). Der marxistische Literaturkritiker war in der Nachkriegszeit Vertreter des Sozialistischen Realismus und von 1947–1951 Redakteur der Zeitschrift Contemporanul.

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Verlag (1958) wird dieses Hochsteigen (des Rauchs, vielleicht auch der Asche) ikonisch abgebildet. Celans eigene Stimme durchmisst mehrmals die Entfernung vom irdischen zum Luftgrab.189 Dem Höhepunkt des Gedichts („der Tod ist ein Meister aus Deutschland“) folgt der Epilog („dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith“) mit einer sinkenden Stimme, die beim biblischen Namen Sulamith herabfällt – wie Asche-, Staub- und Russpartikel. Tatsächlich umschreibt das „Schaufeln eines Grabs in den Lüften“ (im Gegensatz zum Schaufeln des „Grabs in der Erde“) genau genommen nur eine ganz bestimmte Tätigkeit, und zwar die der jüdischen Sonderkommandos, wie sie auch die überlebenden Reznik oder Farber schildern. Die Information findet sich wohl noch deutlicher im Akkusativ des Worts Luft im Gedicht „ER“ von Immanuel Weissglas: „Wir heben Gräber in die Luft“. Die Gräber, die in der Erde waren, werden beim Vorgang der „Enterdung“ in die Luft gehoben. Unklar ist, ob Celan, der in „Todesfuge“ auch vom „Grab in den Wolken“ spricht, diese Erfahrung in einem rumänischen und/oder Organisation-Todt „Wetterkommando“ bzw. „Himmelskommando“ (zu dieser Begriffsvariante vgl. Angrick 2018, S. 832) selbst gemacht oder ein sekundärer Zeuge ist. Wie man dem Dokumentarfilm Ieşirea trenurilor din gară/The Exit of the Trains (Rumänien, 2020)190 über das Iaşi-Pogrom von Radu Jude und Adrian Cioflâncă entnehmen kann, begann die massenhafte farnichtung der Juden Europas durch Deportation in Güterzügen am 29.6.1941 in Rumänien,191 und wurde nach der Befreiung vor allem von den Witwen und weiblichen Waisen bezeugt – denn in dieser ersten Phase der oganisierten Vernichtung der rumänischen Juden wurden nur Männer und Jungen deportiert (man beschuldigte die Juden, sie wären Sympathisanten der Sowjetunion, die in der letzten Juniwoche Iaşi bombardierte). Ein früher ‚Fehler‘ dieser durch den rumänischen Geheimdienst und die deutsche Abwehr angestiftete Aktion, der bei den späteren durch Deutsche geleiteten Deportationen tunlichst vermieden wurde – Eichmann sollte darauf achten, dass Familien zusammen deportiert wurden, damit nicht später Witwen und Waisen als Zeugen auftreten konnten, was im Fall von Iaşi geschah und nach dem Krieg zu zahlreichen Verurteilungen führte. Während das Massaker in der Stadt Iaşi einem Pogrom (ähnlich dem von Jedwabne in Polen am 10.7.1941, ebenfalls durch den deutschen Geheimdienst initiiert) ähnelte, waren der Tod von ca. 5000 Menschen in versiegelten Eisenbahnzügen eine primitive, jedoch systematische Massenvernichtung: der mit Menschen überfüllten Waggons in diesem „Geisterzug“ (auch: „Phantomzug“) fuhr von Iaşi so lange auf verschiedenen Gleisstrecken 189 Diese Entwicklung von „Erde“ („ES WAR ERDE IN IHNEN, und sie gruben“) zu „Luft“ („IN DER LUFT, da bleibt deine Wurzel, da“) erstreckt sich in Celans Die Niemandsrose (1959–63) über den gesamten Gedichtyklus. 190 Produziert von Petre Solomons Schwiegertochter Ada Solomon: https://www.imdb.com/name/ nm1127536/) 191 Die Gesamtopferzahl betrug mindestens 13.266. Zum Pogrom vgl. den Sammelband von Wolfgang Benz und Brigitte Mihok 2009. 115

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hin und her, bis die Passagiere erstickt bzw. in der Sommerhitze verdurstet waren, oder aufgrund des Karbidanstrichs der Wageninnenwände vergiftet. So wurden unbewaffnete und unschuldige Menschen (in diesem Fall: rumänische Mitbürger) umgebracht, ohne dass Einzelne individuelle Schuld übernehmen mussten (wie dies bei Erschießungen überwiegend der Fall war). Der Überlebende Jean Ancel erwähnt ein Detail, das die menschliche Fracht des „Geisterzugs“ betrifft: Als Ion Antonescus Zug nahte, musste man den Todeszug öffnen, denn der „Gestank der Kadaver“ war unerträglich. Der Zugführer ließ die Leichen abladen und befahl Verbrennung („bartered with the Gypsies“) – was sich jedoch als schwierig erwies, da das Knowhow hierfür noch fehlte (Blobel entwickelte es erst später) und Treibstoff und Holz benötigt wurde.192 Vermutlich mussten die Roma die Leichen begraben. Angrick (2018) geht auf Entderdungen in diesem Gebiet nicht im Detail ein, aber es gibt zu denken, dass die Leichen aus dem Todeszug aus Iaşi wie auch 22.000 Juden, die 1941–2 in Odessa und Umgebung von rumänischen Verbänden erschossen worden waren, in Massengräbern lagen.193 David Silberklang weist darauf hin, dass die Zahl der in Rumänien Ermordeten sehr hoch war.194 Da zumindest in den Filmdokumentationen von gewaltsamen Goldkronenextraktionen nicht die Rede ist (nur, dass Wertgegenstände abgenommen wurden), fragt man sich, ob diese sozusagen ‚unsystematisch‘ bestatteten Leichen aus der Frühzeit des Genozids auch aus diesem Grund noch einmal ausgegraben wurden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch die jungen Männer aus dem Lager Tăbărăști in der Walachei zum „Schaufeln“ wenn nicht für die Beseitigung von Spuren der Verbrechen der Achsenmächte oder zum Extrahieren eingesetzt wurden. Alle Grabungen – ob offiziell oder auf eigene Faust – wurden immer auch von einer Suche nach „Goldreserven“ (Angrick 2018, S. 365ff) begleitet, und dies vor und nach der Verbrennung der Leichen, wenn die Knochenreste in die Mühle kommen, wie dies Farber über Ponary berichtete: Drei Tage später blieb ein Aschehaufen mit Partikeln unverbrannter Knochen zurück. Greise und körperlich Schwache arbeiteten an der Mühle. Verbrannte Knochen wurden mit Schaufeln auf das riesige Eisenblech geworfen und mit Stampfern zerkleinert, so dass kein einziges Knochenstück erhalten blieb. Die nächste Operation bestand darin, die zerkleinerten Knochen mit einer Schaufel durch ein feines Metallgitter zu sieben. Diese Operation hatte eine doppelte Bedeutung. Wenn auf dem Gitter nichts mehr zu sehen war, waren sie gut zersplittert, und zweitens wurden so nicht verbrannte Wertsachen aus Metall, Goldmünzen usw. gefunden. 192 Jean Ancel in „Trenurile mortii, urmare a Pogromului de la Iasi“ https://www.youtube.com/ watch?v=F2vvehGmZDU [2.1.2010] 193 Angrick 2018, S. 48, Jean Ancels Transnistria zitierend. 194 „We know that in Romania, in Iaşi and other places in Bessarabia and Bukovina, as well as in Transnistria and on the way to Transnistria, perhaps as many as 400,000 Jews were murdered.“ Silberklang (2015) im Vorwort zu Killing Sites – Research and Remembrance. Introduction to the Conference and IHRA Perspective, 21–30, S. 23. https://www.holocaustremembrance.com/ sites/default/files/ihra_publication_killing_sites_web_1.pdf [2.12.2019] Wie man der Karte in (Neumärker und Nachama 2016, S. 32) entnehmen kann, findet sich die höchste Dichte von bekannten Massenerschießungen im Grenzgebiet von Rumänien und der Ukraine.

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Es gab Gruben, in denen sich 20.000 Leichen befanden. Der Gestank drehte uns buchstäblich den Magen um und es wurde einem schwindelig. (Farber 1980)195

Es ist verständlich, dass Celan, sollte er unter rumänischer Aufsicht an einer solchen geheimen „Enterdung“ – getarnt als Straßenbau – teilgenommen haben, darüber geschwiegen hat. Der Verzicht auf autobiografische ‚Klartext‘-Aussagen hebt jedoch die sachliche Referenz auf rumänische Goldgräberei, Rückzugsverbrechen und Spurenbeseitigung („Aktion 1005“) der Achsenmächte nicht auf. „Todesfuge“ ist somit nicht nur ein Gedicht über den „Holocaust“, sondern über die Mechanismen seiner Leugnung noch vor Kriegsende, eine Aufgabe des Sicherheitsdiensts (SD) zum Schutz der SS, ja und zum individuellen Selbstschutz der einzelnen SD-Offiziere. Daher kam Celans Gedicht ehemaligen SD-Angehörigen, jetzt angesehene Literaten, einst jedoch „am östlichen Rande des deutschen Sprachgebiets“196 anderweitig tätig, mehr als ungelegen. Zugleich schlägt sich in „Todestango“ Celans Wissen um die Nutznießer der farnichtung nieder – ein Tabu in Rumänien. Da vielen Lesern, die nicht mit dem Genozid und der Spurenbeseitigung persönlich befasst gewesen waren, der Kontext fehlte oder sie ihn nicht wahrnehmen wollten, musste Celan deutschen Literaturwissenschaftlern und -kritikern seine Gedichte und insb. „Todesfuge“ erläutern. Doch gab er nur spärliche Hinweise, auf welche Weise seine Texte zu entschlüsseln seien. Zugleich hat meine Analyse des Gedichts ergeben, dass „Todestango“/ „Todesfuge“ auch an diejenigen gerichtet ist, die an den sog. „Abäscherungen“ der Ostfront und den „Enterdungen“ beteiligt waren – die SS/SD, die Überlebenden der in 1005er-Sonderkommandos eingesetzten Juden (wie Wiesenthal, Farber, Reznik) und sog. „Zigeuner“ (auf dem Balkan) und zuweilen auch die lokale Bevölkerung, die noch vor der Rückkehr der Deutschen die „Vorkommen“ (ein anderes NS-Tarnwort für Massengräber) aufspürte und nach Gold grub. Die rumänische Publikation des Werks im Mai 1947 besteht noch auf der Faktizität des dichterisch „Beschworenen“, und führt auch das konkrete und den Lesern in Rumänien bekannte Toponym Lublin an (nicht Majdanek, wie es Celan später manchmal alternativ nennen wird): „Das Gedicht, dessen Übersetzung wir hier veröffentlichen, beruht auf der Beschwörung einer wahren Begebenheit. In Lublin wie in anderen ,nazistischen Todeslagern‘ zwang man eine Gruppe von Verurteilten, wehmütige Lieder zu singen, während andere Gräber schaufelten.“ (Contemporanul, 2. Mai 1947, S. 1). Das „reale Faktum“ („fapt real“) – hier übersetzt als „wahre Begebenheit“ – steht nicht im Gegensatz zum surrealen Stil, in dem der Dichter schreibt. Als „Geheimnisträger“ wider Willen greift auch er zur Verschlüsselung.

195 Vgl. die redigierte Fassung, die ich bereits im „Geleit“ zitiert habe, und aus der das Gold gestrichen worden war: „Diese Knochen werden durch Stampfen in einen Pulverzustand versetzt. Das Pulver wird durch kleine Metallnetze geschaufelt, damit die Asche keine großen Teile enthält, die gesiebte Asche wird mit einer großen Menge Sand gemischt […].“ 196 H. E. Holthusen 1954, S. 395. 117

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Schädel, Objets trouvés und fiktiver Rauch: Wie und wozu Orte der Vernichtung filmen? 3 Schädel, Objets trouvés und fiktiver Rauch

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Aufgrund der spezifischen Ansprüche, die die Propagandamacher der UdSSR – damals noch im Krieg mit Hitlerdeutschland – an dieses Bildmaterial hatten, war die dokumentarische Wahrhaftigkeit der Gesamtheit der in den KZs gemachten Aufnahmen nur insofern relevant, als diese Aufnahmen als Propaganda im Krieg dienen konnten oder einen künftigen juristischen Wert hatten, etwa als Beweismittel. V. a. die finalen Montagen sind daher eher an Agitation und dem Sammeln von Beweisen mit der Kamera orientiert und nicht mit unseren Vorstellungen von visueller Geschichtsschreibung oder einer neutralen Dokumentation zu vereinbaren. Das Filmen der Spuren von (Kriegs)verbrechen für ein späteres Gerichtsverfahren folgt anderen Prinzipien als das objektive Dokumentieren. Im gleichen rhetorischen Kontext stehen auch andere mediale Formen, die heute allzu wörtlich genommen und daher missverstanden werden. Der Umstand, dass die Rote Armee in Majdanek ein Museum errichtet hat, für das NS-Baracken rekonstruiert wurden, ist jedoch kein Beweis, dass es den Mord an den Juden nicht gegeben hat. Aufgrund unserer Erwartungen herrschen in Bezug auf das Majdanek-Filmmaterial in der Forschung anachronistische Auffassungen. Gerade bei KZ-Befreiungsfilmen hoffen wir auf ‚wahre‘, ideologiefreie Dokumentationen mit verbriefter Authentizität, d. h. keine nachgestellten Aufnahmen und Inszenierungen. Solche lupenreinen Dokumentationen können beide Majdanek-Filme nicht liefern – wie im Übrigen auch nicht die Aufnahmen, die nach der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee im Januar 1945 gemacht wurden. Dies hängt auch damit zusammen, dass wir die Maßstäbe vom April 1945 anlegen, als die Briten und Amerikaner unter völlig anderen Umständen in KZs auf deutschem Boden gefilmt haben. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass damals der Krieg so gut wie vorbei und gewonnen war – während er im Sommer 1944 noch andauerte und ein kurzfristiges Ende alles andere als absehbar war. Die Entdeckung der Todeslager der „Aktion Reinhardt“ bzw. der Komplex Majdanek/Lublin hatte sich in jeder Beziehung den Kriegserfordernissen unterzuordnen. Der folgenreichste und offensichtlichste Makel der Majdanek-Filme scheint jedoch bis heute darin zu liegen, dass sie die Geschichte des Genozids an den Juden hätten zum richtigen Zeitpunkt glaubwürdig erzählen können, anstatt sie zu verschweigen. Diese zunächst einleuchtende Feststellung geht auf Grundannahmen in Stuart Liebmans erstmals © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Drubek-Meyer, Filme über Vernichtung und Befreiung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30531-4_3

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im Jahre 2003 erschienenen einschlägigen Pionier-Artikel zum Majdanek-Film zurück, der zu folgenden Thesen geführt hat:197 Erstens der Annahme einer Intention von staatlicher Stelle, die für die Absenz der Thematisierung der Vernichtung der Juden in den KZ-Filmen verantwortlich ist: dies würde bedeuten, 1944 der UdSSR – analog zu Hitlerdeutschland – einen systematischen Antisemitismus zu unterstellen. Liebmans Ziel war nachzuweisen, dass die ersten sowjetischen Filme über Vernichtungslager das Thema absichtsvoll unterdrückt haben. Wenn man jedoch genauer hinsieht, und dies geschah 2011 anlässlich der Übersetzung seines Artikels ins Polnische, kann der Umgang mit dem Filmmaterial 1944 nicht auf einen pro-aktiven sowjetischen Antisemitismus zurückgeführt werden. Shneer hat in seiner Geschichte der maßgeblich von Juden gestalteten sowjetischen Fotografie bereits korrigierend darauf hingewiesen, dass „sowjetische Juden – ähnlich wie ihre amerikanischen Pendants – Nazi-Gräuel als universelles Problem darstellen wollten.“ (Shneer 2010, S. 169)198 Jeremy Hicks (2012, S. 172) wiederum hat aufgezeigt, dass die Kameraleute die Spuren des Judenmords, soweit dies möglich war, sehr wohl dokumentiert haben, auch wenn diese Aufnahmen nicht in die Endfassungen (der uns heute vorliegenden) Filme gelangten. Zweitens das Nichtbeachten des medienpragmatischen Aspekts und der Zensurprozeduren: Der mehrstufige Prozess der Produktion von Filmchroniken und Frontspezialnummern wurde bisher weitgehend außer Acht gelassen; daher wird den Kameraleuten bzw. auch den Cutterinnen aufgrund ihrer Nennung im Vorspann eine große Entscheidungsautorität zugeschrieben, die sie in Anbetracht der straffen militärischen Zensur während des 2. Weltkriegs nicht hatten; die Rote Armee hatte zudem eigene politische Abteilungen. An deren Spitze stand zunächst der frühere Chefredakteur der Pravda und Stalin-Vertraute Lev Mechlis,199 später Aleksandr Ščerbakov – vgl. hierzu den Pionierarbeit leistenden auf Französisch erschienen Ausstellungskatalog von Valérie Pozner, Vanessa Voisin und Alexandre Sumpf (2015). Inwieweit und in welcher Form auch die polnische Division ihre eigene Zensur durchführte, ist bisher noch nicht erforscht worden. Piotrowski (2001) weist jedoch darauf hin, dass es eine eigene politische Militärpolizei gab, die spätere Główny 197 Es handelt sich um eine französische Übersetzung des auf Englisch geschriebenen Artikels, „La libération des camps vue par le cinéma: L’exemple de Vernichtungslager Majdanek“, in: Les cahiers du Judaisme 15 (2003): 54–79, drei Jahre später erschienen auf englisch (Liebman 2006). 198 Eine ausgewogene Darstellung der Problematik jüdischer Identität (insb. jüdischer Kommunisten) in den polnischen Armeen findet sich in Rozenbaum 1991, Nussbaum 1991 und in Golczewski 2003. 199 Lev Mechlis (Odessa 1889 – Moskau 13.2.1953) engagierte sich zunächst in der zionistischen Sozialdemokratie Poalei Zion, wurde dann jedoch Bolschewik und als „Stalins Sekretär und einer der meistverachteten Männer in der sowjetischen Geschichte. In seinen letzten Tagen wurde er zu einer wichtigen Figur bei der Deportation der sowjetischen Judenheit in Konzentrationslager.“ (Rapoport 1992, S. 31, 82) 1937–1940 leitete er die politische Verwaltung der Roten Armee und war auch an der Katyn’-Entscheidung beteiligt. 1940 bis 1941 und dann wieder 1946 bis 1950 war er Volkskommissar für staatliche Kontrolle.

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Zarząd Informacji Wojska Polskiego. Das Zensur-Dispositiv des Schnitts gilt stets für das Medium Film und unterscheidet es von Fotografien, die in stärkerem Maße den Status eines in sich vollendeten und autorisierten Werks haben (auch wenn sie nicht publiziert oder retuschiert wurden). Wenn Fotografien manipuliert (etwa über ein bestimmtes Maß hinaus retuschiert oder Bestandteile montiert) werden, kann man das als Eingriff in das Werk des Fotografen bezeichnen. Im Fall des Chronik-Filmmaterials handelt es sich jedoch nicht um einen analogen Eingriff der Zensur, da bei Filmchroniken die Sujetlinie und damit auch die Sinngebung oft erst nach den Aufnahmen und nicht schon an der Front erstellt wird. Mikro-Narrative werden zwar gerade von den Assen unter den Dokumentaristen (wie Karmen) in ihren Montagelisten mitgeliefert, jedoch sollte man bei einem im CSDF geschnittenen Propagandafilm die Verantwortung für die Endfassung des Films nicht zu stark zu personalisieren, da hier verschiedene, auch interne Zensurmechanismen greifen. Drittens die Vernachlässigung der Differenzierung der intendierten Zuschauergruppen, und damit verbunden, der Bedeutung der filmografischen Angaben und Datierungen mit Hilfe von Montagelisten zu den beiden noch im Kriegsverlauf von sowjetischen Stellen autorisierten Versionen: zahlreiche Enzyklopädien und Studien zu den Majdanek-Filmaufnahmen vermengen beide Filmfassungen. Um dem Gegenstand ‚Majdanek im Film‘ gerecht zu werden, bedarf es einer Unterscheidung der im Herbst bzw. Winter 1944–45 aufgeführten (polnischen und russischen) Versionen. Durch die Untersuchung der beiden gleichberechtigten Filmfassungen, ihrer unterschiedlichen Titel und ihrer Entstehungsbedingungen unter den Bedingungen der sowjetischen militärischen und politischen Zensur hoffe ich zu einem schärferen, aus zwei Richtungen beleuchteten Bild dieses einmaligen Filmmaterials zu gelangen. In den folgenden Kapiteln wird daher der von Liebman und Hicks herausgearbeitete Gegensatz zwischen universalistischer und holocaust-spezifischer Perspektive im Hinblick auf die historische Situation von 1944 eine gewisse Relativierung erfahren. Dies wird erst möglich durch die Einbettung in die Chronologie der polnisch-sowjetischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 zum einen, zum anderen durch die Antwort auf die Frage, welche Funktion der im polnischen Titel zentral gestellte Begriff des „Friedhofs Europas“ – in dem das visuelle Wissen über den Judenmord sowohl verborgen wie auch verwahrt war – aus sowjetischer Sicht haben konnte. Es wird gezeigt, dass aus sowjetischer Perspektive beide Majdanek-Filme universalisierend wirken sollten. Doch war diese Universalisierung nur über die visuelle Rhetorik der Todesfabrik möglich, die mit Hilfe der sterblichen Überreste und der Habseligkeiten überwiegend jüdischer Opfer sowie eines entscheidenden Beitrags jüdischer Filmleute geschaffen wurde.

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Das von den Kameras der Roten Armee „auf frischer Tat ertappte“ Lager?

3.1

Das von den Kameras der Roten Armee „auf frischer Tat ertappte“ Lager?

Abb. 3.1

Ich bin Kommunist […] und gebe die aktuelle Wirklichkeit aus meiner ideologischen Position wieder. (R. Karmen in Slavin 1989, S. 67)

Rauch im befreiten Majdanek; Film Majdanek – cmentarzysko Europy

Im Kontext der Holocaustforschung ist das Majdanek-Filmmaterial deshalb so einzigartig und wertvoll, da es die erste dokumentarische Filmaufnahme eines Badehaus-Gaskammer-Komplexes enthält, also jenes baulich-technologischen Dreh- und Angelpunkts, der die Massenvernichtung der Juden Europas in materieller Form nachweisen konnte (und zum zentralen Topos der Holocaustdarstellung wurde). Die Gaskammern gehörten daher zu jenen Vorrichtungen, die die SS-Endkommandos üblicherweise vor ihrer Flucht zerstörten, um den Tatort als solchen unkenntlich zu machen und eigene Tatspuren zu verwischen. Das Filmmaterial, das in direkter Beziehung zu den Gaskammern die Krematoriumsöfen mit menschlichen Knochen, Schädeln, Haaren und Bergen von Kleidung, Brillen und Schuhen zeigte, war exzeptionell.

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Auch wenn es aufgrund fehlender Datierung in dem ausführlichen russischen Drehbericht (er ähnelt einer Synopse des künftigen Films) von Karmen schwierig ist, die genauen Drehtage im Sommer 1944 festzustellen, geben sich die Kameras der Roten Armee den Anschein, die hinter dem Stacheldraht stehenden Häftlinge als erste aufzuspüren, die Wachen der todbringenden Gebäude und Bediener der Apparate und Öfen, wie auch die Verwaltung der Nebenprodukte der „deutschen Fabrik des Todes“ auf frischer Tat zu ertappen. Abwesend ist nur ihr Direktor, wie auch die Opfer, deren Asche, wie später vom Filmkommentator erklärt wird, als Kompost für ein Kohlfeld verwendet wurde – diese als „schreckliches Detail“ bezeichnete Schilderung wurde wortwörtlich in die in Nürnberg vorgeführten Filmdokumenten über die von den deutsch-faschistischen Invasoren verübten Gräueltaten (1945/46) übernommen. In flagranti werden das KZ-Personal im Zusammenhang mit den ‚noch‘ schwelenden Überresten der Ermordeten bzw. den Ruinen eines Krematoriums gefilmt bzw. auf makabre Weise montiert. Verglichen mit den amerikanischen und britischen Filmen von 1945 handelt es sich hier um ein hoch-komplexes und selektives Bild eines befreiten Lagers, das zudem von den Befreiern weiter als Ort der Internierung betrieben wurde; dies wurde nicht nur von den Kameras festgehalten, sondern die Bilder von Männern hinter Stacheldraht war auch in den veröffentlichten Filmfassungen zu sehen und wurde bzw. wird bis heute als Aufnahme der Befreiung missverstanden (vgl. Abb. 6.1). Wir können davon ausgehen, dass das deutsche KL Lublin erst in der Moskauer Postproduktion zum „Vernichtungslager Majdanek“ umgestaltet wird. Die fertigen Filme, die nicht immer Ortskundigkeit an den Tag legen, bedienen sich historisch erprobter Rhetorik und Poetik, die der angestrebten dialektischen Durchdringung des Materials entsprechen. Der Rauch ist ein komplexer Signifikant: Er ist eine sublime Metonymie der unsichtbaren Toten, ein Index für die mehrfache farnichtung, die Krematorien, die Vertuschungspraktiken des SS-Kommandos bis hin zur Unkenntlichmachung der Topografien durch die befreiende Armee, aber er verweist auch auf das Gemachtsein dieses eine „Todesfabrik“ überrumpelnden Films. Die Montage des KZ-Rauchs mit Kernmotiven der Repräsentation von deutschen Lagern enthüllt auf selbstreflexive Weise den poetologischen Bezugspunkt der marxistischen Grundidee der Majdanek-Filme. Es kommt die von den sowjetischen Kinoki200 begründete Methode des „überrumpelten Lebens“ (žizn’ vrasploch) zum Tragen, wie sie im programmatischen Titel des avantgardistischen Vertov-Films von 1924 festgehalten ist: Kinoglaz – Žizn’vrasploch / Filmauge – das überrumpelte Leben (UdSSR 1924), was auch als „auf frischer Tat ertappt“ übersetzt werden kann. Die sowjetische Kinoglaz-Montagemethode folgt nicht den Regeln der streng dokumentarischen Reportage, sondern ermöglicht vielmehr einen freien, künstlerischen Zugang,

200 Die Kinoki wurden 1919 von Elizaveta Svilova und Dziga Vertov gegründet, sein Bruder Michail Kaufman stieß 1922 dazu. Mitglieder waren Il’ja Kopalin, Aleksandr Lemberg und weitere. 125

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um die „kommunistische Entschlüsselung“ des Aufgenommenen leisten zu können.201 Das marxistische „Kinoglaz bedient sich aller möglichen Montagemittel, indem es beliebige Punkte des Weltalls in beliebiger zeitlicher Ordnung nebeneinander stellt und miteinander verkettet“ (Vertov 1973, S. 77). Die Kamera liefert Material, das am Schneidetisch gestaltet wird, oft ohne Rücksicht auf den ursprünglichen Kontext, die Authentizität des filmisch geschaffenen Raums oder die Stimmigkeit der Chronologie und Topografie – was im Übrigen Viktor Šklovskijs Kritikpunkt an Vertovs Arbeiten der 1920er Jahre war.202 In der Form eines Manifests klingt das Kinoaugen-Credo so: „Ich bin Kinoglaz. Von einem nehme ich die stärksten und geschicktesten Hände, von einem anderen die schlankesten und schnellsten Beine, von einem dritten den schönsten und ausdrucksvollsten Kopf und schaffe durch die Montage einen neuen, vollkommenen Menschen.“ (Vertov 1973, S. 18) Einen ähnlich kreativen Kinoglaz-Zugang finden wir in Roman Karmens Kameraarbeit und Irina Setkinas Schnitt des Majdanek-Materials: Hier werden synthetische, ja „vollkommene“ Überlebende in einer Montage geschaffen, gleichgültig, ob die realen Personen Opfer sind und sich aus ethischer Sicht als Zeugen des Grauens von Majdanek eignen, oder nicht. Die meisten der Vorgefundenen befanden sich nämlich im von Primo Levi beschriebenen Graubereich, den jedes Straflager hervorbringt. Im Vordergrund steht nicht ihre Authentizität als Hitler-Opfer, sondern ihre Fotogenität, ihre Redebegabung und in einigen Fällen sogar ihre Parteizugehörigkeit. Doch auch nicht alle aufgefundenen Kommunisten eignen sich für einen KZ-Befreiungsfilm, so dass ein angeblich authentisches ‚Zeugnis‘ mehrmals, und zwar mit verschiedenen Personen unter jeweils dem gleichen Namen aufgenommen wird. Eine Analyse der nicht verwendeten Filmaufnahmen im Kap. 8 wird zeigen, dass im Sommer 1944 in Majdanek für die gefilmte Rede des Kommunisten verschiedene Personen gecastet wurden. Dieser lockere Umgang mit Identität, Name und Zeugenschaft entspricht mitnichten unseren heutigen Ansprüchen an dokumentarische Aufnahmen über die Befreiung von Konzentrationslagern. Allerdings müssen eher wir unsere Ansprüche zurückschrauben und die puristische Perspektive auf sowjetische Filmaufnahmen der Lager und Gräuel korrigieren – denn die UdSSR befand sich damals noch im Kriegszustand und daher nahm man es mit der Wahrheit zuweilen nicht so genau, wenn ein bestimmter Propaganda- oder Motivationseffekt erreicht werden sollte. Um die russischen Begriffe zu verwenden: es geht um die pravda, nicht die istina, also die filmische Wahrheit (Kinopravda), nicht die historische Wahrhaftigkeit – diesen Maßstab legte offensichtlich auch Setkina an, als sie mit dem Schnitt der Katyn’- oder Majdanek-Filme beauftragt wurde. V. a. der russische Majdanek-Film scheint nach Kinoglaz-Prinzipien gestaltet: Daten kommen kaum vor, auch die genaue geografische Position von Majdanek im Hinblick auf 201 Das Ziel war eine „visuelle und auditive Klassenverbindung zwischen den Proletariern aller Nationen und aller Länder auf der Plattform der kommunistischen Entschlüsselung der weltweiten Wechselbeziehungen“ (Vertov 1973, S. 38). 202 In seinem in Sovetskij Ekran 32 (1926) erschienenen Artikel „Wohin schreitet Dziga Vertov?“ (Šklovskij 1985, S. 79).

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Lublin – die lediglich dem lokalen Publikum, dem der Lubliner Majdan (Majdanek) vertraut ist, jedoch nicht dem sowjetischen Zuschauer mitgeteilt wird – wird nicht preisgegeben. Die Luftaufnahmen dienen kaum zur Identifizierung des Terrains und ähneln Bildern anderer „Todesfabriken“ oder Lager mit standardisierten Baracken, die an zahlreichen Orten wie Berlin, Tempelhof oder auch im letzten zur Zeit der Filmaufführungen noch bestehenden Ghetto (Theresienstadt) standen. Auf Setkinas Verantwortung für die Gestalt der Majdanek-Filme ist J. Hicks (2012) mehrfach eingegangen; hierauf werde ich später noch einmal zurückkommen. Es ist jedoch der Einsatz der Kinoglaz-Poetik, an dem sich Setkinas Mitwirkung an dem Majdanek-Material erkennen lässt und der über Zensurmaßnahmen hinausgeht. Laut John MacKay war die Majdanek-Schnittmeisterin Irina Setkina ein Protegé von Elizaveta Svilova („apprenticed in montage under Svilova, who always spoke/wrote about her with pride“).203 Vertov erwähnt sie in seinem Tagebuch 1934 und 1936 gemeinsam mit Svilova, Kopalin und anderen seiner Mitstreiter und 1947 in seiner Autobiografie, die an die höchsten Stellen weitergeleitet wurde und in der von den „verschiedensten Leuten des Dokumentarfilms die Rede ist“, die unter seiner Ägide „entstanden sind“: „Von Blioch zu Setkina, von Gej­ man zu Poselsel’skij.“204 Vertov sah – auch nach dem Krieg – Irina Setkina weiterhin als Vertreterin der Prinzipien der Kinoki an. Der 1906 geborene Roman Karmen war zwar kein Kinok, jedoch von dieser Bewegung, die laut MacKay (2012, S. 288) über die Pionierorganisation „von Moskau bis Odessa reichte“, zweifellos beeinflusst. Karmen hatte mit V. Erofeev, der mit Vertov wettereiferte, an dem Film Serdce Azii/ Das Herz Asiens (1929) zusammengearbeitet, seiner ersten Arbeit in der Filmchronik (Karmen 2017, S. 5). Konstantin Slavin (1989, S. 47) schreibt in seinem Karmen-Buch (den Titel kann man auf Deutsch übersetzen als Roman Karmen: „Ich spiele mit dem Feuer“), das erst 1989 erschien, aber zu Lebzeiten und unter Verwendung des persönlichen Archivs des Reporters begonnen wurde, dass Karmen von der „Kunst Vertovs und seines Kameramanns Michail Kaufmann begeistert war, insb. von Der Mann mit dem Kinoapparat, Der sechste Teil der Erde und Frühling.“ Valerij Chomenko berichtet in seinen Erinnerungen an seinen Lehrer Karmen, dass dieser ihnen 1963 am VGIK nicht erlaubte, den Begriff des „Formalismus“ als Schimpfwort zu verwenden und Vertov als den „Mann mit dem Kamera-Auge“ pries (in Gusner 2018, S. 125). Jurij Žukov (1983, S. 186) bezeichnet Karmen in einer Steigerung von Vertovs Filmtitel Mann mit Filmapparat (1929) 203 Mitteilung von John MacKay am 12.8.2018. 204 „Автобиография Д. А. Вертова, 1 мая 1947 г. […] От Блиоха до Сеткиной, от Геймана до Посельского – очень разные во всех отношениях люди (одни с оговорками, другие без оговорок) спешат попробовать свои силы на фронте хроникальной кинематографии. Самые разные плоды дает наш „Мичуринский сад“ неигрового фильма. Вы видите, что производите не только фильмы, но и людей, производящих фильмы. И это вам кажется правильным. Вы видите, что производите не только фильмы широкого потребления, но и фильмы, производящие фильмы. И это вам кажется правильным. […] Вертов. РГАСПИ. Ф.17, оп. 125, ед. хр. 499, л. 49–52. Копия. Машинопись“, veröffentlicht als Dokument № 278 in: Kremlevskij kinoteatr 2005. 127

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als „Kommunisten mit Filmapparat“ („Kommunist s kinoapparatom“). Eine ähnliche Ineinssetzung von Vertov und Karmen findet sich auch in einem Zitat von Konrad Wolff zu Karmens „Filmauge“ in dem Buch von Slavin (1989, S. 97).

3.2

Juristische Aspekte und visuelle Beweisführung

3.2

Juristische Aspekte und visuelle Beweisführung

Sowjetische und polnische Kameras filmen die SS-Männer des Endkommandos, die wenige Monate später im November in Lublin vor einem Volksgericht zur Verantwortung gezogen und am 3. Dezember 1944 in der Nähe des Krematoriums gehängt werden,205 des weiteren Zeugen bzw. Funktionshäftlinge, und einige handverlesene Überlebende. Nicht als solche identifiziert werden in den Filmen die aus der UdSSR stammenden Kriegsgefangenen im „Lazarett für Kriegsversehrte.“ Diese erwartete nach ihrer Repatriierung in die UdSSR nichts Gutes.206 Es sind jene stummen Männer, die hinter dem zweifachen Stacheldraht stehen und unsicher, nicht freudig, in die Kamera blicken. Es handelt sich um eine zahlenmäßig relativ große Gruppe innerhalb der Überlebenden des KL Lublin, darunter auch als Überläufer (russ. perebeščiki) eingestufte Kriegsgefangene. Das Lager in Lublin wurde damit zu einem der frühen „Filtrierungslager für Angehörige der Roten Armee“ (Foitzik 2006, S. 11).207 Die ehemaligen Häftlinge tragen dazu bei, Dinge und Vorrichtungen, die im KZ vorgefunden wurden, zu erklären, wobei einige von ihnen politisch instrumentalisiert werden. Doch auch die deutschen Täter erläutern bereitwillig der Polnisch-Sowjetischen Außerordentlichen Untersuchungskommission und der laufenden Tonkamera, wie Menschen in Majdanek getötet wurden. In Karmens Autobiografie kann man lesen, wie er mit Erofeev Tonaufnahmen machte, damals noch in experimenteller Form. Das Interesse für Original-Tonaufnahmen war offensichtlich sowohl bei Ford wie auch beim Reporter Karmen

205 Müller / Schaarschmidt / Weigelt / Schmeitzner 2015, S. 199. 206 Vgl. hierzu Kranz (1998, S. 375) und B. Siwek-Ciupak 2001. Diese Gruppe wurde von den meisten Filmforschern nicht beachtet. In einem Film, der von Yad Vashem über den Holocaust gemacht wurde, werden Aufnahmen dieser Menschen hinter Stacheldraht in die Geschichte der Juden aufgenommen. 207 Foitzik beschreibt die Situation in den Jahren 1945-46: „Das NKWD – also das Volkskommissariat bzw. ab 1946 als MGB das Ministerium für innere Angelegenheiten der UdSSR – hatte vor Ort Gefängnisse und Lager zu organisieren, einschließlich – wie schon seit 1941 praktiziert – sogenannter Filtrierungslager für Angehörige der Roten Armee, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren. Im August 1945 hielt das NKWD nach eigenen Angaben 708.000 Ausländer in Lagern fest.“ (Foitzik 2006, S. 11 den Prikaz Nr. 00315 vom 18.4.1945, in: GARF, r 9401/2/95, Bl. 256–259 zitierend; weiter erwähnt er auch: „Der automatische Arrest bestimmter Bevölkerungsgruppen war zwischen den Alliierten vereinbart worden.“ ibid., S. 12)

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stark ausgeprägt.208 Er schrieb, der Kameramann befände sich „Auge in Auge mit dem Menschen, seiner lebendigen Rede. Ich nahm die Tonkamera mit in die Arktis, […] sie war mit mir an der Front […] und im Saal des Internationalen Gerichtshofs in Nürnberg […].“ (Karmen 2017, S. 9) Ein entscheidender Unterschied zwischen den späteren Befreiungsfilmen und den 1944 fertiggestellten sowjetischen Produktionen ist, dass es sich hier nicht um Wochenschaumaterial handelte, das aktuelle Nachrichten von der Front lieferte, sondern um Dokumentarfilme mit militärischen und ideologisch-politischen Zielen. Auch wenn dies in den Filmen nicht eigens erwähnt wird, decken sie eine Zeitspanne zwischen dem Betreten des KL Lublin im Juli und dem Prozess im November 1944 ab, die es erlaubt, die Ereignisse im Lager nach seiner Öffnung bzw. Übernahme durch die Rote Armee und die Militärabwehr SMERŠ (Akronym aus „Smert Špionam!“/„Tod den Spionen“) zu filmen. Dazu gehören in erster Linie die Zeugenaussagen und die Vernehmungen der SS-Offiziere. Dieser para-juristische Aspekt der ersten KZ-Befreiungsaufnahmen hatte zwei Funktionen: Die eine war verbunden mit der Absicht, das polnische Publikum vor dem Verfahren des Volksgerichts in Lublin auf den Prozess einzustimmen, die zweite zielte auf den Kriegsgegner, der im Film konkret, in der Form von zwei Eigennamen, angeklagt wurde: „Die Hitlerregierung, der Oberhenker Himmler, und ihre SS- und SD-Kreaturen auf dem Territorium der Lubliner Wojewodschaft“. Hier wurde in massenmedialer Form signalisiert, was zuvor von den Alliierten beschlossen worden war: Deutsche Angehörige von Organisationen, die als kriminell eingestuft wurden (NSDAP, SS, SD) bzw. Kriegsverbrecher hatten sich in Acht zu nehmen vor künftiger rechtlicher Verfolgung. Diese ,Botschaft’ wurde im August vorbereitet, ab Herbst 1944 gesendet und kam offensichtlich in Deutschland auch an; die Informationswege waren vielfältig: sie konnten entweder von dem Deutschen Reich weiter dienenden Agenten vor Ort übermittelt werden oder von Informanten in der UdSSR. Insbesondere die russische Gattungsbezeichnung Filmdokumente impliziert einen juristischen Kontext, der jedoch bei der Premiere in Moskau im Januar 1945, anders als bei der polnischen Uraufführung in Lublin im November, nicht gegeben war. Offensichtlich bereitete sich die sowjetische Seite mit der russischen Schnitt-Version lediglich auf die spätere Wiederverwendung des Materials in einem internationalen Kriegsverbrecherprozess vor. Jeremy Hicks (2012, S. 184) hat bereits darauf hingewiesen, dass diese Spezialnummer zu Majdanek von der sowjetischen Presse ignoriert wurde. Die sowjetische Premiere war offensichtlich eine Probe der Wirksamkeit des Majdanekmaterials und der gewählten Rhetorik vor einem Test-Publikum in der sowjetischen Hauptstadt. Die vorherrschende ideologische Perspektive dieses Befreiungs- und Enthüllungsfilms war jedoch marxistisch und bestimmte daher andere Teilaspekte des Mitteilbaren, was bisher von den Holocaustfilmstudien, die sich mit dem Majdanek-Film beschäftigt haben, nur am Rande wahrgenommen wurde. Beide Film-Reportagen werden von der Metapher der „Todesfabrik“ strukturiert, 208 Karmen 2017, S. 7. Vgl. auch V. Kotovs Erinnerungen (1983, S. 273), der schreibt, dass Karmen kaum Geräuschkonserven verwendete, wie es damals im Chronik- und Dokumentarfilm üblich war. 129

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die von der marxistischen Ideologie ihrer Entdecker geprägt war. Beide Filmversionen sind zumindest auf der Oberfläche durch diese ideologische Ausrichtung bestimmt: Der Feind wird vorrangig als Kapitalist entlarvt, als Ausbeuter, von dessen Opfern keine Spur übrig blieb, da auch ihre Leichen im Sinne der Gewinnmaximierung im Rahmen der kapitalistischen Lagerökonomie verwertet worden sind. Dies erklärt die Auswahl der Trope der Todesfabrik, an der sich die visuelle Ästhetik der Majdanekaufnahmen orientiert bzw. die Auswahl ihrer konkreten Objekte sogar inspiriert haben mag.209 Der in beiden Filmen diesem einheitlichen rhetorischen Muster folgende Kommentar beschreibt auf Grundlage der überwiegend im August 1944 gemachten Aussagen die Ermordung von Menschen im „Kombinat Majdanek als systematische Vernichtung“. Im Filmmaterial und zum Teil auch den veröffentlichten Filmfassungen sind zwei Deutungen des Vorgefundenen angelegt: Die marxistische Auslegung von Majdanek als kapitalistischer „Todesfabrik“, die die Fabrikarbeiter ausbeutet, zu Tode schindet und sich ihrer Habe (wie etwa der Schuhe) bemächtigt. Während sich diese Sicht auf das Lager realistischer Verfahren bedient, zieht die andere Interpretation, der die rational erscheinende marxistische Analyse nicht genügt, surrealistische vor; sie besteht darauf, dass die Menschen aus ganz Europa nicht nach Majdanek gebracht wurden, um zu arbeiten, sondern sie weiß um den Aspekt des Völkermords – den systematisch und industriell betriebenen Massenmord an Menschen, der sich auf Juden und Roma richtet (daher besteht sie auf dem Wort ‚Vernichtung‘).

3.2.1 Topik und Poetik sowjetischer Exhumierungsfilme Ein Film, der etwas beweisen soll, wird wie eine Rede vorbereitet. Eine Gerichtsrede arbeitet mit gewissen Vorgaben und Themen, wie Cicero es ausdrückt: Ad probandum autem duplex est oratori subiecta materies: una rerum earum, quae non excogitantur ab oratore, sed in re positae ratione tractantur, ut tabulae, testimonia, pacta conventa, quaestiones, leges, senatus consulta, res iudicatae, decreta, responsa, reliqua, si quae sunt, quae non reperiuntur ab oratore, sed ad oratorem a causa atque a reis deferuntur; altera est, quae tota in disputatione et in argumentatione oratoris conlocata est. (Cicero, De oratore 2, 116)210

Bei der Vorbereitung einer Gerichtsrede verfügt der Redner über „zweifaches Beweismaterial“: „die Dinge, die man sich als Redner nicht ausdenken kann, die vielmehr in der Sache liegen“ und die „Argumentation des Redners“, auf die ich später zurückkomme. So 209 In den gefilmten, jedoch in die Endversionen nicht aufgenommenen Zeugenaussagen selbst kommt eine andere Metapher vor, die diesen marxistischen Aspekt nicht enthält: Der sowjetische Kriegsgefangene Petrov spricht von Majdanek als „der Stadt des Todes“, denn auf ihn bezieht sich die systematische Vernichtung nicht. 210 https://www.thelatinlibrary.com/cicero/oratore2.shtml [2.2.2020]

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auch in Majdanek, wo die Topoi in vorrangig keine Menschen sind, sondern Gebäude, Dinge, sterbliche Überreste. David Shneer (2010, S. 160, 170) argumentiert, dass sowohl der Zustand als auch die Fotogenie der im Juli 1944 entdeckten Lager und Mordstätten diktierte, welcher Ort für eine schwerpunktmäßige Berichterstattung über das erste befreite KZ ausgesucht wurde; aufgrund dessen sei die Wahl auf Majdanek gefallen. Dies bedeutet, dass die Entscheidung für Majdanek eine war, die Topoi wählte, die das Inhumane bzw. Abstrakte des industriellen Mordens (Lagerarchitektur, Effektenberge und Skelette) betonen, da sie in das marxistische Schema passte. Kombiniert wurde also die „Fabrik“ mit den Motiven des „Todes“, doch statt den zerstörten Landschaften und den Leichen- und Scheiterhaufen der „Sonderaktion 1005“ wurden kulturell überformte Thanatos-Motive (Gräber, sauber skelettierte Schädel und Knochen, „Friedhof“ im Titel) gewählt, die als sog. „affektische Figuren“ (s. u.) sowohl universal wirken konnten, als auch auf eine sowjetische Filmtradition zurückgriffen, die v. a. den Filmleuten aus der UdSSR vertraut war. Ich spreche von einer sowjetischen Filmgattung, die ihren Anfang im Jahr 1919 hatte und zu bestimmten Zeiten im Kontext antireligiöser Propagandakampagnen verstärkt auftauchte: nach der Revolution, Ende der 1920er Jahre und in den 1960ern.211 Diese von Lenin persönlich initiierten Filme waren Teil eines staatlichen Kreuzzugs gegen die Religionen, insb. die russisch-orthodoxen Praktiken der Verehrung von Gebeinen und Reliquien. Allerdings waren diese Filmkampagnen gegen alle im Zarenreich vertretenen Religionen gerichtet, nicht nur die christlichen.212 Eine Untergattung bildet der bereits erwähnte sowjetische Exhumierungsfilm, der der Diskreditierung der orthodoxen Kirche dienen sollte. Es gab mehrere solcher Filme in den

211 Es handelt sich sowohl um Dokumentar- als auch Spielfilme. Etwa die kurze Dokumentation Vskrytie moščej / Exhumierung der Gebeine (1930) http://filmdb.ios-regensburg.de/filmdbview.php?ID=2&language=de oder der Kulturfilm Opium (R: V. Žemčužnyj, Drehbuch: Osip Brik), der neben „religiösen Riten von Christen, Muslimen, Buddhisten, Juden, Hinduisten, Baptisten und Heiden“ auch Exhumierungen von Reliquien zeigt, weiter den „Feierlichkeiten zu religiösen Festen mit hochprozentigen Getränken. Indische Yogis und Fakire führen ihre Künste vor. Volkstümliche Wunderheiler kurieren Patienten. Schamanen führen Rituale durch. Wahrsagerinnen und Propheten bedienen Kunden. Die Polizei treibt Demonstranten auseinander. Insassen eines Gefängnisses.“ http://filmdb.ios-regensburg.de/filmdbview.php?ID=1 Auch die Kino-Pravda Nr. 15 (1923) hat antireligiöse Thematik, jedoch ohne Exhumierung: http://filmdb.ios-regensburg.de/filmdbview.php?ID=143 [2.2.2020]. In der zweisprachigen Datenbank Film und Religion im Russischen Reich und der UdSSR – Религия в кинематографе Российской империи и СССР finden sich mehrere Nummern des Sovkinožurnal von 1929, 1930 und 1938, die antireligiöse Motive aufgreifen. Nach dem deutschen Angriff werden die antireligiösen Kampagnen vorrübergehend unterbrochen, da Stalin die Unterstützung der russischen Orthodoxie beim Kampf gegen Hitler sucht. 212 Am augenfälligsten ist dies in Ėjzenštejns Film Oktjabr / Oktober (1927) zu erkennen, wo asiatische und amerikanische Gottheiten mit einem barocken Jesus konkurrieren, die jüdische Religion jedoch fehlt in diesem Beispiel. Vgl. hierzu Drubek 2018 und auf dem Portal Čapaev: Krupnym planom: „Oktjabr’“ Sergeja Ėjzenštejna, Kurs № 4: Russkaja revoljucija kak zerkalo. (7.11.2017) https://chapaev.media/articles/7505 [2.2.2020] 131

132

3 Schädel, Objets trouvés und fiktiver Rauch

Jahren nach der Oktoberrevolution, der bekannteste dokumentierte die Exhumierung des Schutzpatrons Russlands Sergij in Sergiev Posad und trägt den Titel Vskrytie moščej Sergija Radonežskogo / Exhumierung der Gebeine des Sergij von Radonež (1919).213 Er enthält die wichtigsten Topoi der Exhumierungsgattung: Vertreter der neuen politischen Macht, die ausgegrabenen Gebeine, Ärzte, Zeugen bzw. das Volk (v. a. Frauen, wobei die Kopftücher auf eine bäuerliche Herkunft wie auch christlichen Glauben schließen lassen; Abb. 3.2).

Abb. 3.2

Finger zeigt auf exhumierten Schädel und Bäuerinnen in Vskrytie moščej Sergija Radonežskogo (1919)

Im „Öffnungsprotokoll“ vom 11.4.1919 heißt es über die Überreste des „500 Jahre alten Skeletts“: halb verwestes, grau-braunes Gewebe. […] Als die Mütze vom Kopf heruntergenommen wird, kommt ein menschlicher Schädel zum Vorschein, der teilweise auf dem Lubok [Lindenholztafel] liegt, teilweise in der Luft hängt. Rechts neben dem Schädel sieht man den ersten Halswirbel. Die Länge der Figur entspricht der Länge eines mittelgroßen Menschen. Iona hebt zu Asche gewordenes Gewebe hoch… der Unterkiefer hat sich abgelöst. Es sind noch sieben Zähne vorhanden. Links neben dem Schädel liegen zwei Halswirbel. Vermoderte Kleidung breitet sich aus. Alles ist von Motten zerfressen. Man sieht rote Haare, eine Gürtelbinde, Staub steigt an. Man sieht einzelne Wirbel, Beckenknochen, das rechte Wadenbein, den ganzen Hüft knochen, kleine Beinknochen wurden halb verfallen entdeckt. Alles wird von den Ärzten begutachtet. (http://fi lmdb.ios-regensburg.de/fi lmdbview.php?ID=228, 2.2.2020)

Neben dem Delegierten des Volkskommissars für Justiz M. V. Galkin und anderen Funktionären waren mehrere Doktoren anwesend, Vertreter der Roten Armee wie auch Geistliche. Ein Filmteam (mit Sergej Zabozlaev, Eduard Tisse und Lev Kulešov) wurde beauftragt und Dziga Vertov wurde „die Leitung der Aufnahmen“ übertragen (Drubek 2012, S. 500). Während Kulešov und der Kameramann Zabozlaev tatsächlich vor Ort waren, fuhr Vertov

213 http://fi lmdb.ios-regensburg.de/fi lmdbview.php?ID=228 [2.2.2020]

3.2 Juristische Aspekte und visuelle Beweisführung

133

– angeblich antisemitische Ausschreitungen fürchtend – nicht ins Kloster, besorgte aber offensichtlich den Schnitt, da er den Film später in seine Filmografie aufnahm. Betrachtet man die Aufnahmen aus Majdanek, haben sie mit diesen Exhumierungsfilmen auff ällige Gemeinsamkeiten – bis hin zu denjenigen, die als Zeugen auftreten: Die Figuren der politischen Funktionäre, der Ärzte in Kitteln, der Geistlichen (allerdings nicht am Grab, sondern in Lublin) und der Frauen ‚aus dem Volke‘ (als Klageweiber über den Leichen von Lublin und Majdanek). Sie erscheinen als überlieferte Dramatis Personae des Exhumierungsfi lms. Typisch für antireligiöse Filme der Vorkriegszeit sind die Aufzeichnungen von Reaktionen auf Gräberöffnungen oder die Konfrontation mit sterblichen Überresten, wie etwa in diesem Beispiel: „Bei einem antireligiösen Treffen vor einer Kirche tritt ein Agitator auf. Öffnung des Reliquienschreins. Der Agitator zeigt den Menschen Knochen und Watte aus dem Reliquienschrein. Rede einer Bäuerin.“214 Das Zeigen der Schädel findet sich insb. auch auf Fotografien, die im Sommer 1944 gemacht wurden, wobei hier häufig weibliche Personen abgebildet werden wie die Frauen in Kopftüchern und mit Spaten in der Abbildung 1.8. oder aber seltener ein deutscher Kriegsgefangener wie in Abbildung 4.1. In Yad Vashem hat sich eine Fotografie erhalten, die nicht das Ausgraben, sondern das Vor-Augen-Stellen eines Schädels dokumentiert (Abb. 3.3).

Abb. 3.3 Die Majdanek-Evidenz 1944: ante oculos ponere; Foto: unbekannt; Yad Vashem; http://www.majdanek.com.pl/ gallery/majdanek/archiwalne/ big/35.jpg

Wir können davon ausgehen, dass die sowjetischen Filmleute (geboren zwischen 1906 und 1912) mit den Exhumierungsfi lmen aufgewachsen sind bzw. zumindest die Filmwelle der späten 1920er Jahre rezipiert hatten. Insbesondere Karmen dürfte die fi lmische Rhetorik des Atheismus und ihre Topoi vertraut gewesen sein, da er in erster Ehe mit der Tochter von Emel’jan Jaroslavskij in der UdSSR verheiratet war,215 dem Chefideologen der Atheis214 http://fi lmdb.ios-regensburg.de/fi lmdbview.php?ID=2 [4.2.2020] 215 https://ru.wikipedia.org/ wiki/Ярославский,_Емельян_Михайлович [4.3.2019] 133

134

3 Schädel, Objets trouvés und fiktiver Rauch

mus-Kampagnen bzw. Redakteur von antireligiösen Druckerzeugnissen. Die Verwendung der Topoi wie auch Verfahren muss jedoch nicht bewusst vor sich gegangen sein. Das Zeigen der Schädel in Majdanek kann man also im Kontext der antireligiösen Filme sehen, die zudem die ersten Schritte der späteren sowjetischen Avantgardisten in Richtung Montage (Drubek 2012) darstellen. Sie standen am Beginn der sowjetischen Filmproduktion in den Jahren 1918–19, der damals von Gattungen der sog. agitka und des Chronikfilms dominiert wurde und sich gegen bisherige Zensurauflagen wandte. Denn vor der Revolution verbot sowohl die religiöse als auch die militärische Zensur das Darstellen von geöffneten Massengräbern und Leichen (zur Zensur im Zarenreich vgl. Drubek 2017/18). Diese den Atheismus fördernden Filme wurden durch die russisch-orthodoxe Kirche verurteilt und stellten 1919 ein Skandalon auf der Leinwand dar.

3.2.2 Grauen, Detail und Zeuge als Verfahren der evidentia Von Bedeutung für die Majdanekaufnahmen qua Grabungsfilm ist der Beweischarakter, der solchen Filmdokumenten einer „Öffnung“ (vskrytie) im sowjetischen Kontext zugesprochen wurde (er gilt auch für die sowjetischen Exhumierungaufnahmen im Januar 1944 in Katyn’). Vor Augen geführt werden sollte ein bisher unsichtbarer Tatbestand: dass die Heiligen verwest waren oder aber Falsifikate darstellten, bzw. dass die Gräber mit Unrat, Watte und Wachspuppen anstatt Gebeinen angefüllt waren. Doch wie wurde in diesen frühen sowjetischen Stummfilmen der visuelle Beweis hergestellt? Hier kann man auf den rhetorischen evidentia-Begriff zurückgreifen, der sich mühelos auf Filme übertragen läßt. Zum Darstellen des Lagers eignen sich auch die Verfahren der Denkfigur (figura sententiae) der evidentia, die sich laut rhetorischen Theoretikern sowohl durch Sachzugewandtheit als auch in ihrer Eigenschaft als „affektische Figur“ auszeichnet: „Die evidentia (Quint. 8,3,61; 9,2,40) ist die lebhaft-detaillierte Schilderung eines rahmenmäßigen Gesamtgegenstandes durch Aufzählung (wirklicher oder in der Phantasie erfundener) sinnenfälliger Einzelheiten“ (Lausberg 1990, 399). Mit der Memoria verbindet die evidentia die Pathoshaltigkeit. Plett (2001, 32) sagt über die evidentia, dass sie ein „eindringliches Phantasiebild“ generiert.216

216 „Evidenz (lat. evidentia, griech. Enargeia, hypotyposis) bedeutet das Prinzip der Anschaulichkeit, des Vor-Augen-Stellens von etwas (ante oculos ponere). Im Gegensatz zur Klarheit, die intellektuell belehrt, und zum Schmuck, der das ästhetische Vermögen bereichert, eignet sich das Mittel der Evidenz zum Bewegen der Affekte. Der Grund dafür ist das eindringliche Phantasiebild […]. Eigenschaften dieses Schauspiels sind Konkretheit, Aktualität und Bewegung. Das Endziel der ‚enargetischen‘ Darstellung ist die Ununterscheidbarkeit von Fiktion und Wirklichkeit, anders gesprochen: eine Illusionswirkung. Dazu tragen die meisten rhetorischen Stilkategorien bei, vor allem Amplifikation, Tropen. (Plett 2001, 32)“ Drubek 2012, S. 510.

3.3 Ästhetische Bezugspunkte: Expressionismus und Surrealismus

135

Eine besondere Rolle bei evidentia-Denkbildern – oft in der Form des concettos – spielen zum einen Katachresen (das Oxymoron: lebendige Leiche, schwarze Milch) und gewagt-effektvolle Tropen, zum anderen das Detail, im Film effektiv durchführbar: Bereits die antiken Rhetoriken sagen, dass der Effekt von evidentia in jenen Details besteht, die vor dem Einsatz dieser den ,Sachen zugewandten‘ Figur unsichtbar waren. Etwas zu beweisen bedeutet Einzelheiten vorzubringen, und, stammen sie aus der Vergangenheit, sie zu repräsentieren. Oft sind diese Details grotesk oder fantastisch, um eine größere Wirkung zu zeitigen. Dies mag einer der Gründe sein, warum von den Planern der antireligiösen Kampagnen gerade Gräber gewählt werden, die zum topischen Grundinventar der Greuelschilderungen des Schauerromans gehören. (Drubek 2012, S. 495–496)

Hierher gehört auch der ebenfalls bereits vertraute Zeuge, der die Worte „sieh doch“ oder „seh hin!“ (lat. cernas) ausspricht oder mit einer Geste auf ein Beweisobjekt deutet: H. Plett (2001, 32) führt in seiner Beschreibung der evidentia den Begriff des Zeugen ein, der auch mit der Lebendigkeit (energeia) in Zusammenhang steht. Das Phantasiebild wird durch die Verlebendigung von Totem (vgl. kinetische Metapher, Prosopopoiie), durch die Vergegenwärtigung von Vergangenem bzw. Zukünftigem (z. B. im epischen Präsens), durch die Aktualisierung von Abwesendem (Teichoskopie) im Rezipienten erzeugt […] Dieser wird zum „fiktiven Augenzeugen“ (Lausberg) eines inneren Schauspiels, wozu der Text durch die cernas-Formel („sieh’ doch, wie […]“) ausdrücklich einlädt. (Drubek 2012, S. 83)

3.3

Ästhetische Bezugspunkte: Expressionismus und Surrealismus

3.3

Ästhetische Bezugspunkte: Expressionismus und Surrealismus

Beide Ende 1944 fertig gestellten Majdanek-Filme unterscheiden sich von Wochenschaumaterial wie auch sowjetischen Spezialreportagen. Der innovative Bestandteil ihrer visuellen Ästhetik antizipierte die erst 20 Jahre mögliche Dokumentarfilmabrechnung mit dem universalen Faschismus Obyknovennyj fašizm / Der gewöhnliche Faschismus (UdSSR 1965), die Michail Romm als Mitschöpfer des Personenkults durchaus selbstkritisch anging.217 Die Majdanek-Filme selbst sind nicht nur Schauplatz der Auseinandersetzung um das Gedenken an verschiedene Opfergruppen, sondern auch der Filmpoetiken: hier wetteifern avantgardistische (sog. „formalistische“) Methoden mit dem sowjetischen Sozrealismus. Das Resultat der beiden Filme trägt durchaus die Spuren dieser Auseinandersetzung, wobei in ästhetischer Hinsicht beide Richtungen ihren jeweiligen Teil-Sieg davongetragen haben.

217 „Obyknovennyi fashizm / Ordinary Fascism (1965) is a Soviet film compiled from Nazi era film materials by Mikhail Romm together with Iurii Khaniutin and Maia Turovskaia. It was the first comprehensive attempt at a cinematic reflection on fascism and, implicitly, a post-Stalinist study of Soviet totalitarianism.“ (Hänsgen und Beilenhoff 2016) 135

136

Abb. 3.4

3 Schädel, Objets trouvés und fiktiver Rauch

Eine Toilette, „NUR für SS“; Film Majdanek – cmentarzysko Europy

Aus einer westlichen Perspektive lässt sich die Filmästhetik der Repräsentation des Lagers im Kontext des Surrealismus als führender Stilrichtung der 1940er Jahre betrachten. In Lublin/Majdanek arbeiteten die Kameraleute mit vorgefundenen Objekten ähnlich wie einst Marcel Duchamp mit seinen ready-mades – praktische Dinge (etwa ein Urinal) wurden von ihrem Verwendungskontext isoliert und ausgestellt, und dadurch zu Kunst („Fountain“, 1917, fotografiert von Alfred Stieglitz). Ähnliches widerfuhr den im Sommer 1944 gefi lmten und fotografierten Objekten in Lublin/Majdanek. Den ungewöhnlichen Einstellungen kann man ansehen, dass die Regie die Kameraleute anwies, anders zu fi lmen als bisher in den militärischen Chronikaufnahmen. Bereits die (Nah)Aufnahmen der Schuhpaare hat eine sowohl verfremdende als auch affektative Wirkung. Die polnischen Kameraleute, die überwiegend in die Schule der Vorkriegs-Avantgarde gegangen waren, bedienten sich der Methode der von den Objektiven quasi automatisch zu ästhetischen Objekten gemachten Fundstücke (objet trouvé). Ein Majdanek-Artefakt wie ein Scherenhaufen oder eine Zyklon-B-Dose – medialisiert durch die Ablichtung – wird zu einem ästhetischen Objekt. Zugleich waren die Haufen von Schädeln, Effekten bzw. die serielle Anordnung der gestohlenen Dinge in Kleiderlagern in Lublin auch ohne ein Zutun der Filmleute rätselhaft und knüpften an die präferierten Motive des Surrealismus an. Britische Historiker des polnischen Vorkriegsfi lms haben bereits auf die enge Beziehung westlicher Propagandafi lme der Kriegszeit zur Avantgarde – so etwa das in London gemachte Meisterstück Calling Mr. Smith (1943) hingewiesen – gehen jedoch nicht auf die parallel gelagerte Poetik der Filmspeerspitze ein. Auch wenn nicht sicher ist, dass Fords Team dieses Werk mit eigenen Augen rezipieren konnte, kann man die gemeinsamen Wurzeln erkennen in dem Einsatz einer kühnen Filmpoetik, die ein Merkmal sowohl westlicher als auch sowjetischer Anti-Nazifi lme polnischer Autoren darstellt. Kamila Kuc (2016, S. 73) findet in Calling Mr. Smith der Themersons sogar Spuren einer „Dada-Taktik“ („possible affinity with futurist and Dada tactics, which reflects Rees’ belief that Polish modernism was unique in merging together ‘Constructivism with Dada-surrealism, a vivid internationalising blend for the beleaguered inter-war years.’“). Calling Mr. Smith – ein Jahr vor dem Majdanek-Film in London entstanden – enthält Momente, die wir auch

3.3 Ästhetische Bezugspunkte: Expressionismus und Surrealismus

137

im Ford-Majdanek-Film wiederfinden: einen anti-mimetischen Zugang zum Thema, der Motive und Verfahren der Avantgarde (der Surrealismus beerbte den Dadaismus) aufgreift, um den Genozid darzustellen.

Abb. 3.5

Das Schädel- und Kohlfeld im Film Majdanek – cmentarzysko Europy

In spielerischer Form oszillieren die Kugelformen zwischen Referenzen auf Schädel und Kohlkopf – eines der beliebtesten futuristischen Verfahren, die Realisierung der Metapher, aufgreifend (Abb. 3.3). Auch der Titel Majdanek – Grabstätte Europas wird als eine Realisierung entwickelt: Majdanek – bestehend aus sechs „Feldern“ (pola) – ist ein Krautfeld, das Feld ist eine Schädelstätte, die Grabstätte ist ein Ort mit Warnschildern, die wiederum Totenköpfe enthalten. Wie in einem mise-en-abyme-Bild verweisen Filmdokumentbilder (Feld mit Totenschädeln) auf ihre metaphorischen Substitutionen (Kohlköpfe auf einem Krautfeld) und zurück auf die Zeichnung des Vorspanns (Schädel als Piktogramm für Gift). Präsent ist auch das Thema des „gequälten Europa“ („tortured Europe“; Kuc 2016, S. 122), das die Themersons bereits vor dem Krieg aufgegriffen hatten, und das sich in der christlichen Ikonographie der gotischen Heiligenstatuen, begleitet von der Musik J. S. Bach, in Calling Mr. Smith fortsetzte. Auff ällig ist auch, dass wir im Film des Künstlerpaars der Themersons die weibliche Stimme Europas hören, „a woman of tortured Europe, who wants you to understand what the Nazis are doing in Europe. Don’t you want to know?“218 Das polnische Team zielte in seiner Repräsentation von Majdanek offensichtlich auf einen marxistischen Surrealismus, eine visuell innovative Kritik des kapitalistisch organisierten Tods vom Fließband, ähnlich wie Heartfield. Filmisch umgesetzt durch surreale Bilder, die mit Titeln, Inserts und Aufschriften kombiniert werden. Gilt dies auch für Karmen? In einer Gegenüberstellung mit den Fotografien fällt auf, dass einige die Motive und Sujets der Filmaufnahmen zusammenzufassen scheinen. Über Karmens frühe Foto-Arbeiten im Stil der „linken Fotografie“ (LEF) und von Rodčenko kann man in einer kürzlich

218 Im Film heißt es auch: „Judge the evidence of your own eyes.“ https://www.youtube.com/ watch?v=kpKVKHk2ukU [1.9.2019] 137

138

3 Schädel, Objets trouvés und fiktiver Rauch

neu aufgelegten Autobiografie Karmens lesen (Karmen 2017, S. 5). Sowohl die Fords, Wohl und Forberts wie auch Karmen erhielten ihre künstlerische Prägung in den 1920–30er Jahren, der Ära der historischen Avantgarde. Hinzu kommt, dass Karmen in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, als in der UdSSR die Kunst im Sinne des Sozialistischen Realismus gleichgeschaltet wurde, Spanien – eines der Zentren des Surrealismus – reiste, wo er auch die Landessprache lernte, wie man in K. Slavins (1989, S. 31: „pojavilsja i jazyk“) Biografie nachlesen kann, die auf Gesprächen mit Karmen aufbaut. Weder Karmen noch Aleksander Ford waren Surrealisten, jedoch wohl informiert über diese Kunstrichtung, in der Dinge, fragmentierte Körper ebenso wie automatische Vorgänge eine wichtige Rolle spielen (Abb. 3.6).

Abb. 3.6

Zyklon-B- Kristalle. Cernas-geste im Foto von Viktor Temin. Quelle: МАММ / МДФ; Останки пленных концлагеря Майданек

In Temins Foto sieht man – ähnlich wie in den Exhumierungsfilmen – den Zeigefinger an einer von einem nicht identifizierten Körper isolierten Hand, der über den Kontext des Fundstücks aufklärt und zugleich sich selbst in das Bild hineinschreibt, wie dies auch auf dem Foto zusehen ist, auf dem Karmen die Knochenberge filmt (vgl. Abbildung 9.10). Die (nicht-lebendige) Hand ist eines der im Surrealismus häufig auftretenden Motive.

3.3 Ästhetische Bezugspunkte: Expressionismus und Surrealismus

139

Die die filmische Struktur beherrschenden Motivgruppen Effekten – Dusche-Ankleideraum-Gaskammer – Ofen repräsentieren in metonymischer Vertretung die unsichtbar gemachten Körper, sie führen das unscheinbare, in Kanistern enthaltene Gift vor, das in seiner Anwendung als Gas unsichtbar ist. Das Filmmaterial verwendet aufgrund der Unsichtbarkeit dieses und weiterer, so etwa des allergrößten in Majdanek verübten Verbrechens (am 3.11.1943), eine sprachliche und visuelle Rhetorik, die primär mit Gegenständen in tropisch-stellvertretender Funktion argumentiert und durch vor Ort gemachten Tonaufnahmen belegt, dass das System der Nationalsozialisten dem Tod dient, denn selbst das Lebensmittel, das auf dem Feld vor dem KZ wächst, gedeiht auf den Überresten der Toten. Das als kapitalistisch-faschistisch aufgefasste „Todeskombinat“ Majdanek ist eine Steigerung der im Vorjahr in der sowjetischen Presse beschriebenen „Todeslager“.219 Eine Ausgestaltung des Todesthemas findet sich in der hyperbolischen Formel des polnischen Filmtitels Majdanek – cmentarzysko Europy, der von Majdanek als dem „Friedhof Europas“ spricht, unterstrichen durch die barock-manieristischen Beinhäusern ähnlichen Kompositionen der aufgeschichteten exhumierten sterblichen Überreste, die Karmen in Augenschein nimmt und filmt (Abb. 9.5). Karmen war jedes – auch avantgardistische – Mittel recht, wenn er dadurch sein Ziel des überzeugenden „Filmdokuments“ erreichen konnte. Während Karmen nach einem Anklagefilm im dokumentarischen genus iudicale strebt, scheint das polnische Team eher von den Traditionen des expressionistischen Spielfilms inspiriert – nicht nur vom im Vorkriegspolen produzierten jiddischen Film (vgl. Kap. 2 und 7 zu den Forbert-Produktionen), sondern auch dem internationalen Horrorfilmgenre. Olga Ford, den Forberts, Perski und Wohl dürften folgende Filme vertraut gewesen sein, die das Thema der Untoten oder der aus der Romantik stammenden Figur des Automaten (die jüdische Figur aus Lehm, genannt Golem) bearbeiten: die französische Serie Les Vampires (Louis Feuillade, 1915–16) mit der polnischstämmigen Stasia Napierkowska als vergifteter Tänzerin Marfa Koutiloff oder die deutschen Stummfilme Der Golem, wie er in die Welt kam (Paul Wegener und Carl Boese, 1920) und Nosferatu, eine Symphonie des Grauens (F. W. Murnau, 1922). Die ästhetischen Vorläufer wie auch die Geschichte der betreffenden Gattungen könnten nicht unterschiedlicher sein, umso bemerkenwerter ist es, dass beide die gleichen Ziele verfolgen, die sich mit evidentia-Verfahren am besten verwirklichen lassen und mit Verfahren der Verfremdung, des Horrors und der cernas-Geste arbeiten. Beide bringen valide Poetiken der Darstellung der Vernichtung hervor. Doch dem Gesamtwerk ist bis heute anzumerken, dass hier Heterogenes verschmolzen wurde: zahlreiche Sequenzen weisen den durch einen erfahrenen Frontkameramann realisierten Plan einer

219 Vgl. Shneer (2010, S. 149–154), der die Berichterstattung zum Holocaust in der sowjetischen Presse verfolgt und Berkhoff (2012, S. 125): „Referring to the sites as ‘death camps,’ correspondents supplied texts and photos, such as from Khorol near Poltava in November 1943 […].“ Vgl. auch die Erwähnung eines „Konzentrationslagers namens Majdanik“ in der Zeitung Trud vom 7.1.1944, wo in Gaskammern die „Ausrottung der Bevölkerung“ (istreblenie naselenija) der von „Hitlerhenkern besetzten Gebiete“ betrieben wird (diese Nachricht im Januar mag mit der Vorbereitung der Katyn’-Kampagne Anfang 1944 zusammenhängen; vgl. Kap. 4.3.1). 139

140

3 Schädel, Objets trouvés und fiktiver Rauch

visuellen Beweisführung im Sinne eines im Gerichtssaal einsetzbaren Filmdokuments auf, der universalisierende Kommentartext ist marxistisch geprägt, des Weiteren ist zu erkennen, dass bei vielen Aufnahmen eine mit dem expressionistischen Filmerbe vertraute Polin Regie geführt hat. Es ist letzterer Bestandteil, der damals am ehesten über den Genozid an den Juden zu einem breiten Publikum in Osteuropa hätte sprechen können – was sich auch dadurch bestätigt, dass es Übereinstimmungen zu der Ästhetik der Themersons gibt. Warum dies nicht geschehen ist (auch nicht in der polnischen Version), werde ich in den Kapiteln 6 und 7 behandeln.

3.4 3.4

Tomaseks „Kamin des gewesenen Krematoriums“ Tomaseks „Kamin des gewesenen Krematoriums“

Dein Leib im Rauch durch die Luft (Nelly Sachs, „O die Schornsteine“, In den Wohnungen des Todes, 1947)220

Als Werkzeug der Unsichtbarmachung der Leichen wird das Krematorium vorgeführt: In der polnischen Fassung Majdanek – Friedhof Europas wird der ehemalige Häftling Tomasek vor einem Schlot gefilmt, über den es heißt: „Der mehrere hundert Meter hohe Schornstein – das ist zeitgenössische deutsche Architektur – ein nicht vernichtbares (niezniszczalny) Denkmal der Zeit der Verachtung!“ (auf polnisch wird der Begriff der Zeit der Verachtung [pogardy] verwendet, mit dem in Polen später auch die Vernichtung im Sinne der farnichtung (poln. zagłada) (mit)bezeichnet wird: „Komin kilkunastometrowej wysokości – oto architektura współczenych Niemiec – niezniszczalny pomnik czasów pogardy!“ (PV [FINA]; S. 17) Der sich der Polnisch-Sowjetischen Untersuchungskommission gegenüber als Tscheche (so wird er auch im russischen und im französischen Film identifiziert) zu Erkennen gebende Wiener, gibt in gestreifter Häftlingskleidung auf Deutsch die „Idee“, also eine politische Überzeugung als den zentralen Grund der Ermordung in Majdanek an: Hier, meine Verehrtesten, sehen Sie den Kamin des gewesenen Krematoriums, das ist nur eine Ruine davon, das Andere wurde rechtzeitig verbrannt, Abertausende in Rauch aufgelöst, warum hat man diese Menschen aufgelöst in Rauch? Weil sie für eine Idee eingetreten sind, die mit dem Nationalsozialismus nicht vereinbar war.

220 Nelly Sachs (1891 Berlin – 10.5.1970 Stockholm; Nobelpreisträgerin von 1966) gelang es 1940 aus Berlin nach Schweden zu fliehen. Als Geflüchtete war sie eine der ersten (jüdischen) Stimmen, die den Genozid thematisierten. Auf „Zusprache Johannes R. Bechers“ erscheint ihre Sammlung In den Wohnungen des Todes im Frühjahr 1947 im Aufbau-Verlag in der Sowjetischen Besatzungszone, allerdings in dejudaisierter Form: „Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch // Durch die Luft“ wurde abgeschwächt zu „Dein Leib im Rauch durch die Luft“ (Hrdličková 2019, S. 174).

3.4 Tomaseks „Kamin des gewesenen Krematoriums“

141

Ohne die „Idee“ des Kommunismus, für die Tomasek in Wien verhaftet worden war, wörtlich zu thematisieren, wird doch klar, warum gerade dieser Überlebende ausgesucht wurde, um vor der Kamera eine deutsche (!) Rede zu halten. Mit Tomasek, der, wie wir später sehen werden, eine ambivalente Figur im Lager wie auch in den Filmen über Majdanek darstellt, gelingt es jedoch dem Thema des kommunistischen Widerstands nicht, sich im Film durchzusetzen. Auch wenn Tomasek das Politisch-Weltanschauliche betont, werden die drei Motive (Gaskammer, Krematorium und Berge von persönlichen Gegenständen der Ermordeten) zu universellen Tropen für das nationalsozialistische Lager als industrieller Massenvernichtungsstätte, und im Westen auch des Holocaust. Und dies, obwohl die nationalsozialistische Zuordnung eines Großteils der Gefangenen zu einer „Rasse“, die „ausgerottet“ werden soll, in den Filmen mit keinem Wort erwähnt wird. Sie werden jedoch in der vollständigen Aufnahme von Tomaseks Rede adressiert, wie man dem Dokumentarfilm Majdanek 1944 – Opfer und Täter (BRD 1986; Irmgard und Bengt von zur Mühlen; 18:18–19:05)221 entnehmen kann. In seinem zweiten Auftritt erzählt Tomasek – vor dem „Kamin“ stehend – davon: Aber man hat nicht nur politische Häftlinge, politische Gegner oder Juden verbrannt. (18:30) Es waren Kinder, vom jüngsten Alter bis zur Halbwüchsigkeit, Frauen. Das polnische Volk, das kann ein Lied davon singen, was es in dieser Zeit durchgemacht und mitgemacht hat. […] Hunderttausende von Polen wurden hier in Polen durch dieses System zugrunde gerichtet, wirtschaftlich und nicht nur das, man hat ihnen sogar ihr Leben genommen. Und auch diese Menschen – ihre letzte Station war dieser hohe Kamin hier.

Dazwischen geschnitten sind Einstellungen mit dem Rauch von schwelender Asche, die auch in einigen Memoiren der Befreier erwähnt wird, jedoch keinen im chronologisch-historischen Sinne dokumentarischen Charakter haben müssen.222 Bereits der britische Augenzeuge Alexander Werth hat darauf hingewiesen, dass – im Gegensatz zu Tomaseks Aussage – nur die Holzüberdachung des Krematoriums verbrannt worden war: „The wooden structure that used to cover the crematorium, as well as the adjoining wooden house, where Obersturmbannführer Mussfeld, the Director of the Crematorium used to live, had been burned down.“ (Werth 1984, S. 891).223 Grund hierfür

221 Ich bin Konstantin von zur Mühlen und der Firma Chronos für die Zurverfügungstellung des Films in digitalem Format für meine Forschung zu großem Dank verpflichtet. 222 Das Augenzeugnis von Bernhard Storch, eines Soldaten der Roten Armee, der am 23. Juli 1944 vor Ort war, erwähnt Aschenberge, aber keinen Rauch: „We thought it was barracks, military barracks. […] We thought a factory, a big factory. Of course, we saw a chimney a little farther down. We saw a tremendous mound of ashes. But we still didn’t know. Maybe that’s a factory. Maybe it’s something. Maybe that’s industrial waste.“ https://www.facinghistory.org/resource-library/video/red-army-enters-majdanek [14.9.2019] 223 Fotos aus den Jahren 1943 und 1944 sind zu finden auf der früheren Seite der Majdanek-Gedenkstätte: http://www.majdanek.com.pl/obozy/majdanek/zdjecia_archiwalne_2.html [2.1.2020] 141

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3 Schädel, Objets trouvés und fiktiver Rauch

ist offensichtlich, dass die SS kurz vor dem Abzug Akten der KZ-Verwaltung vernichtete und für ein solches Feuer dieses Holz verwendete bzw. das Dach sich dabei entzündete. Sogar der Rauch, den wir sehen, könnte entweder von schwelenden Knochensplittern oder Holzresten der Krematoriumsüberdachung vermischt mit Aktenresten stammen oder ein inszenierter sein, also eine fiktive Darstellung des authentischen, genozidalen Rauchs, der jedoch seit über einem halben Jahr nicht mehr über Majdanek stand. Der (gefilmte) Rauch als Index aller Majdanek-Indices hat also nicht nur eine rhetorische, sondern auch eine Meta-Funktion, auf die ich noch zurückkommen werde. Doch zunächst zum historischen Rauch, der sich vor der Ankunft der Roten Armee über den Mordstätten der „Aktion Reinhardt“ erhob, namentlich Treblinka, zu dem sich Majdanek im Hinblick auf die Vernichtungskapazität wie ein abgeschwächtes Doppelgängerlager verhält – und dies auch auf der Ebene der Toponyme. Wir haben kein filmwissenschaftliches Instrument, das uns bestätigen könnte, dass es sich um jenen Rauch handelt, in den „Menschen aufgelöst“ worden waren, wie Tomasek sagt. Es wurden keine verbrecherischen SS-Leute und Gebäude in flagranti ertappt, etwa im Schaltraum des Badehauses oder am Krematorium. In Anbetracht unserer Kenntnis des Zeitpunkts der Tonaufnahmen erscheinen sie eher als nachträglich erstellte Szenerie der Erinnerung der traumatisierten Kameraleute an die Befreiung des KZ. Somit stellen die Majdanek-Filme streckenweise ein Reenactment vor der Kamera dar, eine Form der Verarbeitung. Laut Bossak sah Ford sich nicht im Stande, die Filmarbeiten in Majdanek zu leiten (vgl. Kap. 7), die Kameraleute wiederum scheinen unter Blackouts zu leiden – dies ist verständlich, wenn man bedenkt, dass die jüdischen Filmleute im Juli 1944 in ihrer Heimat mit der grausigen Ahnung konfrontiert wurden, dass ihre Familien oder Verwandten in diesen oder ähnlichen Gaskammern vernichtet worden waren.224 Das betraf auch Sowjetbürger, die – wie Vertov – im besetzten Polen Verwandte hatten. Namentlich den aus Warschau stammenden Teammitgliedern blieb es im Juli und August 1944 sicherlich nicht verborgen, dass der Massenmord an ihren Familienmitgliedern auch in Lublin/Majdanek stattgefunden hatte. Die Überlebenden des ersten Warschauer Aufstands im Ghetto wurden über Treblinka nach Lublin/Majdanek deportiert: „Bis Mitte Mai 1943 trafen riesige Massentransporte mit Tausenden Juden aus dem Warschauer Ghetto im KZ Majdanek ein. Dabei handelte es sich um einen erheblichen Teil der Überlebenden.“225 Nach der Selektion mussten sie Zwangsarbeit leisten oder, wenn sie als „nicht brauchbar“ eingestuft wurden, 224 Der Aspekt der PTSD wurde kaum untersucht, findet sich jedoch bei Reportern allen Fronten. Lee Miller, die für die westlichen Medien und auch in der US-Armee die Befreiung fotografierte, litt Jahrzehnte später unter post-traumatischen Beschwerden und verfiel dem Alkohol: „After the war, Miller suffered from post traumatic stress disorder and, undiagnosed, retreated to Farley Farm in Sussex where she lived with her husband Roland Penrose, ‘the friendly surrealist’, and their only child, Antony.“ (Interview mit Antony Penrose, 2013) https://www.anothermag.com/ art-photography/2104/antony-penrose-remembers-lee-miller [2.8.2019] 225 W. Curilla (2011, S. 614–617, dort auch zu den Statistiken und der Selektion in Treblinka). „After the Germans destroyed the Warsaw ghetto in spring 1943, SS and police officials deported between 18,000 and 22,000 survivors of the uprising, including women and children, to Majdanek

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darauf warten, bis in den Vernichtungsanlagen Kapazitäten zur „Liquidierung“ frei wurden; sie sind dort vor den Augen der anderen Häftlinge in die Gaskammern geführt worden, so dass im Gedächtnis der Warschauer diese Orte auf tragische Weise verbunden sind. Obwohl Treblinka ebenfalls Ende Juli 1944 von der Roten Armee gefunden wurde, konnte der camouflierte Ort erst nach dem Ende des Stalinismus zur Gedenkstätte (1958) erklärt werden. Bis dahin genoss dieses Territorium keinen staatlichen Schutz.226

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3.5.1 Majdanek als kapitalistisches „Lager der Vernichtung“ Zu hundert, nackt in einer Zelle, ein letzter Kinderschrei erstickt…. Dann wurden von der Sammelstelle die Schuhchen in das Reich geschickt. Es schien sich das Geschäft zu lohnen, das Todeslager von Lublin. Gefangenenzüge, Prozessionen. Und – eine deutsche Sonne schien…. („Kinderschuhe aus Lublin“, J. R. Becher, 1944)

Die Majdanek-Filme, die in der polnischen Version das deutsche Wort „Vernichtung“ im Titel tragen, zeigen anschaulich die verschiedenen Aspekte der „Todesfabrik“, in Form einer Verwirklichung der zentralen Metapher: wie in Majdanek Menschen schrittweise vernichtet, d. h. buchstäblich zu Nichts gemacht werden. In der polnischen Version heißt es: Aber Majdanek ist nicht nur ein Vernichtungslager, sondern auch ein Kombinat, in dem der Mensch Gegenstand des Handels wird (przedmiotem handlu). Es gibt die Asche, aber auch die Nebenprodukte des Todes. Nichts verkommt in deutschen Händen…Millionen von Deutschen werden mit Dingen des täglichen Gebrauchs versorgt. Aus Majdanek gingen täglich Transporte der geraubten Waren ab. (PV [FINA], S. 17)

Tatsächlich wurde ein Teil der nach Majdanek deportierten Menschen sogleich in die Gaskammern geschickt, der andere Teil wurde zuerst zur Zwangsarbeit selektiert und ausgebeutet, d. h. später ermordet (durch Schüsse in der „Aktion Erntefest“ im November as forced laborers, along with the equipment of some of the Warsaw ghetto workshops.“ http:// www.ushmm.org/wlc/en/article.php?ModuleId=10005190 [15.1.2016] 226 „During late July 1944, with Soviet troops moving into the area, the camp authorities and the Trawniki-trained guards shot the remaining Jewish prisoners, between 300 and 700, and hastily dismantled and evacuated the camp. Soviet troops overran the site of both labor camp and killing center during the last week of July 1944.“ https://encyclopedia.ushmm.org/content/ en/article/treblinka [2.1.2017] 143

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1943 oder Gas) und schließlich verbrannt. Der Film verbindet die politisch-gesellschaftliche mit der philosophischen bzw. religiösen Perspektive: den Kapitalismus mit dem System des Massenmords. Der russische Kommentator spricht von einer „Fabrik, oder richtiger, einem Kombinat des Todes“ (RU: 2:00; in einem Kombinat sind Forschung, Entwicklung, Produktion und Absatz zusammengeschlossen). Aus dieser Dialektik von Fabrik und Tod entsteht das marxistische Konzept – man möchte fast sagen: das concetto – der „Todesfabrik“, deren Direktoren Verbrecher sind und für ihren Betrieb dieses „Kombinats“ vor Gericht gestellt werden müssen, denn diese NS-Fabrik beutet nicht nur auf unmenschliche Weise ihre Arbeiter aus (wie andere kapitalistische Unternehmen), sondern stellt aus der antifaschistischen Perspektive eine Steigerung des als chauvinistisch und imperialistisch verstandenen Kapitals dar: Die Fabrik stellt Tod her und produziert Leichen für den „Friedhof“, wird selbst zu einer „Grabstätte“, die das Kernstück des polnischen Titels bildet. Dies ähnelt durchaus dem Verständnis vom industriellen Genozid an den Juden in Lublin/Majdanek, wie es heute von Historikern vertreten wird. Tomasz Kranz (1998, S. 373) etwa spricht bei diesem Lager von „Vernichtung durch Arbeit“. Der Film zeigt auf rhetorisch eindrückliche Weise, dass das „Kombinat Majdanek“ in erster Linie Vernichtung produziert.227 Die fabrik-ähnliche Anlage in Majdanek bedeutete eine Annihilation durch – zum Teil sinnlose – Arbeit und Misshandlungen, die zum Tod der Häftlinge führten. Der Überlebende Leo Miller berichtet: im Lager hatten wir nur völlig unsinnige Arbeiten auszuführen. Dabei wurden wir pausenlos geschlagen, und es gab viele Tote. Ganz besonders tat sich da bei uns der sogenannte ‘Wiener Kapo’ hervor. Wir mussten zum Beispiel einen großen Wagen mit Sand beladen, und einspannen und diesen unter Schlägen hin und her ziehen. Nachts mussten wir fast stündlich aufstehen und Zählungen abhalten. Oftmals habe ich auch den Ausspruch gehört: ,Für Juden ist sogar noch eine Kugel zu teuer.’ […] unsere Arbeit bestand in der Hauptsache darin, dass wir Steine vom Feld drei bis zum Unterkunftsbereich der SS-Angehörigen hin und her schleppen mussten.“ (Ambach/Köhler 2003, S. 120)

Aus marxistischer Sicht muss der „Überschuss an Häftlingsarbeitskraft“ (Kranz 1998, S. 373), der statt nachhaltiger Ausbeutung und Disziplinierung, wie sie etwa im Gulag praktiziert wurde, eine rapide vonstattengehende Arbeit-zum-Tode bedingt, unökonomisch und irrational erscheinen. Insb. die ad absurdum geführte Behandlung der europäischen Juden wird in ihrer hyperbolisch grotesken Form von den Kameras aufgenommen, die sich dem surrealen Charakter der vorgefundenen Bildobjekte und -arrangements nicht 227 Vgl. Drubek 2016. Wie historische Studien zum Lager Majdanek zeigen, geschah dies in der Geschichte des Lagers in unterschiedlichen Formen und weniger systematisch als etwa in Auschwitz. Kranz, der Direktor des Majdanek-Museums, spricht von einem „multifunktionalen Provisorium ohne eindeutige Bestimmung und klare Zielsetzung“ (Kranz 1998, S. 369). Wenn Kranz (1998, S. 373) davon ausgeht, dass der Massenmord in Majdanek „enger mit den wirtschaftlichen Aspekten dieses Verbrechens als seinen Vernichtungsmechanismen verbunden“ ist, dann betrifft dies jedoch eher die Beraubung als eine etwaige Produktion (wie in anderen Arbeitslagern und Ghettos wie Litzmannstadt).

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verweigert, jedoch weder die Menschen, deren Knochen hier aufgeschichtet sind, noch die Besitzer der Dinge identifiziert. Auf diese im Filmmaterial der objets trouvés oder found objects angelegten Stilistik werde ich noch zurückkommen (Abb. 3.7, 3.8).

Abb. 3.7 und 3.8

Die hyperbolischen Formen Majdaneks: Knochenpyramiden und Schuhberge: Film Majdanek – cmentarzysko Europy

Wie die lange Produktionszeit der Majdanekfi lme228 zeigt, wurden die Gestalter (Produzenten wie Zensoren) der sowjetischen Propaganda bei der Erfassung dessen, was die Rote Armee in Lublin und Majdanek vorfand, vor eine schwierige Aufgabe gestellt. An der Oberfläche basieren beide Sojuzversion-Fassungen auf einer marxistischen Analyse des Nationalsozialismus, die darauf abzielt, das Menschenverachtende des NS-Systems durch seine sozio-ökonomische Beschaffenheit zu erklären: das Wort ‚Fabrik‘ evoziert die marxistische Auffassung von Kapitalismus als räuberischem System, das den Eigentümern der Fabriken eine Aneignung der durch die Arbeiter hervorgebrachten Wertschöpfung ermöglicht. Typisch für diese Ausprägung des Kapitalismus sind Großbetriebe, in denen die arbeitsteilig beschäftigte Arbeiter Fließbandarbeit leisten – in der UdSSR oft mit dem Terminus des Fordismus assoziiert und in Grossmans Prosatext „Die Hölle von Treblinka“ mit dem Begriff des automatischen Fließbands (konvejer) aufgerufen.229 Entsprechend wird die Größe der Anlage mit über 100 standardisierten Baracken von Majdanek auf sechs 228 Dies gilt v. a. für die für das sowjetische Publikum bestimmte Spezialnummer, in der das Filmmaterial verwendet wurde und die erst zu Beginn des Jahres 1945 in die Kinos kam, also nahezu ein halbes Jahr nach der Entdeckung des Lagers. 229 Diese Motivik findet sich jedoch auch im Nazi-Diskurs selbst, wie er von Franz Suchomel verwendet wird: „FS: Ja, Auschwitz war eine Fabrik. CL: Und Treblinka, das war ein? Ich sag ihnen meine Definition. Merken sie sich das. Treblinka war ein primitives, aber gut funktionierendes Fließband des Todes. CL: Fließband? FS: …des Todes. Verstehen Sie? CL: Ja, ja. Aber primitiv. Primitiv, zwar primitiv, aber gut funktionierendes Fließband des Todes. CL: Und Belzec war primitiver? FS: Belzec war das Studio.“ SS-Unterscharführer F. Suchomel im Gespräch mit C. Lanzmann, mit einer versteckten Kamera aufgenommen für den Film Shoah 145

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„Feldern“ durch die Luftaufnahmen eigens hervorgehoben. V. a. in der russischen Version wird nahegelegt, dass der Majdanek-Kapitalismus eine rationale Arbeitsorganisation auf der Grundlage eines Rechnungskalküls darstellt, wobei im Fall der „Todesfabrik“ der Gewinn nicht aus produktiver Arbeit stammt, sondern – und das kommt nicht zur Sprache – im organisierten Rauben und Morden besteht, denn Lublin/Majdanek war im Kontext der „Aktion Reinhardt“ in erster Linie der Ort des Sortierens, Reparierens, Lagerns und Recycelns. Der in der materialistischen Weltanschauung geschulte verbale Kommentar konzentriert sich auf die Darstellung der Verwertung des menschlichen Körpers: das letzte Produkt in dieser grotesken Kette der dehumanisierenden Vernichtung ist Kompost, der aus der Verbrennung der sterblichen Überreste gewonnen wird. Die Fabrik Majdanek scheint in standardisierten Prozessen Produkte hervorzubringen, die in Bergen aufgeschichtet oder in Lagerhallen auf Regalen aufgereiht vorgefunden werden – Puppen, Handschuhe, Schuhe (Abb. 3.9 und 3.10).

Abb. 3.9 und 3.10

Die Produkte der Fabrik Majdanek: Schuhe und Scheren „aus Europa“

Die Kameras der Roten Armee führen an Hand der gefundenen Objekte eine Bestandsaufnahme durch; Kriegsberichterstatter und Reporter analysieren das Aufgenommene. Erst beim näheren Hinsehen wird klar, dass es sich um Waren aus zweiter Hand handelt, dass die Berge von Dingen aus den Koffern stammen, die die Opfer nach Majdanek mitgebracht haben. Ein entscheidender Bestandteil der ‚Produktion‘ der Fabrik Majdanek sind also Plünderungen und systematische Beutezüge, auf denen Objekte eingesammelt werden, die man den deportierten Opfern abnimmt, sortiert und zur Weiterverwertung vorbereitet: Von Kleidung, die auch lokal zur Verwendung kam bis hin zu Effekten wie Brillen und Kämmen, oder aber „Menschenschnitthaar“, das der „Verwertung zugeführt wurde“. Bärbel Schmidt (2000, S. 7) beschreibt das in den Filmen nicht erwähnte Recycling (1985). Das „Fließband“ betraf insb. die Kremierung der Leichen in Öfen, die geheizt und in Betrieb gehalten wurden.

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der Kleider im Lager selbst („ab 1942 erhielten viele Inhaftierte markierte Zivilkleidung der in Auschwitz und Majdanek ermordeter Menschen, hauptsächlich Juden, oder gekennzeichnete Uniformen getöteter sowjetischer Kriegsgefangener“) und zitiert aus dem Buch Die Todesfabrik Auschwitz von Ota Kraus und Erich Kulka: Die im Lager zu Tode gekommenen sowie die zahlreichen direkt nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordeten Menschen dienten der SS als Rohstofflieferanten. Aus abgeschnittenen Haaren wurden Industriefilze, Haargarnfüßlinge für U-Boot-Besatzungen, Haarfilzstrümpfe und Stoffe angefertigt. Nach Zeugenaussagen sind allein von Auschwitz 60.000 Kilogramm Haare nach Deutschland geliefert worden, 700 Kilogramm fand die Rote Armee bei der Befreiung des Lagers im Frühjahr 1945 noch vor. (Kraus/Kulka 1958, S. 125).

Das Majdanek-Filmmaterial beschränkt sich auf Kapo Heinz Stalps Aussage der Versendung der Kleidung zur Wiederverwertung in die „Strafanstalt Plötzensee“. Die zentrale marxistische Metapher der Todesfabrik erschöpft sich dann, wenn die Filme zu dem Schluss kommen müssen, dass auch die übrigen Zweige der Produktion des Kombinats Majdanek nur wenig Neues hervorbringen. Neben dem Sortieren, Flicken von Kleidern, und der Arbeit für das Deutsche Ausrüstungswerk (DAW)230 fand in Lublin/Majdanek ein dem Deutschen Reich zugute kommendes Recycling der Toten bzw. der den Todgeweihten entwendeten Dinge „aus ganz Europa“ statt. Wie der „Tod“ als das Produkt dieser kapitalistischen Fabrik verkauft wird, bleibt im Dunkeln.

3.5.2 Literarische Bewahrung des Vernichteten: Vasilij Grossmans „Die Hölle von Treblinka“ Eine der eindrucksvollsten literarischen Verarbeitungen dieser Sortier- und Verwertungspraktiken findet sich in Grossmans „Die Hölle von Treblinka“ (erschienen in der Literaturzeitschrift Znamja im November 1944), wo das Sortieren im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ als serielle Tätigkeit der Zwangsarbeiter beschrieben wird: Bündel, Körbe und Koffer werden geöffnet und der Inhalt wird in „Windeseile sortiert und ihr Wert geschätzt“, „sorgfältig zusammengelegte“ Kleidung „fliegt auf den Boden“, von „Kinderhöschen“ bis zu „Seidenstrümpfen aus Paris.“ Alles wird verwendet – nur das „Leben des Menschen nicht.“ (Grossmann 1946) Grossman beschreibt hier Treblinka II, in dem bis Ende 1942 mindestens 713.555 Menschen vernichtet wurden. Dies wissen wir so genau, da Odilo Globocniks „Judenreferent“ H. J. Höfle hierzu einen Funkspruch an den Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Krakau, Franz Heim, und an Eichmann geschickt hat. Diese von den Briten abgefangene Botschaft (auch als Höfle-Telegramm bezeichnet) enthält eine Statistik

230 Zum „Lubliner Zweigwerk der Deutschen Ausrüstungswerke“, wovon eine Betriebsstätte im „Lubliner Stadtteil Majdan Tatarski, wo die Besatzer ein jüdisches Ghetto errichteten“, lag, vgl. Schulte 2001, S. 263. 147

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zum „Einsatz Reinhart“231 für Lublin/Majdanek, Belzec, Sobibor und Treblinka, die jeweils durch den ersten Buchstaben wiedergegeben werden. Der britische Secret Service konnte ihn am 11.1.1943 in Bletchley entziffern, wusste aber nichts damit anzufangen: L 24733, B 434508, S 101370, T 71355[5]. Die Summe beträgt zum 31.12.42: 1274166. (Witte und Tyas 2001)

L stand für Lublin, B für Belzec, S für Sobibor und T für Treblinka. Die Bedeutung der Buchstaben und Zahlen wurde angeblich erst 2001 inhaltlich entschlüsselt.232 Auf die Beziehung von Treblinka zu Majdanek komme ich noch zurück, kann aber hier bereits mitteilen, dass zahlreiche Gegenstände aus Treblinka II nach Lublin kamen, um dort weiterverwertet zu werden. Der Grund, warum die Leitung der Todesfabrik im Distrikt Lublin kein Interesse an der Herstellung von Waren oder dem Erhalten der Arbeitskraft ihrer Arbeiter hat, bleibt den Filmzuschauern unbekannt – die Antwort würde sich in der ethnischen Zugehörigkeit der Mehrheit der Opfer finden, die der Film verschweigt. Dabei findet sich die Antwort in Texten von Augenzeugen der Befreiung vom Sommer 1944, etwa bei Simonov (vgl. die Würdigung durch Hicks 2013) und die ganze Wahrheit beim Schriftsteller Grossman, der im Sommer 1944 Überlebende, bystander und Zeugen befragt hat. Dieser macht ohne Umschweife klar, wer die Opfer waren: „Vor allem Juden, Polen, Zigeuner.“233 In seinem auf September 1944 datierten Text, der nach dem Abschluss der Filmaufnahmen in Majdanek verfasst wurde, führt er mit der Beschreibung der zwei Typen von Lagern in Treblinka auch den Unterschied zwischen Konzentrations- und Vernichtungslager ein, der in der sowjetischen Fassung der filmischen Darstellung von Majdanek verwischt wird. Grossman geht aber noch weiter: Er nennt das Arbeitslager Treblinka I (nicht ausschließlich der Vernichtung dienend) ein „verkleinertes Majdanek“, das schlimm genug erschien, jedoch wussten die Häftlinge von I, dass es „etwas Furchtbares gibt, hundertmal so schlimm wie ihr Lager“.234 Grossman berichtet über dieses „auf Wunsch Himmlers strengstens geheim

231 Es gibt verschiedene historische Schreibweisen: Aktion Reinhard(t) und Einsatz Reinhar(d)t. 232 Golo Mann übrigens nannte in seiner Radioansprache bereits am 27.1.1945 über BBC die Zahl von 3 Millionen in Polen ermordeten Juden. „O-Ton Golo Mann“ : „Wir wollen die Wahrheit sagen.“ „https://www.spiegel.de/einestages/nationalsozialismus-radio-propaganda-gegen-hitler-a-1115054.html [5.6.2019] 233 „Кто были люди, которых везли в эшелонах в Треблинку? Главным образом евреи, затем поляки, цыгане. К весне 1942 года почти все еврейское население Польши, Германии, западных районов Белоруссии было согнано в гетто.“ (Grossman 2002), verfügbar auf http://lib.ru/PROZA/GROSSMAN/trebl.txt [15.4.2017] 234 „Так жил этот лагерь, подобный уменьшенному Майданеку, и могло показаться, что нет ничего страшней в мире. Но жившие в лагере No 1 хорошо знали, что есть нечто ужасной, во сто крат страшней, чем их лагерь. В трех километрах от трудового лагеря немцы в мае 1942 года приступили к строительству еврейского лагеря, лагеря плахи. Строительство шло быстрыми темпами, на нем работало больше тысячи рабочих. В этом лагере ничто

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gehaltene“ Lager II, das er auch „jüdisches Lager“ und lager’ placha (Richtstätte) nennt, in einer poetischen wie auch wahrhaftigen Weise, die keinen Zweifel aufkommen lässt, dass der Umgang mit Häft lingen nach Rassen- und nicht Klassenprinzipien erfolgte (Abb. 3.11). Es wird auch klar, dass in den Todesfabriken im Distrikt Lublin politische Häft linge lediglich eine kleine Gruppe ausmachen.

Abb. 3.11 Das Nichts hinter dem Stacheldraht auf der deutschen Ausgabe von Grossmans „Die Hölle von Treblinka“ (Moskau 1946)

Aber bereits aus Johannes R. Bechers umfänglichen Gedicht „Kinderschuhe aus Lublin“ (1944) erfahren wir nicht, um welche Kinder es handelt, die im KL Lublin ihre Schuhe auf Geheiß der „deutschen Märchentante“ ausziehen mussten. Becher hat sich offensichtlich von Simonov und möglicherweise auch von Grossmans Treblinka-Text inspirieren lassen, der von seiner Frau Lilly übersetzt worden war:235 Und es war eine deutsche Tante, die uns im Lager von Lublin empfing und „Engelspüppchen“ nannte, um uns die Schuhchen auszuziehn, und als wir fingen an zu weinen, da sprach die Tante: „Sollt mal sehn, gleich wird die Sonne prächtig scheinen, не было приспособлено для жизни, все было приспособлено для смерти. Существование этого лагеря должно было, по замыслу Гиммлера, находиться в глубочайшей тайне, ни один человек не должен был живым уйти из него.“ (Grossmann 1946 und Grossman 2002) 235 J. R. Bechers letzte Frau Lilly wurde 1901 in eine Nürnberger jüdische Familie geboren. 149

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und drum dürft ihr jetzt barfuss gehn…. Stellt euch mal auf und lasst euch zählen, so, seid ihr auch hübsch unbeschuht? Es wird euch nicht an Wärme fehlen, dafür sorgt unsere Sonnenglut. […]“ Es wird die Sonne brennend scheinen. Die Wahrheit tut sich allen kund. Es ist ein großes Kinderweinen, ein Grabgesang aus Kindermund…. Der Kindermord ist klar erwiesen. Die Zeugen all bekunden ihn. Und nie vergess ich unter diesen die Kinderschuhe aus Lublin.236

Da das Ende des Gedichts nur allgemein von „Kindermord“ spricht, tappt ein Leser, dem nichts über die „Aktion Reinhardt“ bekannt ist, im Dunkeln. Eine plausible Erklärung für das „Geschäft“ der tüchtigen „deutschen Tante“ in Lublin, die auf gebrauchte Kinderschuhe aus ist, fehlt. Diese Politik der Dejudaisierung mittels ironischer Ellipse war auch im späteren Ostblock gang und gäbe, sogar der Film Der gewöhnliche Faschismus konnte sie 1965 nicht aufbrechen. Sabine Hänsgen und Wolfgang Beilenhoff (2016) führen folgendes Zeugnis an: However, in the context of official Soviet ideology Romm decided, in a kind of self-censorship, not to mention Jews explicitly as victims of the Nazi regime. As Erika Gregor reports from the screening of Obyknovennyi fashizm at the “Friends of the Deutsche Kinemathek” in 1966 in West-Berlin: „Es gab eine lebendige Diskussion, die überwiegende Mehrheit war für diesen Film, alle waren tief erschüttert und bewegt, und dann passierte es: Ein guter Freund von uns, der Religionswissenschaftler Jochanan Bloch, meldete sich plötzlich zu Wort und sagte, dass er den Gewöhnlichen Faschismus für einen erschütternden Film hielte, der ihn sehr bewege, und dass dies ein sehr gewichtiger Film sei, der überall gezeigt werden solle – eines sei ihm aber aufgefallen, im ganzen Film fiele nicht einmal das Wort ‘Jude’. Und die Menschen, die er zeigte – als Opfer, als Gefolterte, als Tote – würden ‘Sowjetbürger’ genannt, doch sie seien nicht als Sowjetbürger gemartert worden, sondern als Juden.’ In einem privaten Gespräch nach der öffentlichen Diskussion erklärte Romm: ‘Das war die Bedingung, unter der ich diesen Film machen durfte… Dass das Wort ‘Jude’ in diesem Film nicht fällt“ (Erika and Ulrich Gregor 2009: 278).

Allerdings wusste das Publikum in Osteuropa sowohl 1944–45 als auch 1965 mehr über den Genozid an den Juden als heute und konnte die Lücke durch eigenes Wissen ergänzen.

236 https://gedichte.xbib.de/Becher_gedicht_Kinderschuhe+aus+Lublin.htm [2.2.2020]

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3.5.3 „Anna Weissbarth“ und Spuren eines Zensureingriffs? Konkrete Hinweise auf eine vollständigere Darstellung des Genozids an den Juden durch die Filmleute finden sich bis heute in unverwendetem Material im Archiv von Krasnogorsk und in Outtakes, die beispielsweise in der polnischen Filmoteka narodowa (FINA) als solche katalogisiert sind. In der Beschreibung des Inhalts der „Filmdose 31“ (pudełko 31) ist etwa die Rede von einer Steinplatte mit der Aufschrift eines jüdischen Namens: AAV-2380 Anna Weissbarth, Prag XII 1434, begleitet von Aufnahmen von Koffern, Unrat und einem Englisch-Wörterbuch.237 Diese eindeutig auf den Genozid an den Juden verweisende Einstellung ist in dieser Form in keiner der Filmversionen zu finden, hätte jedoch ähnlich wie das Foto des Koffers von Rosa [Sara] Stern mit Hilfe des Namens einer aus Prag Deportierten das Wesen und Ausmaß des Judenmords in Lublin/Majdanek bzw. genauer gesagt: der „Aktion Reinhardt“ insgesamt dokumentiert. Die Entfernung dieses bescheidenen Denkmals für die Pragerin A. Weissbarth hat eine eigene Produktions- wie auch Zensurgeschichte hat, der noch nachgegangen werden muss. Gegenwärtig liegen nur verbale Spuren vor. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Regieassistentin Olga Mińska-Ford bei der Auswahl dieser Motive eine leitende Rolle gespielt hat, da nicht nur die Auswahl des Motivs der Puppe, sondern auch die Erinnerung an weibliche Opfer und ihre filmische Präsentation die Sensibilität einer Frau vermuten lässt. Betrachtet man die Aufnahmen etwa von Samucewicz, der Forberts oder von Sof’in, ist wenig wahrscheinlich, dass sie diese Motive gewählt hätten. Das Gleiche gilt für die späteren von Bossak geleiteten Chronik-Filme von 1944–5, die weniger das Menschliche als das Gerätehafte des Kriegs betonen und militärische oder politische Objekte wählen. In den mir vorliegenden Filmfassungen sind alle Hinweise auf weibliche Opfer (und Täterinnen) in Majdanek getilgt – auch hier liegt also eine Verzerrung der Wirklichkeit vor, die die Rote Armee im Juli 1944 vorgefunden und auf Film dokumentiert hat. Inwieweit Olga Ford mit Roman Karmen in Bezug auf die ästhetische Gestaltung des Filmbilds Majdaneks zusammenarbeitete, ist nicht belegt. Olga konnte die Qualifikationen eines Kunstgeschichtsstudiums und einer Journalistenschule aufweisen und hatte seit Anfang der 1930er Jahre Erfahrungen nicht nur als Regieassistentin und Drehbuchautorin, sondern – ähnlich wie Karmen – auch als Journalistin gesammelt. Aufgrund der Flucht in die Sowjetunion hatte auch sie schon bittere Erfahrungen als „flight survivor“ gemacht: Sie musste den Leichnam ihres kleinen Jungen in der usbekischen Wüste, zurücklassen238 und sollte kein weiteres Kind zur Welt bringen. Wir wissen, dass die Mehrzahl der Kameraleute in Lublin/Majdanek – gleichgültig ob sie jüdischer Herkunft waren oder nicht – sich der Dokumentation des Genozids nicht

237 Es handelt sich um eine spätere Beschreibung, die im polnischen Archiv gemacht wurde. Ich bin E. Wysocka zu Dank verpflichtet, dass sie mir Beschreibungen der Outtakes (Opis odrzutów filmu „Majdanek“; Dosen 31–36) zur Verfügung gestellt hat. 238 Laut Ford zweiter Frau, Eleanor Griswold (Danielewicz 2019, S. 55, 116). 151

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entzogen.239 Genau wie der in Kap. 1. erwähnte Fotograf Temin, der für seine Fotografie ein Motiv gewählt hatte, die den in den Koffer eingeritzten Namen der Deportierten Rosa Stern sorgfältig festhält (vgl. Abb. 1.1) und die – im Gegensatz zu zahlreichen Film-Outtakes – rezipiert wurde und bis heute intakt ist, ja, auf uns wirken kann. Es ist nun an der Zeit zu erwähnen, dass die analoge Rosa-Stern-Einstellung aus der Chopinstraße 27 in den erhaltenen Fassungen der Majdanek-Filme auch zu finden ist, und zwar als kurze Kamerabewegung hin auf dieselbe Puppe, die in der in den Film aufgenommenen Form als ästhetische Geste der Kamera einen allzu knappen und daher unmotivierten Eindruck macht.240 Die Einstellung wirkt verstümmelt. Wir können davon ausgehen, dass die im Filmmaterial enthaltenen jüdischen Koffer von der Zensur spätestens in Moskau weggeschnitten wurden. Der Anfang des Filmstücks mit dem Gepäck und dem Namen wurde offensichtlich zusammen mit Einstellungen des von den Kameraleuten vor Ort aufgenommenen Warenlagers entfernt, da diese Aufnahmen – auch ohne die Beschriftung mit einem zusätzlich judaisierten Namen – auf die spezifische Form der Deportationen von Juden hinwiesen und die ‚Universalität‘ der visuelle Botschaft durchkreuzten.

3.5.4 Der antifaschistische Film: Marxistische Analyse statt „erster Film über den Holocaust“ Natürlich waren die Autoren im Rahmen dieses Modells des antifaschistischen Films nicht an ethnischen Details interessiert: Es ging um Opfer im Allgemeinen, über sowjetische Menschen, die durch Henker starben, unabhängig davon, welche Sprache sie verwendet hatten. Dies war […] gerecht und unvermeidlich, zumal das nationale Bewusstsein nach so vielen Jahren des rücksichtslosen Kampfes mit allen möglichen Nationalismen, einschließlich dem jüdischen, in die Tiefe des Unterbewusstseins getrieben worden war. Doch gerade die Figur des bewussten Schweigens über die Katastrofa des sowjetischen Judentums während des Zweiten Weltkriegs, die sich damals erstmals als spezifisches Paradigma bildet, wurde ideologisch vertraut und bestimmte den Ton vieler spätere Filme. (Černenko 2000 über die Filmchronik ab 1942)

Auch wenn das Schicksal der Juden in Simonovs Artikeln und auch in seinem Tagebuch (vgl. Simonov 1977 und auf Deutsch 1979) und in Fotografien präsent ist, ist es nicht (mehr) das Thema der veröffentlichten Majdanek-Filme. Kernstück des russischsprachigen Films 239 U. U. könnte Štatland eine Ausnahme darstellen, da seine Montagelisten zeigen, dass er v. a. die offiziellen Anlässe filmte und das Lager selbst mied; so ließ er etwa seinen Assistenten Komarov die Gaskammer filmen. 240 Nachzuvollziehen in der polnischen Version, die auch auf dem Internet zugänglich ist in der Einstellung auf die Spielzeuge 16:50–16:52 (https://www.youtube.com/watch?v=u7cbd6w3nLQ&t=12s). [9.9.2018] In dieser polnischen Version wird die Chopinstraße 27 nicht als solche identifiziert, der Zuschauer erhält den Eindruck, dass die Handschuhe und Puppen gemeinsam mit den Schuhbergen (VI. Feld) außerhalb der Stadt, „bei den Majdanek-Baracken“ gefilmt wurden.

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Majdanek. Kinodokumenty o čudoviščnych zlodejanijach nemcev v lagere uničtoženija na Majdaneke v gorode Lublin ist vielmehr Kapitalismuskritik. Sie muss jedoch so beschaffen sein, dass eine solche Kritik am Majdanek-Lager-Kapitalismus alle etwaigen Gemeinsamkeiten der unproduktiven KZ-Fabrik mit der sowjetischen zentralgeleiteten Wirtschaft tilgt, die ebenfalls – wenn auch auf andere Weise – keine hohe Produktivität aufweist und sich auf das Lagersystem des Gulag stützt, das Zwangsarbeit an bestimmten Orten konzentriert. Beide Terror-Systeme, das sowjetische wie das national-sozialistische, beruhen zudem auf einer Verstaatlichung241 von Privateigentum: in der UdSSR hatte die KP nach einer Revolution eine Gesamtverstaatlichung erreicht, im Fall des Deutschen Reichs war die Vergesellschaftung vorrangig auf „jüdisches Eigentum“ gerichtet, das solchermaßen ,sozialisiert‘ wurde. Daher war für die Gestalter und Zensoren v. a. der sowjetischen Film-Propaganda zu Majdanek in der Bezeichnung der hinter dieser rassistischen Gesetzgebung und ihrer Exekutive stehenden Nationalsozialistischen Partei das Wort „Sozialismus“ heikel. In der mir zugänglichen russischen Fassung kommt es gar nicht vor, ebenso wenig wie der Begriff der „Faschisten“. Stattdessen ist von „Hitleristen“, „Henkern“, „SS-Männern“ und „Deutschen“ die Rede (vgl. auch im Kommentar der polnischen Fassung: „Deutsche“, „SSMann“ [SS-owiec] und „germanische Übermenschen“ [germańscy nadludzie]). In der polnischen Fassung findet sich der „Nationalsozialismus“ lediglich in der Rede des als „Österreicher“ („Austryak“) bezeichneten L. Tomasek. Es ist durchaus möglich, dass die Vorführung dieser Version in Lublin im November 1944, bei der sicherlich die sowjetischen Politoffiziere der Roten Armee in Polen zugegen waren, dazu geführt hatte, dass die Aufnahme, in der das Wort „Nationalsozialismus“ sowohl auf der Tonspur als auch in den polnischen Untertiteln vorkommt, nicht in die russische Version aufgenommen wurde. Dies würde auch erklären, warum in der russischen Version gänzlich auf den authentifizierenden Originalton der Zeugenaussagen verzichtet wurde, der diesen Befreiungsfilmaufnahmen ihren Pioniercharakter verleiht, da er die Opfer und Augenzeugen zu Wort kommen lässt. Offensichtlich hatte man aus der Vorführung der polnischen Fassung für die zweite (d. h. russische) Premiere, bis zu deren Uraufführung etwa fünf Wochen verstrichen, gelernt und das für russische Ohren auf verwirrende Weise ambivalente Wort ausgespart, wie auch aus dem „Austryak“ Tomasek den Tschechen Tomášek, also einen Vertreter eines slawischen Brudervolks, gemacht. Liebman (2006; 2011, v.a. zur polnischen Version), der bei den Aufnahmen in erster Linie ein antisemitisches Motiv vermutete, und Jeremy Hicks (2012, vorrangig zur russischen Version) haben bereits nachgewiesen, dass in beiden Filmreportagen der Holocaust keinen Platz habe.

241 Diese Überführung von Privateigentum in Gemeineigentum fand jedoch oft gar nicht statt, da die KZs unter der Leitung der SS in vielen Fällen Zugriff Einzelner oder räuberischer Gruppen auf die enormen Werte erlaubte. Zynisch als „Judenbeute“ bezeichnet, kamen viele Schmuckstücke oder Bargeld daher nicht immer in den Kassen des deutschen Staates an (dies kommt in den Filmen nicht zur Sprache, da dieser Aspekt individuelle Kriminalität und nicht einen Verbrecherstaat enthüllt). 153

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Im Kontext der innersowjetischen Propagandaziele war das Thema des Judenmords jedoch nur begrenzt einsetzbar; ähnlich verhielt es sich in Polen und anderen ehemals deutsch besetzten Gebieten. Ein Film mit der Verknüpfung der Motive ‘Fabrik’ und ‘Juden aus ganz Europa’, der sich an ein polnisches Publikum gerichtet hätte, das jahrelang antisemitischer Propaganda zum „Finanzjudentum“ ausgesetzt gewesen war, hätte sein propagandistisches Ziel wahrscheinlich verfehlt (Abb. 3.12).

Abb. 3.12 „Der Patriotismus der Sowjetbürger zeigt sich in großartig gebauten Fabriken. I. Stalin“ (antisemitisches nationalsozialistisches Plakat aus der Zeit des 2. Weltkriegs, das sich auf Russisch an die Bewohner der besetzten Gebiete wendet)242

242 Die auf ungeordneten Skeletten und Schädeln gebaute Fabrik trägt die Aufschrift Bol’ševik. Vgl. auch die Metapher der Fabrik in den Anfängen des Kriegsverlauf: die deutsche Propaganda hatte nach der Besetzung von Polen 1939 der polnischen Regierung vorgeworfen, sie wolle aus dem Land eine „Märtyrer-Fabrik“ machen (Jockheck 2003, S. 435).

3.5 Das 1944 aufgezeichnete und vernichtete Lager

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Folglich musste man sich – wollte man den marxistischen Ansatz beibehalten – zwischen ihnen entscheiden: Die Fabrik blieb, das Thema des Mords an den Juden fiel heraus. Dass die Vernichtungsfabrik von Majdanek in erster Linie die Asche von Juden produzierte, kommt in beiden Endfassungen der Majdanek-Filme also nicht zur Sprache, so dass sie es nicht verdienen als „erste Filme über den Holocaust“ (Liebmann 2011) bezeichnet zu werden. In der Situation des Jahres 1944 waren sie genau dies nicht, da sie die ethischen Anforderungen an eine Reportage nicht erfüllen, die sich der Repräsentation der Wahrheit verpflichtet sieht, v. a., wenn dieses filmische Dokument durch seinen Nachrichtenwert und seine Wahrhaftigkeit in den Lauf der Geschichte hätte eingreifen können. Sowohl der Name als auch das Werk des international bekannten „Reportergewissens“243 jüdischer Herkunft und sowjetischer Gesinnung, Roman Karmen, wurden missbraucht, um eine die eigentliche Nachricht unterdrückende Halbwahrheit in der Gestalt des „furchtbaren Wortes Majdanek“ in die Welt hinauszuschicken. Offen bleibt jedoch die Frage, inwieweit Karmen sich gegen diese Tilgung der vorgefundenen Wahrheit mit seiner Kamera bzw. den in seinen Aufnahmen angelegten Sujets wehrte – folgt man der Interpretation von A. Sumpf (vgl. Kap. 9), knüpfte er an die russische Tradition des Pazifismus an, die jedoch mit dem Verdecken der größten Opfergruppe einhergeht, der Juden. Wir werden auf diese im sowjetischen Kontext geforderte und zum Teil verinnerlichte Selbstverleugnung jüdischer Identität noch einmal zurückkommen. In Bezug auf die enthüllenden bzw. gedächtnispolitischen Maßnahmen kann man sagen: Der sowjetische Didaktismus und die von oben eingesetzte Musealisierungsstrategie bezüglich des ersten entdeckten Lagerkomplexes von großen Ausmaßen waren nur begrenzt erfolgreich bzw. nachhaltig, da „[a]nders als in Auschwitz […] die Erinnerung in Majdanek nach dem Krieg nicht durch die ehemaligen politischen Häftlinge repräsentiert, sondern seine Musealisierung unter Ausschluss polnischer Interessengruppen vorgenommen“ wurde (Maischein 2015, S. 179–181).244 Die marxistische Analyse erwies sich als blind gegenüber den Rassetheorien des „3. Reiches“.245 Universalisierende Gesten der sowjetischen Bild-

243 Als „Reportergewissen“ („репортерская совесть“) und als ein Kameramann, „in dessen Vokabular das Wort ‘unmöglich’ fehlte“, wird Karmen in einer Charakteristik von 1942 bezeichnet (Fomin 2018, S. 68 zitiert eine sowjetische Quelle aus dem russischen Archiv RGALI, f. 2487, оp. 1, d.1002, l. 53). 244 Maischein erklärt dies mit der ausgebliebenen sowjetischen Unterstützung des Befreiungsversuchs durch die Heimatarmee. Der Eröffnung einer weiteren Museumsbaracke im Jahr 1945 wurden von sowjetischer Seite Aufnahmen gewidmet. Zu einem Dokumentarfilm mit dem Titel Годовщина Майданека / Jahrestag in Majdanek (Registrierungsnummer 11231), der 1945 an den vor 6 Jahren stattgefundenen „Krieg mit Deutschland“ erinnert, findet sich eine Annotation, die besagt, dass im September 1945 in einer Lagerbaracke ein Museum eröffnet wurde: http:// old.rgakfd.ru/catalog/films/ [12.12.2018] Die Gedenkstätte war sowjetisch geprägt. 245 Ähnlich verhielt sich zum Genozid-Thema die kommunistische Partei Polens, die PPR: „Der Anti-Antisemitismus der Kommunisten beruhte auf der Überzeugung, dass der Antisemitismus ein ‚Ablenkungsmanöver‘ der Herrschenden sei, das von der Notwendigkeit der revolutionären Umgestaltung ablenken solle.“ (Friedrich 2002, S. 359) 155

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sprache zu Lublin/Majdanek verdecken den 1944 weiter stattfindenden Genozid auf fatale Weise, und nicht nur der Juden, sondern auch den Porajmos: in der Nacht vom 2. Auf den 3. August 1944 wurden – während der Dreharbeiten in Lublin – in Auschwitz-Birkenau 2.900 Europäer als „Zigeuner“ im Gas ermordet.246

3.5.5 Treblinka II: „Ober-Majdan“, eine fiktive Station der realen farnichtung

„Station Obermajdan! Umsteigen nach Bialystok und Wolkowysk!“247

Das 190 km nördlich von Lublin gelegene Dorf Treblinka lag an der Eisenbahnlinie von Siedlce nach Małkinia. Von dort wurde ein 300m langes Nebengleis gebaut, das an einer Rampe endete, die später zu einem Bahnsteig ausgebaut wurde. Dieser Ort hieß in der Erinnerung einiger Überlebender und bystander Ober-Majdan. Der Eisenbahner Franciszek Ząbecki (1977, S. 70) schrieb in seinen Memoiren 1977 von dem Schild mit der Aufschrift Majdan Górny, d.h. oberer Majdan, und der Überlebende Samuel Willenberg (1989, S. 105) gab sogar dessen Maße an: 300 cm x 80 cm. Der Prager Richard Glazar [bis 1947 Goldschmid] (1920–1997) erinnert sich an die Ende 1942 als Umsteigebahnhof für zivilen Personenverkehr getarnte Endstation, die im August 1943 so aussah: Eine große, weiße Tafel kündigt den Ankommenden in schwarzer Inschrift an, daß dieser Ort ‚Treblinka-Obermajdan‘ heißt. Darunter sind kleinere Tafeln als Wegweiser montiert. ‚Zu den Zügen in Richtung Bialystock und Wolkowisk‘, ‚Zum Bad‘. Weitere Tafeln mit Inschriften befinden sich über den blinden Fenstern der ‚A-Baracke‘, diesseits der Rampe: ‚Fahrkartenausgabe‘, ‚Auskünfte‘. Oben im Giebel leuchtet weiß ein übergroßes Zifferblatt. Seine Zeiger stehen immer auf sechs Uhr. Vor dem Eingang zum Entkleidungsplatz an der Hinterwand der Garage ist eine fingierte Tür mit der Inschrift ‚Bahnmeisterei.‘ (Glazar 1995, S. 139)

Ober-Majdan oder Obermajdan war eine fiktive Ortsbezeichnung für ein Vernichtungslager, oder wie Grossman es bezeichnet, die „Richtstätte“ (placha), denn ein Lager war es nicht: Die Opfer wurden nach ihrer Ankunft „zum Baden“ geschickt und sofort ermordet. Da Treblinka dem Erdboden gleichgemacht und camoufliert worden ist, mussten Zeichnungen des Lagers angefertigt werden, so etwa durch Grossman (abgebildet in Shneer 2010, S. 173). In Kapitel 7 eines bereits 1944 entstandenen Augenzeugenberichts beschreibt Israel Cymlich auf Jiddisch die Verschönerung des Lagers unter Kurt Franz, hier mit seinem Spitznamen „Lalka“ (poln. Puppe) bezeichnet: „Die Lagerverwaltung und insbesondere

246 Laut Martin Holler wurde dieser Opfer auch später nicht eigens gedacht, lediglich in der Ukraine wurde 2005 der 2. August zum „Gedenktag des Holocaust der Roma“. (Der nationalsozialistische Völkermord an den Roma in der besetzten Sowjetunion (1941–1944). 2016: https://issuu.com/ newess/docs/gutachtenmartinholler) [1.9.2019] 247 Erinnerung eines Treblinka-Überlebenden, zitiert in Donat 1979.

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Lalka kamen auf die Idee, Treblinka herauszuputzen und in ein Schmuckstück zu verwandeln, auf das man stolz sein konnte.“ (Cymlich 2007) Kurt Franz ist bekannt durch das grauenerregende Foto-Album Schöne Zeiten, das er in Treblinka zusammengestellt hat (Kopówka / Rytel-Andrianik 2011, S. 79 und Hausser-Gans 2016, S. 47, 173); es enthält jedoch kein Foto des Täuschungsschildes Obermajdan. Mit Hilfe einer Bahnhofsattrappe und eines Schilds, auf dem der irreführende Ortsname Ober-Majdan stand, sollte der Eindruck erweckt werden, als handele es sich um einen harmlosen Umsteigebahnhof. Diese Täuschung bewirkte, dass die Todgeweihten bis zum letzten Augenblick nichts ahnten und die Ruhe bewahrten. Annika Wienert wies mich darauf hin, dass bereits in dem 1946 in Łódź erschienenen Band Dokumenty i materiały, tom 1: Obozy der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission Natan Blumental vermutet, dass aus taktischen Gründen oft ein und dasselbe deutsche Lager im Laufe der Zeit verschiedene Namen trug und nennt als Beispiel Treblinka – Obermajdan. Edward Kopówka und Paweł Rytel-Andrianik beschreiben den fiktiven Bahnhof ebenfalls und erklären die Bezeichnung Obermajdan damit, dass es „5 km vom Lager eine Siedlung namens Majdan“ gegeben hätte: An der Rampe befand sich eine große Baracke, in der die sortierten Sachen der Opfer gelagert wurden. Von der Rampe und den Gleisen aus gesehen ähnelte dieses Lager einem Bahnhof. Darauf stand eine große Inschrift „Ober Majdan“ [Widniał na nim dużych rozmiarów napis „Ober Majdan“]. Die Baracke hatte ein Fenster, das eine Kasse imitierte und oben befand sich eine gemalte Uhr. Die Pfeile zeigten in die Richtung der angeblichen Umsteigemöglichkeit nach Białystok und Wołkowysk und zu den Bädern. (Kopówka / Rytel-Andrianik 2011, S. 81)

Obermajdan war Bestandteil der sog. „Verschönerung“ (Camouflage) des Vernichtungslagers Treblinka II. Cymlich erinnert sich nicht nur an eine „falsche Tür“ und eine riesige „falsche Uhr“, sondern auch an eine Karte mit Bahnstrecken, die die Station Obermajdan enthielt: Der gesamte Ankunftsplatz wird für einen speziellen Zweck hergerichtet. So hängt zum Beispiel eine große Tafel am Eingang, auf der „Station Obermajdan“ und nicht Treblinka steht. Ein großer Pfeil weist auf das Tor des Umschlagplatzes und zeigt „Verbindungen nach Bialystok und Wolkowysk“ an. Die Türen und Fenster der Baracken, die parallel zur Rampe stehen und als Magazine für die Kleidung und die anderen Güter aus den Transporten dienen, werden mit Schildern „Warteraum erster Klasse, zweiter Klasse und dritter Klasse“ verziert. Über einem der größeren Fenster befindet sich eine Tafel mit der Aufschrift „Fahrscheine“. An einer Wand gibt es eine große Streckenkarte der „Station Obermajdan“. An anderen Fenstern erscheinen Wegweiser wie „Auskunft“ und „Stationsvorsteher“. An den Wänden zeigen große Pfeile „Zu den Toiletten“ und „Zum Parkhaus“. Eine falsche Tür ist an die Wand gehämmert, und an die Tür ein Schild „Stationsvorsteher“. An auffälliger Stelle wird eine falsche Uhr mit einem Durchmesser von 70 Zentimetern aufgehängt. All diese Dekoration dient begreiflicherweise dazu, die Neuankömmlinge zu verwirren und ihnen den momentanen Eindruck zu verschaffen, dass sie lediglich an einem Durchgangsbahnhof eingetroffen seien.248 248 Israel Cymlich und Oskar Strawczynski 2007, zitiert nach der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Frank Beer; Strawczynski erwähnt hier im Kap. 7 über die Verschönerung, dass das 157

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Auch von jüdischen Häftlingen geschnitzte Holzschilder durften nicht fehlen, mit stereotypisierten Figuren, wie etwa ein Jude mit Bart und Brille: Lalka reicht dies alles noch nicht. Er ist ständig auf der Suche nach Holzschnitzern unter den Neuankömmlingen. Im Januar findet er schließlich zwei in einem Transport aus Warschau. Einer von ihnen ist ein sehr talentierter Handwerker. Seine erste Aufgabe besteht darin, illustrierte Hinweisschilder zu kreieren, die auf den Straßen von Treblinka aufgestellt werden. Auf der Straße zur Rampe steht ein Schild „Zum Bahnhof“ mit einem geschnitzten Bildnis von Juden, die bärtig und mit Brille ihre Habseligkeiten zum Bahnhof schleppen. Auf dem Weg zu den Ställen gibt es ein Schild mit Kühen, Hühnern und einem Hirten, das „Zum Vieh“ lautet. Der Wegweiser „Zur Kaserne“ zeigt marschierende Soldaten. Auf dem Weg zu unserem Quartier ist der Wegweiser „Zum Ghetto“ mit einem Bild von Juden geschmückt, die Werkzeuge wie Schaufeln, Hämmer und Spitzhacken tragen. […] Momentan arbeitet unser Bildhauer an einem steinernen Frosch, der in der Mitte eines Teiches im Zoo aufgestellt werden soll, und aus dem Froschmund soll eine Fontäne sprühen. (Cymlich 2007)

Solche Potemkinschen Dörfer erinnern an die – übrigens zeitgleich begonnene – „Verschönerung“ von Theresienstadt, also jenes böhmischen Ghettos, welches bald in ein „jüdisches Siedlungsgebiet“ umbenannt wurde. Es fällt auf, dass in dem Sommer 1944 gedrehten „Dokumentarfilm“, der das verschönerte Theresienstadt zeigt, ähnliche Motive vorkommen, wie etwa eine Brunnenskulptur, Badehäuser, mit Viehzucht befasste Juden und zahlreiche Schilder, ebenso alpenländisch mit Schnitzereien verziert wie in Treblinka. Auch wenn die Deck-Bezeichnung „Obermajdan“ offensichtlich geheim war, gab es für viele der an diesen Ort gebrachten Passagiere kein „Treblinka“, sondern sie kamen in „Obermajdan“ an, für das manche sogar Fahrkarten gelöst haben sollen, und wurden dort zum Entkleiden aufgefordert und dann in eines der Bäder mit Gaskammern geführt. In der Wahrnehmung der 1943 hier Ermordeten war das fiktive Reiseziel Obermajdan der letzte geografische Berührungspunkt mit der Welt – auch wenn der Ort sich von dem, wie sie ihn sich vorgestellt hatten, unterschied. Manchen hatten ihn gar ersehnt, wie die jüngsten Reisenden: „Die Kinder der Passagiere liefen bei den Zwischenhalten aus dem Zug und fragten: Wann kommen wir endlich in Obermajdan an?“249 Allein aus dem Protektorat wurden 1942-43 8000 Menschen hierher gebracht, meist via Theresienstadt, andere kamen vom Balkan. Gerade die Mittel- und Südeuropäer starben im Bewusstsein in einem Ober-Majdan angekommen zu sein und wurden von denjenigen, die von ihrer Abreise wussten (Familie, Freunde oder Nachbarn) auch zunächst dort vermutet. Bis heute trägt diese von den österreichischen SS-Offizieren erdachte perfide Täuschung zur Veruneindeutigung sowohl der Orte wie auch Umstände des Todes der jüdischen Opfer

Schild „Treblinka“ durch „Obermajdan“ ersetzt wurde (für diesen Hinweis danke ich Annika Wienert). Das jiddische Manuskript stammt aus dem Jahr 1944. 249 „Дети пассажиров выбегали на промежуточных станциях и спрашивали, скоро ли будет Обер-Майдан.“ (Grossman 2002)

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bei, die in der späteren, der dritten Phase von Treblinka II, auch „‚Obermajdan‘ Treblinka (phase three)“ (Baxter 2016) genannt wurde. Nach dem Krieg wurden die Täuschungsmanöver für den Internationalen Militärgerichtshof dokumentiert, wobei nie geklärt wurde, wann Treblinka II zu Obermajdan wurde und ob diese Bezeichnung mit der Errichtung des „Potemkinschen Bahnhof“, die laut A. Rückerl (1977, S. 201) Weihnachten 1942 stattfand, zusammenfiel. Dies demonstriert Chr. Tögels Studie (1990) zur Ankunft von Sigmund Freuds Schwester Rosa, die aus „Oberdonau“ nach Theresienstadt deportiert worden war und bald weiter nach in Treblinka geschickt wurde, wo sie einige Wochen davor ankam und die Täuschung bereits vorfand. An die Ankunft der Wienerin erinnerte sich am 27. Februar 1946 in Nürnberg der Überlebende Samuel Rajzman:250 Im Zuge der Vernehmung fragte ihn Oberjustizrat Smirnow: „Ich bitte Sie, Herr Zeuge, zu erzählen, wie Kurt Franz die Frau getötet hat, die sich als Schwester Sigmund Freuds ausgab? Erinnern Sie sich dessen?“

Und Rajzmans Antwort lautete: „Das war so: Der Zug kam aus Wien an. Ich stand damals auf dem Bahnsteig, als die Leute aus den Waggons geführt wurden. Eine ältere Frau trat auf Kurt Franz zu, zog einen Ausweis hervor und sagte, daß sie die Schwester von Sigmund Freud sei. Sie bat, man solle sie zu einer leichten Büroarbeit verwenden. Franz sah sich den Ausweis gründlich an und sagte, es sei wahrscheinlich ein Irrtum, führte sie zum Fahrplan und sagte, daß in zwei Stunden ein Zug nach Wien zurückgehe. Sie könne alle ihre Wertgegenstände und Dokumente hierlassen, ins Badehaus gehen, und nach dem Bad würden ihre Dokumente und ihr Fahrschein für sie nach Wien zur Verfügung stehen. Natürlich ist die Frau ins Badehaus gegangen, von wo sie niemals mehr zurückkehrte.“ (IMG 1947, S. 360)

Wo genau Rosa Graf, geb. Freud, Ende September 1942 angekommen sein mag, ob in Treblinka oder Obermajdan, ist bis heute unklar251 – ein Effekt der deutschen Geheimhaltung und Spurenverwischung, den auch die sowjetischen Befreier nicht beseitigten. Für die Existenz eines „Ober-Majdan“ brauchte man kein Schild und keinen Bahnhof, hierzu genügte ein Wort, dass den Deportierten (etwa im Ghetto) oder im Transport selbst von Eichmanns „Logistikern“ mitgeteilt wurde. Treblinka II – Ober-Majdan selbst war bald wieder verschwunden, da bereits im Sommer 1943 alle Spuren – auch die der Täuschung – von den Tätern entfernt worden waren. Das 250 „Er war im August 1942 im Warschauer Ghetto verhaftet und nach Treblinka verbracht worden. Überlebt hat er dank eines Freundes aus Warschau, der im Lager Aufseher über die jüdischen Arbeiter war und ihm einen Posten als Dolmetscher aus dem Hebräischen verschaffte.“ (Rajzman, „The End of Treblinka“, in Donat 1979, S. 242). 251 Auch die Studie von Hausser-Gans (2016, S. 171–3) kann den genauen Zeitpunkt der Umbenennung nicht nennen. Laut Witold Chrostowski (2004, S. 76) ist auf Himmlers Geheiß dieser neue Name Mitte März 1943 – nach der Stalingradwende – eingeführt worden. 159

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einzige mit dem Genozid verbundene Majdan, dass es noch gab, war die Lubliner Vorstadt, die von den sowjetischen Befreiern zum Emblem des Massenmords an Menschen aus ganz Europa gemacht wurde. Zum Vergleich: An dem Ort, der heute KZ Majdanek genannt wird, beträgt die Zahl der jüdischen Opfer weniger als ein Zehntel der von Treblinka II. Und zum 31.12.42 betrug die Todesstatistik im „Vernichtungslager Majdanek“ (L 24733) einen Bruchteil derjenigen von „Ober-Majdan“ (T 713555). Während Höfle mit einem Majdänchen (unter 80.000) zu tun hatte, waren Eberl und dann Stangl für ein ausgewachsenes Ober-Majdan (mindestens 800.000) zuständig. Diese Gruppe von Österreichern scheint den gleichen Typus von Humor gehabt zu haben, den sie für die Erfindung eines ‚Ober-Lagers‘ aufwendeten. Nun wird auch verständlich, warum die SS im Juli 1944 kein Interesse daran hatte, das im Verhältnis zu den umliegenden Lagern weniger letale Majdanek zu zerstören – im Vergleich zur Dringlichkeit der bereits erfolgten Beseitigung der Spuren von Belzec, Sobibor und Treblinka. Allein in Sobibor und Belzec hatte die SS weitere 850.000 Menschen ermordet. Im Vergleich dazu war das KL Lublin/Majdanek mit seinen insgesamt 79.000 Opfern ein Unter-Majdan (59.000 Juden und ca. 20.000 anderer Nationalitäten, politische Gefangene und Kriminelle). Vergleicht man es mit den umliegenden aufgefundenen Vernichtungslagern, ist Lublin/Majdanek das geringste darunter.252 Das hinterlassene KL Lublin, von den Sowjets als Majdanek bezeichnet, war Bestandteil der Strategie einer Camouflage oder Bagatellisierung des Genozids, die von der sowjetischen Seite nicht maßgeblich aufgedeckt wurde. Wenn die Außerordentliche Kommission über diesen Tatbestand informiert war, erschien auch ihre Präferenz für die Diminutivform von Majdan (=Majdanek) gerechtfertigt. Vasilij Grossman war es gelungen, den in Treblinka Ermordeten ein Denkmal zu setzen: Angehörige derjenigen, die eine Fahrkarte nach Ober-Majdan gelöst hatten, konnten unmittelbar nach der Befreiung aufgrund von Grossmans literarischem Text „Die Hölle von Treblinka“ immerhin rekonstruieren, wo ihre Familienmitglieder ermordet wurden. Hier triumphierte das die Zensurhürde leichter nehmende Printmedium über das Zelluloid. Lublin/Majdanek war ein „furchtbarer“ Ort, aber im Vergleich zu „Obermajdan“ konnte man dort ab 1942, d. h. während die sog. „Endlösung“ auf Hochtouren lief, überleben, v. a. wenn man Berufskrimineller war oder „Politischer“ und in der kommunistischen Partei organisiert; oder wenn man sich arrangierte, was einige Kriegsgefangene getan hatten. Und man durfte kein Jude oder Roma sein. Aber auch diese zum Sterben bestimmten Gruppen überlebten – wenn sie zur Zwangsarbeit oder Vertuschungsarbeiten im Rahmen der „Enterdung“ ausgewählt wurden wie Reznik – in Lublin/Majdanek länger als in Treblinka.

252 Die von Kranz (2005) genannte Gesamtzahl von 79.000 Opfern für das KL Lublin wird aufgrund der guten Dokumentationslage in der Zukunft kaum stark korrigiert werden. Anders in Maly Trostinez (Reichskommissariat Ostland), wo die Opferzahlen aufgrund der fehlenden Dokumentation bis heute stark schwanken (zwischen 65.000 und 200.000). I. Ėrenburg (Ehrenburg) nannte – auch aufgrund der Liquidierung des Minsker Ghettos – die Zahl von 206.500 (Smilovitsky 1999).

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Die wahre „Todesfabrik“ war also nicht Majdanek, sondern Treblinka/Ober-Majdan. Und an dieser geheimen „Richtstätte“, die Beraubung wie auch Vernichtung diente, stand auch keine gestreifte Sträflingskleidung zur Verfügung, die woanders die „Politischen“ trugen und die – auch aufgrund der frühen KZ-Filme (Majdanek und die in Häftlingskluft gesteckten Kinder von Auschwitz) – heute zu einer unspezifischen Trope für das KZ, aber auch den Holocaust geworden sind. Sowohl die Tätowierung als auch gestreifte Kleidung253 indizieren eine Chance aufs Überleben, eine Teilnahme am Lagerleben nach der Selektion – der Stereotyp des intellektuellen Juden mit Brille wiederum hatte kaum eine Chance, die Selektion zu bestehen. Auch wenn diese „Fabrik“ nur klein war, war sie – im Gegensatz zu Lublin/Majdanek –vollständig ausgerichtet auf die farnichtung. Treblinka (und nicht Majdanek) ist in vielen Aspekten die „Todesfabrik“, die in den Majdanek-Filmen geschildert wird. Aufgrund der beschränkten Anzahl von Gebäuden (Wachtürme, Baracken, Gaskammern, Verbrennungsgruben, die als „Lazarett“ getarnte Erschießungsanlage), die von der SS 1943 zerstört werden konnten, war Treblinka/Ober-Majdan von Anfang an dafür vorgesehen, wieder vom Erdboden zu verschwinden. Doch v. a. in der Hitze des Sommers ergaben sich unvorhergesehene Probleme, sie waren unterirdischer Art und schwer zu beseitigen, denn noch im Sommer 1944 manifestierten sie sich im grauenhaften Wogen der „grundlosen Erde“, die „aufgequollen und fett“ (Grossman 1946) war, da sie Hunderttausende von Ermordeten barg. In Treblinka II waren Lupinen gesät worden, um die Spuren der Ermordeten in der Erde, die sie an manchen Stellen freigab, zu überdecken, wie Grossman dies in „Die Hölle von Treblinka“ beschrieben hat: Die Erde speit Knochensplitter aus, Zähne, Dinge, Papiere, sie will das Geheimnis nicht bewahren. Und die Dinge kriechen aus der berstenden Erde, aus ihren unvernarbten Wunden. Da sind sie – die halbvermoderten Hemden der Ermordeten, Hosen, Schuhe, grün angelaufene Zigarettenetuis, Uhrrädchen, Federmesser, Rasierpinsel, Leuchter, Kinderschühchen mit roten Pompons, bestickte ukrainische Handtücher, Spitzenwäsche, Scheren, Fingerhüte, Korsetts, Bandagen, und ganze Haufen von Geschirr klettern aus den Erdspalten an die Oberfläche: Pfannen, Aluminiumbecher, Tassen, Kochtöpfe, Töpfchen, Schüsseln, Kannen, Essenträger, kleine Kindertassen aus Galalith. Immer weiter gehen wir über die grundlose, schwammige Erde von Treblinka […] (Grossmann 1946)

Der ehemalige Direktor des Museums von Treblinka erinnert sich, dass die Lupinen von Anwohnern gesät worden wären, die dann auf einer Pflanze – wie im Märchen – einen Goldring gefunden haben.254 In diesem Kontext ist auch auch P. Celans 1959 entstandenes

253 Schmidt (2000, S. 252) weist auf ihren „stärker symbolisch-appellierenden als dokumentarischen Charakter“ hin, da keineswegs „alle Ermordeten Zebra-Kleidung trugen“, wie oft in Ausstellungen und Filmen suggeriert: „Das ist historisch nicht richtig, nur die in das Lager aufgenommenen Menschen erhielten überwiegend bis 1942 gestreifte Kleidungsstücke.“ 254 Głuchowski, Piotr und Marcin Kowalski. 2008. Gorączka złota w Treblince. Gazeta Wyborcza, 8. Januar 2008. 161

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Gedicht „ES WAR ERDE IN IHNEN, und sie gruben“ zu sehen, das mit einem ähnlichen Motiv endet: „O du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu, und am Finger erwacht uns der Ring.“ (im Band Niemandsrose). Während der ersten Phase des Vernichtungslagers Treblinka, wie sie etwa Stangl beschreibt, kam es aufgrund der von Eberl angeforderten Transporte255 zu einer Überlastung, die zugleich enthüllte, warum der erste Kommandant – und nicht nur er – Interesse daran hatte, viele Juden v. a. aus dem nichtsahnenden besetzten Europa direkt nach Treblinka schicken zu lassen: Sie reisten arglos mit ihren Wertsachen an, die sie bei der Ankunft abgeben mussten, bevor sie angeblich ins Bad geführt wurden. Verheimlichte Wertsachen wurden entweder bei lebendigem oder totem Leibe extrahiert oder blieben in jenen Menschenkörpern, die (noch) nicht verbrannt oder in Massengräber geworfen worden waren. Dies führte dazu, dass Treblinka II, oder besser gesagt: Ober-Majdan, bald zu einem Ort der Grabplünderer wurde. Dieser Ort ist ein extremes Beispiel der „Goldenen Ernte“ (Gross / Grudzinska-Gross 2011), da die Bevölkerung – „Hyänen aus dem Umland“ (okoliczne hieny) – nach Schmuck und Geld grub, das in den chaotischen Phasen der „Aktion Reinhardt“ nicht sortiert oder geortet worden war bzw. sich noch in den Leichnamen oder der Asche befand.256 Im Oktober 1946 wurden Grabschänder verhaftet, die in Treblinka „Leichen geschändet und Schädelknochen (czaszki) entzweigeschlagen haben“; an diesem Ort, dem „Denkmal des polnischen und internationalen Martyriums,“ wurde „die Goldsuche auf den Gräberfeldern organisiert betrieben.“257 Eine bis heute umstrittene Fotografie (Abb. 1.8) zeigt Uniformierte und Anwohner, die offensichtlich mit den sterblichen Überresten zu tun hatten und die Knochen und Schädel in einer Reihe bzw. zu dekorativen Mustern anordneten. Ähnlich säuberlich geordnete sterbliche Überreste finden wir auch in Film- und Fotoaufnahmen aus Majdanek aus dem Sommer 1944. Übte der Fotograf bzw. die Filmleute in ihren Aufnahmen der exhumierten Überreste etwa Kritik an den Massengrabschändern? Diese Aufnahme von Karmen könnten jenes doppelt forensische Moment enthalten – ich werde später auf die Aufnahmen der Knochenberge noch einmal zurückkommen (Abb. 3.13).

255 Zu der Erschöpfung der Kapazitäten führte Eberls Gier nach Deportierten, die in einer Menge von nicht „entsorgten“ Leichen resultierte, so dass die „Irreführung“ nicht mehr aufrechterhalten werden konnte (Liebrandt 2017, S. 205). 256 Vgl. auch Strothmann 1967: „Als die polnischen Behörden im November 1945 die eingeebnete Mordstätte untersuchten, mußten sie sieben Meter tief graben, um auf Spuren zu stoßen – auf Schädel, Knochenreste und Geldstücke. Die Münzen stammten aus allen Teilen Europas. In Treblinka, Sobibor und Belzec waren über 1,5 Millionen Juden ermordet worden. Die Transportbegleitscheine der Deutschen Ostbahn bestätigten diese Zahl.“ 257 KW, Głos Ludu Nr. 298, 27.10.1946. Aus einem Leserbrief an die Zeitung Robotnik geht hervor, dass bei Treblinka von Fliegen umschwärmte Leichenteile herum liegen (abgedruckt in Polska zbrojna Nr. 213; 7.9.1946; Presse zit. nach Friedrich 2002, S. 443. Auch sowjetische Soldaten sollen sich daran beteiligt haben. Zum Grabraub – einem Sakrileg aus russ.-orthodoxer Perspektive – in früh-sowjetischer Zeit vgl. Drubek (2012, S. 501–2).

3.5 Das 1944 aufgezeichnete und vernichtete Lager

163

Abb. 3.13 Ein Foto von Karmen in Majdanek, wie er die in eine Dreiecks-Ordnung gebrachten und aufgerichteten Schädel filmt, die in eine Richtung schauen (vgl. Abb. 1.6, wo die Schädel durcheinander liegen).

Das von Grossman und Glazar beschriebene Bahnhofsschild „Ober-Majdan“ weist in vielerlei Hinsicht nach Österreich. Die Kommandanten von Treblinka und Sobibor stammten aus dem Salzkammergut, das nach dem „Anschluss“ mit dem Phantasienamen „Reichsgau Oberdonau“ bezeichnet wurde. W. Garscha (2004) schreibt: „Der am 19. 6. 1911 in Salzburg geborene SS-Funktionär Höfle war einer der vielen Österreicher im Stabe Odilo Globocniks, des Höheren SS- und Polizeiführers im Distrikt Lublin und Hauptverantwortlichen für die Ermordung der Juden im polnischen ‚Generalgouvernement‘.“ Der Salzburger Höfle (Salzburg 1911 – 1962, durch Selbstmord in Wien nach seiner Verhaftung) war es, der in der Lubliner Chopinstraße 27 eine Stelle zur Erfassung und Aufbewahrung der in den Filmen sichtbaren Kleidung und Habseligkeiten der Ermordeten eingerichtet hatte.258 R. Banken (2009, S. 591) schreibt: „[Globocnik] beauftragte am 15.7.1942 Wippern und den SS-Hauptsturmführer Höfle eine Zentralkartei für die gesamten anfallenden Werte aus der ‚Judenumsiedlung‘ zu erstellen. Bei Wippern sollten alle Edelmetallgegenstände, De258 Das sog. Lubliner „Erfassungslager für beschlagnahmtes Feindvermögen“, geleitet von dem Schatzmeister der „Aktion Reinhardt“ Georg Wippern, der nicht Globocnik, sondern dem WVHA (SS-Wirtschafts und Verwaltungshauptamt) unterstand (Banken 2009, S. 590). 163

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3 Schädel, Objets trouvés und fiktiver Rauch

visen usw. erfasst werden, bei Höfle alle Kleidungsstücke und Schuhe.“ Laut Banken (2009, S. 591) besuchte Himmler dieses „Effektenlager“ und „Schatzhaus“ von Lublin am 27.7.1942. Obwohl Höfle von 1940 bis 1943 als treuer Gefolgsmann für Globocnik tätig war,259 blieb er auch nach dessen Versetzung Stabsführer in Lublin und wirkte hier bei der „Aktion Erntefest“, der Massenerschießung von Juden aus den Zwangsarbeiterlagern im Distrikt Lublin im November 1943, die apokalyptische Ausmaße erreichte. Ebenfalls aus Oberösterreich stammte Franz Stangl, der berüchtigte Lagerkommandant von Treblinka. Im Urteil gegen Stangl heißt es: Anlässlich eines Besuches in Lublin am 12. Februar 1943 ordnete Himmler mit der Beförderung mehrerer „verdienter“ Männer der „Aktion Reinhard“ auch die Beförderung des Angeklagten zum SS-Hauptsturmführer an. Die Beförderung wurde auch später mit Wirkung zum 12. Februar 1943 ausgesprochen. In den Beförderungsvorschlägen Globocniks wurde der Angeklagte als „bester Lagerführer, der den grössten Anteil an der ganzen Aktion hat“, vor den anderen Lagerleitern besonders hervorgehoben. Unter seiner verantwortlichen Mitwirkung oder Leitung wurden in Treblinka mindestens 400.000 Menschen allein im Rahmen der Massentötungen umgebracht.

Sein Vorgänger war der in Bregenz geborene Psychiater Dr. Irmfried Eberl (1910–1948, Selbstmord). Stangl erinnert sich 1970 in seinem Gespräch mit Gitta Sereny (2001, S. 117) an seinen Besuch von Eberl in Treblinka, wo SS-Männer und Wachen durch Kleider, Geld, Schmuck wateten, die den Ermordeten abgenommen worden waren.260 Das Sortierwesen und die Berge von Objekten in Lublin/Majdanek sind ein Echo dieser grauenhaft-fantasmagorischen Treblinka-Szenerie, die in keinem Film festgehalten wurde. Das unvergleichlich grausamere „Ober-Majdan“ existierte zu dem Zeitpunkt, als alliierte Kameras auf polnischem Boden filmten, nicht mehr, nur noch das kleine Majdan, eine abgeschwächte Version von Treblinka I, das Grossman wiederum als „verkleinertes Majdanek“ charakterisierte. Treblinka/„Ober-Majdan“ war ebenso gesetzlos wie Lublin/Majdanek, dessen Lagerkommandanten (der erste hieß Koch und der dritte Florstedt) im April 1945 wegen Unterschlagung von einem SS-Gericht zum Tode verurteilt wurden.

259 Höfle kam auf Empfehlung von Eichmann nach Lublin; eine Liste des Globocnik-Stabs in Lublin findet sich hier: http://www.deathcamps.org/lublin/pic/globuslist.jpg. [15.7.2018] 260 „I drove there, with an SS driver….We could smell it kilometers away. The road ran alongside the railway tracks. As we got nearer Treblinka but still perhaps fifteen, twenty minutes’ drive away, we began to see corpses next to the rails, first just two or three, then more and as we drove into what was Treblinka station, there were hundreds of them – just lying there – they’d obviously been there for days, in the heat. In the station was a train full of Jews, some dead, some still alive – it looked as if it had been there for days. When I entered the camp and got out of the car on the square I stepped knee-deep into money; I didn’t know which way to turn, where to go. I waded in notes, currency, precious stones, jewelry, clothes… The smell was indescribable; the hundreds, no, the thousands of bodies everywhere, decomposing, putrefying. […] Dr Eberl, the Kommandant showed me around the camp, there was shooting everywhere …I asked him what was happening to the valuables, why weren’t they being sent to the HQ.“ (Sereny 2001, S. 117–118)

3.5 Das 1944 aufgezeichnete und vernichtete Lager

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Stangl wurde 1908 im oberösterreichischen Altmünster am Traunsee geboren und starb 1971 an Herzversagen in einem Gefängnis in Düsseldorf.261 Altmünster ist ein Durchgangsbahnhof der 1877 eröffneten Salzkammergutbahn, an der ebenfalls mehrere ‚Ober‘-Orte mit der Bahn erreicht werden können, wie Oberbrunn und Obersee (Bad Goisern). Einige dieser Orte waren bereits vor dem 2. Weltkrieg touristische Ziele wie etwa die Obertraun-Dachsteinhöhlen.262 Wenn nichtsahnenden Ankömmlingen aus verschiedenen Teilen Europas Treblinka II – die nach Auschwitz zweitgrößte Mordstätte des Holocaust – als Zielstation „Ober-Majdan“ präsentiert, wurde, konnte diese sprachliche Konstruktion an reale Ortsnamen wie Oberglogau in Oberschlesien, das ebenfalls eine Kombination aus einem deutschen und einem slawischen Wort darstellt (die Stadt heißt auf Polnisch Głogówek) evozieren, oder aber Ausflugs- oder Alpenorte wie Oberwiesenthal oder Oberammergau. Wenn das „obere Lager“ Treblinka II aufgrund des ansteigenden Geländes Ober-Majdan genannt wurde, mag dies auf den Oberösterreicher Stangl zurückgehen, der sich auf Kosten der Deportierten – darunter Landsleuten wie Freuds Schwester Rosa – einen Spaß erlaubte. Als Franz Stangl 1967 verhaftet wurde, konnte man in der deutschen Wochenzeitung Die Zeit folgende treffliche Beschreibung lesen, beruhend auf Berichten von Überlebenden: Zu Stangls „einmaliger“ Leistung gehörte auch der so friedlich anmutende Provinzbahnhof. Eine Attrappe. Die Türen mit den Aufschriften, die Fenster mit den Vorhängen, der Kartenschalter mit dem Gitter – alles nicht echt. Sie waren perspektivisch getreu gemalt. Das ‚Rote Kreuz‘ war eine Lüge, und die Uhr aus Holz. Die Zeiger standen fest: drei Uhr. Die Juden, die hier ankamen und ausstiegen, sollten glauben, sie würden am Leben bleiben, kämen in ein Arbeitslager. Noch vor Treblinkas Gaskammern sollten sie denken, daß ihnen nichts Böses geschähe. Vor einem der Todestore hing ein Vorhang aus einer Synagoge. Darauf stand in hebräischer Schrift: „Dies ist das Tor, durch das die Gerechten eingehen.“ Nur zwanzig Monate lief Treblinkas Todesfabrik auf vollen Touren. Aber Franz Paul Stangl, Lagerchef vom August 1942 bis August 1943, erfüllte dennoch sein Plansoll. Er war ein Meister des Todes. (Strothmann 1967)

Eins fehlt hier jedoch, und das ist die Information zu Obermajdan – laut Michèle Hausser-Gans (2016, S. 47, 171) war es tatsächlich Franz Stangl, der Treblinka die „beschwichtigende Bezeichnung“ („appellation rassurante“) Obermajdan verlieh. Nach dem Krieg wurde nicht Treblinka-Obermajdan zur Gedenkstätte, sondern Majdanek – dem Ort mit der vergleichsweise kleineren Opferzahl der farnichtung. Das als Ober-Majdan getarnte Treblinka teilt mit Majdanek den Wortstamm, denn sowohl Ober-Majdan als auch Majdanek gehen auf das Wort majdan zurück, das so zum universellen Platzhalter wird für einen externalisierten Ort, der überall und nirgends ist. Linguistisch hybrid steht Ober-Majdan 261 Justiz und NS-Verbrechen Lfd.Nr.746m VI (zur Funktion des Angeklagten in der „Aktion Reinhard“, insb. seiner Stellung, Aufgaben und Tätigkeiten als Lagerleiter des Vernichtungslagers Treblinka vgl. https://web.archive.org/web/20110915123355/http://www1.jur.uva.nl/junsv/ excerpts/746005.htm [15.1.2018]) 262 Fotografien der Bahnhöfe an dieser Bahnstrecke finden sich hier: https://bahnarchiv.zenfolio. com/f670349571 165

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3 Schädel, Objets trouvés und fiktiver Rauch

für den – aus der Perspektive der slawischen Toponyme Lublin und Treblinka – nach außen verlagerten, ‚fremden‘ Genozid der deutschen Täter an jüdischen Opfern.

3.5.6 Totalitär belasteter Boden: Exhumierung damals und heute Das österreichisch-schwarzhumorige Wort Ober-Majdan beschreibt keinen realen Ort, es sind nur Buchstaben auf einem Schild, Betrug und kurzlebige Fiktion für die Opfer. Und doch ist es im Vergleich zu dem bei Lublin liegenden Majdanek ein ‚Ober-Lager‘, die ultimative Richtstätte der Region der „Aktion Reinhardt“. Wenn die Deportierten in den Bahnwaggons fragten, wann sie endlich in Ober-Majdan wären, kann sich dieses Quasi-Toponym auch auf andere Orte der farnichtung beziehen. Es ist ein virtueller und unnachprüfbarer Ort – und in seiner Unwirklichkeit ist das totalitäre Tarnlager und die Lagertarnung Ober-Majdan überall und nirgends. Diese Qualität hat nach der Zerstörung von Treblinka/Ober-Majdan das ehemalige KL Lublin übernommen, das im Sommer 1944 in ein allgültiges Majdan(ek) umbenannt wurde, als bliebe den Befreiern nichts Anderes übrig, als auf der Welle des Zynismus der nationalsozialistischen Täuschung weiterzureiten. Ob die Geheimoffiziere in Lublin nachrichtendienstlich über Ober-Majdan Bescheid wussten, in der Zwischenzeit etwa auch Grossmans Text über den deutschen Trick von Ober-Majdan gelesen oder selbst das Schild in Treblinka sichergestellt hatten, ist nicht bekannt. Vor dem Hintergrund des eigenen Gulag-Strafsystems (Glavnoe upravlenie ispravitel’no-trudovych lagerej i kolonij, wörtlich übersetzt: „Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und -kolonien“)263 mochten die Sowjets die Opferzahl des Lagers Lublin als gering empfinden. Im Hinblick auf das KL Lublin/Majdanek entschied man sich, aufgrund der Zahl der gefundenen Schuhpaare zu extrapolieren, dass in „Majdanek“ 1,5 Millionen ermordet wurden (die reale Opferzahl der „Aktion Reinhardt“ betrug 2 Mill.). Gerade das einstige polnisch-sowjetische Grenzgebiet birgt bis heute Herausforderungen für die Forensik. In den 1990er Jahren begann man in Russland Exhumierungen, die eigene Verbrechen zu Tage gefördert haben. So wurden Massengräber, die im Rahmen der Ermordungen von polnischen Bürgern im Jahr 1940 geschehen waren, aufgespürt und geöffnet. In Mednoe (bei der Stadt Kalinin, heute Tver’) wurden in den Jahren 1991 und 1995 die Leichen von über 6000 Polen, in erster Linie Polizisten, in 23 Gräbern gefunden; ihre blauen Dienstmäntel hatten durch ihre schiere Menge die Erde blau gefärbt (Abb. 3.14).

263 In Stalins Gulag waren insgesamt mindestens 18 Millionen Menschen inhaftiert, Kriegsgefangene und Sondersiedler nicht eingeschlossen (zu Gulag-Statistiken, auch im Vergleich zur zaristischen Katorga vgl. Applebaum 2003).

3.5 Das 1944 aufgezeichnete und vernichtete Lager

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Abb. 3.14 Artikel von Oleg Chlebnikov über die von den blauen Dienstmänteln der begrabenen Polen verfärbte „blaue Erde“ bei Tver’ in der Novaja gazeta vom 24.4.2019

Laut Oleg Chlebnikov (2019), der einen Bericht anlässlich einer 2019 von Memorial angekündigten Gedenk-Publikation zu Mednoe verfasst hat, sind diese Exhumierungen besonders heikel: Erstens fanden die Erschießungen nicht auf von den Deutschen besetztem Territorium statt, zweitens wurden die Polen mit deutschen Pistolen der Marke Walther erschossen, und zwar größtenteils mit deutscher Munition des Fabrikats Gustav Genschow. Eine Verpackung wurde am Tatort gefunden. Chlebnikov geht nicht weiter auf die Bedeutung dieses Befundes ein, jedoch mag die Verwendung von deutschen Waffen im Jahr 1940 nicht nur auf das Andauern des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts oder die Qualität deutscher Waffen zurückzuführen sein. Chlebnikov zitiert die Aussage des Geheimdienstoffiziers D. S. Tokarev aus dem Jahr 1991, dass nach Mednoe ein eigener „Koffer voller Walther-Pistolen“ gebracht wurde, der nach „getaner Arbeit“ unter „Verschluss war“.264 Die Walther ließ sich mit demselben Kaliber von 7,65 mm laden, dessen 264 Zitiert in Chlebnikov 2019. Über die verwendete Munition schreibt er: „[…] весной 1943 г. в ходе раскопок захоронений расстрелянных польских военнопленных в Катынском лесу были найдены стреляные гильзы марки Geco 7,65 D от пистолетных патронов калибра 7,65 мм, выпускавшихся германской фабрикой боеприпасов Gustav Genschow & Co, подходящих для пистолетов ‚Вальтер‘. Через несколько месяцев после допроса Д. С. Токарева, в ходе раскопок захоронений на территории дачного поселка УКГБ-УВД Калининской области близ Медного в августе 1991 г. были найдены гильзы калибра 7,65 мм и пистолетные пули от патронов того же калибра, с характерными следами полей и нарезов канала ствола, соответствующими пистолетам „Вальтер“, а в ходе раскопок там же летом 1995 г. была найдена фабричная упаковка от пистолетных патронов калибра 7,65 фирмы Gustav Genschow. Находки подтверждают, что для расстрела польских военнопленных и в смоленском, и в калининском областных УНКВД использовались пистолеты ‚Вальтер‘ и патроны немецкого производства.“ 167

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Spuren auch 1943 bei den Exhumierungen in Katyn’ gefunden worden waren. Vermutlich wurden bereits 1940 deutsche Waffen wie auch Munition der Fa. Genschow eingesetzt, um bei etwaigen späteren forensischen Untersuchungen die Verantwortung abwälzen zu können (Abb. 3.15).

Abb. 3.15 Kaliber 7,65 mm. Munitionsverpackung der Fa. Genschow, die 1995 in Mednoe gefunden worden war [Screenshot aus dem Internet 28.4.2019]; https://www. worthpoint.com/worthopedia/ammo-box-luger-p08-65-geco-parabellum-478835643

Felix Ackermann (2010, S. 170–171) beschreibt in seiner Kulturgeschichte der Stadt Grodno den Umgang der deutschen Besatzer bzw. der Anwohner mit Massengräbern angesichts der herannahenden Roten Armee: Im Mai 1944, als die Rote Armee bereits das vormalige Gebiet der BSSR erreicht hatte, wurde ein Sonderkommando aus ehemaligen Insassen des Ghettos in Białystok zusammengestellt und nach Grodno entsandt, um die Spuren von drei Jahren deutscher Besatzung zu beseitigen. Wie auch im Hof des städtischen Gefängnisses wurden die Leichen der Opfer von Massenexekutionen aus dem Erdreich gerissen und verbrannt, die Überreste nach Edelmetallen durchsucht, gesiebt und erneut an Ort und Stelle vergraben. Danach wurden an diesen Stellen Sträucher und Blumen gepflanzt. Ein Überlebender legte am 15. Juli 1945 in Białystok Zeugnis von der Beseitigung der Spuren der Stalags und des Durchgangslagers in Kiełbasino ab: „Die Gruben waren zumeist drei Meter tief. Die gleiche Arbeitstechnik wie zuvor. Wir haben an beiden Stellen etwa 10.000 Leichname ausgegraben. Sie waren noch immer frisch, die Gesichtszüge erkennbar. Ein Teil war vollkommen nackt, viele davon Frauen und Kinder. Ein Teil der Leichen hatte verbundene Hände und Augen. In einer Grube waren einige Hundert jüdische Leichname. Wir haben das an den Flicken auf der Kleidung erkannt. Einige von den Deutschen ausgemachte Gruben waren leer; wahrscheinlich hat die Bevölkerung diese

3.5 Das 1944 aufgezeichnete und vernichtete Lager

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Leichen selbst umgebettet. In anderen Gruben wurden sowjetische Patronen gefunden. In einer gesonderten Grube fanden wir zwei polnische Soldaten, die relativ gut erhalten und voll uniformiert waren.“

Wir sehen hier, dass Massengräber in dieser Region vielfältige Funktionen hatten. Exhumierungen finden auch heute statt und führen zu Ergebnissen, die erklären können, warum in den Jahren ab 1944 in Polen manche der von der SS initiierten Lager und Grabstätten geheim gehalten wurden. Sie betrifft die Jagd, die auf AK-Mitglieder und anti-sowjetische Partisanen gemacht wurde, so an vielen Orten im besetzten Polen, wo zuvor auch NS-Kriegsverbrechen begangen wurden: „Im Raum Białystok führt der NKWD in den Wäldern fortwährend Erschießungen von Soldaten der ehemaligen Armia Krajowa durch. Zum Verwischen der Spuren werden die Erschossenen in Massengräbern von Opfern verscharrt, die 1944 von der Gestapo ermordet wurden“ schrieb Anfang Mai 1945 der Oberstleutnant Władysław Liniarski, Kommandant der militärischen Nachfolgeorganisation der offiziell aufgelösten Heimatarmee, nach London (zitiert von Kołakowski 2003, S. 215–216). Heute werden archäologische Grabungen unternommen, um die Gebeine von Opfern zu finden und zu identifizieren, wie am 5.11.2015 der Radiodienst Polska berichtete, als die Überreste der AK-Angehörigen „Inka“ (Danuta Siedzikówna, geb. 1928) auf dem Friedhof von Gdańsk gefunden wurden: An insgesamt 16 Stellen in ganz Polen sind derzeit Exhumierungen im Gange. Die umfangreichsten Arbeiten finden in Białystok, im und um das Untersuchungsgefängnis in der Kopernikstrasse, statt. Das Gebäude war umgeben von einem großen Garten. Zuerst haben die Sowjets, die nach dem gemeinsamen Überfall mit Hitler auf Polen, Białystok zwischen September 1939 und Juni 1941 besetzt hielten, dort die Opfer ihrer Morde verscharrt. Dann waren es zwischen 1941 und 1944 die Deutschen. Anschließend wieder die Sowjets und ihre polnischen Helfer (Abb. 3.16).265

265 „Die Opfer der Deutschen liegen so, wie sie in die Grube gestürzt sind, niedergestreckt von MP-Garben. Die Opfer der Sowjets weisen alle einen Kopfschuss auf. Dazwischen ruhen oft, ordentlich aufgereiht, tote polnische ‚Banditen‘ mit unterschiedlichen Schussverletzungen, die die Überfallkommandos nach Zusammenstößen aufgelesen und zu den Gruben gebracht haben. Aber es gibt auch Gruben mit den Gebeinen von Frauen und Kindern. Handelt es sich dabei um Polen? Juden? Andere? Man weiß es nicht und wird es kaum mehr feststellen können.“ http://www.radiodienst.pl/archaeologie-des-terrors/ [1.2.2019] 169

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Abb. 3.16 Im Artikel „Archäologie des Terrors“, 5.11.2015 http://www.radiodienst.pl/ archaeologie-des-terrors/

Das Resultat der aktuellsten Grabungen zeigt, dass zahlreiche Massengräber von verschiedenen Tätern (wieder)verwendet wurden, was die Feststellung der Verantwortlichen enorm kompliziert. Auch wenn es sich hier ab dem 22. Juni 1941 um Feinde im Feld handelt, scheinen die beiden Unrechtsregime bei der Beseitigung unerwünschter Gruppen, wenn nicht Hand in Hand, so doch ohne gegenseitige Störung gearbeitet zu haben. Und dies gilt auch für die Verwischung der Spuren der Genozide und Massenerschießungen.

3.6 Was die „Filmdokumente“ 1944 hätten bewirken können

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Was die „Filmdokumente“ 1944 hätten bewirken können

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Was die „Filmdokumente“ 1944 hätten bewirken können

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In meinem Leben als Filmreporter gab es sensationelle Aufnahmen einiger Ereignisse, die die Geschichte geprägt haben, wie beispielsweise des Feldmarschall Paulus in Stalingrad oder die ersten Bilder in dem von unserer Armee befreiten Todeslager Majdanek, wie Deutschlands Unterschrift der Kapitulation, und die ersten Aufnahmen der faschistischen Anführer auf der Anklagebank in Nürnberg. (Karmen 2017, S. 9)

Aus in der Edition von Michajlov/Fomin (2010, S. 311) veröffentlichten Dokumenten geht hervor, dass sich die Leiter der Filmgruppen darüber beklagten, die Aufnahmen wären in manchen Fällen mehrere Monate nicht in die Kinos gekommen und hätten in der Zwischenzeit ihre Aktualität verloren. Dies war bei dem Majdanek-Material in extremer Form der Fall. Dieser Umstand ist zum einen den verschiedenen Stufen der militärischen und politischen Zensur geschuldet, zum anderen, dass einige Aufnahmen für eine spätere politisch oder juristisch motivierte Verwendung bestimmt waren. Viele der Majdanek-Aufnahmen kamen so gar nicht ans Licht und wurden erst in einem deutschen Dokumentarfilm der 1980er veröffentlicht und von den zur Mühlens mit einem kritischen Kommentar versehen, der noch vor dem eigentlichen Beginn der sowjetischen Perestrojka international half, Majdanek besser zu verstehen. Auch wenn die Lager-Aufnahmen im Sommer 1944 als sensationelle Reportage propagandistisch gerade im Ausland zum Einsatz hätten kommen können, musste das brisante Filmmaterial vier Monate warten,266 bis es erstmals auf eine Leinwand kam, bzw. nahezu acht, bis es im Westen bekannt wurde, d. h. nicht vor dem letzten Drittel des Monats April 1945.267 Dieses Timing war sicherlich nicht im Sinne der Reporter vor Ort – v. a. Karmen war bewusst, dass „die ersten Bilder in dem von unserer Armee befreiten Todeslager Majdanek“ zu den wenigen wirklich „sensationellen Aufnahmen“ gehörten – vergleichbar mit der Kapitulation und den Nürnberger Prozessen (Karmen 2017, S. 9). Der sowohl in der Presse und v. a. im Filmmedium verzögerte Zeitpunkt der Veröffentlichung bedeutete, dass sie auf das Überleben der Insassen der im Machtbereich des „3. Reichs“ verbleibenden KZs und Ghettos keinen unmittelbaren Effekt mehr haben konnte, etwa durch ein militärisches Eingreifen der Alliierten zuungunsten der im Sommer 1944 auf Hochtouren laufenden Vernichtungsfabriken mit den angeschlossenen Beraubungsstätten oder den Transportwegen nach Auschwitz, das in dem Monat von der SS bereits 266 Dass die späte Fertigstellung nicht immer technische Gründe hatte, zeigt sich darin, dass der sowjetische Film Sud narodov über die Nürnberger Prozesse dem US-amerikanischen Film zuvorkam („Schon einen Monat nach der Urteilsverkündung im November 1946 erschien Roman Karmens Film auf der Leinwand.“ Staatliches Filmarchiv der DDR 1971, S. 5). Ich habe keine Angabe gefunden, dass der Film sowjetischen Frontsoldaten zur Motivation gezeigt worden wäre. 267 Hicks 2012, S. 173 zur französischen Fassung im April. Laut Hicks (ibid., S. 174) wurde in den USA Ende April 1945 eine gekürzte Fassung gezeigt, die zusätzlich die Exekution der SS-Leute und eines Kapos vom 3.12.44 enthielt. Ab August 1945 wurde eine deutsche Fassung gezeigt. 171

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abgebaut wurde, als der Majdanek-Film in Polen lief und die Rote Armee vor Warschau zum Stillstand gekommen war. Ein Verhindern der letzten Monate des Massenmords an den Juden wäre denkbar gewesen, wenn jüdische Vereinigungen im Sommer 1944 besser informiert worden wären und geeignetes dokumentarisches Foto- und Filmmaterial zur Verfügung gehabt hätten, mit dem sie Druck auf die Öffentlichkeit und Politiker hätten ausüben können.268 Doch dies wurde von der sowjetischen Seite ebenso wenig zur Verfügung gestellt wie es westlichen Reportern nicht erlaubt wurde, auf eigene Faust Lublin/Majdanek zu erkunden. So kommt es, dass die erste größere amerikanische Majdanek-Bild-Publikation in Life Ende August den eigentlichen Nachrichten- und Sensationsgehalt von Majdanek nicht erfasst, sondern in konfuser Form meldet, „Russen erweisen vergasten und kremierten Juden die Ehre.“ Ein nüchterner Vergleich zeigt, dass beim Vernachlässigen des Genozids die Reportagen und KZ-Filme der Alliierten gar nicht so weit voneinander entfernt waren. 1944–45 wurden in für die breite Öffentlichkeit konzipierten Filmen die mehrheitlichen Opfer der KZs weder von der sowjetischen Seite noch den Westalliierten in ihren KZ-Filmen als Juden identifiziert, da diese Information propagandistisch im Krieg nur begrenzte Relevanz hatte und zugleich einer erneuten Brandmarkung gleichgekommen wäre. Man könnte einwenden, dass es auf der sowjetischen Seite sehr wohl Versuche gab, auf das spezifische Schicksal der Juden hinzuweisen, allerdings gelingen sie im Jahr 1944 in öffentlicher Weise v. a. in literarischer Form – wie in Grossmans „Die Hölle von Treblinka.“ Weniger erfolgreich war die Veröffentlichung der Sammlung von Dokumenten für das Schwarzbuch zum Mord an den Juden. Der Umstand, dass in der UdSSR die von den Autoren Vasilij Grossman und Il’ja Ėrenburg herausgegebene Černaja kniga / Das Schwarzbuch lediglich in zensierter Form auf Jiddisch erscheinen konnte, und die russische Publikation im Jahr 1947 unterbunden wurde, gehört in die einige Jahre später akut werdende antisemitische Kampagne gegen die „Kosmopoliten“ oder eines Anti-Zionismus in der UdSSR, die durchaus als Form des aktiven Antisemitismus verstanden werden können. Ich werde auch aufzeigen, wie ihre hässlichen Vorboten bereits während des Kriegs auftreten269 und sich in der Behandlung des Filmmaterials aus den KZs zeigen. Für den uns interessierenden Zeitabschnitt möchte ich jedoch Matthias Vetters nuancierte Beschreibung der stalinistischen „Minderheitenpolitik“ der Jahre 1944–47 zitieren:

268 Dies gilt u. U. auch für die Heimatarmee, auf deren Eingriffe zugunsten von Juden später eingegangen wird. Frank Golczewski (2003, S. 648–651) erwähnt die Auseinandersetzungen um mögliche Sabotagesprengungen der Strecken in die Vernichtungslager, u. a. Treblinka; von jüdischer Seite sei Ähnliches jedoch erst ab 1944 gefordert worden. 269 Vgl. hierzu Natacha Laurent (2012, S. 120), so etwa in Bezug auf die von I. Bol’šakov und I. Pyr’ev betriebene Russifizierungskampagne 1943 und der Suche nach einem „nationalen russischen Film.“ Laurent analysiert hier auch den 1940 von M. Romm in L’vov gedrehten Film Mečta / Der Traum, in dem „kein jiddisches Wort vorkommt“ (ibid., S. 127) und Romms Reaktionen auf Antisemitismus.

3.6 Was die „Filmdokumente“ 1944 hätten bewirken können

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In der Nachkriegssowjetunion unterlag schon die Beschreibung des Holocaust durch das Abheben der Juden von der sowjetischen „Völkergemeinschaft“ dem Verdacht des „jüdischen Nationalismus“. Grenzüberschreitende jüdische Solidarität war als Bindemittel der sowjetisch-amerikanischen Kooperation bis 1945 als nützlich erachtet und propagiert worden, im Kalten Krieg galt das Festhalten an ihr als Indikator für kollektive Illoyalität und Hinwendung zum Westen.270

Auch wenn Jeremy Hicks – Liebmans Grundthese folgend – betont, dass die polnische Version des Majdanekfilms vorrangig (nichtjüdische) Polen adressierte,271 ist die Bedeutung dieser Feststellung in ihrer politischen Bedeutung aufzuschlüsseln. Es scheint nun angebracht, die beiden politisch-historischen und zugleich filmästhetischen Kontexte der unter der Kuratel der Außerordentlichen Kommission und der sowjetischen militärischen und politischen Zensurinstanzen hergestellten, gefilterten und bearbeiteten Filmaufnahmen aus dem Sommer 1944 aufzuzeigen. Erst die Darstellung dieser beiden Kontexte macht es mir möglich, die Bedeutung des Majdanek-Filmmaterials für die audiovisuelle Dokumentation der Geschichte der Verfolgung der Juden in ihrer ganzen Tragweite zu bewerten und damit auch die Frage zu beantworten, warum es hier nicht zum ersten Film über den Holocaust kommen konnte, sondern – lediglich in kodierter Form zu einem Film über die farnichtung. Viele Juden hofften insbesondere nach dem D-Day auf Hilfe. Ein anonym gebliebener Tagebuchschreiber im Ghetto Litzmannstadt verfasste am 3. August 1944 in englischer Sprache folgenden Eintrag kurz vor seiner Deportation in das noch funktionierende Vernichtungslager, Auschwitz-Birkenau: I write these lines in a terrible state of mind. All of us have to leave Litzmannstadt-Ghetto within a few days. When I first heard this, I was sure that it meant the end of our unheard-of martyrdom equatanously [simultaneously] with our lives, for we were sure that we should be vernichtet [German: destroyed] in the well-known way of theirs. What for to have suffered 5 years of Ausrottungkampf [German: annihilation war]?272

Ähnlich wie seine Leidensgenossen im Ghetto hoffte er auf eine Befreiung durch die Rote Armee, verstärkt durch die Polnische Armee, in deren Reihen auch Łódźer – darunter zahlreiche jüdische Filmleute – kämpften, die ihre Heimat befreien wollten, wozu es jedoch erst viele Monate später kam, zu spät für die Juden im Ghetto. Am 20. August 1944, als das polnisch-sowjetische Filmteam in Majdanek war, lesen wir im Tagebuch:

270 Vgl. den Artikel „Tschornaja Kniga (Wasili Grossman, Ilja Ehrenburg, 1946)“ von Vetter 2013, S. 697. 271 Hicks 2012, S. 166–7. Ich stimme Hicksens Argumentation, dass die „Sowjets jedem Narrativ, das polnisches Leiden privilegiert hätte, widerstanden“ nur bedingt zu, da gerade in der russischen Version v. a. polnische Überlebende gezeigt werden. Die beiden Versionen müssen jeweils für sich genommen analysiert werden. 272 Zitiert in Alan Adelson und Robert Lapides 1989, S. 438. 173

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3 Schädel, Objets trouvés und fiktiver Rauch

Days come and go. There are rumors that we won’t have much longer to wait. The Germans admit they’ve retreated from Lublin, Bialystok, Brisk [Bresk Litovsk], Dinanburg and other places…. I worry terribly, because despite everything the situation is still unclear. Who can predict our future? Maybe they won’t kill us. (Ibid., S. 438)

Der jüdische Tagebuchschreiber wurde jedoch im Sommer 1944 deportiert und ermordet – und dies obwohl das einige KZs bereits von einer alliierten Armee befreit worden war. Eine kämpferische Einstellung findet sich bei dem sowjetischen Ingenieur Julij Farber, der der Kommission von seiner unerhörten Erfahrung als jüdisches Mitglied eines Sonderkommandos in Ponary berichtet und nach seiner Flucht im April 1944 sowohl Aufklärung als auch Rache schwört: Viele der Arbeiter, die den Willen zum Widerstand verloren hatten, wurden zu lebenden Figuren. Aber sobald sie die polierte Gestalt des Sturmführers sehen, kocht der Hass in ihrem Herzen. Sterben – meinetwegen. Aber nicht wie ein Schaf, nicht mit gefesselten Händen in der Grube, sondern lieber nachts eine Kugel im Kampf abbekommen. „Niemand wird jemals davonkommen.“ Davonkommen. Es dem ersten besten auf der Straße erzählen und in die ganze Welt hinauszuschreien, was wir in Ponary gesehen haben. Die Bosheit all dieser Sturmführer der ganzen Menschheit aufzudecken, damit im ganzen sowjetischen Volk die Wut gurgelt, die uns nachts in der Gurgel sitzt, die heilige Wut der Rache, deren mächtiger Impuls alles Hitlerpack vom Erdboden fegen wird. (Farber / Makarov 2006)

Farber war davongekommen – doch niemand erfuhr von seiner Schilderung. Im 2. Weltkrieg war diese Indifferenz der Alliierten gegenüber dem Schicksal der Juden nichts Neues. Eine ähnliche Situation findet sich bereits in der sowjetischen Nachrichtenpolitik der Jahre 1939–41, wie Ben-Chion Pinchuk gezeigt hat: Atrocities committed in German territories were completely absent from Soviet publications, even those in Yiddish directed at only Jewish readers. Absolute silence was forced upon Jewish writers and artists on the most urgent subject in Jewish life at the time. In spite of a constant stream of updated information on Nazi atrocities, mass executions, wearing of yellow stars, ghettos and so on, that came with the refugees from German regions, nothing of it was disseminated. […] The Soviet authorities, who knew what was going on under German occupation, could have warned the Jewish population. (Pinchuk 1991, S. 132)

Pinchuk versucht diese Zensur durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt zu erklären. Vergleicht man jedoch die sowjetische Nachrichtenpolitik am Anfang mit der am Ende des Krieges, zeichnet sich eher ein konstantes Prinzip ab, das besagt, dass nur diejenigen Informationen zur Verbreitung kommen, die unmittelbar den Interessen der UdSSR dienten. Strenger ins Gericht mit dieser Informationspolitik geht Louis Rapoport (1992, S. 74): Zwischen September 1939 und Juni 1941, dem Zeitpunkt der deutschen Invasion in die UdSSR, bewahrten alle sowjetischen Organe im Geist des Stalin-Hitler-Pakts bewußt Stillschweigen über den Völkermord, den die Nazibesatzer unter den polnischen Juden verübten. Dieses Stillschweigen hielt sogar noch, nachdem Hitler das Reich seines ehemaligen Vertragspart-

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ners überfallen hatte. Damit ebnete Stalin den Weg für die Ausrottung von anderthalb Millionen nichtsahnender Juden in Weißrußland und der Ukraine. Im Juli 1941 […] stellte ein Wehrmachtsbericht fest: „Die Juden sind über unsere Haltung ihnen gegenüber und über die Behandlung, die ihnen in Deutschland und Warschau zuteil wird, überraschend schlecht informiert.“

Das Wohl der jüdischen Bürger in einem besetzten Gebiet hatte für Stalin keine Priorität bzw. die Evakuation – durchaus möglich und von Stalin selbst zu anderen Zwecken praktiziert – war u. U. sogar unerwünscht, da die Bevölkerung in Ostpolen die Wehrmacht wenn nicht aufhalten, so doch zumindest kurzfristig beschäftigen konnte.

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Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute 4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

4.1

Operation Bagration und die Heimatarmee im Sommer 1944

4.1

Operation Bagration und die Heimatarmee im Sommer 1944

Am 22. Juni 1944 drang die Rote Armee mit der Operation Bagration nach Ostpolen vor und erreichte in der Lublin-Brest-Offensive erst die Weichsel und am 21. Juli den Fluss Bug. In der letzten Juliwoche konnte die Armee unvorhergesehen rasch gen Westen in das sogenannte „Generalgouvernement“ vordringen und das Gebiet der „Aktion-Reinhardt“-Mordstätten Belzec (Bełżec)273, Sobibor (Sobibór) und Treblinka II einnehmen, die von der SS weitgehend als solche unkenntlich gemacht worden waren. Während der deutschen Besatzung lag Belzec an der Kreuzung der Distrikte Lublin, Galizien und Krakau, Sobibór 100 km östlich und Treblinka 200 km nördlich von Lublin bzw. 120 km von Warschau entfernt. Sobibór und Bełżec waren nicht weit von sowjetischem Gebiet. Diese beiden Vernichtungsorte wie auch Treblinka II waren 1943 aufgelöst und getarnt worden. In Treblinka stand ein Bauernhof, den ein Volksdeutscher aus der Sowjetunion bewirtschaftete, der behaupten sollte, er habe hier seit Jahren Landwirtschaft betrieben. Noch bevor die Rote Armee Lublin am Mittag des 23. Juli einnehmen konnte, griff am 22. Juli 1944 die Heimatarmee (Armia Krajowa; AK) die deutschen Besatzer an, um die Stadt zu befreien, und es entbrannte ein erbitterter Kampf um die Stadt, der bis in die späte Nacht hinein andauerte. Der AK gelang es, strategisch wichtige Versorgungspunkte einzunehmen, ihre Orion-Truppen warfen Granaten auf das „Deutsche Haus“ in der Krakauer Vorstadt. Die Deutschen wehrten sich hartnäckig.274 273 In polnischen Quellen wird festgehalten, dass es das 9. Infanterie-Regiment der Heimatarmee unter Major Stanislaw Prus war, das das 113 km südöstlich von Lublin liegende Belzec/Bełżec am 21.7.1944 befreite und später der Roten Armee übergab. https://en.wikipedia.org/wiki/ Operation_Tempest [1.1.2019] Belzec lag an der Bahnlinie zwischen Lublin und Lemberg. 274 Eine detaillierte Beschreibung der Kampfhandlungen der unterschiedlichen Abteilungen der verschiedenen Heere und der AK-Truppenteile vom 22.–24.7. in den einzelnen Stadtteilen Lublins kann man auf der lokalhistorischen Webseite des Kultur- und Forschungszentrums zur Geschichte Lublins Brama Grodzka – Teatr NN finden (Ziemowit Karłowicz, o. D. Walki o miasto. Ośrodek „Brama Grodzka ‐ Teatr NN“. http://teatrnn.pl/leksykon/artykuly/krakowskieprzedmiescie-historia-ulicy/#walki-o-miasto). [1.1.2018] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Drubek-Meyer, Filme über Vernichtung und Befreiung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30531-4_4

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4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

Frank Golczewski (2003, S. 665) weist zudem darauf hin, dass es in Lublin zwei jüdische Einheiten der Heimatarmee gegeben hat, doch sei diese jüdische Beteiligung nur in den ersten Jahren nach dem Krieg entsprechend dokumentiert worden: „Nach der Entstalinisierung endete die Aufarbeitung dort, wo antisemitische Vorwürfe formuliert wurden. Darstellungen und Editionen erfuhren in dieser Hinsicht eine Bereinigung. Dann verschwanden Verweise auf jüdischen Widerstand fast ganz.“ Der auf die Befreiung aus eigener Kraft zielende „Aufstand“ – wie ihn die Bürger Lublins nannten – kommt in beiden Majdanek-Filmen nicht zur Sprache.275 Während Lubliner Chronisten berichten, dass die „Panzer der Roten Armee“ am Mittag des 23.7.1944 Lublin von Süden angriffen und die Heimatarmee die Rote Armee im Bereich der Infanterie Unterstützung leistete, kommt die in sowjetischen Darstellungen nicht vor. Offensichtlich sollte die Erwähnung der Polnischen Armee, die gemeinsam mit den Sowjets kämpfte, diese Schönheitsfehler bei der Befreiung Lublins wettmachen bzw. im schlecht informierten westlichen Ausland mit den militärischen Erfolgen der Heimatarmee vermischen. Schließlich kämpften sowohl in der Heimatarmee (gelenkt aus London) als auch in den Polnischen Streitkräften in der UdSSR polnische Soldaten (wenn auch nicht immer freiwillig).

4.1.1

„Die tragische Stadt Lublin“ As usual, these pictures from the Russian front are delayed. (Ted Emmett, Gaumont-British)276

Informationen über die entscheidende Schützenhilfe der Heimatarmee fehlten auch in den westlichen Filmnachrichten über die Befreiung, so etwa dem dreieinhalbminütigen The Tragic City of Lublin (18.12.1944) der British Pathé Gazette,277 der erst fünf Monate nach der Befreiung Lublins/Majdaneks ein westliches Publikum erreicht. Offensichtlich überfordert schweigt der britische Sprecher während einer langen Minute sommerlicher Bilder der Kämpfe in Lublin, nachdem er den Film mit den Worten eingeleitet hat: „These are Russian pictures of Lublin.“ Aus dem verwendeten Filmmaterial ist ersichtlich, dass den britischen Journalisten alte Bilder zur Verfügung gestellt wurden: es ist das gleiche Material, das im Juli und August aufgenommen und für die Sojuzversionen verwendet wurde, ergänzt durch Filmaufnahmen der Straßenkämpfe in Lublin. Was jedoch in der britischen Wochenschau fehlt, ist der Prozess gegen die deutsche Mannschaft des KL Lublin, der zwei Wochen zuvor stattgefunden hatte und ebenfalls gefilmt wurde. Man kann vermuten, dass dieses Gerichtsverfahren der eigentliche Anlass für die Dezember-­

275 Erwähnt wird die AK in der britischen Version von Opfer und Täter: Majdanek concentration camp, zugänglich auf https://www.youtube.com/watch?v=lqFFYagEwYg [9.9.2018] 276 Zitiert nach Susan Hollern Szczetnikowicz 2006, S. 218. 277 Datierung laut https://www.britishpathe.com/video/the-tragic-city-of-lublin/query/137022 [9.8.2018]

4.1 Operation Bagration und die Heimatarmee im Sommer 1944

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Nummer über Lublin war. Die Szenen, die unter dem allgemeinen Titel der „tragischen Stadt Lublin“, deren „Namen wir uns tief einprägen“ sollen, gezeigt werden, haben sich bereits fünf Monate zuvor abgespielt. Aufgrund unserer Kenntnis der Strategie der Herstellung einer „Exportversion“ der Aufnahmen aus Lublin/Majdanek kann man aus diesem Wochenschau-Bericht wie auch der französischen Filmversion folgern, dass die UdSSR 1944 erfolglos versuchte, Filme oder auch nur Aufnahmen über das Lager Majdanek bzw. den Prozess mit der Majdanek-Mannschaft im Westen zu distribuieren. Als das Lubliner Schloss in das Visier der Kamera gerät, heißt es über die deutschen Besatzer – und hier ist British Pathé nicht gut informiert: „Lublin castle they converted to a ghastly prison.“278 Das Schloss wurde auch in der Vergangenheit mehrfach zu Arrestzwecken verwendet, und es wurden dort v. a. nach der sowjetischen Befreiung weitere Exekutionen vorgenommen – diesmal waren viele der Opfer Gegner der neuen Regierung in Lublin. Über all dies schweigt die britische Reportage, die man als verspäteten und halbwahren Bericht über die Befreiung der Stadt Lublin ohne Nachrichtengehalt bezeichnen kann. Es wird die stereotype Rhetorik der „bestiality“ der Gestapo perpetuiert, die „beim Herannahen der Roten Armee“ 700 Zwangsarbeiter im Schloss erschossen hat – doch dies war bereits im Juli 1944 geschehen. Wir haben bereits richtiggestellt, welche Truppen es waren, die Lublin als erste betraten.279 Majdanek hätte auch in der britischen War Pictorial News auftauchen können. Am 3.12.1944 findet sich ein Bericht aus dem befreiten Polen, mit sowjetischem Filmmaterial der Befreiung von Chelm und vom Forcieren des Flusses Bug. Eine der Frauen in Chelm, die man hier sieht, wird im Majdanek-Film als Lublinerin auftauchen.280 Diese 278 Vgl. auch die Beschreibung der Einstellungen auf der aktuellen Seite von British Pathé: „Various shots of Lublin castle turned into prison by nazis. M/S’s and C/U’s of the bodies of Polish civilians held in castle, they were shot by the Gestapo in the workshops before they retreated. Various emotional scenes as bodies in courtyard are identified by relatives. M/S as they carry one wounded man on stretcher. Various shots as large crowds attend burial service. M/S wooden cross with castle in background. Various shots of Russian troops marching into city, together with tanks. Various shots of Polish crowds cheering and waving. M/S of Polish partisans marching through streets and being greeted by civilians. L/S of the city. End Titles. FILM ID:1370.22“ http://www.britishpathe.tv/ [9.8.2018] 279 Gabriel Milland (1998, S. 219) weist nach, dass die Londoner Exilregierung wiederum keine Erwähnung der Polnischen Streitkräfte als Teil der Roten Armee wünschte, dies gilt zumindest für die Nachrichten des Polish Service der BBC am 12. August 1944: „the following was also cut: ‘Dispatches said that Russian and Polish troops escorting the 800 German prisoners outside Lublin had march them away from the wrathful Polish people’. The reason for this cut was that“ it referred to Soviet-backed Polish troops, a subject that the Govemment-in-exile had established the BBC would avoid when these forces arrived in Poland. Despite the cuts, and despite the important absence of any identification of the victims, this was an important occasion in the history of the BBC’s coverage of the Final Solution; it was the first broadcast of a description of the scene at a liberated death camp.“ 280 Vgl. die Beschreibung dieser Szenen auf der Seite des Imperial War Museum: „II. ‘POLAND.’ Brief footage shows Marshal Konstantin K Rokossovsky (Commander 1st Belorussian Front) talking to officers prior to his forces crossing the River Bug. Russian T-70 light tanks and T-34/76 tanks, driving in convoy, carry tank descent infantry. Aerial stock shot footage shows a flight 181

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Aufnahmen zeugen davon, dass 1944 sowjetisches Filmmaterial den Weg nach Großbritannien finden konnte. Der analoge amerikanische Bericht – mit einer ähnlichen Auswahl an Filmaufnahmen – trug den Titel Red Army Capture of Lublin und erwähnte nur dieselbe, auch wenn AK-Truppen in den Einstellungen präsent sind.281 In der britischen Version wurden diese immerhin als „guerillas“ von den anderen Truppenteilen unterschieden. Insgesamt kann man sagen, dass sich die Lublin/Majdanek-Berichterstattung der Westalliierten – auch wenn das Thema des Lubliner SS-Prozesses nicht übernommen wurde282 – kritiklos der Propaganda des sowjetischen Verbündeten anschloss, sowohl in der Glorifizierung der Roten Armee, wie auch der Ausblendung polnischer Belange und des Judenmords.

4.1.2 Befreiung von Lublin und Einnahme von Majdanek In den sowjetischen Darstellungen wird das Auffinden des Lagers auf die Nacht des 22. auf den 23. Juli 1944 datiert, als die Rote Armee eine große, nur minimal zerstörte Anlage fand, das deutsche Konzentrationslager Lublin. Die Datierung ist nicht mein zentrales Thema, wäre aber ein Forschungsdesiderat; oft werden Fotografien des Lagers auf den 22. Juli datiert – doch erscheint dies unwahrscheinlich, da das Lager erst an diesem Tag von of Russian Air Force Petlyakov Pe-2 bomber aircraft. Stock shots show a Russian artillery barrage by 152mm Gaubitsa-Pushka obr 1937g field guns firing from gun pits. Russian infantry wade across the River Bug under shell fire, an IS-2 (Iosef Stalin) tank wades the Bug with water reaching to the height of its turret ring. Russian infantry release civilians from prison following the capture of the Polish town of Chelm (Lubin) [sic]. Russian Ilyushin Il-2 ground attack aircraft test their 20mm ShVAK cannons in flight. Russian T-70 tanks and SU-76 tank destroyers drive past crowds of Polish civilians who throw flowers. A Polish soldier receives flowers from a civilian. The Polish flag is raised.“ (WPN 151, Ministry of Information, Middle East) https://www.iwm.org.uk/collections/item/object/1060007160 [1.1.2019] 281 https://www.youtube.com/watch?v=uA9IO_mS9bo [9.12.2017] Ohne Titelvorspann; vermutlich amerikanische Movietone News; Schnitt: Louis Tetunic, gesprochen von einer der bekanntesten amerikanischen Radiostimmen, Lowell Thomas. Vgl. das Vorwort von CBS-Präsident W. S. Paley in Thomas’ Buch History as you Heard it, N. Y. 1957: „How many million words Lowell Thomas has poured into microphones … no one can possibly say. But the effect of these words is easier to measure: Lowell Thomas has enjoyed a longer span of esteem with the nationwide listening public than any other disseminator of news on the air.“ https://www.americanradiohistory. com/Archive-Bookshelf/Biography/History-as-You-Heard-It-Lowell-Thomas-1957.pdf) 282 Es mag der militärischen Zensur zum Opfer gefallen sein, die Berichte über Kriegsverbrecher und Namensnennungen unterdrückte: „Field censorship was conducted at SHAEF level to ensure that journalists‘ copy did not breach security – and fitted in with political warfare objectives.“ (Milland 1998, S. 259). So wurde 1942 die BBC in ihren fremdsprachigen Sendungen angehalten „to go slow with broadcasting names of criminals to Europe, and that, in including in their broadcasts items relating to war crimes, they should be guided by the news values of particular outstanding incidents.’“ (Ibid., 83)

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der SS aufgelöst worden war und in der Nacht – sollte die Rote Armee tatsächlich bereits dann ins Lager gekommen sein – kein Tageslicht für diese Aufnahmen zur Verfügung gestanden hätte. Hier geht es offensichtlich um ein symbolisches Datum, da in Lublin am 22. Juli 1944 das „Polnische Komitee der Nationalen Befreiung“ (Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego / PKWN) als neue Regierung Polens ausgerufen wurde. Wahrscheinlich fällt die Entdeckung des Lagers in die 2. Tageshälfte des 22.7. und die Aufnahmen (Foto und Film) der Befreier begannen frühestens am 23.7.1944. Meist wird die erfolgreiche militärische Offensive der Roten Armee dafür verantwortlich gemacht, dass die Dokumentation eines Konzentrations- und Vernichtungslagers mit Foto- und Filmkameras ermöglicht wurde. Inwieweit entspricht dies den Tatsachen? Faktum ist, dass die deutschen Besatzer in Lublin von zwei Seiten in die Zange genommen wurden, und die SS aufgrund der Erschießung von Hunderten v. a. politischen Häftlingen im Lubliner Schloss am 21. Juli im Lager unterrepräsentiert war. Auch dies hat dazu beigetragen, dass es den in Majdanek vor Ort verbliebenen Kräften nicht rechtzeitig gelungen ist, die Gaskammern und Krematorien des KL Lublin zu zerstören. Es ist unklar, ob dies rein technische oder andere – in den Aussagen der SS-Offiziere nicht publik gemachte – Gründe hatte: Entweder konnte man die Gebäude nicht sprengen (und das Innenleben der „Fabrik des Todes“ unkenntlich machen) oder das strategisch wichtige Lublin sollte als einer der sogenannten „Festen Plätze“283 um jeden Preis gehalten werden – worauf auch die ebenso zähe wie aussichtslose Verteidigung der Stadt gegen die Heimatarmee mit der Roten Armee ‚vor der Tür‘ hinweist. Im Führerbefehl zu den „Festen Plätzen“ wird die besondere Befestigung von bestimmten Orten befohlen, um „zu verhindern, dass der Feind diese operativ entscheidenden Plätze in Besitz nimmt. Sie haben sich einschließen zu lassen und dadurch möglichst starke Feindkräfte zu binden.“ (Hubatsch 1962, Dok. 53, S. 243–250). Hitler hatte die ineffektive Idee der Festen Plätze, die „die gleichen Aufgaben wie die früheren Festungen erfüllen“ sollen (ibid.), einige Monate vor der Befreiung Lublins entwickelt. Der Feste Platz Lublin war als Verkehrsknotenpunkt und „Versorgungsbasis“ ausgebaut worden (Schwindt 2005, S. 115): Der ehemalige Flughafen – in direkter Nähe des sog.

283 Vgl. den Führerbefehl Nr. 11 vom 8. März 1944. Zu Festen Plätzen wurden Städte wie Königsberg, Kolberg, Budapest, Berlin, Prag oder Lublin erklärt; die Seite „Fester Platz (Wehrmacht“ https:// de.wikipedia.org/wiki/Fester_Platz_(Wehrmacht)#cite_ref-F%C3%BChrerbefehl_11_2-0 zitiert den „Bestand RH 30 Befehlshaber und Kommandanten Fester Plätze (Bestandsübersicht)“). Weiter heißt es in dem Artikel: Karl-Heinz Frieser bezeichnete in Irrtümer und Illusionen – Die Fehleinschätzungen der deutschen Führung im Frühjahr 1944 (2007) „die ‚Festen Plätze‘ später als ‚Menschenfallen‘, weil ihre Einkesselung und Vernichtung vorbestimmt war. Psychologisch wirkte sich die neue Doktrin deshalb äußerst negativ auf die Truppen an der Front aus. So führte der Kommandeur der 18. Flak-Division in seinem Erfahrungsbericht vom August 1944 aus, dass allein das Wort ‚Fester Platz‘ mit Tod oder Gefangenschaft assoziiert wurde, was zu einer so genannten ‚Kesselpsychose‘ führte.“ [9.9.2018] 183

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Restghettos Majdan Tatarski und des KL Lublin/Majdanek – war „Hauptnachschublager des HSSPF“ für die Front in Russland und dem Kaukasus.284 Man kann annehmen, dass der am 22. Juli in der Stadt Lublin ausgebrochene Aufstand unter der Leitung der Heimatarmee zusätzlich dazu beigetragen hat, dass die Lubliner SS am 21. und 22. Juli voll beschäftigt war. Doch konnte das im Lager verbliebene Endkommando seine Aufgabe tatsächlich nicht in der Weise erfüllen, wie dies von deutscher Seite standardmäßig geplant war? Verantwortlich hierfür war der stellvertretende Lagerkommandant, SS-Obersturmführer A. Thernes, den wir in den Filmaufnahmen sehen. Aus der Perspektive des Berliner Reichssicherheitshauptamts (RSHA) müsste es sich bei diesem Versagen der Leitung des KL Lublin um einen kapitalen Fehler gehandelt haben, der eine ernsthafte Gefährdung der nationalen und persönlichen Sicherheit der SS-Führung, der im Lager Tätigen, ja, der SS insgesamt bedeutete.285 Sollte die Heimatarmee-Attacke, die zu einer Bindung bzw. Neutralisierung von in Lublin/Majdanek verfügbarem deutschem Personal, Polizei, SS, und Militär geführt hat, tatsächlich zu einer Ablenkung des KL-Lublin-Endkommandos geführt haben, wäre ihre Bedeutung für die Ermöglichung der Einnahme eines kaum zerstörten KL Lublin hervorzuheben. Von entscheidender Bedeutung für die Beschaffenheit der uns hier interessierenden Filmzeugnisse zu diesem Ereignis ist, welche Truppenteile der Roten Armee das KZ befreiten bzw. einnahmen: Es war die 1. Belorussische Front, und als ihr Bestandteil eine polnische Division, d. h. in der UdSSR von Polen aufgestellte Militäreinheiten, in der russischen Filmfassung als „Polnische Armee“ („Pol’skoe vojsko“) bezeichnet. Es handelte sich um die von Zygmunt Berling befehligte 1. polnische Infanterie-Division „Tadeusz Kościuszko“, die unter seiner Leitung im Juni 1943 im russischen Sel’cy an der Oka (Gebiet Rjazan’) aufgestellt worden war. Sie war die erste Armee der Polnischen Streitkräfte in der Sowjetunion und bestand zum Großteil aus polnischen Bürgern, die aus den 1939 sowjetisch besetzten östlichen Gebieten (Kresy)286 in die UdSSR deportiert worden waren oder denen, die vor der Wehrmacht, den Sonderkommandos, der deutschen Besatzung und der Verfolgung geflüchtet waren, viele davon jüdischer Herkunft.287 Aufgrund des Massakers von Katyn’ im Jahr 1940, bei dem ein Großteil der Berufsoffiziere der Polnischen 284 Schwindt 2005, S. 116. Jüdische Zwangsarbeiter arbeiteten am „Flugplatz“ mit Glas und Schuhwerk. 285 Bettina Stangneth (2011, S. 555) erwähnt Eichmanns nach dem Krieg zum Ausdruck gebrachte Indignation über die Unzulänglichkeit des Endkommandos. Ich gehe davon aus, dass diese Panne der Auslöser dafür war, dass das „Zentralamt für die Regelung der Judenfrage in Böhmen und Mähren“ (eine Filiale des RSHA in Prag), die verschleppten Filmaufnahmen in „Theresienstadt, Eichmanns Vorzeige-Ghetto“ (so lautet Murmelsteins Buchtitel von 1961; auf Deutsch erschienen 2014) mit großem Aufwand vorantrieb. Der Film über das „jüdische Siedlungsgebiet“ wurde unter erheblichem Zeitdruck vom 16. August bis 11. September 1944 gedreht. 286 In der 2. Polnischen Republik (1918–1939) bezeichnete man mit dem Begriff Kresy die Gebiete östlich der späteren Curzon-Linie. Dazu gehörten etwa Lwów oder Białystok. 287 Zu dem Schicksal dieser Polen vgl. Gross 2003.

4.1 Operation Bagration und die Heimatarmee im Sommer 1944

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Armee der Vorkriegszeit (Wojsko Polskie) ermordet worden waren, mussten 1944 bei der geplanten Formation einer eigenständigen „Polnischen Front“ sowjetische Offiziere eingesetzt werden. Während des Zweiten Weltkrieges bildeten sich zwei Armeen, eine davon unter Berling. Gemäß einer Direktive vom 29.4.1944 wurde die Division Bestandteil der 1. Belorussischen Armee (Cenckiewicz 2011). Die polnische Exilregierung in London ging auf Distanz und General Anders erklärte 1943 den zum sowjetischen General ernannten Berling zum Deserteur und Verräter. Berling war im Herbst 1939 wie viele polnische Militärs durch den NKWD verhaftet worden, konnte in Moskau jedoch zur Kooperation gebracht werden, nahm im November 1940 die sowjetische Staatsbürgerschaft an und überlebte – anders als viele seiner Kameraden, die in Katyn’, bei Char’kov, Pjatychatky, Ostaškov, Mednoe bei Kalinin (heute: Tver’)288 und anderen Orten in der UdSSR, an denen mindestens 21857 Polen ab 1940 ermordet worden waren.289 1942 verschwanden zwei polnische Vertreter des Jüdischen Arbeiterbundes (Ehrlich und Alter) auf ihrer Reise in die UdSSR. Im April 1943 brach der sowjetische Außenminister Molotov die diplomatischen Beziehungen zu Sikorskis Exilregierung ab, und die UdSSR bereitete sich auf die Aufstellung einer eigenen polnischen Gegenregierung vor, auf die Unterstützung von Berlings Division zählend. Die 1. polnische Infanterie-Division „Tadeusz Kościuszko“ wiederum stützte sich auf den „Bund Polnischer Patrioten“ (polnisch Związek Patriotów Polskich = ZPP; russ. Sojuz Pol’skich Patriotov), dessen Präsidentin, die polnische Autorin und Politikerin Wanda Wasilewska, aus der national-polnischen Perspektive oft negativ eingeschätzt wird. Sheila Fitzpatrick legt ihren Einsatz für die Belange der polnischen Juden dar, insb. bei der Repatriierung in ihre Heimat, die oft mit Hilfe der in den Westen vordringenden Armeen ermöglicht wurde.290 Der „Bund Polnischer Patrioten“ war 1943 nach dem Bruch der 288 Vgl. den zweiten von Memorial (2019) herausgegebenen Band: Ubity v Kalinine. 289 Diese Zahl ist in einem Schreiben vom 3.3.1959 an Chruščev enthalten: „Всего по решениям специальной тройки НКВД СССР было расстреляно 21857 человек, из них: в Катынском лесу (Смоленская область) 4421 человек, в Старобельском лагере близ Харькова 3820 человек, в Осташковском лагере (Калининская область) 6311 человек и 7305 человек были расстреляны в других лагерях и тюрьмах Западной Украины и Западной Белоруссии. Вся операция по ликвидации указанных лиц проводилась на основании Постановления ЦК КПСС от 5-го марта 1940 года“. Dokumentiert im von Gur’janov, Račiskij, und Dzenkevič im Auftrag von Memorial herausgegebenen Band Ubity v Katyni. Kniga Pamjati 2015, S. 68. Zu Berlings Biografie, seiner Aufstellung der polnischen Division in der UdSSR und Ermöglichung des PKWN: http://ipn.gov.pl/najwazniejsze-wiadomosci/informacja-historyczna/zygmuntberling-18961980 und https://www.dzieje.pl/postacie/zygmunt-berling-1896–1980. [9.4.2017] 290 „Estimates of the number of Polish citizens of all ethnicities who spent all or part of the war in the Soviet Union range extraordinarily widely—from 300,000–400,000 to between 1 and 2 million. […] Repatriation of Polish citizens began in 1942, when, by agreement with the Polish government-in-exile, 120,000 (about 30 percent) of the amnestied Poles in the Soviet Union were allowed to join the Anders army and leave for Iran to join the Allied fight against the Germans. […] The inclusion of Jews in these population exchange agreements was something of an anomaly, given that no other non-Polish nationality had the option of moving to Poland 185

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Londoner Exilregierung mit Stalin gegründet worden, bedingt durch die Entdeckung der Spuren des 1940 verübten Massakers von Katyn’ am 13. April 1943. Ingo Loose schreibt: Goebbels triumphierte, als die polnische Exilregierung in London ihrerseits das Internationale Rote Kreuz um Teilnahme an einer internationalen Untersuchungskommission bat, was in der Folge zu einem Abbruch der Beziehungen zwischen der Exilregierung und der Sowjetunion führte, die eine Kommission aus naheliegenden Gründen strikt ablehnte. (Loose 2015, S. 5)

Dies zeigt, welche außenpolitische Wirkung der deutsche Propagandafeldzug anlässlich der Exhumierungen in Katyn’ haben konnte, da allein der Wunsch einer Einbindung Polens in die Untersuchung zu einer Verstimmung innerhalb der Reihen der Alliierten führte. Auf keinen Fall wollte die UdSSR Katyn’ auf sich sitzen lassen. Im Januar 1944 folgt zudem der sowjetische Versuch, diese Anschuldigung mit Hilfe von falschen Fährten in den Massengräbern zu widerlegen – und auch hier musste das Filmmedium helfen, worauf ich später noch eingehe. Der 1943 in der UdSSR zum Kommandeur der 1. polnischen Infanterie-Division „Tadeusz Kościuszko“ ernannte General Berling gehörte diesem Bund an. Am 22.7.1944, also pünktlich zum Sturm auf Lublin am 23.7., wurde er zum Stellvertreter des Oberkommandos über die neue „Polnische Volksarmee“ (Ludowe Wojsko Polskie – gegründet am 21.7.1944) ernannt. Berling führte die 1. polnische Infanterie-Division „Tadeusz Kościuszko“ nach Lublin. Sie unterstand der 1. Belorussischen Front, und damit dem Kommando des aus Polen stammenden Marschall Rokossovskij.291 Rokossovskij war der Oberbefehlshaber der erfolgreichen Lublin-Brest-Offensive (18.7.–2.8.1944). Ihm zugeteilt wurde als Stabschef M. S. Malinin. Mitglied des Militärrats in der Funktion eines direkt mit Stalin in Kontakt stehenden Politoffiziers war von Mai bis November 1944 Nikolaj Bulganin, den man in den Majdanek-Filmaufnahmen sehen kann. Die Wahl der Bezeichnung Majdanek für das Lager hängt also auch mit dem Umstand zusammen, dass der Name der Stadt Lublin mit der Zukunft Polens und nicht der NS-Vergangenheit assoziiert werden sollte: Lublin wurde zum Sitz des nach Osten orientierten

under their provisions. They were apparently added at the request of Wanda Wasilewska’s Soviet-based Union of Polish Patriots. Wasilewska was a Polish socialist writer, based in the Soviet Union during the war, who by virtue of her personal closeness to Stalin and Khrushchev, as well as her marriage to the Ukrainian dramatist and political figure Aleksandr Korneichuk, was a very influential figure in matters concerning Poles in the Soviet Union, particularly the creation of the union and the formation of the Berling army. In her concern about Polish refugees, she was as firm in her support for Polish Jews as for ethnic Poles, which is an important part of the backstory to a second population exchange agreement, this time concluded by the Soviet government with the newly established Polish National Unity government on 6 July 1945, of which Polish Jews were the main beneficiaries.“ (Fitzpatrick 2017, S. 146–147) 291 Geboren 1894 als Konstanty Rokossowski in Warschau, zweifacher Marschall (der UdSSR am 26. Juni 1944 und 1949 von Polen) und entscheidender Stratege während der Operation Bagration.

4.2 Die Arbeit der Untersuchungskommission und inszenierte Filmdokumente

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„Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung“ (PKWN), das ab dem 25.7. auch als das „Lubliner Komitee“ bezeichnet wurde. Jeremy Hicks setzt die Katyn’-Problematik in direkten Zusammenhang mit der Anwesenheit der Medienvertreter in Majdanek Ende August 1944: As the Soviets advanced beyond their own borders into Poland in 1944, they also needed to regain some of the credibility they had lost with the Poles, as well as with the British and Americans, after having been humiliatingly exposed by Goebbels in April 1943 over their massacre in Katyn of over ten thousand Polish officers, which the Soviets unconvincingly blamed on the Nazis. Thus, shortly after the Red Army captured the eastern Polish city of Lublin on July 22, 1944, Soviet writers and journalists including Simonov, Boris Gorbatov, Evgenii Kriger and Evgenii Dolmatovskii were all flown in on a special plane to report on the first discovery of a Nazi death camp, at Majdanek, just outside Lublin. (Hicks 2013, S. 244)

Bevor ich mich mit der Problematik der „organisierten“ Aufnahmen befasse, möchte ich kurz auf die Hoffnung bzw. den Plan der Sowjetunion eingehen, die Foto- und Filmaufnahmen von den Spuren der Kriegsverbrechen der Achsenmächte in Gerichtsverfahren als Beweismaterial einsetzen zu können. Die Zulassung von Kameraaufnahmen in dieser Form war keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Als etwa Karmen begann, befreites Territorium nach dem Rückzug der Wehrmacht und ihrer Verbündeten zu filmen, mag er bestenfalls die Vision (oder: die vage Hoffnung) verfolgt haben, dass dieses enthüllende Material einst auf einem internationalen Tribunal gezeigt werden würde. Dementsprechend mussten die Anforderungen an solche Filmaufnahmen und auch an die Dokumentation ihres Entstehens (die Montagelisten) hoch sein.

4.2

Die Arbeit der Untersuchungskommission und inszenierte Filmdokumente

4.2

Die Arbeit der Untersuchungskommission und inszenierte Filmdokumente

Nachdem die ersten Gräueltaten und NS-Kriegsverbrechen auf besetzten und nun befreiten Territorien bekannt wurden, entschlossen sich die Alliierten zu Dokumentationsaktionen. Da die Juden Osteuropas besonders betroffen bzw. gefährdet waren, entwickelte sich ein Projekt, das den Genozid an den Juden festhalten, die Welt darüber aufklären und den Massenmord dadurch stoppen sollte. Das bereits erwähnte, sowjetische Schwarzbuch-Projekt zur Dokumentation des Mords an den Juden wurde 1943 auf Anregung von Albert Einstein im Jüdischen Antifaschistischen Komitee geplant, und auch vom Sovinformbüro genehmigt. Die Leser der jiddischen Zeitung Ejnikajt wurden aufgefordert, Berichte und Dokumente an die Redaktion zu senden (die literarische Kommission wurde von den Autoren Ėrenburg und Grossman geleitet).

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Bereits im Juni 1942 hatten sich die Alliierten gemeinsam entschlossen, die United Nations War Crimes Commission (UNWCC) zu gründen.292 Die UdSSR jedoch etablierte zusätzlich eine davon unabhängige Außerordentliche Staatliche Kommission (ČGK), die im November 1942 durch Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets gegründet wurde: „Außerordentliche Staatliche Kommission für die Feststellung und Untersuchung der Gräueltaten der deutsch-faschistischen Eindringlinge und ihrer Komplizen, und des Schadens, den sie den Bürgern, Kolchosen, öffentlichen Organisationen, staatlichen Betrieben und Einrichtungen der UdSSR zugefügt haben“.293 Sie war für die Untersuchung und Bestrafung der Verbrechen Nazideutschlands und seiner Verbündeten zuständig. Die prominent besetzte Untersuchungskommission hatte die Aufgabe, den materiellen Schaden, der durch die deutschen Streitkräfte verursacht worden war, ebenso wie die Namen der Verantwortlichen aufzuzeichnen und zu veröffentlichen. Der Kommission gehörten neben Politikern wie Švernik und Ždanov auch Nikolaj, der Metropolit von Kiew und Galizien an, der Chirurg Burdenko,294 der Historiker Evgenij Tarle, der Schriftsteller Aleksej Tolstoj, der Biologe Trofim Lysenko und als einzige Frau die Fliegerin Valentina Grizodubova.

Abb. 4.1 Von der Sowjetischen Außerordentlichen Untersuchungskommission gestempeltes Majdanek-Foto (1944) http://i.imgur.com/ n6c7Vc8.jpg 292 Dies geschah auf Druck verschiedener Interessengruppen der Opfer und auch der im Exil weilenden Regierungen der okkupierten Länder (Kochavi 1998). 293 Vgl. Sorokina 2009, S. 21–32. 294 Metropolit Nikolaj, Aleksej Tolstoj und Ak. Burdenko werden auch in der Montageliste VS 70, 71 mit dem Titel „Katyn’“ (Januar 1944, Kameramann: A. Levitan) erwähnt (DVD in Fomin 2018).

4.3 Katyn’ und Majdanek

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Als Instrument der Beweissicherung wurden auch Kameras eingesetzt; es waren v. a. Fotografien, die forensischen Zwecken dienen sollten. So finden sich Fotos der Massengräber und der Exhumationen in den Akten der Außerordentlichen Kommission (Abb. 4.1; vgl. auch den Stempel auf Abb. 0.4). David Shneer, der diese Fotos untersucht hat, spricht „crime photography“ (2011, S. 163). Dieser Anspruch mag bei den Filmen zunächst auch bestanden haben, rückte jedoch bald in den Hintergrund. Die Polnisch-Sowjetische Außerordentliche Untersuchungskommission, die Lublin/ Majdanek im Sommer 1944 untersuchte, steht im Kontext dieser bereits über geraume Zeit stattfindenden groß angelegten sowjetischen Kommissionsarbeit, an der sich nach eigenen Angaben „32.000 Funktionäre“ und „7.000.000 Sowjetbürger“ beteiligten. „Die Kommission sammelte 54.000 Erklärungen und protokollierte mehr als 250.000 Zeugenaussagen über NS-Verbrechen zusätzlich zu fast 4.000.000 Dokumenten über den verursachten Schaden.“295

4.3

Katyn’ und Majdanek

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Katyn’ und Majdanek

In diesem Sinne besteht die besondere Herausforderung des ästhetischen Reenactments darin, die Vergangenheit in der Wiederholung nicht durch einen naiven dokumentarischen Glauben zu erschließen, sondern eben gerade in ihrer Unverfügbarkeit ins Bild zu setzen. Und dies geschieht über die Nachstellung eines Milieus – oder einer medialen Anordnung –, in der sich etwas erneut ereignet, jedoch in Kontinuität mit der Vergangenheit. (Muhle 2014, S. 96)

Mit Blick auf die Funktion der Filme beim Festhalten und Dokumentieren von Beweisen und Zeugenaussagen ergeben sich die Ansprüche an die Aufnahmen in erster Linie aus juristischen Aspekten. Der oft formulierte Vorwurf, die sowjetischen Kameraleute hätten in den KZs „inszeniert“ und „nachgestellt“, ist aus einem puristischen Dokumentarfilmethos heraus gerechtfertigt, jedoch muss in der Post-Befreiungssituation differenziert werden. Diejenigen, die das Verhalten der SS-Leute, das Foltern, ihre Lebenssituation vorführen, sind Opfer und Zeugen, die vor Ort und unter dem Eindruck ihrer Befreiung befragt werden, damit ihre Aussagen – wenn auch nur als Illustration – in einem späteren Gerichtsverfahren verwendet werden können. Anders als in Katyn’ (allerdings bis zu einem bestimmten Grad auch Majdanek) kann man also nur schwerlich von Fälschung sprechen, wenn im August 1944 Häftlinge – ebenso wie die Zwillingskinder später in Auschwitz – in gestreifte Kleidung gesteckt und zum Vorzeigen der eintätowierten Nummer aufgefordert wurden.296 Anfang 1945 wird unter schwierigen technischen Umständen Dokumenta­

295 https://de.wikipedia.org/wiki/Au%C3%9Ferordentliche_Staatliche_Kommission [1.3.2016] 296 Eine ähnliche Praxis hat Stephan Matyus (2011) in den Aufnahmen des Mauthausener Häftlings Francois Boix beobachtet, dessen Kameraden für die Befreiungsfotos im Lager in der gleichen 189

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4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

tionswürdiges aufgenommen, wenn auch unter den Bedingungen der Wiederholung, die mit Maria Muhles (2014) Begriff des „ästhetischen Reenactments“ gefasst werden kann. In der Auschwitz-Dokumentation führen Kinder dem Zuschauer „Beweise deutscher Verhöhnung“ vor, zu denen jene Nummern zählten, die im Motivlisten-Rundschreiben vom 8.9.1943 vorgeschrieben sind (vgl. Kap. 9). Dass es sich nicht um Aufnahmen der unmittelbaren Befreiung der Kinder aus Mengeles Labors handelt, war für die Zuschauer im Jahr 1945 unschwer an den sie begleitenden Rotarmisten in ušanki-Ohrenklappenmützen und polnischen Krankenschwestern im Nonnenhabit erkennbar. Władysław Forbert erzählt im Film Man med kamera / Mann mit Kamera (Dänemark 1995), wie er nach dem Krieg feststellte, dass das, was er als „russische Methode einen Dreh zu organisieren“ angesehen hatte, „auch von den Deutschen und Amis gemacht wurde“. Die Diskussion um das „Inszenieren“ der Filmchronik wurde bereits in den Jahren 1942–3 erbittert geführt; in der UdSSR hieß sie auch „organisierter“ Dreh. Roman Karmen, der laut Fomin sonst dem inszenierten Nachdreh nicht abgeneigt gewesen sei, forderte Kameravorrichtungen in Panzern und bemerkt: „wie ich erbeuteten Filmzeitschriften entnehme konnte, wenden sie die Deutschen an“ (Fomin 2005, S. 189). In einem in den 1980ern publizierten und ins Deutsche übersetzten Beitrag schreibt Karmen (Karmen 1985, S. 79) über die sowjetische Variante dieser Vorrichtung, die offensichtlich später von Efim Lozovskij gebaut wurde: Jefim Losowski hatte eine spezielle gepanzerte Box für einen Filmapparat konstruiert, die an der Panzerung eines Tanks angeschraubt werden konnte. Da saß dann der Kameramann im Panzer neben dem Fahrer, hielt in der Hand einen Kontakt, der im erforderlichen Augenblick den Motor der Filmkamera in Gang setzt, schaute durch die Luke und schaltete den Motor ein, wenn er dies für erforderlich hielt. Im Panzer befanden sich vier Personen – der Fahrer, der Ladeschütze, der Kommandant und der Kameramann. Der Panzer fuhr in der 2. Kolonne, damit die vier vorderen angreifenden Panzer im Blickfeld der Filmkamera lagen.

Die Leitung der sowjetischen Filmchronik selbst sprach sich übrigens gegen das Verfahren der Inszenierung aus, was sich auch in der „Direktive der Glavkinochronika zum Verbot der Inszenierungen“ vom 8.11.1942 niederschlägt (Fomin 2005, S. 192). Valerij Fomin weist jedoch darauf hin, dass der auf Mininarrativen („Sujets“) aufbauende Charakter des Sojuzkinožurnal (ab dem 15. Mai 1944 umbenannt in Novosti dnja) die Kameraleute nahezu dazu gezwungen hätte, „zusätzliche Aufnahmen“ („dos’’emki“) einzuplanen; Fomin ist der Auffassung, dass die Kameraleute in erster Linie für die zweimal im Monat erscheinende Wochenschau Aufnahmen machten, erst in zweiter Linie für die Dokumentation der Kriegsverbrechen oder für historische Zwecke (im Krieg wurde dies als kinoletopis’ bezeichnet): „Einzelne interessante und aussagekräftige (jarkie) Einstellungen, die nicht in einer Sujetlinie organisiert waren, wurden von der Chronik so gut wie nie genommen.“ (Fomin 2005, S. 184, 185). Häftlingsjacke (erkennbar an einem Detail der Form des Jackenkragen rechts), jedoch mit der provisorisch angehefteten Nummer porträtiert wurden. Offensichtlich wurde die gestreifte Jacke als Zeichen des einwandfreien Häftlingsstatus weitergegeben. Boix war später Zeuge in Nürnberg.

4.3 Katyn’ und Majdanek

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Die Problematik des Fehlens eines journalistisch-dokumentarischen Ethos wird dann virulent, wenn es um ein filmisch dokumentiertes und verbreitetes Falsifikat der Täterschaft im Hinblick auf Gräueltaten geht – wie im Fall Katyn’, als die Außerordentliche Staatliche Kommission Anfang des Jahres 1944 durch Manipulation der Massengräber Beweise sowjetischer Unschuld erbrachte. Die Verbrechen des NKWD auf dem im Zuge des Hitler-Stalinpakts 1939 annektierten ostpolnischen Territorium wurden der deutschen Seite in die Schuhe geschoben. Der auf präparierten Zeugenaussagen und fabrizierten Beweisen beruhende sowjetische Untersuchungsbericht über Katyn’ erschien am 10.–11.1.1944 im sowjetischen Voks Biulleten 1 und im Londoner Soviet War Weekly (3.2.1944) und widerlegte die unter deutscher Aufsicht durchgeführte Untersuchung durch eine internationale Ärztekommission von 1943, was zunächst plausibel klang, war diese doch von Vertretern der Achsenmächte dominiert: „The IMC consisted of experts in forensic medicine from countries allied with or occupied by German forces and one neutral country (Switzerland) who visited Katyn under German auspices on 28–30 April 1943“.297 Ich erinnere kurz an die mediale Vorgeschichte der Exhumierungen. Katyn’ war unmittelbar nach der herben Niederlage in Stalingrad gewissermaßen eine Sternstunde für Reichspropagandaminister Joseph Goebbels. Im Reich musste es das Ziel der Propaganda sein, eine anhaltend hohe Akzeptanz für die Maßnahmen des totalen Krieges zu erzielen, in den besetzten Ländern dagegen eine Akzeptanz des deutschen Besatzungsregimes angesichts der vermeintlichen Bedrohung einer „jüdisch-bolschewistischen Vorherrschaft“ in Europa. (Loose 2015)

Ingo Loose weist darauf hin, dass es „in der nachfolgenden Berichterstattung über Katyń stets einen engen Zusammenhang zwischen der Verantwortung der Sowjetunion und antisemitischer Hetze“ gab, der auch an den Polen nicht spurlos vorübergehen konnte: Dabei waren es vor allem Goebbels, Göring und Hitler selbst, die sich nach wie vor eine große Wirkung einer anhaltenden antisemitischen Propaganda versprachen – zwar in erster Linie nach Innen, aber durchaus auch hinsichtlich der Wahrnehmung Deutschlands in den neutralen Staaten. Angesichts der intensiven Propaganda und unzähliger Pressemitteilungen und Radioberichte, mit denen die Nationalsozialisten für Katyń nun ein internationales Interesse weckten, standen viele Polen zunächst zweifelnd vor der Frage nach der Verlässlichkeit des deutschen Informationsmonopols. (Loose 2015, S. 4)

Ab April 1943 bis Sommer 1944 wurde auf den nur vorübergehend in deutscher Hand befindlichen Massengräbern eine erbitterte Propagandaschlacht zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR, die sich auf die Befreiung bzw. Einnahme Polens vorbereitete, gefochten: Je nach politischer Couleur, der jemand vor 1939 angehangen haben mochte, war das Misstrauen in die Nachricht unterschiedlich stark ausgeprägt. Dennoch schien die Rechnung zunächst aufzugehen, wie Goebbels in seinem Tagebuch festhielt: „Auf der anderen Seite aber 297 Cienciala, Materski, Lebedeva, Materski, Schwartz, Kipp 2012, S. 227–229. 191

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ist der Eindruck, den unsere Meldungen in der nichtfeindlichen Weltöffentlichkeit hervorrufen, außerordentlich tief. Besonders im Generalgouvernement ist man sehr beeindruckt. Es werden von dort Berichte nach Berlin gegeben, die die tiefste Erschütterung der polnischen Öffentlichkeit über die Nachrichten von Katyn wiedergeben. Auch der Eindruck im übrigen Europa ist außerordentlich groß. Wir machen die Sache weiter auf und werden die Engländer und Amerikaner vor allem so lange weiter attackieren, bis sie sich endlich bequemen, Laut zu geben. Man sieht aber auch bei diesem Greuelfall wieder, wie die Juden Hand in Hand arbeiten und was Europa zu erwarten hätte, wenn es sich jemals in die Gewalt der östlichen oder auch der westlichen Vertreter dieser subversiven Rasse begäbe.“298

Der spezifisch antisemitische Aspekt der Katyn’-Enthüllung bereitete in der Wahrnehmung vieler Polen die Vorstellung eines bolschewistisch-jüdischen Komplotts vor, die sich auch auf die Filmspeerspitze beziehen konnte.

4.3.1 Wer filmte 1944 in Katyn’? Im März 1944 folgte der Film Tragedija v Katynskom lesu / Tragödie im Wald von Katyn’299, der sich bemühte, mit visuellen Mitteln nachzuweisen, dass die Täter von Katyn’ nicht dem sowjetischen Geheimdienst angehört hatten. Hierzu liegt nun auf einer internen DVD, die für die Quellenausgabe ‚Plačte, no snimajte!..‘ (Fomin 2018) vorbereitet wurde und im Gosfil’mofond zugänglich ist, das erste Mal eine Montageliste vor, die von Arkadij Levitan verfasst wurde. In der Montageliste VS 70, 71 mit dem Titel „Katyn‘“ (Januar 1944, Kameramann: Levitan) werden Metropolit Nikolaj, Schriftsteller Aleksej Tolstoi und der Chirurg Ak. Burdenko erwähnt (sie werden uns zum Teil als Mitglieder der Polnisch-Sowjetischen Kommission im Sommer 1944 wieder begegnen). Levitan beschreibt, was er in Katyn’ filmte: Auf der Leiche ist eine Metallplakette (birka) eines Konzentrationslagers mit einer Nummer. Alle Taschen sind aufgeschnitten, keine Wertsachen, keine Dokumente. Die Schusswunden werden untersucht. Die Eintrittsöffnung der Kugel im Nacken und der Austritt durch den Stirnknochen. Sie werden vermessen. (VS 70, 71, DVD in Fomin 2018).

Das genaue Ausmessen der Schusswunden ist von Bedeutung, weil der sowjetische Geheimdienst eigens Walther-Polizeipistolen Kaliber 7,65 mm (Fa. Geco) verwendete, um spätere Untersuchungen auf eine falsche Fährte zu locken (vg. Kap. 3). Der Genickschuss wurde als „typische Methode der deutschen Henker“ bezeichnet (VS 70, 71, S. 2), was jedoch in dieser Form nicht zutraf, wie u. a. die vor einigen Jahren erfolgten polnischen Exhumierungen zeigen, wo deutsche Schüsse auch aus Maschinenpistolen kamen („Die Opfer der Deutschen liegen so, wie sie in die Grube gestürzt sind, niedergestreckt von 298 Loose (2015, S. 4) zitiert aus Teil II der Tagebücher vom April 1943: Goebbels 1993, II, S. 109–112. 299 Hicks 2012, S. 173 zitiert einen Artikel aus Literatura i iskusstvo vom 4. März 1944. Der sowjetische Katyn’-Film sowie seine Rezeption erfordert eine weitere Untersuchung.

4.3 Katyn’ und Majdanek

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MP-Garben. Die Opfer der Sowjets weisen alle einen Kopfschuss auf.“ http://www.radiodienst.pl/archaeologie-des-terrors/ [1.2.2019]) Die Erwähnung der Erschießungsmethode gehört zum festen Motivbestand der Propaganda auf beiden Seiten. Die Behauptung, dass es sich um ein jüngeres, d. h. deutsches Massaker gehandelt habe, wurde durch den relativ frischen Zustand der sezierten Gehirne nachgewiesen sowie durch KZ-Metallplaketten im Zusammenhang mit Rangabzeichen (der polnischen Armee) und bei den Leichen gefundene Korrespondenz und Quittungen aus dem Frühjahr 1941, die beweisen sollten, dass der von den Deutschen angegebene Todeszeitpunkt nicht stimmen könne: „angeblich im März-April des Jahrs 1940 erschossen“ („jakoby rasstreljany v marte, aprele 40 g.“ ibid.). Laut Levitans Montageliste wurden in Katyn’ ebenfalls Zeugen „synchron aufgenommen“: der Helfer des Bürgermeisters von Smolensk Bazilevskij, der Arzt Kalačev, Alekseeva (arbeitete in der Küche eines deutschen KZ), Ivanov (Stationsvorsteher Gnezdovo), Moskovskaja (Verwaltungsangestellte aus Smolensk), Zacharov (ehemaliger Bürgermeister in einem Dorf) und der Bauer Kiselev.300 Man kann sehen, dass diese Dreharbeiten denjenigen in Majdanek nicht unähnlich sind. Laut CSDF-Katalog zogen sie sich fast über eine ganze Woche hin (vom 18.–24. Januar 1944). Die Montageliste ist nicht datiert, das erste erwähnte Datum im Text fällt mit der Anwesenheit von Kathleen Harriman, der Tochter des US-Botschafters in Moskau301 und ausländischen Journalisten am 23.1.1944 zusammen. Harrimans Tochter ließ sich vor Ort von der deutschen Täterschaft beim Massaker von Katyn’ überzeugen und verfasste einen Bericht, der der sowjetischen Version folgte. Die Präsentation der Exhumierungsergebnisse erfolgte durch Viktor Prozorovskij, dem Gerichtsmediziner der Kommission. Der Botschafter schickte den Bericht an Präsident Roosevelt und das State Department; später musste er sich hierfür vor der sog. Madden-Kommission verantworten.302 Schließlich hatten bereits 1944 Expertisen des Geheimdienstes CIC eindeutige Indizien für die sowjetische Täterschaft geliefert. Weitere Aufklärung kam durch den Verbindungsoffizier der US-Armee zur polnischen Anders-Armee und durch US-Diplomaten, die in London von der polnischen Exilregierung informiert wurden. Auch George F. Kennan meldete Zweifel an Stalins Version an. In informierten Kreisen verminderte die in verschiedenen Medien verbreitete Katyn’-Falsifikation die Glaubwürdigkeit sowjetischer Kommissionsarbeit, die Kriegsverbrecher und Täter stellen sollte. Auch wenn die Sowjetunion bis 1990 die Verantwortung für den Mord in Katyn’ von sich wies, war der 1943 bei der Exhumierung anwesenden internationalen Ärztekommission und dem Roten Kreuz303 wie auch in polnischen (Exil)Kreisen 300 VS 70, 71, S. 2 auf der DVD zu Fomin 2018. 301 W. Averell Harriman (von 1943 bis 1946), 302 United States House Select Committee to Conduct an Investigation and Study of the Facts, Evidence, and Circumstances on the Katyn Forest Massacre. Vgl. zu K. Harriman das Buch von Krystyna Piórkowska 2012, S. 104, 140. 303 Obwohl dieses freilich nicht ganz neutral war, und wie andere Anwesende bei der Exhumation dem Deutschen Reich verpflichtet oder zugeneigt. 193

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bekannt, wer hinter der Ermordung stand, was zu dem Bruch zwischen der polnischen Exilregierung in London und Stalin und einem Riss in den Beziehungen der Alliierten führte. Der Film Tragedija v Katynskom lesu fügte der moralischen Autorität der UdSSR und der Glaubwürdigkeit sowjetischer Dokumentarfilme (Filmdokumente) im Frühjahr 1944 schweren Schaden zu: To counter the Nazis’ (well-founded) accusations, the Soviets released a shamelessly falsified film in March 1944 entitled Tragedy in the Katyn Forest (Tragediia v Katynskom lesu), also edited by Irina Setkina, which deceitfully blamed the Nazis for the NKVD’s crime. (Hicks 2012, S. 173)

Laut der Webseite des CSDF finden sich jedoch unter den Urhebern des sowjetischen Katyn’-Films weitere Personen, die auch in Majdanek gearbeitet haben wie W. Forbert bzw. Tonmeister V. Kotov (laut Majdanek-Filmografien). Über den Kameramann Arkadij Levitan304 heißt es: „Darüber hinaus hat er nahezu vollständig den Spezialdreh zur Untersuchung der deutschen Gräueltaten im Wald von Katyn’ geliefert. […] Leitender Redakteur Popov, Saakov.“305 Auch aus Levitans Montageliste VS 70, 71 zu Katyn’ geht hervor, dass er die Exhumierung im Januar 1944 gedreht hat. VS 70, 71 ist nicht datiert, möglicherweise bezieht sich die Doppelnummerierung einer Montageliste auf einen zweiten (nicht genannten) Kameramann. Da auf der Seite des CSDF W. Forbert genannt wird, ist es nicht ausgeschlossen, dass es sich um den Majdanek-Kameramann Władysław Forbert handelte, der jedoch – verständlicherweise – diese Aufnahmen im Film Man med kamera nicht erwähnt. Die polnische Beteiligung am Katyn’-Film kommt auch bei Jewsiewicki (1972) nicht vor. Sowohl der tatsächliche Regisseur des Films, I. Posel’skij,306 W. Forbert, als auch der Kameramann Levitan waren jüdischer Herkunft, was offensichtlich zu einer späteren Ausmerzung ihrer Credits zugunsten slawischer Namen geführt hat. Da der vorgeschützte Name Irina Setkina wie auch der nun – in der westlichen Rezeption – diskreditierte sowjetische Begriff des Filmdokuments (kinodokument) mit dem Film Majdanek. Kinodokumenty o čudoviščnych zlodejanijach nemcev v lagere uničtoženija na Majdaneke v gorode Lublin in Verbindung gebracht wurde, scheint sich ein Kreis der Täuschung und der filmischen Fakes in Verbindung mit Setkinas Namen zu schließen. Hicks (2012, S. 14) spricht von „Irina Setkina’s shameful 1943 film about Katyn“. Sowohl der Missbrauch des Begriffs des „Filmdokuments“, durch das sowjetische CSDF-Produktionsstudio als auch Setkinas Name mögen sich negativ auf die schwierige Rezeption des Majdanek-Films ausgewirkt haben, auch wenn die Annahme von Setkinas Urheberschaft – insb. für den Majdanekfilm 1944/45 – fehl am Platz ist. 304 Arkadij Levitan (Orel 1911–2006), parteilos. https://csdfmuseum.ru/names/142-АркадийЛЕВИТАН und https://csdfmuseum.ru/names/170-Виктор-КОТОВ [12.3.2019] 305 RGALI, f. 2487, op. 1, d. 1002, l.171–171 s. ob.; publiziert in „Zabytyj Polk“, Fomin 2018, S. 746. 306 Posel’skij lehnte ab, mit dem Katyn’-Film assoziiert zu werden (mündliche Kommunikation von Valérie Pozner auf der Konferenz zu Sowjetischer Filmpropaganda während des 2. Weltkriegs, Toulouse, März 2015).

4.3 Katyn’ und Majdanek

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Aus sowjetischer Perspektive gehören die Toponyme Katyn’, Lublin wie auch die der befreiten KZs (Majdanek und ein halbes Jahr später Auschwitz) in das vaterländische Narrativ der Befreiung besetzter polnischer Gebiete, wie sie noch in der Serie 16 von Velikaja otečestvennaja vojna mit dem Titel Osvoboždenie Pol’ši / Befreiung Polens von 1979 (Regie: I. Gutman, R. Karmen, Fred Weiner) zu finden ist.307 In der polnisch-sowjetischen Koproduktion Za wolność naszą i waszą / Für unsere und eure Freiheit von Leonid Machnač und Ludwik Perski (1968, Kamera: I. Gutman), die auf „Bestellung des Dokumentarfilmstudios Warschau“ erstellt wurde,308 fehlte Katyn’ jedoch. In beiden Filmen kommt übrigens das jüdische Ghetto in Warschau vor. Slavins (1989, S. 25) Karmen-Biografie aus der Perestroika-Zeit erwähnt in der Aufzählung der genozidalen Orte in „Filmdokumenten“, nicht Katyn’, sondern das 1969 als Gedenkstätte des weißrussischen Leidens errichtete Chatyn’: „Babij Jar und Majdanek, Chatyn’ und Auschwitz. Filmdokumente, die oft das Leben der furchtlosen Chronisten des Kriegs gekostet haben.“ Slavins Buch erschien ein Jahr bevor die UdSSR den Mut hatte, sich zur Verantwortung von Katyn’ zu bekennen – durch Michail Gorbačёv im April 1990. Chatyn’ war eines der vielen weißrussischen Dörfer, deren Bevölkerung unter dem Vorwand des „Bandenkriegs“ grausam ermordet wurde. Chatyn’s Einwohner wurden am 22. März 1943 von einem SS-Bataillon in eine Scheune getrieben, die angezündet wurde. Im Kalten Krieg sollte Chatyn’ als ähnlich klingendes Toponym die 1944 in die Welt gesetzte Unwahrheit aus der Stalinzeit überdecken. Da die Gedenkstätte von Chatyn’ tatsächliche deutsche Verbrechen erinnert, trug sie zu einer weiteren Verdunkelung der Geschichte von Katyn’ bei.

4.3.2 Im Wald von Katyn. Dokumentarische Bildstreifen (1943) und Filmdokumente aus Majdanek (1944–45) Majdanek ist nicht der erste und der letzte sowjetische Film, der sich des Begriffs „Filmdokument“ bedient. Ein Zwischentitel mit dem Wort kinodokument findet sich im aus dem Ende des Jahres 1941 stammenden Sojuzkinožurnal / Союзкиножурнал № 114: „Кинодокументы о кровавых зверствах фашистских мерзавцев в Ростове-на-Дону“ („Filmdokumente über die blutigen Gräueltaten der faschistischen Schurken in Rostov-am-Don“). Der Auschwitz-Film von 1945 enthielt ebenfalls das „Filmdokument“ im Titel: Auschwitz: Kinodokumenty o čudoviščnych prestuplenijach germanskogo pravitel’stva v Osventsime / Filmdokumente über die ungeheuerlichen Verbrechen der deutschen Regierung in Auschwitz (1945; R. Karmen/E. Svilova). Es fällt zudem auf, dass die polnische Gattungsbezeichnung im Vorspann des Majdanekfilms ebenfalls als „Filmdokument“ („Dokument filmowy“) bezeichnet wird, d. h. in vollständiger Analogie zur russischen Fassung. 307 Vgl. die Beschreibung im Katalog des Krasnogorsker Archivs unter der Nr. 26196, die von der „sowjetischen Version“ der „Dokumente der Erschießungen in Katyn’“ spricht. 308 Laut net-film.ru (Moskau): https://www.net-film.ru/film-6562/ [1.1.2019]. 195

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Bedauerlicherweise findet sich das Wort „Filmdokument“ auch in der von der sowjetischen Filmpropaganda verbreiteten Filmspezialnummer mit dem Titel Tragedija v Katynskom lesu / Tragödie im Wald von Katyn’ (1944), die in jeder Hinsicht den Anforderungen an ein Filmdokument widerspricht, da sie mit einer Geschichtsfälschung arbeitet, die versuchte der Gegenseite die eigenen, 1940 in Weißrussland verübten Massenmorde unterzuschieben – und zwar ausgerechnet Morde an Polen (Abb. 4.2).

Abb. 4.2 Screenshot des Vorspanns: Tragedija v Katynskom lesu / Tragödie im Wald von Katyn’ (März 1944) mit dem Begriff „Kinodokumenty“ (Filmdokumente)

Die Spur nach Weißrussland zu verfolgen, lohnt sich, denn ausgerechnet der im Vorjahr entstandene deutsche Enthüllungsfi lm über das Verbrechen mit dem Titel Im Wald von Katyn (Deutsches Reich, 1943) scheint ein Modell für den sowjetischen Grabungsfi lm gewesen zu sein – bis hin zu einer Reaktion auf den Untertitel, der herausfordernd verkündet, es handele sich um Dokumentarische Bildstreifen. Das russische Wort kinodokumenty könnte man sogar als eine Übersetzung der „dokumentarischen Bildstreifen“ auffassen. Im deutschen Film ist die Rede von „Genickschüssen“ als Markenzeichen der sowjetischen Täter, und dass es über die ermordeten Polen hieß, „sie seien Sowjetbürger geworden“ (ein Hinweis auf die pasportizacija, die zwangsweise Einbürgerung, auf die ich in Kap. 7 eingehen werde), in Wahrheit jedoch wären sie „im Wald von Katyn’ verscharrt, um jede Spur von diesem grauenvollen Verbrechen an europäischen Menschen zu verwischen“. Ein „Bauer Kiselow“ wird zitiert (vgl. auch die Befragungen der Anwohner in sowjetischen Filmen, die übrigens in den Majdanek-Filmen fehlen). Der deutsche Film meldet, dass „durch diese medizinischen Sachverständigen die Blutschuld der Sowjets“ festgestellt wurde (Abb. 4.3). Dass die UdSSR wie auch das Deutsche Reich über die jeweiligen Medienprodukte zu Katyn’ bestens informiert waren, zeigt die Katalogkarte zum sowjetischen Film im Reichsfi lmarchiv, der dort offensichtlich vorlag. Laut Alexander Zöller kam der Film vermutlich über Schweden ins Deutsche Reich (Abb. 4.4).

4.3 Katyn’ und Majdanek

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Abb. 4.3 Exhumierungen und Familienfotos aus den Gräbern: Screenshots aus dem Film Im Wald von Katyn. Dokumentarische Bildstreifen (Deutsches Reich, 1943); https://www.youtube. com/watch?v=Th kUp0rning [15.3.2018]

Abb. 4.4

Katalogkarte des sowjetischen Films „Die Tragödie im Walde von Katyn“, „Bild A. Lewitan“ 197

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4.4

Die ersten Berichte der sowjetischen und die Reaktionen der internationalen Presse im August 1944

4.4

Erste Berichte der sowjetischen und Reaktionen der internationalen Presse

Mehrere Reportagen sowjetischer Autoren über die „Todesfabrik“ und das „Vernichtungslager“ erschienen in der Presse. Sie wurden in sowjetischen Zeitungsartikeln vom 10.–12. August 1944 publiziert. Die Artikelserie des Dichters und Kriegsberichterstatters Konstantin Simonov mit dem Titel „Lager’ uničtoženija“ wurde zunächst in der Armee-Zeitung Krasnaja zvezda veröffentlicht, später auch im Radio gesendet (Hicks 2013, S. 242).

Abb. 4.5 Maïdanek, un camp d’extermination. Suivi du compte rendu de la commission d’enquête polono-soviétique, erschienen 1945 in Paris

Durch Simonovs Publikation (Abb. 4.5) wurde international der Begriff „Vernichtungslager“ verbreitet, wobei auff ällt, dass der Titel des Artikels in der Armee-Zeitung Krasnaja zvezda ohne Ortsangabe auskommt, als wäre es gleichgültig bzw. selbstverständlich, wessen Gräueltaten wo entdeckt wurden. Die Parallelen zu den wiederholten Exhumierungen in Katyn’ zu Beginn des Jahres, bei denen zu Unrecht der deutschen Seite die Schuld zugeschoben wurde, lagen damals für informierte westliche Beobachter als Propagandastrategie auf der Hand und wurden durch die fehlende bzw. wechselnde Toponymik dieses generischen deutschen „Vernichtungslagers“ noch verstärkt. Filme von Grabungen, über Skelette gebeugte Gerichtsmediziner und beigebrachte „Sachbeweise“, Uniformen oder in der Kleidung vorgefundene Familienfotos allein funktionierten als Propaganda nicht mehr uneingeschränkt.

4.4 Erste Berichte der sowjetischen und Reaktionen der internationalen Presse

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Die Kunde von der Befreiung des ersten Konzentrationslagers durch alliierte Truppen war folglich von der Katyn’-Propaganda überschattet. Sowjetische Berichte von Exhumierungen in Katyn’ waren während der ersten drei Monate des Jahres 1944 hergestellt und in verschiedenen Medien verbreitet worden. Infolgedessen hielten sich die britischen und amerikanischen Medien im Sommer begreiflicherweise zurück und berichteten nicht selbst über Majdanek, in der Befürchtung, es könnte sich bei der neuen Nachricht über Massenmorde auf polnischem Territorium wieder um eine sowjetische Fälschung zu Propagandazwecken handeln;309 dies mag erklären, warum in den westlichen Medien auch Ende 1944 immer noch von Lublin (und nicht Majdanek) die Rede war. Die britische Times brachte am 12.8.1944 lediglich eine Übersetzung von Simonovs Text.310 Aber auch Simonovs Artikel wurde wenig Glauben geschenkt, seine Beschreibungen, die übrigens gerade auch jüdische Opfer erwähnten, galten als unwahrscheinlich. Als die westliche Aufnahme der Nachricht über Lublin/Majdanek bzw. von Simonovs Artikel nur zögerlich ausfiel, mag die Wahl auf jüdische Reporter und Literaten als jüdische Augenzeugen gefallen sein. In der ersten Augusthälfte war es gerade das Thema des Judenmords, das – zumindest in der sowjetischen Wahrnehmung – im Westen mehr Aufmerksamkeit für Lublin/Majdanek generieren sollte. Dies hat auch dazu geführt, dass die erste amerikanische Foto-Reportage in ihrem Titel „Juden“ und „Russen“ verband: „Lublin Funeral. Russians Honor Jews Whom Nazis Gassed and Cremated in Mass“ (Life, 28.8.1944, vgl. Kap. 9).311 Bald darauf wurde nicht nur die jüdische, sondern auch die journalistische Karte ins Spiel gebracht: Roman Karmen war aufgrund seiner Arbeit für westliche Medien312 und seiner Spanien-Expedition ein sowjetischer Foto- und Filmreporter, dessen Name auch im Ausland bekannt war – ähnlich wie der Sergej Ėjzenštejns, der drei Jahre zuvor die 309 Ein Beispiel für die britische Unterdrückung einer Nachricht zu aus Ungarn in den Osten deportierten Juden ist für Januar 1944 dokumentiert: „Early January 1944 showed how reluctant the FO [Foreign Office] still was to ‚overdo‘ condemnation, as much for the rest of Europe as for Hungary. A member of the PWE team in Stockholm had received a list of Hungarian Jews who been sent to the Eastern Front and had then disappeared.“ Ein Mitarbeiter der BBC argumentiert daraufhin mit Katyn’: „I don’t much like the idea of this broadcast. It would be difficult to make it without raising the question whether we had passed on this list to the British Red Cross and, if not, why not. Moreover the fate of persons ‘missing on the Eastern Front’ is apt to be a delicate subject. Remember Katyn! Subject to PWE’s views I think the matter should be dropped. FO 371/39271 (C 254/116/21), 7 Jan. 1944.“ (Milland 1998, S. 192) 310 Haggith (2005, S. 47) gibt als Publikationsdatum den 14.10.1944 in der Illustrated London News an. 311 Dies wird auch durch die offensichtlich überhastet vorbereitete BBC-Sendung vom 4.9.1944 bestätigt, in der sich der Bundist Emanuel Scherer an die Juden in Warschau wandte und „mass graves at Tremblinki, Majdanka“ [sic] (vgl. Kap. 6.3). 312 Laut Slavin (1989, S. 21) erhielt er seine erste professionelle Fotokamera (eine Ernemann) aufgrund seiner Arbeit für einen amerikanischen Korrespondenten namens Duranty im Zusammenhang mit Filmaufnahmen in Kalinins Büro. Es handelt sich offensichtlich um Walter Durante (New York Times). 199

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4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

„Jüdischen Brüder der ganzen Welt“ mobilisiert hatte (s. u.). Karmen hatte Aufnahmen für den Oscar-prämierten Dokumentarfilm Razgrom nemeckich vojsk pod Moskvoj / Moscow strikes back (1942; R. I. Kopalin/ L. Varlamov, UdSSR) gemacht und war auch als Fotokorrespondent für die ausländische Presse zugelassen.313 Die Majdanek-Publikation des Kameramanns und Regisseurs erschien am 13. August 1944 in der Los Angeles Times und am 14.8.1944 in der in New York herausgegebenen kommunistischen Zeitung Daily Worker („Lublin Extermination Camp Called ‚Worst Yet by Writer‘). Die Publikation von Karmens Bericht in der Zeitung Los Angeles Times mit der Überschrift „Writer Describes Nazi Murder Plant in Poland“ auf Seite 5, zeigt, dass auch zu dieser Nachricht Distanz gewahrt wurde; zusätzlich weist die Zeitung noch darauf hin, dass nur „russische Korrespondenten die Rote Armee begleiten dürfen, mit Ausnahme der wenigen Führungen (conducted tours)“, und dass Karmen ein solcher Kriegsberichterstatter war, dessen „Spezialbericht über das deutsche Krematorium in Lublin“ („special dispatch on the German crematory in Lublin“) die amerikanische Zeitung in Übersetzung abdrucke. Immerhin kam aber Karmen doch selbst zu Wort – anders als Simonov, dessen Artikel in der New York Times am 11.8.1944 nur unter dem Titel „Soviet Writer Tells Horror of Lublin Camp“ referenziert wurde. Somit wurde Karmens Artikel zum ersten Augenzeugendokument in einer englischsprachigen Zeitung. Karmens Filmaufnahmen waren jedoch vorerst nicht verfügbar – und zwar weder in West noch Ost, und auch nicht im befreiten Polen. Die anderen beiden Artikel zu Lublin/Majdanek, die in den führenden sowjetischen Zeitungen erschienen, stammten von Boris Gorbatov, „Lager’ na m/Majdaneke“ („Das Lager in Majdanek“), in der Pravda vom 11.8.1944, und Evgenij Kriger, „Nemeckaja fabrika smerti pod Ljublinom“ („Die deutsche Fabrik des Todes bei Lublin“), in der Zeitung Izvestija vom 12. und 13.8.1944. Shneer (2010, S. 154) erwähnt, dass Simonov den ursprünglich für Lublin/Majdanek vorgesehenen Vasilij Grossman ersetzt habe („because of increasing state-sponsored anti-Semitism“). Grossman hatte bereits 1943 seinen Bericht „Ukraine ohne Juden“ über die deutschen Massaker an der jüdischen Bevölkerung nicht mehr auf Russisch in der Krasnaja zvezda veröffentlichen können, sondern erreichte nur eine kleine Leserschaft auf Jiddisch in Ejnikajt, der Zeitung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees.314

313 Im MoMA-Katalog der Retrospektive von 1973 heißt es: „Carmen [sic] still keeps the telegram of congratulations he received from the president of the United Press International, whose correspondent he had been for many years.“ Vgl. auch Slavin (1989, S. 71), der die Zeitungen aufzählt, die Karmens Berlin-Reportage vom April 1945 aufgriffen, vermittelt über United Press: darunter die New York Times, Daily News und Daily Mirror. Patrick Barbéris und Dominique Chapuis erwähnen in ihrem Dokumentarfilm Roman Karmen, un cinéaste au service de la révolution (2002) Associated Press. 314 Mit einem im Ausland wohlbekannten Autor, Ėrenburg (Ehrenburg), arbeitete Grossman an dem Schwarzbuch über die Verbrechen an den sowjetischen Juden. Der fertige Satz dieser Dokumentation wurde 1948 vernichtet und das Manuskript erst 1980 in Israel als Tamizdat gedruckt. In der Sowjetunion ist das Schwarzbuch nicht erschienen, was dazu beitrug, dass der jüdischen Opfer der deutschen Okkupation nicht explizit gedacht wurde.

4.4 Erste Berichte der sowjetischen und Reaktionen der internationalen Presse

201

Grossmans im September 1944 geschriebenes literarisches Werk „Die Hölle von Treblinka“ konnte sich aber aufgrund seiner exzeptionellen literarischen Qualität doch durchsetzen. Der Text wurde nicht nur gedruckt, sondern die Anklage des Internationalen Gerichtsverfahrens gegen die Kriegsverbrecher in Nürnberg konnte sich aufgrund der Authentizität der in ihr verarbeiteten Zeugenaussagen auf ihn stützen. „Die Hölle von Treblinka“ ist im sowjetischen Kontext als Parallele zu der in verschiedenen Medien erfolgten Behandlung von Lublin/Majdanek zu sehen. Im Vergleich zu der im Sommer 1944 vereitelten Filmsensation über eine „Todesfabrik“ bzw. ein „Vernichtungslager“ stellte Grossmans (2002) mit Augenzeugenberichten arbeitendes und an der Faktenliteratur geschulter Text einen frühen Meilenstein der Literatur über den systematischen Mord an den Juden dar. In stilistischer Hinsicht eher unauffällig konnte der Treblinka-Text für das Verständnis des Völkermords an den Juden weit mehr bewirken als die Filmaufnahmen, und dies bis in die Nürnberger Prozesse hinein. Doch konnte er nicht jene im Sommer 1944 notwendige Signalwirkung erreichen, die die Reporter mit ihren technischen Medien – wenn auch vergeblich – anpeilten. Während Grossmans literarische Skizze oder auch: Essay (očerk) später die Verfolgung der Täter effektiv erleichtern sollte, hätten die sensationellen Filmaufnahmen aus dem ehemaligen Epizentrum der „Aktion Reinhardt“ – wären sie nicht verstümmelt, zensiert und gebremst worden – 1944 direkt ins noch andauernde kriminelle Geschehen eingreifen können. Aufschlussreich ist, dass in den Urfassungen der Manuskripte, die von diesen frühen Zeugen Lublins/Majdaneks, den jüdischen Autoren Gorbatov und Kriger, eingesandt wurden, eine ausdrückliche Erwähnung der jüdischen Opfer zunächst fehlte:315 Hicks weist darauf hin, dass Gorbatov vom Leiter des sowjetischen Informationsbüros (Sovinformbüro) und Sekretär des Zentralkomitees für Propagandafragen, A. Ščerbakov, aufgefordert wurde, Juden als Opfer der Massenvernichtung in seinem Pravda-Artikel zu thematisieren.316 Ščerbakov war einer der Gründer des russischen Schriftstellerverbandes und führte von 1941–45 die Politdivision der Roten Armee. Sein Stellvertreter im Sovinformbüro war Solomon Abramovič Lozovskij, ein Politiker und Diplomat jüdischer Herkunft (vgl. Maslow 1990), später, auf dem Höhepunkt der antisemitischen Paranoia, auch ein Opfer der Repressionen Stalins, der diesem Altbolschewiken bereits 1905 in Finnland begegnet war. Lozovskij war ein „gebildeter, westlich geprägter Mann, der mit den ausländischen Korrespondenten in Moskau umzugehen wusste“ – doch seine Anweisungen erhielt er von Ščerbakov (Rapoport 1992, S. 31, 82). 315 Auch Putraments Artikel in der Rzeczpospolita (5.8.1944, S. 3) hält sich diesbezüglich zurück. Es wird lediglich jüdische Zwangsarbeit genannt, das „Erntefest“ 1943 jedoch nicht als gegen Juden gerichtete Aktion bezeichnet. 316 Hicks 2012 (S. 169 und 255, Berkhoffs Artikel in Kritika 10, 1, von 2009, S. 93 zitierend) führt das Argument an, Ščerbakov sei ein Antisemit gewesen. Um sein Eingreifen im Sommer 1944 zu verstehen, muss zwischen individuellen antisemitischen Vorurteilen und sowjetischer Außenpolitik unterschieden werden (Ščerbakov starb am 10. Mai 1945 – offensichtlich im Zusammenhang mit der Siegesfeier – an Herzversagen infolge einer schweren Alkoholvergiftung in Moskau. 1951 führte eine fabrizierte Anschuldigung seiner Fehlbehandlung durch jüdische Ärzte zu einer antisemitischen Kampagne). 201

202

4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

Das Sovinformbüro hat im Kontext des gleichzeitig stattfindenden Warschauer Aufstands in der ersten Augusthälfte 1944 die Entscheidung der Thematisierung der jüdischen Opfer aus politisch-strategischen Gründen getroffen. Diese liegen in der Entwicklung und der Lage des Lubliner Komitees PKWN im befreiten Polen, welches seine Stellung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln festigen wollte und mittelfristig auf Anerkennung aus dem Ausland angewiesen war. Einige Monate später jedoch glaubte man auf etwaige Unterstützung aus jüdischen Kreisen, die im Sommer 1944 noch als wichtig angesehen wurde, verzichten zu können. Mit der Nachricht über Lublin/Majdanek trat zuerst die Presse an die Öffentlichkeit und dann das Radio – obwohl laut der Berichte und Memoiren der Filmleute eigentlich die Textproduzenten (Journalisten und Schriftsteller), erst nach den Fotografen und Filmleuten in das Lager gekommen waren, wie bei Hicks 2012, S. 157, dagestellt: Recognizing the news value of this discovery and needing to prove their moral superiority over the Nazis, the Soviets hastily sent a group of writers turned journalists, including Konstantin Simonov and Boris Gorbatov, to report on this death camp, the first to be captured.

4.5

Der kleine Unterschied: Lubliner farnikht.ungs-lager Maydanek.. vs. Vernichtungs-Lager

4.5

Der kleine Unterschied

Aufschlussreich ist der Vergleich der einzelnen Titel der im Sommer 1944 erschienenen Informationsbroschüren, die als eine sowjetische Propagandamaßnahme anzusehen sind. Der Moskauer Verlag für fremdsprachige Literatur veröffentlichte Broschüren des „Sonderberichterstatters der Krasnaja Zvezda“ Simonov über Lublin/Majdanek in verschiedenen Sprachen: Auf Englisch wurde – die deutsche KZ-Bezeichnung aufgreifend – nur die Stadt Lublin erwähnt, gepaart mit dem von Simonov eingeführten Begriff des Vernichtungslagers: The Lublin extermination camp (Moscow: Foreign Languages Pub. House),317 was zu Verwirrung führen konnte, da in den westlichen Filmberichten (wie etwa in der erwähnten Lublin-Reportage von British Pathé vom Dezember 1944) v. a. das Lubliner Schloss erwähnt wurde, das aber nicht primär Ort jüdischer Vernichtung war, sondern der politischen Häftlinge und der Leiden der Polen. Das war es auch im Sommer 1944, denn im Schloss saßen Militärs der Heimatarmee ein, was British Pathé freilich nicht erwähnt, ebenso wenig wie das Wort Majdanek oder die jüdischen Opfer der „Aktion Reinhardt“, die vom März 1942 bis November 1943 im Distrikt Lublin Zehntausenden das Leben kostete. 317 In einer britischen Simonov-Publikation aus dem Jahr 1944 wurde die Metapher der „Fabrik des Todes“ mit der Ortsangabe „bei Lublin“ kombiniert: The Death Factory Near Lublin. With Extracts from Further Accounts by War Correspondents and Nine Full-Page Illustrations. Pp. 32. Daily Worker League: London, 1944. Zu Simonovs Rolle in der Majdanek-Berichterstattung vgl. Hicks 2013 und Shneer 2010. Shneer (2010, S. 149) erwähnt als weitere Erwähnung eines „Todeslagers“ in der sowjetischen Presse das ukrainische Chorol’ in Ogonek 20.11.1943.

4.5 Der kleine Unterschied

203

Nur auf Jiddisch wurde diejenige Beziehung zwischen dem sich später durchsetzenden Toponym Majdanek und dem KL Lublin etabliert, die eine klare Zuordnung ermöglichte: Lubliner farnikht. ungs-lager Maydanek.. Moskau, erschienen am 27.11.1944, also demselben Tag, als das Sonderstrafgericht gegen die SS-Männer und Kapos in Lublin begann, d. h. einen Tag nachdem der Majdanek-Film am 26.11.1944 angelaufen war (Abb. 4.6).

Abb. 4.6

Lubliner farnikht. ungs-lager Maydanek.. Moskau: OGIZ, Melukhe-farlag „Der emes“

Wie auch in vielen anderen Sprachen wurde in den deutschen Ausgaben gar kein Ort genannt, so hieß die in Moskau gedruckte Ausgabe Das Vernichtungs-Lager und die Berliner Ausgabe: Ich sah Vernichtungs-Lager (Verlag der sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland) (Abb. 4.7).

Abb. 4.7

Ohne Toponym: Zwei Deutschsprachige Ausgaben (Moskau 1944 und Berlin o. J.); polnische („Lager der Vernichtung“, Moskau 1944) und tschechische Ausgabe („Todeslager“, Praha: Nakladatelství Svoboda, 1945) 203

204

4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

Paradoxerweise beschränkt sich auch die polnische Version, von der man am ehesten eine Verortung erwartet hätte, auf ein generisches „Lager der Vernichtung“: Obóz zagłady, Moskau 1944. Hier fällt zudem auf, dass in den westlichen Publikationen der Begriff „Tod“ überwiegt, während in einigen mittel- und osteuropäischen der spezifischere Begriff der „Vernichtung“ gewählt wird, der den genozidalen Aspekt enthält.318 Es scheint, dass die genaue Kenntnis, wo dieses Vernichtungslager liegt, nur den wenigen verbliebenen Lesern des in hebräischer Schrift geschriebenen Jiddischen zugestanden wurde. Sachlicher geht das später im Verlag für fremdsprachige Literatur in Moskau veröffentlichte 26-seitige deutsche Kommuniqué der polnisch-sowjetischen außerordentlichen Kommission zur Untersuchung der von den Deutschen im Vernichtungslager Majdanek bei der Stadt Lublin begangenen Missetaten vor.319 In diesem stärker juristisch orientierten Kommuniqué, das SS-Rottenführer Theodor Schollen320 und „Kampfpolizist“ Heinz Stalp (beide begegnen uns auch in den Filmaufnahmen) zitiert, wird der Begriff „Vernichtungslager“ als terminologischer verwendet.321 Wo genau die deutsche Fassung des Kommuniqué im Herbst 1944 zur Verbreitung kam, konnte ich nicht feststellen. In den USA wurde das englischsprachige Communiqué am 17. Oktober 1944 durch die Sowjetische Botschaft zugänglich gemacht. Auf Russisch war es bereits am 15.9.1944 erschienen. Wenn Hicks (2012, S. 157) anführt, dass Schriftsteller jüdischer Herkunft die jüdischen Opfer in ihren ersten Verlautbarungen oder Aussagen zunächst unerwähnt ließen, ist die Frage, inwieweit dies auch für die Filmleute Ford und Karmen zutraf.

318 Es erschien auch im Verlag des Außenministeriums (Wydawnictwo Ludowego Komisarjatu Obrony). Weitere Ausgaben erschienen auf Slowenisch, Kroatisch, Italienisch, Spanisch, Ungarisch, Rumänisch und Tschechisch. 319 Auch dieser Text erschien in zahlreichen Sprachen, so etwa auf Spanisch als: La Fábrica de muerte de Maidanek: informe de la Comisión extraordinaria polaco-soviética para la investigación de los crímenes cometidos por los alemanes en el campo de exterminio de Maidanek, ciudad de Lublin. Orbis 1945. Eine 1945 erschienene französische Ausgabe verband Simonovs Text mit dem Bericht der Kommission unter dem Titel Maïdanek, un camp d’extermination. Suivi du compte rendu de la commission d’enquête polono-soviétique. Couverture de Joël. Paris: Éditions sociales. Als Autor wurde „ Constantin Simonov (Correspondant spécial du journal l’Etoile Rouge de Moscou) „ angeführt. 320 „Schollen aus Geldern“ bzw. Schoellen, wie er in Müller / Schaarschmidt / Weigelt / Schmeitzner (2015, S. 199) genannt wird, im deutschen Majdanek-Film heißt er „Thermolen“. Stalp wird in dieser Publikation als Blockältester bezeichnet. 321 Im russischen Kommentar zum Film wird hervorgehoben, dass die „Deutschen selbst Majdanek Vernichtungslager [dt.] genannt hätten.“

4.6 Karmens Spezialaufgaben: Kameramann und Journalist

4.6

Karmens Spezialaufgaben: Kameramann und Journalist

4.6

Karmens Spezialaufgaben: Kameramann und Journalist

205

…er war einer der unermüdlichsten, vitalsten und kühnsten der ruhmreichen Garde der Frontkameramänner. Er filmte auf verschneiten Feldern bei Moskau und im Hunger leidenden vereisten Leningrad, an der Westfront und den Ukrainischen Fronten, bei Wjasma und Jassy, an der Weichsel und Oder, auf den Trümmern von Berlin und dem Platz am Reichstag… er filmte von Panzern und Flugzeugen aus und auf der „Nachschubbahn des Lebens“ am Ladogasee… Ferner: die Kämpfe in Stalingrad und Gefangennahme des Feldmarschalls Paulus… von ihm stammen auch die Aufnahmen im Vernichtungslager Majdanek, der Befreiung Warschaus und Unterzeichnung der Akte über bedingungslose Kapitulation des faschistischen Deutschlands. (Roman Karmen: Katalog / Sovexportfilm 1976, S. 26).

Der erste Bericht über Majdanek, der in einer amerikanischen Zeitung zu lesen war, war jedoch nicht die Artikelserie von Simonov, sondern stammte, wie oben erwähnt, von seinem Freund und Kollegen, Roman Karmen, dem sowjetischen „Reportergewissen“ („репортерская совесть“).322 Karmen hatte sich seine Sporen im Spanischen Bürgerkrieg verdient, wo er westliche Spanienkämpfer kennengelernt hatte. Dokumentarfilmer Joris Ivens hat ihn etwa mit E. Hemingway bekannt gemacht (Slavin 1989, S. 31, 73). Dort traf er auch auf seinen ersten Moskauer Mentor und Förderer, den legendären Journalisten und Herausgeber der illustrierten Zeitschrift Ogonek, Michail Kol’cov, der ihm eine „klare politische und moralische Position eines Künstlers“ nahebrachte (ibid., 29–31). Bereits in Spanien warnte er Karmen vor Repressionen, denen er einige Jahre später selbst zum Opfer fiel.323 Der aus dem Spanischen Bürgerkrieg mit ergrautem Haar zurückgekehrte Karmen (Slavin 1989, S. 11, 95) schwor „Herrn Hitler nach dem Krieg die Bilder der Bombenopfer“ vorzulegen (vgl. hierzu die Aussagen seiner Söhne und Kollegen in I. Grigor’evs russischem 322 Fomin (2018, S. 68) zitiert eine zeitgenössische Quelle aus dem russischen Archiv RGALI, f. 2487, оp. 1, d.1002, l. 53. 323 Geboren als Moisej Efimovič Fridljand (Моисей Ефимович Фридлянд) 1898 in Kiew verbrachte er eine gemeinsame Schulzeit mit Kaufman/Vertov in Bialystok. Der Journalist war Vorbild für die Figur Karkov im Roman For Whom the Bell Tolls (1940). Er wurde im Dezember 1938 als Trotzkist und Terrorist verhaftet. Kol’cov ‚gestand’ nach seiner Verhaftung unter NKWD-Folter, dass der frühere Chefredakteur der Pravda Karl Radek ihn als Terroristen angeworben hätte, auch der Regisseur Vsevolod Mejerchol’d sei an diesen Plänen beteiligt gewesen. Ihm wurden Aussagen über Il’ja Ėrenburg, Hemingway und Malraux abgepresst. Am 1. Februar 1940 wurde er zum Tod durch Erschießen verurteilt. Kol’covs am nächsten Tag folgende Hinrichtung fand bereits während der Gültigkeit des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts statt, und dies, obwohl er u. a. gestanden hatte, ein deutscher Spion zu sein. Seine Frau, Maria Osten, stammte aus Deutschland und wurde 1942 in Saratov ebenfalls erschossen. 1942 war im Übrigen auch das Jahr der Erschießung des Konstruktivisten und Gründers der ersten sowjetischen Filmzeitschrift Kino-Fot (1922) Aleksandr Gan, dem Mann der Pionierin des Kompilationsfilms Esfir’ Šub, die ebenfalls im CDSF bei der Filmchronik arbeitete und 1939 den Film Ispanija (Spanien) zusammengestellt hatte, auf der Grundlage der Aufnahmen von Karmen und B. Makaseev. Vgl. hierzu https://csdfmuseum.ru/names/9 [2.10.2018] 205

206

4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

TV-Dokumentarfilm Roman Karmen in der biografischen Serie Ostrova aus dem Jahr 2006). Es scheint, dass Karmen – abgesehen von den Aufträgen und der Arbeit für die sowjetische Wochenschau – ein Fernziel für seine Kameraarbeit und Filmberichterstattung hatte. Dies wird in Gänze aus seinen juristisch motivierten bzw. der Gattung des Gerichtsfilms angehörenden Werken ersichtlich, so zum Beispiel im mit dem Stalinpreis ausgezeichneten Film Sud narodov / Gericht der Völker (mit Elizaveta Svilova, 1946) über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess. Ein Vergleich dieses Films mit den Maj­danekfilmen erlaubt einen Rückschluss auf den Anteil der Autorschaft Karmens. In Sud narodov wird ebenfalls das ökonomische Motiv betont bzw. ausgebaut, indem Walther Funks „Raubkrieg“ und die „Raubökonomie“ des Bankiers Hjalmar Schacht enthüllt werden. Die Schuld tragen die „wahren Herren Deutschlands und Fabrikanten des Todes“ Krupp (21:20),324 die Rüstungsfabrikanten und Bankiers, die Hitlers Machtergreifung über einen Fonds finanziert haben.325 Günther Agde formuliert Karmens Aufgabe wie folgt: der „abendfüllende sowjetische Dokumentarfilm über den Nürnberger Prozess […] demonstrierte eine moderne, den Intentionen der sowjetischen Außenpolitik der frühen Nachkriegszeit adäquate filmische Darstellung eines international außerordentlich wichtigen Ereignisses.“326 Im zweibändigen Kinoslovar’ (Moskau 1970, II, S. 860) wird der uns bekannte Boris Gorbatov327 als Autor des Texts zu diesem Film angeführt, Karmen als „Autor-Regisseur und Leiter der Aufnahmen“ („avtor-režisser i rukovoditel s’’emok“), Svilova als Regisseur (režisser); den Ton besorgte – wie beim Majdanekfilm – Viktor Kotov. Gorbatovs Beteiligung an Sud narodov zeigt, dass sich gerade in der marxistischen Analyse der KZs von Majdanek bis zur Darstellung des internationalen Gerichtsverfahrens in Nürnberg eine Handschrift erkennen lässt, die man auf die Majdanek-Augenzeugenschaft des Sommers 1944 zurückführen kann.328 324 In Sud narodov ist die Rede davon, dass die Nazis „den Tod zu einem kommerziellen Unternehmen gemacht haben“ und „die ganze Welt in ein Majdanek verwandelt hätten“, wenn nicht die UdSSR eingeschritten wäre (online zugänglich auf der Seite des CSFD https://csdfmuseum. ru/films/81-Суд-народов9). – Die anti-kapitalistische Propaganda findet sich jedoch auch in der polnischen Fassung des Majdanek-Films. 325 Nicht nur sowjetische Marxisten verfolgten diese ökonomisch fundierte Analyse – vgl. hierzu die Darstellung des Historikers Antony C. Sutton 1976. 326 Agde 2006, S. 135. Agde führt Svilova und Karmen als Regisseure an. 327 Mark Donskojs Spielfilm Nepokorennye / Die Unbeugsamen basiert auf einem Buch von Boris Gorbatov. Dieser Film etwa zeitgleich mit den Majdanekfilmen im Kiewer Studio gedrehte Film nahm sich des Themas der Vernichtung der Juden auf sowjetischem Boden an und kam erst im Oktober 1945 in die Kinos; zu den Verzögerungen durch den Chudsovet [Künstlerischen Rat], namentlich Ivan Pyr’ev, vgl. Hicks 2012, S. 151–152. Gorbatov verteidigte Donskojs – im Vergleich zu seinem Text – stärkere Betonung des jüdischen Schicksals. Donskoj verfilmte im Kiewer Filmstudio auch Wanda Wasilewskas Novelle Tecza / Regenbogen über dem Dnjepr unter dem Titel Raduga / Regenbogen (1944). 328 In historiografischer Form greift Karmen den 2. Weltkrieg auf in Velikaja otečestvennaja / Der große vaterländische Krieg (1965, 127 Min.) und seinem Spätwerk, der sowjetisch-amerikanischen Produktion, Neizvestnaja vojna / The Unknown War (1979), an der Burt Lancaster als Sprecher beteiligt war. Vgl. hierzu im Film Roman Karmen (2006) die Aussagen zu Karmens

4.6 Karmens Spezialaufgaben: Kameramann und Journalist

207

David Shneer hat auf die besondere Stellung der Fotografien aus Majdanek im Sommer 1944 hingewiesen: One of the things that distinguished the visual record of Majdanek from those of the dozens of other sites of atrocities was the fact that the Soviet press, and on occasion the foreign press, published an extensive photographic record. (Shneer 2010, S. 156)

Umso auffallender ist, dass die Majdanek-Filmaufnahmen, die damals gemacht wurden, erst im Spätherbst zum Einsatz kamen – obwohl auf sowjetischer Seite als primus inter pares der Dokumentarfilmer Karmen mitwirkte. Jeremy Hicks (2012) zitiert ein überaus aufschlussreiches Dokument aus dem Archiv des Moskauer Filmmuseums (Signatur 32/1/26), aus dem hervorgeht, dass Karmen im Juli 1944 von der politischen Führung der Roten Armee mit einer Spezialaufgabe betraut wurde, die es ihm ermöglichte, sich gemeinsam mit den vier nach Westen schreitenden „Fronten“ der Roten Armee an die Orte zu begeben, wo mit der Kamera auf frischer Spur dokumentiert werden konnte: Roman Karmen, whom the political directorate of the Red Army had just assigned “the special task” of documenting the most important events involving four fronts (a type of military unit), including actions by the First Belorussian Front whose operations encompassed the Lublin region; the directorate issued Karmen a letter of introduction to this effect just one day after the camp had been liberated. (Hicks 2012, S. 157)

Da dieses Dokument einen Tag nach der Entdeckung von Majdanek ausgestellt wurde, scheint der Bezug zur Dokumentation der Gräuel der Ermordung der europäischen Juden offensichtlich.329 Zugleich verändert sich dadurch unser Blick auf Karmens Funktion. Am 17. Juli 1944 filmte Karmen noch in Moskau, anlässlich des Konvois deutscher Kriegsgefangener durch die sowjetische Hauptstadt. Eine Woche später erreicht ihn sein Spezialauftrag.330 Dass die Wahl auf einen namhaften wie auch politisch zuverlässigen331 jüdischen Filmreporter fiel, schien in erster Linie die Funktion der Authentifizierung der Information für Leser in den Ländern der Alliierten (für das alliierte Publikum) zu Bemühungen der Erweiterung des „Raums der Wahrheit“ („Prostranstvo pravdy“), als die Frage gestellt wurde, wieviel Wahrheit 1979 etwa über das Jahr 1939, als jüdische Kommunisten von der UdSSR den Deutschen übergeben wurden, gesagt werden konnte. Eine Analyse der 20-teiligen Dokumentarproduktion Neizvestnaja vojna im Hinblick auf den Holocaust steht noch aus. 329 Karmen wurde bereits 1935 und 1937 mit Dreharbeiten zu jüdischen Themen betraut: Er war an Filmaufnahmen im Jüdischen Autonomen Gebiet Birobodžan und über die Umsiedlung der georgischen Juden in die Kolchis beteiligt (Mislavskij 2013, S. 167–8). Wie es scheint, hat sich Karmen jedoch nach 1947 der Vernichtung der Juden nie wieder in der Ausschließlichkeit gewidmet wie vor und während des Kriegs bzw. im Kontext der Nürnberger Prozesse – auch wenn nur implizit. 330 Vgl. die CSDF-Nummer Kriegsgefangenen-Konvoi in Moskau / Конвоирование немцев через Москву, https://www.youtube.com/watch?v=_Boq-HLF1mM [9.4.2018] 331 Karmen war seit Oktober 1939 Parteimitglied der KPSS (Derjabin 2016, S. 352). 207

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4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

haben: Wenn ein Kaliber wie Karmen den durch Deutsche verübten Genozid an seinem eigenen Volk bezeugt, werden sowohl jüdische Kreise wie auch der progressive Westen der Nachricht eher Glauben schenken, als wenn sie von dem unbekannten, aus Saratov stammenden Russen Sof’in kommt. Wenn wir bedenken, dass für den an den jüdischen Starreporter Karmen ergangenen Spezialbefehl der als Antisemit bekannte Ščerbakov verantwortlich war, werden wir gewahr, dass ab der ersten Entdeckung eines deutschen Vernichtungslagers durch die Rote Armee die Dokumentation der Ermordung der Juden und anderer Gräuel von oben als Propaganda-Coup geplant und kontrolliert wurde. Die Majdanek-Aufnahmen unterlagen also nicht nur der militärischen Zensur (von Belang aufgrund des Umgangs mit Kriegsgefangenen) bzw. der Geheimhaltung, sondern auch der politischen Kontrolle, die sich gerade in den Befreiungssujets niederschlägt. Auf Stalins im Frühjahr 1944 geschärftes Interesse an der sowjetischen Filmchronik hat Laurent (2000, S. 123–124) hingewiesen. Ein ähnliches Schreiben hatte übrigens auch der Fotograf Temin in der Tasche, wie er 1985 Jurij Gladkov erzählte: „der Fotokorrespondent hatte einen Wunder-Ausweis, unterschrieben von Stalin persönlich. Er erlaubte Temin sich ohne jegliches Hindernis an allen Fronten aufzuhalten.“ (Gladkov 2015) Aufgrund dieses Spezialausweises war es ihm möglich, am 1.5.1945 ein Militär-Flugzeug anzuheuern und über dem rauchenden Berlin den Reichstag mit rotem Banner aufzunehmen. Temin wurde aufgrund dieser Aktion verhaftet; da Stalin das sensationelle Foto, das für die Pravda bestimmt war, zusagte, wurde dem Fotokorrespondenten verziehen (ibid.). Wie ich bereits angedeutet habe, bot sich das kaum zerstörte Majdanek mit seinen grotesken Szenerien als ausgezeichnetes Propaganda-Material an – allerdings bedurfte es hierfür eines nicht nur erfahrenen, sondern auch künstlerisch kreativen Blicks. Es nimmt nicht wunder, dass Karmen ausgewählt wurde, parallel zu drei weiteren wortgewandten Autoren: Zwei waren jüdischer Herkunft, der dritte war ein populärer russischer Lyriker. Was jedoch erstaunt, ist, dass Karmens professionelle Film-Arbeit nur begrenzt und mit großer Verspätung zur Anwendung kam, sein literarisches Zeugnis jedoch bereits in der ersten Augusthälfte gefragt war. Offensichtlich entschied die politische Führung im Verlaufe des Monats August, dass Filmaufnahmen – einmal in Umlauf gekommen – weit weniger leicht zurückgenommen werden können als Worte. Dies könnte erklären, warum Karmens Majdanek-Aufnahmen erst 1945 in sowjetische Kinos kamen. Wie ich im Folgenden zeigen werde, ist dieser Aufschub im Jahr 1944 noch nicht durch einen aktiven Antisemitismus von Entscheidungsträgern zu erklären – weder im politischen Sinne noch aufgrund der persönlichen Einstellung eines Einzelnen. Sie sind vielmehr politischer und juristischer Natur. Der Aufschub hängt mit einer hinter den Kulissen stattfindenden Auseinandersetzung darüber zusammen, wie ein Vernichtungslager filmisch dargestellt werden kann – und zwar in einer politisch nützlichen Form. Dieser utilitaristische Zugang zur Entdeckung des ersten Konzentrations- und Vernichtungslagers als Propagandamaterial hatte allerdings im Hinblick auf die Juden Europas tragische Auswirkungen.

4.7 Fehlende filmische Steckbriefe der Herren des Lubliner „Todeskombinats“

209

Die sowjetische Führung wollte sich zunächst offensichtlich die international spielbare ‚jüdische Karte’ – und als nichts Anderes sah man die vorliegenden Beweise für den im besetzten Polen betriebenen Massenmord an den europäischen Juden – für später aufheben, da die internationale Bedeutung von Majdanek nur über das Los der jüdischen Häftlinge zu vermitteln war. In diesem Zusammenhang ist jenes „fantastische Bild“ („fantastyczny obraz“) zu sehen, das Karmen, die Fords und der Drehbuchautor Bossak für die Gestaltung des Majdanek-Narrativs entwickeln, und zwar in einer visuell-ästhetischen Form, die auf der Höhe ihrer Zeit ist und nicht an drastischen Verfahren spart. Jenes Majdanek, das durch die „Berge von 800.000 Paar Schuhen“ bekannt wurde, durch Bilder von „Menschen mit in die Brust gebrannten Nummern“ (um aus der polnischen Version zu zitieren: „ludzi z wypalonymi na piersiach numerami“), „weite Felder üppig wuchernden Kohls“ („szerokie pola bujnej kapusty“), gedüngt mit Asche verbrannter [jüdischer] Menschen, Fotos in Fetzen („strzępy jakichś fotografii“), „blutige Puppen“ („lalki“), dazwischen unheimliche Inseln der Zivilisation und Hygiene in Form von Klosetten und Gartenbeeten, „aber nur für die SS“, und tödliche (Pseudo-)Hygiene für [v. a. jüdische] Häftlinge in den zwei Badehäusern: eines zum Entlausen und Duschen, das andere zur tödlichen Desinfektion mittels Zyklon B. Dieser surreal-„fantastische“ Motivkatalog der aus ganz Europa auf besetzten polnischen Boden verschleppten und dort ermordeten Menschen war die eigentliche Sensation im Sommer 1944, die indirekt auch von den Ausmaßen der „Aktion Reinhardt“ kündete, denn es waren die Schuhe, Ringe und Puppen der vernichteten Juden, die hier von den sowjetischen und polnischen Teams in den NS-Magazinen von Lublin gefilmt wurden. Doch das Material erfuhr 1944 auch nicht annähernd die mediale Verwertung, die es verdient hätte.

4.7

Fehlende filmische Steckbriefe der Herren des Lubliner „Todeskombinats“

4.7

Fehlende filmische Steckbriefe der Herren des Lubliner „Todeskombinats“

Extermination installations were built at Majdanek – most sources indicate – at the inspiration of Globocnik, who ‘on numerous occasions inspected the camp and was particularly interested in gas chambers’ [Nbg. Doc. NO-1903, Affidavit of Friedrich W. Ruppert of 6 August 1945]. Additionally, we can assume that the decision to build chambers for murdering people at KL Lublin was indirectly related to Himmler’s order dated 19 July 1942, in which he set the date of 31 December 1942, as the deadline for ‘cleansing’ the General Government of Jews. According to that decree, Majdanek was supposed to serve as a gathering point (Sammellager) and a labour camp, but it was known that the only Jewish prisoners who were temporarily excluded from extermination were people aged 16 through to 35 who were able to work.332

332 http://www.majdanek.eu/en/pow/gas_chambers_at_majdanek/57 [2.5.2019] 209

210

4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

Die durch die SS straff disziplinierte Logistik der Deportationen (verantwortlich war hierfür Adolf Eichmann) in das „Todeskombinat“ bei Lublin samt der bis ins Detail durchorganisierten räuberischen Ökonomie des Judenmords im Bezirk Lublin (organisiert durch Odilo Globocnik, verantwortlicher Leiter der „Aktion-Reinhardt“) war jenes Europa umspannende und universale Thema, das die Menschheit hätte erstaunen und bewegen können. Analog zu Grossmans Namensnennungen auch der mittleren Chargen in Treblinka (wie etwa Franz Suchomel) hätte das sowjetische Dokumentarfilmstudio filmische Steckbriefe333 rechtzeitig und wirkungsvoll ausstellen und verbreiten können, zumindest für den in Lublin wohlbekannten Globocnik, der die Villa der Apotheker Haberlau und Łobarzewski bezogen hatte.334 Ich werde auf die Bedeutung der mehrjährigen Präsenz dieses Kriegsverbrechers in Lublin für die Filmproduktion noch im Detail eingehen. Visuelle hätten im Vergleich zu den literarischen Steckbriefen dafür gesorgt, dass die kriminellen Machenschaften hätten gestoppt werden bzw. dass die Verbrecher zu Kriegsende nicht der Gerechtigkeit entgehen können – sei es durch einen feigen Suizid in Kärnten oder durch ein Sich-Absetzen über Italien nach Südamerika. Sowohl Globocnik als auch Eichmann hielten sich im Jahr 1944 selten im zerstörten und alliierten Bombenangriffen ausgesetzten Berlin, sondern an sicheren Orten in Europa auf, wo sie entweder weiter Juden jagten und beraubten bzw. Spuren ihrer Verbrechen verwischten oder – wie im Fall Eichmanns – lukrative Geschäfte mit den Judenräten in Ungarn machten; und dies gelang ihm, weil das Gros der Juden in Ungarn bisher von ihrer geplanten Vernichtung keine glaubwürdige Nachricht erhalten hatte bzw. ihr keinen Glauben schenken wollte. Europa verharrte nämlich weiter in einer sträflichen Ignoranz bezüglich der Wahrheit über die Ermordung der europäischen Juden und der andauernden Realität der auf Hochtouren arbeitenden Gaskammern von Auschwitz, deren Schwesterkammern in Majdanek bereits im Juli 1944 entdeckt worden waren. Eichmann und Globocnik konnten 1944 ungehindert die Früchte ihrer – zum Teil auch innerhalb des damaligen deutschen Rechtssystem illegalen – Raubzüge genießen und Entlastungsbeweise für die Zeit nach Kriegsende herstellen, wie etwa den im August und September 1944 gedrehten Film über das glückliche Leben der europäischen Juden in Theresienstadt, der im April 1945 dem ungarischen Zionisten Rudolf Kasztner vorgeführt wurde (im Gegensatz zu den Majdanek-Filmen, die 1944 keinen der Judenräte in Mitteleuropa erreichten). Beim Entwerfen der SS-Entschuldungsnarrative wurden auch allfällige Fluchtwege mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes erkundet.335

333 Solche fanden sich im Auschwitz-Film von 1945, wo Fotos der SS gezeigt wurden mit der Aufforderung, sich die Gesichter einzuprägen (vgl. Hicks 2012, S. 183). Der Name und die (ehemalige) Funktion von Globocnik fanden sich aber in den Communiqués der polnisch-sowjetischen außerordentlichen (Communiqué, S. 26). 334 „Willa Odilo Globocnika – OP8FYA“. https://opencaching.pl/viewcache.php?cacheid=50141 [1.1.2019] 335 Zu Eichmanns Biografie im Jahr 1944 vgl. Stangneth 2010 und 2011. Zum Theresienstadt-Film vgl. Drubek 2016a und b.

4.7 Fehlende filmische Steckbriefe der Herren des Lubliner „Todeskombinats“

211

Die wichtigsten von Globocnik organisierten und von Eichmann belieferten Vernichtungslager wurden bereits im Juli 1944 von der Roten Armee und der Polnischen Volksarmee entdeckt. Zunächst waren es die unheimlichen Topografien des von den Organisatoren des Genozids heimgesuchten polnischen Territoriums: Lager- und Mordstätten, die entweder für die „Aktion Reinhardt“ errichtet worden waren oder – wie das KL Lublin/Majdanek – mit ihr in Beziehung standen. Auch wenn die mit wuchernden Pflanzen bedeckte Erde sich aufgrund der unterirdisch arbeitenden Massengräber noch bewegte, waren die meisten dieser Orte als Tatorte bereits unkenntlich gemacht und schwer filmbar, ja der Geruch, den die Besatzer hinterlassen hatten, gar nicht mit technischen Medien dokumentierbar. Anders das multifunktionale KL Lublin, das sich als einer der banaleren Apparate des Sortierens und Mordens von Globocniks Lublin-System und einigen politischen Häftlingen für die Kameraaugen der Roten Armee eignete. Von seinen Befreiern unkenntlich gemacht als „Todesfabrik“ mit dem „furchtbaren“ Namen „Majdanek“ war dieser von der SS „judenfrei“ gemachte Komplex des KL Lublin das, wonach die sowjetischen Propagandaschmiede gesucht hatten, und das ihnen in der letzten Juliwoche als makabres Filmset in fertiger Form in den Schoß fiel. Ob es nun Stalin persönlich, dem Karmen im März 1944 einen Bittbrief geschrieben hatte, er möge an die jugoslawische Front geschickt werden,336 oder Ščerbakovs Amt war, das mit Roman Karmen eine passende Person nach Lublin geschickt hatte, Moskau entschied, dieses exklusive „Export“-Material nicht auszunützen – zumindest nicht 1944. Wir werden im Verlauf der Schilderung der Produktionsgeschichte der Filme in Kap. 5 sehen, wodurch dieses Umschwenken und Zurückhalten der Information bedingt war, diese Prioritäten im Detail beschreiben und chronologisch zuordnen Hicks (2012, S. 158), spricht treffend von „shifting priorities“, doch kann ich ihm in einem Punkt nicht zustimmen, und zwar der Vorstellung von „clear guidelines warning filmmakers from referring to the Nazi’s murder of Jews.“ (Hicks 2012, S. 171) Wie ich in Kapitel 9 im Hinblick auf die Vorschriften der aufzunehmenden Motive zeigen werde, widersprächen solche „klaren Richtlinien“, die Kameraleute vor „Aufnahmen, die sich auf den Judenmord beziehen, warnen würden“, in jeder Beziehung den Vorgaben für Filmoffiziere der Roten Armee. Die Dejudaisierung der sowjetischen KZ-Aufnahmen erfolgte auf weit subtilere Weise, und auch zu einem späteren Zeitpunkt. Zum Zeitpunkt der Entdeckung des unzerstörten KL Lublin war die Dokumentation des Mords an den Juden noch Bestandteil der sowjetischen Propagandastrategie – spätestens Ende August war dies jedoch nicht mehr der Fall. Die Chronologie der beiden Premieren zeigt, dass Moskau A. Fords Filmfassung der Majdanekaufnahmen für das befreite Polen als lokale Auswertung priorisierte und die Uraufführung in Lublin stattfinden ließ – dies war keinesfalls selbstverständlich, denn Karmen hat sicherlich erwartet, dass seine Aufnahmen der Schädel- und Knochenberge sowohl das Publikum zu Hause als auch in verbündeten bzw. neutralen Ländern erreichen würde. Ähnlich wie im Fall der Karmen-Aufnahmen im Spanischen Bürgerkrieg: Gefilmt

336 Kremlevskij kinoteatr 2005, Dokument Nr. 250. 211

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4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

wurde im August, und die Filmchronik war – übrigens geschnitten von Setkina – innerhalb eines Monats, nämlich Mitte September, fertig.337 Davon zeugt der vorletzte Absatz in Karmens erster Montageliste, in dem er fordert, man müsse der Welt von dieser Entdeckung berichten: Der Majdan ist die Verkörperung, das Konzentrat des Hitlerismus. Majdan – das ist die „neue Ordnung in Europa.“ […] Darüber, was hinter dem Stacheldraht des deutschen gesamteuropäischen Todeskombinats vor sich ging, muss der ganzen Welt, allen Generationen erzählt werden.338

Da Karmens Majdanek-Aufnahmen erst vom 4. Bis 12. Januar 1945 gezeigt wurden – in der Saison des während des 2. Weltkriegs wieder zu Bedeutung gelangten russisch-orthodoxen Weihnachtsfests – kann man in Bezug auf das sowjetische Publikum von einer verschenkten Gelegenheit sprechen. Karmen selbst mag über die Tagespolitik der sowjetischen Expansions- bzw. Einflussstrategie in Polen hinaus ein Ziel verfolgt haben, das ihm durch seinen „Spezialauftrag“ erleichtert wurde. Sein Ziel war offensichtlich weder ein propagandistisches noch die Dokumentation der Wahrheit im engeren Sinne, sondern die Sicherstellung von Filmmaterial, das dazu geeignet sein sollte, die Kriegsverbrecher und Massenmörder und damit auch die Täter der Ermordung der europäischen Juden vor Gericht zu stellen und bestrafen. Inwieweit es Karmen bewusst war, dass das von oben verordnete Zurückhalten der Informationen über den Genozid für Hunderttausende Juden den Tod bedeutete, ist unklar.

4.8

Diskussionen um die Authentizität der Filmaufnahmen und Holocaustleugnung

4.8

Diskussionen um die Authentizität der Filmaufnahmen

Wirft man einen Blick auf die deutsche Rezeption der Befreiungsfilme in der unmittelbaren Nachkriegszeit, fallen zwei Details auf. Das „(Nach)Stellen“ dokumentarischer Filmszenen war durchaus bekannt und wurde diskutiert, wie man dem von Günter Jordan (o. J.) zitierten Artikel über „Das unauslöschliche Brandmal“ (von H. U. E., d. i. Hans Ulrich Eylau) anlässlich der Aufführung eines KZ-Befreiungsfilms im Puhlmann-Theater in der Schönhauser Allee 148 (erschienen in der Täglichen Rundschau, 21.6.1949) entnehmen kann. Die Rede ist von einem „nicht gestellten“ Film, einem „Bildbericht“, in dem es „[k]eine Tricks der Regie“ und kein „Fälschen“ der „Aussage“ gibt. Allerdings fehlen in dieser Aufzählung nicht nur die unsichtbaren Todeslager der „Aktion Reinhardt“, sondern auch Majdanek: 337 Vgl. Kommentar zum Dokument Nr. 121 in Kremlevskij kinoteatr 2005. 338 „Майдан – воплощение концентратгитлеризма [sic]. Майдан – это и есть „новый порядок в Европе“. […] О том, что происходило за колючей проволокой германского всеевропейского комбината смерти нужно рассказывать всему миру, поколениям.“ (VS 1008; S. 2–3; in Fomin 2018)

4.8 Diskussionen um die Authentizität der Filmaufnahmen

213

Auschwitz, Sachsenhausen, Buchenwald, Theresienstadt, Dachau, Ravensbrück – gleichgültige Namen, Dörfer, Städtchen, wie es sie überall in der Welt zu Tausenden gibt, ohne dass außer den Einwohnern und der Nachbarschaft irgendjemand von ihrer Existenz Kenntnis nehmen müsste. Und doch sind es Namen, die für die Welt zum Begriff geworden sind: zum Inbegriff der Schande faschistischer Barbarei im Grauen der Konzentrationslager, die eine deutsche Schande war. Als nach dem Kriege die Schande in ihrem erschütternden Ausmaß und das Grauen mit all seinen erschreckend fürchterlichen Einzelheiten bekannt wurden, da wachten viele Deutsche auf und kamen zur späten Einsicht. Denen, die zweifelten, die dem gedruckten und dem gesprochenen Wort misstrauten, weil sie nicht für möglich halten konnten, was doch nur zu möglich geworden war, öffnete ein Film die Augen, den während und nach der Befreiung des Lagers Auschwitz durch die Sowjetarmee sowjetische Kameraleute gedreht hatten. Es war nichts gestellt an den Aufnahmen dieses knappen, konzentrierten Bildberichtes. Keine Tricks der Regie, kein leidenschaftliches Pathos des Drehbuchs färbten oder fälschten ihre Aussage. Sehr nüchtern und sachlich war der Anblick festgehalten, der sich dem Auge der Befreier bot.

Außerdem fällt auf, dass von den polnischen Kameraleuten, die in Auschwitz auch tätig waren, nicht die Rede ist, sondern nur von „sowjetischen Kameraleuten“. Es ist nicht ganz klar, warum es gerade 1949 zu einer Neuaufführung des Auschwitz-Films kam, es mag mit dem Faktum zusammenhängen, dass das Kino nach seiner „Arisierung“ der Familie Puhlmann zurückgegeben wurde, die den Berlinern die Wahrheit über den Judenmord zugänglich machen wollte: Der Augenschein beweist den völligen Bankrott der Propaganda des Vergessens. Noch zur letzten Spätvorstellung abends um zehn Uhr drängen und stauen sich vor dem längst ausverkauften Theater die Besucher, die keine Karte mehr erhalten konnten, und versuchen, mit gutem Zureden oder, wo das nicht hilft, mit List und Tücke den Eingang zu gewinnen. Die Theaterleitung selber steht überrascht vor dem Ansturm, und, das ergibt sich mit aller Deutlichkeit aus den Gesprächen, es geht dem Publikum hier ganz speziell um den Auschwitz-Film. Nicht irgendwelche trüben Sensationen locken es am späten Abend noch ins Kino, es ist die Kraft der Wahrheit, die die Hunderte anzieht und treibt. Man sieht es dann wieder an den Gesichtern, daß mit der Zeit der Eindruck des Films nicht schwächer geworden ist, daß im Gegenteil aus dem Abstand der Jahre dazwischen das Unfaßbare, Unbegreifliche eher noch unfaßbarer und unbegreiflicher geworden ist. Lähmender noch spürt man das Entsetzen angesichts des tödlichen Schachbretts aus Baracken, angesichts der zum Skelett abgemagerten Kinder, der mit preußischer Ordnungskunst säuberlich gestapelten Berge von ärmlichem Nachlaß der Gemordeten, der Gruben für die Leichen, der Verbrennungsöfen.

Majdanek bzw. insgesamt Ostpolen wird aus der Westberliner Erinnerung an die Opfer des Genozids früh ausgeschlossen – offensichtlich aufgrund der mangelnden Glaubwürdigkeit der Medienerzeugnisse. Umgekehrt konzentrieren sich Revisionisten und Holocaustleugner auf Majdanek, indem sie historische Berichte über das Lager als gefälscht oder nicht objektiv angreifen, wobei sie sich auch auf den Umstand stützen können, dass die frühen Statistiken der Untersuchungskommission überhöht waren bzw. ein Missverständnis in Bezug auf Majdanek als Ort der Ermordung darstellen. So etwa der in der Schweiz wegen Leugnung des Holocaust 213

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4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

verurteilte und sich nach Russland abgesetzt habende Jürgen Graf, der sich vorzugsweise auf K. Simonov stützt: Kammern eins und zwei weisen in der Decke zwar Öffnungen auf, doch sind diese auf unbeholfene Weise durch die Decke gebrochen, was darauf hindeutet, dass sie vor dem Eintreffen der polnisch-sowjetischen Kommission hastig angebracht worden sind. Den Beweis hierfür liefert ein Bericht des sowjetischen Reporters Konstantin Simonov von der Armeezeitung Roter Stern, der Majdanek unmittelbar nach der Befreiung aufsuchte. Simonov beschreibt Kammer I genau, erwähnt aber keine Öffnung in der Decke. Hingegen ist ihm eine solche Öffnung in der angrenzenden Entlausungskammer der Baracke 42 sehr wohl aufgefallen, von der kein Mensch je behauptet hat, dass dort Menschen ermordet worden seien. (Graf 2008, S. 59)339

Auf die Majdanek-Filme beziehen sich Holocaustleugner – wenn es um die „Aktion Reinhardt“ geht – kaum, sondern in erster Linie auf zeitgenössische schriftliche Publikationen, so etwa „Die Hölle von Treblinka“, deren Autor sie – NS-Sprache aufgreifend –, als den „sowjetische[n] Jude[n] Vasili Grossmann“ und „professionelle[n] Greuelpropagandist[en]“ bezeichnen (Graf 2008, S. 54). Die Filme spielen in Grafs Werk nur dann eine Rolle, wenn die Beweiskraft von visuellen Quellen entkräftet werden muss. Hier ist dann von „angeblichen ‚Bildbeweisen‘“ die Rede; die Bilder der Schuhberge seien nur ein rhetorisches Mittel, da Majdanek in der Auffassung dieses Geschichtsverdrehers eine große Schusterwerkstatt für die „Ostfront“ war: […] Die anderen angeblichen „Bildbeweise“ für eine Massenausrottung in Majdanek sind von ebenso dürftiger Qualität. Die im Lager von den Sowjettruppen vorgefundenen menschlichen Überreste beweisen lediglich, dass dort Menschen gestorben waren; wieviele es waren und unter welchen Umständen sie den Tod fanden, geht daraus nicht hervor. Schliesslich sind auch die in der Holocaust-Propaganda bis heute fleissig gezeigten Berge von Schuhen kein Beweis dafür, dass die Besitzer ermordet wurden. St.: Wenn Schuhberge einen Beweis für einen Massenmord darstellten, müssten sich in jeder Schusterwerkstatt grauenhafte Dinge abgespielt haben… Bruckner: In der Tat. Wie der polnische Historiker Czeslaw Rajca 1992 in einem Artikel über die Opferzahl des Lagers festhielt, liess sich die Existenz von 800.000 Paar Schuhen in Majdanek mühelos damit erklären, dass es dort eine riesige Schuhreparaturwerkstatt gegeben hatte; dorthin wurden u. a. von der Ostfront Schuhe zur Reparatur gesandt. St.: Trotzdem sind diese Fotos ungemein suggestiv. Bruckner: Ja, das sind sie. In Ermangelung wissenschaftlicher Beweise für eine Massentötung von Juden in „Vernichtungslagern“ arbeiten die Vertreter der offiziellen Holocaust-Version regelmässig mit solch suggestiven Mitteln. (Graf 2008, S. 55)

339 Vgl. die aktuelle Beschreibung der Gedenkstätte Państwowe Muzeum na Majdanku von 2019, in der erklärt wird, dass nur eine der Kammern mit der Luke für das Einschütten von Zyklon B von oben versehen war; die Rede ist von „different methods used to install piping systems in both chambers for the emission of carbon monoxide, and the provision of an opening for adding Zyklon B in only one of them. Additionally, not to be discounted, is the fact that the so-called SS men’s cabin - an annex containing steel bottles of carbon monoxide - was connected via a special window with only one, so-called small chamber.“ http://www.majdanek.eu/en/pow/ komory_gazowe_na_majdanku/57 [8.5.2019]

4.8 Diskussionen um die Authentizität der Filmaufnahmen

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Bedauerlicherweise ist die russische Übersetzung dieser abstoßenden Geschichtsverfälschung einer der ersten Treffer, wenn man Majdanek auf kyrillisch in eine Suchmaschine eingibt. Zu Recht spricht Maischein (2015, S. 179) im Fall von Majdanek von der „passive[n] Zeugenschaft des Orts“, die Hand in Hand geht mit der Universalisierung des Leidens am Ort eines generischen osteuropäischen, i. e. slawischen Märtyrer-Majdan(ek)s. Im Negationismus zeigen sich die langfristig negativen Folgen einer unwahrhaftigen bzw. oktroyierten Gedenkstätte. Die Schwäche des Gedächtnisortes KL Lublin/Majdanek als eines kurz nach seiner Öffnung als Haftort und für Propaganda instrumentalisierten bzw. missbrauchten Lagers wird in den Schriften der Leugner dann offensichtlich, wenn die Überlieferung zum ersten befreiten Lager Manipulationen aufweist. Problematisch ist, dass Graf (2008, S. 61) die sowjetische Verschiebung der wahren Vernichtungsfabrik Treblinka/Obermajdan auf das vergleichsweise harmlose Majdanek teilweise ‚enthüllt‘ und so einen rhetorischen Sieg davontragen kann: „Nachdem man Majdanek jahrzehntelang als Vernichtungszentrum dargestellt hat, geriete die gesamte offizielle Holocaustgeschichte ins Wanken, wenn man dieses ‚Vernichtungslager‘ opfern würde.“ Der von den sowjetischen Befreiern gestaltete Gedächtnisort Majdanek als anonymer Leidensort des Unbekannten Opfers ist zum einen durch die Universalisierung gegeben, die die Majdanek-Filmaufnahmen bedingen, zum anderen besteht ein strukturelles Problem auf der Seite der Befreier, die in vielerlei Hinsicht mit der Kunde von der Massenvernichtung der Juden überfordert waren: Kommunisten jüdischer Herkunft ignorierten oder verdrängten sie, und die sowjetische Haltung zum Rassismus im Allgemeinen war, die Aussonderung der Juden und ihre Ermordung nicht also solche wahrzunehmen, sondern als Produkt eines größeren gesellschaftlichen Problems zu beurteilen. Der Rassismus wurde als eine direkte Folge einer falschen Weltanschauung angesehen und nicht umgekehrt. Majdan(ek) realisierte so 1944 einen weiteren Aspekt seiner etymologischen Herkunft, die des médʰyos als eines bloßen Mediums, einer Vermittlung. Die sowjetische Instrumentalisierung des Ortes bleibt jedoch nicht folgenlos: Jedes Verbiegen der Wahrheit hat seine Auswirkungen und wird zur bleibenden Geschichtsklitterung desjenigen Ereignisses, dessen Repräsentation im letzten Kriegssommer verzerrt wurde, um den politischen Zielen der UdSSR zu dienen. Im schlimmsten Fall können schlampige Recherchen, auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen beruhende Statistiken oder aus politischen Gründen verzerrende Darstellungen den Effekt der Leugnung der Genozide haben, denn sie reduzieren nationalsozialistische Verbrechen auf ein Produkt ‚sowjetischer Propaganda‘ – und so wurde er 1944 und in der Zeit des Kalten Kriegs von vielen auch wahr- und daher nicht ernstgenommen. Die Majdanekfilme reihen sich damit in die lange Reihe der atrocity propaganda-Streifen ein. Jede widerlegbare Zahl kann im Krieg der Medien um die Erinnerung einer Exkulpation der Täter dienen. Im Fall des zum Medium sowjetischer Propaganda gemachten „furchtbaren Wort Majdanek“, das das weit furchtbarere Treblinka/Obermajdan verdeckt, ist es auch der im Sommer 1944 buchstäblich verstellte Zugang zur historischen Wahrheit, der nicht mehr freigelegt werden kann und zu Verzerrungen und Versionierungen der 215

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Geschichte des 2. Weltkriegs geführt hat. Leugner-Kreise freut es besonders, wenn mehrere ‚Wahrheiten‘ zu belasteten Orten vorliegen, v. a. wenn die Opferzahlen sich nicht im zweistelligen Bereich, sondern um das Zehnfache unterscheiden. Ein weiteres Beispiel ist die Frage nach der Anzahl von Gaskammern (zunächst ging die Kommission von sieben aus, später von sechs, so auch im russischen Film) und die sich in verschiedenen Zeiten der Lagergeschichte verändernde Funktion von luftdichten Kammern in Majdanek.340 Die Analyse und Darstellung des genauen Ablaufs der Befreiung und der Erstellung von Filmaufnahmen in Majdanek ist heute für alle demokratischen Gesellschaften Europas von Bedeutung, da Revisionisten – und dies mit zunehmender Wirkung im und durch das Internet – das Faktum des industriellen Genozids an den Juden und Roma in Zweifel ziehen, indem sie für ihre Verneinungsstrategien entsprechend aufbereitetes Film- und Fotomaterial verwenden. Und auch dieses ist problemlos im Internet zu finden. Holocaust­ leugnung steht leider in direktem Zusammenhang mit Inkonsistenzen in der Darstellung der Befreiungen von KZs durch die Rote Armee in den sowjetischen Medien und dem Totschweigen der jüdischen Opfer. Konkret bezogen auf Majdanek wirkten sich die frühe Musealisierung des KL Lublin, die verordneten Gedächtnisformen und das dogmatische Festhalten an den überhöhten Opferzahlen negativ aus, da sie bis heute – obwohl seit den 1980ern differenzierter dargestellt bzw. korrigiert – immer noch willkommene Angriffspunkte für die Leugner bieten.341 340 „Some older publications devoted to Majdanek suggest that a total of seven gas chambers were built in this camp, but these lack clear confirmation as to whether these chambers were in fact used for the extermination of people. This number appeared for the first time in the expert account of the Polish/Soviet Commission which, in August 1944, conducted an investigation of Nazi crimes committed at the Majdanek camp. According to its findings, one chamber was located in a bathhouse (barrack No. 41), three in the neighbouring bunker, two in a barrack on Interfield I (Zwischenfeld I) and one in the so-called ‘new crematorium’ beyond field V. However, a communique of the Commission’s findings, issued in 1945, states that there were a total of six chambers [Communique of the Polish-Soviet Extraordinary Commission for Investigating the Crimes Committed by the Germans in the Majdanek Extermination Camp in Lublin (Moscow, 1944), pp. 13–14].“ http://www.majdanek.eu/en/pow/komory_gazowe_na_majdanku/57 [8.5.2019] 341 Wie etwa in pseudowissenschaftlichen Leugnungsschriften, die in russischen Geheimarchiven eine Dokumentation einer entlastenden Wahrheit vermuten: „Die Achillesferse des westlichen Systems ist die Holocaust-Lüge. Stellen Sie sich vor, was im Westen los sein wird, wenn die russische Regierung eines Tages verkündet, dass die Vernichtungslager, die Gaskammern und die Gaswagen ein Schwindel waren, und auch gleich Dokumente präsentiert, welche dies beweisen! Solche Dokumente stehen Russland mit absoluter Sicherheit zur Verfügung, erstens weil sämtliche ‚Vernichtungslager‘ in den von der Roten Armee eroberten Territorien lagen, zweitens weil die Stalin-Regierung durch ihre Kommissionen und ihre jüdischen Greuelpropaganda-Spezialisten a la Ilja Ehrenburg und Wassili Grossmann entscheidend zur Fabrizierung des Holocaust-Mythos beigetragen hat, und drittens, weil ein Grossteil der angeblich vergasten Juden von den Deutschen in die besetzten sowjetischen Territorien deportiert worden ist. Eine spektakuläre Entlarvung des Holocaust als Schwindel würde das Ende der Neuen Weltordnung einläuten. Und der Einsturz der Holocaust-Lüge zöge den Einsturz weiterer Lügen nach sich,

4.8 Diskussionen um die Authentizität der Filmaufnahmen

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Nicht von ungefähr nimmt etwa der hanebüchene Leuchter-Report die musealen Rekonstruktionen von Gaskammern in Majdanek und Auschwitz-Birkenau zum Anlass, den Genozid mit vermeintlich wissenschaftlichen Methoden zu widerlegen. Der auf den Bau von Hinrichtungsmaschinen spezialisierte amerikanische Unternehmer Fred Leuchter (*1943)342 verbrachte auf seiner kurzen Polenreise 1988 auch einen Tag in Majdanek. In der musealen Aufbereitung der Lager durch polnische Gedenkstätten sah er den Beweis, dass es in den deutschen Lagern keine Massenmorde mit Hilfe von Gas gegeben hat.343 In seinem Pseudo-Gutachten im Auftrag eines in Kanada angeklagten Holocaustleugners kommt er aufgrund falscher Vorannahmen zu dem Fehlurteil, die Blausäurerückstände infolge der Verwendung von Zyklon B seien zu gering, um von der Ermordung von Menschen stammen zu können. Leuchters pseudowissenschaftliche Analysen wurden unter anderem durch den Chemiker Richard J. Green widerlegt.344 Allerdings geistert die Ablenkung durch die bereits zu Kriegsende angelegte visuelle Desinformation bis heute durch revisionistische Kreise.345 Leuchter lieferte weitere Pseudo-Ergebnisse, etwa bemängelt er fehlende Lüftungsanlagen – Tatsache ist, dass sie 1944 von der SS abmontiert wurden. Ein beispielsweise der Lüge von der Schuld arabischer Terroristen an der Tragödie des 11. September 2001. Die weltpolitische Lage würde sich mit einem Schlag drastisch zugunsten Russlands verändern.“ (Graf 2008, S. 154) 342 „Word of Leuchter’s machine brought him orders from other prisons. In addition to injection machines, he also offered electric chairs ($35,000), gallows ($85,000), and gas chambers ($200,000). He aggressively solicited business, becoming the nation’s one and only full-time, full-service execution entrepreneur. His success was short-lived however: Orders dried up after he served as an expert witness for Holocaust denier Ernst Zundel.“ Craig Bicknell: „Searching for Humane Execution Machines“. Wired 1.12.1997. [22.4.2019] Leuchters Biografie wird im US-Dokumentarfilm Mr. Death: The Rise and Fall of Fred A. Leuchter, Jr. (1999; Errol Morris) dargestellt; im Prozess dieses performativen Dokumentarfilms wird Leuchters Leugnung an ihre Grenzen geführt (Morris, E., Leuchter, F. A., Van, P. R. J., & Irving, D. , 1999. Mr. Death: The rise and fall of Fred A. Leuchter, Jr. Santa Monica, Calif: Lions Gate Home Entertainment). 343 „At Majdanek, there are several facilities of interest: the original crematory, now removed; the crematory with the alleged execution gas chamber, now rebuilt; the Bath and Disinfection Building #2, which was apparently a delousing facility; and Bath and Disinfection Building #1, which contained a shower, delousing and storage room and the alleged experimental CO and HCN gas chambers.“ http://www.revisionists.com/leuchter/report1/majdanek.html [1.5.2019]. 344 Vgl.: https://phdn.org/archives/holocaust-history.org/auschwitz/chemistry/blue/ [1.5.2019] Zu den verwendeten Giftgasen vgl. Kalthoff und Werner 1998. 345 Der selbsternannte Experte Fred Leuchter hatte sich bei seinen Besuchen der Gedenkstätten in Polen des Frühjahr 1988 auf die nicht vollends zerstörten Entwesungskammern konzentriert, die zum Teil zuvor Mordkammern gewesen waren. Leuchters keine wissenschaftlicher Methode entsprechende ‚Untersuchung‘ von Wänden in Auschwitz und Majdanek auf Blausäure wurde vom angeklagten E. Zündel in Auftrag gegeben, bezahlt und 1988 in den USA als The Leuchter Report: An Engineering Report on the Alleged Execution Chambers at Auschwitz, Birkenau, and Majdanek Poland publiziert. Doch Leuchters Expertise nützte dem Auftraggeber nichts: Zündel wurde nach einem kanadischen Gesetz verurteilt, das Verbreitung von False News unter Strafe stellt. 217

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von der Gedenkstätte Państwowe Muzeum na Majdanku 2019 aufgenommener filmischer Gang durch das „Badehaus und Gaskammer für Männer“346 führt zudem vor Augen, dass auch die Entwesung von Kleidern mit Zyklon B blaue Spuren an den Wänden hinterlassen kann, also an sich kein Beweis ist. Leuchter kam aufgrund seiner Behauptungen mit dem deutschen Gesetz in Konflikt und wurde 1994 in Deutschland verhaftet. Sein dilettantischer Bericht, der sich auf eine fehlerhafte chemische Analyse heimlich abgekratzter Wandteile stützt, findet jedoch bis heute zahlreiche Leser im Internet und dient so dem Verschleiern und Leugnen der geschichtlichen Wahrheit. Andere Holocaustleugner bevorzugen Majdanek, da es dort bis zum 22.7.1944 nicht nur eine häufige Umwidmung der Gebäude gab, sondern auch verschiedene Gase angewandt wurden: Zyklon B und Kohlenmonoxid; sowohl mit Abgasen in einem Lastwagen wie dies in Kulmhof (Warthegau) ab 1941 erprobt und praktiziert worden war, als auch in Räumen, die Vorrichtungen aufwiesen, an die Kohlenmonoxidflaschen angeschlossen werden konnten:347 SS orderly, August Reinartz, described the Majdanek gas chambers in one of his testimonies as follows: ‚In front of the bathhouse, on the right, there was a fenced building which resembled a bunker. It was approximately 8 by 10 metres in size. In August or September 1943, I went inside together with Benden. In the front, on the side of the entrance, there was a vestibule with equipment and a sight glass. The equipment had bottle connectors, i. e. pipes with fittings which could be attached to something. According to Benden, people were supposedly murdered with the contents of these bottles. I did not go inside the gas chamber proper. I only looked through the sight glass. I did not notice any pipes or anything similar in that room. Because it was dark, I did not see any details. The fence around the building was already dismantled at that time. Earlier, it was called Rosengarten. When I was there, only corner stilts stood there’ [Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Ger. Rep. 432, Nr. 288, c. 43]. Extermination installations were built at Majdanek – most sources indicate – at the inspiration of Globocnik, who ‚on numerous occasions inspected the camp and was particularly interested in gas chambers’ [Nbg. Doc. NO-1903, Affidavit of Friedrich W. Ruppert of 6 August 1945].348

Kohlenstoffmonoxid-Gas ist giftig, da es den Sauerstofftransport durch das Blut unterbindet. Das in Majdanek eingesetzte Kohlenstoffmonoxid kam entweder als Bestandteil 346 „Male bathhouse and gas chambers at the German Nazi concentration camp at Majdanek“ https://www.youtube.com/watch?v=j0zV-2XNNhQ&feature=youtu.be, [2.5.2019] 347 „Based on the few source accounts, we can conclude that two substances were used for killing: carbon monoxide (CO), in gas form, delivered to the camp in steel bottles, and Zyklon B, distributed in cans, consisting of diatomaceous earth infused with hydrocyanic acid. One member of the SS personnel supposedly witnessed a conversation between two SS noncommissioned officers who wondered which method of gas application was better: ‘dropping or injecting’ [40 Bundesarchiv Außenstelle Ludwigsburg, Barch, B162/407 AR-Z 297/60, Erhard Taubert, Witness interrogation protocol, vol. 26, c. 5353].“ http://www.majdanek.eu/en/pow/ gas_chambers_at_majdanek/57 [2.5.2019] 348 http://www.majdanek.eu/en/pow/gas_chambers_at_majdanek/57 [2.5.2019]

4.8 Diskussionen um die Authentizität der Filmaufnahmen

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von Verbrennungsmotorabgasen oder als reines CO aus Druckgasflaschen zum Einsatz (Schwindt 2005, S. 161). Das KL Lublin/Majdanek gehörte nicht zu den Lagern, die für eine Ermordung von Hundertausenden durch Gas ausgelegt war. Dazu hatten andere Lager im östlichen Teil des Generalgouvernements gedient, deren Gaskammern vor dem Abzug der Besatzer vollständig zerstört worden waren. Majdanek war auch deshalb kein geeignetes Beispiel für den Massenmord durch Gas, da die früheren Mordkammern nach ca. einem Jahr Betrieb zu Desinfektionsräumen ‚rückgebaut‘ wurden, wie dies in einem Artikel der Maj­danekGedenkstätte jüngst dargestellt wurde: Jakob Sporrenberg, SS and Police Leader in the Lublin District, who visited KL Lublin after Globocnik’s transfer to Trieste in late September 1943, testified, after the war, that camp commandant Hermann Florstedt showed him disinfection chambers claiming that they were mistakenly regarded as gas chambers. Sporrenberg, himself, was aware, though, that mass extermination had been carried out in Majdanek’s chambers. It is certain, however, that gas chambers were not used for extermination after the executions of 3 November 1943 and that the chamber adjoining the shower room in barracks No. 41 and the chamber in the west part of the bunker were used for the disinfection of blankets and clothes, including those belonging to murdered Jews. These were disinfected using Zyklon B. First, the chamber was warmed up with heated air and, after disinfection was complete; the gas was removed through openings in the roof with the use of a ventilation fan.349

Die Baracke Nr. 41, von der hier die Rede ist, ist ein Anbau zu der Holzbaracke und bildet das sog. „Badehaus und Gaskammer für Männer“ aus dem Rundgang der Gedenkstätte. Wir verfügen über keine im Sommer 1944 gemachten historischen Innenaufnahmen der Gaskammern. Aufgenommen wurde im kleinen Vorraum (mit Schaltpult und Guckfenster) bzw. im großen Duschraum, der mit Fenstern versehen ist und sich daher nicht als Gaskammer eignet (siehe Abbildungen 4.12, 4.13). Der polnische Filmkommentar von 1944 spricht jedoch während der Bilder im (leeren) Raum mit den Duschköpfen an der Decke sowohl vom „angeblichen Baden“ als auch von dem Vergasungsvorgang mit Zyklon B. Im Badehaus für Männer liegt hinter dem Duschraum der Umkleideraum und dahinter erst

349 Vgl. das Zeugnis von H. Nieścior über Kleidungsinspektion: „After a few days, they put me in a work group disinfecting the clothes of Jews. Sixteen of us worked in that group. Clothes of murdered Jews were brought from field V to the gas chamber (gas room) next to the bathhouse. In the very place where Germans used to poison people with Zyklon; we hung the clothes on hooks, not all, only those in good condition and of high quality. After hanging the clothes, we prepared the gas chamber doors for closing, one of us received a can of Zyklon, put it on the floor placing a piece of metal pipe, 6–8 cm in diameter, upside down. Another one took a very heavy hammer and hit it, punching a hole in the Zyklon can – you then had to quickly take the can in hand, spill its contents in one swing and immediately run, because staying there even a few seconds longer could cause death’ [APMM, Memoirs and reports, VII–131, Henryk Nieścior, pp. 1 ff].“ http://www.majdanek.eu/en/pow/gas_chambers_at_majdanek/57 [2.5.2019] 219

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4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

jene fensterlosen Bunker, d. h. die eigentlichen Gaskammern,350 eine mit dem vergitterten Guckfenster in einer gemauerten Wand, die im Film gezeigt wird. Bestimmte Einstellungen finden sich nur in der polnischen Version wieder, und zum Teil ist auch das Narrativ bzw. die Abfolge verändert. Gerade die Sequenzen zum Thema Gaskammer unterscheiden sich also in erheblichem Maße, worauf ich noch im Kap. 6 zurückkommen werde. Die folgenden Bilder zeigen die fi lmische Abfolge der Dokumentation der genozidalen Vorrichtungen in der russischen Version (Abb. 4.8–4.12).

Abb. 4.8 Außenaufnahme: „Eine der sechs Gaskammern“; Majdanek. Kinodokumenty

Abb. 4.9 Schaltraum für Gas und Guckfenster; Majdanek. Kinodokumenty

350 Auf der (inzwischen erneuerten) Seite der Majdanek-Gedenkstätte als „provisorische Gaskammer“ bezeichnet: http://www.majdanek.com.pl/gallery/majdanek/k-d/k-d(m).html [6.2.2918]

4.8 Diskussionen um die Authentizität der Filmaufnahmen

221

Abb. 4.10 Das vergitterte Guckfenster in der Wand; Majdanek. Kinodokumenty

Abb. 4.11 Zurück nach draußen: Schild „Bad und Desinfektion II“ auf Holzbaracke; Majdanek. Kinodokumenty

Abb. 4.12 Zugangsbad (Duschraum) in Baracke Nr. 41, der der Gaskammer vorgelagert ist (mit Kommissionsmitgliedern nur in der russischen Version); Majdanek. Kinodokumenty 221

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4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

Jeremy Hicks geht davon aus, dass die Kameraleute, die Täterseite einnehmend, in die Gaskammer hineinfilmen; dies wäre die Perspektive all jener, die sich nicht auf der Opferseite befanden, sondern derjenigen, die an der Tat weder beteiligt, noch existentiell von ihr betroffen sind, wie etwa Konstantin Simonov: While this onlooker’s perspective has been described as voyeuristic, Simonov does not elaborate on this dimension of the gas chambers, even though it was to become an important factor in their representation, especially in the visual realm after Soviet and Polish filmmakers followed Simonov’s example by producing a newsreel and documentary that also looked into the gas chambers through the spy-hole. (Hicks 2013, S. 254)

Dieser Argumentation, die Filmleute schlössen sich dem Schriftsteller Simonov an, möchte ich widersprechen, da verschiedene Aufnahmen des Gitterfensters vorliegen und einige gemäß meiner Montagelistenrekonstruktion in Kap. 5 vor seiner Publikation am 10.8. erstellt wurden, – so etwa Karmens VS 1008, die Aufnahmen aus der ersten Augustwoche enthält (wäre dem nicht so, dann wäre Karmens Aufnahme des Guckfensters in keiner der Filmversionen enthalten). Hicks reflektiert die „spy-hole“-Argumentation von Libby Saxton (2008), die dem gaze durch das Guckloch einen voyeuristisch-sadistischen Charakter zuschreibt. In vielen künftigen Aufnahmen der West-Alliierten wird der Voyeurismus durch die Befreier-Kameras unwillkürlich wiederholt und reaktiviert. Doch dieses Moment fehlt in den sowjetisch-polnischen Aufnahmen. Aus den Lichtverhältnissen, der Position des nur schemenhaft Sichtbaren hinter dem Gitter und des Gitters in der in die Mauer geschlagenen Fensteröffnung (vgl. Abb. 4.16) kann man schließen, dass der Blick der Kamera nicht in die Gaskammer, sondern aus ihr herauszielt. Die ersten alliierten Filmaufnahmen von Räumen in Lublin/Majdanek, die der Gaskammer vorgelagert sind, legen nahe, dass lediglich aus der Gaskammer gefilmt wurde; die Kameramänner nehmen hier – ob bewusst oder nicht – die entgegengesetzte Position zu den SS-Leuten ein, die durch das vergitterte Fensterchen im Schaltraum die Wirkung des Gases überwachten: Es ist eben jene vieldiskutierte Position der Opfer in der Gaskammer und nicht die des voyeuristischen Täters (des SS-Manns oder -Sanitäters). In Kap. 5 und 7 wird es darum gehen, wer den Dreh im Lager geleitet hat, jedoch möchte ich vorwegnehmen, dass aufgrund Fords Abwesenheit auf dem Lagergelände (diese wurde mehrmals von Bossak betont) alle Indizien auf seine Regieassistentin und langjährige professionelle Partnerin Olga Mińska deuten, die bis dahin im Vorspann meist mit dem gleichen Namen wie ihr Ehemann genannt wurde: Ford. Auch wenn die Dokumentation der Verwendung der Gaskammern bzw. der Desinfektionsräume lückenhaft ist, können wir davon ausgehen, dass die Gas-Bunker in der Einheit „Bad und Desinfektion II“ bei der Öffnung des Lagers keine Duschköpfe an der Decke hatten. Die Giftgase wurden entweder von oben eingeführt oder, im Fall der

4.8 Diskussionen um die Authentizität der Filmaufnahmen

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„kleinen“ Kammer über das Schaltpult im Vorraum (von der Gedenkstätte als „SS cabin“ bezeichnet) bedient.351 Des weiteren wurde laut Gedenkstätte Museum in diesem Gebäude weder die Großraumdusche mit Fenstern noch der Ankleideraum für Massenmorde verwendet: Proof does, however, exist that this chamber was used for disinfecting clothing using Zyklon B. On a plan for the rebuilding of gas chambers, this room was marked as a changing room (Ankleideraum). This is certainly not a camouflage term since chambers in the bunkers (known to be used for murderous purposes) shown in this document are signed as ‘existing gas chambers.’ One of the notes concerning sanitary conditions in the camp, dated 10 May 1943, states that disinfection ‘is situated in the changing room of the east wing and, in order to improve efficiency, is supposed to be enhanced by building a separate chamber under the roof [i. e. in the bunker]’ [APMM, Photocopies, XIX-42, c. 2–3]; a reference to the chamber in barracks No. 41. The way disinfection was performed there has also been described in detail in the memoirs of Czeslaw Skoraczyński, who was among the prisoners working - as he puts it - on ‘gassing’ prisoner clothes and SS men’s underwear.352

Zum Vergleich führe ich Screenshots aus der filmischen Begehung des Badehauses II in Majdanek 2019 an (Abb. 4.13–18).

351 „While the operation of camps directly supervised by the Einsatz Reinhardt Special Commando Inspector Christian Wirth is relatively well known, little is known about exterminations in the Majdanek gas chambers. Even meticulous investigations by the German prosecutors (Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg), and a subsequent trial lasting several years in Düsseldorf (1975–1981), did not manage to explain many pertinent questions.“ http://www.majdanek.eu/en/pow/komory_gazowe_na_majdanku/57 [8.5.2019] 352 „In addition, archival materials show that the chambers in the crematorium on Interfield I, which still exist today, were created much later, most likely in the autumn of 1943, as disinfection chambers. This is suggested by a report by a cell of the Polish Resistance network, the Central Underground Welfare Organization (Opus) tied to the Home Army, dated 13 October 1943, where we can read: ‘The gas chamber which was located near the bathhouse has indeed recently been dismantled and the equipment removed and even supposedly driven away, but two even larger ones are being built near the laundry because delousing of clothes and underwear is also done using gas’ [APMM, Central Underground Welfare Organization ‘Opus’ (hereinafter ‘Opus’), XII-10, p. 137].“ http://www.majdanek.eu/en/pow/komory_gazowe_na_majdanku/57 [8.5.2019] 223

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4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

Abb. 4.13 Der gleiche Duschraum mit Fenstern im Jahr 2019 in Baracke Nr. 41 (vgl. 4.12)353

Der Ankleideraum hinter dem Duschraum wurde auch zur Entwesung genutzt, so dass die Wände blaue Spuren von Zyklon B zeigen. Es ist unklar, wann das runde Fenster eingebaut worden war (Abb. 4.14).

Abb. 4.14 Umkleideraum im Männerbad mit Cyanid-Spuren, der auch zur Entwesung verwendet wurde, (Baracke Nr. 41)

353 Dieses und die folgenden vier Screenshots habe ich von dem von der Gedenkstätte Państwowe Muzeum na Majdanku 2019 gemachten Video angefertigt: https://www.youtube.com/ watch?v=j0zV-2XNNhQ&feature=youtu.be [2.5.2019]

4.8 Diskussionen um die Authentizität der Filmaufnahmen

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Abb. 4.15 Kohlenmonoxid-Flaschen für eine der Gaskammern und das im Film aufgenommene Guckfenster (vgl. Schaltraum 4.10., dort noch mit Leitungen) im „Badehaus und Gaskammer für Männer“ (Baracke Nr. 41)

Abb. 4.16 Position des Gitters im Guckfenster im Schaltraum des „Badehauses und Gaskammer für Männer“ 225

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4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

Abb. 4.17 Eine der fensterlosen Gaskammern im „Badehaus und Gaskammer für Männer“

Abb. 4.18 Eine weitere fensterlose Gaskammer mit sichtbaren Blausäure-Spuren im „Badehaus und Gaskammer für Männer“ (Baracke Nr. 41)

4.8 Diskussionen um die Authentizität der Filmaufnahmen

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In den ersten alliierten Filmen, die Gaskammern zum Thema haben, geschieht etwas Unerwartetes: Wir sehen nicht die Gaskammer selbst, sondern uns wird zum einen der Schaltraum davor bzw. im Fall des Duschraums ein noch weiter entfernter Raum präsentiert, den wir betrachten, während verbal das Procedere des Vergasens erklärt wird. So sind es die Duschköpfe an der Decke, die die Vernichtung repräsentieren werden, obgleich sie in diesem konkreten Gebäude echte Duschen waren, die an eine Wasserleitung angeschlossen waren. Grund hierfür war wohl die bessere Beleuchtung des Duschraums, seine Größe und die an ein Fließband erinnernden Duschkopfreihen, die das Fabrikthema unterstreichen. Es fällt jedoch auf, dass gerade diese Einstellung im sowjetischen Film Kinodokumenty o zverstvach nemecko-fašistskich zachvatčikov / Filmdokumente über die von den deutsch-faschistischen Invasoren verübten Gräueltaten, der in Nürnberg vorgeführt wurde, fehlt. Es werden – mit Ausnahme des Duschraums – alle Bilder der Gaskammer und des Badehauses gezeigt. Nun stellt sich die Frage: Warum wurde 1944 nicht in den Gaskammern gefilmt? Waren die Lichtverhältnisse in diesen kleinen Räumen für das Filmen ungünstig, so dass die Kameraleute sich auf den großen Duschraum und das Fenster beschränkten? Oder hatten die Kameraleute u. U. zum Zeitpunkt der Aufnahmen noch nicht den Ort der Vergasung gekannt, da er von den überlebenden Häftlingen bzw. den SS-Leuten nicht preisgegeben und später u. U. zu Besichtigungszwecken hergerichtet worden war? Ebenfalls möglich ist, dass es gewisse Vorbehalte gegeben haben mag, in einer Kammer, in der Tausende ermordet worden waren, zu filmen – dies im Hinblick auf die Weigerung von A. Ford, sich in Majdanek aufzuhalten. Es gibt auch keine Informationen darüber, in welchem Zustand die Gaskammern, in denen jedoch seit Herbst 1943 nicht mehr vergast wurde, im Juli 1944 selbst waren. Offensichtlich handelt es sich bei dem Vernichtungsdispositiv Gaskammer um ein Veränderungen und Prozeduren ausgesetztes architektonisches Ensemble, in das die Geheimhaltung wie auch Desinformation buchstäblich eingebaut ist.354 Es zeigt zugleich aber auch die Grenzen der architektonischen Forensik. Für die wissenschaftliche Erforschung der Genozide an Hand von Gebäuden (und die Nachprüfbarkeit der Resultate) wäre eine schriftliche Dokumentation aller Veränderungen unabdingbare Grundlage, jedoch fehlt diese weitgehend – sowohl, was die deutsche, wie auch die sowjetische Periode der frühen Musealisierung einzelner Lagerteile betrifft. Der Zugang internationaler Organisationen zum KL Lublin/Majdanek bzw. den Orten der „Aktion Reinhardt“ wurde 1944–45 von den sowjetischen Befreiern zu spät bzw. gar nicht ermöglicht, ähnlich wie im Fall Katyn’.

354 Foucault definiert in den Dispositiven der Macht dieselben als „heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische und philantropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“ (Foucault 1978, S. 119) 227

228

4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

4.9

Deutsche Gegenpropaganda: Die Theresienstädter Duschen im Sommer von 1944

4.9

Deutsche Gegenpropaganda

Die ersten alliierten Filmaufnahmen des Vernichtungsdispositivs Duschraum-Umkleideraum-Gaskammer, der Krematorien und gigantischer Berge menschlicher Asche fanden in Lublin/Majdanek statt – auch wenn wohl kaum jemand bis November 1944 wusste, was davon wann und in welche Filme gelangen würde. Wie man aus den Duschsequenzen im deutschen Film Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (Deutsches Reich 1944–45) schließen kann, war die deutsche Seite jedoch offensichtlich darüber informiert, dass Kameras im befreiten KL Lublin (Majdanek) Bad, Umkleideraum und Gaskammer für Männer dokumentiert hatten. Denn analoge Filmszenen mit Referenz auf ein in einem deutschen Lager befindliches Männerbad wurde im Sommer 1944 im Ghetto Theresienstadt gedreht. Das Prager „Zentralamt für die Regelung der Judenfrage“, unter dessen Ägide dieser Film im August und September 1944 gedreht wurde,355 sorgte dafür, dass dieser Desinformationsfilm Szenen von nackten Männern beim Duschen enthielt, die mit Einstellungen von Baracken montiert waren, wie sie in NS-Lagern gang und gäbe waren. Aufgrund eines perfiden Einsatzes des Kulešov-Effekts fand das kollektive Duschen scheinbar in Holzbaracken statt, auch wenn es für Kenner der Architektur des in der barocken Festung errichteten Ghettos offensichtlich ist, dass der im Film sichtbare und mit großen Fenstern ausgestattete Theresienstädter Duschraum in einem gemauerten Gebäude mit dicken Wänden lag, nicht in dem niedrigen Holzschuppen, aus dem die zuvor nackt duschenden, nun bekleideten und mit Judenstern versehenen Männer unversehrt herauskamen (Abb. 4.19–4.22).

355 Vgl. Drubek (2016b) zu diesem Filmprojekt, das unter den Titeln Ghetto Theresienstadt, There­ sienstadt 1942 und Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet bzw. auch als Der Führer schenkt den Juden eine Stadt bekannt ist. Der Beginn der Filmproduktion, zu der es mehrere Anläufe und Teams gab, liegt im Jahr 1942, dem Zeitpunkt, als die ersten Nachrichten zum Massenmord von Juden durch Vergasung in westlichen Medien publik wurden und ein Beschwichtigungsfilm – gemacht von jüdischen Bewohnern des Ghettos – notwendig erschien. Die Filmarbeiten wurden – vermutlich auch aufgrund des alliierten Desinteresses am Schicksal der Juden Europas – unterbrochen und erst 1944 wieder aufgenommen. Zahlreiche Bade- und Waschszenen im böhmischen Ghetto wurden mit Mädchen und Frauen gedreht, erst im Sommer 1944 duschten unter der Regie von Kurt Gerron nun Männer.

4.9 Deutsche Gegenpropaganda

Abb. 4.19 und 4.20

229

Männerduschen und Männerumkleideraum in Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (1944–45)

229

230

Abb. 4.21 und 4.22

4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

Die Männer verlassen das „Zentralbad“ in einer Holzbaracke; Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet

Wie man unschwer erkennen kann, ähneln diese für Theresienstadt untypischen Holzbaracken denjenigen der Lager im „Osten“, d. h. solchen, die im einzigen bisher von einer alliierten Armee fotografierten und gefi lmten Lager mit Gaskammern standen, wie etwa Baracke Nr. 41 in Lublin/Majdanek.

4.9 Deutsche Gegenpropaganda

231

Historische Bilder der Holzbaracke der Gaskammer bzw. des Krematoriums mit Holzüberdachung findet man auf einer archivierten Seite der Gedenkstätte in Majdanek – denn das Holzdach des Badehauses war bei der Befreiung nicht mehr vorhanden.356 Daraus lässt sich erkennen, dass nur die Holzbestandteile von der SS verbrannt worden waren, worauf der Augenzeuge Alexander Werth (vgl. Kap. 3.4) hingewiesen hat. Auch wenn dies in den Befreiungsnarrativen nicht erwähnt wird, brannte das Krematorium in erster Linie, um die umfangreiche NS-Papierdokumentation zu beseitigen, da sie inkriminierendes Material zu den im Lager Tätigen erhielt (dies gelang nicht vollständig, wie man auf Abbildung 8.21. sehen kann). Ob überhaupt eine Sprengung von Gebäuden geplant war, ist unklar. Nach der Befreiung wurden einige Baracken demontiert bzw. rekonstruiert. Laut einem Bericht, der während eines Standortbesuchs (2-3. August 1944) erstellt wurde, der von einer fünfköpfigen Kommission der 69. Armee der 1. Belarussischen Front durchgeführt wurde, waren nach der Befreiung des Lagers Feld V und andere Teile des Lagers in gutem Zustand. Dies änderte sich jedoch schnell, als das Lager von der Roten Armee besetzt und die Häftlingsbaracken in Kasernen umgewandelt wurden. Auf den Feldern IV und V wurden deutsche Kriegsgefangene und Volksdeutsche, auf Feld III mindestens bis zum 23.8.1944 AK-Offiziere durch den sowjetischen Geheimdienst interniert.357 Bereits während der Stationierung der Rote Armee (bis Herbst 1945) im Lager wurde das Lager laut Gedenkstätte Majdanek geplündert, Baracken dienten als Brennholz.358 Während des deutschen Betriebs des Lagers war der Bunker mit den Gaskammern unter dem Dach verborgen. Am besten lässt sich der Umgang mit den Lagergebäuden auf der archivierten Seite der Majdanek-Gedenkstätte nachvollziehen, wo Fotos von abgerissenen Bauten zu sehen sind, darunter auch der Holzüberstand über den Gaskammern; er

356 http://www.majdanek.com.pl/gallery/majdanek/archiwalne/big/12.jpg, und Insb. http://www. majdanek.com.pl/obozy/majdanek/zdjecia_archiwalne_2.html [2.1.2020] 357 http://www.majdanek.com.pl/czytelnia/nkwd.html [1.1.2020] 358 „6.2. 1946: Protokoll über die Inspektion der Baracken im Feld V von Majdanek. Alle Baracken in Feld V befinden sich in einem Zustand großer Zerstörung: Fenstern, Türen, Böden und ein großer Teil der Außenwände fehlen. Durch Beschädigungen von Dächern und Wänden unterliegen diese einem Verrottungsprozess und können auf Dauer nicht erhalten werden. Nur die zentralen Baracken können rekonstruiert und gewartet werden. […] Am 22.8.1946 wurde ein Inspektor aus dem Präsidium des Ministerrates und der Leiter der Abteilung für Museen und Denkmäler des polnischen Märtyrertums in das ehemalige Lager Majdanek geschickt. Am 26. und 27. August führten sie einen Besuch durch, bei dem sie erklärten, dass der Gefangenenteil des Lagers von der Armee und der lokalen Bevölkerung zu 80 % zerstört wurde, während die Baracken der Wachmannschaft zu 60 % zerstört seien […] Damals wurde aufgrund der erheblichen Schäden vorgeschlagen, die Häftlingsbaracken nur im Feld III zu belassen, während die Reste von Mängeln aus den übrigen Feldern als Material für den Wiederaufbau der Häftlinge im Feld III verwendet werden sollten.“ Die Erläuterungen zur Nachkriegsgeschichte stammen von der archivierten Seite majdanek.com.pl/gallery/majdanek/k-d/k-d(m).html [2.12.2018]. Teilweise sind Inhalte nun unter http://www.majdanek.com.pl/index2.html zu finden. 231

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4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

sorgte für die notwendige Wärme, die für die Sublimation der Zyklon B-Pellets in einen gasförmigen Zustand notwendig war (mindestens 26 °C).359 Während im Sommer 1944 in Majdanek Holzbauten also den Flammen des Endkommandos bzw. Plünderungen anheimfielen, wurden sie in Theresienstadt eigens in Szene gesetzt, worüber sich der letzte Judenälteste des Ghettos, Benjamin Murmelstein, in seinem 1961 publizierten Buch über Theresienstadt wundern wird; Murmelstein (2014, S. 238) dokumentiert penibel den Barackenbau im Rahmen der von ihm maßgeblich bewerkstelligten „Verschönerung“ der „jüdischen Siedlung“ in Böhmen, ohne den Leser darüber aufklären zu können, wozu genau die Baracken plötzlich gebraucht wurden. Der Einbezug von Holzbaracken in Theresienstadt gehört zu jenen Elementen in diesem Dokumentarfilm, die einem unter dem Aspekt der „Verschönerung“ des Ghettos unerklärlich sind – insb., wenn man weiß, wieviel Theresienstädter vor dem Besuch des Internationalen Roten Kreuzes im Juni 1944 nach Auschwitz deportiert wurden, um das Ghetto nicht überfüllt erscheinen zu lassen. Erst wenn man sich die Übereinstimmungen zwischen dem für den Film hergerichteten Theresienstadt und den Baracken in anderen Lagern bewusst macht, wird die Intention hinter dieser Fixierung auf die KZ-Baracke als verharmlostes Filmobjekt nachvollziehbar (Abb. 4.23).360 Im Sommer 1944 erscheint dieser Ton-Film als Antipode zur August-Majdanek-Berichterstattung und dem künftigen sowjetischen Film mit seinem düsteren Soundtrack in Moll zu den Exhumierungen, Skeletten und dunklen Kammern. Anders als Majdanek ist das lichtdurchflutete Theresienstadt von gesundem Leben erfüllt – die Dreharbeiten fanden vom 16. August bis 11. September 1944 bei Sonnenschein und zu Klängen der Ghetto-Orchester statt.361 Zusätzlich setzten der zum Regisseur bestimmte Insasse Kurt Gerron und die tschechische Produktionsfirma Aktualita Scheinwerfer auch bei Außenaufnahmen ein. Die filmische Darstellung dieser imaginierten neuen jüdischen „Gemeinschaft“, ermöglicht durch Himmler als Chef des RSHA und seine Vertreter im Protektorat Böhmen und Mähren, ist auf die prinzipielle Negation von Orten wie Majdanek angelegt – und insb. sowjetischen Pressemeldungen über (befreite) deutsche „Todeslager“ (Ogonek, 20.11.1943) oder einer „Todesfabrik“, wie das KL Lublin/Majdanek von Putrament in der Lubliner Rzeczpospolita (5.8.1944) und Kriger in der sowjetischen Regierungszeitung Izvestija vom 12.8.1944 („Die deutsche Fabrik des Todes bei Lublin“) genannt wurde. Theresienstadt soll daher in den vier Tage nach diesem Artikel begonnenen Dreharbeiten einer Fabrik des Lebens gleichen, mit zionistischen Anklängen an ein „Alt-Neuland“ (Drubek 2016a).

359 http://www.majdanek.com.pl/obozy/majdanek/zdjecia_archiwalne_2.html [2.12.2019] 360 Und auch als Zeichnung, hier von Bedřich Fritta: https://www.jmberlin.de/fritta/bilder/intro/ barackenbau.jpg [2.12.2019] 361 Vom 20.–28.8.1944 erreichten die Temperaturen bis zu 28 Grad (die Dreharbeiten wurden ab und zu durch ein klärendes Gewitter unterbrochen, etwa als die Szene des Swing-Orchesters aufgezeichnet wurde). https://www.in-pocasi.cz/archiv/stanice.php?stanice=milesovka&historie_bar_mesic=8&historie_bar_rok=1944&typ=teplota [4.5.2019]

4.9 Deutsche Gegenpropaganda

233

Abb. 4.23 Das Vorzeige-Lager auf deutscher Seite: universelle Baracken in Theresienstadt in Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet

Die mit Umsicht gewählten Elemente, die im Theresienstadt-Film enthalten waren, richteten sich vorsorglich gegen alle künftigen Bilder und Zeugnisse zum industriell betriebenen Genozid, die ab Juli 1944 von einem sowjetischen Propagandaangriff zu erwarten waren. Also nahm man Motive des Gases, der Krematorien und der Asche vorweg und löschte im lieblichen Böhmen den genozidalen Brand des Ostens mit Bildern von Wasser: dem Schwimmen in der Eger,362 den Kanälen in der Festung, der Gießkanne der jungen Věra Dvořáková363, die im „Schrebergarten“ Pflanzen goss und über nicht abgemagerte Männerkörper rinnendes Duschwasser. Wie man auf Abbildung 4.19. sehen kann, ist auch der Duschraum mit Scheinwerfern gut ausgeleuchtet (Gassenlicht). Alle diese Aktivitäten künden vom lebendigen Wasser, von dem das böhmische Siedlungsgebiet der Juden angeblich gespeist wird. Das fi lmische Theresienstadt ist kein Ghetto mehr, sondern eine Oase für Juden in der europäischen Wüste, ein von der SS genehmigtes Kibbuz in Mitteleuropa, ein Ort des Friedens mitten im Krieg, in dem jüdische Musiker zu ihrer eigenen Unterhaltung, nicht zum Übertönen von Schreien der Opfer aufspielen wie in der „Aktion Erntefest“ in Lublin/Majdanek 1943.

362 In den Fluss Eger/Ohře mussten jüdische Häft linge einige Wochen später im Rahmen der Verwischung der Spuren der Opfer des Ghettos den Inhalt von etwa 22.000 Theresienstädter beschrifteten Papierurnen schütten http://www.ghetto-theresienstadt.de/pages/e/eger.htm [1.9.2019] Menschliche Asche wurde plötzlich als Sicherheits-Risiko eingestuft und dem Fluss preisgegeben. 363 Sie gehörte zu den überlebenden Teilnehmerinnen am Film. 233

234

4 Schlachtfeld und Schauplatz Polen: 1944 bis heute

Abb. 4.24 Die Bade- bzw. Gasbaracken in Majdanek ca. 2005. Fotograf unbekannt; https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Majdanek_-_enterace.jpg

Ohne dass sie im deutschen Film zur Erwähnung kommen, werden künftige Bilder von Gaskammern in Badehäusern (und im August 1944 gab es nur die von Majdanek) als Duschen oder harmlose Entwesungskammern wegerklärt – letztere gab es im Übrigen auch in Theresienstadt, wo Zyklon B zur Desinfektion verwendet wurde. Das Gift wurde in Dessau, aber auch in den Kaliwerken Kolin in Böhmen hergestellt.364 Im betont dokumentarischen Film Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet findet eine mediale Tilgung der noch nicht eingetroffenen Bewegtbilder genozidaler Räume statt. In diesem Sinne ist Theresienstadt vorgezogene Propaganda, die die Berichte von „Majdaneks“ Lügen straft, bzw. eine universale, in die Zukunft gerichtete Verharmlosung des deutschen KZs an sich. Sie begründete die visuelle Holocaustleugnung und nährt sie bis heute durch die hoch-professionell produzierte Filminszenierung, für die viele der Teilnehmer – auch Gerron – mit dem Abtransport nach Auschwitz bezahlen 364 http://www.zyklon-b.info/index.php/category/firmen/. Zur industriellen Gewinnung der etwa in Mandeln enthaltenen Blausäure braucht man Kalium. „Die Degesch war eine der führenden Firmen auf dem Gebiete der Schädlingsbekämpfung und hatte als alleinige Vertriebsfirma von Zyklon B während des Krieges eine Monopolstellung inne. Gesellschafter der Degesch waren die Degussa mit 42.5 %, die frühere IG-Farben-Industrie mit 42.5 % und die Th. Goldschmidt AG in Essen mit 15 % Anteilen an dem Stammkapital. Die Degesch war eine Vertriebsgesellschaft. Sie besaß zwar Maschinen und Patente, ihre Produkte aber wurden von anderen Firmen hergestellt. So wurde das Zyklon B für die Degesch von den „Dessauer Werken für Zucker und Chemische Industrie“ und den „Kaliwerke AG“ in Kolin (CR) fabriziert.“ Bis heute wird in Kolín das Biozid produziert, jedoch unter anderen Namen wie „Blue Fume“: https://www.draslovka.cz/content/ files/downloads/BLUE-FUME-Draslovka.pdf, „Uragan D2“ oder „Cyanopur“: https://echa. europa.eu/information-on-chemicals/biocidal-products/-/disbp/factsheet/CZ-0008969-0000/ authorisationid [2.2.2020]

Literaturverzeichnis

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mussten. Dort verschlangen die Gaskammern bis November – trotz der Befreiung von Majdanek und anderer Lager bzw. der Kenntnis des industriellen Massenmords auf alliierter Seite – weiterhin Opfer aus ganz Europa. Doch zurück zur Entdeckung der Gaskammern von Majdanek im Juli 1944: In der psychologischen Optik der sekundär traumatisierten Filmleute – an dieser Stelle spielt es am ehesten eine Rolle, ob sie jüdisch waren oder nicht – war es das letzte Bild vor dem Ungeheuerlichsten, das geschaut bzw. dann mit einer Kamera repräsentiert wurde. Die Montagelisten deuten darauf hin, dass die jüdischen Filmemacher weniger Interesse am Filmen der Gaskammer zeigten und die Abbildung verschoben: Sie filmten ihre Metonymien, die angrenzenden Räume (Duschen, Schaltraum) oder die von den Füßen der in der Kammer Ermordeten stammenden Schuhe. In Gilles Deleuzes (1968, S. 187) durch das Medium Film inspiriertem Kommentar zu Leopold von Sacher-Masochs Novelle „Venus im Pelz“ (1870) hält der masochistische Blick sein Gleiten zum furchtbaren Ort bei dem letzten harmlosen Objekt an: Sei es Schuh oder Strumpfband. Bekanntlich schaut man in der Urszene des Schauens der geschlechtlichen Differenz ‚nicht hin‘. Im Vergleich zu Majdanek zeigen die ebenfalls im Sommer 1944 gedrehten nationalsozialistischen Großraumduschbilder aus Theresienstadt mehr, nämlich splitternackte Männer (Abb. 4.19). Die vom Phantasma der farnichtung bestimmte Keuschheit der Badehaus-Gaskammer-Aufnahmen von Majdanek steht im krassen Widerspruch zur germanischen Freikörperkultur – auch wenn sie ‚nicht-arische‘ Körper wohlweislich nur von hinten zeigt, nicht das Geschlecht, sondern die Differenz am Gemächt mancher Theresienstädter – oder ihr Fehlen – fürchtend. Da ‚arische‘ von ‚nicht-arischen‘ Pobacken nicht zu unterscheiden sind, wird in dieser Duschszene doch wieder die Gleichheit aller Menschen gefeiert – ganz ähnlich wie in den Majdanekfilmen.

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Produktion der Filme 5 Produktion der Filme

5.1

Zur Wahl des Filmsets Majdanek

5.1

Zur Wahl des Filmsets Majdanek

5

Allein in Treblinka wurden mindestens zehnmal mehr Menschen ermordet als im KL Lublin/Majdanek.365 Warum führten im Sommer 1944 die Überlebenden die Kameraleute nicht in die anderen ebenfalls im Juli 1944 entdeckten Lager Treblinka, Sobibor und Belzec – schließlich wissen wir aus Grossmans Bericht von 1944, dass es genug Zeugen gab?366 Shneer (2010) begründet dies durch die Tatsache, dass dort keine Anlagen mehr zu finden waren, während Majdanek genug Filmbares aufwies: Gebäude, Gegenstände, Apparaturen und sterbliche Überreste in verschiedener Gestalt und aus allen Etappen der Geschichte des Lagers ab 1941. Doch es gab weitere Gründe: Während Lublin/Majdanek laut Kranz (1998, S. 369) ein polyfunktionales Provisorium und kein ausschließliches Vernichtungslager darstellte, waren Treblinka II, Sobibor und Belzec im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ primär für die Ermordung von Juden errichtet worden und spiegelten in geringerem Maße den universellen Aspekt der NS-Verbrechen, der für die sowjetische Filmpropaganda aus politischen Gründen Vorrang hatte. Ungünstig war auch die geographische Lage der unweit der Demarkationslinie liegenden Orte Sobibór und Bełżec; die UdSSR wollte vermeiden, unnötig polnisches Misstrauen zu schüren, das durch die NKWD-Verbrechen in Katyn’

365 Vgl. die Statistik des US Holocaust Museums: „Soviet forces liberate Lublin-Majdanek and find fewer than 500 prisoners left in the camp. The Soviets’ rapid advance did not permit the Germans time to destroy the facility. In almost three years of operation, between 95,000 and 130,000 died or were killed in the Majdanek system; between 80,000 and 110,000 were killed in the main camp alone. The majority of prisoners were Jews“ http://www.ushmm.org/wlc/en/ article.php?ModuleId=10007298 [15.1.2016] Vgl. auch Stone 2019, gestützt auf Yitzhak Arads Daten (Belzec, Sobibor, Treblinka – The Operation Reinhard Death Camps, Indiana Univ. Press, 1987): „Arad (2) compiled data for each of the three death camps, Belzec (~515,000 perished), Sobibor (~126,000 perished), and Treblinka (~897,000 perished). When totalled, the data give reasonable estimates for numbers of the death camp victims.“ 366 Über diese drei Mordanlagen erfuhren die Leser der Pravda erstmals am 7.8.1944 aus einem Artikel von I. Ėrenburg mit dem Titel „Nakanune“ („Am Vorabend“; vgl. Shneer 2010, S. 171). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Drubek-Meyer, Filme über Vernichtung und Befreiung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30531-4_5

239

240

5 Produktion der Filme

und die (von Propaganda begleiteten) sowjetischen Exhumierungen Anfang 1944 entstanden war, als die Massenerschießungen von Katyn’ fälschlicherweise als NS-Verbrechen bezeichnet wurden. Die Entscheidung für Lublin/Majdanek mag zudem damit zusammengehangen haben, dass es dort eine größere Zahl an einheimischen Opfern und Leidtragenden unter den Polen gab, und sie waren es, die man mit der „Sojuzversion“ der Aufnahmen in erster Linie ansprechen wollte. So entwickelte sich bereits im Sommer 1944 eine Praxis, Majdanek nicht als Ort jüdischer Geschichte zu repräsentieren, das es zweifellos war – wenn auch statistisch gesehen in geringerem Maße als etwa Treblinka II. Maurizio Cinquegrani (2016, S. 247) spricht im Fall von Lublin bzw. Majdanek von einem bis heute in Dokumentarfilmen anhaltenden „selektierenden Schauen“, das das jüdische Schicksal ausblendet: „War-time Lublin and Majdanek are here filmed with a selective gaze that emphasises the Polish suffering and neglects the specificity of the destruction of the Jews.“ Ein weiterer Grund lag in der Frühzeit des Lagers 1941, die eng mit dem geplanten Hungertod von Tausenden von sowjetischen Kriegsgefangenen in Verbindung steht und so die Gründungszeit des Lagers mit Opfern aus der UdSSR verbindet, deren sterbliche Überreste dort bereits seit mehreren Jahren lagen. Der Hauptgrund für die Wahl des KL Lublin war jedoch seine provisorisch-polyvalente, also in der Wahrnehmung und im Gedächtnis formbare Gestalt als „Todesfabrik Majdanek“: Als Kriegsgefangenenlager und als Arbeitslager, das über Vernichtungseinrichtungen verfügte (Kranz 1997, S. 381). Gleichzeitig sollte die Stadt Lublin ab der letzten Juliwoche eine besondere Rolle in der Geschichte Polens spielen – hierauf werde ich später zurückkommen.

5.2

Standort und Geheimnisse der Produktion

5.2

Standort und Geheimnisse der Produktion

The nucleus of the new Polish cinema (like the nucleus of the new Polish regime) would come from the Red Army. (Hoberman 1991, S. 327)

Der amerikanische Autor John J. Michalczyk schreibt in seiner Publikation zu den Befreiungs-Filmen mit Holocaust-Thematik: Aleksander Ford, a pioneer of Polish film and head of the Polish Army’s Film Unit, directed Majdanek: Cemetery of Europe in the spirit of the Russian newsreel. […] Ford’s film, using footage shot by Roman Karmen and his Soviet cameramen, follows the normal Soviet narrative, a blend of triumph and tragedy. […] The film at the close, however, differs in content from earlier Soviet propaganda work. (Michalczyk 2014, S. 55–56)367

367 Wie in vielen englischsprachigen Publikationen findet sich auch hier die Vermischung von „russisch“ und „sowjetisch“. So ist die Qualifikation „im Geist einer russischen Wochenschau“

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

241

Michalczyk geht trotz Hicks Darstellung von 2012, die er zur Kenntnis nimmt, nicht darauf ein, dass es sich um zwei Versionen handelt, die mit Filmmaterial arbeiten, das polnische und sowjetische Kameraleute aufgenommen hatten, und unterschiedliches Publikum antizipieren – dem Unterschied der beiden Versionen wird daher keine Aufmerksamkeit geschenkt, bzw. sie werden in einen Film verschmolzen. Auch Fords spezieller Stellung wird keine Rechnung getragen. Ford hatte schließlich nicht nur den 2. Weltkrieg in der UdSSR verbracht, sondern stand auch politisch auf der Seite der Sowjets, die sich im Sommer 1944 darum bemühten, Fuß im befreiten Europa zu fassen, was gerade in Polen – obgleich schwierig – letztendlich gelingen sollte. Das Einsetzen einer Polnisch-Sowjetischen Außerordentlichen Kommission war Teil dieses Plans, die polnische Bevölkerung für die Sowjetunion einzunehmen. Die Kommission war ein anschauliches Beispiel einer neuen und öffentlichen polnisch-sowjetischen Zusammenarbeit. So sollte ihr Wirken – detailliert gezeigt in der Ford-Fassung des Films – beweisen, dass die Sowjets das Wohl der Polen im Auge hatten, und dass sie sich um eine rasche Aufklärung der Kriegsverbrechen bemühten. Wir können nicht umhin, die primäre und die vordringlichste Funktion der polnischsprachigen Version des Films [Vernichtungslager] Majdanek – cmentarzysko Europy in diesem propagandistischen Kontext zu sehen, ähnlich wie N. Bulganins Teilnahme an den verlegten Lubliner Feierlichkeiten zum „Wunder an der Weichsel“ (vgl. Kap. 6); hierfür spricht auch, dass zuerst die polnische Premiere stattfand. Einer der Gründe für die grobe Vernachlässigung der in Majdanek aufgedeckten Wahrheit über die Ermordung der Juden liegt darin, dass im unmittelbar anvisierten Publikum der Majdanek-Reportagen sich nur wenige jüdisch-polnische Überlebende befanden. Hannah Maischein (2015, 178–179) spricht von einer „frühe[n] nationale[n] Universalisierung der Opfer im Rahmen des antifaschistischen Kriegsnarrativs“ und fügt hinzu: „Dass die polnische Opfererinnerung in die sowjetische Propaganda integriert werden musste, um den Kommunismus in Polen durchsetzen zu können, war den Filmemachern offenbar bereits in den ersten Tagen nach dem Einmarsch bewusst.“ Meine Nachforschungen bei den polnischen Filmarchiven und der Gedenkstätte in Majdanek haben bisher nichts zu Tage gefördert, was darüber aufklären könnte, ob bereits die Urheber der Filmaufnahmen von Majdanek den Mord an den Juden aus dem Blickfeld verbannen wollten, etwa beim Sichten der Tagesmuster in Lublin. Hicks’ Archivstudien weisen die Entscheidung der Moskauer Zensoren nach, den Mord an den Juden nicht in die Filme hineinzunehmen. Wenn hierfür nur die sowjetische Zensur (auch die des Filmstudios) verantwortlich war, würde dies darauf hindeuten, dass Filmkader, die über das jüdische Schicksal berichten, in Moskau liegen und nicht in Polen (vgl. jedoch Kap. 3.5.3. zum Fehlen des Weissbarth-Stücks).

hier auf doppelte Weise inkorrekt, da der polnischsprachige Film ebenfalls eine sowjetische Produktion war. 241

242

5 Produktion der Filme

5.2.1 Postproduktion in Lublin und/oder Moskau? Die ausgedehnte Schlusssequenz des Films zeigt in beeindruckenden Bildern die mindestens 20000 Menschen, die am Trauergottesdienst vor der Burg [Schloss] am 6. August 1944 teilnahmen. Der Kommentar ist knapp, stattdessen hört man aus Tausenden Kehlen die Rota [den Eid], jenes auch bei Fronleichnamsprozessionen gesungene Lied aus der Zeit des antipreußischen Widerstands, dessen Strophen mit dem Refrain Tak nam dopomóż Bóg! [Dazu verhelf uns Gott!] enden. Ort der Handlung für diese vordergründige politische Botschaft war die Altstadt von Lublin mit der seit jeher als Gefängnis genutzten Burg. (Selerowicz und Garscha 2011, S. 66)

Es wird davon ausgegangen, dass beide Sprach-Versionen in Moskau fertiggestellt wurden. Laut Stuart Liebman (2011) wurden die Aufnahmen aller Kameraleute, die in Majdanek im Juli und August 1944 gemacht wurden, in Moskau geschnitten bzw. vertont und vier bzw. fünf Monate später gezeigt. Liebman schreibt, dass Ford in Moskau an der Bearbeitung des Films beteiligt war, und dass die polnische Hymne „Rota“ durch den Chor der Roten Armee gesungen und hinzugefügt wurde, jedoch ohne Angabe einer Quelle und des Zeitpunkts der Moskaureise Fords bzw. Bossaks, von dem der Off-Kommentar zum Film stammt.368 Jewsiewicki (1972) zitiert zudem ein Gespräch mit Bossak von 1969, in dem dieser ihm mitteilte, dass er die Leitung der Aufnahmen im Lager übernehmen musste, da Ford dies nicht selbst tun wollte bzw. sich nicht dazu in der Lage sah.369 Auf Bossaks wenig glaubhafte Behauptung werde ich später noch eingehen. Liebman stützt sich auf Ozimeks Artikel aus dem Jahr 1988, in dem dieser schreibt, es wäre von August bis November 1944 in Polen technisch nicht möglich gewesen, Wochenschauen produzieren, weil man nicht über die technischen Voraussetzungen für die Anfertigung von Tonkopien verfügt habe: As Ozimek notes, between August and November 1944, it was impossible to bring out a regular newsreel because there was no way to make sound copies. ‘Rota’ and the film’s voice-over commentary were recorded at the central newsreel studio (Soyuzkinochronika in Moscow. See Ozimek, ‘Polish Newsreel in 1945’)370

368 Liebman 2011, S. 208. Ich beziehe mich auf die polnische Version des 2006 auf englisch erschienenen Artikels von Liebman, die 2011 vom Autor verbessert bzw. von den polnischen Herausgebern mit Zusätzen versehen wurde. 369 In einem unveröffentlichten Dokument von 1981, das mir Konrad Klejsa zur Verfügung gestellt hat, behauptet Bossak, Ford wäre nicht nur dem Lager ferngeblieben, sondern auch nur zweimal im Schneideraum gewesen. Allerding stammt diese Äußerung aus einer Zeit, als der Emigrant Ford bereits tot war, und Bossak um eine Distanzierung von seinem ehemaligen Kollegen bemüht (Lebenslauf Bossak 16.11.1981). 370 Liebman wie auch Shneer, der ebenfalls von einer Aufnahme in Moskau spricht (Shneer 2010, S. 158), beziehen sich auf Ozimek 1988, S. 72.

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

243

Diese Erklärung kann man auch als Rechtfertigung dafür lesen, dass polnische Filmemacher an einem sowjetischen Film mitgearbeitet haben. Dann würde es sich um eine im Jahr 1988 – also am Ende der Polnischen Volksrepublik – politisch motivierte Aussage des polnischen Filmhistorikers für eine Londoner Publikation handeln, die von einer Distanzierung von dem Film als prosowjetischer Propaganda gekennzeichnet ist. So wurde in einer veränderten politischen Situation in Polen u. U. das Faktum, dass das Material 1944 nicht an Ort und Stelle, sondern in Moskau geschnitten und vertont wurde, zu entschuldigen versucht. Falls der Film jedoch weitgehend vor Ort gestaltet wurde (technisch war dies laut B. Kosidowska 2008, S. 135 bis zu einem bestimmten Grad möglich), hätte ein Abschieben der Verantwortung auf ‚Moskau’ eine Alibifunktion für die Mitglieder der polnischen Filmcrew (etwa Adolf Forbert, s. u.). Aus der spät- bzw. post-sozialistischen Perspektive handelte es sich beim Majdanek-Film um ein Propagandamachwerk – gleichgültig ob aus polnischer oder jüdischer Sicht. Aus jüdischer Perspektive hätte man bereits in den 1940ern die jüdischen Mitglieder des Filmteams dafür verurteilen können, dass sie nichts für die Enthüllung der Wahrheit über den Judenmord getan hatten. Viele Polen wiederum betrachteten die Majdanek-Medienhersteller jüdischer Herkunft kritisch, da sie sich im Sommer 1944 der sowjetischen Propagandaproduktion zur Verfügung gestellt hatten, um mit einem ,roten‘ Majdanek von aktuellen national-polnischen Anliegen – wie dem Warschauer Aufstand – abzulenken, auch wenn diese Option, zumindest mit den Filmen, nicht verwirklicht wurde. Allerdings hatte sich die polnische Kinematografie im Sommer 1944 tatsächlich gerade erst von der deutschen Okkupation befreit, wie man in der englischsprachigen Geschichte des polnischen Films von 1962 lesen kann: Due to war operations, followed by the occupation of the country, Polish cinematography was practically wiped out. The technical equipment was destroyed or taken away by the Germans for the needs of Nazi propaganda. (Contemporary Polish Film 1962, S. 21).

Stimmig ist, dass v. a. die Umsetzung einer Tonfilm-Produktion mühsam gewesen wäre – die Gerätschaften waren von den deutschen Besatzern mitgenommen worden. Auch wenn Ford später als Kompensation Filmapparaturen aus Babelsberg nach Polen schaffte, waren 1944 die alten Filmproduktionszentren in Warschau und Łódź noch nicht befreit.371 Wo hielten sich die Mitglieder des Stabes der polnischen Fasssung des Majdanekfilms von Juli bis Oktober 1944 auf? Da das Centralny Komitet Żydów w Polsce im November 1944 eine Konferenz in Moskau abhielt, an der Mitglieder des Sowjetischen Jüdischen Antifaschistischen Komitees wie Solomon Michoel’s, Icik Fefer und Perec Markiš teilnahmen (Rozenbaum 1991, S. 223), könnte Fords bzw. Bossaks Reise in die UdSSR zu diesem Zeit371 Mieczysław Kuźmicki. http://www.dzienniklodzki.pl/artykul/794014,ford-nazwisko-ktoreboli,id,t.html [10.12.2017] Konrad Klejsa schließt nicht aus, dass ab ca. Oktober 1944 die Postproduktion im (auf der anderen Seite der Front liegenden) Łódź in einem Studio in der Kiliński-Straße hätte stattfinden können. Zu den Bedingungen in Lublin vgl. die Erinnerungen der Bildeditorin Barbara Kosidowska 2008, S. 135, 138. 243

244

5 Produktion der Filme

punkt u. U. eine weitere Motivation gehabt haben; allerdings war dieses Komitee – obwohl ursprünglich geplant – nicht international (Brackman 2001, S. 374), und es ist unklar, ob Ford darin eine Rolle hätte spielen können oder wollen. Es ist auch denkbar, dass Bossak nur einen Text mitgeschickt hat, der dann in Moskau vor Ort angepasst und vom Schauspieler Władysław Krasnowiecki aufgenommen wurde – falls Krasnowiecki hierfür tatsächlich eigens nach Moskau gebracht wurde. Wir müssen davon ausgehen, dass nach Fords und Bossaks Auswahl weitere Zensurinstanzen vor Ort und mit Sicherheit die Zensur in Moskau zum Zuge kam. Laut Liebman (2011) wurden sowohl die „Rota“ als auch die von dem sowjetischen Komponisten Sergej Potockij stammende Musik bzw. die Sprecher-Kommentare im „Zentralen Studio des Dokumentarfilms“ (CSDF) in Moskau aufgenommen. Einen Schlüssel zur Produktionsgeschichte stellt der bisher nicht beachtete Umstand dar, dass für die polnische und die russisch-sowjetische Version verschiedene symphonische Kompositionen eingespielt wurden. Unklar ist, warum vom CSDF als Komponist ausgerechnet Sergej Potockij (Tambov 1883 – Moskau 1958) gewählt wurde, der über viele Jahre hinweg im Studio Mežrabpomfil’m bzw. Sojuzdetfil’m tätig gewesen war und ausschließlich für Spielfilmproduktionen komponierte. Vielleicht, weil sein Name an den des polnischen Adelsgeschlechts der Potocki erinnert, das dem Publikum im östlichen Teil Polens wohlbekannt war? K. Zalesskij (2004) beschreibt eine solche sowjetische Täuschungsstrategie bezüglich der Polnischen Armee, in die vorzugsweise Sowjetbürger mit polnisch klingenden Namen eingegliedert wurden.372 Die Filmspeerspitzenmitglieder mögen den Komponisten während der Evakuierung kennengelernt haben (sein Name erscheint auf einer Produktion des Kiewer Filmstudios in Aschgabat, an der Perski und Wohl beteiligt waren), doch in Potockijs russischen Filmografien findet sich für das Jahr 1944 keiner der Majdanek-Filme.373 Während in den westlichen und polnischen Filmografien nur Potockij als Komponist angeführt wird, findet man im Krasnogorsker Katalog auch den Namen David Štil’man (1905–1995). S. Potockij ist in diesem Katalog für die Majdanek-Version mit der Nr. 5200 zuständig, die dort als Koproduktion mit Film Polski angeführt wird, was darauf hindeuten könnte, dass es sich um eine spätere Version handelt, denn die Produktionsfirma Film

372 Vgl. auch den Artikel zu Berling, der sich auf das Buch von Zalesskij 2004 stützt (http://hrono. info/biograf/bio_b/berlingz.php) [5.5.2018]. Piotrowski weist darauf hin, dass die Mehrzahl der Soldaten in der „Polnischen Armee“ keine Polen waren. Ein polnischer Name reichte, um in diese Armee einberufen zu werden: „В этой армии лишь незначительное количество постов занимали поляки, в основном же она была укомплектована гражданами СССР (часто сюда набирали по принципу - фамилия похожа на польскую).“ 373 Für 1944 finden sich unter Potockijs Werken Ivan Nikulin – russkij matros / Ivan Nikulin, ein russischer Matrose (R: I. Savčenko, Mosfil’m), und zwei Filme für das Sojuzdetfil’m-Studio (darunter der Film My s Urala / Wir vom Ural, R: Lev Kulešov und Aleksandra Chochlova, produziert in der Evakuierung in Stalinabad, 1944). http://m.kino-teatr.ru/kino/composer/ sov/31019/bio/ [5.5.2018]

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

245

Polski gab es 1944 noch nicht.374 Es gibt weitere Indizien, dass Potockij weniger mit den Majdanek-Filmen zu tun hatte als Štil’man. Im Krasnogorsker Katalog findet sich nämlich Štil’mans Name als Musikgestalter (muzoformitel’) für den geografisch und zeitlich nahen, vom CSDF produzierten Titel Chelm i Ljublin (Na osvoboždennoj pol’skoj zemle)/ Chełm und Lublin (auf befreiter polnischer Erde), 1944, mit der Registrierungsnummer 5170. Die Stabliste dieses Titels stimmt zudem größtenteils mit derjenigen der Majdanekfilme überein: die Kameraleute Štatland, Sof’in, Wohl [Vol’t], Forbert [Farbert] und zusätzlich Vasilij Solov’ev (1905–47), der v. a. in der Stadt Lublin gefilmt hat (vgl. seine Montageliste VS 1134). Der einzige andere ‚Befreiungsfilm‘, zu dem Potockij Filmmusik geschrieben hat, und der nur entfernt mit der Thematik der Befreiung von deutscher Besatzung zusammenhängt und keine Gräuel enthält, war das noch im Krieg begonnene „optimistische Drama“ (Osvoboždennaja zemlja / Befreite Erde, R: Aleksandr Medvedkin, UdSSR 1946).375 Vermutlich besteht die Paarung von Majdanek mit dem Namen Potockij lediglich auf Papier, und nicht einmal Notenpapier. Alle mir bekannten Filme, an denen der Komponist Potockij mitgewirkt hat, sind qualitativ hochwertiger als die Musikarrangements zu den Majdanek-Filmen, die wie ein Potpourri von Volksliedern und Variationen auf klassische Themen wirken. Die Vertonung von Gräuelbildern durch den mit anderen Projekten (in erster Linie Kinderfilmen)376 beschäftigten Potockij im Moskauer CSDF-Studio ist unwahrscheinlich. Je genauer man die Filmografien studiert, desto mehr Fragezeichen tauchen nicht nur bezüglich der Beteiligung Potockijs an den Musikgestaltungen auf, sondern auch der von Ozimek und Janina Struk (2004) tradierten Postproduktion der Majdanek-Filme in Moskau und die Fertigstellung der polnischen Version in Moskau. Alle am Film Majdanek – Friedhof Europas Beteiligten – außer Setkina und Potockij bzw. Štil’man – befanden sich zu dieser Zeit im befreiten Polen. Auch der Tonmeister des CSDF Viktor Kotov wird von 1941–45 für Filmtonaufnahmen an der Front zuständig angeführt.377 In der Biografie des Schauspielers Krasnowiecki, der den Krieg ebenfalls in der UdSSR verbracht hatte, 374 Aufschlussreich ist zudem die Information von Ela Wysocka (FINA), dass das polnische Archiv nach dem Krieg Filmmaterial aus der UdSSR angekauft hat. Hier wäre ein archivseitiger Abgleich der Bestände in Polen und Russland notwendig. 375 http://m.kino-teatr.ru/kino/movie/sov/4799/annot/ Mit diesem Filmtitel stimmt ein Teil des Štil’man-Titels Na osvoboždennoj pol’skoj zemle überein – möglicherweise konnte man in einer der Filmproduktionsbuchhaltungen des Jahres 1944–45 ‚Befreite Erde‘ ein zweites Mal unter ‚Befreiung‘ verbuchen, um die inoffizielle Arbeit des jüdischen Komponisten zu camouflieren. 376 In Potockijs Werkliste finden sich (Musik)Komödien, Märchenfilme, Historienfilme und – bis zu einem Schauspielerporträt 1948 – kein einziger Dokumentarfilm: http://m.kino-teatr.ru/ kino/composer/sov/31019/works/ [17.7.2018] Hinzu kommt, dass Befreite Erde der zweite Film des Filmstudios in Sverdlovsk war, das 1800 km von Moskau liegt. 377 Zur Biografie von V. Kotov, der oft mit Karmen und Simonov zusammenarbeiten sollte, vgl. https://csdfmuseum.ru/names/170-Виктор-КОТОВ und https://fotki.yandex.ru/next/users/i3s/album/236190/view/1398921?page=0 [17.7.2018] 245

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ist sogar der genaue Tag vermerkt: er kam am 27. Juli 1944 mit dem Armee-Theater der 1. polnischen Infanterie-Division „Tadeusz Kościuszko“ nach Lublin, wo dieses in das „Theater der Polnischen Armee“ umbenannt wurde, das er dann als Direktor in Lublin bis zum Januar 1945, als es nach Łódź umzog, leitete.378 Sind Ford, Bossak und Krasnowiecki in dieser Situation, während des Kriegs, wirklich nach Moskau gereist? Wenn dies der Fall war, so haben sie dies in ihren Gesprächen mit Historikern in den 1980er und 1990er Jahren verheimlicht. Ich werde im Kap. 6 auf diese Reise zurückkommen. Wurde der Ton für die polnische Version tatsächlich in Moskau fertiggestellt, wie es bei Struk (2004), Liebman (2011) und zuletzt Haltof (2012, S. 212) heißt? Es könnte sich hier um die Übernahme eines apologetischen Narrativs handeln – bestimmt von den Befürchtungen polnisch-jüdischer Kameraleute, sich sonst antisemitischen Vorwürfen auszusetzen. Sie hätten in etwa so klingen können: die ‚vaterlandslosen‘ Forberts und Fords hätten sowjetische (anti-polnische) Propaganda fabriziert, und Krasnowiecki hätte ihnen dabei geholfen; dies mag auch erklären, warum das Faktum wenig bekannt war und ist, dass die Forberts als Offiziere der Roten Armee Aufnahmen von KZs und von historisch bedeutsamen Exhumierungen gemacht haben.379 Solche Aufnahmen wurden und werden in Polen gemeinhin mit sowjetischen Propaganda-Intentionen assoziiert. Dass W. Forberts Name zudem im Katalog des CSDF als einer der Kameraleute von Katyn’ angeführt wird, macht diese Befürchtung noch wahrscheinlicher. Keine der Publikationen über die Dreharbeiten in Katyn’ und in Majdanek – beides Exhumationsfilme – hat diesen wichtigen Zusammenhang bisher erwähnt.

5.2.2 Filmset Lublin: Globocniks Ghettos und das „liederlichste Lager“ „Henker und Abenteurer, Provokateure und Diversanten, Spione und Diplomaten.“ über die NS-Führer vor dem internationalen Tribunal in Nürnberg (Sud narodov / Gericht der Völker, R. Karmen / E. Svilova, 1946, 25:30)

Janina Struk (2004, S. 140) schreibt in ihrem Pionierwerk Photographing the Holocaust, dass die Majdanek-Filmleute SS-Gruppenführer Odilo Globocniks ehemalige Villa bezogen hätte, um von dort aus die Filmarbeiten zu koordinieren.380 Die potentiell gefährlichste filmische Waffe der Alliierten – die Kamera der Befreier in der Gaskammer von Lublin/ Majdanek – scheint auf die Architekten, Logistiker, Umsetzer und Nutznießer des Geno378 Almanach Sceny Polskiej 1982/83 tom XXIV, 1987. http://www.e-teatr.pl/pl/osoby/6291.html [10.12.2017] 379 Vgl. hierzu Struk 2004, S. 139ff. Zu den verschwundenen Auschwitz-Aufnahmen vgl. Kap. 7. 380 Zum „Bezug der Villa des ehemaligen SS-Gruppenführers“ [sic] und dem „Labor im Badezimmer“ vgl. auch B. Kosidowska (2008, S. 135), die erwähnt, dass die Negative „oft nach Moskau geschickt worden wären, da die Entwicklung nicht immer funktioniert“ habe.

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zids an den Juden Europas gerichtet. Neben den im Film genannten Hitler und Himmler betrifft dies auch einer der Protegés des Reichsführers SS, Odilo Globocnik, den man als Gründer und ehemaligen Direktor der „Todesfabrik“ Majdanek bei Lublin bezeichnen kann. Die Mitglieder der Filmspeerspitze nehmen als Filmoffiziere der Roten Armee den 1943 in die Operationszone Adriatisches Küstenland versetzten Globocnik speziell ins Visier – indem sie selbstbewusst seine ehemalige Wohnstätte und Räubernest zu ihrem Hauptquartier machen (Abb. 5.1).

Abb. 5.1

Arbeit am Kommentar in Odilo Globocniks ehemaliger Villa in der ul. Boczna Lubomelskiej 4/6, erbaut 1937 von Tadeusz Witkowski. Quelle: http://bloglublin. blogspot.de/2014/12/willa-prowizora-haberlau-i-aptekarza.html

Wer war Globocnik (auch Globotschnig/Globočnik; Triest 1904 – Kärnten durch Selbstmord am 31.5.1945), und was hatte er mit Lublin zu schaffen? Globocnik war – bis zu seiner Abberufung – als SS- und Polizeiführer des Distrikts Lublin im „Generalgouvernement“ ein mächtiger Mann in der deutsch besetzten Stadt. Er plante die Umsiedlung von Volksdeutschen in das einstige Judenviertel (polnisch Dzielnica żydowska) Lublins genannt Podzamcze,381 durch welches seit dem 17. Jahrhundert die Breite Straße als das Zentrum jüdischen Lebens lief (Abb. 5.2). 381 Am 15.10.1941 schrieb SS-Hauptsturmführer Hellmut Müller an Otto Hoffmann, den Leiter des Rasse- und Siedlungsamts: „Der Gedanke des Brif [Odilo Globocnik] ist nun, aus einem Teilstück heraus die Deutschbesiedlung des gesamten Distrikts Lublin durchzuführen und darüber hinausgehend […] im Anschluß an die nordisch bzw. deutschbesiedelten baltischen Länder über Distrikt Lublin einen Anschluß an das deutschbesiedelte Siebenbürgen herzustellen. Er will so im westlichen Zwischengebiet das verbleibende Polentum siedlungsmäßig ‚einkesseln‘ und allmählich wirtschaftlich und biologisch erdrücken.“ (Bömelburg 2003, S. 76 zitiert aus der Dokumentensammlung Zamojszczyzna – Sonderlaboratorium SS. Zbiór dokumentów polskich 247

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Abb. 5.2

5 Produktion der Filme

Unbekannter Fotograf; vorne: Das jüdische Viertel in den 1930ern; https:// pl.wikipedia.org/wiki/Dzielnica_%C5%BCydowska_w_Lublinie#/media/ File:Lublin_z_lotu_ptaka_lata_30te_(01).jpg

Podzamcze (heute: Schlossplatz) hatte seit März 1941 etwa ein Jahr lang als Lublins erstes nationalsozialistisches Ghetto gedient.382 Am 16. April 1942 wurde die verbleibende jüdische Bevölkerung an die Peripherie der Stadt, den „Tataren-Majdan“ verlegt (Schwindt 2005, S. 115). Das Ghetto in Majdan Tatarski lag da, wo heute die Straßen Rozdroże, Pogodna, Krańcowa und die Rudlicki-Straße verlaufen.383 Majdan Tatarski wurde – ähnlich wie i niemieckich z okresu okupacji hiderowskiej, hrsg. von Czeslaw Madajczyk, 2 Bde, Lublin 1977, hier Bd. 1, S. 29–31). 382 „Two ghettos existed in Lublin under the German occupation. The first one, created in 1941, was situated in Podzamcze, the site of the historic Jewish quarter. It operated for one year and was the first ghetto liquidated within the Action Reinhardt, ‘the Final Solution of the Jewish Question’ in the General Government. The liquidation of the ghetto begun at night of 16th /17th March 1942. On the 15th of April 1942, the area was already empty. The Jews present at that time in the ghetto were transported to the Bełżec extermination camp. Those who managed to obtain the relevant documents were transferred to a new ghetto, established in the district of Majdan Tatarski. It functioned until the end of the Action Reinhardt, the 3rd of November 1943 (Action Erntefest), when the remaining Jews were taken to the concentration camp at Majdanek and shot there.“ http://teatrnn.pl/lexicon/articles/podzamcze-and-majdan-tatarski-ghettos/ [4.9.2018] 383 Ich beziehe mich auf die Webseite Virtuelles Sztetl mit einer Topografie des jüdischen Lublin während des Genozids: „Getto na Majdanie Tatarskim“. https://sztetl.org.pl/pl/miejscowosci/

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das böhmische Theresienstadt – als „Wohngebiet“ der Juden bezeichnet und sollte als Musterghetto dienen; auch hier mussten die jüdischen Häftlinge – wie in Böhmen oder in Treblinka/Obermajdan – einen Eisenbahnanschluss bauen, der ab Herbst 1942 in Betrieb war (Schwindt 2005, S. 116). In der Nähe befand sich ein bereits zuvor (1940) errichtetes Arbeitslager, der sog. „Flugplatz“ in der ul. Wrońska, der vor dem Krieg zu Schulungszwecken polnischer Militärs gedient hatte. Dort standen ein Hangar und eine Gaskammer, die sowohl der Desinfektion als auch der Ermordung dienen konnte, zur Verfügung.384 Das artifizielle zweite und letzte Lubliner Ghetto Majdan Tatarski lag zudem in der Nähe des Schlachthofgeländes, das bereits über einen Gleisanschluss verfügte; dort wurde der Umschlagplatz errichtet, von dem Transporte aus Lublin in das Vernichtungslager Belzec abfuhren. Am 2. September und am 24. Oktober 1942 führten die deutschen Besatzer weitere Deportationsaktionen durch und deportierten einen Teil der Juden in das Ghetto in Piaski und in jenes Lager, das später Majdanek genannt wurde.385 Kranz (1998, S. 372) weist zudem darauf hin, dass „im Gegensatz zu den meisten KZ […] Majdanek mit dem lokalen SSPF, Globocnik (November 1939 bis August 1943) verbunden“ war. Barbara Schwindt (2005, S. 116) schildert die Situation der jüdischen Zwangsarbeiter in der Region: Mit Beginn der ‚Aktion Reinhardt‘ sollten die jüdischen Arbeitskräfte ‚nicht mehr produzieren, sondern verwerten‘. In den Bekleidungswerken wurde die Habe der in den Vernichtungslagern getöteten Jüdinnen und Juden sortiert, desinfiziert und zum Versand vorbereitet. So schrieb Pohl am 16. Mai [1942] an Himmler: ‚Das aus Sonderaktionen anfallende Material (Männer-, Frauen-, und Kinderbekleidung, Wäsche und Schuhzeug) wird in den Sammelstellen Lublin, Riga […] entseucht und vorsortiert‘. […] Globocnik setzte jüdische Häftlinge nicht nur beim Ausbau des Flughafen-Lagers ein, sondern auch im Betrieb der SS-Bekleidungswerke. Im Frühjahr 1942 mussten die Juden täglich zu Fuß zum ca. ein Kilometer entfernten FlughafenLager gehen, später wurden sie dort kaserniert.386

Globocnik war für die Liquidierung der Ghettos von Warschau und Bialystok bzw. die „Aktion Reinhardt“ verantwortlich und hatte im Herbst 1941 die industrielle Vergasung von

l/264-lublin/116-miejsca-martyrologii/47837-getto-na-majdanie-tatarskim [4.9.2018] 384 „Flugplatz – obóz pracy przymusowej w zakładach lotniczych przy ul. Wrońskiej.“ https://sztetl.org. pl/pl/media/6680-lublin-zabudowania-dawnego-obozu-pracy-przymusowej?ref=art&nid=47785 [4.9.2018] Schwindt (2005, S. 115) beschreibt die Topografie Majdaneks und des in der Nähe liegenden „Alten Flughafens“, die sich in manchen Details von der des Virtuellen Sztetls unterscheidet. 385 Die Liquidierung des Ghettos in Majdan Tatarski begann am 9. November 1942 durch SS-Einheiten unter dem Kommando von SS-Obersturmführer Hermann Worthoff (Erschießung von Mitgliedern des Judenrates und der jüdischen Polizei). Die Juden von Lublin, die noch am Leben waren, wurden in das nahegelegene Lager Lublin/Majdanek gebracht, wo die meisten nach der Selektion in den Gaskammern getötet wurden. http://teatrnn.pl/lexicon/articles/ podzamcze-and-majdan-tatarski-ghettos/ [4.9.2018] 386 Wolfgang Curilla (2011, S. 615–616) weist darauf hin, dass das Lager Alter Flughafen – anders als Majdanek – noch im Stadtgebiet lag. 249

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Menschen angeregt bzw. vorangetrieben (Browning 2004, S. 360–369). Er gehörte außerdem zu denjenigen Kriegsverbrechern, Massenmördern und Dieben, die sich bereits vor der deutschen Kapitulation vor einem deutschen Gericht verantworten mussten. 1939 wurde er aufgrund von Währungsspekulationen vorübergehend aus der Partei ausgeschlossen und 1943 wegen krimineller Bereicherung „of Jewish, Polish, Ukrainian assets“ (Schelvis 2006, S. 32) vor das Krakauer SS-Gericht gestellt. Rudolf Höß, Kommandant des Lagerkomplexes Auschwitz, der sowohl die Funktion der Vernichtung (Birkenau) als auch der Arbeit (Monowitz) hatte, schrieb nach dem Krieg in polnischer Haft über Globocnik: „Die Juden wollte er, soweit er sie nicht zur Arbeit brauchte, sofort an Ort und Stelle vernichten, ihr Eigentum in große Sammellager schaffen und für die SS auswerten. Er erzählte das in gemütlichem Plauderton in seinem Wiener Dialekt in der Nacht am Kamin, als wenn es sich um die harmlosesten Geschichten handelte.“387 Höß erwähnt in seiner Charakteristik das Entscheidende nicht: Figuren wie Globocnik, also jene, die den Genozid in Osteuropa leiteten, bereicherten sich persönlich an den Raubzügen auf Kosten der Häftlinge und Deportierten. Für Globocnik, der in Verkennung dieses Aspekts mit dem Klischee des fanatischen Nationalsozialisten bezeichnet wird, war das von Berlin weit entfernte Lublin, bekannt als das „liederlichste Lager“ (Wolfgang Scheffler),388 ein einträgliches Geschäft.389 Daher macht es auch durchaus Sinn, dass er von den Deportierten, die der Lubliner Beraubungsmaschinerie überstellt wurden, nicht genug bekommen konnte, worauf Höß hier verschleiert Bezug nimmt: „Während ich mich mit Eichmann immer herumschlug, um die Judentransporte nach Auschwitz abzubremsen, konnte Globocnik nicht genug bekommen, denn er wollte unbedingt mit ,seinen‘ Vernichtungen und ,seinen‘ erfaßten Werten an der Spitze stehen.“ (Höss zit. nach Kranz 1998, S. 364) Eichmann und Globocnik waren tatsächlich zwei Enden der Mordmaschinerie, die mit der Deportation in Frankfurt, Prag, Paris oder Amsterdam begann und auf den Feldern von Majdanek, Treblinka, Sobibor oder Belzec endete. Und beide beanspruchten ihren jeweiligen Anteil an der „Judenbeute“, der eine Grundstücke, Bankkonten und Vermögen in „Europa“, der andere Schmuckstücke, Bargeld und Zahngold im „Osten“. Als jedoch Globocnik 1943 die Unterschlagung von Schmuck im Wert von 100.000 RM vorgeworfen wurde (Schelvis 2006, S. 32), konnte dessen Protektor, Heinrich Himmler, seinen „Globus“, wie er ihn freundschaftlich nannte, in Polen nicht mehr halten.390 Am 16.8.1943 beendete Berlin Globocniks Goldrausch im wilden, oder besser gesagt: durch die deutsche Okkupation verwilderten Osten. Himmler versetzte ihn am 13.9.1943 in 387 Höss zit. nach Kranz 1998, S. 364. 388 Zit. nach Kranz 1998, S. 371. 389 Hierzu und zu Globocniks zwei Sonderkonten „R“ (für Reinhardt?) und „G“ (Globocnik?) bei der Lubliner Filiale der Reichsbank vgl. Webb, Chris, and Michal Chocholatý. 2014, S. 357–8. 390 SS-Standartenführer Globocnik war zwar im Mai 1938 als Gauleiter von Wien berufen worden, wurde jedoch am 30.1.1939 aufgrund seiner „katastrophalen finanziellen Mißwirtschaft“ von Hitler abgesetzt (Schulte 2001, S. 246). Seine Wiener Tätigkeit überschneidet sich mit der Eichmanns an der Zentralstelle für jüdische Auswanderung.

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seine Heimat an die Adria (Birn 1986, S. 346). Ihm folgte weiteres Personal der „Aktion Reinhardt“: Christian Wirth (Euthanasie- und „Reinhardt“-Inspekteur, auch zugegen bei der „Aktion Erntefest“), Kommandant von Sobibór und Treblinka Franz Stangl (dort dann zuständig für die „Aussenstelle Venedig“ in Mestre; R IV) und weitere Geheimnisträger sowie Wachen (Webb / Chocholatý 2014, S. 317). Auch Lorenz Hackenholt, der im Distrikt Lublin im Zusammenhang mit dem Genozid an den Juden tätig gewesen war (ibid., S. 333), wurde nach San Sabba in Triest geschickt, um im Rahmen des Einsatzes R im Sonderkommando R I und später bei der Partisanenbekämpfung eingesetzt zu werden. Auf diese Weise wollten die Hauptverantwortlichen des Judenmords sich einiger Geheimnisträger und Mitwisser, die sie nach Kriegsende hätten inkriminieren können, entledigen, was in einigen Fällen, wie bspw. bei Wirth, der am 26.5.1944 in Hrpelje-Kozina den Tod fand, auch gelang (Webb / Chocholatý 2014, S. 308–309). Denn die jugoslawischen Partisanen, denen übrigens der umtriebige Hackenholt Waffen verkaufte, schossen scharf. Auch wenn er im Gegensatz zu Hitler und Himmler nicht zu den in den MajdanekFilmen steckbrieflich Gesuchten gehört, ist „Berlins Mann in Lublin“391 mit dem Begriff der Himmlerschen SS- und SD-Kreatur oder des Günstlings (stavlennik) hinreichend beschrieben („Die Hitlerregierung, der Oberhenker Himmler und ihre SS- und SD-Kreaturen“). Visuell unterstrichen wird dies durch die gezeichneten und gefilmten Schädel und Totenköpfe, die auf das Totenkopfsymbol der SS verweisen (Abb. 2.6).

5.2.3 Die „Filmfabrik“ in Globocniks ehemaliger Villa und eine Tonkamera Die Villa, die „Globus“ in Lublin bewohnt hatte, lag strategisch günstig, im Nordwesten der Stadt, umringt von weiteren deutschen Behörden bzw. in der Nähe des Kommandoquartiers der „Aktion Reinhardt“ bzw. der Kommandantur des KL Lublin. Die Chopinstraße 27, in der sich das im Film erwähnte Depot beschlagnahmter Gegenstände befand, lag etwa 800m südlich der Villa.392 Struk beschreibt in ihrem Bericht über die Filmspeerspitze in der Villa die technischen Probleme des Filmteams, das erst „nach einigen Wochen“ alle Gerätschaften zusammenhatte, um die Filme zu entwickeln: Within a few weeks, with the help of local people, he and his team – which, as well as the Forberts, included well-known Soviet film-maker Roman Karmen and Czołówka Filmowa Ludowego Wojska Polskiego members Jerzy Bossak, Stanisław Wohl, and technicians Stanisław Jakubowski and Bogdan Siwek – transformed the villa into what Forbert called a ‘film factory’. Some equipment was made available by the Soviet Union, but everything else had to be found. Siwek travelled 150 kilometres in search of suitable wood to make developing 391 Poprzeczny (2004, S. 166) über Globocnik. 392 Heute das Gebäude der Universitätsbibliothek der KUL. http://www.bu.kul.pl/historia,11883. html [10.9.2018] 251

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5 Produktion der Filme

tanks with army food rations as his only currency. When the wood was brought to Lublin, two local carpenters were employed making the tanks with a lathe that had been found in a warehouse left by the Germans.

Angesichts der Tatsache, dass Fords Team offensichtlich privilegiert genug war, um sich in der Villa eines der größten Nutznießer der „Aktion Reinhardt“ einzuquartieren, würde es erstaunen, dass Ford plötzlich Unterstützung von offizieller Seite gefehlt hätte. Auch wenn Struks Interviewpartner beteuern mögen, dass man über so gut wie keine Ausrüstung verfügt habe, stand dem polnischen Team in Wahrheit eine amerikanische 35 mm Akeley zur Verfügung, mit der die Tonaufnahmen der ehemaligen Häftlinge gemacht wurden („An American Akeley sound camera was used for recording.“ Struk 2004, S. 140). Die Akeley war eine in den 1930er und 40er Jahren verwendete, auf Wochenschaumaterial spezialisierte Tonkamera393 und wurde laut Kotov (1983, S. 271) auch bei den Nürnberger Prozessen verwendet (Abb. 5.3, 5.4).394 Handliche Reportage- und Tonkameras waren zu dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit. In der UdSSR wurden spezielle Kameras für Chronik-Aufnahmen entwickelt, wie etwa die Chronikon (im Moskauer Chronikstudio, dem späteren CSDF) und ab 1939 die KS-4 bzw. KS-5 (das „S“ steht für synchrone Aufnahme) im Leningrader Werk Lenkinap („in vieler Hinsicht Kopien der amerikanischen Kamera Eyemo der Firma ‚Bell& Howell‘“) – laut Michajlov und Fomin (2010, S. 103) wurden diese handlichen 35mmKameras von den sowjetischen Kameraleuten als Ajmo bezeichnet. In ihrer Geschichte der sowjetischen Filmtechnik schreiben V. Gordeev und O. Raev (2009, S. 10), dass es dieser Ajmo-Kameratyp (KS-4, KS-5 bzw. das Nachfolgemodell KS-50B) war, der überwiegend 1941–45 an der Front verwendet wurde – so etwa auch von Karmen, wie man auf Fotos sehen kann. Selten wird erwähnt, dass den Sowjets originale Eyemos und andere Kameras zur Verfügung standen. Im Rahmen der Lend-Lease („An Act to Promote the Defense of the United States“, 7. März 1941, Pub. L. 77-11, U.S. Law) schickten die USA Kriegsmaterial über Alaska in die UdSSR, darunter das Flugzeug Airacobra der Serie P-39, an dessen hinterem Rumpf Schmalfilmkameras (K-24 oder K-25) befestigt waren. Aleksandr Medvedkin (Leiter der 3. Belorussischen Front) ließ 1944 im CSDF über 60 solcher 16mm-Kameras zu handlichen Kino-MGs („sowjetisch-amerikanischer kinopulemet“) umbauen, bedient von „Kundschaftern und erfahrenen Soldaten“.395 U.u. wurden die Luftaufnahmen von Majdanek von einem dieser Aufklärungsflugzeuge, dem Analog der Ju 88 D (Junkers mit 393 Laut freundlicher Mitteilung von Jochen Hergersberg (Deutsche Kinemathek, Berlin, am 28.11.2019) handelt es sich bei Abb. 5.3 tatsächlich um eine Akeley Audio Camera („Rippen auf der Kameratür, markanter Verschluss“). 394 Hicks (2012, S. 263) erwähnt: „documents show that Karmen got the sound engineer Viktor Kotov to station himself with an Akilei [sic!] sound camera near the prosecution witnesses.“ 395  Laut Aleksandr Smirnov (Filmmuseum Moskau, „Istorija odnogo predmeta, 25.5.20“ https:// www.facebook.com/groups/45505797431/permalink/10158211444552432/). Vgl. auch Nikolaj Kačuk. Služili dva tovarišča, Belarus’ segodnja, 1.6.2017 https://www.sb.by/articles/sluzhili-dva-tovarishcha-kino-i-zhizn-new.html [5.1.20]

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Reihenbildkamera) geschossen. Der sowjetische Kameratyp KS eignete sich aufgrund des Kamerageräuschs wenig für die Synchronaufnahme.396 Umso wertvoller war in Lublin bzw. Majdanek der Zugang zu der Akeley.

Abb. 5.3 Roman Karmen und Adolf Forbert fi lmen in Majdanek mit der 35 mm Akeley Tonkamera (abgebildet in Jewsiewicki 1972)

Abb. 5.4 Zum Vergleich: Eine Akeley Sound Newsreel Camera, verwendet im Jahr 1945 auf Borneo. https://www.awm. gov.au/index.php/collection/ C201973

Wie kann man also diese in Struk 2004 dokumentierte logische Diskrepanz erklären? Ich möchte zweierlei zu bedenken geben: Erstens, dass die Erinnerungen der polnischen

396 In den 1930ern wurden in der UdSSR auch handliche Tonkameras entwickelt, die sich laut Gordeev und Raev auch an der Front bewähren sollten (KS-1 war die erste sowjetische Tonkamera, der das Modell KS-2 folgte, das ab 1936 in die Produktion ging). Die Entwicklung der Konvas-Zvuk (1941) im Werk Moskinap in Krasnogorsk bei Moskau, die Bild und Ton auf einem Streifen aufnehmen sollte, wurde jedoch durch den Überfall auf die Sowjetunion unterbrochen. 1946 wurde sie von Moskinap mit Hilfe der Leningrader Ingenieure auf der Basis des KS-31 gebaut. Dieser Apparat ging 1948 unter dem Namen Moskva in die Produktion (Gordeev und Raev 2000, S. 10–11). Ich danke Tat’jana Platonova (Polytechnisches Museum, Moskau) für ihre freundliche Hilfe bei der Rekonstruktion der Technikgeschichte sowjetischer Front- und Tonkameras. 253

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5 Produktion der Filme

Filmemacher, auf denen das bei Struk wiedergegebene und bereits verfestigte Narrativ fußt, nachträglich ihre Mitarbeit an einem sowjetischen Film, der in späteren Jahrzehnten und bis heute in Polen oft als Propaganda galt, herunterspielen. Details werden möglicherweise in der Erinnerung der Filmleute der politischen Situation der 1980er Jahre und dem antisowjetischen Klima in Polen angepasst.397 Die zweite Möglichkeit ist, dass das Ehepaar Ford – nach er Inspektion des Lagers – unabhängig von allen Vorgesetzten und der (sowjetischen) Zensur den Mord an den Juden dokumentieren wollte, ähnlich wie es mit Themen der jüdischen Zeitgeschichte in Palästina der 1930er Jahre und später bei der Produktion des Spielfilms Die Grenzstraße (1947) umgegangen ist. Wir wissen, dass zumindest das polnische Team Aufnahmen der Spuren des Genozids gemacht und dass in der Villa in der Boczna Lubomelskiej-Straße auch Tagesmuster entwickelt wurden. Der Keller der Villa des einstigen Nazi-Aggressors und von Himmler mit Tests für den kolonisatorischen Generalplan Ost beauftragten Globocnik, der auch die Juden von Lublin terrorisiert hatte (Musial 1999, S. 37 und 164ff.), war hierfür ideal. Struk (2004, S. 140) beschreibt zudem, dass beim Graben im von Globocnik benutzten Garten jüdische Grabsteine gefunden wurden; der Keller der Villa wäre in eine Dunkelkammer umfunktioniert worden und das Badezimmer in ein Tonstudio. Die ironische Appropriation der Räume der Villa und das Motiv der exhumierten jüdischen Geschichte Lublins in den späteren Erinnerungen der polnisch-jüdischen Filmemacher ist unübersehbar. Globocniks einträgliches Geschäft mit Zwangsarbeitern wie auch seine persönliche Habgier bilden offensichtlich den nicht explizit erwähnten Hintergrund für die sarkastischen Kommentare zu beiden Filmen, die mit der marxistischen Ideologie des Kommentars harmoniert – aufgrund des Fehlens von Namen und Porträts erscheint diese Waffe, die dem Medium Film zur Verfügung stand, jedoch im Vergleich zu Grossmans poetischer und doch konkreter Anklage merkwürdig stumpf. Als wäre das Interesse an der Verfolgung der Lubliner Kriegsverbrecher nicht von primärer Dringlichkeit gewesen. Liebman (2011, S. 208–9) knüpft an Struk an und vermerkt, dass Ford und Bossak in dem Gebäude in der Boczna Lubomelskiej-Straße eine Vorauswahl trafen und Bossak den polnischen Kommentar schrieb, der teilweise auch für die russische Fassung verwendet wurde. Inwieweit Karmen hieran beteiligt war, ist unklar. Man kann davon auszugehen, dass die meisten Kameraleute weiterziehen mussten. Štatlands Montageliste vom 27.8.1944 mit der Ankündigung „Dies ist die letzte Majdanek-Aufnahme“ (VS 1133; Fomin 2018, S. 557) bedeutet jedoch noch nicht, dass sie die Region verlassen. Aus den Lebensläufen in Aleksandr Derjabins bio-filmografischem Werk kann man schließen, dass die meisten Beteiligten zwischen der Befreiung Lublins und der Befreiung Warschaus bzw. bis Anfang 1945 vor Ort oder zumindest in Polen gewesen sein müssten (Karmen, Avenir Sof’in, Viktor Štatland in Derjabin 2016, S. 352, 803, 955–957) und manche von ihnen Ende November nach Lublin zurückkehrten, um das Gerichtsverfahren zu filmen. 397 Struk bezieht sich auf eine Aussage, die von Adolf Forbert am 22.10.1986 an das Staatliche Museum von Majdanek gesandt wurde (Struk 2004, S. 227). Forbert mag auch aufgrund der Emigration seines Bruders in den Westen bedrängt worden sein, sich hierzu zu äußern.

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

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5.2.4 Die ersten Montagelisten zum „Vernichtungskombinat Majdan“ In Majdan waren kapitale Gebäude errichtet worden. (Karmens Montageliste)398

Insbesondere westliche Forscher der letzten zehn Jahre verwundert es, dass es angesichts der oben beschriebenen Konstellation möglich ist, dass die vom Schicksal der Juden Europas berichtenden Majdanek-Filmaufnahmen nur begrenzte Chancen hatten, in die veröffentlichten Filme zu gelangen. Der Umstand, dass die im künstlerischen Sinne leitenden Köpfe und auch einige weitere Mitglieder des Film-Teams jüdischer Herkunft waren, stellte jedenfalls keine Garantie dafür dar, dass die Nachricht vom Mord an den Juden zur Verbreitung kam. In manchen Äußerungen sowjetischer bzw. kommunistischer Zeugen jüdischer Herkunft fällt auf, dass sie die rassistischen und genozidalen Motivationen der Errichter der KZs herunterspielen oder ignorieren, d. h. unter Umständen auch verdrängen.399 Roman Karmen – selbst jüdischer Herkunft – hat ein ausführliches, jedoch keine technischen Daten enthaltendes und undatiertes Protokoll („montažnyj list“) seiner Aufnahmen des „von den Deutschen in der Nähe von Lublin errichteten Konzentrationslagers“ verfasst. Seine Analyse des Lagers, das er „Majdan“ nannte, betont, dass es dadurch „bemerkenswert sei, dass es gesamteuropäische Bedeutung gehabt hätte.“400 Hieraus lässt sich erschließen, dass in Lublin nicht nur Polen umgekommen sind, sondern Menschen aus ganz Europa. Das Europa-Motiv erscheint in nahezu allen Medien: In Simonovs Texten, bei Ford und Bossak und auch in verschiedenen Montagelisten, so dass es schwierig ist, seine genaue Herkunft zu orten. Allerdings ist es die Publikation des Russen Simonov vom 10. August, die am klarsten die Beziehung zwischen Majdanek, Europa und den von dort deportierten Juden herstellt: „Ebenso groß ist die Zahl der von den Deutschen ausgerotteten (istreblennych) Juden, die aus ganz Europa, von Polen bis Holland, ins Lager gebracht wurden.“ (Abb. 5.5)401

398 Veröffentlicht auf Russisch in V. Michajlov/V. Fomin 2010, S. 846. 399 „The film […] did not tell a Jewish story, even though it was made almost exclusively by Polish and Soviet Jews.“ (Shneer 2010, S. 167). Wenn man „made“ als Herstellung des Films versteht, stimmt dies insofern nicht, da zwei führende sowjetische Kameraleute (Štatland und Sof’in) nicht jüdischer Herkunft waren, ebenso wenig die Cutterin Setkina. Shneer lässt außer Acht, dass Chronik-Filme zu einem weit geringeren Maße am Drehort „gemacht“ werden als autorisierte Reportage-Fotos, bei denen die Aufnahme selbst den entscheidenden Moment des Schaffens darstellt. 400 „Majdan – koncentracionnyj lager’ postroennyj nemcami bliz’ Lublina. Ėtot lager’ zamečatelen tem, čto on imel vseevropejskoe značenie. Dlja ubijstva sjuda svozili so vsej Evropy.“ VS 1008, Majdanek-Schnittprotokoll von R. Karmen, in V. Michajlov/V. Fomin 2010, S. 846. 401 „Столь же велико число истребленных немцами евреев, свезенных в лагерь буквально со всех стран Европы, начиная от Польши и кончая Голландией.“ (Krasnaja zvezda 10.8.1944, S. 3) 255

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5 Produktion der Filme

Abb. 5.5 VS 1008: Erste Seite der langen Montageliste von Karmen (aus Fomin 2018)

Es fällt auf, dass Karmen der einzige der russischsprachigen Kameraleute ist, der für das KL Lublin/Majdanek überwiegend den Begriff Majdan verwendet. Geboren im Gouvernement Cherson mag er mit dem tatarischen Wort majdan durchaus eine konkrete Bedeutung verbunden haben. Außerdem findet man in seiner späteren Montageliste 1051 die Form „na Majdaneke“ (statt v)402; „auf dem“ statt „in“ Majdanek, d. h. Majdan(ek) wird nicht als Toponym verstanden, sondern mit der Bedeutung „auf dem majdan/Platz“ 402 „Nemcy raskapyvajut bratskie mogily kaznennych na Majdaneke ljudej. Oni kak rukimagilšcikov kopajutsja v čelovečeskich kostjach.“ („Die Deutschen heben auf dem Majdanek die Massengräber der Hingerichteten aus. Sie sind wie Hände von Totengräbern, graben in Menschenknochen.“ Karmens Montageliste, Nr. VS 1051, unveröffentlicht).

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

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verwendet. Im Artikel für die amerikanische KP-Zeitung vom 14.8.1944 setzt er „Maidan“ in Anführungszeichen: I have never seen a more abominable sight than ‘Maidan’ near Lublin, Hitler’s notorious Vernichtungslager – extermination camp – where more than half a million European men, women, and children were massacred. Even now when SS guards no longer call to each other from the watchtowers and there are no more barking dogs, I cannot believe my own eyes walking through Maidan. (Daily Worker, 14.8.1944, S. 8)403

Im nächsten Satz wird Maidan zu einem Begriff, dann bereits ohne Anführungszeichen, jedoch beide Male in Großschreibung – die möglicherweise auf den amerikanischen Übersetzer bzw. Redakteur zurückzuführen ist. Auch wenn Karmen das als Ober-Majdan getarnte Treblinka nicht erwähnt, mag er diesen Kontext in seine Montageliste, die sich wie eine poetische Reportage liest, eingearbeitet haben. Seine Beschreibung von Majdan ist teils auch auf Ober-Majdan und die nicht erwähnte „Aktion Reinhardt“ anwendbar. Juden werden weder in Karmens Artikel noch in den Montagelisten erwähnt, auch nicht in der Form des üblichen sowjetischen Euphemismus der „friedlichen Bürger“ (Zivilpersonen), der sich jedoch auf Sowjetbürger bezogen hätte. Karmen verwendet in seiner Wahl des Begriffs der „freiheitsliebenden Menschen“ („svobodoljubivych ludej“) einen ähnlichen Begriff wie die für ihre Weltanschauung Verhafteten, die der ehemalige Häftling Tomasek erwähnte; „freiheitsliebend“ ist jedoch weniger ideologisch. Das Parteimitglied Karmen sah offensichtlich Bürger jüdischer Abstammung unter dem Begriff „Europäer“ am besten aufgehoben – mit der Unterlassung ihrer Erwähnung mag er darauf gezielt haben, seinem Bericht größere Objektivität und Wahrhaftigkeit zu verleihen. Karmen beschreibt den „Majdan“ zugleich als Kenner von Vergiftungs-Methoden, so etwa der dušegubka (wörtlich Seelentöterin): Der Gaswagen [dušegubka] erscheint vor dem Hintergrund dieses Lagers wie Mord in Heimarbeit. In Majdan wurden kapitale Gebäude errichtet, in denen die Vernichtung von Menschen auf dem Standard und mit dem Tempo von Fließbändern erzielt wurde.404

403 Es fällt auf, dass Karmens Opferzahlen schwanken: In der dem 14.8. vorhergehenden Montageliste VS 1008 ist von einer doppelt so hohen Opferzahl die Rede. 404 „Dušegubka na fone etogo lagerja – kustarnyj metod ubijstva. V Majdane byli postroeny kapital’nye zdanija, v kotorych uničtoženie ljudej bylo dovedeno do urovnja i tempov konvejernogo proizvodstva.“ Auch erwähnt er das „Furchtbare Detail, die Opfer Majdans, die zur Düngung deutscher Felder verwendet wurden“ („Strašnaja detal’: žertvy Majdana šli na udobrenie nemeckich polej“). (ibid.) Gaswagen wurden noch vor der farnichtung zur Ermordung von Patienten in psychiatrischen Anstalten oder Menschen mit Behinderung eingesetzt, und zwar im Deutschen Reich ebenso wie in den eroberten Gebieten in der UdSSR. Dušegub ist ein archaisches Wort für ‚Mörder‘. 257

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5 Produktion der Filme

Es steht aufgrund verschiedener Details (Menschen aus ganz Europa – Dänemark, Norwegen, Tschechoslowakei, Frankreich – werden „zur Ermordung auf den Majdan gekarrt“; Funktion der Gaskammer mit 50–100 Personen, Kompost aus Asche, der in Dosen nach Deutschland geschickt wird, „periodische“ Vernichtung der Krematorium-Sonderkommandos, sowjetische Kriegsgefangene) außer Zweifel, dass Karmen zum Zeitpunkt des Abfassens des undatierten Texts VS 1008 bereits über die Spezifik und Funktion der industriell betriebenen „Vernichtung von Menschen“ im „Todeslager in Majdan“ informiert war. Aber auch in Karmens Beschreibung der Vernichtung am Fließband, die mit der Metapher der „Todesfabrik“ arbeitet, findet sich keine Erwähnung, dass die systematische Vernichtung sich in erster Linie auf Juden bezog. Allerdings kann man das Wort „gesamt­ europäische Bedeutung“ zusammen mit dem Begriff „Vernichtung von Menschen“ im Titel der Montageliste als kodierten Verweis auf die jüdische Katastrophe interpretieren: „Aus ganz Europa wurden Leute hierher zur Vernichtung (dlja unitoženija) hergebracht (svozili).“ Da die Majdanek-Montagelisten von Karmens damaligem Vorgesetzten Štatland stärker von der Parteilinie gekennzeichnet sind, mag hier auch ein gewisser Druck ausgeübt worden sein. Davon kündet der letzte Absatz von Karmens Text; er enthält eine Erklärung, warum er im Lager soviel gefilmt habe: „Deshalb habe ich sehr gründlich, ohne Rohfilm zu sparen, alles aufgenommen, was die Spuren des deutschen Konzentrationslagers bewahrt hat, in dem Hitlers Henker mehr als eine Million freiheitsliebender Menschen umgebracht haben.“ (VS 1008, in Fomin 2018) Štatland sollte später unter Karmen an dem Film Sud narodov / Gericht der Völker arbeiten, gemeinsam mit dem Kameramann Boris Makaseev, S. Semenov und der Schnittmeisterin Elizaveta Svilova (1946).405 Ich werde noch auf die Beziehung der beiden Kameraleute eingehen, da sie eine Rolle in der negativen Charakteristik, die Karmen im Jahr 1945 von der Studioleitung erhielt, zu spielen scheint. Der einzige Kameramann, der in Michajlovs und Fomins Quellenpublikation aus dem Jahr 2010 im Abschnitt „Befreiung Europas“406 Juden als Opfer erwähnt, ist Vladimir Tomberg. Er schreibt über die erschossenen Gefangenen in Lublin, die „friedlichen Bürger“ (mirnye žiteli) von Lublin: „v. a. Polen – teils Juden“. Noch in seinen Erinnerungen V tylu i na fronte. Vospominanija frontovogo operatora, (Tomberg 2003, S. 222–224) wird er – die Ergebnisse der Kommission iterierend – von der „Vernichtung von 1,5 Millionen Polen, Russen, Franzosen, Juden“ sprechen.407 Der im fernöstlichen Vladivostok geborene Vladimir Ernestovič Tomberg (1912–2002) war als Frontreporter überdurchschnittlich

405 Hicks (2012, S. 288) erwähnt einen weiteren Film aus dem Jahr 1946 über die Nürnberger Prozesse, mit der gleichen Besetzung (Karmen, Makaseev, Semenov, Štatland und Svilova): Na processe glavnych voennych prestupnikov v Njuremberge / Auf dem Prozess der Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg. 406 Dieses Kapitel enthält einige von den Herausgebern ausgewählte Dokumente zu Majdanek. Unklar ist jedoch, inwieweit diese Auswahl erschöpfend bzw. repräsentativ ist. Valerij Fomin hat mir freundlicherweise weitere Montagelisten zu den Majdanekaufnahmen zur Verfügung gestellt, auf die ich noch eingehen werde. 407 Michajlov/Fomin 2010, S. 845.

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

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gut ausgebildet: Er hatte 1930 einen Fotokorrespondentenkurs am Moskauer Haus der Presse (heute: Haus der Journalisten auf dem Nikitskij bul’var) absolviert wie auch die Ausbildung zum Kameramann (1932–37) am VGIK mit Auszeichnung abgeschlossen; vor dem Krieg war er bei Mežrabpomfi l’m bzw. Sojuzdetfi l’m (er arbeitete mit V. Šnejderov)408 und nach 1945 in einem estnischen Studio tätig (Gorbatskij 2005, S. 201). Tomberg – selbst offensichtlich nicht slawischer Herkunft – zeigt am Schicksal der jüdischen Minderheiten ein ehrliches, unpolitisches Interesse, unter Umständen ist dies auch auf seine Filmarbeiten im Fernen Osten zurückzuführen, insb. im Jüdischen Autonomen Gebiet Birobodžan, wo er 1939 u. a. mit einem Kinok der ersten Stunde, Ivan Beljakov (1897–1967), und Avenir Sof’in dreht, dem er in Lublin wieder begegnen wird (Abb. 5.6).409

Abb. 5.6 Vladimir Tomberg (Bild aus Fomin 2018, S. 156)

Fomin (2018, S. 156) vermerkt in dem Abschnitt „Zabytyj polk“ („Das vergessene Regiment“) zu dem „russischen Kameramann Tomberg, er habe in Chelm-Lublin“ und Berlin gefi lmt. Er erhielt zwar dreimal den Stalinpreis (1946, 1947, 1951), jedoch nicht für seine im befreiten Polen aufgenommenen Filme. In die Partei ist Tomberg übrigens erst nach dem Krieg, im Jahr 1950, eingetreten, und war 1944 wohl kaum mit der sich ständig aktualisierenden Parteilinie in Bezug auf nationale Minderheiten, insb. die jüdische, vertraut.410 In seinen Memoiren schreibt er, das Lubliner Schloss sei nichts im Vergleich zu Majdanek,

408 Er war laut Fomin (2018, S. 156 von „Zabytyj polk“) Kamera-Assistent in den Filmen Džul’bars (R: V. Šnejderov, 1936) und Detstvo Gor’kogo / Gor’kijs Kindheit (R: Mark Donskoj, 1938). 409 Es handelt sich um die Titel Vid ulic novogo goroda Birobidžana / Die neuen Straßen der Stadt Birobidžan und Ulicy, novostrojki Birobidžana / Birobidžans Straßen, Neubauten in den Ausgaben des Sojuzkinožurnal Nr. 42 und 48 aus dem Jahr 1939 (Mislavskij 2013, S. 170). 410 Der uns später noch begegnende L. Saakov bescheinigte Tomberg die „eigenständige Denkweise eines Autors.“ (RGALI, f. 2944, оp. 28, d. 1465, l. 50. Fomin 2018, S. 156). 259

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5 Produktion der Filme

über das er in der Politabteilung (Politupravlenie) der Armee erfahren habe. Dort habe er auch Aufnahmen gemacht (die jedoch nicht erhalten bzw. bekannt sind).411 Wir haben in den vorhergehenden Kapiteln dargelegt, dass die Strategie in Bezug auf die erste sowjetische Repräsentation eines befreiten KZs nicht von einem proaktiven Antisemitismus geprägt war. Allerdings gilt das nicht notwendigerweise für Roman Karmen selbst, der aufgrund seiner Auslandsreisen und seines Freundeskreises durchaus Gefahr lief, dem gleichen Schicksal anheimzufallen wie sein Kollege Kol’cov. Wir wissen aus Aleksandr Karmens Biografie seines Vaters, dass während des Kriegs unter einigen seiner Artikel und Reportagen in der Zeitung Izvestija sein Nachname ausgetauscht wurde – offensichtlich eine fragwürdige (Selbstschutz)Maßnahme der Redaktion. Aus R. Karmen wurde R. Karpov.412 Roman Karmen, der zu dieser Zeit an der Front war, machte sich aufgrund dieser Russifizierung seines Nachnamens Sorgen und versuchte vergeblich mit Simonovs Hilfe herauszufinden, wer hinter dieser Intrige oder, wie Karmens Sohn Aleksandr es nennt, „Blockade“ steckte. Eine ähnliche Situation sollte sich zur Zeit der Kosmopolitenhetze wiederholen, als jüdischen Filmemachern wie Vertov am 15.3.1949 im CSDF („prorabotka na studi“)413 das Leben schwergemacht wurde, leider auch durch ihre Kollegen. Auch wenn oft widerholt worden ist, wie Karmen gegen Vertov eingespannt wurde (MacKay 2012, S. 291), weichen manche Erinnerungen an den schwärzesten Tag in der Geschichte des sowjetischen Dokumentarfilms in einigen Punkten von dieser Version ab – so zweifelt etwa S. Pumpjanskaja (2003, S. 74–75) an der Vollständigkeit des Protokolls, in dem etwa die Hetzrede des stellvertretenden Filmministers V. Ščerbina nicht festgehalten wurde. Pumpjanskaja beleuchtet auch die persönliche Beziehung zwischen Karmen, Vertov und

411 „Die abscheulichen Verbrechen der Hitleristen im Lubliner Schloss sind jedoch nur ein Tropfen im Vergleich zum Konzentrationslager Majdanek am Stadtrand des gleichen Lublin. Ich erfuhr von diesem Todeslager in der Politabteilung der Armee und ging sofort los, um es zu filmen. In Majdanek töteten die Nazis 1,5 Millionen Polen, Russen, Franzosen und Juden. Hunderte von Kolonnen von Menschen jeden Alters wurden hierhergebracht, bis hin zu älteren Menschen und Säuglingen.“ (Tomberg 2003, S. 222–224) In Fomin 2018 finden sich keine Montagelisten zu Tombergs Majdanek-Dreh. 412 „Во время войны Роман Кармен работал не только кинооператором, но и журналистом, передавал с передовой очерки и репортажи в Известия и другие газеты. Однако с некоторых пор его материалы в Известиях стали выходить со странной подписью – Р. Карпов. Что-то заваривалось в Москве за его спиной. Это вызывало у него тревогу: в те годы никто не знал, где и когда может рвануть подложенная под тебя бомба. Отец сильно переживал, написал письмо своему другу – Константину Симонову, уже известному в те годы писателю и поэту, корреспонденту Красной звезды. Но даже всемогущий Симонов не смог докопаться до корней этой темной истории.“ (Aleksandr Karmen, 29.11.2006 Izvestija, https://iz.ru/news/319448) [21.12.2016] 413 Vgl. seine Aussagen im Film Roman Karmen (2006; 18–25. Minute), wo es heißt, Roman Karmen hätte seine Frau Nina (geb. Orlova) gebeten, beim gemeinsamen Freund Konstantin Simonov nachzufragen, wer das -men nach dem Kar durch ein -pov ersetzt hatte. Sein Sohn Aleksandr meinte, nur Karmens „Schreiben, höllische journalistische tagtäglich erledigte Arbeit“ („Soveršenno adskij, ežednevnyj trud, pisat’, pisat’ i pisat’“) hätte ihn gerettet.

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

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Svilova. Karmen reute sein Auftritt im Nachhinein und er sprach Svilova als erster sein Beileid aus, als Vertov einige Jahre später starb – dies war allerdings bereits nach Stalin Tod. Karmen versuchte ähnlichen Intrigen durch Abwesenheit zu entgehen, etwa mit Hilfe von Dreharbeiten in China 1937 und 1941. Später drehte er einen Film am kaspischen Meer. Dass Karmen im März 1949 als erster ‚gegen‘ Vertov auftreten musste, zeigt, dass der Druck auf ihn selbst beträchtlich war und er Vertov kaum freiwillig für sein „formalistisches Ästhetentum, seine kleinbürgerliche Tendenz“ rügte.

5.2.5 Widersprüchliche Überlieferungen zum Aufnahmebeginn und den Teams Die fehlende Datierung der ersten Montageliste deutet bereits darauf hin, dass die Aufnahmen selbst der Geheimhaltung unterlagen. Im Dunkeln liegt daher bis heute der genaue Drehbeginn im Lager. Folgt man den Erinnerungen des polnischen Kameramanns Stanisław Wohl, war die Filmspeerspitze früh vor Ort. Er erinnert sich, dass er am 21.7.1944 in der befreiten Stadt Chełm seine Frau und seinen zweijährigen Sohn nach langer Zeit wiedergesehen habe. Dort spielte Halina Billing-Wohl auf der Bühne des Polnischen Armeetheaters (Teatr Wojska Polskiego) in Alexander Fredros Śluby panieńskie / Mädchenschwüre (1833) die Rolle der Klara. Chełm liegt 65 km östlich von Lublin. Dies zeugt davon, dass die Filmspeerspitze aus dem Süd-Osten über Piaski nach Lublin kam und daher tatsächlich das Lager quasi auf dem Weg dorthin vorfand (Jewsiewicki 1972, S. 174–175). Wohl beschreibt sein Eintreffen in Majdanek am 22.7.1944, auf dem Weg von Kiwerce nach Lublin, im Kontrast zum sich in Feierstimmung befindlichen Chełm als völlig andere Welt: […] wir machten uns auf in Richtung Lublin, direkt der Front folgend. Wir bewegten uns langsam, in Staubwolken und dem Gestank der Leichen. Die Front führte uns zu den Toren des Lagers Majdanek, das sich östlich von Lublin befindet. Wir erreichten es buchstäblich innerhalb von Minuten nach der Flucht der Deutschen. In den Krematoriumsöfen waren nicht gänzlich verbrannte Leichen, auf dem Boden krochen erschöpfte „Muselmänner“ (muzułmanie), die Gefangenen wollten uns begrüßen, aber sie hatten nicht die Kraft, um die Hand zu heben und zu rufen. Der Schock, den wir in Majdanek erlebten, war zu groß, um beschrieben zu werden. Es war die Pflicht der Chronisten und Augenzeugen, die uns dazu anhielt, alles aufzuzeichnen, was unsere Augen erblickten. Es war das erste aufgenommene Zeugnis der Hitlerlager in Polen.414

414 Stanisław Wohl 1969, S. 8. Er erwähnt bezeichnenderweise in dem Titel seines Artikels „In Chełm und Lublin. Über die historischen Tage des Juli 1944“ von 1969 in der polnischen Zeitschrift Film das Wort Majdanek nicht. 261

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5 Produktion der Filme

Wohl schreibt nicht, wer mit „wir“ gemeint ist – nur seine polnischen Kollegen (die Forberts, Fords, Bossak usw.)?415 Die von Wohl beschriebenen Szenen in den Krankenbaracken wurden entweder nicht aufgenommen oder aber sind der Zensur zum Opfer gefallen (vgl. eine Fotografie aus dem Zeitraum Abb. 5.7).

Abb. 5.7

Fotograf: V. Temin (?). „Lagerhäftlinge nach ihrer Befreiung am 22.7.1944“. (Laut Fotoarchiv Yad Vashem 933/8/27); http://www.yadvashem.org/yv/ru/holocaust/ about/chapter_5/images/death_camps/05.jpg

Auch Roman Karmens Aussagen zu Lublin/Majdanek sind nicht eindeutig, und in manchen Darstellungen erwähnt er diesen Dreh nur kurz oder gar nicht (Karmen 1969). Die genaueste Beschreibung findet sich in der Biografie von N. Kolesnikova, G. Senčakova und T. Slepneva (1959, S. 91–92), die offensichtlich auf Karmens Erinnerungen beruht: Der Kameramann machte im befreiten Lublin Halt, um die Stadt aufzunehmen. Auf der Straße nach Lublin bemerkte er auf der linken Seite Stacheldraht, Baracken: was ist das?

415 „Im Sommer 1944 kamen Ludmila Nekrasova-Perska, Oleg Samucewicz und Evgenij Efimov hinzu.“ (M. Białous 2015, S. 103)

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

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Aus schwarzen unheilverkündenden Kaminen kam noch stinkender Rauch. Im tiefen Graben sah man Menschenskelette. Die Asche in den ungeheuren Öfen war noch warm. Hinter dem Stacheldraht lungerten Gruppen von zerlumpten Menschen herum. Einer von ihnen sprach Russisch. Er erzählte Karmen über die Tragödie von Majdanek. Hier nahm Karmen die furchtbare Geschichte des faschistischen Vernichtungslagers auf. Am gleichen Tag schickte er einen Bericht an das Sovinformbüro, über das, was er gesehen hatte. Sein Bericht wurde von Zeitungen vieler Länder gedruckt. Journalisten aus Moskau flogen nach Lublin, Kameraleute wurden dorthin abkommandiert. Sie vollendeten die Aufnahmen, und Karmen eilte seiner Truppe hinterher, weiter, in den Westen. (Kolesnikova, Senčakova, Slepneva 1959, S. 91–92)

Die Chronologie in dieser Beschreibung ist widersprüchlich: Wenn Karmen sich an die noch warme Asche und die rauchenden Schlote erinnert, die er nach dem überstürzten Abzug der SS in den Krematorien vorfand, und dies mit seinem Artikel hierzu in Verbindung bringt, der im Ausland gedruckt wurde, liegen zwischen diesen Ereignissen über zwei Wochen, denn die Nachricht von Majdanek wurde erst ab dem 10.8.1944 publik gemacht. Aufschlussreich ist zudem seine Freiheit, sich von seiner Einheit zu entfernen und die Abfolge: Entdeckung – Karmens spontane Aufnahmen des Lagers (und eines russischen Kriegsgefangenen) – Meldung an Sovinformbüro – Sovinformbüro schickt Reporter – Karmen verlässt Majdanek. Es fehlt, dass er noch einmal zurückkehren wird, um zusätzliche Aufnahmen („dos’’emki“) zu machen. Hier fällt zudem auf, dass von dem bereits „befreiten Lublin“ die Rede ist: Karmen kam aus der gleichen Richtung wie die polnischen Kollegen, jedoch – wenn wir St. Wohl Glauben schenken – einige Tage später, denn Lublin war am 22.7. noch von den Deutschen besetzt, bzw. teils in der Hand der polnischen Heimatarmee. Wenn es also in der sowjetischen biographischen Darstellung Roman Karmen von 1959 heißt, Karmen hätte – durch Zufall – Majdanek entdeckt, das Sovinformbüro informiert und dann mit seiner Truppe weiterziehen müssen, hat dies offensichtlich zu dem Disput geführt, ob einer sowjetischen oder einer polnischen Kamera das Primat gebühre, wie dies Hicks (2012, S. 251 zu Ozimek, R. Raack und S. Drobašenko) erwähnt. Allerdings wird in dem Text, auf den Hicks sich bezieht, von Karmens Biografinnen 1959 nicht behauptet, er wäre der erste vor Ort gewesen. Hicks (2012, S. 157, 251), dem auch aufgefallen ist, dass andere Berichte darauf hinweisen, dass die polnischen Kollegen vor Karmen gefilmt haben, schreibt: Ozimek sees this testimony as resolving a dispute between Richard Raack and Sergei Drobashenko as to whether the Polish or Soviet filmmakers arrived at the camp first. According to a biography of him, Karmen arrived in Majdanek by accident soon after the liberation of Lublin, while the ash was still warm in the crematoria. (Hicks 2012, S. 251)

Hicks erwähnt weitere konkurrierende Chronologien nicht nur der Kameraleute, sondern auch Simonovs, der später in seinem Kriegstagebuch von ‚eine Woche nach der Befreiung‘ spricht (Abb. 5.8). 263

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5 Produktion der Filme

Abb. 5.8 Simonov und seine dritte Frau Valentina Serova, der er sein Gedicht „Ždi menja!“ / „Wart auf mich!“ (1941) gewidmet hatte. Hier: Die Schauspielerin während ihrer Konzertreise an der Front. Fotograf unbekannt

Abb. Simonov und seine dritte Frau Valent Ein ähnliches Muster findet sich in der5.8. fehlenden Übereinstimmung in Zeitungsartikeln aus der Kriegszeit (August 1944) und den späteren Erinnerungen des Dichters Simonov, menja!“ / „Wart auf mich!“ (1941) gewidmet hat der einmal von der unmittelbaren Anwesenheit bei der Befreiung spricht, dann von einem Konzertreise an dernach Front. unbeka Spezialflugzeug, in dem er mitihrer Gorbatov, Kriger und Dolmatovskij LublinFotograf geflogen wurde, d. h. der Ankunft in Polen eine Woche nach der Entdeckung, frühestens etwa am 30. oder 31. Juli 1944. Offensichtlich handelt es sich bei dem Motiv der „unmittelbaren“ Anwesenheit und den heißen Spuren um einen rednerischen der authenEin lediglich ähnliches Muster Topos, findet sich in der tische Zeugenschaft signifiziert.

Zeitungsartikeln aus der Kriegszeit (August 1944 Ich verfolgte noch nicht erkaltete Spuren, erfuhr in Gesprächen mit Dichters Simonov, derüberlebenden einmalehemaligen von der unmittelb Häft lingen und den gefangenen Wächtern die schrecklichen Einzelheiten des Lageralltags und schrieb gewissenhaft wie spricht, ein Protokollant alles auf,von was icheinem hörte und erblickte, so daß dann Spezialflugzeug, in mir abends die Hand nicht mehr gehorchte. nach Lublin geflogen Ich habe mit eigenen Augen Dolmatovskij die Gaskammern gesehen, die Öfen des Krematoriums, die wurde, d.h Überreste nicht ganz verbrannter Leichen, einen Schuppen voll Schuhwerk der Getöteten, nach Entdeckung, frühestens etwa am 30. die Galgen, die Dosen, in denen der Giftder stoff „Zyklon“ enthalten war, die Schreibstuben, die mit den Ausweisen der in den Öfen verbrannten Menschen vollgestopft waren. Ich arbeitete handeltgewöhnte es sich Motiv der zwanzig Stunden täglich, und allmählich ich michbei daran,dem nach einer Woche war ich „unmittelb abgestumpft, aber am ersten Tag glaubte ich wahnsinnig zu werden. Wie gesagt, über Majdanek Spuren lediglich um einen rednerischen Top ist schon viel geschrieben worden, so daß ich weder andere noch mich selbst zitieren möchte. Meine Artikelserie „Ein Vernichtungslager“ war eine lange und ausführliche Darlegung alles signifiziert. Gesehenen und erschien an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen.

Ich verfolgte noch nicht erkaltete S überlebenden ehemaligen Häftlingen u

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

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Ich will nicht wiederholen, was heute allgemein bekannt ist. Nur einige Seiten meines Notizblocks, ursprüngliche Aufzeichnungen, führe ich an, damit mir der Leser nachfühlen kann, daß man bei einer ersten Konfrontation mit so massiven Tatsachen wirklich den Verstand verlieren kann. Mein Bleistift glitt übers Papier, während sich mein Kopf noch sträubte, zu glauben, was ich schrieb. (Simonow 1979, Kap. 20)

Da Šnejderov in seiner Montageliste „Todeslager in Majdanek (bei Lublin)“ (VS 1052) von Luftaufnahmen vom Flugzeug („Kreisen über den Krematoriumsöfen“) аm 13.8.1944 spricht, ist nicht ausgeschlossen, dass die Schriftsteller gemeinsam nach getaner Arbeit (ihre Artikel begannen ab dem 10.8.1944 zu erscheinen) mit Šnejderov am 13. oder 14.8. wieder abflogen. Ich möchte außerdem die – vom Autor bearbeitete – in Ost-Berlin 1979 erschienenen deutsche Ausgabe zitieren, in der Simonov schreibt: Den nächsten Tag brach ich zur 1. Belorussischen Front auf, und am dritten Tag nach der Einnahme von Lublin kam ich an. Ich fuhr zu den Truppen der 69. Armee des Generals Kolpaktschi, die südlich von Warschau zur Wisla vorstieß und eines der ersten Operationsgebiete am Westufer des Flusses bezog. Ich hielt mich nicht lange auf, zwei oder drei Tage. Dann hatte ich jenseits der Wisla genügend Material gesammelt und kehrte damit nach Lublin zurück, um einen Bericht zu schreiben. Sobald er fertig war, wollte ich ihn nach Moskau weiterleiten und danach wieder an die Wisla fahren. Es kam jedoch anders. Als ich mit einigen Korrespondenten zusammen beim Kommandanten war, hörte ich, wenige Kilometer von der Stadt entfernt befä nde sich ein geheimes Todeslager, und die ersten Informationen von dort seien nahezu unglaublich. Ich möchte bei dieser Gelegenheit etwas richtigstellen. In einem meiner Nachkriegsbüchlein schrieb ich, daß ich einen Tag nach der Befreiung Lublins in diesem Lager gewesen wäre. Tatsächlich war es aber einen Tag nach meiner Rückkehr aus dem Operationsraum der 69. Armee. (Simonow 1979, Kap. 20)

Leider führte Herr Simonov auch bei dieser Korrektur seiner in den 1940ern verunklarten Angaben kein Datum an – so dass die Daten weiterhin relativ bleiben. Glauben wir seiner Darstellung, würde dies bedeuten, dass er etwa am 29.7.1944 in das „geheime Todeslager“ kam, wobei man anmerken muss, dass – anders als etwa das Vernichtungslager Treblinka/ Ober-Majdan – das KL Lublin/Majdanek während der deutschen Besatzung nicht zu den geheimen Lagern gehörte, sondern den Lublinern – und nicht nur diesen – wohl bekannt war. Das Wort „geheim“ mag sich daher auf die sowjetisch verordnete Geheimhaltung des Entdeckten beziehen. Simonov erwähnt übrigens weder den Namen Treblinka noch Ober-Majdan bzw. die Beziehung dieser Orte zu Lublin/Majdanek in der Edition seiner Kriegstagebücher mit einem Wort – auch wenn der Name des Konkurrenten V. Grossman, dessen Text Simonov kürzen soll, einige Male zur Sprache kommt. Da Simonov in seinem Tagebuch ein Treffen mit Karmen in der zweiten Maihälfte 1944 in Belz (Belzy in Bessarabien; Moldau-Republik) erwähnt, kann man davon ausgehen, dass die beiden Freunde von da an in Kontakt waren: Ein wenig später als Polewoi traf ich bei Belzy auch Roman Karmen, der bereits in Spanien und China Frontkorrespondent gewesen war. Die Ruhe vertrug sich schlecht mit seinem

265

266

5 Produktion der Filme

rastlosen Charakter. Er fluchte viel, wäre am liebsten irgendwoanders hingefahren. Was ihn hielt, war seine Stellung als Chef einer Arbeitsgruppe des Frontkinos. (Simonow 1979, Kap. 19)

Unter Umständen haben sie sogar in Lublin zusammengearbeitet – Grund für diese Vermutung ist die Übereinstimmung der Motive und der zum Teil identischen Begrifflichkeit bei der Beschreibung des Lagers. Und doch besteht ein Unterschied zwischen Simonov und Karmen – während Simonov das Wort Vernichtungslager ins Russische übersetzt, scheint Karmen auf der Nicht-Übersetzung des deutschen Worts bestanden zu haben. Karmen gelingt es sogar, das Wort „Vernichtungslager“ in den deutschsprachigen Titel des Artikels in der amerikanischen Zeitschrift Time am 21. August 1944, in dem er ausführlich zitiert wurde, einzubringen. Da das Wort ‚Vernichtung‘ in den Ohren der Sprecher des Jiddischen eine besondere Bedeutung hatte, verstand die jiddischsprachige Welt auch ohne weitere Erklärungen, wer hier „vernichtet“ wurde. Von allen Einstellungen, die in beiden Filmversionen verwendet wurden, scheint nur die schwelende Asche inhaltlich von Ende Juli zu stammen, aber auch diese Aufnahmen können aus einer späteren Zeit, also inszeniert sein. Die oft als recycelte „Ikonen“ der Befreiung (vgl. hierzu Zelizer 1998) verstandenen Einstellungen der hinter dem – als „mit Hochspannung geladen“ beschriebenen – Stacheldrahtzaun stehenden Häftlinge wiederum stellen ein Paradox dar, denn es kann sich nicht um eine authentische Szene der Befreiung handeln, da die Menschen im Film am durch die SS mit Strom gesicherten Zaun lehnen. Abgesehen davon, dass keine Anzeichen von Befreiungsfreude in Mimik und Gestik zu sehen sind, kann man davon ausgehen, dass diese Männer – und es sind nur männliche Personen – weiterhin in Haft sind, lediglich der Strom wurde abgestellt. Das Lager Lublin/ Majdanek existiert weiter. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass Karmen tatsächlich nach Majdanek kam, einige Aufnahmen machte, dann jedoch weiterzog, andere Aufnahmen im Rahmen von Bagration machte (am Fluss Narew) und später – u. U. zur Ankunftszeit seines Freundes Simonov – ins Lager zurückkehrte und das Gros seiner Aufnahmen erledigte. Dies würde auch erklären, warum keine Datierung für seine erste Montageliste vorliegt – u. U. wurden die frühen Aufnahmen ohne Absprache mit seinem Studio-Vorgesetzten gemacht. Karmen erwähnt seine Ankunft in Lublin/Majdanek zwar, aber beschreibt sie nicht mit der gleichen Genauigkeit wie etwa St. Wohl, der das konkrete Datum des 22.7.1944 erwähnt. Was Karmen angeht, dürfen wir aufgrund des nicht offengelegten Hergangs der Aufnahmen davon ausgehen, dass die Öffnung des Lagers selbst Geheimhaltungsregeln unterlag. Dies ist angesichts der SMERŠ-Aktivitäten auf einem der Felder des Lagers selbst nicht weiter verwunderlich. Piotr Kołakowski schreibt über die Aktivitäten des Geheimdiensts in Polen ab Juli 1944: „Der sowjetische Sicherheitsapparat agierte im Gegensatz zu den deutschen Sicherheitskräften still und hinterlistig, ähnlich auch die ‚Smerš‘, deren Operationen als geheim eingestuft waren.“416 416 Kołakowski (2003, S. 206–207) weist zudem darauf hin, dass die UdSSR in manchen polnischen Landkreisen im Vergleich zur Gestapo das Hundertfache an Mitarbeitern (und ihren

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

267

Aus den Motiven, die in beiden Filmversionen zu finden sind, ist ohne Zweifel ersichtlich, dass die Filmaufnahmen sich über Wochen hinzogen. Auch die Montagelisten der sowjetischen Kameraleute dokumentieren dies: die datierten Montagelisten für das Lager tragen die Daten des 27.7.1944 (VS 978; Solov’ev), 13. August (Šnejderovs Luftaufnahmen; VS 1052) – beide nicht kreditiert – und des 27. August (Štatland, VS 1133) bzw. 28. August 1944 (Sof’in, VS 1132). Nicht datiert sind zwei Montagelisten von Karmen (VS 1008 und 1050) und Štatland (VS 907 in der Stadt Lublin und VS 1020, 1021) bzw. eine von Sof’in (Nr. 1104: mit Exhumierungen, Schuhbergen, Sitzung der Kommission mit Befragungen von Zeugen und Tätern [innen] und der Ankündigung von Fotos und Namen der Mitglieder der Kommission, die nicht eingelöst wurde – zumindest nicht in einer Montageliste dokumentiert); ich halte es durchaus für möglich, dass die Datumseinträge in einem mir nicht nachvollziehbaren Zensurschritt getilgt wurden, da auf allen mir zugänglichen Montagelisten, die laut V. Fomin von V. Michajlov vor der Vernichtung in der Papierverwertung gerettet wurden, auch die Unterschriften der Frontkameraleute fehlen. Den Nummern zufolge dürften die Aufnahmen von V. Solov’ev (VS 978) gemeinsam mit Komarov (VS 1005) und dem Dreh von Karmen die ersten sowjetischen Lagerdokumentationen sein, wobei Karmens Nr. 1008 inhaltlich einen längeren Drehverlauf wiedergibt und zudem nicht die erste Montageliste zu sein scheint, die Karmen in Lublin/Majdanek verfasst hat. Aufschlussreich ist die Vermutung von Łukasz Myszala vom Museum in Majdanek, dass Karmen vor der 1. Belorussischen Front eingetroffen sein könnte: We do not have any documents concerning the arrival of the filming groups at Majdanek camp, however Ford’s film group was accompanying Polish forces, and Karmen’s group probably arrived earlier (Łukasz Myszala, 24.9.2018)

Ich komme auf die Datierung der Ankunft der Polen noch einmal zurück. Eine frühe Drehphase könnte Tombergs Montageliste vom 24.7.1944 darstellen, die in Fomins Edition jedoch keine Nummer trägt; Tomberg, der in Lublin gefilmt hat, kommt auch nicht im Vorspann der Filme vor. Alle früher datierten Aufnahmen finden nicht im Lager, sondern in der Stadt statt, so etwa vom 24.–27.8.1944 in Lublin (z. B. Tombergs Aufnahmen oder Nr. 977 von Arons, Nr. 978 von Solov’ev mit einem letzten Punkt, der Majdanek betrifft) und am 6.8.1944 der Trauerfeier, die in der Forschungsliteratur meist als katholische Messe für die in Lublin Ermordeten bezeichnet wird (Hicks 2012, S. 168; Maischein s. o.). Der sowjetische Kameramann Komarov vermerkt an diesem Tag, dass die „weltliche Trauerfeier“ in der Stadt Lublin beide Opfergruppen beträfe, die im „Konclager’ Majdanek (Lublin) und im Schloss Umgekommenen“: „панихида в гор. Люблине по погибшим в концлагере Майданек (Люблин) и в замке 6.8.44 г.“ (Montageliste VS 1005, Komarov 6.8.44; in Fomin 2018, S. 417).

V-Leuten) einsetzte, d. h. „1000–1500“ Sowjets im Vergleich zu „zehn bis zwanzig“ deutschen Geheimdienstlern. 267

268

5.2.6

5 Produktion der Filme

Die Montagelisten von Lublin/Majdanek als Primärquelle und heuristisches Mittel

Viele der erhaltenen sowjetischen Montagelisten aus der Zeit ab 1942 hatten einen reportagetauglichen Titel, wie etwa „Komzavod Marusja Martynenko“ (S. Stojanovskij VS 902, 28.8.1942), „Artek“ (Berliner, Pojčenko VS 599, 1942), „Podvig“/„Heldentat“ (VS 947, Kozakov, Kacman, 18.9.1942), „Kljatva Kazakov“ / „Schwur der Kosaken“ (VS 948, Levitan, Arons, 1942), „Plennye“ / „Kriegsgefangene“ (VS 990, Sof’in, 28.9.1942) oder der vierseitige Text „Nastuplenie na Berlin“ / „Marsch auf Berlin“ (VS 754, Karmen, 1945). Es gibt auch deskriptive Titel wie „Material für …“. Manche sind maschinengeschrieben, andere handschriftlich, eher selten handelt es sich um ausgefüllte Vordrucke, auf einigen frühen Listen steht „Geheim“ („Sekretno“). Die Funktion der Montagelisten liegt in der Kontrolle des Rohfilmverbrauchs. Als verbale Form der Filmbilder sind sie als Verschriftlichung des Aufgenommenen Grundlage für Prozeduren der Filmzensur, wie sie in der Stalinzeit im Filmwesen Standard war. Im Fall der Majdanek-Montagelisten gibt es verschiedene Typen, die Spanne reicht von kurzen bis seitenlangen, von technischen zu literarischen Texten. Zudem fällt auf, dass die Überschriften sich stark ähneln, wie man anhand der Tabelle nachprüfen kann: „Todeslager. Alleuropäisches Kombinat der Vernichtung von Menschen in Majdan“ (Karmen, VS 1008), „Todeslager in Majdan“ (Štatland, Ass. Komarov VS 1020, 1021) und „Todeslager in Majdanek (bei Lublin)“ (Šnejderov VS 1052). Dies weist auf den Versuch einer Sprachregelung hin, die jedoch nicht gänzlich umgesetzt wurde. Manche weisen eine nummerierte Liste der Einstellungen auf, andere bestehen aus Fließtext. Alle sind mit Nummern versehen, und der Abkürzung VS.417 Die ansteigenden, non-konsekutiven Nummern entsprechen einem zentralen Ordnungsprinzip, das sich alljährlich wiederholt (vom Januar stammen die je niedrigen Nummern); möglicherweise bezogen sie sich auf die Ausgabe von Rohfilmmaterial (ein Filmbehälter mit mindestens einer Filmrolle?) an jeden einzelnen Kameramann, der mit der Rücksendung der Filmdose mit dem darin enthaltenen Protokoll auch Rechenschaft ablegte, wofür er das Rohfilmmaterial verwendet hatte. Die doppelten Nummern auf einer (gemeinsamen) Montageliste zeugen davon, dass dieser verbale Begleittext von zwei Kameraleuten zusammen angefertigt wurde, wie etwa VS 1020, 1021 für Štatland und seinen Assistenten Komarov, der sich offensichtlich 417 VS ist gewöhnlich die Abkürzung für Vooružennye sily (Armee) oder Voennyj sovet (Militärrat), beides im Kyrillischen: ВС. Hier bezieht es sich jedoch auf die Militärabteilung des Filmstudios. Die Beschreibung der Montagelisten im Findbuch enthält nämlich die Zeile: „Originaly voennogo otdela studii.“ („Originale der militärischen Abteilung des Studios.“ Opis’ 2, Nr. d. II, g. 1942, Nr. svjazki 2: Montažnye listy operatorov; DVD zu Fomin 2018). Laut Tat’jana Platonova war die Montageliste auch Grundlage der Entlohnung des Kameramanns (mündliche Mitteilung 27.2.2019, Belye Stolby). Laurent (2000, S. 123) erwähnt Prämien von 1000 bis 10000 Rubel für besonders geschätzte Filmarbeiter, die sich der Filmchronik zur Verfügung stellen (dies betrifft die Reorganisation im Mai 1944). Der Durchschnittslohn eines Arbeiters in der Schwerindustrie lag in diesem Jahr bei 700 Rubel.

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

269

auf verschiedene Ausgaben von Rohfilm bezog. Allerdings fehlen die VS-Nummern auf den frühen Montagelisten von 1942 (sie beginnen mit der VS-Nr. 902 am 28.8.1941 – vgl. die DVD in Fomin 2018) – unter Umständen wurde das Ordnungsprinzip auch später oder nachträglich eingeführt, also nicht an der Front, da manche der Montagelisten offensichtlich im Studio noch einmal auf einer Schreibmaschine abgetippt wurden. Ich habe zu Beginn erwähnt, dass eine der erhaltenen Majdanek-Montagelisten die Information enthält, dass bereits während der Aufnahmen vor Ort zwei Versionen geplant waren, eine „sowjetische“ („sojuznaja“) und eine für den „Export“; hier wird auch erwähnt, dass „einige der Einstellungen, die Karmen dreht, doppelt aufgenommen werden (dublirovany s Karmenom)“ (VS 1020, 1021) – d. h. durch Kameraleute Komarov und Štatland, den Autor dieses Aufnahmeprotokolls: Die Aufnahmen wurden für auf eine Spezialausgabe aufgenommen. Einige der Einstellungen, die Karmen dreht, werden doppelt aufgenommen werden, im Hinblick auf eine sowjetische Version, und eine für den Export. 1. Das von den Deutschen verbrannte Krematorium 2. Panoramen des Lagers 3. Eine Grube voller Leichen der Exekutierten. 4. Exhumierung von Leichen, Autopsie durch Ärzte. 5. Bevölkerung in der Nähe der mit Leichen gefüllt Grube. Weinen, Händeringen, die Mutter Peplevskaja Paulina, der Mann Rożeński Piotr. Ihre Söhne wurden von den Deutschen in diesem Lager vernichtet. 6. Deutsche Gefangene und ihre ungarischen Helfer („Satelliten“) werden durch das Todeslager geführt. 7. Dosen mit Gift, das zur Vergiftung der Gefangenen verwendet worden war (Aufkleber sind beigefügt). 8. Schuhe von Kindern, Frauen, Männer – das sind ganze Berge vernichteter Menschen. 9. Der Vertreter der sowjetischen Regierung beim Polnischen Komitee Nik. Aleksandr. Bulganin und der Sekretär der Außerordentlichen Kommission Kudrjavcev inspizieren das Todeslager. 10. Drahtverhau des Todeslagers, durch das elektrischer Strom geleitet wurde. Die Außerordentliche Kommission führt momentan noch Untersuchungen durch, und Materialien für den Kommentar (diktorskij tekst) werden zusätzlich nach den Schlussfolgerungen der Außerordentlichen Kommission abgeschickt, und außerdem wird noch zusätzlich mit Ton aufgenommen werden: die Befragung (opros) der Zeugen aus dem Lager des Todes. (VS 1020, 1021)418

418 „Материал снимался с учетом специального выпуска. Некоторые планы дублированы с Карменом, учитывая возможность как союзного, так и экспортного выпуска.“ (Montagelisten 1020, 1021. In Fomin 2018, S. 415). 269

270

5 Produktion der Filme

Es handelt sich hier um ein undatiertes Paar von Drehberichten, die frühestens am 4.8.1944 einsetzen; zugleich erstreckt sich das Komarov/Štatland-Drehprotokoll – ähnlich wie Karmens – über eine längere Drehetappe, denn die Exhumationen sollen erst zwei Tage später begonnen haben.419 Der aufschlussreiche Hinweis zu den „Doppelaufnahmen“ gibt nicht nur Aufschluss über die Produktionsweise, sondern vermittelt einen Einblick in die Strategie der ersten Filmaufnahmen eines KZ, die Rückschlüsse auf Prinzipien der Propagandaproduktion bzw. der Beweismittelbeschaffung erlaubt. Dies ist nur eines der Beispiele für die bisher unerschlossene heuristische Funktion der Montagelisten bei der Rekonstruktion der Produktionsgeschichte dieses Filmmaterials. In der folgenden Tabelle erstrecken sich die Montagelisten zu den Filmpartien über ca. 135 Nummern von Juli bis August 1944, wobei dreizehn oder sogar vierzehn davon mit Sicherheit in die Lublin/Majdanek-Filme eingegangen sind. Die anderen in den Montagelisten beschriebenen Aufnahmen in Lublin/Majdanek sind entweder nicht Bestandteil der Filme geworden oder aber ihre Kameraleute sind nicht angeführt, wie etwa im Fall von Efimov, u. U. auch Frolov (seine Aufnahmen vom Krematorium und von Lublin am „Tag des Soldaten“, wie er den 15.8.44 bezeichnet; VS 1071), Tomberg und Solov’ev. Potentielle Kandidaten sind acht auf polnischem Boden gefilmte VS-Nummern von Muchin, Arons, Posel’skij und Kiselev – daher habe ich ihre Montagelisten auch in die Tabelle aufgenommen: sie ermöglichen eben aufgrund der VS-Zahlen die Rekonstruktion einer Abfolge der Rohfilmausgaben und eine ungefähre Datierung. Allerdings gibt es in einem Fall ein Abweichen in der Chronologie, wenn Štatland in Montageliste 1334 verkündet, am 27.8. sei die „letzte Aufnahme zu Majdanek“ gemacht worden, am 28.8.1944 jedoch Sof’in weiter Gaskammern filmt (Montageliste 1132), was seinem Vorgesetzten u. U. nicht gepasst haben mag; es kann auch ein Zeugnis sein für die mangelnde Autorität des ehrgeizigen Štatland, der damals mit seinen Anfang 30 der jüngste war – Sof’in war um drei Jahre, Ford um vier und Karmen immerhin um sechs Jahre älter. Montagelisten zu Lublin und Majdanek finden sich in der Sammlung, die von Fomin (2018) auf den Seiten 544–583 zusammengestellt wurde, wo sie nicht chronologisch angeordnet sind, sondern thematisch; einige Montagelisten, die mir von V. Fomin zusätzlich zugänglich gemacht wurden, wurden nicht in diese Publikation aufgenommen (Nr. 1051; Nr. 1130). In der Tabelle sind Nummern, die Majdanek betreffen, fett gesetzt:

419 Laut Kommentar zum Film Majdanek 1944 – Opfer und Täter hat das im Film sichtbare Exhumieren der Toten aus den Massengräbern durch deutsche Kriegsgefangene vom 6.-23.8.1944 stattgefunden.

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

Nummerierung

Länge Namen Ort bzw. Überschrift und der Textteile der Montageliste Kameraleute VS 897 898 700 m Muchin, Straßenkämpfe Lublin Posel’skij VS 901 VS 902

VS 977 VS 978 ?

VS 1005

VS 1008 VS 1020, 1021

Štatland

Stadt Lublin

271

Aufnahmedatum [rekonstr. Datum] [frühestens 22.7.1944 abends] ?

Tomberg Einmarsch Lublin; Lubliner [24.– Schloss: „friedliche Bewoh- 25.7.1944] ner, Mehrheit Polen, teils Juden.“ 180 m I. Arons Lublin [26.– 27.7.1944] 180 m V. SoBegrüßung der Roten Ar- 27.7.1944 lov’ev mee in Lublin, Berling; „Das Schloss-Gefängnis Lublin“, wo „Bevölkerung die Leichen identifiziert.“ Majdanek-Krematorium: „Am 22.7.44 vergifteten und verbrannten sie eine große Menge von Menschen. Spuren der Gräueltaten.“ 270 m Ass. Ko- „Weltliche Trauerfeier in 6.–7.8.1944 marov der Stadt Lublin für die im Konclager’ Majdanek (Lublin) und die im Schloss Umgekommenen. 6.8.44“: Panichida. Gebet des Ksendz Kruszinski, Zawadski, Grubeckij. Karmen 3 Seiten Text 420

Štatland, „Lager’ smerti na Majdane“. Ass. Ko- „Einige Aufnahmen gedopmarov pelt mit Karmen.“ Massengräber. Bulganin spricht mit Kriegsgefangenen. Stacheldraht. Kommissionsarbeit. Ankündigung der Trauerfeier (panichida).

unklar, Beginn frühestens 4.8.1944

Filmmaterial / Empfindlichkeit

Angabe militär. Stumm/ ZugehörigTonauf keit nahmen 1.Belorussische Front 1.Belorussische Front 1.Belorussische Front 1.Belorussische Front

SČS-2em 32

Baltische Front

SČS-2 em 520

SČS-2 em 520

Verschiedene 1.Belorussische Front

271

272

VS 1050

VS 1051

VS 1052

VS1067, 1068 VS 1071

5 Produktion der Filme

Karmen

„Zu den Tonaufnahmen“ (außen): Sowjet. ­Kriegsgefangener (Feldscher Abrochov). Verhör der SSMänner Thernes und Schollen durch „Staatsanwalt der 1. Polnischen Armee, Generalmajor der Justiz L. I. Jačenin“, den „Vertreter der Außerordentlichen Kommission D. I. Kudrjavcev“ und „Leutnant Prokopovič Jakov, den stellv. Staatsanwalt der 1. Polnischen Armee“; „die Aufnahme auf dem Apparat der FordGruppe durchgeführt hat Kameramann Forbert, Ton Sienkiewicz“ 110 m Karmen „Dos’’emki k lagerju frühestens smerti“/ „Zusätzliche Auf- 6.8.1944 nahmen zum Todeslager“. Ausheben der Massengräber. „O.-Moravski“420 90 m Šnejderov „Todeslager in Majdanek 13.8.1944 (bei Lublin)“ Luftaufnahmen vom Flugzeug („Kreisen über den ÖfenKrematorien“)421 Kiselev, 9.-16.8.1944 Muchin 200 m Frolov Überschrift: „Stadt Lublin“ 15.8.44 SČS-2 („Gor. Lublin, moleben Pol’skich vojsk, 15.8.44 г.“), „Parade“

Ton

Verschiedene

Verschiedene

1.Belorussische

1.Belorussische Front 1.Belorussische Front

420 Gemeint ist Edward Osóbka-Morawski. Dieses Dokument – ein Durchschlag schlechter Qualität – wurde u. U. von jemandem anderen geschrieben bzw. (ab)getippt. Es enthält orthographische Fehler, die etwa in anderen Montagelisten von Karmen nicht vorkommen. In Karmens VS 1051 sieht man auch einige Korrekturen. Kann Aufnahmen zwischen 6. und 23.8.1944 betreffen. 421 „Снят с самолета лагерь смерти. Разные планы более и менее общие. Виражи у печикрематория, где немцы сжигали людей. Несколько планов гор. Люблин с самолета.“ (VS 1052)

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

VS 1104

480 m Sof ’in 600m

VS 1105, 1106



„Material dlja vypuska ‚Lager unitoženija‘“. Lubliner besuchen Majdanek, Exhumierungen. 800.000 Paar Schuhe. Lager in der Chopin-Str. 27. „In M. haben fast alle Völker Europas ihren Kummer beigetragen.“ (Aufzählung der Nationalitäten). Pässe. Fotos der im Lager Vernichteten. Mutter umarmt Kind, Schnitt zum Leichnam Mutter mit Kind. Asche- und Misthügel als Düngemittel und Kohlfeld. Krematorium. Arbeit der Poln.-sowjet. Kommission. Witos eröffnet Sitzung. Schilling-Singalewicz. Ing. Krause [Innenaufnahme] synchron: Verhör der Zeugen und SS-Leute. Ehemalige Häftlinge: Ein Deutscher [?], ein Holländer [= Behnen], ein Franzose, ein Österreicher [=Tomasek]. Der deutsche SSMann Thernes. Schlusswort Kudrjavcev. „Aufnahmen des Deutschen Schollen und des Polen [Sylwester] Budzyń wurden von der polnischen Gruppe gemacht.“ Bericht Präses des Lubliner Roten Kreuzes Dr. Ludwik Christians. Für nächste Sendung angekündigt: Porträts und Namen der Kommission422 Posel’skij, Boi na podstupach k – Arons Varšave. Severo-vostočnaja Praga

273

Panchrom Stumm SČS-2

1.Belorussische Front

Ton

1.Belorussische Front

422 „9. Собрание Чрезвычайной комиссии под председательством гр. Витоса, вице-председателя Польского Комитета Национального освобождения. […] Со следующей партией негатива будут высланы фото членов комиссии, свидетелей с указанием фамилий.“ – Dieses Versprechen, die Fotos und Namen der Mitglieder der Kommission zu schicken, wurde entweder nicht eingehalten oder die Montageliste wurde einkassiert bzw. ist verlorengegangen. 273

274

VS 1132

5 Produktion der Filme

330 m Sof ’in

120 m VS 1133

240 m Štatland

VS 1134

200 m Solov’ev

VS 1641

700 m Sof ’in, Ibragimov Efimov Adolf+W. Forbert St. Wohl

? – – –

Abb. 5.9

Samucievič

1. Gaskammern des Vernichtungslagers. – Komarov 2. Guckloch, ausl. Korrespondenten besichtigen die Gruben; Korrespondent zählt Schädel; Koffer, Chopinstr.423 Enthüllung des Denkmals [Außenaufnahmen:] Ausländ. Journalisten; Tribüne: Bulganin, Morawski und Rokossovskij; Enthüllung Denkmal. „Tonaufnahmen der Enthüllung des Denkmals und der Pressekonferenz der Außerordentlichen Kommission für ausländische Journalisten wurde auf meine Veranlassung hin von der polnischen Gruppe aufgenommen.“ „Letzte Aufnahme zu Majdanek“. Enthüllung Denkmal in Lublin Lubliner Gericht

28.8.1944

SČS 2 em5-24.

Ton 1.Belorussierwähnt sche Front

27.8.1944

SČS 2 em5-20. Kontražur-Aufnahme

Ton

1.Belorussische Front

Ton

[27./28.8. 1944] 27.11.1944

SČS-2 em.50 SČS-2 Ajmo

Ton?

1.Belorussische Front 1.Belorussische Front Polnische Gruppe Polnische Gruppe Polnische Gruppe

Tabelle der in Lublin/Majdanek durch die sowjetischen Kameraleute erstellten Montagelisten (montažnye listy) von Juli-August und November 1944 424

Aus der Tabelle kann man ersehen, dass insgesamt mindestens vier Tonaufnahmen gemacht wurden, und dass Verhöre der ehemaligen Häftlinge sowohl innen als auch außen gemacht wurden. Dies ist von Bedeutung, wenn wir das „Dublieren von Aufnahmen“ bedenken, von dem Štatland bereits ab der ersten Augustwoche spricht. Es wird auf weitere (Innen-)Tonaufnahmen der „Polnischen Gruppe“ Bezug genommen, und zwar sowohl Mitte August durch Sof’in (VS 1104), der selbst Innenaufnahmen während der Verhöre 423  „1. „Газовые камеры лагеря уничтожения. Комаров. 28 августа 1944 г. 2. Окно, через которое немцы наблюдали за отравляемыми. […] 3. Иностранные корреспонденты около газовых камер. […] 13. Иностранные корреспонденты осматривают склад чемоданов. 14. Иностранные корреспонденты на пресс-конференции (монтажные куски к синхронному материалу).“ (VS 1132) 424 Sie basiert auf Fomin 2018. Kursive Zahlen bezeichen die nicht in Fomins Edition aufgenommen Listen (Stand 2017). Möglicherweise werden sie auf einer Zusatz-DVD erscheinen.

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

275

gemacht hat als auch Außenaufnahmen durch Štatland am 27.8.1944 („Tonaufnahmen der Enthüllung des Denkmals und der Pressekonferenz der Außerordentlichen Kommission für ausländische Journalisten wurde auf meine Veranlassung hin von der polnischen Gruppe aufgenommen.“). Die letzteren Tonaufnahmen sind u. U. nicht in die Filme eingegangen. Aus dieser Tabelle können wir auch ableiten, dass Tonaufnahmen wiederholt wurden – und zwar auch noch kurz vor der Beendigung der Dreharbeiten. Offensichtlich stehen die im Exterieur erstellten Außenaufnahmen mit dem Zeugen Tomasek (vgl. Kap. 8) in diesem Kontext. In der Montageliste wird die Tonaufnahme von ehemaligen Häftlingen jedoch nicht erwähnt – was durchaus logisch ist, denn auf Štatlands Montageliste von Ende August würde es nicht gut aussehen, wenn er abermals Aufnahmen von dem bereits bei Sof’in erwähnten „Österreicher“425 machte (Sof’ins VS 1104 stammt etwa von Mitte August). Offensichtlich wurde die Rede Tomaseks dennoch am 27.8.1944 vor dem Krematorium aufgenommen, und zwar von der „polnischen Gruppe auf Veranlassung“ von Štatland, das heißt auch, auf Štatlands Filmmaterial (VS 1133). Dass es sich bei VS 1133 um Außenaufnahmen handelt, wird bestätigt durch die Tatsache, dass Štatland von Gegenlichtaufnahmen spricht. Ich habe bisher keine Kenntnis von einer Montageliste, die die Namen Tomas(ch)ek, Le Dû, Be(h)nen, Houtmeyers oder Reznik enthalten würde (obwohl Listen mit den Namen von anderen Befreiten haben, mit slawischen Namen wie Abrochov und anderen; so in Karmens Montageliste Nr. 1050). Da wir wissen, dass Karmen das Verhör der SS-Männer Thernes und Schollen vor dem 13.8. gedreht haben muss, können wir daraus schließen, dass die Tonaufnahmen mit befreiten Häftlingen entweder an einem der beiden bekannten Drehtage stattfanden oder dass es zusätzliche Dreharbeiten gab, die in den überlieferten Montagelisten nicht aufscheinen. Wenn wir von der zweiten Möglichkeit ausgehen, bedeutet dies, dass diese Aufnahmen entweder gänzlich vom polnischen Ford-Team gemacht wurden und daher nicht in den sowjetischen Montagelisten auftauchen oder aber, dass es sich um Karmens (parallele oder gar auf eigene Faust durchgeführte?) Dreharbeiten handelt, die das jüdische Thema für den „Export“ mit abdecken sollten. Bisher ist nicht belegt, wer den einzigen jüdischen Befragten Reznik gefilmt hat. Da er Polnisch spricht und nicht Jiddisch, möchte man fast davon ausgehen, dass es die Ford-Gruppe war. Sof’in vermerkt in der Montageliste VS 1104, dass er 600 m Tonfilmaufnahmen abgedreht hat, was eine große Menge darstellt („Метраж немой – 480 метров, звуковой – 600 метров“) – man vergleiche die frühere VS-Nr. 1020, 1021 von Štatland und Komarov, die nur 420 m betrug. In Karmens Montagelisten aus Lublin/Majdanek fehlt die Meteranzahl außer im Fall der „zusätzlichen Aufnahmen“ VS 1051. Sowjetische Aufnahmen mit der Tonkamera und dem polnischen Team fanden mindestens zweimal statt: in der zweiten Augustwoche (durch Karmen) und am 27.8.1944 (auf Štatlands Geheiß). Da wir später sehen werden, dass manche ‚Häftlingsnamen‘ doppelt gefilmt wurden, hätte diese zweiwöchige Pause ihre Logik: mit einem (von Sof’in oder

425 Allerdings wird der Wiener Tomasek in der russischen Version zum „Tschechen“ deklariert. 275

276

5 Produktion der Filme

Karmen?) aufgenommenen authentischen Tomasek in Anwesenheit der Kommission (1. Augusthälfte) als Innenaufnahme, und dem anderen, zusätzlichen Tomasek – im Freien mit gestreifter Häftlingsjacke aufgenommen – Ende August, auf Wunsch von Štatland vom polnischen Team gedreht. Dies könnten Sof’ins Dreharbeiten (VS 1132) sein, wo mit Ton angeblich ausländische Korrespondenten aufgenommen wurden, die aber in keinem der Film zu hören sind. Sof’ins Nr. 1132 (330 m) könnte man daher als eine „organisierte“ Wiederholung seiner Nr. 1104 ansehen, mit einem anderen Tomasek und einem verbesserten Be(h)nen – beide in Außenaufnahmen. Wir werden im Kap. 8 noch einmal auf den brisanten Kontext dieser Wiederholungen zurückkommen. Wir können aus der tabellarischen Darstellung und der fortlaufenden Nummerierung der Montagelisten ableiten, dass Karmen offensichtlich vor allen anderen sowjetischen Kollegen am Ort war, Aufnahmen machte und sich zu dem Zeitpunkt, als die Ablieferung der Montageliste an das CDSF anstand, bereits ein genaues Bild von dem Lager, das er als Majdan bezeichnet, gemacht hat. Dies kann man der Montageliste des „Operator R. KARMEN Nr. 1008“ entnehmen, die mit den Worten „LAGER’ SMERTI ‚VSEEVROPEJSKIJ KOMBINAT‘ UNIČTOZENIJA LJUDEJ V MAJDANE“ („TODESLAGER. ‚ALLEUROPÄISCHES KOMBINAT‘ DER VERNICHTUNG VON MENSCHEN IN MAJDAN“) überschrieben ist. Es handelt sich um drei DIN-A4-Seiten, wobei die letzte lediglich zwei Absätze enthält. Ein Vergleich dieser in jeder Beziehung ungewöhnlichen Montageliste, die keine technischen Details aufweist, mit anderen Montagelisten Karmens bzw. der anderen Kameraleute führt mich zu dem Schluss, dass es sich hier um eine sekundäre Protokollierung der frühesten Aufnahmen, die im Lager gemacht wurden, für das CSDF handelt. Ich gehe davon aus, dass Karmen zuvor eine reguläre Montageliste an seinen Auftraggeber, der über seinem unmittelbarer CSDF-Chef Štatland stand, gesandt hatte. Und zwar mit der ersten Partie der Filmaufnahmen (eine solche Montageliste liegt mir nicht vor, sie könnte in einem Militärabwehr- oder einem anderen geheimdienstlichen Archiv liegen). Der vorliegende Text – vermutlich nachträglich auf Geheiß des seine Autorität durchsetzen wollenden Štatland angefertigt – trägt bereits Spuren der Rechtfertigung, die sich wie eine Reaktion oder Vorwegnahme einer Rüge lesen. Ich erinnere an den letzten Satz: „Deshalb habe ich sehr gründlich, ohne Film zu sparen, alles aufgenommen, was die Spuren des deutschen Konzentrationslagers aufbewahrt hat, in dem Hitlers Henker mehr als eine Million freiheitsliebender Menschen umgebracht haben.“ (VS 1008, S. 3) Karmens Montageliste VS 1008 ist darüber hinaus mit suggestiven Deiktika („Hier sind die Dosen“) versehen, die sich direkt auf die Filmeinstellungen beziehen und verfügt über Textteile, die direkt als Voiceover verwendet werden können: „Das sind diejenigen, die überlebt haben. Es sind nicht viele von ihnen übrig. Dies sind sowjetische Kriegsgefangene. Die verstümmelten Menschen, auf Krücken, können immer noch nicht zu sich kommen, sich ihrer Rettung bewußt werden. Ihre Kleidung ist durch ‚…‘ (Sowjetunion) gekennzeichnet.“ Karmen wollte offensichtlich mit dieser appellierend formulierten Montageliste sicherstellen, dass im Moskauer Studio seine direkt an die Einstellungen geknüpften Texte übernommen werden.

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

277

Auffällig ist zudem, dass Karmen die unter Nr. VS 1051 im August 1944 gemachten Aufnahmen bereits als dos’’emki bezeichnet, d. h. Nachaufnahmen, oder: zusätzliche Dreharbeiten. Des Weiteren scheint es, als wäre Štatland mit Absicht bzw. dem Auftrag ins Lager zurückgekommen, um den von Karmen und den Fords geleiteten Dreh zu beenden (vgl. seine Bemerkung in Nr. 1133 über den 27.8.44 als „letzten Drehtag“). Auch möglich ist, dass er erneut hingeschickt wurde, da Moskauer Stellen, die an der Dokumentation des Genozids ihr Interesse verloren hatten, Karmens Aufnahmen nicht (mehr) genehm waren – hier ist auch eine Interferenz des hochkarätigen Moskauer PKWN-Beraters Bulganin, der schließlich vor Ort war, nicht ausgeschlossen. Sof’in filmte in der ersten Augustwoche Bulganin in Lublin. Hat also Karmen, der aufgrund seines Spezialauftrags vom Juli 1944 außerordentliche Befugnisse hatte (Hicks 2012, S. 157), bis Ende August selbständig bzw. gemeinsam mit dem polnischen Team im Lager gearbeitet, bis ihm Štatland in die Quere kam? Weitere Forschungen im Archiv des CSDF könnten hier Aufschluss geben. Am 13.8. machte Šnejderov Luftaufnahmen, die aber nicht notwendigerweise in Absprache mit Karmen abgelaufen sein müssen. Erst am 27. und 28.8. drehten Sof’in und Štatland wieder in Majdanek – der äußere Anlass war wohl die Ankunft der ausländischen Journalisten. Štatland „veranlasste“ außerdem Tonaufnahmen durch das polnische Team (Eröffnung des Befreiungsdenkmals in Lublin und eine Pressekonferenz für ausländische Journalisten; 27.8.1944, Nr. 1134).426 Karmen wiederum erwähnt seine eigenen Tonaufannahmen von Thernes, Schollen und anderen, „auf der Apparatur der Fordgruppe mit Kameramann Forbert“ („Съемку я производил на аппарате группы Форда. Оператор Форберт, звукооператор Сенкевич.“ Montageliste Nr. 1050; in Fomin 2018, S. 559). Dies bedeutet, dass von Karmen und den Polen und Polinnen gemeinsam Tonaufnahmen gemacht wurden. Welche hierarchischen Verhältnisse bestanden zwischen den Filmoffizieren Karmen und Štatland? Laut Derjabin (2016, S. 352, S. 955) war Major Karmen von August 1944 bis zum 29.11.1944 zwar Filmgruppenleiter und Kameramann der 2. Ukrainischen Front, jedoch wurde die Kinogruppe der 1. Belorussischen Front, die Majdanek befreite, von Štatland geführt, d. h. Karmen – laut Derjabin (2016, S. 352) vom 27.3.–2.5.1945 einfacher „Kameramann der 1. Belorussischen Front“ – war ihm in dieser Funktion unterstellt; es ist unklar, inwieweit Karmen in Majdanek zunächst aufgrund seines Spezialauftrags in Außerordentlicher Funktion gewirkt hat, oder lediglich aufgrund der mit seinem Namen verbundenen Autorität. Štatland mag gerade aus diesem Grund Ende August noch einmal selbst nach Majdanek gekommen sein, um nach dem Rechten zu sehen und den mit Hilfe des Spezialauftrags auf eigene Faust arbeitenden Karmen zu bremsen.

426 „VS 1133 Štatland 240 m: […] „8. Tonaufnahmen der Enthüllung des Denkmals und der Pressekonferenz der Außerordentlichen Kommission für ausländische Journalisten wurde auf meine Veranlassung hin (po moemu ukazaniju) hin von der polnischen Gruppe aufgenommen. 9. Militärparade. […] Dies ist die letzte Majdanek-Aufnahme. 27.VIII.1944.“ Diese Montageliste wurde nicht aufgenommen in die Edition von Fomin 2018. 277

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5 Produktion der Filme

Es war Štatland, der in einer undatierten Montageliste mitteilt, dass bereits während der Aufnahmen vor Ort zwei Versionen geplant waren, eine „sowjetische“ und eine für den „Export“; mit Exportversion ist jedoch nicht die polnische Version gemeint, da das eroberte Lublin den Russen nicht als Ausland galt. Aus dem Kontext und der Anwesenheit von Gästen lässt sich erkennen, dass diese Montageliste ab dem 4.8.1944 angelegt wurde. Allerdings zeigt diese Bemerkung, dass Štatland zwar die Aufnahmen formal leitete, jedoch im August von ihrem lokalen Propagandazweck in Polen wenig ahnte. Štatland schreibt: Die Außerordentliche Kommission führt momentan noch Untersuchungen durch, und Materialien für den Kommentar (diktorskij tekst) werden zusätzlich nach den Schlussfolgerungen der Außerordentlichen Kommission abgeschickt, und außerdem wird noch zusätzlich mit Ton aufgenommen werden: die Befragung (opros) der Zeugen aus dem Lager des Todes. (Montagelisten 1020, 1021)427

Überaus bedeutsam für das Verständnis der Intention, aber auch der Produktionsweise der Teams und des anvisierten Publikums, ist, dass Štatland erklärt, dass manche der Einstellungen parallel auch von Karmen aufgenommen wurden. Die Montagelisten 1020, 1021 (in Fomin 2018, S. 415) weisen auf einen solchen Hergang hin (Abb. 5.10).

Abb. 5.10 Montageliste über doppelte Aufnahmen („plany dublirovany“)428 427 „Примечание: Чрезвычайная Комиссия ведет пока еще следствие, и материалы для диктор. текста будут высланы дополнительно после заключения Чрезв. Комиссии, а также дополнительно будет снято со звуком: опрос свидетелей из лагеря смерти. Этот лагерь представлял из себя место заключения и уничтожения людей со всей Европы. На днях должна быть духовная панихида по жертвам. Материал буду высылать систематически, согласовывая работу и дикторский материал с Чрезвычайной Комиссией.“ Undatierte Montageliste von Kameramann V. Štatland (in Fomin 2018, S. 416). Vgl. auch Michajlov/ Fomin, 2010, S. 843. 428 „Монтажный лист No 1020, 1021 Оператор: В. Штатланд, ассист. оператора: Комаров

5.2 Standort und Geheimnisse der Produktion

279

Aus dem „doppelten“ Aufnehmen durch Karmen für das Ausland kann man folgern, dass sein Spezialauftrag sich tatsächlich auf das westliche Publikum bezog, implicite die Dokumentation des Holocausts. Dies ist auch bestätigt durch die spezifische Beschaffenheit der ersten Karmen-Montageliste Nr. 1008, die nicht durchnummeriert ist, während die anderen beiden, die offensichtlich unmittelbar vor den Luftaufnahmen am 13.8. (Nr. 1052) gemacht wurden (1050 in Fomin 2018, S. 559; 1051 fehlt in Fomin 2018), eher dem Muster der sowjetischen Montagelisten folgen (nur Nr. 1051 hat die ansonsten obligatorische Meterangabe von 110 m). Das Fehlen der üblichen Angaben könnte mit einer mit seinem Spezialauftrag verbundenen Geheimhaltungsklausel erklärt werden, die sich auf Karmens Dreharbeiten bezog. Oder das Fehlen von Daten und geografischen Angaben ist auf die Zensur des Dokuments zurückzuführen, die sowohl vor Ort ausgeführt (auch von Karmen selbst) als auch in Moskau gegriffen haben kann. Die Überlieferung, mit der wir hier also konfrontiert sind, wäre dann bereits eine bereinigte, und in dieser Form archivierte. Štatlands und Karmens jeweils unterschiedlicher Zugang zu der Textgattung der Montageliste lässt sich gut erkennen. Karmen erscheint erfahrener in der Paraphrase, im Umgang mit Daten, die in einem Geheimdokument vorkommen dürfen, das – geriete es in die Hände des Feindes oder von Spionen, die für Deutschland arbeiten – die sowjetischen Propagandastrategien zunichte machen kann. Štatland ist in seinen Beschreibungen unvorsichtig, wie sein Ausbuchstabieren interner Information zur „Exportversion“ (sie steht in direktem Zusammenhang mit Karmens Auftrag, über den er aber inhaltlich nicht informiert scheint), beweist. Ein weiteres Szenario wäre, dass Karmen, als die Kameramänner der 1. Belorussischen Front Lublin in Richtung Warschau verließen, sich seinem Kollegen Ford angeschlossen oder sogar unterordnet hat, der als Leiter der Filmspeerpitze zumindest bei den Aufnahmen vorerst selbstständiger agieren konnte und zudem in seiner Heimat war und sicherlich – gemeinsam mit seinem Team – vor Ort bessere Kontakte knüpfen konnte. Zugleich würde dies auch erklären, warum die Majdanek-Kameraleute zeitweise unter Mangel an Rohfilm litten: Karmen hatte vor Ort nicht die Entscheidungsgewalt, diesen zu beschaffen, da Štatland in der in Lublin zuständigen Kinogruppe sein Vorgesetzter war, der theoretisch auch seine Montagelisten gegenzeichnen musste. Es fällt auf, dass die von Fomin edierten Montagelisten von Karmen überwiegend nicht datiert sind. Allerdings trägt auch Levitans dreiseitige Montageliste zu Katyn’ kein Datum (DVD zu Fomin 2018). Des Weiteren kann man daraus schließen, dass die grotesken Hyperbolen und der Surrealismus in den Aufnahmen des Lagers vom polnischen Team bzw. gemeinsam mit Karmen, in „kooperativer“ Weise, geprägt wurden. Da sowohl Ford als auch Bossak in Teilen des Zarenreichs geboren sind, in denen überwiegend Russisch gesprochen wurde, war die Verständigung sicherlich problemlos – wahlweise auf Russisch und/oder auf Jiddisch,

Метраж – 420 м. СЧС-2 эм 520 Материал снимался с учетом специального выпуска. Некоторые планы дублированы с Карменом, учитывая возможность как союзного, так и экспортного выпуска.“ (VS 1020, 1021 in Fomin 2018, S. 415) 279

280

5 Produktion der Filme

das zudem eine gewisse Exklusivität ermöglichte, da die Russen und Tataren vermutlich wenig Jiddisch verstanden.

5.2.7

Kooperation der Filmleute in Lublin und Majdanek Karmen war ein Besessener, der Film war für ihn alles, und das restliche Leben – zweitrangig. (Jerzy Bossak, zitiert in Slavin 1989, S. 157)

Im Vorspann der heute im Imperial War Museum einsehbaren, russischen Version sind die Namen der polnischen Kameraleute nicht vertreten, genannt werden nur Roman Karmen, Avenir Sof’in, Viktor Štatland.429 In einigen Darstellungen wird erwähnt, dass die polnischen Kameraleute eine schlechtere Ausrüstung gehabt hätten, so etwa nur eine Kamera und kaum Filmmaterial (Struk 2004, S. 139) und vom sowjetischen Team abhängig waren, was die Technik anging. Eine ähnliche Argumentation findet sich zuletzt bei Ania Szczepanska (2015), die von Spannungen zwischen polnischen und sowjetischen Kameraleuten spricht: „La coopération entre les équipes ne se fait donc pas sans tension, mais elle est la seule possibilité offerte aux opérateurs polonais, qui dépendent entièrement du matériel soviétique.“ Die Schilderung der Spannungen ist wie zuvor erläutert als eine apologetische ex-post-Bewertung zu interpretieren, die aus der späteren polnischen Perspektive ausgesprochen wird, gezeichnet von anti-sowjetischen Stimmungen.430 Aus Fomins Edition der Montagelisten geht umgekehrt hervor, dass Karmen im Fall der Tonaufnahmen des sowjetischen Kriegsgefangenen Michail Petrovič Abrochov und des Verhörs der SS-Männer Thernes und Schollen durch „den Staatsanwalt der 1. Polnischen Armee, Generalmajor der Justiz L. I. Jačenin“, den „Vertreter der Außerordentlichen Kommission D. I. Kudrjavcev“ und „Leutnant Prokopovič Jakov, den stellv. Staatsanwalt der 1. Polnischen Armee […] die Aufnahme auf dem Apparat der Ford-Gruppe durchgeführt hat. Kameramann Forbert, Ton Sienkiewicz“ (VS Nr. 1050, Fomin 2018, S. 559). Dieses technische Detail bestätigt Forberts Aussage von 1986 zu der Akeley-Tonkamera (vgl. Struk 2004, S. 140), widerlegt die angeblich minderwertige Ausstattung der Polen und bestätigt die unmittelbare und harmonische Zusammenarbeit von Karmen mit Fords

429 Sollte die Kopie in London aus einer späteren Zeit stammen, wäre diese Aussage hinfällig. U. U. könnte sie in den 1960er Jahren beim Umkopieren (oft als „Rekonstruktion“ bezeichnet) verändert worden sei. Zu den Biografien siehe A. Derjabins Nachschlagewerk zu den „Schöpfern der Kinoletopis’ von der Front“ (2016, S. 803, 955). 430 Tatsächliche Spannungen bestanden zwischen Štatland und Karmen, und sie könnten durchaus auch mit den jüdischen Motiven zusammenhängen, die Karmen dokumentiert, von deren Zweck sein Vorgesetzter jedoch nichts weiß. Es fällt zudem auf, dass die russischsprachige Aufnahme von Abrochov „vor dem Krematorium“ – seine Brille markiert ihn als Intelligenzler –, der von dem Lager als „Totenstadt“ spricht, nicht in die endgültigen Filmfassungen aufgenommen wurde.

Literaturverzeichnis

281

Team.431 Unter Umständen könnte man daraus folgen, dass die Sowjets Rohfilm zuteilten, während die Fordgruppe eine bessere Ausrüstung hatte. Der Frage, inwieweit die „Kooperation“ auch eine Umschreibung der Abwesenheit A. Fords und die Assistenz von Olga Ford darstellt, werden wir uns im Kap. 7 zuwenden.

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282

5 Produktion der Filme

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Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten 6 Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten

6.1

Unterschiede zwischen der polnischen und der russischen Version

6.1

Unterschiede zwischen der polnischen und der russischen Version

In dieser Gegenüberstellung beziehe ich mich auf die polnischsprachige Fassung (23:35 Min. aus der Filmoteka Narodowa) und die im IWM aufbewahrte russischsprachige Fassung (15:02 Min.), die in etwa die gleiche Laufzeit hat wie die deutsche Fassung im Bundesarchiv mit 15:04 Min, da dies diejenigen Versionen sind, auf die in der (vornehmlich westlichen) Forschung Bezug genommen wurde und die am ehesten verbreitet bzw. zugänglich sind. Während die polnische Version mit dem Bild von Türmen der Altstadt Lublins beginnt, fehlt dies in der russischen Version, in der nur kurz die polnische Stadt von schräg oben panoramiert wird. Beide Versionen zeigen Bilder der Begrüßung der Roten Armee und der Polnischen Armee, jedoch zeigt der polnische Film die polnische Fahne und Küsse und Umarmungen, die Lubliner Bürger mit der Roten bzw. Polnischen Armee austauschen. Soweit es sich rekonstruieren lässt, stammen diese Eingangsbilder entweder von V. Solov’ev (VS 978, 27.7.1944) oder aus einer der früheren Aufnahmen, die in den undatierten Montagelisten von Štatland (VS 901), Tomberg (VS 902) oder Arons (VS 977) erwähnt werden (ca. 24.–27.7.1944). Danach folgen in der polnischen Version Bilder von den – überwiegend polnischen – Zwangsarbeitern, die im Lubliner Schloss kurz vor dem Abzug der Deutschen von der Gestapo erschossen wurden; um an das Thema des polnischen Leidens insgesamt anzuknüpfen, ist in dieser Version von einem „neuen Hitler-Katyn“ die Rede, wo „jeder einzelne Blutstropfen nach Rache ruft“.432 Die polnische Version thematisiert erst nach ca. fünf Minuten Laufzeit das KZ, beginnend mit der Außenperspektive auf das Lager: einem zweisprachigen Warnschild am Stacheldraht, auf dem auf Deutsch und Polnisch „Achtung, Lagergelände! Stehen bleiben und Fotografieren verboten“ steht. Doch die Kameras der

432 „Każdą kroplę krwi z tego nowego hitlerowskiego Katynia ktoś opłakuje. Każda kropla woła o pomstę.“ Katyń erinnert im Polnischen an das Wort kat, pol. Henker, eines der Worte, mit denen in der russischen Fassung die Nationalsozialisten umschrieben werden – auf Russisch fehlt diese Assoziation, denn dort heißt der Henker palač. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Drubek-Meyer, Filme über Vernichtung und Befreiung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30531-4_6

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Befreier widersetzen sich diesem deutschen Verbot und das sowjetische Filmauge (Kinoglaz) dringt in das Lager ein und überrumpelt die Menschen, die sich dort befinden. Danach folgt in beiden Versionen eine Kamerafahrt entlang einer Reihe düster dreinschauender Kriegsgefangener aus dem „Lazarett für Kriegsversehrte“ hinter Stacheldraht, bezeichnet als „Gefangene in Majdanek – das sind diejenigen, die die Deutschen nicht erschießen, vergiften, verbrennen konnten.“ („uzniki Majdaneka – eto te, kotorych Nemcy ne uspeli rasstreljat, otravit’, sžeč’“; Abb. 6.1–6.3).

Abb. 6.1 Befreite hinter Stacheldraht in Majdanek. Kinodokumenty (RU)

Abb. 6.2 Stacheldraht trennt die Kamera der Befreier vom SSWachpersonal in Majdanek. Kinodokumenty (RU)

Abb. Stacheldraht trennt Kamera Befreier vom SS-Wachpersonal Abb. 6.2.6.2. Stacheldraht trennt diedie Kamera derder Befreier vom SS-Wachpersonal in in Majdanek. Kinodokumenty (RU) Majdanek. Kinodokumenty (RU) 6.1 Unterschiede zwischen der polnischen und der russischen Version

Abb. 6.3

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Sowjetische Kriegsgefangene in nicht in die Filme aufgenommenen Aufnahmen

Abb.6.3.6.3.Sowjetische SowjetischeKriegsgefangene Kriegsgefangenein innicht nichtin indiedieFilme Filmeaufgenommenen aufgenommenen Abb. Aufnahmen Aufnahmen Danach sieht man in der russischen Version eine halbnahe Aufnahme eines Mannes, der

Danach sieht man in russischen Version eine halbnahe Aufnahme eines Mannes, Danach man inder derder russischen Version eine halbnahe Aufnahme eines Mannes, auf dersieht linken Seite Brust eine Nummer hat, einen Schlot, die rauchenden Ruinen der der linken Seite der Brust eine Nummer einen Schlot, die rauchenden derKrematorien, aufauf derder linken Seite der Brust eine Nummer hat,hat, einen Schlot, dieErde rauchenden gefangenes Lagerpersonal (bzw. Funktionshäft linge?) auf der sitzend, Ruinen Krematorien, gefangenes Lagerpersonal (bzw. Funktionshäftlinge?) Ruinen derder Krematorien, gefangenes Lagerpersonal (bzw. Funktionshäftlinge?) aufauf derder die Außerordentliche Kommission (Prof. Graščenkov), Beschreibung der sechs „Felder“ von Majdanek, „hierher brachten sie Ausgesiedelte aus Graščenkov), den besetzten Beschreibung Ländern“ („sjuda Erde sitzend, Außerordentliche Kommission (Prof. Graščenkov), Beschreibung Erde sitzend, diedie Außerordentliche Kommission (Prof. derder svozili vyselennye iz okkupirovannych stran Evropy“), erwähnt werden Frankreich, Belgien, sechs „Felder” Majdanek, „hierher brachten Ausgesiedelte besetzten sechs „Felder” vonvon Majdanek, „hierher brachten siesie Ausgesiedelte ausaus denden besetzten Holland, Italien, die Tschechoslowakei, Jugoslawien, Griechenland, Dänemark, Norwegen, Polen und auch die besetzte UdSSR, Besuch des Lagers im „Sommer 1943 durch den Henker Himmler selbst“ („Sam palač Gimmler letom 1943 goda posetil lager’“; RU: 3:58), Luftaufnahmen des Lagers von einem Flugzeug aus (Šnejderovs VS 1052), Exhumierungen, Skelette, Schädel, ornamental aufgetürmte Knochenberge, Gerichtsmediziner stellen „Todesursache Genickschuss“ fest, ins Russische übersetzte polnische Zeugenaussagen des ehemaligen Häft lings Stanislawski vor der Fotos betrachtenden Kommission (er berichtet über 18400 Erschießungen am 3.11.1943, und erklärt die Bedeutung des Worts „Sonderbehandlung“ [auf deutsch]; RU: 5:18-5:40) und Tadeusz Budzyń (beziffert die Zahl der in Majdanek ermordeten Intelligenz aus Griechenland auf 1200; RU: 5:44-6:00), die Kommission und ausländische Militärs besichtigen das Lager, Vergiftung durch Abgase oder Giftgase, „Majdanek hatte sechs Gaskammern“ (RU: 6:17),433 Schaltraum zur Bedienung der Gaszufuhr („pul’t upravlenija“), das Guckfenster (RU: 6:17-6:20), Zyklon B-Kanister („preparat ciklon“), Erklärung des Badens und der Desinfektion: „die Häft linge wurden angeblich zum Baden geführt, nackt ausgezogen, die Kammer wurde mit Häft lingen bis zum Gehtnichtmehr angefüllt und mit Zyklon getötet“ („zaključennye jakoby velis’ v banju myt’sja, razdevali dogola […] kamera nabivalas’ žertvami do otkaza i ljudi umerščvljalis 433 Mit „gaz“ ist Kohlenstoff monoxid (in Stahlflaschen) gemeint, während „gazokamera“ sich auf Zyklon B bezieht („Kopie der Montageliste“ 1949, S. 5–6). Augenzeugenberichte über die verschiedenen Vergiftungs- und Erstickungsformen durch Gas finden sich in Ambach/Köhler 2003, S. 150, 170. 287

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ciklonom“ RU 6:36-6:64),434 „Oberscharführer“ Anton Thernes berichtet über eine Information des SS-Arztes „Sturmführer“ Rindfleisch über den Gasmord an 300 Kindern mit Zyklon B am 21.10.1943, Zeugenaussagen (RU: 6:55-7:10), der „ehemalige Häftling, der Holländer Benen“ sagte aus, dass er im April 1943 beobachtet hat, wie 200 Menschen vom III. Feld kamen,435 entkleidet und vergast wurden (RU: 7:15-7:35; ein sowjetisches Mitglied der Kommission mustert den ehemaligen Häftling dabei kritisch), Kapo Heinz Stalp sagt aus, dass „im Juli 1943 32 Personen durch Gas erstickt worden wären“, es habe sich um Personal gehandelt, das die Gaskammern bedient hatte, und dies geschah um die Spuren zu verwischen (RU: 7:35-7:55; Hinweis eines Kapos auf Sonderkommandos, im Film ohne Angabe, ob es sich um Juden handelte). An dieser Stelle findet sich in der 1949er Montageliste die Bemerkung in Bezug auf Einstellung 84: „Herausgeschnitten gemäß Rundschreiben 50/49“. Dies ist die einzige Einstellung, die hier explizit als zensierte ausgewiesen wird (Abb. 6.4). Es ist unklar, was entfernt wurde. Die entsprechende Einstellung, die in der IWM-Fassung zu sehen ist, zeigt die Kommission (darunter auch den bärtigen Emil Sommerstein) und polnische Politiker, wie sie hinter dem Stacheldraht an der Kamera vorbeigehen. Abgesehen davon, dass hier das Filmen der Befreier und ihrer Bundesgenossen hinter Draht als unpassend erscheint, befanden sich unter diesen Personen möglicherweise in Ungnade gefallene oder inzwischen deportierte, und daher wurde hier ein Filmstück entfernt. Danach geht es weiter mit dem Vorsitzenden des „Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung“ Edward Osóbka-Morawski, er schreitet durch das Lager und besichtigt die Krematoriumsöfen, Skelette, die „Hitleristen hofften ihre Verbrechen verbergen zu können“ (im Kontext der frühen Dokumentation des Genozids relevante Erwähnung der Enterdungsaktion „ab 1942“), Fassungsvermögen und Geruch, der aus Krematorien kam, Fotos der Opfer, Namen verbrannter polnischer Professoren, Zeugenaussage Stalp über eine „bei lebendigem Leib verbrannte Polin“ (RU: 9:38), eine trauernde (polnische?) Frau, ein Schild der Fa. Rechkemmer (sanitäre Anlagen und Krematorien), ein Schlot, die Überreste von „800.000 in Scheiterhaufen verbrannten Menschen“, Angabe der Verbrannten als über 1,3 Mill. insgesamt, 1550 Kubikmeter Asche vermischt mit Mist als Dünger,436 ein Kohlfeld. Dann sagt der russische Sprecher: „Entdeckt wurden auch andere Sachbeweise der blutigen Verbrechen der deutschen Hitleristen. Ein Lager mit den Dingen der Opfer. Schuhwerk aus vielen Städten Europas.“ („Obnaruženy i drugie veščestvennye dokazatelst’va krovavych zlodejanij nemeckich gitlerovcev. Sklady s veščami žertv. Obuv’ iz mnogich gorodov Evropy“ RU: 10:50-11:15), Berge und Nahaufnahmen von „820.000 Schuhen“, ein „weiteres 434 Hier wird der Duschraum gezeigt, jedoch nicht der Ankleideraum bzw. die Gaskammer selbst. 435 Eindrucksvolle Schilderungen der Grauen des III. Felds von Majdanek finden sich in Ambach/ Köhler 2003, so etwa auf S. 148 von Julian Gregorowicz. 436 In der Quellenedition von Ambach/Köhler (2003, S. 270) wird der Fall des Kompostierens mit Asche – erfolgt durch die polnischen Häftlinge – nur einmal erwähnt (von Witold Szczuka), mehrfach jedoch wird beschrieben, wie der Inhalt der Latrinen, der von den Häftlingen in den Gruben stehend mit Hilfe von Kübeln in Fässer als Dünger geladen wurde.

6.1 Unterschiede zwischen der polnischen und der russischen Version

289



Abb. 6.4

Die 7. Seite der „Kopie der Montageliste“ 1949; Einstellung 84 wurde zensiert „gemäß Rundschreiben Nr. 50/49“ („iz’’jato soglasno cirk. Raspr. Nr. 50/49“)

Gestapo-Kleiderlager“ (sog. Kleiderkammer) in der Chopin-Straße von Lublin, Spielzeug, Brillen, Scheren, „alles wurde sorgfältig sortiert und für den Abtransport nach Deutschland zurechtgelegt“ („vse tščatel’no sortirovalos’ i ukladyvalos’ dlja otpravki v Germaniju“; RU: 3:52-4:02), Rottenführer [Hermann] Vogels Zeugenaussage zu „18 Waggons mit Dingen der Vernichteten“ nach Plötzensee, Pässe der Ermordeten (mit einem J gestempelte sind nicht dabei), „zufällig sich gerettet habende Häft linge (uzniki) Majdaneks“, Überlebende in gestreifter Kleidung („der Franzose Le-dju/Leduc Corentin“, „der Holländer Benen“, 289

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„der Tscheche Tomasek“ erzählen – man hört ihre Worte jedoch nicht; RU: 13:02-13:20), die Kommission stellt fest, wer die Schuldigen sind (RU: 13:26-13:40: „Die Hitlerregierung, der Oberhenker Himmler, und ihre SS- und SD-Kreaturen auf den Territorien der Lubliner Wojewodschaft“ (in der deutschen Synchronfassung: „Oberhenker Himmler mit seinen Henkersknechten aus dem Sicherheitsdienst der SS des Gaus Lublin“). Während der Filmkommentar dieses Urteil verkündet, sehen wir die letzte im KZ aufgenommene Sequenz: die Kamera folgt in einem langsamen Schwenk dem unter Bewachung einherschreitenden deutschen Lagerpersonal. Es befindet sich hinter dem gleichen oder einem ähnlichen doppelten Stacheldrahtzaun, hinter dem zu Beginn der KZ-Aufnahmen als Kriminelle und Übergelaufene porträtierte Kriegsgefangene gestanden haben, was einen Rückschluss auf das Schicksal der Kriegsgefangen erlaubt: Die Versehrten und die Aufseher (Majdaneks „Opfer und Täter“ – wie sie der von zur Mühlen-Filmtitel benennt) werden durch die Wiederholung und den zyklischen Schluss visuell gleichgesetzt. Eine nicht ganz klare Beziehung wird über den Begriff plen (Gefangenschaft) zwischen den nicht als solche identifizierten Kriegsgefangenen – darunter könnten auch Familienangehörige des sowjetischen Filmpublikums sein – und den „hitleristischen SS-Henkern, die in Majdanek gedient haben“ („sredi zachvačennych v plen okazalis’ gitlerovskie palači-esesovcy, služivšie v Majdaneke“; RU 2:23-2:36) hergestellt. Bei letzteren nun von der Roten Armee Gefangenen ist nicht klar, ob es sich um Deutsche oder in die SS Aufgenommene anderer Nationalität handelt – die Musik klingt in diesem Moment durchaus bedrohlich. Diese nur in der russischen Fassung enthaltene Montage zielt auf einen anderen Effekt als die polnische Version. Schließlich ist sie an sowjetische Zuschauer gerichtet, die hier darauf vorbereitet werden, dass ihre Landsleute, d. h. Kriegsgefangene, Überläufer, Sympathisanten oder solche, die zu diesen erklärt wurden, eine Abrechnung erwartet, entweder noch in Europa oder in der UdSSR, sobald sie repatriiert sind. Danach folgen abschließend Aufnahmen einer Trauerfeier beim Schloss von Lublin, eine katholische Trauerfeier, die Hymne „Rota“,437 Militärs, Madonnenbild, Nonnen und eine Menschenmenge. Die verschiedenen Szenen werden vielfach durch Aufnahmen von Stacheldraht miteinander verkettet. In keinem der Fälle hört man in der russischen Version den Originalton, der jedoch aufgezeichnet und dann archiviert wurde. In der polnischen Version folgt auf die Nahaufnahme des Kopfs des Häftlings, der seine tätowierte Brust entblößt, das Kohlfeld. Große Aufmerksamkeit wird den Tätern gewidmet, so etwa dem stellvertretenden Lagerkommandanten, der für das „Konzentrationslager Lublin“ zuletzt verantwortlich war. Es handelt sich um den in der russischen Version vom Sprecher als „SS-Oberscharführer“ Thernes bezeichneten SS-Mann, der seine Aufgabe, nämlich das Lager zu zerstören, nicht erfüllt habe; der im KL Lublin verbliebene 437 Die erste Strophe dieser gegen die Germanisierung gerichteten polnischen Hymne lautet so: „Unser Vaterland geben wir nicht auf./ Unsere Sprache lassen wir nicht untergehen, / Wir sind das Volk der polnischen Nation, / der königlichen Piasten Erben. / Wir lassen uns nicht vom Feind unterdrücken. / Dazu verhelf uns Gott der Herr! / Dazu verhelf uns Gott der Herr!“ (Worte: Maria Konopnicka, 1908)

6.1 Unterschiede zwischen der polnischen und der russischen Version

291

ranghöchste Offizier Anton Thernes war in Wahrheit SS-Obersturmführer, wie er selbst in der polnischen Version mitteilt (O-Ton). Er wird also erst im späteren (russischen) Film fälschlicherweise mit einem weit niedrigeren Rang bezeichnet. Dann werden Mitglieder der Polnisch-Sowjetischen Kommission namentlich vorgestellt, als Vorsitzender der Pole Andrzej Witos, sein Stellvertreter, der Russe Prof. D. I. Kudrjavcev, weiter Prof. Leon Białkowski und der Präses des Lubliner Roten Kreuzes Dr. Ludwik Christians, der auf Polnisch den Unterschied zwischen den beiden Typen von Badehäusern erläutert, eine sei ein Bad, die andere eine Gaskammer gewesen. Die darauffolgende Szene mit den ausländischen Journalisten wurde Wochen nach der Öffnung des Lagers aufgenommen, da diese bis Ende August nicht auf das Lagergelände gelassen wurden.438 In der polnischen Version hört man den Originalton der Zeugen und Verhörten: als erster spricht Thernes auf Deutsch. Er betont, er hätte nie jemanden geschlagen, schließlich sei er „kein Sadist“, dann beruft er sich im Hinblick auf die Wahrhaftigkeit seiner Aussagen auf seinen Status als Offizier, erwähnt die Genfer Konventionen und das Rote Kreuz. Wie aus dem in den Filmen von 1944 nicht verwendeten Filmmaterial hervorgeht, äußert Thernes im Satz zuvor, die Ermordeten seien keine Kriegsgefangenen gewesen, auf die sich die Genfer Konventionen bezogen hätten.439 Thernes meint abwiegeln zu können, indem er behauptet, es seien keine sowjetischen Kriegsgefangenen gewesen, sondern „nur“ Juden (wobei das eine das andere nicht ausschloß).440 Bedauerlicherweise wiederholen die filmischen Darstellungen dieser Szenen die Demagogie des SS-Offiziers und für das Lager Verantwortlichen und sprechen ohne Ausnahme nur von Bürgern aus (europäischen) Staaten – wobei unklar ist, ob hier überhaupt Juden mitgemeint sind, die ja oft ausgebürgert oder staatenlos waren, sobald sie die Grenzen ihres Landes verließen. Die für den Film gekürzte Verhör-Szene spielte sich in voller Länge auf Deutsch so ab: Dolmetscherin für die Kommission: „Es ist uns bekannt, dass hier auch die Franzosen, Belgier, Polen vernichtet wurden“ [Schnitt]. Thernes, die Dolmetscherin unterbrechend: „Ja, Juden, das weiß ich, das habe ich gehört.“ Kommission: „Also haben die Deutschen in diesem Lager alle Gesetze der Kriegsführung vernichtet, in diesem Lager.“ Thernes: „Ob das hier mit der Kriegsführung… Das waren meistens Juden. Das waren keine Gefangenen.“ [Schnitt] Thernes: „ich habe nie jemanden geschlagen, ich bin kein Sadist […] noch nie […] nie Sadist gewesen“.

438 Shneer 2010, S. 165. Dies sind vermutlich Štatlands Aufnahmen (Montageliste Nr. 1134, 27.8.44). 439 Thernes verschweigt, dass in der Frühzeit des Lagers Lublin eine große Anzahl sowjetischer Kriegsgefangener entweder erschossen oder unter menschenunwürdigen Umständen eingesperrt worden waren und verhungerten. 440 Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess interessiert sich der sowjetische Hauptankläger Rudenko in erster Linie für sowjetische Kriegsgefangene, wie etwa in der Befragung von F. Boix zu Mauthausen am 29.1.46: https://www.roberthjackson.org/nuremberg-timeline/#011946 [1.9.2019] 291

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Wenn man das 1944 archivierte Filmmaterial genauer studiert, fällt auf, dass die uniformierte Dolmetscherin Thernes’ Aussagen zu den Juden nicht übersetzt, sondern direkt zur falschen Übersetzung des Satzes „ich habe nie jemanden geschlagen“ mit „on nikogo ne ubil [erschlagen]“ (vgl. auch Majdanek 1944 – Opfer und Täter, 1:55-24:00) übergeht. Die Aussage zu den Juden wurde nicht in die Filme aufgenommen, was zur Unvermitteltheit des Satzes zu den Kriegsgefangenen beiträgt.441 Danach spricht SS-Rottenführer Theodor Schollen, der die Ermordung von Kindern in der Gaskammer erwähnt, dann äußert sich der Lubliner Chemiker Leutnant Tadeusz Budzyń, auf Polnisch. Ein weiterer Pole, in Zivil, schildert die Tarnung der Gaskammer als Bad, danach folgt Kudrjavcev, der stellvertretende sowjetische Vorsitzende der Kommission und Vertreter der technischen Expertenkommission, der auf Russisch erklärt, dass hier ca. 2 Millionen Unschuldiger „die besten Leute der europäischen Länder“ ermordet worden seien – die auf Hochrechnungen, die sich auf die Zahl der gefundenen Effekten stützten, basierende Zahl war in Bezug auf das KL Lublin überhöht, näherte sich jedoch in etwa der Gesamt-Opferzahl der von Globocnik geleiteten „Aktion Reinhardt“ in Treblinka, Sobibor und Belzec an. Das Wort von den „besten Leuten“ aus Europa ist hier ein non sequitur, denn zu Beginn des Films war auf Polnisch von den besten „Söhnen der Nation“ die Rede gewesen. Dann sieht man eine Exhumierung, gefolgt von einem Schwenk über das am Rande des von den Gefangenen ausgehobenen Massengrabs sitzende Lagerpersonal bzw. Funktionshäftlinge: teils in abgerissenen Uniformen, teils in vatniki, wattierten Jacken, wie sie in sowjetischen Lagern getragen wurden (RU: 2:31). In der russischen Version wird die Kommission ebenfalls vorgestellt, aber nicht namentlich (offensichtlich ist die von Sof’in in VS 1104 angekündigte Identifikationsliste nie in Moskau angekommen), lediglich die als Polen markierten ehemaligen Lagerinsassen Stanislawski und Budzyń werden genannt. Danach folgt der erwähnte Kapo Heinz Stalp („Kapo“ wird als „Kampfpolizei“ entschlüsselt), der das KZ als ein „Vernichtungslager“ bezeichnet, wobei man sich hier nicht sicher sein kann, ob er den Sowjets nicht nach dem Mund redet. Während dem polnischen Zuschauer europäische Majdanek-Insassen im Originalton (französisch, flämisch, deutsch)442 vorgeführt werden, bekommt das sowjetische Publikum v. a. auf Russisch übersprochene polnische „ehemalige Gefangene“ in Zivil bzw. in Uniform gezeigt, jedoch keine „Europäer“ in gestreiften Jacken der politische Häftlinge. Die versehrten Kriegsgefangenen, die immer in einer Menschenmenge zu sehen sind und zwischen die andere Bilder montiert werden, bleiben in beiden Fassungen namenlos, ohne nationale Zuordnung und unerklärt: Im universalisierenden Gestus aufgenommene Kriegsversehrte.

441 Vgl. auch die Analyse dieser Stelle in Hicks 2012, S. 165, die ihm als wichtigstes Argument zur Unterdrückung der Aussagen von Juden beim Filmdreh dient. 442 Die Sprachen sind in der polnischen Fassung: Französisch, Flämisch, Polnisch, Deutsch bzw. Österreichisch. Der deutschen Sprache bedienen sich in dieser Fassung also sowohl Opfer als auch Täter.

6.1 Unterschiede zwischen der polnischen und der russischen Version

293

Zurück zur polnischen Version: Nach den Exhumierungen folgen Luftaufnahmen, die in der russischen Fassung fehlenden ironischen „nur für SS“-Orte, d. h. Kneipen, Kantinen, Bordelle (diese Information wurde dem Sowjetpublikum vorenthalten), Klosette („Knajpy też, kantyny też, domy publiczne też, nawet klozety dla SS!“),443 das in einen mit Stacheldraht umwundenen Holzpfahl eingeritzte „Deutschland über alles“, die Kamera zeigt – in Abweichung von der russischen Version – „Bad- und Desinfektion I“ und schwenkt zu „Bad- und Desinfektion II“ (Verwendung des deutschen Worts „Badeanstalt“, das in diesem Fall das gesamte Gebäudeensemble der Baracke 42 beschreibt), Zyklon B, das Guckfenster, die „Todesfabrik (fabryka śmierci) ist gut organisiert“, Schornstein, Krematorien, Schild der Fa. Rechkemmer, Schädel, Ringe, Schuhe, Handschuhe, Spielzeug, die Kommission schreitet über Schuhe, weinende Frauen. Es folgen Fotos der Opfer (darunter Bilder der katholischen Erstkommunion mit Kreuzen und Kerzen), deutscher Kohl gedeiht auf sterblichen Überresten, Urnen mit Asche. Ein Insasse dankt auf Französisch den russischen und polnischen „Kameraden“. Dann der „Majdanek-Häftling aus Holland“ (in den polnischen Untertiteln: „Holender“), der auf Deutsch sagt, man hätte seine gesamte Familie getötet; er sagt: „Ich bin nach Majdanek gekommen und habe Vieles mitgemacht“. Kriegsversehrte mit Krücken, der Majdanek-Häftling aus Belgien (spricht flämisch/niederländisch), Pässe, hier in Bossaks Kommentartext die sarkastische Bemerkung: „die Deutschen wären gerecht gewesen“, sie hätten „alle Rassen und Nationalitäten“ eingesperrt. Ein als „Österreicher“ („Austryak“) bezeichneter ehemaliger Häftling erklärt die Funktion „von dem gewesenen Krematorium.“ (In der russischen Fassung wird er zum Tschechen erklärt, vgl. Kap. 8). Zum Schluss, wie in der russischen Fassung: das Lubliner Schloss, „Rota“, ein traditionelles polnisches Heiligenbild der Schwarzen Madonna und die Trauerfeier am 6.8.1944 in Lublin. Insb. in der polnischen Fassung rahmt die Stadt bzw. das Schloss Lublin als nationales Emblem des befreiten Polens den Anfang und das Ende. Aufgerufen wird zum Kampf gegen den Feind im Westen: „Na zachód – w ślad za ustępującym nieprzyjacielem płyną słowa pieśni, która stała sie modlitwą i przysięgą Polski Walczącej. /Śpiewają Rotę/.“ (PV [FINA]) Hannah Maischein (2015, S. 178) weist als eine der wenigen auf die Aporien des Gedenkens an die jüdischen Opfer hin: das polnische Publikum definierte die Opfer „über die Täter“ und „diejenigen, die ihrer gedachten“, wurden „unter die ‚polnische Nation‘ subsumiert.“ Maischein (2015, S. 178) sieht im Ende der polnischen Fassung eine Unkenntlichmachung der „jüdischen Identität von rund 75 Prozent der Opfer dieses Lagers“: „Der Film endet mit einem katholischen Beerdigungsritus vor dem Lubliner Schloss, bei dem ein großes Holzkreuz, ein Bild des nationalen Symbols der Schwarzen Madonna von Tschenstochau sowie Nonnen in Nahaufnahme gezeigt werden.“

443 Dass auch Gefangene mit der Aussicht auf Sex mit Lagerprostituierten zu Leistungen animiert wurden, wird nicht erwähnt. Himmler „erklärte im März 1942, dass den fleißig arbeitenden Gefangenen Weiber in Bordellen zugeführt werden sollen. […] Himmler wurde so zu einem Zuhälter, der die betroffenen Frauen gnadenlos ausbeuten ließ.“ (Friederichs 2009) Vgl. auch Kogon (1946, S. 194) zu KZ-Bordellen. 293

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6 Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten

Angesichts der Gepflogenheiten in der Kościuszko-Division kann man eine Dejudaisierung der Opfer durch katholische „Bilder“ jedoch kaum den Filmleuten zuschreiben, sondern sie liegt bereits in jener Wirklichkeit vor, die Ford und seine Kollegen nur abbilden. Ein heute adäquat erscheinender Umgang mit jüdischen Opfern war in dieser Region und dieser Armee zu dieser Zeit aus verschiedenen Gründen kaum zu finden.444 Klemens Nussbaum (1991, S. 206) schreibt über Juden in seinem Artikel „Jews in the Kościuszko Division and First Polish Army“: With no respect for Jewish religious and national feelings they were ordered to take part in the morning and evening roll-calls, where they all said Christian prayers together. Those who fell on the battlefield were not buried according to Jewish rituals but together with all the others and a cross was placed on their graves.

Atmosphäre und Affekt der beiden Filme sind unterschiedlich: Während in der polnischen Version ein emotionaler, pathetischer Ton445 vorherrscht, voller Trauer gemischt mit verzweifelter Ironie, findet sich in der russischen Version die sachliche Sprache einer Abrechnung, jedoch in hoch-dramatischer Form. Sie ist durch die Schilderung der Topografie und von Opferstatistiken (ohne innerhalb der Opfergruppen zu differenzieren, etwa nach Sowjetbürgern), also von Zahlen und Bildern von Effekten und geraubten Gegenständen bestimmt – offensichtlich im Hinblick auf die Vorgaben der Kommission, die auf die Anklage fokussiert war. In der russischen Version ist nur stellenweise der für sowjetische Propagandafilme dieser Zeit typische sarkastische Ton zu vernehmen, so etwa, wenn die Aufschrift „Deutschland

444 Verantwortlich dafür war nicht nur der Genozid an den Juden, der auch die Rabbis eliminiert hatte, sondern auch die anti-religiöse Doktrin des sowjetischen Leninismus, die besagte, dass die Abschaffung der Verfolgung der Juden ihre Assimilation herbeiführen würde, und so das „jüdische Problem“ beseitige (Pinchuk 1991, S. 125). Pinchuk (ibid., S. 130–1) demonstriert, wie es durch die systematische Eliminierung jüdischen Gemeindelebens in den ostpolnischen Kresy, die vor dem Einmarsch der Wehrmacht 1941 nahezu zwei Jahre sowjetisch besetzt waren, zu einem Niedergang der jüdischen Kehilla kam. Die „leaderless Jewish population“ geriet unter sowjetischer Besatzung in einen gefährlichen Zustand der Desinformation bezüglich der nationalsozialistischen Ziele, der dazu führte, dass viele Juden auf eine Flucht vor der nahenden Wehrmacht, die sie als Boten der Zivilisation und des Gesetzes missverstanden, das sie gegen die sowjetische Willkür verteidigen könnte, verzichteten. Vgl. auch Rapoports Kapitel (1992, S. 71ff) „Verweigerte Rettung. Stalin und Hitler opfern die Juden“, die sowohl ahnungslose Juden in der UdSSR wie auch Polen betraf bzw. jüdische Kommunisten, die Stalin in Brest-Litovsk an die Gestapo übergeben ließ. 445 Zum Pathos der evidentia vgl. Kap. 3.2.1. Ania Szczepanska (2015) spricht von lyrischen und philosophischen Akzenten „très forts accents lyriques und une réflexion d’ordre philosophique“ in der polnischen Version. Von Szczepanska stammt der erste Vergleich der beiden Fassungen, eine detaillierte filmwissenschaftliche Analyse der verschiedenen Versionen und v. a. ihrer Soundtracks steht noch aus.

6.1 Unterschiede zwischen der polnischen und der russischen Version

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über alles“ auf deutsch vorgelesen wird.446 Entsprechend haben die Komponisten die beiden Versionen mit je verschiedenen symphonischen Kompositionen illustrativer Art versehen: Während die Anfangsbilder der polnischen Version musikalisch einmarschieren, begleitet in der russischen Fassung nach einigen düster-einschüchternden Takten eine Polka das Einrollen der Panzer in Lublin. Die polnische Fassung erhält zudem eine Musik, die an Prokof’ev erinnert – sowohl an das Ballett Romeo und Julietta (1935) als auch an seine Filmmusik zum sowjetischen Film Ivan Groznyj / Ivan der Schreckliche aus den 1940ern. In der polnischen Fassung wird die Ermordung durch Zyklon B detaillierter und eindringlicher geschildert. In Minute 15 wird der Unterschied zwischen Dusche und Gaskammer erläutert, in diesem System der realen wie metaphorischen Hygiene „triumphiert ‘Deutschland über alles’!“ („Triumfuje ‘Deutschland über alles’!“): Die SS achtet auf die Hygiene im Lager. Es gibt einen Baderaum Nr. I – da baden die Häftlinge. Und gegenüber steht Badeanstalt Nummer II, das blutigste Badehaus, das die Menschheit kennt. Ale nie zapomniano i o więźniach – SS dba o higienę w obozie. Tu w łaźni Nr. 1 – Badeanstalt Nummer eins – więźniowie się kąpią. Naprzeciwko jest Badeanstalt Nummer zwei – najbardziej krwawe kąpielisko, jakie znała ludzkość. (PV [FINA], hier mit arabischen statt römischen Ziffern)

Die Täuschungsabsicht der SS, die sich ähnelnde Holzbaracken multifunktional einsetzte, wird in der polnischen Version erklärt und entblößt. Sie bezog sich in erster Linie auf diejenigen Neuankömmlinge, die der genozidalen Vernichtung zum Opfer fielen, hatte aber auch eine Tarnfunktion im Hinblick auf die anderen Häftlinge; in manchen Fällen diente das „Badehaus“ zum Vorzeigen bei Besuchen deutscher Inspektoren des Lagers, die nicht mit Gaskammern konfrontiert werden wollten. Einer der entscheidenden Unterschiede zwischen den beiden Fassungen besteht in der Schilderung der Badebaracken und Gaskammern. In der polnischen Fassung ist nur von Zyklon B, nicht von Kohlenstoffmonoxid die Rede, und auch der Schaltraum mit den Giftgasflaschen kommt nicht vor, in der sich das vergitterte Guckfenster (Abb. 4.9) befindet. Beide Fassungen jedoch zeigen das Guckfenster, was in der polnischen Fassung zu einer Verzerrung der Repräsentation des Grundrisses der Baracke 42 führt, da man fälschlich annimmt, dass die SS-Männer die Vergasung mit Hilfe von Zyklon B durch das vergitterte Fenster hindurch beobachtet hätten. War die Betonung des Kohlenmonoxids in der Fassung für das sowjetische Publikum dadurch bedingt, dass dieses auch in der besetzten UdSSR in Gaswägen (dušegubka) eingesetzt wurde und der Bevölkerung bekannt war? Abgase als Betäubungs- oder Mordmittel wurden jedoch nicht nur von den deutschen Besatzern angewandt, sondern auch dem sowjetischen Geheimdienst angelastet, beispielsweise bei Transporten von Opfern auf den Schießplatz in Butovo südlich von Moskau im Kontext der Parteisäuberungen des NKWD vor dem Krieg (zur Camouflage wurden diese

446 Weitere deutsche Begriffe sind „Vernichtungslager“, „Abspritzen“, „Vergasen“ und „Sonderbehandlung“. 295

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6 Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten

Kastentransporter mit den Worten „Brot“ und „Fleisch“ beschriftet).447 Unter Umständen konnte ein Film über deutsche Gaskammern den Gerüchten über in der UdSSR erfundene Abgasmethoden entgegenwirken. Die Ermordung mit dem Insektizid Zyklon B entspricht eher der Kapitalismuskritik, die Majdanek als „Fabrik des Todes“ und der „Vernichtung“ darstellt, d. h. den Massencharakter der industriell betriebenen Ermordung durch Chemie als Geschäftszweig der Chemienunternehmen während des Kriegs448 und die Reduzierung der Menschen auf Ungeziefer betont. Im Gegensatz zu Zyklon B kann eine Kohlenstoffmonoxid-Vergiftung auch im Alltag oder in der Arbeitswelt vorkommen: Sie wird durch in einen geschlossenen Raum geleitete Abgase eines laufenden Motors verursacht oder kommt z. B. im Bergbau vor. Wenn wir davon ausgehen, dass die polnische Fassung die ältere ist, ist diese Verschiebung von der marxistischen Analyse (ursprüngliche Betonung von Zyklon B) hin zum Kohlenstoffmonoxid der dušegubka in der späteren russischen Fassung als eine Verharmlosung der industriellen Ermordung im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ zu bewerten (Abb. 6.5).

Abb. 6.5 Schild „Bad und Desinfektion I“ („das echte Bad“); nur in der polnischen Version: Majdanek – cmentarzysko Europy 447 „Der ehemalige NKVD-Schießplatz bei Butovo ist die größte Exekutions- und Begräbnisstätte der stalinistischen Terroroperationen im Moskauer Gebiet. Zwischen dem 8. August 1937 und dem 19. Oktober 1938 wurden hier, wenige Kilometer südlich von den heutigen Außenbezirken der russischen Hauptstadt, über 20.000 Menschen hingerichtet. Die meisten von ihnen waren Arbeiter.“ (Ekaterina Makhotina, Gedenkkultur „von unten.“ https://erinnerung.hypotheses. org/4946 [2.2.2020]). Die von den Abgasen benommenen Passagiere wurden in Butovo mit Genickschüssen getötet. Ein UNKWD-Mitarbeiter wurde im März 1939 für die Erfindung des Gaswagens zum Tode verurteilt, leugnete dies jedoch ab. (Lidija Golovkova, Specob’’ekt „Butovskij poligon“ (istorija, dokumenty, vospominanija), 12.4.2006. https://web.archive.org/ web/20130323051337/http://archive.martyr.ru/content/view/6/15/ [21.8.2019]. 448 Gesellschafter der Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung m. b. H. (Degesch, d. i. Vertriebsfirma von Zyklon B) waren die Degussa (Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt) und das Chemie- und Pharmaunternehmen IG-Farben.

6.2 Der Appell an die „jüdischen Brüder“

297

Besondere Bedeutung für unsere Fragestellung hat jedoch der Umstand, dass die Erklärung der spezifischen „Badehaus II“-Täuschung, die auf die farnichtung hinweist, in der russischen Version fehlt. Dies geht bereits daraus hervor, dass das „Badehaus I“ in Majdanek. Kinodokumenty nicht einmal genannt wird, während in der polnischen Fassung eigens das „Badehaus II“ als „das blutigste“ hervorgehoben wird. Das Dispositiv des Lubliner „Badehauses II“ (Baracke 42), in dem der mit Hilfe von Täuschung Argloser erleichterte und durch Gas verübte Massenmord an den Juden stattfand, bleibt dem sowjetischen Publikum verborgen. Da die mehr Aufklärung bietende polnische Version der russischen voranging, kann man hier nicht von einer kürzeren Schnittfassung sprechen, in der etwa bestimmte Einstellungen nicht verwendet wurden. Über diese Feinheiten in der Erstellung der polnischen und russischen Version war die deutsche Seite wohl kaum informiert. Jedoch war das Faktum der wochenlangen Dreharbeiten – zum Teil mit Tonkameras – von über einem Dutzend Kameraleuten in Lublin/ Majdanek nicht zu verheimlichen. Rein theoretisch konnte ab September 1944 die gesamte alliierte und neutrale Welt diese moderne Hygiene vortäuschenden Architekturen des Genozids als visuelles Dokument (kinodokument) in Augenschein nehmen. Das Deutsche Reich hatte allen Grund, sich um sein Ansehen in der Welt große Sorgen zu machen. Doch die (Post)Produktion der Majdanek-Filme ging nur schleppend voran.

6.2

Der Appell an die „jüdischen Brüder“ und die Filmpremiere in der Stadt des Lubliner Komitees

6.2

Der Appell an die „jüdischen Brüder“

Die Uraufführung fand erst Monate später statt. Am 26. November 1944 wurde in der Stadt Lublin in den Kinos Apollo und Bałtyk449 am Vorabend der Prozesse mit den deutschen Kriegsverbrechern die polnischsprachige Fassung gezeigt. Beide Kinos hatten eine Beziehung zum jüdischen Lublin. Vor dem Krieg hatte das Kino Apollo der jüdischen Familie Gewerc450 gehört; es wurde später in Wyzwolenie (poln. „Befreiung“) umbenannt. Die Verstaatlichung der Kinos fand laut M. Białous (2015, S. 104) erst im Mai 1945 statt, so dass im November 1944 noch der Vorkriegsname zutraf, wobei

449 Shneer (2010, S. 259) entnimmt dem Artikel „V Liubline načalsja sud nad majdaninskimi palačami“ (Izvestija, 5.12.1944, S. 2), dass die Filmvorführungen in Lublin das Verfahren begleiteten: „The article mentions that the documentary film was playing in the city concurrently with the trial.“ 450 „W tym samym miejscu, w którym w dwudziestoleciu międzywojennym działało kino Apollo, po wojnie było Wyzwolenie. […] kino Apollo, a później Wyzwolenie to ważny fragment historii Lublina. ‚W latach 30. nazywano je jeszcze Colloseum. należało do tatusia pięknej Belli Gewerc, która wyszła za mąż za przystojnego Kuropatwę, syna kupca obuwniczego‘ – tak pisała o niej Marta Denys.“ http://www.kurierlubelski.pl/wiadomosci/lublin/art/9438812,niezwykla-historia-przedwojennych-kin-z-lublina-zdjecia,id,t.html [10.12.2017] 297

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ich nicht feststellen konnte, wer das Filmtheater 1944 leitete und von wem es während des Kriegs arisiert worden war.451 Im Kino Bałtyk fanden vor dem Krieg drei Aufführungen bedeutender jiddisch-polnischer Filme statt, alle im Jahr 1937: der mit chassidischer Folklore das Thema des Exorzismus bearbeitende Horrorfilm Der dibbek / Dybuk (R: Michał Waszyński, 1937), das jiddische Musical Der purim-szpiler (R: Jan Nowina-Przybylski und Józef Green [Grinberg], 1937) und das Remake des von Leo Forbert produzierten Stummfilms Tkies khaf / Ślubowanie / Die Verlobung (Abb. 6.6).

Abb. 6.6 Anzeige für den im Bałtyk laufenden Film Tkies khaf / Ślubowanie / Die Verlobung (R: H. Szaro, Leo-Film) in der Zeitung Lubliner Sztyme, 10, 1937, nr 46, www.polona. pl; Quelle: https://teatrnn.pl/ miastozydowskie/kino-teatrwidowiska/ [10.4.2018]

Der Lubliner Herbst 1944 war von einer Abrechnung gekennzeichnet – dies betraf sowohl tatsächliche als auch angebliche Kollaborateure und die SS-Mannschaft, die wir in den Filmaufnahmen sehen können. Anfang Dezember wurden die deutschen Kriegsverbrecher in Majdanek auf dem Lagergelände öffentlich hingerichtet. Die Moskauer Erstaufführung – auf Russisch – folgte erst über sechs Wochen später, am 4.-12.1.1945452, also einen Monat nach der Vollstreckung des Urteils in Lublin. Woran lag es, dass diese Aufnahmen erst so spät ihre Zuschauer erreichten? Um den politischen Kontext der Film-Produktion wie auch der Vorführung der polnischen Fassung erfassen zu können, bedarf es eines Blicks auf die historischen Ereignisse von Juli bis Dezember 1944. Während im Juli 1944 in Berlin ein gegen Hitler gerichtetes Attentat am 20. des Monats scheiterte, fand im umkämpften und erst zu befreienden Polen eine der tragischsten Phasen statt, die die Geschicke der künftigen polnischen Republik bestimmen sollte. An der Wahrheit über die Ermordung von Juden, die zwar aus Zeugenaussagen bekannt war, in Majdanek ab dem 23. Juli 1944 aber zum ersten Mal vor Ort in Augenschein genom451 Konrad Klejsa hat mir am 11.6.2019 mitgeteilt, dass für ähnliche Fragen A. Fords Bruder Andrzej Liwnicz zuständig war (er arbeitete in der Propagandaabteilung und war für die „Kinofizierung“ Polens zuständig). 452 Hicks 2012, S. 172. Ania Szczepanska (2015) führt an, dass die Erlaubnis zur Aufführung am 18.12.1944 erfolgt ist.

6.2 Der Appell an die „jüdischen Brüder“

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men werden konnte, bestand bei den Alliierten im Juli und August 1944 sozusagen kein unmittelbares Interesse – es sei denn, sie war propagandistisch oder außenpolitisch einsetzbar. Beginnend mit der letzten Juliwoche überstürzten sich die Ereignisse im Gefolge der militärischen Erfolge und der Landnahme im Bezirk Lublin bzw. der sowjetischen Verweigerung der gemeinsamen Einnahme von Warschau und gipfelten in einer neuen Krise der sowjetisch-polnischen Beziehungen. Die folgenden Ausführungen verdeutlichen, welch geringe Rolle die Aufnahmen aus Lublin/Majdanek, also Bilder vom ersten gefilmten Standort des industriellen Judenmords, in der Realpolitik der Alliierten spielten. Zugleich kann man an Hand der sich rapide verschlechternden polnisch-sowjetischen Beziehungen dieses halben Jahres aufzeigen, wie sich die Relevanz des Themas der jüdischen Opfer laufend veränderte bzw. wie von der UdSSR die Vertretung der Interessen der jüdischen Minderheit in Polen und die Rücksicht auf jüdische Vereinigungen im Ausland verschieden stark gewichtet wurden. Hier ist in erster Linie das Jüdische Antifaschistische Komitee zu nennen (Jidišer Anti-Fašistišer Komitet, Еврейский антифашистский комитет), das nach Hitlers Angriff auf die UdSSR von Mitgliedern der sowjetischen Intelligencia auf Veranlassung der sowjetischen Regierung geschaffen wurde, um weltweit Unterstützung aus jüdischen Kreisen für den sowjetischen Krieg gegen das Deutsche Reich zu mobilisieren. Ab 1942 unterstand das Komitee dem Sovinformbüro, das die sowjetische Auslandspropaganda verantwortete (Grüner 2008, S. 58) – d. h. jener Stelle, die für unsere Filme relevant ist (v. a. die polnische und die „Exportfassung“). Die politische Leitung des am 24. Juni 1941 eingerichteten Sowjetischen Informationsbüros lag beim ZK der KPdSU. Es befand sich ab März 1942 in der ehemaligen deutschen Botschaft in Moskau (Roth 1982). Das Sovinformbüro überwachte und formte die Darstellung der Kriegsereignisse für ein internationales Publikum; ab 1944 wurde eine Abteilung für Auslandspropaganda aufgebaut. Über zwanzig Länder wurden mit mehr als 1000 Zeitungen, 500 Zeitschriften und 18 Rundfunksendern beliefert. Bereits am 24. August 1941 hatten namhafte Künstler jüdischer Herkunft einen Aufruf mit dem Titel „Brat’ja-evrei vsego mira“ („Jüdische Brüder der ganzen Welt“) in drei Sprachen – Russisch, Englisch und Jiddisch – verfasst (Hoberman 1991, S. 324); er erschien am 25.8.1941 in der Pravda und war von bekannten Dichtern und Künstlern wie Il’ja Ėrenburg [Ehrenburg], Icik Fefer, Solomon Michoel’s, E. Gilel’s und auch vom Filmregisseur Ėjzenštejn unterzeichnet worden (Grüner 2008, S. 233). Miron Černenko (2000) erwähnt, dass dieses Ereignis am 24.8.1941 zu einem der ersten Sujets des Sojuzkinožurnal (Nr. 84) der Kriegszeit wurde. 1943 begaben sich Feffer und Michoel’s als Repräsentanten der sowjetischen Judenheit auf eine mehrmonatige Reise durch die USA, Kanada, Großbritannien und Mexiko. Laut Rapoport (1992, S. 78) hatte der „Funktionär der Geheimpolizei“ und Ideologe Fefer seinen Kollegen, den jiddischen Poeten Perec Markiš ersetzt, um ein Auge auf Michoel’s zu behalten. Auch Fefer schrieb jiddische Lyrik wie etwa das Gedicht „Ich bin a Jid“ („Ich bin ein Jude“) oder „Schotens fun Warschewer Geto“ („Schatten aus dem Warschauer Ghetto“). In den USA wurden sie von Albert Einstein und dem American Jewish Joint Distribution Committee empfangen (Abb. 6.7–6.8). 299

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6 Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten

Abb. 6.7 Im sowjetischen Konsulat 1943 in den USA: Icik Fefer (Feffer), Sänger und Aktivist Paul Robeson, Michoel’s; Quelle: https://legallegacy. wordpress.com/2017/08/12/ august-12-1952-night-of-themurdered-poets/

Die mehrmonatige Propagandareise brachte Millionen von Dollar aus den bereisten Ländern und aus Palästina für die UdSSR. Gesendet wurde zudem medizinische Ausrüstung, Medikamente, Krankenwagen, Geräte und auch Lastwagen, die für den Erfolg der Operation Bagration von Bedeutung waren (Grüner 2008, S. 64ff).

Abb. 6.8 Der Physiker Albert Einstein mit Dichter Fefer und Schauspieler Michoel’s, USA, 1943; https://commons. wikimedia.org/wiki/ File:Itzik_Feffer,_Albert_ Einstein_and_Solomon_ Mikhoels_1943.jpg

Am 20. November 1948 wurde das Komitee aufgelöst. 1950 wurden zahlreiche Mitglieder vor Gericht gestellt und mehr als ein Dutzend von ihnen am 12.8.1952 (der „Nacht der

6.2 Der Appell an die „jüdischen Brüder“

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ermordeten Poeten“) erschossen. Darunter war auch Ščerbakovs Stellvertreter im Sovinformbüro und später stellvertretender Außenminister der UdSSR Solomon Lozovskij.453 Man kann in Abwandlung der Zeile aus Schillers Die Räuber sagen, dass ab Herbst 1944 jene Phase beginnt, in der die internationale jüdische Solidarität bzw. Hilfe für die Sowjetunion an Bedeutung abnimmt und die tragische Entwicklung, die bereits in den Schauprozessen vor dem Krieg zu beobachten war, anhebt: der Jude hat seine ‚Schuldigkeit getan und kann gehen.‘ Dies betraf später auch Fefer selbst, der zunächst als „Mitarbeiter der Organe“ des NKWD tätig war, und dann aber wie auch die von ihm Überwachten am 12.8.52 erschossen wurde (Rapaport 1992, S. 84).454 Der Film-Offizier A. Ford kehrte aus der UdSSR im Gefolge der von Stalin ausgewählten Elitetruppe zurück, die unter Bolesław Bierut am Ende des Krieges Polen eng an die U ­ dSSR binden sollte. Am 22. Juli 1944 wurde unter Übergehung der Londoner Exilregierung das „Polnische Komitee der Nationalen Befreiung“ (PKWN, ab dem 25.7. auch als das Lubliner Komitee bezeichnet) als neue provisorische Regierung Polens ausgerufen, die ausschließlich von der UdSSR anerkannt wurde, und dies ab Januar 1945, dem Monat, als der Film in Moskau lief. Das PKWN nahm – zumindest zu Anfang – Rücksicht auf Belange der Juden in Polen. Wlodzimierz Rozenbaum (1991, S. 223) schreibt: The PKWN Manifesto […] announced on 22 July, called for an intensified struggle against Germany; “return” of the Ukrainian, Byelorussian and Lithuanian lands; […] It promised confiscation of German property and its distribution among the rightful owners […]. It also declared that “the Jews… will be guaranteed restoration of their communal life as well as equal rights.” […] In August 1944 the PPR Central Committee met in Lublin, liberated by Soviet and Polish troops. It deliberated over the means of securing communist control throughout Poland.

Bolesław Bierut war Vorsitzender des Landesnationalrats (Krajowa Rada Narodowa), die bis zu den ersten Wahlen im Sejm regierte und gesetzgeberische Funktionen ausübte. Bierut 453 Vgl. die Dokumentsammlung zum „Evrejskoe delo“ http://www.languages-study.com/yiddish/ eakizvestiya.html [15.3.2019] 454 Boris Bogen, der die Sowjetunion 1922 besuchte, versucht dieses Phänomen so zu erklären: „Seeing Jews barking at Jews, the dogs of anti-Semitism might be content and seek other objects at which to snap.“ (Zitiert in Hoberman 1991, S. 88). Die Nötigung zur gegenseitigen „Kritik“ bzw. Denunziation jüdischer Mitbürger und Kollegen war eine stalinistische Methode, die in den späten 1940ern perfektioniert wurde und der sich nur wenige entziehen konnten – laut der Schnittmeisterin des CSDF Pumpjanskaja (2003, S. 76–79) gelang dies etwa im Fall der Aburteilung von Dziga Vertov nur dem Regisseur Iakov Posel’skij und seiner Frau Irina Venzer. Die meisten erlagen im Rahmen des inszenierten Vertov-Tribunals im März 1949 dem Druck der Erpressung, wobei Pumpjanskaja unterscheidet, wer Namen nennen musste (Karmen, Kacman/ Grigor’ev, Kogan, wie auch der Leiter der Kinoletopis, Gridasov, der Vertov und Esfir’ Šub als „Formalisten“ mit „antipatriotischen Tendenzen“ bezeichnete, oder Ešurin, der Karmens Wort von Vertovs Interesse nicht am Menschen, sondern der Maschine aufgriff) und wer dies vermeiden konnte (etwa Leonid Kristi). Šub versuchte erfolglos zu vermitteln und wurde daher auch selbst angegriffen. 301

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fungierte in der Stadt Lublin als polnisches Staatsoberhaupt. Vorsitzender des PKWN war der auch in den Montagelisten vorkommende Sozialist Edward Osóbka-Morawski. Ebenfalls in den Filmaufnahmen zu sehen waren der Stellvertretende Vorsitzende des Lubliner Komitees Andrzej Witos („Bund Polnischer Patrioten“) und der parteilose Zionist Emil Sommerstein/Zomersztajn, Leiter des Ressorts für Kriegsentschädigungen beim Präsidium des Ministerialrats,455 später Vorsitzender des im November 1944 gegründeten Centralny Komitet Żydów w Polsce (Centraler Komitet fun di Jidn in Pojln) – beide zudem Mitglieder der Polnisch-Sowjetischen Außerordentlichen Kommission, die uns noch beschäftigen wird (Abb. 6.9). Es fällt auf, dass im Gegensatz zu Witos der Jude Sommerstein in den Montagelisten nicht erwähnt wird (nur im Communiqué of the Polish-Soviet Extraordinary Commission for Investigating the Crimes Committed by the Germans in the Majdanek Extermination Camp in Lublin, Moskau 1944).

Abb. 6.9 Links, mit Vollbart: Sommerstein; Majdanek 1944 – Opfer und Täter

Sommerstein war – ähnlich wie Berling – nach der deutschen Invasion Polens vom NKWD verhaftet und ins Lager geschickt worden, von wo er im Juli 1944 nach Lublin gebracht wurde. Rozenbaum (1991, S. 223) beschreibt die Arbeit des sowjetischen „Bundes Polnischer Patrioten“ (ZPP) im Hinblick auf Sommerstein folgendermaßen: The ZPP worked hard and Stalin could hardly miss the benefits of its labour. It played an important role in the total mobilisation of resources for the war against Germany, but it also significantly contributed to the establishment of a more than friendly government in Poland.

455 „kierownik resortu odszkodowań wojennych“. Polski Słownik Judaistyczny, http://www.jhi.pl/ psj/Sommerstein_Emil Eine Auflistung der Mitglieder des PKWN im „Manifest des Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung vom 22. Juli 1944“ findet sich auf https://www.herder-institut.de/no_cache/bestaende-digitale-angebote/e-publikationen/dokumente-und-materialien/ themenmodule/quelle/1376/details.html [31.12.2015]

6.2 Der Appell an die „jüdischen Brüder“

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In some way, both were achieved by rallying support among Jews in and outside the Soviet Union. Winning the release of Dr. Sommerstein, a former Zionist deputy to the Polish Sejm, from a Soviet labour camp was one of many actions that served such purposes.

Einen wichtigen Beitrag zur Beleuchtung dieses Themas leistet Frank Golczewski in seinem Artikel „Die Heimatarmee und die Juden“. Er weist darauf hin, dass abgesehen von den Hilfestellungen der AK für verfolgte Juden (Żegota), die jüdische Minderheit eine politische Repräsentation in der Exilregierung hatte, nämlich den Zionisten Ignacy Schwarzbart und den Bundisten Zygielbojm (Golczewski 2003, S. 645, 657). Dieser Umstand mag dazu geführt haben, dass auch die sowjetische Seite sich um jüdische Vertreter in der Lubliner Regierung bemühte bzw. die Propaganda-Führung im Sommer jüdische Themen erwogen hat. Man wollte mit der Exilregierung in London gleichziehen. In London war zudem im März 1944 ein „Rat für Angelegenheiten der Rettung der jüdischen Bevölkerung“ gegründet worden (Golczewski 2003, S. 645). Die Situation Ende Juli, und auch noch im August 1944 verdeutlicht, dass zu dieser Zeit nicht nur Bierut, sondern auch Stalin auf eine „jüdische Unterstützung“ (im In- und Ausland) angewiesen zu sein meinte. Nach der erfolgreichen Etablierung des PKWN und der für die polnische Untergrundbewegung tragischen Niederschlagung des Warschauer Aufstands durch SS-Einsatzgruppen, der unter der Führung der Heimatarmee (AK) vom 1.8.–3.10.1944 andauerte, entfiel diese Notwendigkeit. Dies erklärt die Erwähnung der jüdischen Opfer in den sowjetischen oder sowjetfreundlichen Druckerzeugnissen in der ersten Augusthälfte ebenso wie ihr Weglassen in späteren Majdanekdarstellungen, d. h. auch den Filmen. Aussagekräftig ist auch das Telegramm des amerikanischen Botschafters in Moskau, Harriman, der am 19.8.1944 dem Secretary of State berichtet, was die Sowjetische Außerordentliche Untersuchungskommission im Lager gefunden hat, und dass der polnischen Bitte um Einbezug in die Untersuchungsarbeit stattgegeben wurde: Lublin despatch dated August 18 refers to several hours spent by Commission on camp territory and refers to thousands of pieces of evidence examined. It states that 2 million persons entered Majdanek camp, of which only a handful miraculously escaped. Of remainder, only photographs, entries in list of killed, articles of clothing, ashes or bones are left. New evidence is constantly being unearthed. This includes dozens of boxes of passports belonging to Poles, Frenchmen, Dutchmen, Czechs, Greeks, Soviet persons and others. Despatch refers to letter of German firm manufacturing ovens for burning prisoners in which directions are given for use of these ovens. It is estimated that at least 600,000 prisoners were burned in Majdanek ovens. Commission has also begun investigation of graves of Polish war prisoners and local inhabitants shot by Germans in nearby Krembecki Forest.456

456 Foreign Relations of the United States, Volume IV, Union of Soviet Socialist Republics, 1944, Document 3073. 740.00116 EW/8–1944: Telegram. https://history.state.gov/historicaldocuments/ frus1944v04/d1097 [27.11.2019] 303

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6 Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten

Abgesehen davon, dass die Meldung erst 25 Tage nach der Entdeckung des Lagers gemacht wird, ist hier bereits die Unterdrückung des Genozids der Juden gegeben. Weder die grausame „Aktion Erntefest“ noch die jüdischen Opfer in den Gaskammern werden erwähnt, lediglich Polen (Kriegsgefangene und Anwohner), europäische Nationalitäten, Sowjets „und andere“.

6.3

Die verspätete Majdanek-Nachricht und der Warschauer Aufstand

6.3

Die verspätete Majdanek-Nachricht und der Warschauer Aufstand

No, the ‘Lublin Regime’ is no victory for socialism. It is the reduction of Poland to a vassal state … Woe to those who want to maintain their independent views and policies. (George Orwell, Juli 1944)

Um die Bedeutung der Filmaufnahmen einschätzen zu können, ist es notwendig, den Kontext sowjetischer Polen-Politik zu beachten, insbesondere die Gründung des Lubliner Komitees und das Ausbleiben der Unterstützung für den Warschauer Aufstand. Die militärische Befreiung durch die Rote Armee war für Polen zwiespältig, denn sie zog unmittelbare politische Weichenstellungen nach sich. Daher waren die lokal operierenden AK-Truppen, die ihre Befehle von der Londoner Exilregierung empfingen, bemüht, ihr Land aus eigener Kraft von der deutschen Besatzung zu befreien. Doch gerade in den Städten waren sie oft auf eine Zusammenarbeit mit der Sowjetarmee angewiesen – so wurde etwa Wilna/Vil’nius am 13. Juli 1944 mit Hilfe von 6.000 AK-Soldaten befreit, die gemeinsam mit den sowjetischen Truppen der 3. Belorussischen Front kämpften. Doch bereits am nächsten Tag wurde die Heimatarmee von der Roten Armee entwaffnet, und die Offiziere verhaftet (Borodziej 2001, S. 85; hier wurde auch General Serov tätig, der uns noch begegnen wird).457 Im Gebiet Lublin gestaltete sich die Zusammenarbeit der Polen mit der Roten Armee ähnlich: drei Divisionen der Heimatarmee kämpften gegen die Deutschen, unterstützt von der der 2. Sowjetischen Panzerarmee. Obwohl Lublin westlich der 1919 verkündeten Demarkationslinie (später: Curzon-­ Linie) lag, d. h. nicht im bereits 1939 von der Sowjetunion annektierten Gebiet, erfüllte

457 Vgl. hierzu Skrzypek 2002 und die Darstellung des britischen Historikers Hugh Seton-Watson aus dem Jahr 1953: „In Poland the communist party, dissolved by the Comintern in 1938, was revived in 1942 under the name Polish Workers’ Party. Its resistance force, the ‘People’s Army’, played a small part in the Warsaw Rising of August 1944. Communist resistance only began in 1942, and was negligible in comparison with the national effort of the Home Army and Underground Government, controlled by the great democratic parties of Poland, recognising and recognised by the Polish government in exile. This national movement the advancing Russians treated as an enemy: they disarmed units which declared themselves to Russian commanders, in some cases they shot their officers.“ (Hugh Seton-Watson 1953, S. 217–218)

6.3 Die verspätete Majdanek-Nachricht und der Warschauer Aufstand

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sich die Hoffnung der AK-Kommandeure, dass die Rote Armee sie gerade in Lublin als ebenbürtig behandeln würde, nicht. Zudem ließen die Westmächte die Entwaffnung der Soldaten ihres polnischen Verbündeten widerspruchslos geschehen. Dies trug dazu bei, dass das AK-Kommando die Erhebung in Warschau aus eigener Kraft organisieren und mit Untergrundkräften die polnische Hauptstadt befreien wollte. Die sowjetische Seite erweckte dabei nach außen hin trotz der Entwaffnungen der AK den Eindruck, sie unterstütze den bevorstehenden Aufstand in Warschau. Laut Borodziej (2001, S. 107) sendete Radio Moskau am 29. Juli einen polnischen Aufruf an die Bürger Warschaus, sich dem Kampf gegen die Deutschen anzuschließen. Doch Marschall Rokossovskij, der eine Strategie vorgelegt hatte, die eine Befreiung Warschaus bis zum 10.8.1944 in Aussicht stellte, konnte der AK nicht zur Hilfe kommen – es ist unklar, wer diese Entscheidung getroffen hat, die politische oder die militärische Führung der UdSSR (Davies 2008, S. 626, Borodziej 2001, S. 127). Am 31. Juli 1944 bewog eine Meldung des AK-Nachrichtendiensts über sowjetische Panzer im Warschauer Stadtteil Praga östlich der Weichsel den Oberbefehlshaber der AK in Polen, General Tadeusz Bór-Komorowski, im Einvernehmen mit der Delegation der Exilregierung aus London, den Befehl zu geben, den Aufstand in Warschau zu beginnen. Alle AK-Verbände sollten am 1. August um 17:00 Uhr zeitgleich gegen die deutschen Besatzer losschlagen. Laut Borodziej (2001, S. 97) hatte diese Aktion auch das Ziel, die polnische Unabhängigkeit gegenüber der Sowjetunion medienwirksam vorzuführen. Die AK veranlasste Filmaufnahmen des Aufstands, geleitet von Antoni Bohdziewicz (1906 Vilna – 1970 Warschau). Gemeinsam mit Kollegen aus der avantgardistischen Filmgenossenschaft START hatte er 1938 das Drehbuch zur polnischen Filmkomödie Strachy / Geister geschrieben.458 Die Gruppe produzierte drei Nummern und nahm über 30.000 Filmmeter auf, die die Kämpfe um Warschau festhielten. Der erste Untergrund-Chronikfilm wurde am 13. August 1944 mit dem Titel Warszawa walczy / Warschau kämpft (Schnitt: W. Kaźmierczak) im Warschauer Kino Palladium in der Złota-Straße gezeigt, weitere folgten, die dritte Nummer am 28.8.1944.459 Auch wenn W. Forbert sich später im Film Man med kamera Kamera (1995) mit Sympathie daran erinnern sollte, dass „Widerstandskameraleute der AK filmten und viele von ihnen fielen“, standen ab August 1944 Mitglieder von START auf verschiedenen Seiten der Barrikaden, die damals jedoch kaum öffentlich als solche verhandelt werden konnten. Die Beziehung zwischen den AK-Filmleuten und den Sowjetfreundlichen verkomplizierte sich dadurch, dass auch die Heimatarmee bereits früh vom sowjetischen Geheimdienst unterwandert wurde („Der Hauptauftrag des NKGB-NKWD bestand vor allem darin, die Führer der Heimatarmee, Funkgeräte, Waffen und Druckereien zu ermitteln.“ Kołakowski 2003, S. 207). 458 http://www.filmpolski.pl/fp/index.php?osoba=119357. Vgl. das dokumentarische Filmporträt der Dozenten der Filmschule Łódź Eugeniusz Cękalski. Antoni Bohdziewicz. Andrzej Munk (1978). http://www.filmpolski.pl/fp/index.php?film=426806 . [6.6.2017] 459 http://www.warsawuprising.com/timeline.htm und Zeittafel in Chiari 2003, S. 876–877. [6.6.2017] 305

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Lars Jockheck (2003, S. 448, 467, 470) wiederum schildert die psychologische Beeinflussung der Warschauer Bevölkerung durch deutsche „Zersetzungspropaganda“. In einer „schein-illegalen Ausgabe“ des polnischen Untergrunds vom 2.9.1944 wurde auf demoralisierende Weise der Aufstand als „schrecklicher Fehler“ bezeichnet. Jockheck (2003, S. 437) erwähnt die Presse als „Hauptträger der Propaganda“, später zunehmend „Plakate und Durchsagen über […] Lautsprecher-Rundfunk“ da die Radioempfänger 1939 beschlagnahmt worden waren (Jockheck 2003, S. 438, 450).460 Die Medien spielten Ende Juli bzw. Anfang August also eine zentrale Rolle bei der Inkenntnissetzung der Welt über die Verhältnisse in Warschau wie auch der polnischen Bevölkerung, sowohl derjenigen in Warschau, als auch der bereits von deutscher Besatzung befreiten in der Wojewodschaft Lublin. Und der tapfere Kampf der Medienmacher in Warschau richtete sich keineswegs nur gegen die deutschen Besatzer, sondern polnische Untergrundmedien hatten sich nun auch mit der sowjetischen Propaganda auseinanderzusetzen – alle sowjetisch erstellten oder lancierten Berichte über die Befreiung des „Todeslagers Majdanek“ ab August 1944 gehören dazu. Sie dienten im lokalen Kontext als Ablenkung von den aktuellen Ereignissen in Warschau.461 Bedauerlicherweise folgte auch die britische Berichtserstattung dieser Vorgabe, worauf jüngst auf dem Portal Culture.pl des Adam Mickiewicz-Instituts hingewiesen wurde: […] a Polish uprising against the Germans had been expected – though when action broke out, radio transmissions from the Polish Section were chaotic, and remained so for the first few weeks of fighting. A cable declaring that the uprising had begun had arrived to Polish telegraphists at Barnes Lodge in London on 1st August 1944 but, having no authorisation from the Polish Home Army (Armia Krajowa, or AK), it was ignored. The following day, General Tadeusz Bór-Komorowski, the commander of AK, released a statement confirming the beginning of the uprising, and the Polish government-in-exile began to circulate the information. That afternoon, the Polish Section gave a bulletin on developments, though most information was from Radio Polskie or from Churchill’s speech given earlier in the day, in which he had referred to the Russian forces as liberators. Indeed, this was a sad trend marking both the Polish Section and the BBC Home Service’s coverage of the early days of fighting. On 3rd August, the Polish Section gave the impression that the AK were working with an increasing advance by the Russians, and were in contact with the Soviet command. The

460 Jockheck (2003, S. 460) konstatiert: „Daß die Aktivitäten der deutschen Propaganda vor dem Hintergrund der Entdeckung der Gräber von Katyn nicht völlig wirkungslos waren, zeigen Bemühungen des polnischen Untergrunds, auf vielfältige Weise eine Gegen-Propaganda zu entfalten. Dazu gehörte z. B. ein nachgemachtes Plakat der „Hauptabteilung Propaganda in der Regierung des GG“, das im Zusammenhang mit der Propaganda-Reise einer Gruppe von Polen nach Katyn im April 1943 ankündigte, es werde ‚in nächster Zeit ein analogischer [!] Ausflug nach dem Konzentrationslager in Auschwitz für ein Komitee [!] aller im GG beheimateten Volksgruppen organisiert‘ siehe die Reproduktion in Prawdziwa historia Polaków […], Bd. 2, S. 1019.“ 461 Jockheck (2003, S. 468) zitiert einen Artikel der kollaborierenden polnischsprachigen Presse des Generalgouvernements (GG) mit dem bezeichnenden Titel „W Lubelszczyźnie szaleje propaganda bolszewicka“ [Im Lubliner Land wütet die bolschewistische Propaganda], Goniec Krakowski, Nr. 217, 16.9.1944.

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next day, Bór-Komorowski cabled London to inform them this was not the case. Days later, a report that the Russian effort had quietened down was censored. Radio Polskie broadcast a statement from Bór-Komorowski that Warsaw had not received any help from the Russians, but the Polish Section was silent.462

Jockheck (2003, 464) bemerkt, dass die von der Besatzungsmacht überwachte polnischsprachige „offiziöse Presse des GG [Generalgouvernements]“ den Aufstand nicht erwähnte, erst am 15.8.1944 erschien im Goniec Krakowski ein mit J. K. gezeichneter Leitartikel, der die deutsche Besatzung zwar negativ darstellte, aber doch als weniger grausam als die drohende sowjetische; in einer „eigentümliche[n] Mischung von Rechtfertigung und Drohung“ heißt es: „Im übrigen gehe es den polnischen Gefangenen in Auschwitz immer noch besser, als es Hunderttausenden von 1939 bis 1941 von den Sowjets verschleppten Polen ergangen sei.“ (ibid.) Man kann hierin wohl eine Reaktion auf die Majdanek-Presse oder die Dreharbeiten erblicken. Im Herbst war Majdanek bereits auf beiden Seiten der Front zu einem universalen Begriff deutscher Verbrechen geworden. So findet sich in der für das besetzte Ausland hergestellten russischsprachigen Fassung der internationalen Auslandstonwoche Nr. 690 der UFA im November 1944 eine Einstellung, die ein sowjetisches Propaganda-Plakat im ostpreußischen Goldap (Gołdap) mit der russischen Aufschrift „Kämpfer! Verzeihe Majdanek nicht, räche dich rücksichtslos an der Bestie (otomsti zverju)!“ zeigt.463 Die deutsche Propaganda weidete die zwei Monate währende Rückerroberung Goldaps durch die deutsche Wehrmacht am 15. November aus. Laut einer Berechnung von Fabian Schmidt lief die Nr. 690 entweder am 29.11.1944 oder am 6.12.1944, d. h. parallel zum Majdanekfilm im sowjetisch besetzten Lublin oder während des Prozesses. Eine im Bundesarchiv aufbewahrte Fotografie bildet das nämliche Motiv sorgfältig ab (Abb. 6.10).

Abb. 6.10 Deutsche Foto-Dokumentation der sowjetischen Majdanek-Propaganda in Ostpreussen „With Maidanek‘s memory unceased, fighter, wreack more havock on the beast!“; Bundesarchiv Bild_146-1987-062-17A https:// commons.wikimedia.org/ wiki/File:Bundesarchiv_ Bild_146-1987-062-17A,_ Ostpreu%C3%9Fen,_Goldap.jpg 462 Juliette Bretan 2019, basierend auf Agnieszka Morriss’ The BBC Polish Service During the Second World War (2015). 463 Film-document № 55499 auf der Seite https://www.net-film.ru/en/film-55499/?search=qMajdanek [29.8.2019] Für diesen Hinweis danke ich Fabian Schmidt. 307

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Doch zurück zur NS-Propaganda während des des Warschauer Aufstands, die Jockheck (2003, S. 466) analysiert: Die Propaganda-Führung konnte nicht zuletzt dank der unermüdlichen Aktivitäten weniger polnischer Kollaborateure noch einmal ihr ganzes Arsenal aufbieten: Rundfunk, Film, Flugblätter, Broschüren, zahlreiche neue Zeitschriften und Redner streuten ihre Botschaften bis zum Winter 1944/45 in bisher nicht gekannter Masse und Breite unter die Bevölkerung.464

In dieser Situation des medialen Propagandakriegs an zwei Fronten organisierte der polnische Untergrund Dutzende von Zeitungen und andere konspirative Druckerzeugnisse,465 eine Langwellen-Radiostation namens Błyskawica (poln. „Blitz“), die ab dem 8. August 1944 sendete und Paris zu seiner Befreiung gratulierte: am 24.8.1944 wurde eine Polonaise von Chopin gesendet.466 Błyskawica war auch die Bezeichnung einer 1942 von Wacław Zawrotny entwickelten Maschinenpistole, die die Heimatarmee ab 1943 produzierte und in der Aktion Burza (poln. „Sturm“) verwendete (Abb. 6.11).

Abb. 6.11 Die Maschinenpistole der Heimatarmee, genannt Błyskawica https://commons. wikimedia.org/wiki/ File:Uprising_defender.jpg

464 Allerdings fehlt in diesem instruktiven Artikel, der sich auf gedruckte Propaganda beschränkt, die Analyse der modernen Medien (Rundfunk und Film). 465 Cieślakiewicz/ Falkowska/ Paczkowski 1984, S. 205. Drozdowski/ Maniakówna/ Strzembosz/ Bartoszewski, 1974. Vgl. auch Borodziej 2003, S. 255ff. 466 Aus der Ulica Jasna (Zeittafel in Chiari 2003, S. 876–877 und http://www.warsawuprising.com/ paper/radio.htm. Dort zum Download „Address from fighting Warsaw to (just) liberated Paris in French.“) Die Błyskawica sendete bis zum 4.10.1944, einige Tage nach der Kapitulation der Aufständischen.

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Die Aktion Burza hatte das Ziel, eine polnische Armee aufzubauen, die deutschen Besatzer zu vertreiben und zugleich zu vereiteln, dass die einrückenden sowjetischen Truppen eine pro-sowjetische Regierung in Polen etablieren. In Lublin fand sie vom 20.–29. Juli 1944 statt, in der Region Lublin hatte sie bereits etwas früher begonnen.467 Ähnlich wie das Gewehr war die Radiostation Błyskawica eine effektive polnische Waffe. Die international ausgerichtete Błyskawica sendete Informationen, Nachrichten, patriotische Aufrufe und bat auf Polnisch, Englisch, Deutsch und Französisch darum, den Aufständischen in Warschau zu Hilfe zu kommen. Home Army clandestine radio station ‘Lightning’ (Blyskawica) starts broadcasting at the frequency of 32.8 and 52.1 meters, followed on August 9 by a civilian Polish Radio at the frequency of 43.4 meters. Both stations will remain on the air until the end of the Uprising. http://www.warsawuprising.com/timeline.htm [10.4.2018]

Laut der Webseite Warsaw Uprising, auf der man die originalen Sendungen hören kann, handelte es sich bei den polnischen Sendern um die einzigen freien Radiostationen des Widerstands auf deutsch besetztem Gebiet in Europa: Two clandestine radio stations, military ‘Lightning’ and the civilian Polish Radio, were the only free stations broadcasting from the German-occupied territories during World War II. The ‘Lightning’, broadcast in Polish, English, and German, was on the air four times a day between August 8 and October 4, 1944. Typical programs included reports from embattled Warsaw, appeals for assistance, the Home Army’s combat communiques, and patriotic songs and poems. ‘Lightning’ broadcasts could be caught as far away as New York City. http://www.warsawuprising.com/paper/radio.htm [10.4.2018] (Abb. 6.12)

467 Vgl. Mazur 2003 und das von B. Chiari und J. Kochanowski (2003) herausgegebene Werk zur Heimatarmee. Vgl. auch den Wikipedia-Eintrag zu Burza, in dem es heißt, dass Belzec am 21.7.1944 von der AK befreit wurde: „Operation Tempest in the area of Lublin took place in the final two weeks of July 1944. The Home Army created there such units, as 3rd Infantry Division, 9th Infantry Division, 15th Infantry Regiment, also units of Bataliony Chłopskie and other resistance organizations, plus 27th Home Army Infantry Division (Poland) from the province of Volhynia. Altogether, Polish forces in the region had some 20 000 men. […] Poles cooperated with Red Army guerillas, which also operated in the area. In the south (the region of Zamość), 9th Infantry Regiment under Major Stanislaw Prus liberated the town of Bełżec (July 21). Together with the Soviets, they captured Tomaszów Lubelski.“ https://en.wikipedia. org/wiki/Operation_Tempest [1.1.2019] 309

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Abb. 6.12 Untergrund-Radio Błyskawica; http://www.warsawuprising. com/paper/radio.htm [10.4.2018]

Auffällig ist in diesem Zusammenhang der Zeitpunkt der Veröffentlichung der ersten Nachricht über die Entdeckung des Lagers in Lublin. Sie folgt nämlich unmittelbar auf die Inbetriebnahme der Rundfunk-Station – einem weder von Hitler noch von Stalin kontrollierten Massenmedium, das sowohl über das von den Deutschen angerichtete Blutbad in Warschau berichten als auch über die Inaktivität der Roten Armee auf der anderen Seite der Weichsel informieren konnte. Wir haben bereits erwähnt, dass der erste Artikel am 10. August 1944, mit dem Titel „Lager‘ uničtoženija“ („Vernichtungslager“) in der sowjetischen Zeitung Krasnaja zvezda erschien, und auch im Radio gesendet wurde (Hicks 2013, S. 242), d. h. erst nach der Errichtung der ersten unabhängigen polnischen Rundfunkstation und wenige Tage vor den ersten Untergrund-Filmchroniken am 13.8.1944. Juliette Bretan (2019) weist in ihrer Darstellung der BBC-Berichterstattung über den Aufstand darauf hin, dass auch dort bis September wahrhaftige Nachrichten fehlten: By mid-August, the RAF were dropping supplies over Warsaw, and Bór-Komorowski thanked the pilots in a broadcast on the Polish Section. Yet the rising was not covered in detail and other military efforts took priority, with conflicting and confusing reports on the Russian effort on the right-bank of the Wisła river complicating proceedings. Around this time, however, the BBC began to broadcast reports from the insurgents’ radio station, Błyskawica, with 77 broadcasts from the station going out in English over the uprising period. Coverage of a lack of Russian support for the uprising only appeared in early September with the Polish Section’s press review, which included articles from various national and regional papers criticising the Soviet action. Yet the section did continue to suggest the Russians were still moving towards Warsaw.

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Bretan erwähnt eine britische Sendung vom 4.9.1944, die sich an die Juden in Warschau wandte und in der „Tremblinka“468 und „Majdanka“ (=Genitiv) erwähnt werden, die zeigt, wie unbekannt sechs Wochen nach der Befreiung diese Lagernamen noch waren: On 4th September, the section broadcast a talk by the Bund’s Emanuel Scherer, addressed to the Jews of Warsaw: You, who have gone through the hell of anti-Jewish tortures by the German occupation – and you who have gone through the Battle of the Warsaw Ghetto – and you working till now in hiding – and all you who fight with arms in your hands at the side of your co-citizens on the barricades of Warsaw – our homage and respect. You defend, in a terribly unequal battle, the honour of the Jewish race and its working class, fighting in the first ranks of the armed, rising in the Warsaw ghetto, being its promoter and its soul… And now for the third time in this war, you are fighting in the streets of Warsaw, under the same unconquered standards of the freedom of our land, nation, and all mankind. Not many of your comrades are able to take part in today’s battle. Tens and hundreds of thousands of Jews, who would undoubtedly have fought had they lived till now, rest in the mass graves at Tremblinki, Majdanka, Belzcz, Sobibora, Oswiecimia, [sic] and so many other places of torture and death. But however few of you comrades are in the ranks of the Home Army – you ARE FIGHTING FOR YOURSELVES AND FOR THOSE WHO HAVE GONE. (Bretan 2019)

Da von der Entdeckung des Lagers bis zur Zeitungsnachricht über zwei Wochen vergangen sind, muss man sich fragen, inwieweit bereits hier ein Vorhalten von Sensationsnachrichten stattfand. Dieser Medienkrieg wurde zwischen der Heimatarmee und der UdSSR469 auf dem Rücken der in der Region Lublin Ermordeten und zum Großteil spurlos Verschwundenen ausgetragen. Sowohl im Zurückhalten der Information wie auch dem Datum ihrer Veröffentlichung besteht ein Zusammenhang mit den aktuellen Entwicklungen in Polen: dem Warschauer Aufstand wie auch den Aktivitäten der sowjetischen Truppen, auf deren Eingreifen die Polen vergeblich warteten. Wollte die UdSSR die Ereignisse in Warschau – das Polen die Unabhängigkeit sichernde und diesmal zu unterbleiben drohende „Wunder an der Weichsel“ – mit einer Reportage über deutsche Grausamkeit mit überregionalem, ja, internationalem Charakter in den Schatten stellen? Hier kam tatsächlich die von der sowjetischen Propaganda achtzehn Tage vorgehaltene „Majdanek-Nachricht“ in Betracht – denn sie eignete sich in zweierlei Hinsicht dazu, von den Warschauer Nachrichten, die auch den heroischen Kampf der Heimatarmee und anderer Untergrundgruppen betrafen, abzulenken. Schließlich ging es in Majdanek nicht nur um nationale Belange oder um ein lokales Todeslager, sondern, wie es im polnischen Film hieß, um den „Friedhof“, auf dem die „Besten“ sowohl „Europas“ als auch der „Na468 Allerdings finden sich in den 1940ern auch alternative Schreibungen, so etwa in Jankel Adlers Zeichnung „Study for Tremblinka“ (1948) oder in Jankel Wierniks 1944 zunächst auf Polnisch erschienener Untergrundpublikation Rok w Treblince / A Yor in Trenblinke / Ein Jahr in Trenblinka. 469 Einen Einblick in die Printmedien gewährt Friedrich (2002, S. 445). Zur AK, etwa ihrer „schändlichen Kapitulation“ war eine „sehr tendenziöse, ideologische Schilderung der Geschehnisse“ durch die „PKWN-Presse gang und gäbe.“ 311

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tion“ lagen. Die Artikel über das befreite Lublin/Majdanek erlaubten auch, das Schicksal der von den deutschen Besatzern in Lublin massakrierten Polen – visualisiert durch die Leichen im Schloss – mit einfließen zu lassen. Aus dem KZ Lublin/Majdanek waren die überlebenden Polen nämlich sogleich nach seiner Räumung durch die Deutschen geflohen. Vor Ort hatte die Sache trotzdem den Haken, dass die ‚Nachricht’ über die Gräuel aus dem Osten von Polen bereits Wochen alt war, während das Abschlachten der überwiegend wehrlosen Bevölkerung von Warschau aktuell weiter ging. Aus dieser Chronologie der Medienereignisse lässt sich weiter ableiten, dass am 10.8.1944 eine von der mangelnden sowjetischen Unterstützung für den Warschauer Aufstand ablenkende Nachricht vonnöten war, die sich an das internationale Publikum wenden und es vom verheerenden Warschauer Schauplatz ablenken sollte; in diesem Kontext eignete sich das Thema der slawischen und jüdischen Opfer in Majdanek, und die Wahl nicht nur des russischen Dichters Simonov, sondern auch von Karmen, als einer namhaften kommunistischen Stimme mit jüdischem Background, die den Westen in eigenen Worten über Majdaneks Gräuel informieren konnte. Die aufwändigen Filmaufnahmen, die zu dieser Zeit in Majdanek bei Lublin – ehemals blühendes Zentrum der Judenheit in Polen – gemacht wurden, verdanken sich u. U. auch dieser nur kurzzeitig an der Ermordung der europäischen Juden interessierten Periode sowjetischer Propaganda. Vor diesem Hintergrund ist also aus der Perspektive der neuen Macht im befreiten und zugleich wieder besetzten Polen nicht weiter erstaunlich, dass die jüdische Thematik nicht mehr in den drei Monate später gezeigten Film Eingang fand. Dieses Auf und Ab der Informationspolitik erklärt sich durch die veränderte politische und militärische Situation in Polen. Der Westen wiederum zeigte ein mangelndes Verständnis bzw. Interesse sowohl am Judenmord als auch den aktuellen politischen Ereignissen und Verschiebungen in Osteuropa – leider waren gerade auch die Medienvertreter nicht so gut informiert wie George Orwell, den ich eingangs mit den Worten zitiert habe, dass „das ‚Regime von Lublin‘ kein Sieg für den Sozialismus“ sei, sondern „die Herabsetzung Polens zu einem Vasallenstaat.“ In Moskau bemühte sich in der ersten Augustwoche Sikorskis Nachfolger, Stanisław Mikołajczyk, seit dem 30. Juli die diplomatischen Spannungen mit dem sowjetischen Verbündeten zu beseitigen. Mikołajczyk suchte ab dem 3. August Stalin mehrmals auf, da er inzwischen durch die Krisensituation in Warschau, von wo ihn verzweifelte Lageberichte erreichten, unter großem Druck war. Borodziej (2003, S. 229) schildert die ersten Augusttage: Seit 3. August setzte die Wehrmacht Sturmflugzeuge gegen die Aufständischen ein. Am nächsten und übernächsten Tag trafen die von Heinrich Himmler nach Warschau beorderten Verbände ein, so daß sich die Zahl der deutschen Truppen in und um Warschau gegenüber dem 1. August verdoppelte. Den Oberbefehl übernahm der seit 1943 als „Chef der Bandenkampfverbände“ tätige Erich von dem Bach-Zelewski, der seine Warschauer Mission als „Himmelsfahrtskommando“ bezeichnete.

Er war zuständig für die Ausführung von Hitlers „Befehl Nr. 1“, der besagt, dass „alle Aufständischen nach der Gefangennahme erschossen werden, „ohne Unterschied, ob ihre Kampfhandlungen dem Haager Abkommen entsprechen oder nicht“, auch die nicht-

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kämpfenden Warschauer seien „ohne Unterschied niederzumachen“ und die „ganze Stadt sei dem Erdboden gleich zu machen“ (Borodziej 2003, S. 229). Ab dem 4. August richtete der von Himmler beauftragte SS-Gruppenführer Heinz Reinefarth im Südwesten von Warschau ein Blutbad an. Zu den traurigen Erfolgen der „Kampfgruppe Reinefarth“ gehörte etwa, der Heimatarmee den Stadtteil Wola zu entreißen und so den Kampfwillen der polnischen Truppen zu brechen wie auch die Zivilisten zu demoralisieren. Das Wola-Massaker gehört zu den schwerwiegendsten Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg auf europäischem Boden: Zwischen dem 5. und 7. August kam es zu Massenexekutionen der Bevölkerung und bis zum 12. August 1944 hatten bis zu 50.000 Einwohner Wolas ihr Leben für Warschau hingegeben. Die „Kampfgruppe Reinefarth“ massakrierte mit Hilfe des SS-Sonderkommandos Dirlewanger („deutsche Kriminelle – Wilderer, Berufsverbrecher, zu Bewährungsstrafen verurteilte SS-Angehörige“) und der „Sturmbrigade“ RONA (Russische Befreiungsarmee) zur Strafe für die Erhebung der Warschauer in erster Linie die wehrlose Zivilbevölkerung (Borodziej 2003, S. 228). Laut Davies’ (2008, S. 253) töteten die deutschen Einheiten Zehntausende Zivilisten in Warschau, wobei sie die militärische Konfrontation mit der Heimatarmee selbst vermieden.470 Reinefarth beklagte sich, dass die Munition nicht ausreiche, um alle gefangenen Zivilisten zu erschießen (von Krannhals 1962, S. 312).471 Dieses Massaker an der Warschauer Zivilbevölkerung, das quasi vor den Augen der 1. Belorussischen Armee stattfand, die nicht eingriff, war für die meisten bereits befreiten polnischen Bürger eine Nachricht, die im Vergleich zu den Entdeckungen von Majdanek/Lublin eine größere Aktualität hatte.472 Auch wenn der ab dem 10. August begonnene Nachrichtenstrom aus der „Todesfabrik“ bei vielen Polen und „Europäern“ jüdischer Herkunft eine gewisse Wirkung hatte, handelte es sich bei der Nachricht über „Majdanek“ um ein bereits in der Geschichte vollzogenes Verbrechen. Die SS-Einsatzgruppen in Warschau mordeten jedoch in der Gegenwart der Augusttage des Jahres 1944 weiter. Auch wenn der Warschauer Aufstand niedergeschlagen wurde, stellte er eine einzigartige Erfahrung der Stadtbewohner in der polnischen Geschichte dar, und, was oft vergessen wird: auch der polnisch-jüdischen. Warschauer Frauen und Kinder nahmen an der Befreiung von Juden teil (Abb. 6.13, 6.14). 470 Andrew Borowiec (2001, S. 179) geht von 200.000 ermordeten Zivilisten während des Aufstands aus, darunter auch zahlreiche untergetauchte oder bei Polen versteckte Juden. Borodziej (2003, S. 253) geht von insgesamt 150000–180000 Opfern aus, davon 90 Prozent Zivilisten. 471 Vgl. auch den Artikel „Reinefahrt. Mehr Polen als Pulver.“ Spiegel 20.09.1961 (Nr. 39), S. 38–41. https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43366368.html [3.5.2019] 472 Zudem wurde im August auf den berüchtigten „Feldern III und V nach der Besetzung des Lagers durch die Rote Armee“: „ein spezielles NKWD-Lager eingerichtet, das höchstwahrscheinlich bis Dezember 1944 betrieben wurde. Auf dem III. Feld (Mitte) befanden sich Mitglieder der Bauernbataillone und der Armee Krajowa, während im V. Feld (direkt vor dem Krematorium) deutsche Kriegsgefangene und Volksdeutsche interniert wurden.“ http://teatrnn.pl/leksykon/ artykuly/majdanek-niemiecki-oboz-koncentracyjny-w-lublinie/ Laut der Seite majdanek.com. pl/gallery/majdanek/k-d/k-d(m).html [2.12.2019] befanden sich die letzteren auf Feld IV. 313

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Abb. 6.13 und 6.14 Frauen und Kinder in Pfadfinderbataillonen kämpfen im Warschauer Aufstand um die Freiheit ihrer Stadt. Foto rechts: Tadeusz Rajszczak („Maszynka“) und Henryka Zarzycka-Dziakowska („Władka“) kommen aus dem Kanal in der Warecka-Straße (Jerzy Tomaszewski, 2.9.1944); https://sassik.livejournal.com/19998.html; https://www-www.ipn.gov.pl/ en/news/2041,Photographs-from-the-Warsaw-Uprising.html

In Majdanek wiederum hatte es keine Befreiung von jüdischen Überlebenden gegeben. Dies musste gerade in der ersten Augustwoche umso peinlicher im Vergleich zu der Nachricht erscheinen, dass polnische Kinder und Jugendliche in Warschau rund 500 jüdische Häftlinge befreien konnten. Am 5.8.1944 gelang es einer Kompanie des Pfadfinder-Bataillon „Zośka“ (Bestandteil der AK) mithilfe eines erbeuteten „Panther“-Panzers das Konzentrations- und Arbeitslager Gęsiówka zu nehmen. Die Befreiung der jüdischen Häftlinge wurde auch fotografisch festgehalten (Abb. 6.15). Hier stellte sich die Frage: Wenn Pfadfinder Hunderte von Juden befreien konnten, warum nicht die Rote Armee? Die Wirkung der für den Majdanek-Film geplanten jüdischen Thematik erwies sich durch solche Nachrichten und Fotos der Untergrundpresse als gefährdet, was ein weiterer Grund dafür sein mag, warum die sowjetische Propaganda sich beim Einsatz der visuellen Medien zu einer Universalisierung der Opfer entschied. Werfen wir nun einen Blick auf den Kampf gegen die Propaganda der deutschen Besatzer. Die Heimatarmee gab ab dem 2.8.1944 das Informationsbulletin des Untergrunds (Biuletyn informacyjny) in einer Auflage von 20.000 heraus, hatte ab dem 3.8.1944 Lautsprechertrupps und führte am 13.8.1944 die erste Filmchronik im Kino Palladium vor (Zeittafel in Chiari 2003, S. 874–7). Hinzu kamen die sog. Feindsender, in erster Linie die Radiosendungen der BBC.

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Abb. 6.15 Fotograf: Juliusz Bogdan Deczkowski. Jüdische Gefangene des Warschauer Gęsiówka-Lagers nach ihrer Befreiung durch polnische Heimatarmee-Einheiten am 5.8.1944; in Tadeusz Sumiński (Hg.), Pamiętniki żołnierzy baonu „Zośka“. Warschau: Nasza Księgarnia 1959; https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f5/ Jewish_prisones_of_KZGesiowka_liberated_by_Polish_Soldiers_of_Home_Army_ Warsaw1944.jpg

Darüber hinaus wurde Filmmaterial des Warschauer Untergrunds nach London geschmuggelt: „authentische Aufnahmen der ersten Tage der Augustkämpfe in der Hauptstadt, die (zwar kaum feststellbar, auf welchem Weg) nach Westen gelangt sind.“ (Toeplitz 1987, S. 1654) Stefan Osiecki (Warschau 1902–London 1977) schnitt sie zu einem „dramatischen Bericht über den Warschauer Aufstand“473 mit dem Titel Opowieść o mieście / Erzählung über eine Stadt (1944) (ibid.). Das Londoner Filmbüro des Ministeriums für Dokumentation und Information im Stratton House war in der Propagandaschlacht vom August 1944 also eine ernsthafte Konkurrenz für sowjetische Propaganda in Polen und damit auch den künftigen Majdanek-Film. Die Anwesenheit von unabhängigen Medienproduzenten im Warschauer Untergrund drohte aber auch zunehmend ein schlechtes Licht auf das „3. Reich“ zu werfen. Der deutsche General Stahel ordnete „Gegenpropaganda“ an, „die den Leuten darüber die Augen öffnet, daß nicht die Deutschen das Unglück über die Stadt Warschau gebracht hätten, sondern die Aufständischen selbst.“ (zit. in Borodziej 2003, S. 230) Am 6. August beschränkte der

473 Toeplitz (1987, S. 1654) bezieht sich auf ein unveröffentlichtes Manuskript von St. Ozimek mit dem Titel Film polski w wojennej potrzebie 1939–1945. 315

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6 Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten

unlängst eingetroffene Oberbefehlshaber von dem Bach-Zelewski den Massenmord aus taktischen Gründen, indem man Frauen, alte Menschen und Kinder vom Erschießungsbefehl ausschloss und die Durchführung der Exekutionen speziell gebildeten Einsatzgruppen anvertraute, um deren Fortsetzung zu verschleiern. Die UdSSR, die deutschen Besatzer wie auch die Heimatarmee und die anderen Untergrundformationen befanden sich also im August in einem von der bisherigen Majdanekfilmforschung übersehenen medialen Krieg, der selbstverständlich die Filmaufnahmen im befreiten und von der sowjetischen Militärabwehr SMERŠ benutzten Lager beeinflussen musste. Sie hatten auch Einfluss auf die Filmarbeiten Fords, des Leiters des Film-Teams. Beteiligt an dieser Propagandaschlacht waren die UdSSR und das PKWN, die Filmspeerspitze und andere Propagandalieferanten der Roten Armee zum einen, der Warschauer Untergrund (in erster Linie, aber nicht ausschließlich die Heimatarmee) und die Verbindungsleute in London zum zweiten und das Deutsche Reich zum dritten. Stalin war das Schicksal der Warschauer gleichgültig, ihm ging es in der ersten Augusthälfte in erster Linie um die Vormachtsicherung in Polen, eine Eindämmung des Einflusses der Exilregierung in London, die Ausschaltung der Heimatarmee und internationale Anerkennung des Lubliner Komitees (Borodziej 2001, S. 126–7). Der britische Historiker Hugh Seton-Watson beschrieb Anfang der 1950er Jahre die sowjetische Strategie mit Hilfe der Erläuterung jener historischen Parallelen in der sowjetisch-polnischen Geschichte, die in der Wahrnehmung der Ereignisse im Jahr 1944 immer wieder eine Rolle spielen: When Warsaw rose, they did nothing to help until the Germans had almost completed their destruction of the flower of the Polish resistance. In July 1944 the Russians set up a Committee of National Liberation on Polish soil. It was composed of communists and stooges. As its temporary seat of government was chosen Lublin, where in 1918 the first revolutionary government of free Poland had been formed. But the Lublin Committee resembled not the Lublin government of 1918, but the Bialystok Committee of 1920, which the Red Army had set up under Dzierzhinski when Tuhachevski was sweeping into Poland. (Hugh Seton-Watson 1953, S. 218)

Daher verwundert es kaum, dass die Enthüllung der sowjetischen Befreiungsdenkmals in Lublin von drei Kameramännern aufgenommen wird (VS 1132, 1133, 1134). Sowjetische Propaganda-Intentionen im August 1944 finden sich in den Sujets der sowjetischen Montagelisten, wie in der von Frolovs vom 15. August 1944: Parade (Tag des Soldaten). Nahaufnahme Priester. Polnische und russische Befehlshaber beim Gebet (на молебне). Berling sitzt gebückt. Bulganin in der Mitte. Orchester spielt. Bulganin grüßt poln. Regierungsmitglieder. Truppen. „Während der Parade bringen Mädchen, Kinder und alte Frauen Blumen. Eine Oma verteilt Blumen“ und „Gruppen von Mädchen, ein beleibter Mann und Arbeiter begrüßen die Rote Armee: Ein Hoch auf Stalin, auf die Rote Armee, auf Warschau – nach Berlin!“ (VS 1071).

Als der aufgrund der verzweifelten Situation Warschaus unter Druck geratene polnische Premierminister Mikołajczyk der Sowjetunion entgegenkam, schien Stalin ihm am 9. Au-

6.3 Die verspätete Majdanek-Nachricht und der Warschauer Aufstand

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gust die Unterstützung der Roten Armee für die Heimatarmee in Warschau zuzusichern. Es fällt auf, dass dieses Versprechen zwei Tage nach der Inbetriebnahme der polnischen Rundfunkstation gegeben wurde, die das angestrebte sowjetische Propagandamonopol zum Warschauer Aufstand schwächte und die sowjetische Seite zumindest kurzfristig unter Legitimationsdruck gesetzt haben mag. Denn am nächsten Tag, dem 10. August, folgte prompt der erste Majdanek-Artikel in der sowjetischen Presse, der angeblich von Simonov aufgrund seines Appetits auf einen journalistischen Coup beschleunigt nach Moskau geschickt und gedruckt wurde.474 Vielmehr war es der erste ausgeworfene Propaganda-Köder, dem ein rollout anderer Autoren folgte, der wiederum davon abhing, wie der Westen auf Simonov reagierte. Außerdem hatte Karmen bereits vor Simonov einen Text zum Lager verfasst, der aber offensichtlich nicht gedruckt wurde. Eben mit dieser künstlichen Verzögerung der Nachricht ist die absichtliche Verdunkelung des Datums des Betretens des Lagers durch sowjetische Korrespondenten und Journalisten zu erklären. Erst nach Simonovs Artikel wurden Texte weiterer Autoren, auch in der internationalen Presse lanciert, darunter Karmens Berichte in der amerikanischen Presse am 13. und 14. August 1944. Nachdem der polnische Premier in dem Glauben nach London abgereist war, die Rettung Warschaus durch die Rote Armee ausgehandelt zu haben, verkündete Stalin am 16. August – also während des Majdanek-Drehs – in einem Schreiben an Churchill, dass er jede Hilfeleistung an den polnischen Widerstand in Warschau ablehne.475 Es sollte einen ganzen Monat dauern, bis die sowjetische Luftwaffe eingriff und am 9. September deutsche Stellungen bombardierte: Am 9. September sahen die Aufständischen das erste Mal sowjetische Jäger über der Stadt. Die sowjetische Luftwaffe, die seit über fünf Wochen die Möglichkeit hatte, das Dutzend veralteter Ju-87 aus dem Luftraum über Warschau zu verdrängen und damit einen der größten deutschen Vorteile – die vollständige Luftherrschaft – zunichte zu machen, verscheuchte die Stukas durch ihr bloßes Erscheinen. (Borodziej 2003, S. 244)

474 „[…] the fact that Simonov’s report was first is probably due above all to his greater appetite than others for a scoop, which in turn was symptomatic of his unswerving ambition to be a popular writer. Indeed, according to one account, the Soviet reporters at Majdanek all promised to send off their material at the same time, but Simonov supposedly broke the promise by sending his the night before the others.“ (Hicks 2013, S. 243) Es ist unwahrscheinlich, dass Simonov, der Ende Juli 1944 bereits in Lublin war, seinen „Appetit“ 10 Tage nicht gestillt hätte, hätte er selbst solche Entscheidungen treffen können. Auf den Unterschied zwischen westlichem Sensationsjournalismus und sowjetischer Berichterstattung weist Karmen selbst hin (Karmen 2017, S. 9), wobei er freilich nicht erwähnt, dass es 1944 keine freie Presse in der UdSSR gab. 475 Borodziej 2001, S. 130. Zur Begrenzung von Waffenlieferungen an den polnischen Widerstand in Folge eines britisch-sowjetischen Abkommens (SOE und NKWD) in ibid., S. 53. Zudem stimmte Stalin dem Gesuch Roosevelts nicht zu, US-Flugzeuge auf sowjetischen Flugplätzen zwischenlanden zu lassen, um Warschau zu unterstützen. Erst am 18. September 1944 konnten amerikanische Hilfsflüge stattfinden. 317

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Tags darauf begann Rokossovskijs Angriff auf den Stadtteil Praga. Am 15. September schickten sich drei polnische Divisionen Berlings an, die Weichsel zu überqueren. Obwohl sie von sowjetischer Artillerie und Luftwaffe unterstützt wurden, verhielt sich die Infanterie der Roten Armee weitgehend passiv; Berling hatte zudem unter einem Mangel an Ausrüstung für die Überquerung der Weichsel zu leiden. Nach einer deutschen Gegenoffensive brach Berling den Angriff am 23. September ab (Davis 2004, S. 383). Damit war die bisher so erfolgreiche Operation Bagration zu einem Halt gekommen, was auch bedeutete, dass die Ermordung der Juden durch die Deutschen im besetzten Polen fortgesetzt wurde. Diejenigen, die den Ghetto-Aufstand von 1943 überlebt hatten oder aus anderen Ghettos und Lagern geflohen waren, nahmen zu Tausenden am Warschauer Aufstand von 1944 in verschiedenen Formationen teil: People’s Army (AL) HQ staff included three pre-war Jewish communist activists: lieutenant Anastazy Matywiecki alias ‘Nastek’, captain Edward Lanota alias ‘Edward’ and captain Stanisław Kurland alias ‘Korab’. They died on August 26, 1944, during a bombardment of a tenement house in the Old Town at 16 Freta Street. In 1945, their bodies were exhumed and laid in the grave at Hoover Square. […] The outbreak of fighting often resulted in being cut off from their protectors who provided food. That was what happened to the pianist Władysław Szpilman. At the Jewish cemetery in Warsaw at Okopowa Street, there are several tombstones of soldiers who took part in the Warsaw Uprising in 1944. Among the buried are Blima Mykanowska, Halina Kahan, Franciszek Grynbaum, Bolesław Kejlin, Leonard Kimnam, Jakub Żyto and Bolesław Szenfeld. Jewish names can also be found in the insurgent quarters at the Military Cemetery in Warsaw and on the Wall of Remembrance at the Warsaw Rising Museum. However, the list of Jewish fighters in the Warsaw Uprising is definitely longer. According to various estimates, from several hundred up to 3,000 Jews were fighting in insurgent units. We will never know the exact number.476

Die Ankunft der Roten Armee hatte für den Großteil dieser Personen keine Relevanz mehr, denn viele mutige, aus ihren Verstecken zum Kampf aufgebrochene Juden und Jüdinnen, die im besetzten Warschau von der Gestapo aufgegriffen wurden, wurden auf der Stelle erschossen. Für die Warschauer Juden kam die Befreiung zu spät: For the Jews of Warsaw, or almost all of them, Operation Bagration was the liberation that never came. The remains of more than a quarter-million Warsaw Jews were among the ashes and bones that Grossman found at Treblinka. (Timothy Snyder)477

Das Schicksal der Judenheit in Polen, die zum Zeitpunkt der „Befreiung“ Polens nahezu vernichtet war, läßt sich anhand der Biografie von Cywia (Zivia) Lubetkin (1914 Byteń,

476 Krzysztof Bielawski (basierend auf B. Engelking, D. Libionka, Żydzi w powstańczej Warszawie, Warszawa 2009): https://sztetl.org.pl/en/news/jews-in-the-warsaw-uprising [19.4.2019] 477 9. Kap. Bloodlands: Europe Between Hitler and Stalin, https://e-libra.ru/read/558611-bloodlands. html [1.1.2020]

6.3 Die verspätete Majdanek-Nachricht und der Warschauer Aufstand

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heute Weißrussland – Lohamei HaGeta‘ot 1978), einer der wenigen Überlebenden und somit Chronistinnen des jüdischen Widerstands in Warschau, nachvollziehen. Abb. 6.16, 6.17)

Abb. 6.16 und 6.17

Zivia Lubetkin. Porträt und Aussage beim Eichmann-Prozess. Foto: Unbekannt; https://wagner.edu/holocaust-center/survivor-collections/ women-resistance/; http://www.infocenters.co.il/gfh/notebook_ext. asp?book=18612&lang=eng&site=gfh

Ihr Schicksal ist eng mit den Warschauer Widerständen und den Deportationen in die Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ verbunden: The Jewish fighting organization was formed and Zivia was appointed one of its commanders – the only woman with such a title. Zivia and her colleagues worked to establish connections with the Polish underground as well as with other factions within the Jewish underground. But the organization fell apart, demoralized by the seizure of a bag of weapons, the death of a beloved colleague, the naivete of their fellow Jews who refused to believe that deportation meant death, and, finally, the major deportation of 350,000 Warsaw ghetto Jews to Treblinka.

Woher hat Lubetkin in Warschau über das Schicksal dieser in die Deportation gelockten und in Treblinka Ermordeten erfahren, erhielt sie Nachricht über das Auffinden der Spuren des Treblinka II-Obermajdan durch die Rote Armee? Welche Informationen konnte sie aus den verspäteten sowjetisch zensierten Nachrichten über Lublin/Majdanek schöpfen? Polnische Jüdinnen wie Zivia Lubetkin wurden aus den verschiedensten Gründen zu Kriegsende marginalisiert. 319

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6 Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten

At noon, on January 17, 1945, the Soviet tanks arrived. A mob of people exuberantly rushed out to greet them in the town marketplace. The people rejoiced and embraced their liberators. We stood by crushed and dejected, lone remnants of our people.478

Auch wenn sie nicht in der AK, sondern in der kommunistischen Untergrundarmee Armia Ludowa (bis 1.1.1944: Gwardia Ludowa) gekämpft hatte, die am 21. Juli 1944 mit den Polnischen Streitkräften in der Sowjetunion zusammengelegt und in „Polnische Volksarmee“ (Ludowe Wojsko Polskie) umbenannt wurde, zog sie die Alija einem Leben in der Volksrepublik Polen vor. Im Sommer 1944 fand also kein „Wunder an der Weichsel“ statt, welches zu einem demokratischen und souveränen Polen geführt hätte. Auch wenn dies aus der polnischen Perspektive keine rühmliche Stunde für die Rote Armee und die mit ihr kämpfenden Polnischen Streitkräfte war, ist hier kaum der Grund zu suchen, warum Zygmunt Berling am 30. September 1944 als Kommandant der Kościuszko-Armee entlassen und nach Moskau abberufen wurde. Später sollte er behaupten, dies sei aufgrund seiner – nicht mit Moskau abgestimmten – Unterstützung der Aufständischen in Warschau geschehen.479 Man kann auch gut erkennen, wie die „Judenfrage“ bzw. das Thema der Vernichtung der Juden auf beiden kämpfenden Seiten propagandistisch zum Einsatz kam, oder zurückgehalten bzw. nicht verwendet wurde. Loose (2015, S. 8) hat etwa darauf hingewiesen, dass bereits die deutsche Nachricht über Katyn’ 1943 eine solche Funktion hatte, denn Katyn’ trug dazu bei, die Nachrichten von dem Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto im April 1943 weitgehend zu unterdrücken bzw. zu übertönen, zugleich durch die Ineinssetzung von Bolschewismus und Judentum gewissermaßen die eigenen Verbrechen zu rechtfertigen, so zeigten die Morde den Nationalsozialisten jedoch noch etwas anderes: Die Aufdeckung auch der eigenen Massenverbrechen an Juden, Kranken und ganz allgemein an der Zivilbevölkerung insbesondere 478 „Zivia found life among the partisans to be more terrifying than life in the ghetto. She never knew whom to trust. In the forest, she had to hide her Jewish nationality, for many partisans hated the ‘Jewish communists,’ betraying them or outright murdering them. She was, as she puts it, living in a double underground: pretending to the Germans that she was passively Polish, and pretending even to fellow resistance movement members to being something she was not. Of course, Zivia organized a household in which movement members were welcome, and continued movement activities even while living in hiding among the Poles. And when the movement ordered her and Yitzchak to make their way to Palestine as soon as possible, they replied unequivocally that they could not leave their Jewish companions in Poland. Yet Zivia spoke of the time after the liquidation of the ghetto with bitterness and resentment. Although a unit of the JFO fought as a unit in the unsuccessful Warsaw uprising of 1944, Zivia felt that the JFO received no recognition, only the continued threat of danger.“ Ohne Autor, http://www. sophiastreet.com/zivia-lubetkin-warsaw-ghetto-heroine/ [23.4.2019] Vgl. Auch https://www. geni.com/people/Zivia-Lubetkin/6000000000111109791[23.4.2019] 479 Es ist unklar, ob diese Behauptung zutrifft oder ob er damit sein Gesicht gegenüber seinen polnischen Landsleuten zu wahren suchte. http://www.ipn.gov.pl/portal/pl/398/4905/Zygmunt_Berling_18961980.html [15.4.2018]

6.3 Die verspätete Majdanek-Nachricht und der Warschauer Aufstand

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im besetzten Polen und der Sowjetunion war nur eine Frage der Zeit, sobald die zahllosen Massengräber bei einem Rückzug der Front in die Hand des Gegners geraten sollten. […] Katyń und die fast zeitgleiche Exhumierung von Massengräbern durch sowjetische Ermittlungskommissionen im Kaukasus, die auf das Konto der Einsatzgruppen gingen, beschleunigten nun die Spurenverwischung, die im Reichssicherheitshauptamt als ›Aktion 1005‹ bezeichnet wurde, aber bis Kriegsende nicht mehr abgeschlossen werden konnte.

Von den beiden Warschauer Aufständen wurden jeweils von deutscher und sowjetischer Seite medial abgelenkt, 1943 durch Katyn’ und 1944 durch Majdanek. Und aus dieser Perspektive erscheint die Wahl des Begriffs des cmentarzysko (Grabstätte oder Gräberfeld) im polnischen Filmtitel gerechtfertigt: er weist nicht nur auf das 1944–45 heikle Thema der Massengräber hin, sondern auch auf dessen Vorgeschichte, die Exhumierung im Beisein von Kommissionen, die Falsifikationen und gar den „Massengrab-Tourismus“ 480 derjenigen, die sich an einer „goldenen Ernte“ (Jan Tomasz Gross und Irena Grudzińska-Gross 2011) beteiligen wollten. Ein Vergleich der medialen Auftritte zu Katyn’ (deutsch 1943 und sowjetisch Anfang 1944) und Majdanek (sowjetisch im Sommer 1944) würde zeigen, wie „Polen“ und „Juden“ immer wieder gegeneinander ausgespielt wurden, bzw. die deutschen Nachrichten zu polnischem Leid (Entdeckung Katyn’ im April 1943) dafür verwendet wurden, um vom jüdischen Leid abzulenken (Niederschlagung des Ghettoaufstands im Frühjahr 1943). Ähnlich verfährt die sowjetische Seite: Sowjetkritische Nachrichten zum Warschauer Aufstand ab dem 1. August 1944 werden durch die sowjetische Kampagne zu Majdanek (August), und später auch die späte Nachricht zu Sobibor (Anfang September) überlagert. Diese waren zumindest zu Beginn noch so konzipiert, dass sie im Ausland als Nachrichten zum Genozid an den Juden ‚vermarktbar‘ waren. Will die Heimatarmee in diesem medialen Krieg mitspielen, muss sie sich gut wappnen und alle Feindnachrichten analysieren. Viele ihrer Anhänger in Lublin sahen daher im Sommer 1944 „Majdanek“ lediglich als Vorwand, vom brennenden Warschau abzulenken, also als sowjetisches Propaganda-Stück, geschaffen von Filmemachern mit ‚jüdischen Namen‘. So erfüllte sich eine doppelte Strategie der Entfremdung der Opfer voneinander, die so geschickt Antisemitismus zu schüren verstand. Die deutsche Seite beeilte sich auf die internationale Wahrnehmung der Nachricht über Majdanek zu reagieren. Mitte August 1944 begannen in Theresienstadt Dreharbeiten, um Abhilfe für das drohende Image-Problem zu schaffen, das von den enthüllenden Lagerfilmaufnahmen ausgehen würde. Offensichtlich bereitete man sich auf einen sowjetischen medialen Angriff vor, der jedoch nie erfolgte. Als ein Prager SD-Amt den Auftrag für diese Groß-Produktion mit für die Festungsstadt atpyischen Holzbaracken erteilte, wurde die Gefahr einer Reportage über den jüdischen Aspekt Majdaneks (bzw. die „Aktion Rein480 „Zwar hatte die Sicherheitspolizei mit dem ersten Rückschlag der Wehrmacht vor Moskau Ende 1941 erste Überlegungen angestellt, etwaige Spuren der zahllosen Mordstätten zu beseitigen, zumal die Ortsbevölkerung über die Lage der Massengräber in der Regel gut informiert war und vereinzelt „gar ein regelrechter ›Massengrab-Tourismus‹„ existierte, „oder Einheimische versuchten, Wertsachen unter den Leichen auszugraben.“ (Loose 2015, S. 8) 321

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6 Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten

hardt“) von deutschen Sicherheitsleuten im Juli 1944 überschätzt. Dies erklärt, warum der als Gegenpropaganda geplante abendfüllende Dokumentarfilm zu einem „jüdischen Siedlungsgebiets“ nach längeren Vorbereitungen plötzlich beschleunigt in wenigen Wochen unter der Regie des Häftlings Kurt Gerron abgedreht wurde. Als monatelang kein Majdanek-Film zum Genozid an den Juden zu verzeichnen war, ließ das Interesse am Ghetto-Film nach, der so in eine lange Phase der Postproduktion geriet, die erst im März 1945 endete. Der im November in Lublin gezeigte Film dürfte jene SD-Offiziere, die im Sommer Schlimmstes befürchteten, beruhigt haben: Juden kamen nicht vor. Und das „furchtbare Majdanek“ blieb einstweilen lediglich ein abstraktes und wenig wirksames Wort auf Propagandaplakaten. Die Majdanekaufnahmen wurden zu keinem internationales Medienereignis, weil der Film primär lokale, in erster Linie Polen betreffende Funktionen hatte. Die Wahrheit über den in Polen verübten Völkermord an den Juden wurde Partikular-Interessen der UdSSR und der moskautreuen polnischen Kommunisten geopfert. So gab das „furchtbare Wort Majdanek“ keinen Anlass, die Geschichte der Entdeckung des fabrikmäßigen Massenmords der „Aktion Reinhardt“ zu erzählen, sondern sollte zu einem Symbol der Befreiung Polens durch die Rote Armee werden, basierend auf einer marxistischen Analyse und Kritik des NS-Lagers als faschistisch-kapitalistisch. Eigentlich wäre Auschwitz als Kombination aus Vernichtungslager und Industriestandort für eine kapitalismuskritische Instrumentalisierung attraktiver gewesen, jedoch erreichte die Rote Armee Oberschlesien erst Ende Januar 1945. Befreit wurde im Sommer allerdings nur ein Teil des „Generalgouvernements“, da die Rote Armee aus politisch-strategischen Gründen dem von der polnischen Exilregierung unterstützten Warschauer Aufstand nicht zu Hilfe kam. Die Befreiung Warschaus durch eigene, polnische Truppen war so zum Scheitern verurteilt und kam für viele ihrer Bewohner zu spät bzw. der Aufstand kostete ihr Leben – ähnlich wie die Entdeckung des industriell betriebenen Judenmords nicht zu einer medialen Intervention und einem Unterbrechen der Deportationen und Ermordungen in Auschwitz geführt hatte. Der Filmbeweis für die bereits seit 1942 kursierenden Gerüchte und schriftlichen Berichte über die Gaskammern wurde 1944 nicht so erbracht, dass er Konsequenzen für Auschwitz gehabt hätte. Dies betraf die Juden in Ungarn wie auch die Ghettos von Litzmannstadt und Theresienstadt, aus denen auch nach der Entdeckung Majdaneks weiter deportiert wurde. Im Gegensatz zu Majdanek in Lublin (der Schaltzentrale der „Aktion Reinhardt“ und den Vernichtungsfabriken Sobibor, Treblinka, Belzec) konnte jedoch Auschwitz das Potential, zum internationalen Symbolort der Erinnerung an den Genozid zu werden, nicht genommen werden, und dies, obwohl in den Nürnberger Prozessen Majdanek der Ort war, in dessen Beschreibung durch das Zitieren der Polnisch-Sowjetischen Kommission das Wort Jude vorkam. So erscheint das sich durchgesetzt habende „furchtbare Wort“ Auschwitz eine Niederlage der sowjetischen Propaganda.

6.4 Aufenthaltsorte der Majdanek-Teams in der 2. Hälfte des Jahres 1944

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Aufenthaltsorte der Majdanek-Teams in der 2. Hälfte des Jahres 1944

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Wo befanden sich unsere aus der UdSSR nach Polen gekommenen Kameramänner zu dieser Zeit, also ab Juli 1944? Als Soldaten der 1. Belorussischen Front waren die Kameraleute beteiligt an der Spezialfrontnummer 7 Na podstupach k Varšave / Annäherung an Warschau (Derjabin 2016, S. 352, S. 354, S. 826, S. 863, S. 950, S. 957). Zu den sowjetischen Kameraleuten, die nicht an dieser Spezialnummer mitarbeiteten, gehörten Efimov wie auch Samucevič – beide Kameraleute der Spezialfrontnummer Osvoboždenie Varšavy / Befreiung von Warschau (1944; Derjabin, S. 302, S. 727). Efimov war laut Derjabin (2016, S. 302) 1944 und gemäß Fomin im Jahr 1943 vom Filmkomitee (Komitet po delam kinematografii) der „Polnischen Armee zur Hilfe“481 abgestellt worden. Efimov wird später beschreiben, wie er „mit Wladek Forbert am Ende des Sommers 1944“ die Vorbereitung der „Polnischen Kościuszko-Division zum Sturm auf Warschau“ aufgenommen hat. Efimov erinnert sich an eine Szene, in der eine „mit Blut verschmierte Gruppe von Menschen, die in abgerissener Kleidung“ von den „Bestialitäten der Faschisten erzählten“ und um Hilfe baten; er erklärt: „es waren die Abgesandten der aufständischen Warschauer Bevölkerung“ und vermerkt: „Wir nahmen sie vor dem Warschauer Panorama auf, einer albtraumartigen Illustration ihrer Erzählungen.“ (zit. in Fomin 2018, S. 406). Auch wenn er erwähnt, dass sie „durch irgendwelche Kanäle unter der Weichsel gekrochen waren“,482 gibt er in seinen späteren Erinnerungen nicht preis, welcher Untergrundorganisation sie angehörten. Auch hier kann es sich um einen Spezial-Dreh gehandelt haben, denn die aufgenommenen Aufständischen gehörten entweder zur Heimatarmee oder einer anderen unabhängigen Widerstandsgruppe. Aufschlussreich ist, dass Efimov wiederholt mit Spezialaufnahmen betraut war, die Spuren der Vernichtung jüdischer Bürger dokumentierten. Dies erfahren wir aus einer Montageliste von Efimov, der im September 1943 in Char’kov ein jüdisches Massengrab mit „etwa 16.000 Menschen, die von der Gestapo erschossen worden waren“ dokumentiert. Die Aufnahmen sind von der Militärabwehr bestellt worden – Fomin schreibt, dass es sich hier um einen Auftrag für den SMERŠ-General-Major Nikolaj Selivanovskij gehandelt

481 „В помощь этой польской киногруппе приказом Комитета по делам кинема- тографии был направлен советский кинооператор Евгений Ефимов.“ (Fomin 2018, S. 540) Fomin (ibid.) zitiert Tomberg, der sich daran erinnert, dass der „reservierte“ Efimov sich sehr gut in der Polnischen Armee eingelebt hatte: „ihm stand die polnische Uniform sehr gut“, und er hätte sich die „Sprache auch ganz gut angeeignet“ („он так и прижился в польской армии, – вспоминал его товарищ Владимир Томберг – на нем прекрасно сидела польская военная форма. Oн был подтянут, аккуратен, вежлив, несколько холодноват, словом – истый поляк, даже язык не-плохо освоил“.) 482 Das Motiv des Warschauer Kanalsystems findet seinen Niederschlag in Andrzej Wajdas neorealistischem Spielfilm Film Kanał / Der Kanal (Polen, 1957), dessen Hauptfiguren Offiziere der Heimatarmee sind. 323

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habe.483 Die Montageliste trägt den Titel „Die deutschen Gräueltaten an der friedlichen jüdischen Bevölkerung der Stadt Char’kov“ und enthält ein immer wiederkehrendes Motiv, die „Untersuchung von Schädeln“.484 Im Film Stadt Char’kov / Gorod Char’kov (CSDF, 1943; 201 m.) über Drobickij Jar/ Drobyc’kyj Jar, der diese Aufnahmen enthalten könnte, wird Efimov nicht angeführt, als Kameramann wird Nikolaj Topčij genannt.485 Efimov hatte aber nicht nur jüdische Massengräber in der Ukraine gefilmt, sondern später auch Filmaufnahmen im zerstörten Warschauer Ghetto gedreht, das dem Erdboden gleichgemacht worden war. Obgleich er selbst mit Angehörigen der Polnischen Kościuszko-Division (wie W. Forbert) zu tun hatte, erwähnt er in seinen Erinnerungen an Warschau eine von „sowjetischen Soldaten befreite“ Stadt und beschreibt die Wiedererrichtung eines zerbeulten Straßenschilds aus Blech, auf dem „Aleje Jerozolimskie“ stand – dies ist eine wichtige West-Ost-Achse Warschaus, die südlich des Ghettos verlief.486 Wenn Efimov 1943 die Exhumierung eines Massengrabs in Char’kov gefilmt hatte, nachdem ihn Vasil’čenko 1942 wegen „inszenierter“ Frontaufnahmen ausgeschlossen hatte, stellt sich nun die Frage, welche Funktion dieser Mann, der zwar in Polen überall mit dabei war, jedoch in den offiziellen Titeln nicht genannt wurde, in Lublin/Majdanek ausübte. Offensichtlich hatte er abgesehen von der Arbeit mit der Kamera weitere Aufgaben im Filmteam und diese waren unter Umständen die ausschlaggebenden. Es wäre angesichts seiner Vorgeschichte („Inszenierungen“ und SMERŠ-Aufträge) nicht ausgeschlossen, dass er als Mitglied des polnischen Teams über dessen Arbeit wachte bzw. der Kontaktmann zur Militärabwehr in Lublin war und auch die Richtlinien und Zensurvorgaben der SMERŠ beim Filmen durchsetzte. Da wir wissen, dass er den hauptberuflichen Kameraleuten und dem Leiter der Filmchronik Vasil’čenko durch „Inszenierungen“ negativ aufgefallen war, ist nicht ausgeschlossen, dass die Majdanek-Doppelaufnahmen, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, von ihm angeregt wurden. W. Forbert erinnert sich im Film 483 „Селивановский Николай Николаевич (1901–1997) – заместитель начальника Главного управления контрразведки СМЕРШ.“ (Fomin 2018, S. 348) 484 Durch einen Gerichtsmediziner namens Pritvorov (Montageliste Nr. 1130 in Fomin 2018, S. 257). 485 Vgl. Die Filmografie in Mislavskij 2013, S. 171–172: „ГОРОД ХАРЬКОВ. Россия, 1 ч., 201 м. Производство: ЦСДФ (Москва). Оператор Николай Топчий. Первый сюжет – ‚Харьков, сентябрь 1943 года. Вскрытие в Дробицком Яру могилы, в которой зарыты трупы расстрелянных фашистами представителей еврейского населения Харькова. Саперы с помощью лопат и багров вынимают трупы. Судебный эксперт осматривает трупы. У края могилы стоят члены комиссии’.“ 486 „Территория гетто представляла собой совершенно ровный участок, как будто здесь прошел бульдозер, только где-то на кольях висели обрывки колючей проволоки да виднелись остатки пулеметных вышек охраны. […] откуда-то появился человек и долго искал что-то в развалинах домов, потом вытащил измятую жестяную дощечку, любовно почистил рукавом и стал укреплять на груде камней. Так появилась первая в освобожденной советскими воинами Варшаве вывеска, где надпись на польском языке гласила: ‘Аллея Иерузолимского’ [Иерусалимские аллеи]. То было началом возрождения.“ Fomin 2018, S. 542 zitiert aus E. Efimovs Erinnerungen Ne zabyto!

6.4 Aufenthaltsorte der Majdanek-Teams in der 2. Hälfte des Jahres 1944

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Man med kamera (Dänemark 1995) an den Aufstand: „Wir warteten auf der anderen Seite der Weichsel und sahen, wie die Deutschen brandschatzen und Menschen erschießen.“ In der Emigration in Dänemark sagt er ohne Umschweife vor der Kamera seiner Tochter Katia Forbert Petersen: „Die Befreiung Warschaus war ein politisches Trauerspiel und die Russen weigerten sich, den Befehl zur Überquerung der Weichsel zu erteilen.“ Unklar ist, ob sie über die Warschauer Aktivitäten ihrer alten START-Kollegen aus der Vorkriegszeit informiert waren. Wir wissen nun, dass die Polnische Division ab Mitte September in die Belagerung Warschaus involviert war, d. h. auch deren Kameraleute, darunter namentlich W. Forbert und E. Efimov. Unklar ist, wie lange Štatland vor Ort blieb und wo David Ibragimov bzw. Vladimir Šnejderov sich befanden, die beide von Derjabin (2016, S. 330, S. 950) als Kameraleute von Ot Visly do Odera / Von der Weichsel zur Oder (1944) angeführt werden. Ebenfalls vor Ort war Tomberg, der die erschossenen Gefangenen im Lubliner Schloss gefilmt hat – vor dem Krieg hatte Tomberg für Šnejderov am Film Džul’bars als Kameraassistent gearbeitet. Unklar ist, wann der aus Weißrussland stammende Igor’/Igar Komarov nach Lublin kam (laut Derjabin 2016, S. 429 soll er erst ab Oktober 1944 für die 1. Belorussische Front gefilmt haben). Sein Name wird jedoch in Štatlands Lubliner Montagelisten vom August 1944 an erwähnt, und zwar als zweiter oder Hilfskameramann, der ihm zur Hand ging (Abb. 6.18).

Abb. 6.18 Die Filmgruppe der 1. Belorussischen Front nach dem Sieg (Berlin, Mai 1945); Abb. Aus Fomin 2018.

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6 Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten

Rein theoretisch verharrten Sof’in, Tomberg, Ibragimov, Frolov487 und Karmen als „Kameraleute der 1. Belorussischen Front“ in Warteposition vor Warschau, das ca. 170 km von Lublin-Majdanek entfernt liegt.488 Auch Štatlands Standort stimmt mit der Stellung der Polnischen Armee überein, die im September Praga eroberte – ein Stadtteil am östlichen Ufer der Weichsel, gegenüber dem bald völlig zerstörten Warschauer Zentrum. Aus einem Abgleich der mir zugänglichen Filmografien und Montagelisten geht hervor, dass der Leiter der Filmgruppe Štatland wie auch Sof’in während dieser aus politischer und militärischer Sicht bewegten Zeit zumindest zwischenzeitlich auf der rechten Seite der Weichsel, in Warschau-Praga waren, während Karmen mit Fords Team in Lublin und Majdanek zu tun hatte, ehemalige Häftlinge filmte und mit Hilfe von Majdanek-Artefakten die Bildrhetorik des universalen KZs entwickelte. Aufgrund eines privaten Briefwechsels (Danielewicz 2019, S. 201) wissen wir jedoch, dass der Regisseur Ford nicht in Warschau-Praga war, wo sich im Oktober seine junge Zweitfamilie auf der rechten Seite der Weichsel befand. Ein privates Dokument aus dem Leben A. Fords gibt zu den Orten der Postproduktion und Zensur der Majdanekaufnahmen Auskunft. A. Ford schreibt am 17.10.1944 aus Lublin einen Brief an eine gewisse Janina Wieczerzyńska, nachdem ihn ihr Brief bezüglich der Geburt des gemeinsamen Kindes (am 8.10.1944) erreicht hat: Ich bin schockiert und unglaublich gerührt. Ich mache mir furchtbare Sorgen, dass ich den Brief erst heute – am 17. – erhalten habe. Und Du schreibst, dass Du das Krankenhaus am 16. Oktober verlässt. Es fällt mir schwer zu schreiben, alles dreht sich in meinem Kopf. Ich freue mich, dass Du gesund bist und auch – ich kann es noch nicht in Worte fassen – der Kleine. Ich komme am 21–22. Fatalerweise hat es sich ergeben, dass ich morgen nach Moskau fliegen muss, wirklich muss. Sie warten dort und sie drängen mich, alle seien in Eile. Es geht um den Film über Majdanek. Du musst mir vergeben, aber ich wäre ein Deserteur, wenn ich morgen nicht abreisen würde. Ich werde nicht länger als drei bis vier Tage dort sein, und dann komme ich.489

Auf Fords Geliebte Janina werde ich in Kap. 7 näher eingehen, doch schlage ich bereits hier folgende Chronologie der Postproduktion des Majdanekfilms vor: Die Dreharbeiten fanden von Ende Juli bis Ende August 1944 statt. Als sie abgeschlossen waren, wurde im September ein Rohschnitt in der Globocnik-Villa in Lublin angefertigt. Da die hochschwangere Janina ohne Aleksander Ford an die Front nach Warschau-Praga reiste (frühestens 487 Frolov war im Juli und August 1944 Kameramann der 1. Belorussischen Front, ab Dezember 1944 der 2. Ukrainischen Front (bis Ende November von Karmen geleitet). Unklar ist, wo er in den Monaten September-November 1944 diente. 488 Beteiligt an der Spezialnummer 7 Na podstupach k Varšave waren auch Michail Jakovlevič Posel’skij und I’ja Arons (Boi na podstupach k Varšave. Severo-vostočnaja Praga; vgl. die undatierte Montageliste: VS 1105, 1106); zu Posel’skij und Arons als Kameraleute der 1. Belorussischen Front vgl. Derjabin 2016, S. 63, 675. 489 Der Brief an Janina, der dankenswerterweise von Aleksandr Ford Jr. dem Filmmuseum Łódź vermacht wurde, ist zitiert in Danielewicz 2019, S. 201–202.

6.4 Aufenthaltsorte der Majdanek-Teams in der 2. Hälfte des Jahres 1944

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einige Tage nach der Einnahme von Praga am 14.9.44 und spätestens vor der Geburt des gemeinsamen Sohnes am 8.10.44), möglicherweise im Schlepptau der Polnischen Armee unter der Führung von Berling, können wir daraus schließen, dass der künftige Kindsvater beschäftigt oder unabkömmlich war. Aleksander Ford (wie übrigens auch Bossak) zog, anders als die Mehrheit der Filmspeerspitze, nicht mit in den Westen, sondern war in der polnischen Interims-Hauptstadt Lublin beschäftigt – ob mit dem Schnitt des Majdanekmaterials (gemeinsam mit Olga Mińska, Perski und L. Nekrasova) oder dem Wiederaufbau der polnischen Filmindustrie, ist unbekannt. Bossak behauptete später, Ford hätte sich in Majdanek nicht blicken lassen und wäre auch im Schneideraum nur zweimal aufgetaucht (vgl. 7.1.1). Wenn Liebman (2011, S. 208–9) schreibt, dass Ford und Bossak im Schneideraum in der ehemaligen Globocnik-Villa den Film bearbeiteten, dürfte dies neben Olga Mińska-Ford auch für Nekrasova, möglicherweise ihren Mann Perski gelten und den polnischen Sprecher Krasnowiecki. Das Kernteam in der Villa war m. E. – wenn Ford tatsächlich kaum präsent war – die Regieassistentin Mińska-Ford, die Cutterin Nekrasova, der Texter Bossak, Perski (u. U. zuständig für die Tonaufnahmen?) und der Sprecher Krasnowiecki. Da A. Ford im Oktober den Befehl erhielt, am 18.10.1944 nach Moskau zu fliegen, können wir davon ausgehen, dass der Plan für die Version (mit Ton?), die in Lublin erstellt worden war, bzw. die Arbeitskopie, in Moskau keinen Gefallen gefunden hatte. Dies bedeutet weiterhin, dass nicht nur Ford, sondern auch mindestens Krasnowiecki in der zweiten Oktoberhälfte in die UdSSR fliegen mussten, um eine neue Version mit Voiceover zu erstellen. Anlässlich dieser Nacharbeit, über die bisher jedoch keine Dokumentation von sowjetischer Seite vorliegt, wurde auch die Aufnahme mit dem Chor der Roten Armee angefertigt. Man kann davon ausgehen, dass Ford den Film, den er – laut Bossak – nur zum Teil persönlich autorisiert hatte, in Moskau so bearbeitete, dass er die Zensur passieren konnte – es ist nicht ausgeschlossen, dass ihm diese Reise in polnischen Filmkreisen später übelgenommen wurde.

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6 Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten

6.5

Bulganin in Lublin und kein „Wunder an der Weichsel“ im Jahr 1944

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Bulganin in Lublin und kein „Wunder an der Weichsel“ im Jahr 1944

In den Filmaufnahmen ist Nikolaj Bulganin (1895–1975) zu sehen, der als Politoffizier der 1. Belorussischen Front490 und Bevollmächtigter der UdSSR für das PKWN am 4.8.1944 nach Lublin kam, begleitet vom Berufsdiplomaten Vladimir Jakovlev. Bulganin spielte bei der Legitimierung der PKWN eine Schlüsselrolle. Er blieb bis zum 20. November 1944 Berater des PKWN (Materski 2007, S. 17–18), d. h. war in der entscheidenden Zeit der Filmproduktion vor Ort. Bestandteil seiner Mission war Anwesenheit bei einer polnischen militärischen Zeremonie, die üblicherweise am katholischen Marienfeiertag am 15. August stattfindet.491 Bei diesem Anlass wird der unerwartete Sieg der polnischen über die sowjetischen Truppen im Jahr 1920 gefeiert. Doch für die Ankunft des Sowjetpolitikers und Tschekisten Bulganin wurde diese hoch-symbolische Feier vorgezogen: „Das erste und letzte Mal, in der Zeit von 1944 bis 1989, feierten die staatlichen Behörden das Fest der polnischen Armee an diesem Tag.“492 An der Seite von Boleslaw Bierut493 und des gesamten PKWN-Teams nahm Bulganin am 6.8.1944 an der feierlichen „Seelenmesse“ und einer Militärparade zum Jahrestag des „Wunders an der Weichsel“ teil, das im polnisch-sowjetischen Krieg Polen die staatliche Unabhängigkeit gesichert hatte. Tadeusz Żenczykowski, der am Warschauer-Aufstand auf der Seite der Heimatarmee teilnahm, kommentierte dieses Ereignis: Es scheint, dass der Jahrestag des polnischen Sieges über die Bolschewiki unter der Herrschaft der Macht, die in Moskau ihren Ursprung hat, in Vergessenheit geraten sollte. Die taktische Notwendigkeit, die öffentliche Meinung durch eine Zurschaustellung von Patriotismus zu gewinnen, war so dringend nötig, dass die Genehmigung für diese Jubiläumsfeier von den obersten Behörden erteilt wurde. Bulganin betont durch seine Anwesenheit die Achtung der nationalen Gefühle der Polen durch die Sowjetunion.494

490 Materski 2007, S. 38. Ein Bericht über seine Ankunft am 4.8.1944 findet sich in der Rzeczpospolita vom 5.8.1944. 491 Als Erinnerung an die gewonnene Schlacht bei Warschau während des Polnisch-Sowjetischen Kriegs im Jahr 1920, das den Feldzug der Roten Armee gen Westen aufhielt. Der 15. August ist zugleich Mariä Himmelfahrt, in der katholischen Kirche ein auf ein bestimmtes Datum fixierter zentraler Feiertag im Kirchenjahr, dessen Verbindung mit dem Fest der polnischen Armee im Jahr 1944 gekappt wurde. 492 http://teatrnn.pl/leksykon/artykuly/polski-komitet-wyzwolenia-narodowego-w-lublinie/#nikolaj-aleksandrowicz-bulganin-w-lublinie [12.3.2018] 493 „Mit den Nachrichtendiensten der UdSSR waren unter anderem auch die im Nachkriegspolen populären Mitglieder des ZK der PPR, M. Moczar und Bolesław Bierut verbunden.“ (Piotr Kołakowski 2003, S. 201–202) 494 Żenczykowski 1987, S. 111–112. Tadeusz „Kania“ Żenczykowski (Warschau 1907-London 1997) verließ Polen im November 1945.

6.5 Bulganin in Lublin und kein „Wunder an der Weichsel“ im Jahr 1944

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Die Gestaltung der Gedenkfeiern lässt sich mit Hilfe der Berichterstattung der Zeitung Rzeczpospolita nachverfolgen; eine Verknüpfung des Lagers in der Vorstadt mit dem Zentrum von Lublin wurde in der Form einer rituellen Überführung von sterblichen Überresten, die einer katholischen Prozession ähnelt, erreicht: „Die Asche der Märtyrer“ wurde von einem Zug einer polnischen Kawalleriebrigade und einem Zug der Roten Armee aus Majdanek nach Lublin überbracht, „von den Lubliner Dominikanermönchen gesegnet“ und eingemauert. Am Sonntag, den 6.8.1944, fand laut Ankündigung in der Rzeczpospolita (6.8.1944, S. 1) um 13.00 „auf dem Platz unter dem Schloss eine feierliche Trauermesse (Uroczysta msza żałobna) für die Seelen der in Majdanek und im Schloss Lublin von den Deutschen Ermordeten“ statt; hier wurde symbolisch eine Urne mit „Asche der Märtyrer“ bestattet. Eine Gedenktafel für „Millionen von Opfern“ wird angebracht (Rzeczpospolita, 7.8.1944, S. 1–2). Zwei Männer, die das Massaker im Schloss durch ein Wunder überlebt haben, tragen die Asche in einer Urne. Das Kawallerie-Orchester spielt einen Trauermarsch und die Nationalhymne. Die Messe wird vom Prälaten Józef Kruszyński abgehalten, der zur Einheit aufruft. Der Chor „Echo“ singt das Lied „Bogurodzica“ und „Gaude mater polonia“. Zum Abschluss erklingt die „Rota“ (der Originalton hierfür stand für den Film nicht zur Verfügung). Ing. J. M. Grubecki – Sprecher des PKWN und Mitglied des „Bunds Polnischer Patrioten“ in der UdSSR – erwähnt in seiner Rede, dass Polen zum Land der „Massenmorddenkmale und Friedhöfe geworden ist: Tremblinka [sic!] – Borki – Majdanek. Und er fügt hinzu: „Wir wissen, dass Majdanek der Blutsbruder von Katyn’ ist – noch so eine zynische deutsche Mordgrube.“ Grubecki betont, dass der „Staub“ (prach) aller Opfer gleich sei, dass es keine Rassenunterschiede gäbe. „Millionen von Polen, Millionen Juden – Bewohner der polnischen Erde – Kriegsgefangene des sowjetischen Lands, slawische Brüder und Demokraten aller europäischen Völker.“ An der Messe nahmen die verschiedenen Armeen statt, auch die AK wird erwähnt. Hier werden wichtige diskursive Regeln bezüglich des Lagers etabliert: Das KL Lublin wird als Majdanek bezeichnet, Majdanek wird mit der polnischen Nationaltragödie Katyn’ gleichgesetzt und steht für den entweihten polnischen Boden, auf dem die Deutschen „Massenmorddenkmale und Friedhöfe“ hinterlassen hatten. Die Propaganda des PKWN verwendet nationale und religiöse Symbole und Rituale, um die polnische Bevölkerung der Sowjetunion gegenüber freundlich zu stimmen. Auf der anderen, für die Öffentlichkeit unsichtbaren sowjetisch-polnischen Front fand jedoch die Ausschaltung derjenigen Polen statt, die nicht mit dem PKWN zusammenarbeiten wollten. Am 3.8.1944 kam es zu Verhaftungen und Verschleppungen. Die entscheidende Rolle Bulganins beim Ausschalten der führenden Köpfe der Heimatarmee beschreiben Dokumente vom Sommer 1944, die im Jahr 2004 von Leonid Gibianskii und Norman Naimark veröffentlicht wurden: The active involvement of Soviet military forces and special services in the protection of the new postwar Polish government and administration from opponents in the Polish underground can also now be documented from these new collections. Soviet forces attacked and eliminated groups attached to the London Polish Government-in-exile, which had earlier 329

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6 Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten

fought against their Nazi occupiers. For example, we now have access to the instructions from the Soviet government, dated August 2, 1944, to Nikolai Bulganin, a prominent official in Stalin’s administration, outlining the tasks associated with his appointment as Soviet representative to the PKWN. On the one hand Bulganin was ordered to provide support for the administration and growing security apparatus of the PKWN; on the other he was charged with the obliteration of the political and military units of the Polish Government-in-exile still active in the country. (Gibianskii und Naimark 2004, S. 11)

Die Verhaftungen geschahen am Tag vor Bulganins Ankunft in Lublin am 4.8.1944. Sowohl W. Cholewa, der Delegierte der Londoner Exilregierung im Bezirk Lublin, als auch der Anführer der Heimatarmee in Lublin, Kazimierz Tumidajski, wurden am 3.8.1944 in der Chopinstr. 7 (dem „Londoner“ Hauptquartier) verhaftet und nach Chełm gebracht, wo die PKWN-Mitglieder Osóbka-Morawski, Andrzej Witos und Stanisław Radkiewicz sie zur Zusammenarbeit mit der sowjetfreundlichen Regierung überreden wollten. Als die beiden ablehnten, wurden sie vom Flughafen Świdnik aus in die UdSSR verschleppt. Sie waren „von 1944–47 in mehreren Orten der UdSSR interniert“, u. a. im Gefängnis Lefortovo und im NKWD-Lager Nr. 179 bei Rjazan’.495 Durch die Beseitigung dieser Führer des polnischen Widerstands – sowohl gegen die deutsche wie auch die neu etablierte sowjetische Macht – wurde die kurze Doppelherrschaft (dwuwładza)496 in Lublin beendet. Und der Vorsitzende des PKWN Osóbka-Morawski konnte am nächsten Tag seinem Treffen mit Bulganin ruhig entgegensehen (Abb. 6.19).

Abb. 6.19 Demonstration gegen die „Londoner Reaktion“ in Lublin („Fotografia z 1945 r. – manifestacja na Krakowskim Przedmieściu w sprawie Tymczasowego Rządu Narodowego“; ML/H/12/F/37). Foto von Władysław Forbert; http://teatrnn.pl/kalendarium/ sites/default/files/imce/4/6._ copy.jpg

495 Janusz Wrona o. J. http://teatrnn.pl/leksykon/artykuly/janusz-wrona-ur-1953/ [2.2.2016] Vgl. auch Armia Krajowa w dokumentach 1939–1945. T. IV, 1991, S. 189ff. Heinemann 2017, S. 306; vgl. auch ihre Namen auf den Listen der Verfolgten: http://indeksrepresjonowanych.pl/int/ wyszukiwanie/94,Wyszukiwanie.html 496 Agnieszka Dybek 2009.

6.5 Bulganin in Lublin und kein „Wunder an der Weichsel“ im Jahr 1944

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Ford, die Forberts und Bossak wie auch weitere Mitglieder des Filmteams waren Bestandteil dieser sowjetischen Polit- und Propaganda-Mission in Polen, was ihnen im Nachkriegspolen übelgenommen wurde – und zwar den Juden unter ihnen mehr als den ethnischen Polen, wie etwa Krasnowiecki. Fords militärische Karriere und seinen politischen Status zu dieser Zeit thematisiert ein polnischer Artikel mit dem ironischen Titel „Ford Aleksander: Pan Pułkownik“ in der Polityka von 2009, in dem „Herrn Oberst“ vorgeworfen wird, Aufnahmen der militärischen und politischen moskaufreundlichen Prominenz gemacht zu haben,497 etwa der Reden von Berling, Świerczewski und Wasilewska.498 Wanda Wasilewska hatte sich am 15.7.1944 gemeinsam mit Osóbka-Morawski im Namen des „Bund Polnischer Patrioten“ (ZPP) an Stalin gewandt mit der Bitte, auf den von der deutschen Besatzung befreiten Gebieten eine Provisorische Polnische Regierung zu bilden.499 Die Namen, die in der Delegation auftauchen, finden sich auch später im PKWN wieder, ergänzt durch weitere moskaufreundliche Akteure, wie etwa den Rzeczpospolita-Chefredakteur Jerzy Borejsza,500 dem späteren Presse-Zensor. Für die Verfassung des Lubliner Manifests waren Andrzej Witos, Bolesław Drobner, Stefan Wierbłowski, Marian Spychalski and Jakub Berman zuständig. Am 20. Juli 1944 schlug Vjačeslav Molotov die Bildung des PKWN vor, bestehend aus: Andrzej Witos, Jakub Berman, Edward Osóbka-Morawski, Marian Spychalski. Der Text wurde am 21.7.1944 mit Stalin abgestimmt (Abb. 6.20, 6.21).501

497 Ähnliches gilt auch für Władysław Forbert, der 1944 das PKWN und Parteiprominenz fotografierte. Die Fotografien sind auf der Seite http://teatrnn.pl/kalendarium/node/1785 zu finden, etwa Fotos vom PKWN in Lublin (ML/H/12/F/21) oder die Rückkehr seiner Mitglieder aus Moskau (ML/H/12/F/24) bzw. der Bürgermiliz (ML/H/12/F/32) 498 „Należał do elity, do ścisłego kierownictwa grupy wybranej jeszcze przez Stalina w ZSRR, którą szykowano do przejęcia władzy w kraju. […] W stalinowskiej ekipie Bolesława Bieruta znał chyba wszystkich.“ (Janusz Wróblewski 2009) 499 Łukasz Kijek o. J. http://teatrnn.pl/leksykon/artykuly/polski-komitet-wyzwolenia-narodowego-w-lublinie/#P2 [2.2.2016] 500 K. Kersten 1981, S. 4. Borejszas Name findet sich auch in der Montageliste von A. Levitan als derjenige polnische Journalist, der für die ausländischen Korrespondenten in Katyn’ übersetzte (VS 70, 71 zu „Katyn’“, Januar 1944, S. 2). 501 Materski 2007, S. 14. Der Text ist zugänglich auf Rządowego Centrum Legislacji: http://www. dziennikustaw.gov.pl/DU/1944/s/1/1, 331

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6 Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten

Abb. 6.20 „Sitzung des PKWN“ in Lublin (ML/H/12/F/21). Foto: Władysław Forbert (1944) – http://teatrnn.pl/kalendarium/ node/1785

Abb. 6.6 Einige Monate später, „Rückkehr der Mitglieder des PKWN aus Moskau, 1944“ („przylot członków PKWN z Moskwy, 1944“ ML/H/12/F/24). Fotograf: Władysław Forbert

6.6 Geheimabkommen zum sowjetischen Oberbefehl und PKWN-Dekrete

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Geheimabkommen zum sowjetischen Oberbefehl und PKWNDekrete

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Geheimabkommen zum sowjetischen Oberbefehl und PKWN-Dekrete

Von Bedeutung für die Region Lublin war das am 26.7.1944 unterzeichnete geheime Abkommen bezüglich des militärischen Oberbefehls, den auf den befreiten Territorien Stalin innehatte.502 Diese lediglich einige Tage nach der Befreiung Lublins entstandene Situation hatte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Form der Dokumentation des Lagers unter sowjetischem Oberbefehl und (Militär)Zensur. Durch ein Dekret des Nationalrates vom 21. Juli 1944 wurde die Gründung der Polnischen Armee (die 1. Armee der Polnischen Armee und den Partisanentruppen der Volksarmee) proklamiert.503 Ende Juli wurde die Mobilisierung durchgeführt, und zwar auch der in die Polnische Volksarmee eingezogenen AK-Soldaten; AK-Offiziere wurden interniert (Skrzypek 2002, S. 47). Kołakowski (2003, S. 216) gibt folgende hohe Zahl an: „Insgesamt verhafteten die sowjetischen Sicherheitsorgane sowie ‚Smerš‘ zwischen Sommer 1944 und Mai 1945 50000 Soldaten der Armia Krajowa.“ Ausgerechnet am 15. August 1944 – dem Feiertag, an dem gewöhnlich des „Wunders an der Weichsel“ gedacht wurde – erließ das Polnische Komitee für Nationale Befreiung ein Dekret zur Teilmobilisierung und Registrierung für den Militärdienst. Das Dekret sah vor, dass die Soldaten der Heimatarmee in die Berling-Armee eingezogen werden und kündigte an, dass Personen, die sich bisher entzogen hatten, nach dem Kriegsrecht zur Verantwortung gezogen wurden. Oft versuchte man die Soldaten jedoch für die sowjetische Sache zu gewinnen: „Die vom NKGB verhafteten einfachen Soldaten der Heimatarmee wurden nach den Vernehmungen und der Unterzeichnung einer Verpflichtungserklärung in der Regel freigelassen. Im Oktober 1944 verfügte der sowjetische Sicherheitsapparat Lublin beispielsweise über 114 Agenten dieser Art.“ (Kołakowski 2003, S. 207). Ein anderes Dekret der PKWN vom 24. August löste alle geheimen militärischen Organisationen in polnischen Gebieten auf, die von der Roten Armee kontrolliert wurden. Soldaten der Untergrundarmee durften alle militärischen Auszeichnungen behalten. Die Absicht des PKWN war, die Mobilisierung zu erleichtern (Skrzypek 2002, S. 47–8), doch ein Artikel des Dekrets sah vor, dass „bei Nichtfolgeleisten die Rekruten nach dem Militärstrafgesetzbuch strafrechtlich verfolgt“ werden sollten. Die Gefängnisse begannen sich mit verhafteten Mitgliedern der AK, der Bauernbataillone und der (antikommunistischen) Nationalen Streitkräfte (Narodowe Siły Zbrojne) zu füllen. Das Strafgesetzbuch der neuen Polnischen Armee wurde zu einem Repressionsinstrument. 502 Dokumenty i materiały do historii stosunków polsko-radzieckich, t. 8, Warszawa 1974, S. 156 und Łukasz Kijek o. J. 503 Ustawa z dnia 21 lipca 1944 r. o przejęciu zwierzchnictwa nad Armią Polską w ZSRR i o scaleniu Armji Ludowej i Armji Polskiej w ZSRR, w jednolite Wojsko Polskie. / Das Gesetz vom 21. Juli 1944 über die Übernahme der Oberhoheit über die Polnische Armee in der UdSSR und die Verschmelzung der Volksarmee mit der Polnischen Armee in der UdSSR zu einer einheitlichen polnischen Armee http://www.dziennikustaw.gov.pl/du/1944/s/1/2/1 [13.12.2018] 333

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6 Zwei Fassungen, Zensur, Politik der Premieren und mediale Fronten

Das Ende der Majdanek-Aufnahmen fiel mit dem Dekret vom Ende August 1944 zusammen, aufgrund dessen die in Lublin/Majdanek verhafteten Täter, die im Film zu Wort kommen, von einem polnischen Sonderstrafgericht (SSK) zum Tode verurteilt werden konnten: Die gesetzliche Grundlage für die Ahndung der Kriegsverbrechen bildete das sogenannte Augustdekret. Es wurde am 31. August 1944 von dem PKWN (Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung) – also der von Stalin eingesetzten polnischen Übergangsregierung – erlassen. […] Um die Verbrechen, die unter dieses Dekret fielen, zu ahnden, wurden Sonderstrafgerichte und später das Oberste Nationaltribunal gebildet. So fanden die ersten Kriegsverbrecherprozesse vor Sonderstrafgerichten (Specjalne Sady Karne = SSK) statt, die aufgrund des Dekrets des PKWN vom 12. September 1944 gegründet worden waren. (Musial 1999, S. 36–37)

Das Timing der Premiere des Films in Lublin Ende November ist ebenfalls kalkuliert. Ein Jahr vor den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg kommt es zum ersten Einsatz eines Beweisfilms, der in zwei Filmtheatern die Bürger von Lublin und die Teilnehmer an einem Sonderstrafgericht (mit dem Charakter eines Volksgerichts, also unter Beteiligung von Laienrichtern) unmittelbar zu beeinflussen sucht. Am Sonntag, den 26.11.1944 fand die Uraufführung des Films in Lublin statt. Für Montag, den 27.11.1944, kündigte die Zeitung Rzeczpospolita den „Prozessbeginn heute, um 9.00“ an. Im Artikel „Śmierć katom“ („Tod den Henkern“) heißt es, dass am gleichen Tag um 16.00 nachmittags im Zusammenhang mit dem Prozess gegen die „deutschen Folterknechte“ im Kino Apollo und im Kino Rialto eine Kundgebung stattfindet: „Das Volk fordert den Galgen für die Hitlerhenker. Bürger, kommt persönlich vorbei!“ (Rzeczpospolita, 27.11.1944 S. 1).504 Am 1.12.1944 ist in der Rzeczpospolita vom Vorverkauf von Karten für Majdanek-Filmvorführungen um 12.30 für Schulen und Institutionen die Rede. Das vom PKWN erlassene sog. „Augustdekret“ bot zudem die Möglichkeit, die politische Opposition wirksam zu bekämpfen, indem man ihren Vertretern Kollaboration mit den Feinden der Nation in die Schuhe schob.505

504 Am 27.11. lief der Film im Apollo und im Baltyk, im Rialto lief jedoch die Vorkriegskomödie: Paweł i Gaweł (Paweł und Gaweł, Polen 1938) – laut Programm der Rzeczpospolita, 27.11.1944, S. 4. 505 Dekret Polskiego Komitetu Wyzwolenia Narodowego z dnia 31 sierpnia 1944 r. o wymiarze kary dla faszystowsko-hitlerowskich zbrodniarzy winnych zabójstw i znęcania się nad ludnością cywilną i jeńcami oraz dla zdrajców Narodu Polskiego / Dekret des Lubliner Komitees vom 31. August 1944 über die Ahndung von NS – Verbrechern schuldig des Mordes und Misshandlung von Zivilisten und Gefangenen und für die Verräter der polnischen Nation, http://www.dziennikustaw.gov. pl / du / 1944 / s / 4/16/1. Zu dieser komplexen Thematik hat Gross (2003) bearbeitet.

6.7 Der polnische Herbst 1944: Stalin und Serov ziehen die Schrauben an

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Der polnische Herbst 1944: Stalin und Serov ziehen die Schrauben an

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Der polnische Herbst 1944: Stalin und Serov ziehen die Schrauben an

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„Infolge der energischen Schritte Serovs verhafteten die Sowjets bis zum 20. November 1944 etwa 5500 Personen.“506

Der Umfang des Strafgesetzbuchs der Polnischen Armee wurde durch das Dekret der PKWN vom 23. September 1944 erweitert: Nun konnten Zivilpersonen vor Militärgerichte gestellt werden. Eine weitere Verschärfung des Tons trat im Herbst 1944 ein, als Stalin die PKWN-Delegation, die vom 28.9.–3.10.1944 in Moskau weilte (Bolesław Bierut, Edward Osóbka-Morawski, Władysław Gomułka, Wincenty Rzymkowski and Jakub Berman; Materski 2007, S. 27) der Weichheit bezichtigte. Bei einem erneuten Besuch vom 11. bis 19. Oktober 1944 ordnete Stalin an, „den Gegner bei den Hörnern zu packen“, und damit war die Heimatarmee gemeint (Wrona o. J., S. 273). Nach Ansicht von Adam Lityński läutete das Dekret des Polnischen Nationalen Befreiungskomitees vom 30. Oktober 1944 über den Staatsschutz eine groß angelegte Unterdrückungsaktion gegen die politische Opposition ein.507 Krystyna Kersten zitierend spricht Marcin Zaremba von den Stalinschen Lektionen, die Ende Oktober 1944 den polnischen Kommunisten erteilt wurden („Te dwie lekcje zostały przyswojone: od końca października 1944 r. represje nabrały nowej dynamiki.“ Zaremba 2012, S. 375): Neben den Repressalien gegen den „Klassenfeind“ kam die Zuckerbrot-und-Peitsche-Methode zum Einsatz, mit der Landreform als Belohnung für Loyalität gegenüber der neuen Macht. Dies führte zu einem „Gefühl falscher Sicherheit“ und zu Entmündigung, die anders als während der deutschen Besatzung nicht zu Widerstand, sondern in eine Resignation der Bevölkerung mündete. Außerdem wollte Stalin den polnischen Kommunisten selbst auch Angst einjagen.508 In Lublin lassen sich die Auswirkungen der Oktoberwende an den Todesurteilen für Vertreter des polnischen Widerstands unter deutscher Besatzung nachvollziehen. Bis dahin waren Verhaftungen, auch mit Aufenthalten auf dem Gelände des ehemaligen deutschen Lagers Lublin, und Verschleppungen in die 506 Kołakowski 2003, S. 208; er zitiert den Bericht von L. Berija and Stalin und Molotov vom 28.11.1944 507 A. Lityński 2001, S. 52. Er geht davon aus, dass das Dekret vor dem September-Oktober-Besuch der Delegation polnischer Kommunisten in Moskau vorbereitet wurde. Der Text ist einsehbar auf http://www.dziennikustaw.gov.pl/du/1944/s/10/50/1 [10.4.2018] 508 „Stalin udzielił polskim komunistom dwóch lekcji. Po pierwsze, dał im do zrozumienia, że oczekuje surowych represji wobec ‘wroga klasowego’, czyli wszystkich, którzy sprzeciwiają się bądź mogą się sprzeciwić nowej władzy. Nakazywał wprowadzenie metody kija i marchewki, gdzie kijem jest strach, a marchewką reforma rolna, której przebieg interesował go na równi z polityką terroru. Stalinowska sztuka rządzenia polegała na takim dozowaniu lęku i poczucia złudnego bezpieczeństwa – zwracała uwagę Krystyna Kersten – by w efekcie doprowadzić do kapitulacji i ubezwłasnowolnienia, a nie jak podczas okupacji niemieckiej, do powszechnego oporu. […] Po drugie, również polscy komuniści powinni odczuwać strach.“ (Zaremba 2012, S. 375) 335

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UdSSR das Hauptinstrument der Verfolgung. Ab Oktober begannen jedoch Massenverhaftungen, deren Ausmaß die gesamte Gesellschaft erfasste. Terror breitete sich aus. Im September wurde das Lubliner Schloss wieder als Gefängnis eingesetzt und Mitte September 1944 die ersten Todesurteile erlassen – also noch vor den Tribunalen gegen die deutsche Majdanek-Mannschaft im November. Die von Lublin aus in Polen agierenden sowjetischen Sicherheits- und Geheimdienste des NKWD-NKGB bzw. SMERŠ, in denen über 8000 Personen tätig waren, wurde von Ivan Serov geleitet, der Mitte Oktober in die Stadt kam (Kriwienko 1996, S. 22), also zu der Zeit, als Ford nach Moskau kommandiert wurde (laut seinem Brief vom 17.10.1944). General Serov war der Bevollmächtigte des sowjetischen Geheimdiensts im Hauptquartier der 1. Belorussischen Front in Lublin.509 In einem Bericht, den er am 5. Januar 1945 an den sowjetischen Geheimdienstchef Lavrentij Berija schickte, führte er folgende Statistik an: zum 15. Oktober 1944 seien 13428 Menschen in Polen verhaftet worden: 9501 Mitglieder der Heimatarmee, 2117 Deserteure. 10434 wurden in sowjetische Lager deportiert (Kijek o. J.). Foitzik beschreibt den „1945 vierzigjährigen NKGB-Kommissar 2. Ranges, Iwan A. Serow“ wie folgt: Als Generalstabs-Offizier ausgebildet, war Serow bei Kriegsbeginn an führender Stelle an der Gleichschaltung der baltischen Republiken und Ostpolens beteiligt gewesen, im Krieg bei Massen-Deportationen wie bei der Evakuierung von Fabriken eingesetzt oder auch als Truppenkommandeur an besonders heiklen Frontabschnitten. Gegen Kriegsende marschierte er mit einigen hundert Sicherheitsfachleuten als NKWD-Beauftragter im Rücken der Heeresgruppe Schukow durch die Ukraine, Weißrußland und Polen bis nach Berlin. Im April 1945 wurde er zum Stellvertreter Schukows ernannt und zwei Monate später zum NKWD-Bevollmächtigten bei den sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland. (Foitzik 2006, S. 17–18)510

Foitzik beschreibt Serovs „Säuberungsmaßnahmen“ in der Etappe der Fronttruppen, die auf (vermeintliche) Spione bzw. „Terroristen“ und „Diversanten“ angewandt wurden und kommt zu dem Schluss: „Zugleich enthält das Bild einen direkten Rückverweis auf terroristische Praktiken der vorangegangenen nationalsozialistischen Diktatur.“ (Foitzik 2006, S. 10) 509 „Wicekomisarz spraw wewnętrznych generał Sierow, pełnił w Lublinie funkcję pełnomocnika NKWD przy Dowództwie 1 Frontu Białoruskiego.“ Kijek o. J.; und Skrzypek 2002, S. 59. 510 „Serow, Iwan Alexandrowitsch (1905–1990); 1945 Generaloberst, 1955 Armeegeneral, 1963 Generalmajor (degradiert); 1926–65 WKP(B)/KPdSU; 1939 Kommissar der Staatssicherheit III. Ranges, Leiter Sowjetisierungskampagnen in Baltikum und Ukraine (Ostpolen), ab Okt. 1941 stellvertretender Volkskommissar der UdSSR für Inneres; 1944–45 als NKWD-Beauftragter mit Sicherungsaufgaben im Rücken der Kampftruppen in der Ukraine, in Polen und in Deutschland betraut. 1945–47 Stellvertretender Oberster Chef der SMAD für Zivilverwaltung, Geheimdienstchef in der SBZ und in dieser Eigenschaft gleichzeitig Stellvertreter des Oberkommandierenden der Besatzungstruppen, 1946–54 stellvertretender Minister des Innern der UdSSR; 1954–58 Gründer und Erster Leiter des Komitees für Staatssicherheit (KGB), 1958–62 Chef militärischer Geheimdienst (GRU). Nach Enttarnung von Oberst O. Penkowski (wegen Spionage für USA und England) 1963 degradiert, 1965 u. a. wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit während seiner Tätigkeit in Deutschland aus der KPdSU ausgeschlossen.“ (Foitzik 2006, S. 17)

6.8 Zensur im befreiten Volkspolen

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Mit Serov war – einige Wochen vor der Premiere des Films in Lublin – einer der schärfsten zur Verfügung stehenden Geheimdienst-Kader auf das sich gegen eine erneuerte totalitäre Machtausübung sträubende Polen angesetzt worden. Dies konnte nicht ohne Folgen auf die Zensur der beiden Filmversionen bleiben. Inwieweit die wiederholten bzw. doppelt angefertigten Filmaufnahmen bereits eine Auswirkung dieser Verschärfung der Moskauer Propagandalinie sind, kann weitere Forschung in militärischen Archiven bzw. Archiven der Militärabwehr beantworten. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass Karmens Absetzung am 29. November 1944 mit der Unzufriedenheit der Moskauer Propaganda-Führung in Zusammenhang steht. Zwei bzw. drei Tage nach der Premiere der polnischen Fassung in Lublin (26.11.) verliert Roman Karmen laut der biografischen Daten in Derjabin (2016, S. 352) seine leitende Position in der Filmgruppe der 2. Ukrainischen Front. Man kann zudem bereits jetzt sagen, dass das Scheitern des Plans die Welt rechtzeitig mit Hilfe der Majdanek-Filmaufnahmen über die Funktionsweisen von deutschen KZs aufzuklären, nicht auf Reibungen zwischen den ‚Polen‘ und ‚Russen’ zurückzuführen ist, sondern zwischen verschiedenen politischen Richtungen bzw. Vertretern von unterschiedlichen Institutionen: Hier stehen Filmkünstlerinnen und engagierte Filmreporter gegen Parteifunktionäre und Agenten bzw. Spitzel, die auch eine Kamera bedienen konnten, deren Hauptfunktion es jedoch war, den Filmdreh in Lublin/ Majdanek auf eine Linie zu bringen, die nicht offiziell verkündet worden war, und die etwa Karmen offensichtlich nicht (aner)kannte. Zu den ersteren gehörten das Team des polnischen Regisseurs Ford und der sowjetische Kameramann Karmen, zu den letzteren die sowjetischen Kameraleute Štatland und Efimov.

6.8

Zensur im befreiten Volkspolen

6.8

Zensur im befreiten Volkspolen

L. Kijek schildert die Entwicklung hin zu einer politischen Zensur von Juli 1944 bis Januar 1945: Die neuen Behörden konnten es sich nicht leisten, mit einer allmählichen Indoktrinierung der Gesellschaft zu experimentieren. Moskau beschloss, ein Kontrollsystem für alle Publikationen des Landes zu schaffen. Die rechtlichen und organisatorischen Lösungen, die während der PKWN-Periode eingeführt wurden, zielten darauf, alle Institutionen zu zentralisieren, um nicht-kommunistische Medien zu eliminieren. Bereits am 18. Juli 1944 wurden die ersten Schritte unternommen, um Institutionen zu schaffen, die für Propaganda und Kontrolle des Wortes verantwortlich waren. Es wurde beschlossen, ein Informationsund Propagandaministerium zu schaffen. Seine Zusammensetzung umfasste die Abteilung Information und Presse, die Jerzy Borejsza unterstand, dem ersten Pressezensor. Am 16. Dezember 1944, kamen auf Bulganins Geheiß Peter Goldin und Kazimierz Jarmuż nach Lublin, zwei Offiziere der sowjetischen Literatur- und Kunst-Zensurbehörde Glavnoe upravlenie del literatur i isskustva. Ihre Aufgabe war es, die Aktivitäten polnischer Genossen zu unterstützen, um institutionelle Strukturen einer Zensurbehörde nach sowjetischem Muster zu etablieren. Drei Tage nach ihrer Ankunft meldeten sie nach Moskau: 337

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„Das Zensurdekret wurde von den polnischen Patrioten drei Monate lang vorbereitet. […] Der Entwurf sah keine Aufsicht über Radio, Kartographie, Export und Import von ausländischer Literatur, öffentlicher Vorträge, Ausstellungen, Kinos, Museen, usw. vor.“ (Wrona 1997, S. 380–381). Die sowjetischen Zensurspezialisten Goldin und Jarmuż kamen also genau in der Halbzeit zwischen der polnischen und der sowjetischen Premiere der Majdanek-Filme in Lublin an und beklagten, dass im befreiten Polen keine (Film)Zensur herrschte. Am 3.1.1945, einen Tag vor der Uraufführung der russischen Fassung (am 4.1.1945 in Moskau) meldeten sie nach Moskau, das „Wort Demokratie sei den Polen zu Kopf gestiegen“. Also wurde im Januar 1945 im sowjetisch besetzten Polen kurzerhand die Zensur eingeführt. Am 19. Januar 1945 entstand im Geheimen das Zentralbüro der Kontrolle der Presse, unter dem Minister für öffentliche Sicherheit Stanisław Radkiewicz. Im juristischen Sinne wurde die Existenz der Zensur erst im Juli 1946 formalisiert. Offiziell wurde diese aggressive staatliche Interferenz als Bezugnahme auf ein nachhaltiges und fortschrittliches menschliches und nationales Erbe begründet (Wrona 1997, S. 380–381). Dieser Prozess beeinflusste ohne Zweifel beide Fassungen des Majdanekmaterials. Auch wenn der Majdanek-Film der Fords noch vor der Etablierung der sowjetisch inspirierten Zensurbehörde in Polen beendet wurde, musste er durch die Militärzensur und wurde gemäß Liebman (2011) in Moskau zensiert. Ford leistete 1944 noch als überzeugter Kommunist seine „politisch-didaktisch-propagandistische“511 Unterstützung der sowjetischen Pläne in Polen, die auch seine Stellung im neuen Polen sichern sollte: Er wurde zum mächtigen Direktor des staatlichen Film Polski. Die federführende Beteiligung an der Gründung der Filmspeerspitze in der UdSSR war hierfür eine entscheidende Voraussetzung. In den nächsten beiden Kapiteln werde ich die beiden Formationen vorstellen, die in Lublin/Majdanek gefilmt und an den Filmmaterialien gearbeitet haben. Erst dann werden wir feststellen, ob die beiden Teams mit Kategorien wie Nation bzw. Nationalität, Ethnizität, Sprache bzw. Staatsbürgerschaft treffend charakterisiert werden können.

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Die Filmteams 7 Die Filmteams

7.1

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Die Filmspeerspitze

7.1

Die Filmspeerspitze

7.1.1

Aleksander und Olga Ford – von Legion ulicy bis Film Polski

Identität, Herkunft wie auch Vorkriegskarriere des Ehepaars Ford sind für das Verständnis der Majdanek-Filme höchst relevant. Aleksander Ford (Abb. 7.1) selbst gibt in Dokumenten Łódź als Geburtsort und seine Nationalität als polnisch an, und als Bildungsweg: Studium der Kunstgeschichte in Warschau.512 Dies ist laut den Recherchen des Ford-Biografen M. Danielewicz jedoch nicht durch Dokumente belegbar, wie auch sein Geburtsjahr, das entweder als 24.11.1907 oder 1908 angegeben wird (Danielewicz 2019, S. 18). Er wurde vermutlich als Моше Даниилович Лифшиц [poln. Mosze Liwszyc, Sohn des Daniel] in oder bei Kiew geboren. Man kann davon ausgehen, dass Ford seine Geburt nach dem Krieg mit der Angabe von Łódź korrigierte, um sich auf diese Weise voll und ganz zum polnischen Staat zu bekennen. 512 https://www.biogramy.pl/a/biografia/aleksander-ford-rezyser-wiesz [2.2.2019]. Laut Struk (2004, S. 140) und Shneer (2010, S. 167) in Łódź. Vgl. hierzu „Aleksander Ford Jr. – sein ältester Sohn – behauptet manchmal, sein Vater sei in Łódź geboren. Er weiß es von seiner Mutter, weil sein Vater nicht über solche Themen mit ihm gesprochen hat. Manchmal sagt er, sein Vater sei aus Kiew nach Łódź gekommen, weil Tante Celina es ihm gesagt hat.“ (Danielewicz 2019, S. 18) Celina war eine von Fords Schwestern. Viele polnischen Bürger, die im Russischen Reich bzw. der UdSSR geboren sind, verschwiegen dies – entweder als Reaktion auf eine anti-russische bzw. -bolschewistische Haltung oder aufgrund der Befürchtung einer Repatriierung im Sinne einer Verschleppung oder zwangsweisen Einbürgerung (das Gleiche gilt für Kinder, die das Familiengeheimnis unbewusst weiterhüten). Zur Passausgabe / pasportizacija von Polen auf sowjetischem Territorium während des 2. Weltkriegs vgl. Ackermann 2010, S. 107: „Zwangsmaßnahme. Alle Einwohner von Städten und die Dorfbevölkerung innerhalb eines Sicherheitskordons entlang der Grenze waren verpflichtet, die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Andernfalls drohte ihnen wie im Fall der Flüchtlinge aus dem Westen die Ausweisung in den deutsch besetzten Teil Polens oder die Deportation in den Osten bzw. nach Kasachstan.“ Bei der Einwanderung in die USA hatte Ford als Geburtsjahr 1908 angegeben: https://www.findagrave.com/memorial/15882450/aleksander-ford [1.9.2019] Zum Fälschen von Geburtstdaten und -orten vgl. auch A. Grossmann 2017, S. 205. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Drubek-Meyer, Filme über Vernichtung und Befreiung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30531-4_7

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7 Die Filmteams

Im Dunkeln liegt das Datum der Umsiedlung der Familie Lifšic/Liwszyc aus Kiew, das Danielewicz in die Vorkriegszeit legt. Wahrscheinlicher erscheint mir die Zeit des 1. Weltkriegs. Ab 1915 wurden viele Juden aus den Grenzgebieten des Zarenreichs zunächst ins Landesinnere deportiert (vgl. das Beispiel der Familie Karmen).513 Oft konnten sie erst nach der Revolution bzw. während des Bürgerkriegs zurückkehren oder sich eine neue Heimat suchen; da Danielewicz (2019, S. 22–23) Fords Vater als „Litwaken“ bezeichnet, ist es nicht ausgeschlossen, dass die Familie Liwszyc aus dem Nordosten in den Süden ziehen musste, dort aber auch nicht bleiben konnte (in Kiew selbst gab es 1919 mehrere Pogrome).514 Mosze Liwszyc wäre damit bei seiner Ankunft in Łódź mindestens acht Jahre gewesen. Danielewicz (2019, S. 18) schreibt weiter: „Über die Mutter ist weniger bekannt. Name: Anna, Mädchenname: Dowgalewska, Herkunft: Russisch. Hausfrau und unermüdliche Mutter von fünf Kindern. Mosze hat einen jüngeren Bruder und drei ältere Schwestern.“ Wenn Ford seine Mutter als Russin (Dovgalevskaja) ansah, könnte das bedeuten, dass Fords „Muttersprache“ im wörtlichen Sinne das Russische war.515 Laut Danielewicz (2019, S. 22–23) hatte Ford nur eine schwache Bindung an das Judentum, möglicherweise war seine Mutter bereits russisch (bzw. ukrainisch: Dovgalevs’ka) assimiliert – einige jüdische Familien in der Gegend um Kiew tragen diesen Nachnamen.516 Der Name Mosze Liwszyc kommt in keiner der Datenbanken von Jewish Records Indexing (JRI), die die polnischen Gebiete erfassen, vor. Was die Familie Liwszyc angeht, so sind in Łódź keine entsprechenden Geburten im ersten Jahrzehnt registriert. Weder von Mosze (Mojsej) noch von Andrzej oder Szlama (Celina). Auch der Name Dovgalevskij bzw. Anna Dowgalewska figuriert nicht in den Listen von Łódź. Der Tod von Daniel [bzw. hier: Dawid]517 Liwszyc am 9.4.1923 ist jedoch mehrmals dokumentiert, und zwar einmal als Angabe aus den Polnischen Staastarchiven für das Gouvernement Piotrków 1906–35 in

513 A. Zamoiski, „World War I“, ARG Jews of Eastern Europe in the period 1914–1921: „From January 1915 the forcible relocation of the Jews from the front zone started. The great suffering of the Jewish population was caused by the mass expulsions from their homes. From April 1915 many Jewish communities in Lithuania, Latvia, Poland, Belarus and Ukraine experienced forcible deportation to internal regions of the Empire. Such cruel measures were prepared by various means, including propaganda, rumors and accusations of Jews as spies.“ https://notes.cendari. dariah.eu/cendari/andreizamoiski/notes/87/ [2.6.2019] 514 So etwa im Stadtteil Ivankiv am 18.–20. Oktober 1919 durch Kosakentruppen unter Kommandant Struk; jüdische Männer wurden getötet, Frauen vergewaltigt (Gitelman 2001, S. 65ff). 515 Die Angabe „Dowgalewska“ findet sich auf Fords Ausreiseantrag vom Juli 1968, wo er als Eltern angibt: „Daniel i Anna Dowgalewska.“ In einem früheren „Spezialfragebogen“ führt Ford an, dass er folgende Sprachen beherrsche: Russisch, Deutsch, Tschechisch, Französisch. 516 V. Dovgalevskij war der Name des sowjetischen Botschafters in Frankreich (1927–34), der aus dem Kiewer Gebiet stammte; sein Name bei der Geburt war Israel. Es existiert auch die Variante Dovgolevskij. 517 Bei der Verleihung einer staatlichen Auszeichnung im Jahr 1954 steht: „Aleksander, Sohn von Dawid“; http://prawo.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WMP19540951081/O/M19541081.pdf

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der Akte 487 und zum zweiten über seinen Grabstein auf dem Friedhof von Łódź.518 Die einzige Geburt, die sich dieser Familie im Gouvernement Piotrków zuordnen ließe, wäre eine 1909 geborene Anna Liwszyc [Анна ЛИВШИЦ; laut JRI: Geburten 1907 and 1909, Akte 370). Dies stimmt jedoch nicht mit der Angabe überein, dass Mosze eine jüngere Schwester hatte, die Celina hieß, während seine anderen beiden Schwestern älter waren (d. h. sie müssten vor 1907/8 geboren sein, nicht danach). Aus alle dem kann man folgern, dass der Sohn Mosze in der Familie Dovgalevskaja-Lifšic [Dowgalewska-Liwszyc] tatsächlich weder im polnischen noch russischen Teilungsgebiet zur Welt gekommen ist. Daher darf das Gouvernement Kiew bis auf Weiteres als wahrscheinlicher Geburtsort gelten. Weitere Studien in den Archiven zu diesem Gouvernement könnten endgültige Klarheit bringen. Danielewicz (2019, S. 23, 33) spricht von einer „Flucht vor der Teilung in Juden und Gojim“ bereits „lange vor Łódź, durch die Heirat mit einer Russin“, und von dem Bemühen des Vaters, den „mit Rückständigkeit verbundenen östlichen Akzent“ eines „Litwaken“ loszuwerden, womit offensichtlich das Jiddische gemeint ist. Allerdings weist auch Annas Nachname auf eine jüdische Herkunft. Hier müsste man nachhaken, denn wenn Danielewicz von „ihrem östlichen Akzent“ spricht, dann ist damit wohl das Jiddische gemeint („Ich wschodni akcent kojarzy się tu z zacofaniem.“).519 Umgangssprache der Litwaken (jidd. litwakes) war Jiddisch. Der litwische ostjiddische Dialekt wird, im Unterschied zu den südlichen Varianten (polnisches Zentralostjiddisch und ukrainisches Südostjiddisch), als Nordostjiddisch bezeichnet. Wenn die Angaben von Fords Schwester Celina zutreffen, dass Vater Liwszyc aus der Ukraine stammt, dann sprach er allerdings nicht „litwish“, sondern „poylish“ (Südjiddisch);520 oder sprach er mit seiner Frau Russisch? In aschkenasischen Familien war Mehrsprachigkeit gang und gäbe, wobei die Kenntnis der „heiligen Sprachen“ Aramäisch und Hebräisch Männern vorbehalten war. Namen von über Staats- und Alphabetgrenzen migrierenden Familien sind oft vielfältig. Fords jüngerer Bruder führte den Namen Andrzej Liwnicz, und diese Variante des Nachnamens ist auch in einigen Dokumenten Fords zu finden. Mosze L. nahm laut Danielewicz (2019, S. 33) den Nachnamen Ford als zwanzigjähriger an, um sich von seiner Herkunft zu distanzieren, „Litwaken“ waren in der Zweiten Polnischen Republik nicht wohl gelitten. Mosze L. genügte es nicht, das Jiddische wie auch Östliche seines Idioms linguistisch abgelegt zu haben, er strebte bald nach einem totalen makeover: Aus Mosze Liwszyc wird Aleksander Ford,521 eine ungewöhnliche Pseudonymwahl, da Juden

518 „Section: N Row: 4) 3 Grave: 264 Side: L“ (https://jri-poland.org/databases/jridetail_2.php). [12.10.2019] 519 Danielewicz (2019, S. 33) erwähnt, dass er fürchtete, er würde als Russenbengel (Rusek) bezeichnet werden. 520 „Northeastern Yiddish, the territory of the Litvaks, is held up in contrast to the southern dialects: Mideastern Yiddish, popularly Póylish (‘Polish’); and Southeastern, sometimes called Ukráynish (‘Ukrainian’).“ (Katz 2008, S. 175–176) 521 Laut „Punkt 5: Frühere Namen“ in Fords Ausreiseantrag vom Juli 1968 benutzte er den Namen Liwszyc vor 40 Jahren (dies würde heißen, bis 1929). 345

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in Osteuropa oft die Initialen beibehalten, wie im Fall von Michał Waszyński (Mosze Waks), Juliusz Gardan (Gradstein), von Dziga (statt David bzw. Denis) oder von Karmen (Korenman). Auch Roman Karmen verwendet seinen hebräischen Namen Efraim nicht, behält jedoch das ‚internationale‘ Pseudonym des Vaters. Der ein Jahr nach Karmen geborene Ford möchte seine Identität international und gleichzeitig für den Osten offen erscheinen lassen (Aleksander und davon abgeleitet Olek oder Sasza) wie auch amerikanisieren (Ford). Hintergrund ist die Vorliebe des jungen Kinobesuchers für Western-Filme der Ford-Brüder. Francis (1881) und später John (1894) Feeney (auch: O’Feeney oder O’Fearna) spielten in Hollywood ab den 1910er Jahren eine führende Rolle, und es war der ältere Francis Feeney, der den Künstlernamen von der Automobilmarke übernahm und so in der protestantischen Mehrheitsgesellschaft den Bezug zur irisch-katholischen Herkunft löschte; sein Bruder machte es ihm nach. Und in Warschau Mosze Liwszyc ebenfalls – wohl nicht ahnend, dass er damit die Geste der Löschung des jeweiligen Minderheitenstigmas wiederholte. Dies geschah laut Danielewicz (2019, S. 33) etwa 1927, d. h. ein Jahr nach dem Meister-Western über den Dakota Land Rush 3 Bad Men, den John Ford auch produziert hatte. Ford, Mińska wie auch Bossak stammten aus jüdischen, in Kongresspolen bzw. im Zarenreich ansässigen Familien, jedoch war die Familie Liwszyc im Gegensatz zu denjenigen Bossaks und Mińskas nicht wohlhabend. Der in einer Textilmanufaktur beschäftigte Meister D. Liwszyc starb bereits im Jahre 1923 und hinterließ eine Frau mit fünf Kindern; der älteste Sohn Mosze war damals etwa 15 Jahre alt. Danielewicz (2019, S. 28) erwähnt, dass seine beiden älteren Schwestern in die UdSSR gingen, um zu studieren und dort von der Familie ihrer Mutter unterstützt wurden. Ford und Bossak hatten nach der Gründung der Zweiten Polnischen Republik die polnische Staatsbürgerschaft und mögen sich erstmals Ende der 1920er im Kontext der Gründung der avantgardistischen Filmgenossenschaft START (Stowarzyszenia Miłośników Filmu Artystycznego) getroffen haben. Mitglieder waren damals unter anderem Wanda Jakubowska, Stanisław Wohl, Eugeniusz Cękalski, Ludwik Perski, Jerzy Zarzycki522 und der in Deutschland v. a. als Filmhistoriker bekannte Jerzy Toeplitz. Anna Misiak (2003) beschreibt diese Gruppierung als marxistische „Herausforderung für das kommerzielle Kino“: In 1929 in Warsaw the influential group of film makers and theorists was first formed. It was called START ([…] Society of the Devotees of the Artistic Film). As a young Marxist Ford wanted to challenge the commercial cinema. Being a START member he convinced himself that the movies should spread didactic messages and he tried to propagate this point of view after 1945.

Das Autorenkollektiv des Buchs Contemporary Polish Cinematography (Banaszkiewicz et al.1962, S. 18) schrieb: „Start members were united by what in 1932 became the axiom of

522 Spätere Fotos einiger der START-Mitglieder finden sich auf der Seite der http://fototeka.fn.org. pl, so etwa Perski: https://bit.ly/2Hr4ICU [2.2.2019]

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the organization ‘fight for films for the public good’.“ START existierte jedoch nur einige Jahre und wurde durch eine andere Kooperative (SAF) abgelöst: In 1935 Start was disbanded due to a crisis with the organization. Spółdzielnia Autorów Filmowych (Cooperative of Film Authors) founded in 1937 carried on the ideas of Start. The Cooperative, known as SAF, was set up by Cękalski, Wohl, Zarzycki, Ford, and others. Stefan and Franciszka Themerson, who had been making their interesting experimental films independently, joined the organization.

Als der Krieg ausbrach, wurden nahezu alle Mitglieder von SAF entweder im Untergrund oder bei den Alliierten (auch der Andersarmee, v. a. in ihren Anfängen) tätig, so etwa in London, New York bzw. in der UdSSR. Die Themersons machten in London 1943 mit Calling Mr Smith einen innovativen Propaganda-Film, der ein größeres Publikum für die eigentlichen Ziele der Nazis sensiblisieren sollte. Einige Mitglieder von START bzw. SAF – namentlich Ford, Bossak, die Forberts und Wohl – sympathisierten mit der sowjetischen Idee und überstanden den 2. Weltkrieg in der UdSSR. Wie die Publikation von Shelter from the Holocaust. Rethinking Jewish Survival in the Soviet Union (2017) zeigt, war das Schicksal v. a. der polnischen Juden in der UdSSR nicht immer ein leichtes. Die Internierung von Polen wird in der Einleitung zum Band von Mark Edele, Sheila Fitzpatrick, John Goldlust und Atina Grossmann (2017, S. 8) so beschrieben: For the tens of thousands of Polish Jews who came under Soviet authority after September 1939, life, as refugees and deportees and, after the German invasion, as “amnestied” Poles in Central Asia or serving in military units, was terribly difficult and sometimes lethal. But it did offer the opportunity for survival, a significant contrast to the systematic genocide the Nazis unleashed on the territories under their control.

Goldlust (2017, S. 50) fügt hinzu: „Most of the Polish deportees spent more than a year as involuntary inmates under the strictly controlled regime of these remote labor camps.“ Nach – oft unfreiwilligen – Irrfahrten durch die gesamte Sowjetunion und Internierungen trafen die Filmleute sich im Juni 1943 in einem Trainingslager der Kościuszko-Division bei Sel’cy südöstlich von Moskau wieder, in dem die „Czołówka Filmowa Ludowego Wojska Polskiego“ („Filmspeerspitze der Polnischen Armee“) gebildet und instruiert wurde. Die Filmspeerspitze wurde am 15. Juli 1943 vereidigt.523 Über Ford heißt es in Contemporary Polish Cinematography (Banaszkiewicz et al.1962, S. 14), der „Majdanek“ als ersten Film im befreiten Polen (mit dem neuen bzw. verkürzten Titel): 523 Laut Jewsiewicki (1972, S. 80) wurde Ford von Włodzimierz Sokorski vorgeschlagen und am 20.9.1943 von General Karol Wacław Świerczewski als ihr Leiter bestätigt. Vgl. auch die Darstellung in Natan Gross, Film żydowski w Polsce 2002. Danielewicz (2019, S. 118) paraphrasiert Bossaks Erinnerung der Zusammenkunft: „Im Jahr 1943 befand ich mich irgendwo am Fuße des Himalaya, wo Ford mich fand und zu der Czołowka brachte.“ Laut Registrationsbuch der Filmspeerspitze war seine „Mobilmachung“ erst im Frühjahr 1944. 347

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Spent the war in the U.S.S.R., employed in the film studios. In 1943 organized the Polish Army Film Command where he collaborated in the Production of the newsreel called “Fighting Poland”. On the liberated area of Poland, Ford made the first documentary report “Majdanek” (1944), a film on the Nazi death camp Majdanek. Headed the Polish film organization in 1944–47 as director of the Polish Army Film Studio, later director of Film Polski.

Die Autoren von Contemporary Polish Cinematography (Banaszkiewicz et al. 1962, S. 20) verschweigen nicht, dass Antoni Bohdziewicz und Jerzy Zarzycki „carried on film work in the underground“ (im besetzten Polen), dass E. Cękalski für die Briten und dann das Polish Information Centre Film Co. in New York arbeitete, doch kommen sie zu dem Schluss: But the activity of the Polish Army Film Command headed by Aleksander Ford was more important to the development of the Polish film. It was organized in 1943 when Polish army units were formed in the U.S.S.R.. The directors and cameramen of the Command, among whom aside from Ford were Jerzy Bossak, Adolf and Władysław Forbert, Ludwik Perski, Stanisław Wohl and others, became chroniclers of the battles for the liberation of the country producing under difficult war conditions a number of newsreels and documentary films. (Banaszkiewicz et al.1962, S. 20)524

Nicht erwähnt wird jedoch die in London geleistete Arbeit Stefan Osieckis, der nicht nach Polen zurückgekehrt war, sondern über den Warschauer Aufstand informieren sollte, Opowieść o mieście, und spektakulärerweise konspiratives Filmmaterial aus der besetzten Stadt verwendete. Von Bedeutung ist hier, dass in dieser offiziellen Darstellung die Gründung der polnischen Nachkriegskinematografie von sowjetischem Boden ausgeht – ein Umstand, der später der Gruppe um Ford noch einige Probleme bereiten und bis heute in Polen kritisch gesehen wird. Das nächste Kapitel der polnischen Filmgeschichte beginnt mit Sätzen, die noch einmal die Bedeutung der militärischen Anfänge des neuen polnischen Films bestätigen: „A GOOD BEGINNING. Immediately after the war, film production in Poland began with the activity of the Polish Army Film Command which was organized to record Polish participation in war.“ (Banaszkiewicz et al. 1962, S. 21). Aufschlussreich ist an diesen beiden Beschreibungen des Jahres 1944, in dem der Majdanek-Film gemacht wurde, 524 Białous (2015, S. 105) geht auf die Rivalität zwischen den Zuhausegebliebenen (im Widerstand Tätigen) und den mit der Roten Armee als Befreier/Besetzer Zurückkehrenden ein. Bohdziewicz hatte etwa im Frühjahr 1945 in Krakau eine informelle Filmschule gegründet: „Wiosną 1945 r. w Krakowie powstały nieformalne podwaliny powojennego szkolnictwa filmowego, Warsztat Filmowy Młodych pod kierownictwem Antoniego Bohdziewicza. Wśród uczestników warsztatu byli Jerzy Passendorfer i Jerzy Kawalerowicz.“ Ford hätte diesen Rivalen nicht dulden wollen und warf seinem Film 2 x 2 = 4 (A. Bohdziewicz (1945) „Minimalismus“ und „eine Orientierung an der AK“ wie auch „Londoner Einflüsse“ vor: „faktycznie pierwszy polski film powojenny, odrzucono jako nieudany eksperyment i skrytykowano za minimalizm, połowiczność, a także za akowską orientację i ‘wpływy londyńskie’. Obraz był dla grupy Forda dobrym pretekstem do unieszkodliwienia przeciwnika.“ (Białous 2015, S. 105) Der Film sei ein „geeigneter Prätext der Fordgruppe gewesen, einen Gegner zu beseitigen.“

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dass weder von der Bedeutung der Aufnahmen im internationalen Kontext (in Nürnberg und anderweitig) noch von der Kooperation mit sowjetischen Kameraleuten die Rede ist. Betont wird die Aufgabe der Filmspeerspitze (hier: „Polish Army Film Command“) als der „Chronisten der Befreiungsschlachten“ – wobei das Wort „Schlacht“ eine mehrfache Bedeutung haben kann, sich etwa auf den schwierigen Verlauf der ‚Befreiung‘ im Sinne einer militärischen Besetzung beziehen konnte. Etwas mehr bietet Toeplitz (1987, S. 925): Während des Krieges lebte Ford in der Sowjetunion, wo er Lehr- und Dokumentarfilme für die Armee schuf. Mit der Aufstellung der Armia Polska auf dem Gebiet der Sowjetunion wurde er Leiter der Spitzenabteilung Film des Polnischen Heeres (WP) bei der Division ,,Tadeusz Kościuszko“. Bereits in der Sowjetunion drehte er die ersten zwei polnischen (Dokumentar-) Filme mit folgendem Titel: Przysięgamy ziemi polskiej (Unser Schwur der polnischen Erde) und Bitwa pod Lenino (Die Schlacht bei Lenino) und anschließend, schon in Lublin, den Film Majdanek (1944). In den Jahren 1945 bis 1947 war Ford Generaldirektor des neu entstandenen Film Polski. 1947 kehrte er zur schöpferischen Arbeit zurück.

Ford und Bossak gründeten 1944 im befreiten Lublin die Wytwórnia Filmowa Wojska Polskiego, die später nach Łódź, das erst im Januar 1945 befreit wurde, verlegt wurde.

Abb. 7.1 Alexander Ford, Quelle: Nathan Gross: Die Geschichte des jüdischen Films in Polen. 1910–1950, Magnes Press, The Hebrew University, Jerusalem 1950

Ford war also nicht nur Leiter der Filmspeerspitze und der Produktionsgesellschaft der Polnischen Armee (Wytwórnia Filmowa Wojska Polskiego) in Lublin, sondern bis 1947 auch der staatlichen Produktionsfirma Film Polski. In diesem Jahr musste er – wie Toeplitz es vornehm umschreibt, „zur schöpferischen Arbeit zurückkehren“.

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Wie auch Bossak unterrichtete Aleksander Ford in Volkspolen aber auch an der Filmakademie in Łódź (Państwowa Wyższa Szkoła Filmowa), Ford aber nur bis 1968. 1960 bescherte er der polnischen Kinematografie mit Krzyżacy / Kreuzritter ihren größten Kassenerfolg. Anders als der anpassungsfähige Bossak blieb Ford nicht in Polen: Als die antisemitische Welle in Polen Ende der 1960er Jahre ihn aus der Partei katapultiert hatte, entschied er sich 1968 mit seiner zweiten Ehefrau, Elinor Gail Griswold, mit der er drei Kinder hatte, für die Emigration: 1969 ging er nach Israel, dann lebte er in Dänemark, arbeitete in der BRD und zuletzt in den USA. 1980 nahm Aleksander Ford sich in Naples, Bundesstaat Florida, das Leben.525 Als Ford die amerikanische Schauspielerin Elinor (auch: Eleonora Kałużyńska, * 1933) kennenlernte, war sie mit dem marxistischen Journalisten, Filmkritiker und Informanten Zygmunt Kałużyński (Lublin 1918 – Warschau 2004) verheiratet, der der Scheidung nicht zustimmte und vor Gericht die Vaterschaft der 1961 – also noch während der bestehenden Ehe – geborenen Tochter erstreiten wollte.526 Griswold war mit der Theatergruppe Joan Littlewood nach Warschau gekommen und geblieben. Ab Ende 1960 lebte sie mit Ford zusammen. 1973 drehte Ford in Berlin und Israel einen Film über Janusz Korczak, Sie sind frei, Dr. Korczak, mit Jerzy Lipman (Brest-Listowsk 1922 – London 1982), einem weiteren Kollegen jüdischer Herkunft, der aus Polen geflohen war.527 Der Film wurde produziert von Artur Brauner (Łódź 1918–2019 Berlin), der ebenfalls den Krieg in der UdSSR überlebt hatte. Filip Gańczak gibt hierzu näher Auskunft: Im Herbst 1967 meldet ein gewisser „Leonard“, Informant der polnischen Stasi, Ford wolle einen Holocaust-Film über Janusz Korczak drehen. Korczak war Leiter eines jüdischen Waisenhauses im Warschauer Getto und starb vermutlich 1942 im Vernichtungslager

525 Jerzy Armatos Biografie von Ford findet sich unter „Biogram“ auf dieser Webseite: http:// fototeka.fn.org.pl/pl/osoby/info/819/ford-aleksander.html ]16.4.2018] 526 Laut Filip Gańczak (2011a) war er ab 1953 mit dem polnischen Geheimdienst in Kontakt bzw. für diesen tätig. Dies geht aus Kałużyńskis antisemitisch gefärbten Berichten über seine Frau Elinor und Aleksandr Ford hervor. Kałużyński war im 2. Weltkrieg bei der Heimatarmee gewesen, schloss sich jedoch nach der Ankunft der Roten Armee dem Fronttheater der Polnischen Streitkräfte in der UdSSR in Lublin an. Aufgrund der AK-Vergangenheit und Gerüchten bezüglich seiner Homosexualität war er erpressbar (Gańczak 2011a) und leistete bis 1968 über die Familie seiner (Ex-)Frau Elinor Griswold, die er 1956 kennengelernt hatte, Spitzeldienste. In diesen Berichten wird diskutiert, ob die Griswolds – bzw. die adoptierte Elinor – jüdischer Herkunft sind, und ob sie Fords Filmunternehmungen finanzieren könnten. Kałużyński spielte offensichtlich die Rolle eines ‚Romeo‘, angesetzt auf die Ausländerin aus den USA und später auch auf ihren anderen Partner, A. Ford. 527 Lipman stand für Munk, Wajda, Polański, bzw. nach seiner Emigration in die BRD, Bernhard Wicki und Helmut Dietl hinter der Kamera, 1973 dreht er eine Tatort-Episode mit Samuel Fuller; https://www.imdb.com/name/nm0513512/ [1.9.2019] Lipman wurde als Mitglied der Heimatarmee und Teilnehmer am Warschauer Aufstand von den Sowjets „interniert“ und zur Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst genötigt (Gańczak 2011, S. 19ff).

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Treblinka. Der Film soll wieder als eine polnisch-westdeutsche Co-Produktion verwirklicht werden. „Leonard“ vermutet, die CCC-Film stehe dahinter. Ein Brief Aleksander Fords, der in seiner Stasi-Akte landet, bestätigt: Der Regisseur steht mit Brauner in Kontakt. Das Projekt wird von der polnischen Stasi verfolgt, als antipolnisch abgestempelt und torpediert. Der Drehstart wird in letzter Minute gestoppt. Der Hauptvorwurf lautet, Ford wolle „einen guten Gestapo-Mann zeigen und eine jüdische Widerstandsbewegung, die von der polnischen Gesellschaft isoliert war. Brauner ging es darum zu zeigen, dass die Hilfe seitens der polnischen Widerstandsbewegung gleich null war.“ Alle diese Punkte verstießen gegen die offizielle Geschichtsdeutung. Ford wird bald aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und verlässt Polen. (Ganczak 2011b)

Fords Ostrazismus war also in direkter Weise mit seinem Plan verbunden, sich erneut dem Thema des Judenmords in Polen zuzuwenden, gepaart mit dem Malus der Westkontakte. Man kann davon ausgehen, dass die Überwachung durch Ostblock-Geheimdienste seit seinem Aufenthalt in der UdSSR nicht abbrach und auch über seine späteren Partnerinnen bewerkstelligt wurde – ihm blieb tatsächlich kein anderer Ausweg als das Exil, eine Entscheidung, die Ford nicht leichtgefallen ist. Der Berliner Produzent Brauner wiederum klagte wegen des gekündigten Vertrags vor einem polnischen Gericht. Ford und Brauner drehten nach Fords Emigration Sie sind frei, Dr. Korczak im Westen als deutsch-israelische Co-Produktion (1975), einige Jahre vor der amerikanischen TV-Serie Holocaust. Einige Jahre später wird in Polen ein weiterer Korczak-Film (Agnieszka Holland schrieb das Drehbuch) abgeschmettert. Erst nach der Wende kann Fords Schüler, Andrzej Wajda (selbst nicht jüdischer Herkunft), Korczaks Biografie in Polen verfilmen. Eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Werk des in Polen ab den 1970ern umstrittenen Regisseurs Ford begann in den letzten Jahren; so fand 2017 im FINA Warschau eine Retrospektive statt und sein der filmischen Moderne angehörendes Werk figurierte 2018 prominent in einer Ausstellung über die Kultur der 2. Republik (vgl. E. Wysocka 2018). 2019 erschien Michał Danielewiczs umfangreiche literarische Reportage, die ein mancherorts tendenziöses, jedoch sorgfältig recherchiertes biografisches Gesamt-Porträt von Ford zeichnet; ironischerweise ist es kein Filmhistoriker, sondern ein Soziologe, der heute am besten über Ford informiert ist. Fords Beteiligung an jiddischen Filmprojekten bis hin zu Mir lebn geblibene / Wir Lebengebliebene (Polen 1947; Regie: Nathan Gross, produziert von Shaul Goskind) für Kinor macht ihn zu einer außergewöhnlichen Figur des europäischen Films,528 die aufgrund ihrer jüdischen Identität in Loyalitätskonflikte gegenüber der KP geriet, wobei unklar bleibt, ob bereits während der Produktion des Majdanek-Films. Ford wurde 1932 mit Legion ulicy (Die Legion der Straße) bekannt, einem „inszenierten Dokumentarfilm“ über Zeitungsjungen, „a gritty portrait of Warsaw newsboys and street

528 Vgl. L. Kaczyńskis (2013) Artikel über Fords Nachkommen in Polen mit dem bezeichnenden Titel „Ford: Ein Name, der schmerzt“. 351

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vendors that anticipated Italian neorealism in its use of staged documentary.“ (Hoberman 1991, S. 226) (Abb. 7.2)

Abb. 7.2

Nach der Premiere von Legion ulicy, 1932: Olga Mińska-Ford(owa) ganz rechts, dritter von rechts: Kazimierz Prusiński, Direktor des Kinos Stylowy; sitzend: links, Maria Hirschbein; in der Mitte: Aleksandra Piłsudska. Foto in Swiat 27, Nr. 15, 9.4.1932

Ford ist inzwischen – er gibt als Jahr „etwa 1930“ an – mit Olga [Ola] Mińska verheiratet, die aus einer wohlhabenden Familie stammt. Und es war Ola, nicht „Olek“ (so Fords Kosename),529 die ein Kunstgeschichtsstudium vorweisen konnte. Olga absolvierte nach eigenen Angaben 1936 auch die Höhere Journalistenschule. Da Aleksander Fords erste Frau ihm also an formaler Bildung überlegen war, wird es kaum erstaunen, dass sie Drehbücher für und mit ihm verfasste und auch über Film schrieb.530 Olgas Vater war ein Jurist mit dem Vornamen Jakub.531 Sucht man in den Datenbanken von Jewish Records Indexing, findet sich in Warschau nur ein Jakow Miński, der sich von den Eckdaten her als Vater von Olga eignet, (Mosze) Jakow Miński, Sohn von Aharon Miński532 529 Danielewicz (2019, S. 55) berichtet von dem wohlhabenden Maler und Kunstprofessor Tadeusz Pruszkowski, der u. a. Piłsudski porträtierte, und Fords Film Nad ranem (1929) privat gefördert haben soll. Vgl. auch Toeplitz (1987, S. 911). 530 Sie veröffentlichte etwa 1938 einen Bericht vom VI. Internationalen Filmkongress wissenschaftlicher Filme in der polnischen Zeitschrift Wiadomości Filmowe Nr. 20, S. 1. 531 Olgas Angabe im Registrationsbuch der „Książka Rejestrowa Jednostki Wojskowej“ aus dem Ordner „Czołówka“ am CAW-WBH lautet: geboren am 15.6.1917 in Warschau (zum Jahr s. u.). 532 Laut Danielewicz (2019) stammte die Familie aus Warschau. Jakow war – laut Grabstein – der Sohn von Aharon Miński, dieser wiederum von Dov. Laut dieser Angabe starb Aharon Miński

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und Chaja Zilberberg. Laut Grabsteinaufschrift ist Jakow am 17.12.1931 im Alter von 45 Jahren gestorben, d. h. er wäre um 1886 geboren. Jakow [Jakub] Miński hatte am 29.6.1911 Masia [Masza] Cingiser geheiratet, geb. 1895 in Przysucha (Gouvernement Radom).533 Ich gehe im Weiteren davon aus, dass es sich bei diesem Paar um Olgas Eltern handelt. Eine Eheschließung zwischen Mosze Liwszyc (Ford) und Olga Mińska ist in den Datenbanken jüdischer Untertanen bzw. Bürger nicht zu finden – allerdings ist auch Olgas Geburt nicht verzeichnet, obwohl ihre Eltern dokumentiert sind. Man kann annehmen, dass sie neben dem slawisch-normannischem Namen Olga (Helga) noch einen hebräischen hatte, der uns jedoch nicht bekannt ist. Bereits ihre Mutter trug die slawische Namensform des Namens Marija, „Maša“ (bei der Hochzeit in Warschau 1911 kyrillisch als Маша geschrieben). Die Heirat von Maša und Jakub im Juni 1911 legt nahe, dass Olga, die laut Selbstauskunft im Registrationsbuch der Filmspeerspitze im Juni Geburtstag hatte, tatsächlich im oder ab Juni 1912 in Warschau geboren sein kann. Laut Danielewicz lernen sie sich kennen, als Ford gerade 20 Jahre alt ist, d. h. 1927 oder 1928. Olga verschafft ihm Zugang zur bzw. die Aufmerksamkeit der höchsten Warschauer Gesellschaft. Aus der Fotografie Abb. 7.2 lässt sich herauslesen, dass Olgas großbürgerliche Familie alles getan hat, damit der Auserwählte ihrer Tochter sich ihrer würdig erweist; Ende der 1920er war er ein unbekannter Nebbich, eine Halbwaise, nicht aus Warschau stammend und ab 1931 Mitglied in der kommunistischen Partei.534 Was sich in der Darstellung von Fords Weggenossen Toeplitz wie ein unwahrscheinlicher Aufstieg liest, scheint in Wirklichkeit nicht allein auf das Talent des jungen Regisseurs zurückzuführen sein. Der Faktor ‚Olga‘ fehlt in seiner Darstellung völlig, und dies nicht nur aufgrund der Blindheit gegenüber weiblicher Autorschaft, sondern auch, da Olga spätestens ab den 1970ern in der Volksrepublik Polen, wo Toeplitz lebte, als (Ex)Frau einer persona non grata ebenfalls unsichtbar wurde. Der Vorwurf der Verdrängung seiner ersten Partnerin betraf Ford jedoch auch selbst, der sich nicht einmal an das Jahr der Eheschließung erinnern wollte. Vermutlich ist neben der finanziellen Unterstützung auch symbolisches Kapital in die Filmprojekte des jungen Paars geflossen, denn der Kurzfilm Nad ranem über das Erwachen einer Stadt „wurde ganz unerwartet vom Vertrieb angekauft“ (Toeplitz 1987, S. 913). Dies mag Toeplitz erstaunen, kaum jedoch den Ford-Biografen Danielewicz (2019, S. 55), der davon spricht, dass „die Fords durch Olgas Familie in schweren Jahren unterstützt wurden“ („w trudnych dla Fordów latach rodzina Olgi będzie ich wspierać“). Toeplitzs (1987, S. 913) Beschreibung der Rezeption von Fords nicht erhaltenem Film Legion ulicy lässt darauf schließen, dass der junge Regisseur kräftige Unterstützung sowohl von der Filmbranche selbst als auch von der ihn bis dahin ignorierenden Mainstream-Filmim selben Jahr wie sein Sohn, im April 1931 (Aharons Todestag war 15.4.1931): https://cemetery. jewish.org.pl/id_52408/info/back_1:0/__Mi%C5%84ski.html [12.10.2019] 533 https://cemetery.jewish.org.pl/id_92112/info/ Tochter von Szymsia und Liba Snosnhoch. Szymsia Cyngis(s)er (* 1847 in Przysucha) war der Sohn von Herszek und Hendla Ajdla Butrow aus Skrzynno. https://jri-poland.org/databases/jridetail_2.php) [12.10.2019] 534 Lebenslauf A. Ford, 6.11.1954 (Centralne Archiwum Wojskowe - Wojskowe Biuro Historyczne). 353

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presse erhielt, die einen „einhelligen Lobgesang“ auf das „wirklich amerikanische Tempo“ (Kino) anstimmte, eine „neue Ära für einheimische Produktionen“ prophezeite, und auch nicht vor dem sozialen Engagement des Newcomers zurückschreckte. Danielewicz (2019, S. 57), dem nicht bewusst ist, dass es sich hier um eine weibliche Produzentin – Maria Hirschbein – handelt, schreibt über die vom „Produzenten finanzierte aufwändige Premierenfeier“ von Legion ulicy: „Sie laden zahlreiche Prominente ein, Aleksandra Piłsudska ist von dem Film begeistert. Alle gratulieren dem jungen Ford.“ Mit Mińska stellte Ford in den Jahren 1932–33 in Palästina den Film Sabra über zionistische Pioniere her (Abb. 7.3; sie wird im Abspann als Ko-Autorin des Drehbuchs genannt), begleitet wurden sie von dem deutschen Kameramann Franz Xaver Weihmayr, der unlängst die Kamera für den polnischen Film Dzikie pola / Wilde Felder (1932, Regie: Józef Lejtes) geführt hatte.535 Das Paar blieb mindestens neun Monate in Palästina (Danielewicz 2019, S. 70). Mimi Ash schreibt: 1932 brach Ford nach Palästina auf, wo er dokumentarische Aufnahmen des Lebens der jüdischen Pioniere sowie der arabischen Bauern und der Stadtbevölkerung machte. Unter anderem entstanden Filmaufnahmen des „Nebi Musa Festivals“, der ersten „Maccabiah“ im Jahre 1932 und der „Levant Fair“ im selben Jahr. Teile dieses Materials wurden später in Sabra (Palästina 1933) verwendet, einem der ersten Spielfilme, der von Mitgliedern der Jüdischen Gemeinschaft im britischen Mandat Palästina hergestellt wurde. (Ash o. J.)

Es wurden zwei Fassungen gemacht, in einer findet die Liebe zwischen einem arabischen Mädchen und einem jüdischen Jungen ein tragisches Ende. Vor der Premiere Ende 1933 gab es einen Zusammenstoß mit der britischen Zensurbehörde im Mandatsgebiet Palästina, die den Film als „propagandistisch, anti-arabisch, links und gefährlich“ einschätzte (Hoberman 1991, S. 227); die Schlacht zwischen Juden und Arabern wurde zensiert und der Titel Sabra durch Chalutzim (Pioniere) ersetzt (unter diesem Verleihtitel kam er 1934 in den USA in die Kinos). Doch auch die zionistischen Auftraggeber konnte der internationalistisch ausgerichtete Film nicht zufriedenstellen (Abb. 7.3).

535 1903–1969 München. Weihmayr war später Kameramann für NS-Größen wie Leni Riefenstahl und Zarah Leander, ab 1934 Ehemann von Ada Tschechowa.

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Abb. 7.3 Plakat für den Tonfi lm Sabra / Chalutzim (1933; A. und Olga Ford); https://zacheta.art.pl/ pl/kalendarz/sabra

Nach seiner Rückkehr arbeitete Ford weiter an dem Film mit Shaul Goskind (Fa. Sektor), „one of START’s patrons“ (ibid.). Goskind war es auch, der Władysław Forbert als Kameramann beim offiziellen Besuch von Jabotinsky in Warschau 1936 einsetzte, als die polnische Hymne wie auch die zionistische Hatikva gespielt wurde.536 Der Zionist Vladimir Jabotinsky (Žabotinskij) war mit Roman Karmens Vater in Odessa befreundet gewesen. Die Fords, die die Dialoge für Sabra in Jiddisch, Hebräisch und Arabisch aufnahmen und synchronisierten, hatten sich also bereits vor dem Krieg sowohl um das Thema der Juden als auch um den semi-dokumentarischen Tonfi lm verdient gemacht.537 Auch nach Fords Rückkehr nach Polen widmete er – oder soll man sagen: widmeten die Fords – sich in Mir kumen on einem jüdischen Sozium, nämlich dem Vladimir-Medem-Sanatorium für tuberkulosekranke Kinder, das vom Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland errichtet worden war. Hoberman (1991, S. 229) beschreibt den Film als „a demonstration of not only Bundist socialist but the progressive ideas on children’s self-government identified with Janusz Korczak“. Ähnlich sieht ihn Mimi Ash: Der Film, eine inszenierte Dokumentation, erzählt die Geschichte einer Gemeinschaft, die auf Solidarität, jiddischer Kultur und der Selbstverwaltung von Kindern basiert. Mir Kumen On (Polen 1936), wurde Nathan Gross, einem Mitbegründer der polnischen und israelischen

536 Diese Episode zeigt, dass Władysław Forbert – ähnlich wie Karmen – ein Talent hatte, mit seiner Kamera an historischen Brennpunkten zu fi lmen. 537 Ash bezieht sich auf die Studie von Arie L. Feldstein: The Pioneer, Labor and the Camera. Cinema in Service of the Zionist Idea. 1917–1939, Tel Aviv 2009, S. 132, in hebräischer Sprache. 355

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Filmindustrie, zufolge von den polnischen Autoritäten als „militant und gefährlich“ eingestuft und deshalb in Polen nicht gezeigt. (Ash o. J.)

Elżbieta Wysocka beleuchtet die Hintergründe dieses „mesmerizing cinematic example of Yiddish modern secular culture“538, das einer antisemitischen Kampagne im Vorkriegspolen zum Opfer fiel: Mir kumen on / Droga Młodych / Children Must Laugh, from 1936, is Ford’s film about the Włodzimierz Medem Sanatorium in Miedzeszyn, serving Jewish children with tuberculosis. […] The producer of Mir kumen on was the Association for the Włodzimierz Medem Sanatorium for Children and the film was co-financed by the Jewish socialist party Bund. The film was intended to help raise money for the children’s treatment, which was necessary after the Ministry of Social Welfare drastically limited subsidies for the institution. Mir kumen on presents daily life at the Sanatorium, innovative treatments, and educational methods employed there. During the years 1926–1939, it treated almost 10,000 children from poor Jewish working class families who suffered from or were at risk of contracting tuberculosis. There are no professional actors in the film, embodying documentary authenticity, and it is a rare picture of real lives of Jewish children in prewar Poland. (Wysocka 2018)

Laut Hoberman (1991, S. 228) setzte sich auch die Sozialistin Wanda Wasilewska, die die jüdische Armut in Warschau anprangerte, gegen den Antisemitismus in Polen ein. Kaum untersucht wurde bisher die Rolle der Frauen, die in der Filmspeerspitze tätig waren, wie etwa Halina Billing-Wohl (Vladivostok 1916 – Łódź 1995). Stanisław Wohl hatte seine Frau, eine in Wilna und Lv’ov tätige Schauspielerin, in der UdSSR kennengelernt. Sie wirkte als Sprecherin in den ersten polnisch-sowjetischen Filmchroniken mit (s. u.).539 Die Aufenthaltsorte der Filmspeerspitze während ihrer Evakuierung aus Zentralrussland kann man zumindest teilweise Dokumenten des Ordners „Czołówka“ am Zentralen Militärarchiv CAW-WBH (Centralne Archiwum Wojskowe – Wojskowe Biuro Historyczne) in Warschau entnehmen.540 Fords Partnerinnen tauchen zwar in den Biografien und Filmografien auf, jedoch sind diese Aufzeichnungen mit Fehlern behaftet; so werden Janina und Olga Ford manchmal 538 „[...] Ford would later maintain that he learned Yiddish in the sanatorium where he spent a month researching the film, Mir kumen on, his second Jewish project.“ (Hobermann 1991, S. 226) Sein erstes jiddisches Projekt war jedoch der Film Sabra (1933). 539 Wohl, der als Datum der freiwilligen Meldung zur Division am 21.5.1943 in Aschgabat angibt, hatte sie vor der Gründung der Filmspeerspitze in Sel’cy kennengelernt, denn ihr gemeinsamer Sohn und spätere Filmschaffende Andrzej Wohl (Aschgabat 1942–Florida 2009) wurde am 5.2.1942 in Turkmenistan geboren. http://www.filmpolski.pl/fp/index.php?osoba=113464 Dies heißt, er war zur Zeit der Befreiung von Majdanek zweieinhalb Jahre alt und kam als Kleinkind vermutlich ebenfalls mit nach Lublin, u. U. sogar in Globocniks Villa. Andrzej Wohl starb, ähnlich wie A. Ford, in Florida: https://www.legacy.com/obituaries/sunsentinel/obituary. aspx?page=lifestory&pid=125077994. Er war in den 1980er Jahren in die USA emigriert. 540 Er wurde mir von Konrad Klejsa in digitaler Form zur Verfügung gestellt, wofür ich ihm herzlich danke.

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zu einer Person verschmolzen, wie etwa in den Interviews mit Aleksander Ford Jr.541 (dem Sohn von Janina Wieczerzyńska und A. Ford) und seinem Enkel Jakub Ford. In einem Online-Artikel des Mickiewicz-Literaturmuseums wird Olga als Pseudonym von Janina behandelt, was offensichtlich auf der Unwahrheit beruht, die Aleksander Jr. von seiner Mutter Janina erzählt worden war, nämlich dass Olga und Janina ein und dieselbe Person seien bzw. dass „Olga Mińska“ Janinas „Pseudonym der Kriegszeit“ („wojenny pseudonim“, Danielewicz 2019, S. 258) gewesen sei.542 Die fälschende Kraft des väterlichen Pseudonyms wiederum geht so weit, dass „Olga Ford“ in der IMDb als Mutter des Schauspielers Aleksander Ford Jr. gelistet ist, dem Sohn von Fords Geliebter Janina. Wenn die Identitäten von Personen in der Familie Ford so instabil sind, darf man sich nicht wundern, dass es auch im Lager Majdanek zwei Personen unter dem gleichen Namen, dem gleichen Geburtsdatum und mit der gleichen kommunistischen Biografie gab. Während es in Fords Vorkriegsleben spielerische Künstler- und Kodenamen gab oder vielleicht erfundene Geburtsorte, so steigern sich nun die Täuschungen auf bedenkliche Weise, da sie nicht die eigene Identität betrafen, sondern die von anderen: Im Gegensatz zur Doppelgängerei der Romantik werden in Fords Filmdokumenten zwei Personen in eine verschmolzen, was aber meist auf Kosten mindestens einer der beiden geschieht. Zugleich führt dies zu einem aktiven Verdrängen und Vergessen der entsorgten Figur, eine Methode, die man in Fords Biografie v. a. ab der zweiten Jahreshälfte 1944 beobachten kann und die mit der (wenn auch nur vorübergehenden) Rückkehr seiner Frau zu ihrem Mädchennamen beginnt, im Chroniktitel: Polska walcząca Nr. 3 Montaż: Aleksander Ford, Olga Mińska Zdjęcia: Adolf Forbert, Władysław Forbert, Eugeniusz Jefinow, Olgierd Samucewicz, Stanisław Wohl As. Reżysera: Ludmiła Niekrasowa Komentarz: Jerzy Bossak Komentarz czyta: Władysław Krasnowiecki Opracowanie muzyczne: Aleksander Barchacz Produkcja: Wytwórnia Filmowa WP Lublin 1944 (Toeplitz 1987, S. 1662)

541 Er spielte eine Rolle in dem Film über den Porajmos im besetzten Polen And the Violins Stopped Playing (Polen/USA 1988), bei dem Alexander Ramati Regie führte, der bereits am Drehbuch für Sind sind frei, Dr. Korczak mitgearbeitet hatte. 542 Auch in dem anonymen Artikel des Mickiewicz-Literaturmuseums wird Olga als Pseudonym von Janina behandelt: „Pierwszą żoną była Janina Wieczerzyńska vel Olga Mińska (scenarzystka Przebudzenia i Sabry, asystent reżysera przy Ulicy Granicznej, Młodości Chopina).“ In „Projekcja filmu Piątka z ulicy Barskiej“ (1954) http://muzeumliteratury.pl/od-moskwy-do-atlanticu-piatka-z-ulicy-barskiej/ [3.4.2019] 357

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Wer war Olga Mińska-Ford, abgesehen davon, dass sie Mosze Liwsczyc half, Aleksander Ford zu werden? Fords erste Frau Olga war über mindestens zwei Jahrzehnte hinweg als Drehbuchautorin, „Regieassistentin“ und zuweilen auch Cutterin die Mitautorin von Ford-Filmen, auch des Majdanekfilms.543 Sie arbeitete bis in die frühen 1960er Jahre an Fords Seite als seine Drehbuch(mit)autorin und Assistentin. Danielewicz (2019, S. 217) weist darauf hin, dass sie zum ersten Mal im Film Piątka z ulicy Barskiej / Die Fünf aus der Barskastraße (Polen 1954) nicht mehr in ihrer Rolle als Regieassistentin genannt wurde, und dies, weil kein geringerer als Andrzej Wajda nun diese Funktion übernahm. Bedauerlicherweise ist es mir nicht gelungen, weitere verbürgte biografische Daten von Olga Mińska-Ford und ihrer Familie zu finden. 1984 könnte ihr Todesjahr sein,544 doch ihr Geburtsjahr (laut Selbstauskunft: 1917) erscheint fraglich, da sie sonst Ford mit 13 Jahren geheiratet hätte und mit 15 als Drehbuchautorin nach Palästina gefahren wäre.545 Man kann also annehmen, dass sie um 1912 geboren ist (dann hätte sie 18 den 4 oder 5 Jahre älteren Ford geheiratet). Ihre Spuren führen zu einem kurzen aber beachtlichen stint in den USA, wo sie die zweite und dritte Episode der erfolgreichen TV-Serie über die schwarze Polizistin Get Christie Love geschrieben haben soll, mit den Titeln „Deadly Betrayal“ und „Emperor of Death Street“.546 Doch nachdem die zur Zeugin Jehovas konvertierte Hauptdarstellerin in der Krimi-Serie weder lügen noch schießen wollte, mögen Olga und ihr Regisseur Mel Stuart das Handtuch geworfen haben. Sollte Olga tatsächlich emigriert sein, würde dies auch die in Polen verbreitete Unwahrheit bezüglich Fords erster Frau erklären – wenn Ford nicht erwähnt werden konnte, dann seine langjährige Frau und Partnerin ebenfalls nicht, und schon gar nicht in der Familie von Janina und Aleksander Ford Jr., die die Erinnerung an Olga auch aus privaten Gründen aus der Welt schaffen wollten. Der einfachste Weg war offensichtlich nach ihrer Emigration die in Polen gebliebene Janina an ihre Stelle zu setzen.

543 In dieser Filmografie wird sie auch als Regie-Assistentin für Ulica Graniczna und Młodość Chopina / Chopins Jugend (1952) angeführt: http://www.filmpolski.pl/fp/index.php?osoba=1112542 [3.4.2019] 544 Laut der Seite Nitrofilm, wo zu „Olga Ford“ erklärt wird, dass sie eigentlich Janina Wieczerzyńska heiße, so dass unklar ist, ob 1984 Janinas oder Olgas Todesdatum ist: „właśc. Janina Wieczerzyńska; także jako Olga Mińska. Scenarzystka. Była pierwszą żoną reżysera Aleksandra Forda.“ http://www.nitrofilm.pl/strona/lang:pl/filmy/osoby_info/320/ford,olga.html [3.9.2019] 545 „Jestem żonaty od roku 1930 mniej więcej, dokładnej daty nie pamiętam“ – napisze Ford w jednym z powojennych życiorysów.“ (Danielewicz 2019, S. 55) 546 „Undercover cop, sexy & sassy.“ https://www.imdb.com/title/tt0070990/fullcredits/?ref_=tt_ ov_st_sm Episoden 2 und 3 der 1. Serie (sie haben aktuell das höchste Ranking) spielen im Drogenmilieu von L. A.: die schwarze Polizistin wird von einem Mafia-Boss der Korruption bezichtigt bzw. mimt eine Heroin-Dealerin. Die Rolle wird von Teresa Graves gespielt, „the first African-American woman to play the lead in a police film and TV show and the first to have her own one-hour series.“ https://www.imdb.com/title/tt0070990/episodes?ref_=tt_ov_epl: [15.6.2019] Regie führte in Episode 2 der Hollywood-Profi Mel Stuart (1928 geb. als Stewart Solomon in New York, bekannt für Charlie and the Chocolate Factory, 1971).

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Beide Fords hatten gemeinsam fünf Jahre in der UdSSR verbracht: Aus Warschau gelangten sie über Białystok nach Minsk an das weißrussische Filmstudio, dann im Rahmen der Evakuierung vor der vorrückenden Wehrmacht nach Novosbirisk zu Sibtechfilm,547 dann nach Taschkent (Usbekistan), um 1943 als erste nach Sel’ce zu reisen (Jewsiewicki 1972, S. 75ff). Dort „schlug Ford im Juli 1943 Oberst Włodzimierz Sokorski als Leiter der in der Division gegründeten Filmspeerspitze vor, die größtenteils von ehemaligen Mitgliedern der START gegründet worden war. […] Czołówka war der Grundstein für die zukünftigen Strukturen des Staatskinos in Polen.“ (Juchniewicz 2011) Auch Olga war eine Filmoffizie­ rin. Jewsiewickis Liste der Filmspeerspitze (vom 18. April 1945) zeigt, dass Leutnant Olga Mińska als „Fotografin“ (Jewsiewicki 1972, S. 80) in der Tadeusz Kościuszko-Infanteriedivision geführt wurde, in der zu Beginn auch weibliche Kombattantinnen waren, wie man den Stills aus dem Film Przysięgamy ziemi polskiej / Schwur auf Polen (1943, im Juli 1943 in Sel’ce gemacht) in dem Buch von Jewsiewicki (1972) entnehmen kann. Im Vorspann zu Ulica Graniczna / Grenzstrasse (1948) figuriert Olga Fordowa [sic], d. h. mit slawischer, eine Frau markierender Endung, als Assistentin des Regisseurs.548 In Chopin’s Jugend (1952) steht sie als Olga Ford im Vorspann unter „Zusammenarbeit mit dem Regisseur“ (współpraca reżyserska), zusammen mit Zbigniew Kuźmiński und Hubert Drapella. Olga hatte laut Jewsiewicki (1972, S. 217; Abb. 7.4) gegen Kriegsende den Rang eines Leutnants, ebenso wie Perski. Die Forberts und Bossak waren Oberleutnants, Wohl und Samuciewicz waren Hauptmann und Ford wird in dieser Quelle als Major bezeichnet.549

547 Laut einem Nachkriegsfragebogen von 1954 im Ordner „Czołówka“ am CAW-WBH. 548 Es handelte sich um das Unabhängige Emila-Plater-Frauenbattalion, in dem über 500 polnische Frauen dienten, entweder kommunistische Freiwillige oder Frauen, die unter der Bedingung aus sowjetischer Haft entlassen wurden, dass sie der Armee beitreten. http://web.archive.org/ web/20160305082027/http://archiwumcaw.wp.mil.pl/biuletyn/b10/b10_6.pdf [12.4.2019] 549 Vgl. auch Skotarczak (2011, S. 149) zu den Rängen im Januar 1945: „Kierownikiem Wytwórni Filmowej Wojska Polskiego, a zarazem głównym reżyserem i głównym kierownikiem artystycznym był nadal mjr Aleksander Ford, kierownikiem – por. Jerzy Bossak, sekretarzem operatorów – kpt. Stanisław Wohl, reżyserem – Andrzej Liwnicz, stanowiska reżyserów powierzono także Albrechtowi i Władysławowi Forbertom, AFN, A-1/2/53, Skład oficerski Wytwórni Filmowej Wojska Polskiego z dnia 18 I 1945.“ 359

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Abb. 7.4

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Liste der Filmspeerspitze vom 18. April 1945, in Jewsiewicki 1972, S. 217, mit A. Ford, der hier u. a. als „künstlerischer Leiter“ bezeichnet wird

In anderen Quellen – sie betreffen wohl die Nachkriegszeit – sind sie um einen Rang höher, so etwa Major Adolf Forbert und Major Bossak, Oberst A. Ford, Hauptmann Olga Ford. Juchniewicz (2011) schreibt, Ol[g]a habe russische Offiziere Polnisch gelehrt. Hier liegt eine Verwechslung vor, da auch dieser Autor die beiden Frauen offenbar als eine Person behandelt; wahrscheinlicher ist, dass diese Aufgabe von der anderen Partnerin Fords, der Lehrerin Janina Wieczerzyńska, ausgeübt wurde. Aleksander Ford hatte Jan(in)a bereits in der UdSSR kennengelernt. Während des Warschauer Aufstands und der Majdanek-Produktion war Janina schwanger. Die Geburt ihres gemeinsamen Kindes fand drei Wochen nach der Einnahme von Warschau-Praga in Abwesenheit von Ford statt (Praga wurde am 14. September von der Roten Armee eingenommen). Sie war kein (offizielles) Mitglied der Filmspeerspitze (Abb. 7.5).

Abb. 7.5 Foto von Janina Wieczerzyńska, Mutter von Aleksander (*1944); https:// www.myheritage.com/names/ janina_wieczerzy%C5%84ski

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Als Janina Wieczerzyńska, damals noch im podlachischen Ort Hajnówka, im Juni 1940 plante, ihrem Mann Piotr Ostaszewski-Ostoja zu folgen, der als RAF-Pilot in den Reihen der Westalliierten kämpfte,550 wurde sie (nach der sowjetischen Annexion ihrer Heimat) in einen sibirischen Gulag verschleppt und verbrachte danach ein Jahr in einem sowjetischen Gefängnis. „Aufgrund ihrer guten Deutschkenntnisse“ durfte sie 1942, im Gegensatz zum Rest ihrer Familie, die UdSSR nicht nach der Amnestie und des Sikorski-Maiskij-Abkommens mit der Anders-Armee verlassen;551 diese Erklärung mag darauf hindeuten, dass sie genötigt wurde, für den sowjetischen Sicherheits- oder Geheimdienst zu arbeiten. Später traf sie in Sel’cy an der Oka auf A. Ford. Obgleich sie mit Piotr verheiratet war, wurde sie – so meint die Autorin eines Artikels in einer Lokalzeitschrift in Hajnówka zumindest – Fords Frau, „getraut von Wilhelm Kubsz, dem Kaplan der 1. Tadeusz Kościuszko-Infanteriedivision.“552 Dies ist jedoch unwahrscheinlich, da Ford – als geschiedener Nicht-Katholik – die Vorraussetzungen der polnischen katholischen Kirche nicht erfüllt hätte, um eine in Polen legitime Ehe zu schließen. Der katholische Kaplan Wilhelm Franciszek Kubsz (Gliwice 1911 – Jelenia Góra 1978; Abb. 7.6) ist kein Unbekannter. Er war ein Major der Polnischen

550 „Piotr Ostaszewski-Ostoja was born on 19th May 1910. He arrived in England in late 1939 and was commissioned in the RAF in January 1940. After converting to Hurricanes at 5 OTU, Aston Down, he joined 609 Squadron at Middle Wallop on 5th August 1940. He claimed two Ju87’s probably destroyed on the 13th and a Me110 destroyed two days later. […] Ostaszewski-Ostoja was released at the end of the year as a Wing Commander. He settled in England and changed his name to Peter Raymond. Naturalized on December 8, 1949. He died in London on May 8, 1965. His two sons, Paul (born 1946) and Krzysztof (born 1950), lived in England with Jadwiga Wieczerzinski.“ https://allspitfirepilots.org/pilots/1517 [1.9.2019] 551 Vgl. Hierzu A. Grossmann (2017, S. 185): „Shortly after the German invasion, with the Soviets in dire need of Allied support, Stalin and the Polish government-in-exile, subject to British and American pressure from its seat in London, negotiated an ‘amnesty’ for all imprisoned Polish citizens. The 30 July 1941 Sikorski-Maiskii Agreement provided for two key developments: the formation of a Polish army under General Władysław Anders (just released from prison in Moscow) intended to eventually fight for the fatherland in the European theater and the release of Poles, Jewish and not, from the camps and special settlements to which they had been deported from the territories occupied by the Soviets in the fall of 1939.“ 552 „Nie można mierzyć tamtego okresu miarą dzisiejszą – uważa „Janka aresztowana przez Sowietów przesiedziała w więzieniu około roku. Syn opowiada, że matka wspominała jak podstępem udało jej się uciec z niewoli. Była niewątpliwie piękną kobietą i jej wdzięki zachwyciły dyrektora ‘tiurmy’. Janka oszukała go i obiecała wspólną ucieczkę z miasta. Mężczyzna umożliwił jej ucieczkę a ona miast spotkać się z nim w umówionym miejscu umknęła jak najdalej się dało. Następnie trafiła do formującej się w Sielcach nad Oką Armii Polskiej. Tam poznała Aleksandra Forda. Późniejszy reżyser Krzyżaków był w owym czasie kierownikiem Czołówki Filmowej przy I Dywizji Piechoty im. Tadeusza Kościuszki. Ford zakochał się w Jance a ona w nim. Ślubu udzielił im ks. Wilhelm Kubsz – pierwszy kapelan I Dywizji im. Tadeusza Kościuszki. Ich syn – Aleksander, urodził się w czasie powstania warszawskiego na warszawskiej Pradze.“ Marta Chmielińska, o. J., „Miłość z Krzyżakami w tle“ http://hajnowka.strefa.pl/sybiracy_5. html [3.4.2016] 361

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Streitkräfte in der UdSSR und sollte im Januar 1944 in seiner Gedenkpredigt in Katyn’ die sowjetische Linie in Bezug auf die deutsche Täterschaft bestätigen.553

Abb. 7.6 Foto aus dem Bildteil von Jewsiewicki 1972: Wanda Wasilewska, Zygmunt Berling und Kaplan Franciszek [sic!] Kubsz

Über die Institution des katholischen Militärkaplans, die bereits in Sel’cy als Zugeständnis an die Vorkriegssitten der polnischen Armee eingeführt worden war, kann das Gespräch zwischen Paweł Piotrowski und Barbara Polak (2001) Aufschluss geben, in dem Piotrowski zum Thema der „Militärkaplänen“ bemerkt: Ja, ein Korpus von Kaplänen entsteht in Sel’cy. Jede militärische Zeremonie, Vereidigung oder jeder Feiertag ist eine Reproduktion der Zeremonialtradition der Vorkriegszeit. Soldaten nehmen an kirchlichen Feiertagen teil, halten Wache während der Messe, und jede militärische Zeremonie enthält auch religiöse Elemente. Die Kommunisten machen Zugeständnisse, um eine Gesellschaft, die sie eher feindselig aufgenommen hatte, zumindest teilweise zu gewinnen.554

Wenn Janina und Aleksander tatsächlich von einem Militärkaplan nach Militärrecht getraut worden sind, kann man Janina als Fords ‚sowjetische‘ Partnerin ansehen. Aus der Sicht Olgas bzw. auch des polnischen Standesamts555 war sie Fords Geliebte, die ihm jedoch ein Kind (den erwähnten Aleksander) gebar, und ab 1944 für Olga eine ernsthafte Rivalin im privaten Bereich darstellte. Olga hatte im Winter 1942 ihr Erstgeborenes in 553 Butlow 1989, S. 223ff (auch Berling und A. Zawadski bestätigten die Täuschung von Katyn’). Zu Kubsz vgl. https://pl.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Kubsz [12.4.2019] 554 Zu den ansonsten in der Roten Armee unüblichen Militärkaplänen, die bereits in Sel’ce als Zugeständnis an die Vorkriegssitten der polnischen Armee eingeführt worden waren, vgl. Paweł Piotrowski und Barbara Polak 2001, S. 6. 555 Vgl. die nach 1947 gemachten Angaben im Registrationsbuch der Filmspeerspitze.

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der Evakuierung verloren. Laut Elinor Griswold, Fords zweiter (amtlicher) Ehefrau, ist der kleine Sohn im sowjetischen Taschkent gestorben: „In den spärlichen Erinnerungen Olgas wird auch ein toter Sohn auftauchen. Sein Tod wird sie nie zur Ruhe kommen lassen.“ (Danielewicz 2019, S. 116) Da Olga keine weiteren Kinder hatte, hat sich auch niemand um ihre Biografie gekümmert bzw. es scheint, dass die falschen Angaben zu Janina als der zweiten Ford-Ehefrau (siehe etwa auf filmweb.pl) von der Familie Wieczerzyński stammen, namentlich vom Sohn Aleksander Ford Jr. Seine Mutter war aber selbst u. U. noch mit dem RAF-Piloten Ostaszewski-Ostoja verheiratet, der nach dem Krieg in England unter dem Namen Raymond mit Janinas Schwester Jadwiga eine Familie gegründet hatte. Wann genau A. Ford von Olga geschieden wurde, ist unklar, denn in dem Registra­ tionsbuch der Filmspeerspitze aus der Nachkriegszeit (ca. 1947–48) wird nicht nur sie als „verheiratet, Mann: Aleksander“ bezeichnet, sondern auch bei Ford als „Frau – Olga“ genannt. Allerdings ist sie an einer anderen Adresse als Ford (wohnhaft Narbutt-Straße 8, Warschau) gemeldet: in der Narutowicz-Straße 90 (Łódź), ähnlich wie zahlreiche andere Filmspeerspitzenmitglieder.556 Eine andere Angabe nennt die Nr. 91, so Danielewicz (2019, S. 170, 255), der davon ausgeht, dass nach polnischem Recht die Scheidung und eine Neuverheiratung mit Janina nie vollzogen wurde. Ford wohnte laut Danielewicz zudem nach dem Krieg (2019, S. 171) auch nicht bei Janina und seinem Sohn, die er lediglich in Łódź besuchen kam. Im Juli 1960 wurde Fords erstes gemeinsames Kind mit Elinor Griswold Ford geboren, Konstancja, danach folgten 1964 Roman und 1966 Justyna.557 Man kann davon ausgehen, dass die Scheidung von Olga Anfang der 1960er stattgefunden hat. Es fällt auf, dass Olga im handgeschriebenen Registrationsbuch als Datum der „freiwilligen Mobilmachung“ den 10.3.1943 in Taschkent angibt – das früheste Datum unter allen Mitgliedern der Filmspeerspitze.558 Als letzter, erst 1944, stieß laut dieser Quelle Bossak dazu, d. h. ein Jahr nach Olga (und wie man vermuten kann, Aleksander) Ford. Bossak begann ab Ende der 1960er Jahre, also nach Fords ‚Fall‘ bzw. nach seiner Emigration, sich vermehrt zum Majdanek-Film zu äußern. Es fällt auf, dass manche Behauptungen zu einer Zeit getätigt wurden, in der die „Erwähnung von Fords Namen streng kontrolliert wurde“ (Danielewicz 2019, S. 8). In einem Interview sagt er 1969, es wäre „schwierig, Ford als Autor von Majdanek zu bezeichnen“, da er kein einziges Mal 556 Laut dem Registrationsbuch der „Czołówka.“ 557 Laut Fords Ausreiseantrag vom Juli 1968. Elinors Scheidung von ihrem polnischen Mann Zygmunt Kałużyński zog sich über mehrere Jahre hin. 558 Die persönlichen Daten wurden von den Mitgliedern überwiegend eigenhändig ausgefüllt, manche vermieden genauere Angaben, so etwa Andrzej Liwnicz, der diese Zeile leer läßt. Bossak wiederum wird später als „Rekrutierungspunkt der polnischen Streitkräfte in der UdSSR“ nicht Sel’ce, sondern Sumy am Ende des Jahres 1943 angeben (Lebenslauf Bossak 16.11.1981, S. 3). Im Registrationsbuch der Filmspeerspitze jedoch finden sich in seiner Namenszeile zwei Handschriften, zunächst die schönschriftliche, die die Namen bereits eingetragen hat und in Bossaks Fall „04.1944“ als Datum der Mobilmachung, dann eine weitere (offensichtlich seine eigene), die dahinter in schwarzer Tinte das Datum „12.III.“ einsetzt und den Ort „Summy“ ergänzt (wohl das im September 1943 befreite Sumy in der Nordostukraine). 363

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bei der Herstellung der Aufnahmen im Lager zugegen war: „er konnte, er wollte es nicht ansehen“, wofür Bossak „Verständnis gehabt habe“; dies wurde nun als Grund angeführt, dass Ford nicht an der Regie beteiligt war.559 Diese Formulierung von 1969 besagt aber noch nicht, dass Bossak selbst Regie geführt hätte – auch wenn einige Filmhistoriker zu diesem Schluss gekommen sein mögen.560 Insbesondere im Lebenslauf von 1981, zu einem Zeitpunkt also, an dem die Fords nicht mehr widersprechen konnten, beansprucht Bossak einen größeren Anteil an der Autorenschaft am Majdanekfilm als vorher, den er nun als „seine erste praktische Arbeit im Film“ bezeichnet (Bossak 16.11.1981, S. 3). Bossak schreibt 1981, „Ford wäre nie in Majdanek (na Majdanku) gewesen, hätte nicht an der Regie und am Ton teilgenommen, sei nur zweimal in den Schneideraum gekommen, den Schnitt habe Ludmiła Niekrasowa besorgt“; er fügt hinzu, er wolle Ford kein Unrecht antun, schließlich sei er ihm dankbar, dass er ihm die Arbeit im Film ermöglicht habe. Nichtsdestotrotz handelt es sich um eine Appropriation von geistigem Eigentum post-factum, und zwar stufenweise: Eine fand nach Fords Entmachtung als Generaldirektor des Film Polski 1947 statt, die zweite nach der Emigration von nicht nur Aleksander, sondern auch Olga Ford in den Westen, die dritte nach Fords Selbstmord 1980.561 Olga Mińska und Ludwik Perski erwähnt Bossak an keiner Stelle. In seinem Lebenslauf vom 22.5.1963 wiederum kam weder der Majdanekfilm noch Bossaks besonderer – angeblich ungenannter – Beitrag als (debütierender!) Regisseur zur Sprache; in seiner eigenen Beschreibung des Juli 1944 geht es nur um seine Gründung der

559 „Film po dziś dzień robi wrażenie swoim autentyzmem, choć po latach Jerzy Bossak wyznał, że trudno nazwać Forda autorem Majdanka, ponieważ ani razu nawet nie pojawił się podczas realizacji zdjęć. W wywiadzie dla ‘Kina’ Bossak twierdził, że reżyser nie mógł, nie chciał na to patrzeć. I ja to rozumiałem.“ (Juchniewicz 2011 zitiert ein Interview mit Bossak in Kino aus dem Jahr 1969). Soweit ich es beurteilen kann, war Fords unmittelbare Familie nicht von dem Völkermord an den Juden betroffen. Der Vater war bereits 1923 verstorben. Die in Polen lebenden Geschwister Celina und der in der Filmdistribution tätige Andrzej Liwnicz (geb. 1909) hatten ebenfalls den Krieg überlebt; laut Dorota Skotarczak gehörte Andrzej Liwnicz auch zur Filmspeerspitze und wurde – gemäß Besetzung vom „18.1.1945“ als Regisseur geführt, wie übrigens auch die beiden Brüder Forbert (Skotarczak 2011, S. 148). 560 Vgl. etwa die Angabe in dem erstmals im Jahr 1973 erschienenen „kritischen Geschichte“ des Non-Fiction-Films“ von Richard M. Barsam (1992, S. 268): „Aleksander Ford’s and Jerzy Bossak’s Majdanek (1944).“ Karmen, der auf der gleichen Seite als Regisseur von Sud narodov erwähnt wird, wird mit dem Film nicht einmal in Beziehung gebracht. 561 Beide Majdanek-Regisseure – Aleksander und Olga – scheinen sich, unabhängig voneinander, ab den 1970er Jahren im Westen befunden zu haben. Olga war kaum in Kontakt mit der Filmwelt ihrer alten Heimat. Niemand konnte oder wollte Bossak widersprechen – außer vielleicht die Kollegen Nekrasova (die aber als Dokumentarfilmeditorin viele Filme für Bossak geschnitten hatte) und Perski bzw. Adolf Forbert oder St. Wohl; die beiden letzteren wurden übrigens zum Thema Majdanek befragt: Wohl 1969, Forbert in den 1980ern.

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Polnischen Filmchronik.562 Da die Fords 1963 schließlich noch vor Ort bzw. am Leben waren, konnte er sich 1963 eine solche Aneignung nicht erlauben. Doch zurück zum Jahr 1944. Janina kam aus der UdSSR auch mit nach Lublin. Während Olga – sich vorübergehend nur Mińska nennend, was sich in den Credits von 1944 niederschlägt – im Lager Majdanek und der Globocnik-Villa in Lublin als Regieassistentin der Film-Produktion tätig war, hatte Ford im Sommer 1944 also auch für eine zweite, im achten Monat schwangere Frau563 zu sorgen, was u. U. auch erklären könnte, warum Ford die Aufnahmen im KZ nicht leitete. Da Olga eine Journalistenausbildung hatte,564 ist ihre Autorschaft im Sinne einer Regietätigkeit wahrscheinlicher als die nach dem Fortgang beider Fords aus Polen implizit reklamierte Allein-Verantwortung durch Bossak, den Redakteur mit juristischer Bildung, der damals gar keine Erfahrung mit praktischer Filmarbeit hatte. In dem oben erwähnten Katalogeintrag steht, dass Ford für die „Realisierung“ des Films zuständig gewesen sei, Bossak für den Wortteil („kierownictwo literackie“) und O. Mińska, L. Nekrasova und L. Perski die Regieassistenz. In einer späteren Version des Vorspanns taucht Bossaks Name nicht nur bei der literarischen, sondern auch der künstlerischen Leitung („kierownictwo artystyczne“) auf, die man jedoch als ersten Versuch einer Usurpation von Autoranteilen ansehen kann. Ford wird in diesem Vorspann „die Montage des Regisseurs“ zugeschrieben, er wird also zum Cutter reduziert, was der Löschung der Ford-Autorschaft entspricht, eine Strategie, die Bossak ab Ende der 1960er verfolgen wird. Dies bestätigt meine Vermutung, dass der heute im FINA überlieferte Vorspann bzw. die Kopie selbst nicht mit der des Jahres 1944 übereinstimmt. Perskis russische Frau, Ljudmila Nekrasova, die später als Schnittmeisterin von über sechzig polnischen Filmen auftrat, wird aufgrund der großen Menge des gefilmten Materials vollauf mit dem Schnitt beschäftigt gewesen sein. Während sie also nicht vor Ort war, wissen wir über Perskis genaue Aufgaben in Majdanek nichts; der damals 23-jährige Assistent und Gelegenheitsschauspieler war vor dem Krieg in Polen und in der UdSSR ein Faktotum der Produktion wie auch jemand, der sich um Organisatorisches kümmerte und möglicherweise eine Kontaktperson für die sowjetische Seite war, da er zunächst im sowjetischen Sel’ce zurückblieb, als die anderen gen Westen zogen. Bossak erwähnt ihn mit keinem Wort, nur seine Frau. B. Kosidowska (2008, S. 135) schreibt, er sei „ständig zwischen Moskau und Lublin gependelt, um für die Gruppen Rohfilm zu besorgen“. Möglicherweise transportierte er die Rohfassung des Majdanekfilms nach Moskau. Ob das polnisch-russische Ehepaar

562 Es fällt auf, dass Bossak jeden Lebenslauf anders verfasst. In der Version von 1963 konnte er sein Jurastudium aufgrund von medizinischen Eingriffen, denen er sich unterziehen musste, nicht abschließen, 1981 ist weder hiervon noch von Jura die Rede, sondern von einem Soziologiestudium, das er dem Film zu Liebe aufgab; in der späteren Biografie schreibt er, er wäre nicht eingezogen worden, da er in der UdSSR beinahe dem „Typhus zum Opfer gefallen“ sei. 563 Janina mag versucht haben, Fords gemeinsamen Dreh mit Olga zu unterbinden. 564 AFN, A-1/2/53, Skład oficerski Wytwórni Filmowej Wojska Polskiego z dnia 18 I 1945. (zitiert nach Skotarczak 2011, S. 149) 365

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Perski-Nekrasova Einfluss auf Olgas Regiearbeit übernahm, ist nicht dokumentiert, wir wissen nur, dass Efimov der sowjetische „Berater“ dieser Produktion war. Wenn Ford tatsächlich selten am Drehort war, wäre es logisch, dass nicht der Literat Bossak einsprang, sondern Fords langjährige Assistentin, deren Aufgabe offensichtlich keine technische war. In einem Interview teilt die Bildeditorin Halina Prugar-Ketling der Filmwissenschaftlerin Ewa Ciszewska mit: Vor dem Krieg haben Ford und seine Frau Ola die Filme selbst geschnitten. Und Frau Ola stand hinter ihm, hatte die Filmstreifen um den Hals und reichte ihm die passenden Aufnahmen. In der Community gab es eine Redewendung „eine Ola sein“, also hinter dem Regisseur zu stehen, Filmstreifen bereitzuhalten und zu geben. „Ola zu sein“ (być za Olę) bedeutete, dass man ein Niemand bei der Schnittarbeit ist. (Prugar-Ketling 2019)565

Auch wenn Prugar Olga Fords Schneideraum-Arbeit, die sie selbst im Fall von Piątka z ulicy Barskiej – erstmalig und aufgrund von Fords Auswahl – übernehmen sollte, nicht selbst gesehen hat, wird klar, dass Olgas Aufgabe nicht der Schnitt (wo sie v. a. ihrem Mann assistierte), sondern das Drehbuch und die visuelle Gestaltung der Botschaft des Films lag. Ford wiederum legte sich erst zehn Jahre später ein neues Team zu, das seine Assistentin Olga 1954 ersetzte: Wajda und die junge Cutterin Prugar, die er „völlig unabhängig“ arbeiten ließ (ibid.). 1944 jedoch war Olga noch ein maßgeblicher Garant für einen Ford-Film. Olgas (Co-)Autorschaft wird von Bossak später in problematischer Weise gemeinsam mit der von ihrem Mann eliminiert. Hier liegt ein Beispiel von Ausschluss in Folge einer Emigration vor: wenn der Name A. Ford aus der Filmgeschichte verschwindet, dann auch der von Olga Ford. In der Volksrepublik Polen hat man ab den 1970ern versucht, den Beitrag der emigrierten Fords zum Majdanek-Film so gering wie möglich zu halten. Eine vergleichende Analyse könnte die Verdrängung von Olgas Rolle beim Dreh des Majdanekfilms bestätigen, der ein ausgeprägtes Auge fürs Detail verrät und die Arbeit mit dem visuellen Majdanek-Material untersucht: der melancholische Blick auf die Schuhe von Kindern, Frauen und Männern, Spielsachen, die Scheren oder Accessoires wie Handschuhe. Hier ist nicht ohne Belang, dass Olgas in der Armee als „Fotografin“ diente. Wenn etwas den Majdanek-Film von den anderen Filmchroniken unterscheidet (z. B. derjenigen, die Bossak mit Samuciewicz gemacht hat), dann ist es seine sorgfältige ästhetische Ausgestaltung wie auch der poetisch-konkrete soziale Tenor, der den Film mit den Vorkriegsproduktionen des Ehepaars Ford verknüpft – er verträgt sich kaum mit Bossaks sarkastischer marxistischer Analyse. Es scheint, dass gerade Frau Mińska-Ford – eine Warschauer sophisticated lady mit einem Studium der Kunstgeschichte – ein Auge für die surrealen objets trouvés hatte, und dass sie eine Verpflichtung empfand, die makabren Fundstücke als darstellbare Spuren der jüdischen Tragödie aufzufassen. Hier war sie freier als ihr Mann, das auf 565 „Byłam zupełnie samodzielna, zupełnie. Ford przed wojną miał żonę Olę i filmy montował sam. A pani Ola stała za nim, na szyi trzymała taśmy i odpowiednie ujęcia podawała. W środowisku istniało takie powiedzenie ‘być za Olę’ a więc stać za reżyserem, trzymać i podawać te ujęcia. ‘Być za Olę’ znaczyło, że w montażu jest się nikim.“

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einen internationalistischen Universalismus verpflichtete Parteimitglied,566 wahrte aber gleichzeitig das Markenzeichen des gemeinsamen Namens und handelte in Vertretung ihres Gatten und Kollegen. Wir dürfen uns also darauf gefasst machen, dass zumindest auf der polnischen Seite die Dreharbeiten des ersten KZ-Enthüllungsfilms in entscheidender Form von einer Frau geleitet wurden, wobei noch die Frage zu beantworten sein wird, mit welchen Kameraleuten sie zusammengearbeitet hat. Samucevič gehörte in ihr Team, und sie hatte mit Efimov zu tun. Eine hervorragende Stütze waren ihre Landsleute, die Kameraleute St. Wohl, der sein Métier in Paris gelernt hatte, und die Brüder Forbert, die – wenn Olgas Geburtsdatum um 1912 liegt – etwa im gleichen Alter waren, also Anfang 30. Doch hat sie als Fords Gattin und Ko-Autorin mehr Gewicht, d. h. auch die Verantwortung, den Film so zu leiten, damit er dem Namen „Ford“ gerecht wird. Und noch ist Aleksander Jr. nicht zur Welt gekommen. Laut der Filmografie von Filip Jacobson (2007) hat Olga zwei Drehbücher zu Fordfilmen in den 1930er Jahren geschrieben, fünfmal war sie Regieassistentin (von 1938 bis 1954) und einmal wird sie bei einer in der UdSSR produzierten polnischen Chronik auch beim Schnitt aufgeführt. Sie war also ab Sabra über das Biopic über Chopin von 1952 (der letzte Film, in dem sie als Regieassistentin im Vorspann erwähnt und bis zu den Vorbereitungen der Krzyżacy an jeder wichtigen Produktion beteiligt wird, auch an Ulica graniczna (Danielewicz 2019, S. 55). Dass Olga auch dann noch für bzw. mit Ford arbeitete, als er sich bereits anderen Frauen zugewandt hatte und mit ihnen Kinder zeugte,567 bedeutet, dass ihr Verhältnis keineswegs ein rein privates war, sondern ein professionelles. Kann man sie sich ähnlich wie kreative Filmpaare der Avantgarde und der 1940er vorstellen, wie Svilova und Vertov, Stefan and Franciszka Themerson (Grafik, Fotografie, Literatur, Animation),568 die Künstler Katarzyna Kobro und Władysław Strzemiński,569 Maya Deren und Aleksander Hackenschmied oder Irena Dodalová und Karel Dodal?

566 Die PPR hielt eine Thematisierung der Verfolgung von Juden für ein „Ablenkungsmanöver“ der Herrschenden (Friedrich 2002, S. 359). 567 So entwickelte sich laut Danielewicz (2019, S. 173) während Fords Dreharbeiten zu Ulica graniczna eine Beziehung mit der tschechischen Cutterin Jiřina Lukešová (1919–Prag 2010), die ihm einen zweiten Sohn, der den gleichen Namen wie sein Vater trug, gebar, geschrieben jedoch mit einem x (Alexander Lukeš, Schriftsteller, Redakteur und Dramaturg, 1949 – Prag 2013). Lukešová hatte gerade Alfréd Radoks Parohy/Gehörnt/The Antlers (1947 – der polnische Titel war Rogi) geschnitten und sollte später einige der zentralen Neue Welle-Filme montieren, so etwa Ivan Passers Intimní osvětlení / Intime Beleuchtung (1965) und Jiří Menzels Oscarpreisträger Ostře sledované vlaky / Liebe nach Fahrplan oder: Scharf beobachtete Züge https://www. kinobox.cz/osoba/33050-jirina-lukesova [12.7.2019] 568 Zu den vom Surrealismus geprägten Themerson-Foto-Collagen der Zwischenkriegszeit vgl. https://www.ubugallery.com/exhibitions/stefan-themerson/ https://culture.pl/en/artist/stefan-and-franciszka-themerson [12.6.2019] 569 https://culture.pl/en/article/7-polish-artistic-couples [12.7.2019] 367

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Mit Dodalová, der Gründerin des Prager Animationsstudios IREfilm, in dem ihr Mann (wie auch seine frühere Frau Hermína Tyrlová) als Zeichner tätig war, hat Mińska gemeinsam, dass diese beiden gebildeten und mehrsprachigen Frauen sich zum einen in Künstler- bzw. Filmkreisen bewegten und zum anderen die kreativen Aktivitäten ihrer Partner finanziell ermöglichten und das gemeinsame Werk auch noch nach der privaten Trennung pflegten.570 Wenn Danielewicz (2019, S. 54) erwähnt, dass Olgas Familie Ford unterstützte, wäre von Bedeutung, wann dieses Mäzenatentum begann. Bei zahlreichen der sozial engagierten und nicht kommerziell angelegten Ford-Projekte spielten Sponsoren eine wichtige Rolle (Sabra wurde von einer zionistischen Gruppe finanziert, Mir kumen an vom Medem-Sanatorium). Daher ist es nicht irrelevant, ob Olgas Familie nur den ersten Erfolg der Legion ulicy, der von Leo-Film produziert wurde, mit-finanziert hatte oder auch andere Ford-Produktionen. Dies wäre einer der Gründe dafür, die Olga noch 1944, als Ford bereits von einer anderen Frau ein Kind erwartete, dazu bewogen haben mögen, an seiner Seite weiterzuarbeiten. Sie wollte unter den sich rapide verändernden politischen und sozialen Bedingungen die professionelle Investition ihrer Familie in den Markennamen „Ford“ nicht mitsamt dem Ehemann verlieren. Aleksander Ford wiederum, der sich später nicht einmal mehr an das Jahr seiner Hochzeit mit der bürgerlichen Olga erinnern mochte, schweigt über seine Anfänge im Filmgeschäft nach der endgültigen Trennung von seiner ersten Frau. Die Unterstützung durch die Schwiegereltern kann man vor dem Hintergrund des jüdischen Heiratsvertrags der Ketubba zu sehen, in dem Aussteuer und Mitgift für den Fall der Scheidung geregelt werden. Die Konstellation der Mittellosigkeit des jungen Regisseurs (aufgrund des frühen Tods des Vaters) kennen wir aus der jiddischen Folkore (die begüterte Braut wählt einen armen Bräutigam).571 Das Akzeptieren einer Mitgift bringt jedoch beim Scheitern der Ehe Verpflichtungen für den Mann mit sich,572 die Frau finanziell abzusichern, was im Fall von Aleksander Fords sich in der drei Jahrzehnte währenden Ehe (in der er mindestens zwei uneheliche Kinder zeugte) mit Olga ausdrückt, die er aufgrund dieses ‚Vertrags‘ nicht einfach verlassen kann.

570 Die Biografie der Filmproduzentin und Drehbuchautorin, die sich im Ghetto von Theresienstadt um das jiddischsprachige Theater verdient gemacht hatte und 1945 nach Amerika bzw. Argentinien emigriert war, findet sich im Buch The Dodals von Eva Strusková (2013). In den 1980er Jahren bemühte sich Irena Dodal um die Überführung des Firmenarchivs (inklusive Puppen und Filmen) von IREfilm in ihre tschechoslowakische Heimat. 571 Diese betont er in einigen seiner amtlichen Lebensläufe, die sich in der Akte der Filmspeerspitze finden. 572 Man kann die wirtschaftlichen Umstände, die unterbliebene Scheidung und die drei Jahrzehnte währende Ehe mit Olga als Folge eines traditionellen Heiratsvertrags zwischen der Familie von Olga und Mosze/Aleksander interpretieren. Auch wenn er nicht schriftlich abgefasst wurde, hat Olgas Vater als Jurist sicher darauf geachtet, dass es einen verbindlichen Handschlag gab, ähnlich wie man ihn im Film Tkies khaf sieht. Zur Mitgift http://www.juedisches-recht.org/ mc-famil-r-mitgift.htm und zum Heiratsvertrag vgl. http://www.jhi.pl/psj/ketuba [1.9.2019]

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Jakubowska, die mit dem Ehepaar Ford an dem Film Przebudzenie / Erwachen (1934) zusammen gearbeitet hat, erinnert sich, dass „Olek und Olga ein sich wahrhaft liebendes Paar waren.“ Sie stellt Fords Attraktivität in Frage, wohingegen „Olga eine schöne Frau war, und sehr anmutig“ („morze wdzięku.“ Danielewicz 2019, S. 55) Angesichts der Beschreibung dieses ungleichen Paars stellt sich auch die Frage, warum Olga nicht als Schauspielerin gearbeitet hat, wie dies in den 1930er Jahren bei Filmpaaren oft der Fall war. Hier mag ebenfalls Olgas Herkunft eine Rolle gespielt haben bzw. der Umstand, dass weder ihr Mann noch ihr Vater sich diese Tätigkeit für eine Tochter aus gutem Hause vorstellen konnten. Eine Kultur mit patriarchalen Zügen, wie sie die Filmbranche im Polen der Zwischenkriegszeit war, sah für eine Frau wie Olga offensichtlich keine geeignete Position vor – ein Frauenname in einer anderen Funktion als der einer Schauspielerin oder Cutterin war ungewöhnlich bzw. flößte wenig Vertrauen ein, wie auch das zurückhaltende Auftreten der Produzentin Maria Hirschbein/Hirszbein zeigt, auf das Małgorzata Radkiewicz im Frauenpanel auf der Production Culture-Konferenz an der Filmhochschule Łódź im Juni 2019573 hingewiesen hat. So wird Olga zur Regie-Assistentin, eine Funktion, die auf der gleichen Konferenz von Monika Talarczyk-Gubała als die konstant häufigste Tätigkeit von Frauen im polnischen Film angegeben wurde – abgesehen vom Filmschnitt, den Olga ebenfalls beherrschte. Etwas anders als im Filmbusiness ist es in den filmnahen avantgardistischen Kreisen, wo es immerhin das Themerson-Paar gibt. Und doch ist auch hier das Gruppenwesen ein maskulin geprägtes, Wanda Jakubowska nannte die START-Gruppe später „höllisch aggressive“ angry young men.574 Jakubowska wird als einzige Frau genannt, die an START beteiligt war. Sie selbst sagt zugleich, dass Ford nicht wirklich Mitglied war, da er immer „für sich allein war“. Doch wie war es mit Fords Frau – hielt sie sich aufgrund seines Individualismus auch dem Gruppenleben fern? Die „anmutige Olga“ war keine emanzipiert auftretende, selbstbewusste Jakubowska. Diese polnische Regisseurin war nicht nur eine resolute Kommunistin, sondern hatte, wie Talarczyk-Gubała (2013, S. 66) schreibt, den Ruf einer „Generalin“. Jakubowska hatte als junges Mädchen die Revolutionen in Russland und die ersten Jahre der Sowjetmacht mit A. Kollontaj als Ministerin und die Frauensektion in Moskau erlebt und ist erst 1922 nach Warschau gezogen.575 Doch auch die Auschwitzüberlebende Jakubowska musste sich gegen die Herren Ford und Bossak durchsetzen, die einer Frau die Regie eines Auschwitzfilms nicht zutrauten; Bossak meinte, das wäre ein Thema für einen „Fritz Lang, Wilhelm Pabst

573 https://www.filmschool.lodz.pl/en/news/1513,kultura-produkcji-konferencja-w-nbsp-szkole. html [12.6.2019] 574 „piekielnie agresywnych, młodych gniewnych“ (zitiert in Talarczyk-Gubała 2013, S. 74) 575 Jakubowskas russische Periode wird übrigens ähnlich wie die Fords in zahlreichen polnischen Darstellungen übergangen. Auch ihre Assistentin Maria Kaniewska (1911–2005) ist in Kiew geboren und erst Anfang der 1920er Jahre nach Warschau gekommen. Nach dem Krieg wird sie den Majdanek-Kameramann Adolf Forbert heiraten. 369

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oder John Ford“.576 Hilfe holte Jakubowska sich in der UdSSR: Stalin soll ihre Produktion befürwortet haben. Aber Olga war auch keine Maria Kaniewska, die der „Generalin“ beim Film Ostatni etap auf dem ehemaligen Lagergelände von Auschwitz assistierte und auf weibliche Solidarität hoffen konnte. Weitere Forschungen zum kreativen Paar Olga-Aleksander können Licht ins Dunkel ihrer Biografie bringen, die mit der Geschichte des jiddischen und polnischen Films wie auch der unbekannt gebliebenen Dokumentation der farnichtung im Sommer 1944 verbunden ist. Im Hinblick auf A. Ford kann man Louisa Marie McClintock zitieren, die auf die Kluft („the yawning gap represented by those who had experienced the trauma of the Nazi occupation first-hand versus those who had spent this period in the Soviet Union“) hinweist, die zwischen denjenigen Eliten, die die Besatzung direkt erlebt hatten, und den UdSSR-Rückkehrern, klaffte; und unter diesen nahmen Kommunisten wie Ford eine führende Rolle ein: Encapsulated within this experiential divide was yet another more important distinction—a political one. The returnees […] were communist political exiles who had fled eastward in 1939 and were to form the political vanguard of the new postwar Polish socialist order. Armed with an impeccable political pedigree, this elite vanguard represented a radical new vision for the future and aimed to rebuild Poland by reinventing it as a socialist state with the help of their political allies who had remained in the country during the occupation. (McClintock 2015, S. 21)

Einer von Fords späteren Schülern an der Filmschule in Łódź, Roman Polanski (Polański), unterstreicht Fords politische Zugehörigkeit, aber zugleich seine Autorität und Bedeutung für den polnischen Film in der Phase nach der Befreiung (1944/45): They included some extremely competent people, notably Aleksander Ford, a veteran party member, who was then an orthodox Stalinist. […] The real power broker during the immediate postwar period was Ford himself, who established a small film empire of his own.577

Anna Misiak erwähnt in ihrer Darstellung von Fords Karriere in den 1940ern, dass er erst eine Woche vor der Befreiung von Majdanek zum Leiter der „Filmspeerspitze“ ernannt wurde: 576 „Bossakowi bardzo się spodobał mój scenariusz, ale uznał, że jest to film dla Fritza Langa, Wilhelma Pabsta, Johna Forda, ale nie dla jakiejś Jakubowskiej!“ (Talarczyk-Gubala 2013, S. 78 zitiert das Interview von Barbara Mruklik aus Kino 1985, Nr 5). 577 Roman Polanski 1984, S. 104. Raymond Roman Thierry wurde 1933 als Sohn von Ryszard Mojżesz Liebling (Polański) und seiner aus Russland stammenden Frau Bula (Bella) Katz-Przedborska in Paris geboren; die Eltern kehren einige Jahre später nach Krakau zurück, wo sie „ghettoisiert“ wurden. Seine Mutter wurde in Auschwitz ermordet. Roman überlebte unter dem Namen Romek Wilk in Verstecken. https://www.geni.com/people/Roman-Polanski/6000000015985954469 [2.10.2019]

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Ford spent the war in the Soviet Union. He refused enlistment under General Anders who supported the Western Allies and driven by his ideological background in 1943 he joined the Polish unit of Red Army formed under Soviet supervision in Russia. The military order by General Zhukov laid the foundation for a crew of army fi lmmakers who were to make documentaries on the Soviet and Polish joint military success. Ford was in charge of the Polish Army Film Command called Czolowka. He was appointed by the commander in chief on July 16, 1943.

Der Generalstabschef der Roten Armee und Marschall der Sowjetunion Georgij Žukov (Abb. 7.7) war innerhalb der Operation Bagration entscheidend am Zusammenbruch der deutschen Heeresgruppe Mitte beteiligt (diese Operation war zeitlich mit der westalliierten Invasion in der Normandie abgestimmt) und koordinierte das Zusammenwirken der 1. und 2. Belorussischen Front, bzw. der 1. Ukrainischen Front.578 Damit schuf er wichtige Voraussetzungen für den Vorstoß nach Westen und Polens Befreiung bzw. Einnahme.

Abb. 7.7 Georgij Žukov auf dem Cover der amerikanischen Illustrierten Life, 31. Juli 1944. Foto: Gregory Weil; https://en.wikipedia.org/wiki/ Georgy_Zhukov#/media/ File:Zhukov-LIFE-1944.jpg

Weiter beschreibt Misiak die Nationalisierung des polnischen Films und die Gründung der staatlichen Filmproduktionsgesellschaft Film Polski, dessen Leiter der überzeugte Kommunist Ford war: In 1944 the new authorities in Poland launched their project of rebuilding the country’s fi lm industry. They recognized socially and ideologically engaged fi lms as useful tools of persuasion and propaganda in the newly established political system. Besides, nationalization of the 578 Patrick Barbéris und Dominique Chapuis behaupten in ihrem Dokumentarfi lm Roman Karmen, un cinéaste au service de la révolution, dass Major Karmen direkt dem Marschall der Sowjetunion Georgij Žukov unterstand. 371

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media made control simpler and more efficient. The government Department of Information and Propaganda was formed in July 1944. It consisted of seven units dealing with different media. Aleksander Ford was in charge of the Film Division. According to its founding act the Film Division was responsible for movie theatres, film distribution, promotion of culture and education by the means of film and most of all it was an institution obliged to rebuild the film industry that was ruined. In November 1945 Ford became the director of the fully nationalized state production company Film Polski, which in fact replaced the earlier Department of Film Propaganda. This consolidated entity was given full monopoly in production, distribution and exhibition of movies in Poland. (Misiak 2003)

M. Białous (2015, S. 104) fügt hinzu, dass „die Filmproduktionsfirma der Polnischen Armee (Wytwórnia Filmowa Wojska Polskiego) als Militäreinheit formal dem politisch-pädagogischen Gremium der Polnischen Armee unterstellt war“, aber dies praktisch ohne Bedeutung war, da Aleksander Ford dieses leitete und „die gesamte Macht über Filmangelegenheiten innehatte.“579 Vor diesem militärisch-institutionellen und politisch-ideologischen Hintergrund ist der Produktionskontext der Majdanek-Aufnahmen und die Postproduktion der beiden Versionen zu sehen, die zum einen bestimmte politische Strategien verfolgen, zum anderen im Fall der polnischen Fassung sowohl personell als auch institutionell den Anfang des polnischen Nachkriegsfilms markieren. Auch wenn in der polnischen Filmwissenschaft weder der Inhalt noch die Ästhetik des Films über Majdanek untersucht wird, stellte er im offiziellen Narrativ der Volksrepublik Polen den Anfangspunkt der sowjetisch geförderten Nachkriegskinematografie dar. Unverständlich ist, dass bereits 1944–46 sowohl im Vorspann des sowjetischen Nürnbergfilms (Hicks 2012, S. 159) wie auch in zahlreichen polnischen Darstellungen die polnisch-sowjetische Zusammenarbeit im Lager Majdanek im Sommer 1944 nicht erwähnt wird. Es findet also eine gegenseitige Ausmerzung der Autorschaft des Majdanek-Materials statt – wenn auch aus verschiedenen Gründen und unter historisch unterschiedlichen Vorzeichen. Dies schlägt sich auch in der Geheimhaltung der Informationen bezüglich des realen Beginns der Aufnahmen nieder, die meist formelhaft auf die „ersten Stunden nach der Befreiung“ von Majdanek datiert wurden, was nachweislich nur für einen kleinen Teil zutreffen kann – wenn überhaupt.580

579 „Der Kern dieses Filmzentrums wurden mit Leuten von außerhalb der Filmspeerspitze ergänzt, die die Zeit des Krieges unter der Besatzung verbracht haben, in Lagern oder in der Emigration.“ (Białous 2015, S. 104) 580 Im Buch Contemporary Polish Cinematography (1962, S. 51) wird – aufgrund der im Westen gängigen Versionen – der Film Majdanek [sic] als „a stirring documentary, showing the Nazi extermination camp in the first hours of liberation and the court trial of criminals responsible for the deaths of hundreds of thousands of people in the camp“ bezeichnet. Ich hatte bereits Hicks (2012, S. 174) zitiert, der eine US-amerikanische Fassung von 14 Minuten erwähnt, die Aufnahmen vom November-Dezember enthielt.

7.1 Die Filmspeerspitze

373

Die Forschung581 bezog sich bisher auf die „Stowarzyszenie“ (Genossenschaft) bzw. den Begriff der „Spółdzielnia“ (Kooperative) der Vorkriegszeit, wenn es darum ging, dass die beiden Teams „genossenschaftlich“ kooperierten; daher sei es nicht immer möglich festzustellen, von welchen Kameraleuten welche Aufnahmen stammten (Hicks 2012, S. 159).582 Misiak schreibt: Even before the first piece of land in Poland was liberated, the army filmmakers had made their minds. They were in favour of a cooperative solution. “The opening titles of the film titled Majdanek (1944)583 made during the Lublin period can be seen as an echo of those early cooperative speculations. They stated that the producer of the moving documentary was Polish Film Cooperative.” Ford was one of the supporters of the social film industry idea, which he inherited from his prewar days. The pattern of the planned cooperative was derived from the Cooperative of Film Authors, which was established as the START initiative in 1937.

Misiak meint, diese Verunklarung war Absicht, wenn sie erklärt, dass die „cooperative solution“ sich auch auf den Vorspann ausgewirkt habe, der „während der Lubliner Periode ein Echo dieser frühen genossenschaftlichen Spekulationen war“. Wie aus der FINA-Kopie hervorgeht (und dies ist auch in der heute in der Filmoteka narodowa verfügbaren Schnittliste festgehalten), ist die Rede von einer „Genossenschaft (Spółdzielnia) Film Polski in Lublin“, wobei es den Film Polski 1944 noch nicht gab: NAPISY: Spółdzielnia „Film Polski“ w Lublinie przedstawia dokument filmowy MAJDANEK CMENTARZYSKO EUROPY Produkcja Wytwórnia Filmowa Wojska Polskiego przy udziale Centralnego Studio Filmów Dokumentalnych w Moskwie

Es ergibt sich in diesem Vorspann eine Vermischung des Typus der Kooperative („Spółdzielnia“, etwa die Vorkriegsorganisation SAF) mit der späteren nationalen Kinematografie der Polnischen Volksrepublik (Film Polski) – verbunden in erster Linie über die Fords und ihre Kameraleute. (Allerdings könnte die Betonung des „kooperativen“ Moments von der Abwesenheit A. Fords in Majdanek herrühren, was wiederum Olga Mińska-Ford als Autorin stärker ins Spiel bringt.)

581 Vgl. Hicks (2012, S. 159, 251) zu den verschiedenen Teams und wer zuerst angekommen ist. 582 Die Forberts waren nach dem Krieg an der Gründung der Genossenschaft Spółdzielnia Kinor für jiddischen Film (Hoberman 1991, S. 228) beteiligt, auf die ich noch kommen werde. 583 Misiak gibt hier nur den verkürzten Titel der polnischen Fassung an: Majdanek. 373

374

7 Die Filmteams

Auch dieser Umstand legt nahe, dass die heute verwendete FINA-Version (bzw. ihr Vorspann) nicht von 1944 stammt. Unklar ist, inwieweit nur der Vorspann geändert wurde oder ob nennenswerte Zensurmaßnahmen stattfanden, worauf die polnische Schnittliste hinweist, denn es liegt eine Liste der herausgeschnittenen Filmteile mit Weissbarths Namen vor (Opis odrzutów filmu „Majdanek“; Dosen 31–36). Auf einen späteren Umschnitt weist auch der typografische Stil des Vorspanns hin, der sich von den erhaltenen Titelkarten der ab November 1944 produzierten Filmchronik unterscheidet. Seine verspielte kursive Typographie und der Anachronismus einer „Kooperative Film Polski in Lublin“ (Spółdzielnia Film Polski w Lublinie), die im August-November 1944 gemeinsam mit dem CSDF Moskau einen Film produziert haben soll, legen eine fehlerhafte Rückdatierung der Filmfassung nahe. Die Unklarheit, wer welche Einstellungen gefilmt hat, betrifft aber in erster Linie die mangelnde Dokumentation des polnischen Beitrags, da ja im Fall der sowjetischen Kameraleute zahlreiche Montagelisten überliefert sind, zu denen ich Zugang erhalten habe. Mit Hilfe dieser Listen wie auch ihren Orten, Personennamen und Daten können wir die Aufnahmen zum großen Teil zuordnen, wobei aus den Montagelisten insgesamt hervorgeht, dass der angebliche Wettbewerb darum, wer das Lager zuerst betreten und wer was gefilmt hat, der in der Forschung bisher als Konflikt zwischen dem sowjetischen und dem polnischen Team dargestellt wurde,584 sich in den schriftlichen Dokumenten und ihrem Abgleich mit späteren Zeugnissen und (Selbstschutz-)Behauptungen nicht bestätigt. Anhand der Analyse der Montagelisten ergeben sich für den Sommer 1944 in Lublin/ Majdanek andere Gemeinsamkeiten und Differenzen, die nicht entlang der üblichen nationalen polnisch-sowjetischen Verwerfungslinien verlaufen. Vielmehr geht es darum, wie Lublin/Majdanek geschildert wird, und wieviel von der für alle im Lager Anwesenden offensichtlichen Wahrheit über den Genozid an den Juden in einem für die Öffentlichkeit bestimmten Film im Jahre 1944 dokumentiert und dargestellt werden kann. Inwieweit Ford bereits 1944/45 aufgrund von Majdanek mit seinen Zensoren in Konflikt geriet, müsste erst in Archivarbeit nachgegangen werden. Wir wissen nur, dass seine Bearbeitung des jüdisch-polnischen Themas dazu beigetragen hat, dass der mächtige Regisseur 1947 die Leitung des Film Polski abgeben musste und 1969 in die Emigration getrieben wurde. Sein 1946–47 konzipierter und teils im Prager Barrandov-Studio gedrehter Spielfilm Ulica graniczna wurde aufgrund seiner Darstellung des besetzten Warschaus wie auch des Aufstands im Ghetto, gesehen aus polnischer, orthodox-jüdischer und polnisch-jüdischer Perspektive, vom Politbüro als nicht-marxistisch und antipolnisch kritisiert. Ein zunächst antisemitischer Widerstandskämpfer wird in diesen Film durch die Hilfsbereitschaft eines tapferen jüdischen Schneiders, der seine Uniform versteckt, eines Besseren belehrt – und bekehrt.585 Juchniewicz (2011) erwähnt, dass er den Film „angeblich in der Tschechoslowakei wegen Befürchtungen antisemitischer Reaktionen in Polen“ gedreht habe. Aufschlussreich 584 Dargestellt bei Hicks 2012, S. 251ff. 585 Hoberman (1991, S. 334) spricht auch von Fords „Sympathie für die Heimatarmee“, die 1948 nicht mehr tragbar gewesen wäre.

7.1 Die Filmspeerspitze

375

ist, dass er den Majdanek-Kameramann Olgierd Samuciewicz nach Prag mitnahm wie auch seine Frau als bewährte Regie-Assistenz, die beide im Vorspann verzeichnet sind, sie als „Olga Fordowa“. Das stilistisch an den Neorealismus anknüpfende Melodrama zeigt den Widerstand der zu Jugendlichen herangewachsenen Kinder der „Legionen der Straße“, die sich nicht in „arisch“ und „jüdisch“ trennen lassen und gegen die Ghettoisierung, den Ausschluss der Juden aus der Warschauer Gesellschaft kämpfen. Dieser Ford-Film ist nicht nur ein Versuch, die tragische Geschichte Warschaus zu zeigen, sondern enthält auch ein in der Nachkriegszeit häufiges Motiv des „gemeinsam durchfochtenen Widerstandskampfs“ bzw. den Aufruf zur Aussöhnung von Juden und Polen, ein „kollektives Erinnerungsbild“ konstruierend.586 Aleksander und Olga Ford hatten also in den eineinhalb Jahrzehnten von 1932 bis 1947 gemeinsam den Weg von einer Geschichte über Zeitungsjungen (im Jargon wird ein solcher als majdanarz bezeichnet) über Majdanek bis zur polnisch-jüdischen Grenzstraße zurückgelegt.

7.1.2

Jerzy Bossak: Von der Grabstätte Europas (1944) zum Requiem für 500 000 (1962)

Abb. 7.8 Jerzy Bossak. Fotograf unbekannt https://ru. wikipedia.org/wiki/ Боссак,_Ежи

586 Friedrich (2002, S. 417–422) zeichnet dies anhand der PPR- und der linken Presse nach: so betonte etwa die Zeitung Polska zbrojna die polnisch-jüdische Solidarität und bewertete den Ghettoaufstand als militärisch besser organisiert als den der AK. 375

376

7 Die Filmteams

Jerzy Bossak (Rostov am Don 1910 – Warschau 1989; Abb. 7.8) hatte – ähnlich wie Ford – ein Pseudonym angenommen, denn sein Familienname war bei seiner Geburt Burger-Naum.587 Er siedelte nach eigenen Angaben 1911 aufgrund der Scheidung seiner Mutter nach Łódź um, besuchte das Gymnasium und studierte Kunstgeschichte, Philologie und Jura. Schon als Teenager verfasste er Filmkritiken unter dem Pseudonym Jerzy Bossak – auf polnisch bezeichnet bosak einen Bootshaken, der russische bosjak ist ein Strolch und in den meisten slawischen Sprachen assoziiert die Wurzel bos Barfüßigkeit und Armut (das Doppel-s verfremdet diese Bedeutung, lässt auch an englische Wort Boss denken). Arm war Jerzy nicht, sondern er stammte aus einer Familie der „arbeitenden Intelligencia“, wie er in einer Nachkriegsbiografie schreibt (Bossak 16.11.1981, S. 1). Seine Mutter, sein Stiefvater und zwei Brüder fielen dem Völkermord an den Juden zum Opfer, er jedoch überlebte den Krieg in der UdSSR, da er sich 1939 im sowjetisch besetzten Lwów / L’vov befand, wo er die Filmrubrik der von Wanda Wasilewska herausgegebenen Zeitschrift Nowe Widnokręgi (ab Februar 1941) redigierte (Bossak 16.11.1981, S. 3). Lwów wurde gemäß Nichtangriffspakt zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR sowjetisch und „nach einem unfreien Volksentscheid in die Ukrainische SSR integriert“.588 Bossak hatte eine juristische Ausbildung und arbeitete in einer Uniformfabrik bzw. erhielt nach anderen Informationen 1942 eine Büroanstellung beim Bau des Ferganakanals – was davon zeugt, dass er das Russische gut beherrschte. In einer Biografie von 1981 spricht er von einer Typhuserkrankung, der er in der UdSSR beinahe zum Opfer gefallen wäre (Bossak 1981, S. 3). Er war in Usbekistan als erster der am Film Beteiligten im „Bund Polnischer Patrioten“ (ZPP) aktiv, Stellvertreter des Leiters der Filmspeerspitze (also von Ford) und der Produktionsgesellschaft der Polnischen Armee (Wytwórnia Filmowa Wojska Polskiego) in Lublin, und ihr „künstlerischer Leiter“. Er leitete die Polnische Filmchronik (PKF) von 1944 bis zum September 1949, 1945–49 war er Programmdirektor bei Film Polski und 1947–49 Direktor des Dokumentarfilmstudios in Warschau, „1949–1952 widmete er sich der kreativen Filmarbeit und ab 1952 [war er] Lehrer in der Staatlichen Filmschule Lodz.“ (ibid.) Wir sehen, dass seine steile institutionelle Karriere 1949 einknickt, d. h. etwa zwei Jahre nach der von Ford. Aus „Kompromat“-Dokumenten geht hervor, dass er von der 587 https://www.biogramy.pl/a/biografia/jerzy-bossak-wlasciwie-burger-naum-dokumentalista-wiesz#video [2.2.2019] In Dokumenten der Polnischen Staatssicherheit aus der Nachkriegszeit findet sich auch die Schreibung Bürger-Nauman. 588 Zum wechselhaften Schicksal dieser ostgalizischen Stadt, die an das von Czernowitz erinnert: „Als Ergebnis des Hitler-Stalin-Pakts fiel die Stadt nach kurzer Belagerung an die Sowjetunion und die Region wurde nach einem unfreien Volksentscheid in die Ukrainische SSR integriert. Terror und Repressionen gegen alle Teile der Bevölkerung kennzeichneten diese Phase. […] Am 30. Juni 1941 wurde die Stadt von deutschen Truppen eingenommen. Mitglieder der Organisation Ukrainischer Nationalisten (Bandera-Fraktion) proklamierten eine ukrainische Regierung, die von den Deutschen nicht anerkannt wurde. Am selben Tag begann ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung, dem etwa 7.000 Personen zum Opfer fielen. […]. Nach Rückkehr der Roten Armee im Juli 1944 wurde fast die gesamte polnische Bevölkerung gezwungen, die Stadt zu verlassen.“ https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/orte/lemberg-lviv [2.2.2020]

7.1 Die Filmspeerspitze

377

Staatssicherheit beobachtet wurde. So wurden ihm Kontakte zu einer trozkistischen Gruppe nachgesagt. Später war Bossak künstlerischer Leiter des Studios Zespół Filmowy „Kamera“, in dem Meisterwerke wie Polanskis Messer im Wasser / Nóż w wodzie (1962) oder Andrzej Munks Spielfilm über eine KZ-Aufseherin Die Passagierin / Pasażerka (1963) entstanden. 1962 dreht Bossak mit Wacław Kaźmierczak den Kompilationsfilm Requiem dla 500 tysięcy / Requiem für 500 000 (Wytwórnia Filmów Dokumentalnych) über das Warschauer Ghetto. Wacław Kaźmierczak (1905–1982) hatte 1945 den Dokumentarfilm Swastyka i szubienica / Hakenkreuz und Galgen (Kazimierz Czyński, 1945) geschnitten, der zum Jahrestag der Befreiung Lublins/Majdaneks in die Kinos kam, produziert ebenfalls von der Wytwórnia Filmowa Wojska Polskiego wie der Film Majdanek – Friedhof Europas. Der Film enthielt zusätzlich Aufnahmen des Prozesses in Lublin und die Hinrichtung von Thernes und Co. auf dem Lagerglände von Majdanek. Beteiligt waren die Brüder Forbert und Wohl; er enthielt neben den Szenen des Gerichts und der Hinrichtung auch Sequenzen aus den Majdanek-Aufnahmen der Filmspeerspitze. Man kann vermuten, dass Czyński – ein ethnischer Pole – gewählt wurde, um Majdaneks polnischen Aspekt zu betonen, diesmal unter Einbezug der Bestrafung der Kriegsverbrecher. Hier war ein jüdischer Autorenname offensichtlich nicht erwünscht, wobei die Namen der Kameraleute unverändert sind und das aus dem 1944er Film übernommene Material übereinstimmt – bis hin zur verwendeten Rhetorik und der Filmästhetik. Liebman (2013, S. 123) ist jedoch der Auffassung, dass dieser Film das Los der Juden stärker thematisiere als zu dieser Zeit sonst üblich. Kosidowska (2008, S. 138) beschreibt Nekrasova und Kaźmierczak als „zwei Giganten der Montage.“ Kaźmierczak erhielt jedoch 1945 nach der Befreiung aufgrund eines Ehrengerichts seiner Kollegen ein einjähriges ‚Namensverbot‘ (Kosidowska 2008, S. 137–138), da er aufgrund seines Schnitts der „GG-Wochenschau der Kollaboration mit den Deutschen“ in den Jahren 1940–44 bezichtigt worden war (er verwendete daraufhin ein Pseudonym: Kazimierz Wacek). Später wurde das Mitglied der Heimatarmee von diesem Vorwurf freigesprochen, da nachgewiesen wurde, dass er im Auftrag des Untergrunds zur Sammlung von Informationen aus der deutschen Wochenschau gehandelt hatte. Der Schnittmeister der Polskiej Agencji Telegraficznej (PAT) der Vorkriegszeit war eine zentrale Figur in der Untergrundfilmbewegung, so schnitt er die am 13.8.1944 im Warschauer Kino Palladium vorgeführte Chronik Przegląd nr 1 (auch: Warszawa walczy!). Kosidowska (2008, S. 138) erwähnt, dass er sich nach der Niederschlagung des Aufstands mit Bohdziewicz in Krakau befand, wohin Wohl am 18.1.1945 gekommen sei und offensichtlich beide nach Lublin zur Filmspeerspitze brachte. Bossak hatte in Kaźmierczak nicht nur einen Cutter gefunden, sondern auch einen Augenzeugen des besetzten Warschaus aus der Perspektive der Heimatarmee. Tomasz Łysak (2016) beschreibt Bossaks Umgang mit NS-Filmmaterial in Requiem dla 500 000 (Abb. 7.9) als problematisch: Requiem dla 500 000 realises a complicated aesthetic blueprint. Therefore, it is necessary to focus on the formal aspects of how the archival footage is used, as well as the objectives of the film. Based on these objectives the film caters to a specific audience that is being written into 377

378

7 Die Filmteams

the film (one cannot forget that the original documentary had its own audience and these two audiences meet in the reedited archival materials).

Aufschlussreich für unsere Analyse der Majdanek-Filme ist Łysaks Urteil, dass Bossaks Versuch, eine vielschichtige Repräsentation des Warschauer Ghettos zu erreichen, scheitern muss: The multi-layered structure of Requiem dla 500 000 has a palimpsest form both in its technological dimension (silent German clips have audio commentary added) and in the relationship between different layers of meaning in the commentary. It is my hunch that Bossak uncritically repeats the myth of Jewish passivity. In addition to this, the chronology of events and their subjective assessment may prompt a conclusion that only the fighters were right […] The logic of the ending is somewhat surprising, as if the Uprising was the inevitable culmination of the Ghetto, and the Holocaust is treated here as a form of Polish martyrology. Finally, the monumental ending repeats the Germans‘ arrogance. Unfortunately, the concept of the palimpsest fails as a method of ideological interpretation due to shortcomings in the voice-over narration, the director’s inability to see through propaganda, and the resistance of the original footage. (Łysak 2016)

Das Scheitern dieses „Palimpsests“ in Requiem hängt zum einen mit dem „Widerstand“ des Nazifilmmaterials zusammen, d. h. mit der Verwendung von ideologisch motivierten antisemitischen Aufnahmen, die von Mitgliedern der Propaganda-Kompanien der Wehrmacht erstellt wurden, also dem deutschen Gegenstück der Filmspeerspitze, der Bossak angehörte. Hier fällt auf, dass Bossaks Kommentar des jüdischen Filmemachers im Jahr 1962 noch dem universalistischen Muster folgt, das – wie Łysak zeigt – in Polen notwendigerweise christlich sein muss, oder, wie ich einwerfen möchte, die Gestalt christlich inspirierter universaler oder gar dem Sozialismus angepasster Rhetorik annimmt. Vgl. auch die zur gleichen Zeit in Prag erschienene Novelle Terezínské requiem / Theresienstädter Requiem (1963) von Josef Bor (geb. Bondy, Mährisch Ostrau 1906 – Prag 1979); Bor hatte den Genozid überlebt und war – wie Bossak – Jurist. Der Titel bezieht sich zwar auf eine Aufführung von Verdis Requiem im Ghetto, enthält jedoch eine ähnliche Paradoxie wie Bossaks Film: in einem atheistisch-sozialistischen Staat wird eine christliche Musikgattung (auf der Basis der römisch-katholischen Liturgie des Totengottesdienstes) zum Vehikel der Wahrnehmung und Erinnerung an die Vernichtung der Juden. Łysak (2016) kritisiert aus heutiger Perspektive zu Recht Bossaks Behandlung des Aufstands der Juden im Ghetto, wenn er in Zusammenhang mit dem christlichen Kalender gebracht wird: The problematic character of the narrative becomes evident in linking the outbreak of the Uprising to the Christian calendar: “Easter, a holiday that a German author called: ‚the happiest of all Christian holidays‘, ‚Hallelujah‘ and the image of Christ rising from the dead are its symbols” (0:24:25). This remark justifies the destruction of the Ghetto and its inhabitants in religious terms, referring to the meaning of Easter (as a Christian version of the Jewish story of the Exodus) as well as a conceptualisation of Jewish suffering in terms of Christian eschatology. Moreover, Handel’s “Hallelujah” chorus, used as a soundtrack, may symbolise

7.1 Die Filmspeerspitze

379

German triumphalism in which even high culture serves as a weapon. Last but not least, the Christianisation of the Holocaust and stereotypical presentation of Germans as a nation of art lovers are typical tropes for fiction films. (Łysak 2016)

Anhand von Łysaks Analyse des Films als „homogenising perspective of Polish suffering, as found in Requiem dla 500 000“ kann man feststellen, dass Bossaks Haltung als Kommunist ihn 1944 ebenso wie 1962 davon abhielt, mit einem Film jüdische Geschichte auf polnischem Boden zu schreiben – sei es diejenige des Distrikts Lublin als Grabstätte der Juden Europas oder des Warschauer Ghettos. An diesem interessiert ihn vor allem die Heroik des bewaffneten Widerstands, die Łysak „martyrologisch“ nennt, die aber in den sozialistischen Volksrepubliken das einzig gültige Narrativ öffentlich erinnerbaren jüdischen Handelns darstellt. Meiner Auffassung nach wird nicht erst durch den christlichen kalendarischen Rahmen, sondern bereits in dem von der UdSSR für das besetzte Osteuropa vertretenen Postulat, dass nur der Griff zur Waffe als wahrer Widerstand gelten könne, der Kern der Vernichtung der Juden in Polen ignoriert, denn das Gros der jüdischen Opfer waren keine Widerständler, sondern Wehrlose, Getäuschte, Verhungernde oder ahnungslos Ermordete: die Opfer von Orten wie Treblinka, das eine der wahren Grabstätten der Juden Europas (wenngleich auch ein Ort des Widerstands) war. Ich möchte jedoch für mehr Verständnis für den christlichen Rahmen plädieren, den Bossak Anfang der 1960er in Polen aufrief – schließlich war das Publikum ein polnisches, und es galt, dieser (post-) katholischen Mehrheitsgesellschaft die jüdische Tragödie im eigenen Land zu vermitteln, nicht den wenigen in Polen verbliebenen Juden. Auch der musikalische Bezug auf einen christlichen Festtag – der so nah am jüdischen Pessachfest liegt – kann im Polen der 1960er Jahre durchaus als allgemeiner Appell an Werte der judäo-christlichen Kultur aufgefasst werden, als deren Vertreter sich Bossak unter Umständen selbst nicht sieht, diese jedoch bei seinem Publikum vermutet. Fatalerweise sagte dem Marxisten Bossak an den NS-deutschen Ghetto-Aufnahmen deren vermeintliche ‚Sozialkritik‘ zu. Łysak fällt auf, dass gerade an diesen Stellen der Kommentar, der Distanz schaffen könnte, fehlt: This talk of smuggling is accompanied by an observation made in Ringelblum’s chronicle that the Ghetto is a class-ridden society. In order to prove this statement German shots of elegant people dining in a restaurant are shown sans any commentary on the intentions of the Nazi film crew and the staging. On the other hand, life in the Ghetto is not just an occasion for enriching oneself as “Janusz Korczak, Emanuel Ringelblum and tens of others attempt to protect the youngest from hunger” (0:13:28). Such a social history of the Ghetto carries a Marxist note as it starts with the necessities of life only to move on to offer a perspective on social life. (Łysak 2016)

Die realsozialistische Sicht von 1962 fällt mit der vermeintlichen Verurteilung der extremen Klassengesellschaft der in Polen lebenden Juden mit Hilfe fingierter Aufnahmen (das Ghetto als ihre verschärfte Form) durch die nationalsozialistische Propaganda zusammen. Der Dokumentarfilm drückt jene im Ostblock in der Nachkriegszeit gängige Form des 379

380

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‚linken‘, sozialkritischen Antisemitismus aus und fällt unter das Niveau, welches im Spielfilm Ulica graniczna durch Ford erreicht wurde. Anstatt die heroischen Widerständler des Warschauer Aufstands zu besingen (darunter etwa das Paar Lubetkin-Cukierman),589 liefert Bossak eine (Selbst)Bezichtigung der Warschauer Juden als angeblich nicht solidarisch, dem Kapital hörig und unpolitisch-passiv („passive acceptance of death“, Łysak 2016). Diese Haltung ist problematisch, da Bossak das Ghetto selbst nie erlebt hat und sich über diese fundamentale jüdisch-polnische Erfahrung erhebt, als beträfe ihn – nachdem er den Krieg in der UdSSR verbracht hat und als Filmoffizier der Polnischen Streitkräfte in der UdSSR in das befreite Polen zurückgekehrt ist – dieses Kapitel jüdischer Geschichte nicht. Und an diesem Punkt können wir wieder in die zweite Jahreshälfte von 1944 zurückkehren, wo offensichtlich etwas Ähnliches stattfand, was man nun – vor dem Hintergrund der Bossakschen Ideologie – mit dem psychoanalytischen Begriff der Verdrängung des Genozids bezeichnen kann.

Abb. 7.9 Plakat für Requiem dla 500 000 von Leszek Holdanowicz

589 Freilich passte dies nicht in die anti-zionistische Politik des Ostblocks, denn Zivia Lubetkin und Icchak Cukierman waren Zionisten und lebten seit 1948 in Israel https://www.gdw-berlin.de/ en/recess/biographies/index_of_persons/biographie/view-bio/icchak-cukierman/?no_cache=1 [5.7.2019].

7.1 Die Filmspeerspitze

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Bossak wie auch Ford waren in Majdanek zweifellos in einer anderen Situation als Karmen, der zwar auch nicht von den Juden als primären Opfern der Todesfabrik sprach, aber diese mit seiner Erwähnung der Gaswägen in seiner Montageliste mitbezeichnete; als langjähriger Frontkameramann war er stärker als die beiden anderen mit der Judenvernichtung (auch in seinem eigenen, besetzten und in Etappen befreitem Land) konfrontiert gewesen. Aufschlussreich ist die Verdrängung übrigens auch im Fall der jüdischen Autoren Kriger und Gorbatov, die im August 1944 von Ščerbakov zur Thematisierung des jüdischen Schicksals ermahnt werden mussten. Offensichtlich war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, ob die Wahrheit über die Vernichtung von einem Juden selbst bezeugt werden kann bzw. ob dieser sich als solcher kenntlich machen darf. Entschieden sich die jüdischen Reporter in Majdanek im August spontan dagegen, wurde diese Frage im Verlauf des Sommers und Herbsts 1944 auch von offizieller Seite zunehmend negativ beantwortet: Das von der Roten Armee befreite Polen war in dieser Sprachregelung nicht Grabstätte der polnischen und europäischen Juden, sondern „Europas“, Majdanek im polnischen Titel also Friedhof Europas. Dem polnischen Publikum wurden die jüdischen Opfer daher als „Europäer“ präsentiert, die in ihrer besetzten Heimat ermordet worden waren, offensichtlich um eine etwaige Konkurrenz um den ersten Platz unter den Opfergruppen Europas zu vermeiden. Und Majdanek war ein Tatort, an dem das in Lublin etablierte neue Polnische Komitee der Nationalen Befreiung Beweise deutscher Verbrechen sicherstellen konnte. Das legt der russische Titel nahe, der auch für die internationale Verwendung – im Vorgriff auf das alliierte Nachkriegstribunal – geprägt wurde: Filmdokumente von den ungeheuerlichen Verbrechen der Deutschen im Vernichtungslager Majdanek in der Stadt Lublin. Auch wenn hier nicht explizit von der Nationalität der Opfer gesprochen wird, erscheint die polnische Nation im russischen Titel als primär – dies geschieht bereits durch die Weglassung der nach Majdanek deportierten Juden bzw. des Teils des polnischen Judentums, das in Lublin/Majdanek umkam. An diesem Beispiel der fein abgestimmten Funktionalität der beiden Titel zeigt sich abermals, dass bei den Sprachversionen von zwei Filmen gesprochen werden muss – obgleich identisches Material verwendet wurde.

7.1.3

Die Forberts: jiddisch-polnische Filmkultur, sowjetische Internierung und Filmarbeit in Zentralasien

Die Brüder Forbert stammten aus einer einschlägig im Bereich Foto und Film aktiven Familie, die sich um die Filmkunst im Nachkriegspolen verdient gemacht hatte. Ihr Vater, der Fotograf, Filmproduzent, Regisseur und Filmdekorateur Leo[n] Forbert590 hatte in Warschau ein Fotostudio, Adresse Nowy Świat 39 (Abb. 7.10 ist ein Forbert-Foto). Laut Contemporary 590 Leo [Lajzer] Forbert wurde laut Jewish Records Indexing am 24.01/02.1880 in Włocławek / Leslau (Russisches Teilungsgebiet: Kujawien) als Kind von Juda Lejb Forbert und Liba Rojza Majerkiewicz geboren. 381

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Polish Cinematography (Banaszkiewicz et al. 1962, S. 9) war die von ihm gegründete Firma Leo-(Forbert)-Film – nach dem Studio Sfinks – das zweitgrößte polnische Studio zwischen den Kriegen, mit einer Produktion von 17 Filmen zwischen 1924 und 1937.591

Abb. 7.10 Yehudia Sommerlager für orthodoxe Kinder in Długosiodło (2. Polnische Republik). Fotografie: Leo Forbert; https:// www.pinterest.com.au/ pin/261208847109272132/ [5.9.2018]

Ester Rachel Kamińska und ihre Tochter Ida Kamińska (1899 Odessa – 1980 New York) wie auch ihr erster Mann Zygmunt Turkow spielten in Forberts Tkies khaf. J. Hoberman (1991, S. 79) zitiert einen polnischen Kritiker: „Without publicity, without fireworks… the Leo-Forbert company had released the best movie that has been made so far in this country.“ Die Dreharbeiten für diesem Film über eine vor der Geburt zweier Kinder mit einem „Handschlag“ arrangierte Hochzeit fand im Fotostudio der Forberts statt und ging laut Hoberman (1991, S. 74, 78) auf die Initiative von Henryk Jechiel Bojm zurück. Die Kamera bediente L. Forberts Cousin Seweryn Steinwurzel,592 den man auf Abb. 7.11 mit Lederstiefeln auf dem Boden sitzen sieht.

591 Zu den Biografien der Forberts mit Fotos vgl. die Seite des Jüdischen Historischen Emanuel Ringelblum-Instituts Warschau (Żydowskiego Instytutu Historycznego im. Emanuela Ringelbluma) http://www.jhi.pl/blog/2014-12-22-forbert [10.4.2018]. Werbung der Firma Forbert findet sich auf der Seite zu Filmstills der polnischen Filmoteka narodowa: http://fototeka.fn.org.pl/ pl/static/39/30/historia-polskiego-fotosu-filmowego.html#7 592 Seweryn Steinwurzels (Warschau 1898 – Lod, Israel 1983) Biografie, die teilweise mit der der Mitglieder der Filmspeerspitze zusammenfällt, zeigt zugleich den alternativen Weg, den Polen jüdischer Herkunft, die sich auf sowjetischem Boden befanden, einschlagen konnten, wobei er 13 bzw. 17 Jahre älter ist als seine Großneffen A. und W. Forbert: er befindet sich Ende 1939 im sowjetisch besetzten Lwów und im Juni 1941 in Moskau, wo er in der Trickabteilung von Sojuzdetfilm arbeitete; Ende 1941 wird er nach Tadschikistan evakuiert, schließt sich im Februar 1942 aber der Anders-Armee an und emigriert 1947, erst nach Südamerika und dann nach Israel (1975); http://www.filmpolski.pl/fp/index.php?osoba=1151687; https://mubi.com/

7.1 Die Filmspeerspitze

Abb. 7.11

383

Leo Forbert (in der Mitte sitzend) mit der Crew des Films Der Lamedvovnik / Jeden z 36 / Einer von 36; 1925; R: Jonas Turkow); Abb. in Hoberman 1991, S. 81

Steinwurzel – der für Legiony ulicy hinter der Kamera gestanden hatte – sollte während des Kriegs einen Film über M. Waszyński machen, der den 2. Weltkrieg ebenfalls zum Teil in der UdSSR verbracht hatte. Zahlreiche Polen waren in der Evakuierung in Taschkent,593 wie etwa Ida Kamińska, die gemeinsam mit ihrem Mann Adi Rosner die sowjetische Staatsbürgeschaft angenommen hatte und zahlreiche Privilegien genoss.594 Goldlust beschreibt jedoch Kamińskas sowjetische Karriere als „spektakuläre Ausnahme“:

cast/seweryn-steinwurzel; https://www.ipsb.nina.gov.pl/a/foto/operator-seweryn-steinwurzel-w-srodku-na-planie-fi lmu-juliusza-gardana-kropka-nad-i-z-1928-roku; [5.5.2019] 593 „Like three-quarter of those Polish Jews who survived the Holocaust, Dzigan and Schumacher had done so behind Soviet lines. Ida Kaminska encountered their Little Art Theater in Tashkent in 1942. She recalls that after the comics had volunteered for General Anders’ Soviet-based Polish army, they were denounced by Polish comrades and sent to a Soviet labour camp. Released in 1946, they succeeded in repatriating to Poland, and by late 1947 they were in Lodz with a revue entitled Abi Men Zet.“ (Hoberman 1991, S. 329–330) 594 „As a third-generation actress in one of the most illustrious Jewish theatrical families of Eastern Europe, still in her late teens and already an established star of stage and screen, Turkow Kaminska’s introduction to life and work under the Soviets is characterized more by ease and 383

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7 Die Filmteams

But the easy acceptance of Soviet citizenship, which presented little problem to Turkow Kaminska and her husband, was not a choice favored by the majority of the Jewish refugees now in eastern Poland. Also, an important condition attached to Soviet citizenship was the requirement for the refugees to then move from the cities to smaller urban centers, which most were loath to do. […] By 1944, they were being asked to provide entertainment relief for frontline troops of the Red Army during its advance into Poland, and, as a reward, they gained possession of a “war trophy”–a Ford automobile left behind by the retreating Germans. Their musical careers and privileged lifestyle continued until the summer of 1946. (Goldlust 2017, S. 42–43, 71)

Hiermit kontrastiert das harte Leben der Fords in der UdSSR bis 1943, das in Usbekistan offensichtlich zum Tod des Sohns geführt hat – nachdem er das Lager in Sibirien überstanden hatte. John Goldlust zitiert aus seiner Quelle, die besagt, dass die wenigsten Kleinkinder die Kälte überlebten: „Few babies survived in our camp in Siberia. I can only remember a few young children, undernourished and mostly kept indoors because of the freezing weather and lack of warm clothes“ und schildert die Bedingungen in Zentralasien, wo Typhus und Diphterie wüteten: „The conditions were certainly harsh and some died of hunger and disease – one recent estimate suggests that 10 percent of the Jewish refugees did not survive the experience. And while the age cohort of the refugees was biased toward young adults, the camp populations also included some adolescents and even young children.“595

luxury than by misery and deprivation. Soon after the Germans invade, following the familiar path taken by the Polish refugees, Turkow Kaminska together with other members of her family—her mother, Ida Kaminska, one of the most celebrated stars of Yiddish theater; her stepfather; and her flamboyant, German Jewish, jazz trumpet-playing husband, Adi Rosner— hastily depart Warsaw and make their way to Bialystok in Soviet-occupied eastern Poland. Once there, both Turkow Kaminska and her husband are quick to take up the offer of Soviet citizenship, and within a few weeks, under the ‘auspices of the Belarusian People’s Commissar,’ Rosner is offered the leadership of a local jazz orchestra, with Turkow Kaminska to be employed as one of the band’s vocalists. They sign a contract for a substantial sum of money that includes extra provision for costumes, sets, and other necessary expenses, with the understanding, at the request of local party functionaries, that they organize an extensive USSR-wide tour for the band, performing mostly Western-style jazz. They then embark on an extremely affluent lifestyle, staying in the best hotels and, with the money they earned, purchasing food, clothing, and other provisions available only to the Soviet elite. […] While many of the other Polish Jews were being deported to labor camps, they seem to have stumbled into an alternative universe and were living the ostentatious and lavish lifestyle of the Soviet nomenklatura, associating mostly with high officials, favored artists, writers, and other ‘celebrities.’ After successful, lengthy seasons playing Leningrad and Moscow, their tour continued into the ‘provinces,’ covering the Soviet Central Asian republics and the ‘far east.’ This included a concert in the so-called Jewish Autonomous Region of Birobidzhan, the Soviet-created ‘Jewish homeland’ referred to at the beginning of this chapter, where they found little evidence of ‘Yiddish culture’ and a noticeably impoverished living standard.“ (Goldlust 2017, S. 42) 1946 wurden beide verhaftet. 595 Goldlust 2017, S. 49. Über die Spannungen zwischen Usbeken und den Flüchtlingen aus Polen („considerable hostility between the local Uzbeks and the refugees, even down to the children, who were continually throwing stones at the Jewish children“; ibid., S. 60).

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Aufschlussreich ist auch die bei Goldlust wiedergegebene Erinnerung von Zyga Elton, der die Deportation in ein Lager durch die Annahme der sowjetischen Staatsbürgerschaft vermeiden konnte, im Sommer 1941 dann jedoch als Ex-Pole und Sowjetbürger jüdischer Herkunft von der Anders-Armee abgelehnt wurde. Auf seiner Reise nach Usbekistan erkannte er seine Landsleute, die – ähnlich wie die Fords – keinen sowjetischen Pass angenommen hatten: In Kyzl Orda on the way to Tashkent we met a large convoy of cattle wagons full of people, left on a railway siding…Most were poorly dressed and some were in tattered clothes, their bare feet covered in cloth. They were Polish citizens freed from concentration camps and settlements in accordance with the term of an agreement between the Polish Government-in-Exile and the Soviet Union. They were escaping the severe cold of the snowcovered Siberian expanse. Their only chance of survival was to reach the mild climate of Central Asia and last out till the end of the war. These people were hungry and had not eaten in days. Some were sick, and without medical help. They hoped to travel as far as Aschabad, and from there to the Persian border. These hopes were the product of delirious minds, as the borders were strongly guarded against any trespass… We returned to our train, grateful to have escaped their fate. (zitiert in Goldlust 2017, S. 58)

In den meisten im Ostblock erschienenen Biografien wird die Phase der Aufstellung der polnischen Streitkräfte, insb. der Anders-Armee, übergangen. Waszyński schloss sich – wie Steinwurzel selbst – jedoch dieser Armee an, als diese über Iran und Ägypten nach Italien zog und filmte als alliierter Kameramann die Schlacht von Montecassino.596 Waszyński, Steinwurzel und Zygmunt Turkow waren an jiddischen Filmen der 1930er Jahre beteiligt, so etwa dem Musical Der purim-szpiler (1937). Die Lebensgeschichten der Brüder Jonas (1898–1988) und Zygmunt Turkow (1896–1970) wie auch Steinwurzels demonstrieren zum einen, welche Sprachen für im Zarenreich geborene Juden über (politische) Grenzen hinweg von Bedeutung waren: Polnisch, Russisch, Hebräisch, Jiddisch und Deutsch, zum anderen, dass es auch während des Kriegs eine gewisse Entscheidungsfreiheit gab, welchen Weg man einschlagen wollte, auch in der UdSSR.597 596 https://ru.wikipedia.org/wiki/Вашиньский,_Михал. [5.4.2019] Sein Aufenthaltsort im Herbst 1939 wird entweder als Białystok oder Lwów (Lemberg) angegeben, in jedem Fall die Kresy. Über diesen Lebensabschnitt wurde der Film Dzieci / Kinder (1943) produziert, mit Steinwurzel und einem weiteren Kameramann, Stanisław Lipiński, der „1940 vom NKWD verhaftet und nach Sibirien abtransportiert wurde“, aber dann als Mitglied der Anders-Armee in den Westen kam. (http://www.filmpolski.pl/fp/index.php?film=4221824) Nach dem Krieg arbeitete Waszyński für Samuel Bronston, u. a. als Regie-Assistent in der Orson-Welles-Produktion von Othello (1952). 2018 wurde ein biopic über ihn gedreht Książę i dybuk /Der Prinz und der Dybuk (R: Elwira Niewiera / Piotr Rosołowski). https://sztetl.org.pl/de/tradition-and-jewish-culture/art/ in-search-of-dybbuk [5.4.2019]. 597 Zygmunt Turkow emigrierte 1940 nach Argentinien, Jonas überlebte das Warschauer Ghetto: „Turkow spent most of World War II with his wife, the actress Diana Blumenfeld, in the Warsaw ghetto. He organized theater performances there and worked with the underground resistance. After the ghetto uprising, he hid on the ‘Aryan side.’ Turkow was involved in the Jewish orga385

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7 Die Filmteams

Für die Produktion und Rezeption der Majdanek-Filme, die in Lublin gemacht wurden, wo die polnische Version auch ihre Premiere hatte, ist also wichtig zu vermerken, dass der Name Forbert – zumindest bis 1939 – ein klangvoller war (Leo Forbert ist am 21.7.1938, also noch vor den Invasionen auf Polen im September 1939 gestorben).598 Er bezeichnete einen Pionier nicht nur jüdischer Herkunft, sondern jemanden, der international bekannte Filme with ‚Jewish interest‘ und dem besten ‚Jewish talent‘ gemacht hatte, das in Polen damals zur Verfügung stand oder aus den USA zur Unterstützung gerufen werden konnte. Von 1924 bis 1926 produzierte der Pionier Leo Forbert die wohl einflussreichsten jiddischen Filme Europas, darunter an erster Stelle Tkies khaf / Ślubowanie / Die Verlobung (1924) mit Mutter und Tochter Kamińska – einem Vorläufer des späteren jiddischen Dybbuk-Tonfilms, den jedoch das Studio Feniks drehte (Der dibbek / Dybuk, Polen 1937). In der polnischen Filmwelt der Zwischenkriegszeit gab es viele Querverbindungen: Der Produzent von Der dibbek war etwa Z. Mayflauer, der als Bild-Editor an Fords Sabra beteiligt gewesen war.599 Man sollte auch erwähnen, dass die Produzenten und zum Teil auch Regisseure der Filme mit jüdischen Themen oder jiddischer Sprache auch die meisten anderen in Polen gemachten Filme verantworteten: „The majority of studios were managed by producers of Jewish origin, such as Aleksander Hertz, Henryk Finkelstein, Samuel Ginsburg, Marek Libkow, and Maria Hirszbejn.“ (Haltof 2015, S. 72) 1937 wurde bei Leo-Film die Tonversion von Tkies khaf produziert, selbstverständlich auf Jiddisch, teilweise mit der Besetzung der stummen Version von 1924. Zu diesem Zeitpunkt gehörte die Firma aber nicht mehr Forbert, sondern der Produzentin Maria Hirszbejn (1889 Zgierz – 1939 oder 1942 Warschau). Skaff schreibt: „In 1926, Maria Hirszbejn acquired a controlling interest in Forbert-Film, changed the name of its studio to Leo-Film,

nizations that arose in Poland immediately after the war; among other achievements, he was responsible for the first Yiddish radio programs in Poland. In 1946 and 1947, he and Blumenfeld toured displaced persons camps throughout Europe with Yiddish performances. In 1947, he settled in New York, where from 1956 he worked as the YIVO theater archivist.“ http://www. yivoencyclopedia.org/article.aspx/turkow_family [4.5.2019] 598 Er wurde am 23.7.1938 rituell begraben auf dem Friedhof an der Okopowa-Straße in Warschauer Powązki (https://jri-poland.org/databases/jridetail_2.php) [12.10.2019]. In einem E-Mail vom 4.2.2019 beschreibt die Filmemacherin Katja Forbert Petersen die Herkunftsfamilie ihres Vaters und Onkels: „Both were cinematographers. They came from a film family. Their father Leo Forbert was a Polish-Jewish film producer. He passed away in 1938. So both brothers grew up and learned film-making from early childhood. They were energetic young film-makers, leftists, impassioned by Russian film avant-garde, like Dziga Vertov. They were both war photographers (film-soldiers), in that particular division of the Polish army, which was part of the Soviet army. They were part of the film section, named Czolowka which in slang can be translated as ‘the front line’. Both brothers filmed from 1942–1945, all the way to Berlin.They were soldiers without weapons, only with cameras. My father, as a part of the Allied film crew, also filmed the Nuremberg process.“ 599 https://fdb.pl/film/54425-sabra#storyline und https://fdb.pl/osoba/121459-zygmunt-mayflauer# [4.5.2019]

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and began a long career as the most powerful woman in filmmaking in Poland.“600 Laut Toeplitz (1987, S. 913) war es die Produzentin Maria Hirschbein (Hirszbejn), die sich um eine entsprechende Premiere kümmerte; sie ist auch auf dem Premierenfoto zu sehen, gemeinsam mit Kazimierz Prusiński, dem Direktor des Kinos Stylowy, der laut Toeplitz (1987, S. 911) bereits Nad ranem zur Aufführung gebracht hatte. In der Mitte sitzt keine geringere als Aleksandra Piłsudska – Revolutionärin und Frauenrechtlerin, die sich auch für obdachlose Kinder einsetzte (Towarzystwo Opieki nad Bezdomnymi Dziećmi). Sie war die Frau des starken Manns der polnischen Sanacja-Ära, Józef Piłsudski. Hoberman (1991, S. 143) erwähnt, dass Leo Forbert, obwohl er Ende 1926 die finanzielle Kontrolle über sein eigenes Studio verlor, sich 1928 trotz allem mit Bojm an ein neues Projekt wagte: Die Verfilmung des international erfolgreichen jiddischen Romans In pojlisze welder / In den polnischen Wäldern (als Produktionsfirma wird Forbert-Film angeführt, 1929). Der 1907 aus Polen in die USA ausgewanderte jiddische Schriftsteller Joseph Opatoshu war 1928 zu den Dreharbeiten nach Polen gekommen und unterstützte die Forbert-Produktion beim Drehbuchschreiben (ibid., S. 145). Regie führte wieder Jonas Turkow, seine Frau Dina Blumenfeld spielte die Rolle der Rochl. Leo Forbert lag dieser Film – und die Darstellung polnisch-jüdischer Solidarität – offensichtlich sehr am Herzen. Hoberman (1991, S. 146) zitiert aus der jiddischen Zeitschrift Film Velt: The producer is described as having his shirtsleeves rolled up, building sets and personally supervising the film’s technical aspects. Forbert doesn’t wait for the carpenter, “he himself hammers, saws, cuts” and “even operates the lights during the takes”

Hoberman (1991, S. 144–5) betont die universalistische Weltanschauung hinter dieser Produktion wie auch der Film Velt, die von einem „Jewish cultural nationalism and the yearnings bound up in the cinema“ getragen wurde. Für die Firma Forbert war dieses Projekt offensichtlich weit mehr als ein rein wirtschaftliches oder künstlerisches Unternehmen, sondern ein politisches Credo: „Poylishe velder was what could be termed a ‚prestige‘ production“ (Hoberman (1991, S. 147). Doch laut Hoberman (1991, S. 148) konnte dies nicht ganz gelingen, da den emanzipierten Juden in Polen – im Gegensatz zum sowjetischen Kommunismus oder zum show business in den USA – keine „supra-nationalistische Ideologie“ zur Verfügung gestanden habe. Dieses konkrete Durcharbeiten von jüdischer Identität auf Seiten der Vätergeneration in einem der neuen europäischen Nationalstaaten ist durchaus von Bedeutung, wenn wir die Beteiligung der Söhne dieser polnisch-jüdischen Patrioten an den Majdanek-Filmen beurteilen. Sie erklärt u. U. auch die Begeisterung für den sowjetischen Internationalismus.

600 Skaff 2008, S. 83. Vgl. auch https://www.jhi.pl/psj/Hirszbein_(Hirszbejn)_Maria [4.5.2019] 387

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7 Die Filmteams

Bei der Herstellung des Films In pojlisze welder wird laut Sheila Skaff mit Hilfe des Castings jüdischer und nichtjüdischer Schauspieler eine integrative und moderne Vision der polnischen Nation angestrebt:601 He also chose a mix of Jewish and Catholic actors to convey the novel’s point that both of these religious and social groups had fought together against the partitioning empires. He assumed that audiences were aware of the actors’ backgrounds and that they would associate their work together in the film with the type of cooperation that had taken place in the depicted historical moment. (Skaff 2008)

Sie beruht auf einem gemeinsamen Kampf gegen die „teilenden Imperien“, der der ethnischen Diversität und Vielsprachigkeit Polens Rechnung trägt.602 Skaff (2008, „Introduction“) schreibt über den „revolutionären Geist“ des 19. Jahrhunderts, auf den man sich bei dieser Vorstellung der Nation Polen bezog: Most significantly, a revolutionary spirit—a free, curious, polyglot spirit—took hold during the final partition. The opening line of the anthem adopted by the newly formed Polish foreign legion in Italy, “Jeszcze Polska nie umarła, kiedy my żyjemy” (Poland has not died as long as long as we live), illustrated the new sense of nationhood.

In der polnischen Version des Majdanek-Films hört man übrigens auch zu Beginn, als die sowjetischen Panzer in Lublin einfahren, Motive aus der 1927 eingeführten polnischen Nationalhymne.603 601 Weitere Forschungen zu Ford und der Familie Forbert könnten zeigen, in welchem Kontext der Umgang dieser Personen mit jüdischer Identität und polnischer Nation stand. Wie der Sammelband von Koller/Estraikh/Krutikov 2013 nahelegt, hatte die künstlerische Form des Umgangs mit dem polnisch-jüdischen Verhältnis eine reichhaltige Vorgeschichte, die in Urteile zu etwaigen Antisemitismen und auch Dejudaisierungen der 1940er Jahre einbezogen werden müsste. Dies gilt auch für die Reflexe der Dejudaisierung der Geschichte der Juden in Polen durch diese selbst, wie wir sie im Fall des Majdanekfilms vorfinden. 602 Über den in den USA lebenden jiddischen Schriftsteller J. Opatoshu (Ywsep Opatašu / Jósef Opatowski), der bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs das jiddischsprachige Europa bereist hatte vgl. Koller/Estraikh/Krutikov 2013. 603 Mazurek Dąbrowskiego, später: „Jeszcze Polska nie zginęła“: https://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/b/b1/Mazurek_Dabrowskiego.ogg [15.9.2018] Der Originaltitel lautete „Lied der polnischen Legionen in Italien“ (Pieśń Legionów Polskich we Włoszech). 1798 wurde das Lied in allen drei Teilen Polens gesungen, 1830 und 1831 beim Novemberaufstand (Powstanie listopadowe), 1863 und 1864 beim Januaraufstand (Powstanie styczniowe), während der Russischen Revolution 1905 sowie in beiden Weltkriegen. Der Mazurek Dąbrowskiego wurde durch Dichter, die sich mit dem kämpfenden Polen solidarisierten, in 17 Sprachen übersetzt und gesungen. Beim Völkerfrühling 1848 wurde Mazurek Dąbrowskiego auch auf den Straßen Wiens, Berlins und Prags gesungen. Es diente 1834 als Vorlage (Melodie und Text) für das während des „Protektorats Böhmen und Mähren“ verbotene Lied „Hej! Slované“ (1848 fand der Slawenkongress in Prag statt, wo „Hej! Slované“ als Hymne aller Slaven angenommen wurde. Nach 1945 wurde die Melodie zur Nationalhymne Jugoslawiens). [15.9.2018]

7.1 Die Filmspeerspitze

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Abb. 7.12 Befreiungskameramann Władysław Forbert in den 1940er Jahren, aus dem Film Mand med Kamera (1995)

Leo Forberts Söhne hießen Adolf (1911–1992 in Warschau),604 und Władysław (geboren 1915 in Warschau, gestorben 2001 in Kopenhagen; Abb. 7.12).605 Beide waren in der 2. Polnischen Republik aufgewachsen. 1927 bzw. 1928–1930606 unternahmen sie jedoch mit dem Vater eine Reise nach Australien, wo Leo den Boxerfi lm The Miner’s Daughter (1927) machte. Leo Forbert produzierte weitere Filme im Ausland, darunter etwa den „Zionist travelogue“ Świt, dzień i noc Palestyny / Morgen, Tag und Nacht in Palästina (1934) in polnischer Sprache, der laut Hoberman (1991, S. 223) von seinem Sohn Władysław gedreht wurde, „later a participant in the brief revival of Yiddish fi lm production [in] Poland after World war II.“ Ich gehe daher davon aus, dass er mit seinem Vater nach Palästina gereist ist, und zwar kurz nach der Reise der Fords. Die Forbert-Söhne waren am Rande auch an jiddischen Filmproduktionen anderer Studios beteiligt, wie etwa der Komödie Frejliche kabconim / Fröhliche Bettler (1937, Polen, Studio Kinor), die laut Hoberman (1991, S. 278) mit einer „furchtbaren Vorahnung“ endet: Die Ölsucher verlegen sich auf’s Bestatten und machen eine Grabstein-Fabrik auf. Nach dem Krieg wirkten beide Forberts in zahlreichen Filmproduktionen mit,607 ab 1970 lebten sie jedoch in verschiedenen Ländern: Władysław, der jüngere, entschloss sich – offensichtlich in ähnlicher Weise vom Antisemitismus der späten 1960er ge- und betroffen wie A. Ford – für eine Emigration nach Dänemark.608 Władysław Forbert war der Kameramann von A. Fords dänisch-amerikanisch-deutscher Koproduktion Den foerste Kreds / Der erste Kreis der Hölle (1971), produziert von Artur Brauner (1919–2019), der den Krieg in der

604 605 606 607 608

http://fi lmpolski.pl/fp/index.php?osoba=1110307 [15.9.2018] http://fi lmpolski.pl/fp/index.php?osoba=1110354 [15.9.2018] Laut einem Dokument aus dem Ordner „Czołówka“ am CAW-WBH. http://www.fi lmpolski.pl/fp/index.php?osoba=415902 [15.9.2018] http://fototeka.fn.org.pl/pl/osoby/info/816/forbert-adolf.html und http://fototeka.fn.org.pl/pl/ osoby/info/814/forbert-wladyslaw.html [15.12.2017] 389

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7 Die Filmteams

UdSSR überlebte und in Berlin nach dem Krieg den deutschen Film Morituri produzierte. Mit dieser Solženicyn-Verfilmung kehrten Ford und Forbert gemeinsam noch einmal zum Lagerthema zurück, jedoch nun aus einer sowjetkritischen Perspektive. Beide Brüder hielten sich während des Kriegs in der UdSSR auf. Adolf schreibt in einer Nachkriegsbiografie, er zu Kriegsanfang in Lwów gewesen und hätte bereits 1939–41 in der sowjetischen Filmchronik gearbeitet.609 Wahrscheinlicher ist allerdings, dass er zunächst interniert wurde.610 Später traf er auf seinen jüngeren Bruder, der ebenfalls verhaftet worden war, wobei unklar ist, von wem und wann (im Registrationsbuch heißt es „1 Woche deutsche Gefangenschaft XII 1941“); gemeinsam nahmen sie 1943 an der Gründung der Filmspeerspitze Sel’cy an der Oka teil, wohin so vom 3000 km entfernten turkmenischen Aschgabat, das an der Grenze zu Persien lag, gelangen mussten. Die Filmspeerspitze war Bestandteil der 1. Tadeusz Kościuszko-Infanteriedivision, die auch aus Polen aus der 1939 sowjetisch besetzten Kresy rekrutiert worden war. Eine andere Darstellung spricht davon, dass die Brüder Forbert während Filmaufnahmen für Pathé in den Kresy in einem Kurort „an der russischen-polnischen Grenze gefangen genommen worden wären“ und schildert ihre Lebensgeschichte so – beginnend mit der Vorkriegszeit der Familie Forbert in Warschau: Despite the prohibition a few photo studios and individual photographers like Alter Kacyzne and many others continued to function, including the Jewish owned Foto-Forbert, one of the most fashionable in Warsaw, the studio continued to operate throughout the war, but without its owners. The two Forbert brothers, Adolf and Wladyslaw, who were established photographers and filmmakers, left Warsaw in September 1939 for eastern Poland, they were captured by the Soviet army at the then Russian-Polish border town of Zaleszczyki (now in Ukraine) while filming for the French Pathé news, the brothers would not return to Poland until July 1944 when cameraman Adolf Forbert would record the liberation of Majdanek and later of Auschwitz-Birkenau, which is very little known to many people. (Haltof 2012, S. 213)611

W. Forberts Tochter Katia bestätigt dies zum Teil: ihr Vater habe nicht für Pathé gearbeitet, sondern für die Illustrierte Life. Der Kontakt der Forbert-Brüder, die ja auch fotografierten,

609 Vgl. die polnische Wikipedia: https://pl.wikipedia.org/wiki/Adolf_Forbert [15.9.2018] 610 In dieser polnischen Darstellung heißt es, es hätte sich um deutsche Gefangenschaft und Flucht in den sowjetisch besetzten Teil Polens gehandelt, was eine spätere Bereinigung der Biografie darstellen könnte: „W latach 1939–1941 był operatorem radzieckiej kroniki filmowej. Dostał się do niemieckiej niewoli, z której udało mu się zbiec. W roku 1943 trafił - wraz z bratem Władysławem - do Czołówki Filmowej armii Berlinga. Z kamerą w ręku uczestniczył w wyzwalaniu Krakowa. Nie porzucał zainteresowań fotograficznych: na wystawie fotografiki w Lublinie, w grudniu 1944 roku, wraz z bratem otrzymał pierwsza nagrodę.“ http://www.filmpolski.pl/ fp/index.php?osoba=1110307 [15.9.2018] Die Information, dass es sich um sowjetische, nicht deutsche Gefangenschaft handelte, stammt von seiner Nichte Katia Forbert Petersen (e-mail vom 26.3.2019). 611 Diese biografischen Angaben finden sich auf der Webseite von Richard Kazn Young, https:// youngsdreamworks.wordpress.com/category/uncategorized/page/11/ [10.10.2017]

7.1 Die Filmspeerspitze

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zu Life ist ein Hinweis auf unterschlagene Autorschaften. David Shneer schrieb über die in diesem Magazin Ende August 1944 anonym veröffentlichten Fotografien aus Majdanek: „The only leading American publication to provide visual documentation of the camps was Life magazine, whose story on Majdanek ran on August 30 […] The unattributed photographs were Soviet images taken from the wires.“ (Shneer 2010, S. 166) Dies bedeutet zugleich, dass die ohne Namensnennung telegrafierten Fotos in Life auch von den polnischen Teammitgliedern stammen können (dies gilt ebenfalls für andere anonyme Fotos). Da Olga Ford in der Filmspeerspitze als Fotografin angeführt ist, ist auch ihre Autorschaft nicht ausgeschlossen. Katia Forbert Petersen hat mir mitgeteilt, dass ihr Onkel Adolf Forbert in der UdSSR verhaftet wurde (dies entspricht den Darstellungen polnisch-jüdischer Schicksale in Goldlust 2017). Ihr Vater wiederum konnte von einem Transport nach Sibirien fliehen und fand sich in Aschgabat wieder – hiervon zeugt ein mit 1943 datiertes Foto in Jewsiewicki (1972), das W. Forbert (mit tjubetejka, der landestypischen Kopfbedeckung), Perski und Krasnowiecki in Turkmenistan zeigt (Abb. 7.13).

Abb. 7.13 Aus dem Bildteil von Jewsiewicki 1972: W. Forbert, L. Perski und W. Krasnowiecki in Aschgabat (1943)

Während sich W. Forbert, Bossak und das Ehepaar Ford laut dieser Quelle „freiwillig“ zum Kriegsdienst gemeldet haben, ist dies bei Adolf Forbert nicht der Fall; im Registrationsbuch wird nur das Jahr 1943 angeführt. Von der Arbeit des polnischen Teams (und namentlich W. Forberts) in der UdSSR legen folgende Filme Zeugnis ab: Przysięgamy ziemi polskiej / Wir schwören der polnischen Erde 1943 (Regie und Drehbuch: A. Ford, Kamera: W. Forbert, S. Wohl; Musik: J. Kalecki; Sprecher: W. Krasnowiecki), Polska walcząca / Kämpfendes Polen Nr. 1 (1944, Regie und Drehbuch: A. Ford, Kamera: W. Forbert, S. Wohl; Musik: Z. Lissa, V. Ivannikov, G. Gamburg [Hamburg]; Sprecher: W. Krasnowiecki; russ. Titel: Bitva pod Lenino/Die Schlacht bei Lenino). und Nr. 2 (324 m; zusätzliche Sprecherin: Hanna Billing), die offensichtlich für die am 8.2.1944 in Moskauer Kinos gezeigten Filmwochenschau Sražajuščaja Pol’ša / Kämpfendes Polen verwendet wurden. Diese Titel werden in polnischen Forbert-Filmografien oft nicht 391

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7 Die Filmteams

angeführt, finden sich jedoch bei Jewsiewicki (1972, S. 221–222). Alle Titel stammen von der Filmspeerspitze der 1. Tadeusz Kościuszko-Infanteriedivision der Polnischen Armee, und als Kameramänner werden meist Władysław Forbert und S. Wohl angeführt. Wie man der russischen Webseite „Erinnere Dich an den Krieg“ („Pomni vojnu“) entnehmen kann, zeichnete Ford für „Schnitt und Text“ verantwortlich612: В кинотеатрах Москвы демонстрируется новый документальный киножурнал «Сражающаяся Польша», выпущенный киногруппой польских вооруженных сил в СССР. Киножурнал посвящен формированию, вооружению и первым боем польской дивизии имени Тадеуша Костюшко с немецкими захватчиками. Снимали киножурнал операторы Станислав Воль и Владислав Форберт. Монтаж и текст режиссера Александра Форда. http://www.pomnivoinu.ru/home/calendar/7/23/4791/ [5.4.2018]

W. Forbert hat zudem an der Dokumentation der Katyn’-Exhumierung im Januar 1944 teilgenommen, die wiederum von Jewsiewicki (1972) nicht erwähnt wird. Ein halbes Jahr später wurden die Forbert-Brüder in Lublin/Majdanek filmende Augenzeugen der Entdeckung des Judenmords.613 Adolf Forbert drehte im Januar 1945 auch in Auschwitz-Birkenau, einen Eindruck beschrieb er 1980 so: I wander through Birkenau, we are joined by the prisoners who are still there. From their agitated pronouncements and snippets of information, I piece together the picture of a giant conglomeration of suffering and death. Lying in between the barracks, beneath the snow are larger and smaller piles of frozen-stiff corpses. Several here, several dozen there, and over there yet more corpses. The horror. I had already been solidly ‘seasoned’ in war, human suffering, injury and death. I had become immune and could hold the camera without my hands shaking … Here, however, I was again feeling uneasy, and it was only through the viewfinder that I was somehow able to observe those gruesome scenes. … I wander on, filming those terrible scenes from various angles. Now by car to the Auschwitz [main] camp. Brick blocks: a panorama here, a close-up there. A table for beating prisoners, gallows with a trapdoor, again close-ups and medium shots. … Dungeon cells and corridors, corpses everywhere, but I am helpless, I cannot film, no lighting.

Hier fällt der Unterschied zum Majdanek-Dreh auf, denn A. Forbert spricht ausdrücklich davon, dass die gefrorenen Leichenberge in Auschwitz bei ihm Übelkeit hervorrufen. In Majdanek – wo er im Sommer war – sah er etwas Anderes, es waren die halb-beseitigten Spuren der Verbrechen und Spuren von Skeletten. Wir haben es hier mit einer relativ genauen Beschreibung der Aufnahmen zu tun, die bei einer Datierung hilfreich sein könnte, so etwa ist die Tageszeit durch die untergehende Sonne gegeben, die Temperatur ist unter dem Gefrierpunkt. Forbert geht vom „ich“ zum „wir“ über, wobei man nicht automatisch davon ausgehen kann, dass sein Bruder auch in

612 Im Fall der Polska kronika filmova Nr. 1 / Polnische Filmchronik Nr. 1 (1944) werden zusätzlich auch Samucewicz und Bossak angeführt. 613 Laut Katia Forbert Petersen lediglich Adolf Forbert (E-mail vom 30.1. und 26.1.2019).

7.1 Die Filmspeerspitze

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Auschwitz war, wenn auch ganz in der Nähe – Władysław Forbert drehte im Januar 1945 die Befreiung Krakaus. Adolf Forbert schreibt weiter: We drive on. Presumably the crematorium region, but everything here is destroyed. I do a slow panning. … In various parts of the camp I film many endless rows of corpses against barbed wire fences. Close-ups of insulators, electric cables, the sun reflected off the window panes of a watchtower; and yet another pan of the watchtowers and barbed wire fences in the setting sun. The faces of the prisoners, now free, but sick or very weak – against the barbed wires. … And nearby a group of several prisoners preparing to leave. Packing their bundles, improvised rucksacks. Here five close-ups and, at my command, these shadow people set off.614

Auch hier liegt eine genaue Beschreibung vor – nur wird (im Jahr 1980) nicht erwähnt, wer die Hauptopfer von Auschwitz waren. Haltof schreibt, dass dieses Filmmaterial verlorengegangen sei: Adolf Forbert was later among the first photographers and filmmakers at the site of another concentration camp Auschwitz-Birkenau, on 28 January 1945, after it was captured by the Red Army. With limited resources at his disposal (300 m of film stock, no lighting equipment, one Bell & Howell camera), he was nonetheless still able to capture several images, which he sent to a laboratory for development, and which he never saw again. Forbert’s footage of the liberated camp most probably was lost and never resurfaced, neither in Auschwitz (Oświęcim, 1945), made by the Red Army filmmakers led by Roman Karmen, nor in other future war documentaries. Forbert’s photographs from Auschwitz, however, were included in Polish Newsreel. (Haltof 2012, S. 213)

Abgesehen davon, dass hier erneut der Modus der Rechtfertigung und gleichzeitigen Veruneindeutigung spürbar ist, der vermutlich auf Forberts Erzählung zurückgeführt werden kann, ist der gesamte Kontext unstimmig. Man vergleiche auch diese neuere Darstellung auf der Webseite des Jüdischen Historischen Emanuel Ringelblum-Instituts Warschau, die sich offensichtlich auf Adolf Forberts Erinnerungen (hier in kursiv) stützt bzw. sie auslegt und interpretiert. Hier wird behauptet, dass A. Forbert aus Krakau nach Auschwitz kam – handelt es sich gar um eine Verwechslung mit seinem Bruder Władysław? On the 28th of January 1945, the day after the liberation of the camp, Adolf Forbert, who documented the liberation of Cracow a few days earlier, arrived at the camp as one of the first filmmakers. He described his first impression of the camp as a massacre similar to Majdanek only on a larger scale. Forbert was part of the Polish People’s Army Film Crew (Czołówka Filmowa Wojska Polskiego) which also filmed the Majdanek camp after its liberation in July of 1944. The film crew, led by Aleksander Ford, created the first documentary showing Nazi crimes titled Majdanek – the Cemetery of Europe. […] …long rows of empty barracks, limbs of the dead sticking out from the snow and a dead silence all around. Forbert set himself one goal – filming as much as he possibly could. However when, due to the poor quality of the Soviet made camera, the lack of lighting or a tripod, he could not film or photograph the 614 A. Forbert 1980, S. 184. Die englische Übersetzung aus dem Polnischen findet sich auf http:// en.auschwitz.org/lekcja/11_wyzwolenie/kurs/s104.html [1.1.2019] 393

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insides of the barracks he wrote, full of frustration: …there are dead bodies everywhere and I’m helpless, can’t film, I have no lighting.615

Hier ist nicht mehr von einer Bell & Howell (vgl. Haltof 2012) die Rede, sondern von einer sowjetischen Kamera. Das Entwicklungsgerät, das die Filmspeerspitze in Lublin mühsam ergattert bzw. anfertigen hat lassen, wird ebenfalls nicht erwähnt.

Exkurs: (Unterschlagene) Aufnahmen aus Auschwitz und die Genossenschaft Kinor Jeremy Hicks hat bereits die Frage gestellt, warum wir heute keine Synchronaufnahmen aus Auschwitz haben. Lag es am mangelnden Filmmaterial? Wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte Forbert dies erwähnt und nicht die Qualität der Kamera. Nach der Analyse der Schnittlisten erschien mir zunächst nicht nachvollziehbar, wieso der KZ-Filmer seine Tonausrüstung in Auschwitz nicht verwendete.616 Offensichtlich stand die in Lublin/Maj­ danek verwendete Akeley-Kamera, mit der das polnische Team die Verhöre und weitere Szenen in verschiedenen Sprachen gedreht hatte, nicht mehr zur Verfügung. Auch wenn die polnischen Darstellungen in erster Linie versuchen zu rechtfertigen, warum sich die Forbert-Aufnahmen dieses Kernereignisses internationaler Dokumentarfilmgeschichte auf polnischen Boden nicht erhalten haben, spielt hier ein anderer Faktor eine Rolle, den man als aus der Ferne gesteuerte Sabotage der Dokumentation der KZs 1944/5 beschreiben könnte. Stets taucht an diesen Stellen in den (z. T. unveröffentlichten) Dokumenten der Name Štatland auf. Die schwierigen Umstände in Lublin/Majdanek stimmen auffallend mit der Beschreibung der Situation der sowjetischen Kameraleute überein, die in Auschwitz unter der Leitung von Michail Ošurkov arbeiten: On 15 February Oshurkov then requested that a further cameraman with a portable lighting source be sent by plane to film the work of the Soviet Extraordinary State Commission on War Crimes […] To record the extraordinary commission activities, including its members’ visit to the gas chambers, the film group needed lights. […] He also requested synchronous sound recording equipment but was told that it was in use by film crews with the Second Ukrainian Front. (Hicks 2012, S. 175)

Letztere Antwort erhielt Ošurkov von Štatland erst am 3. April 1945, nachdem am 19. März 2500 m Filmmaterial aus Auschwitz nach Moskau gesendet worden waren. Hicks (2012, S. 175) geht auf diese Behinderung des Drehs und die auf Desinformation ausgelegte Korrespondenz nicht näher ein. Wenn wir davon ausgehen, dass in der Korrespondenz 615 Agnieszka Kajczyk 2018; http://www.jhi.pl/en/blog/2018-01-27-images-from-the-liberationof-the-auschwitz-birkenau-camp [10.8.2018] 616 Hicks 2012, S. 175, 181. Er erwähnt allerdings die Tonkamera der Forberts nicht.

7.1 Die Filmspeerspitze

395

der sowjetischen Filmemacher mit Moskau die angeforderte Tonkamera als nicht verfügbar bezeichnet wird, da sie gerade von den Filmleuten der 2. Ukrainischen Front benützt werde, scheint sich der Kreis zu schließen, denn deren Leiter war doch Roman Karmen! Doch darf man sich nicht zu früh freuen, denn Karmen hatte diesen Posten laut Aleksandr Derjabin (2016, S. 352) nur bis zum 29.11.1944 inne – somit gab es offensichtlich genug Gelegenheiten für andere, von der Lubliner Tonkamera anderweitig Gebrauch zu machen. Jedenfalls stand sie den KZ-Filmern in Auschwitz nicht mehr zur Verfügung, und zwar weder den Sowjets noch den Polen. In Anbetracht seiner Biografie und seines Spezialauftrags ist es seltsam, dass Karmen nicht selbst nach Auschwitz fährt.617 Er wird zumindest – ähnlich wie andere Kameraleute jüdischer Herkunft, die nachweislich in ­Auschwitz gefilmt haben – in den Filmografien nicht aufgeführt. Hier stellt sich nun die Frage: Wurde die Tonkamera Ford und seinem Team absichtlich weggenommen, oder wurden von der 2. Ukrainischen Front Synchronaufnahmen (u. U. von den Forberts) gemacht und nicht entwickelt bzw. verwendet? Schließlich kamen auch die Majdanek-Tonaufnahmen nur sehr gefiltert in den Filmversionen zum Einsatz. Wie sah es insgesamt mit den sowjetischen Kameraleuten in Auschwitz aus? Unklar ist, warum Karmen dort nicht filmte – wurde seine „Spezialaufgabe“ (an den vier „Fronten“ der Roten Armee zu dokumentieren; Hicks 2012, S. 157) durch die personell veränderte politische Führung im Wochenschau-Studio in Moskau (Štatland) im Herbst 1944 revidiert? Oder war Štatland aufgrund der parallelen Dreharbeiten in Lublin/Majdanek, wo sein engeres Team (Komarov und wohl auch Sof’in) die gleichen Motive aufnahm wie Starreporter Karmen, ungehalten? Offensichtlich wollte Štatland nicht, dass sich die Lubliner Situation mit vielen Tausenden Metern Filmmaterial (davon vieles allzu „naturalistisch“, jedoch mit dem Markennamen „Karmen“ versehen) in Auschwitz wiederholte. Dies könnte auch erklären, warum er aus Moskau intrigierte und bestrebt war, das Gespann Karmen-Filmspeerspitze zu zerschlagen. Štatland könnte jedoch Opfer seines eigenen Ehrgeizes geworden sein, falls er nichts von dem Spezialauftrag ahnte. Karmen scheint nämlich von Anfang an nur die Aufgabe gehabt haben, brisantes Propaganda-Filmmaterial aufzunehmen, das mitnichten für die aktuelle Berichterstattung (in der UdSSR), nur begrenzt für Spezialnummern (in Polen und in der UdSSR), aber in erster Linie als stock footage in der Form von Holocaust-Motiven, d. h. für ein westliches Publikum bzw. vor einem internationalen Gericht, verwendbar war. In diesem Sinne war die filmische Unterstützung des kleinen Lubliner Volksgerichts Ende 1944 aus sowjetischer Sicht ein Probelauf für das spätere internationale Gerichtsverfahren gegen die großen Kriegsverbrecher. Meine Vermutung ist, dass die Probleme bei der Beschaffung technischer Ausrüstung und das Verschwinden der Auschwitz-Filme der Kameraleute der Polnischen Armee bzw. vielleicht auch Karmens weniger mit sowjetisch-polnischen Spannungen zusammenhängen als mit der Dokumentation des Judenmords, an der der Filmgruppenleiter V. Štatland 617 Die Leiterin des Filmarchivs von Krasnogorsk brachte mir im März 2019 gegenüber zum Ausdruck, dass davon auszugehen wäre, dass Karmen auch in Asuchwitz gefilmt habe. 395

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geringes Interesse zeigte. Dies lässt sich bereits an seinem wenig enthusiastischen Dreh in Majdanek erkennen, einem Ort, den er offensichtlich so schnell wie möglich verlassen wollte – während Karmen von dem KZ-Schauplatz, in dem nun ein „Filterlager“ der sowjetischen sowjetischen Geheimdienste errichtet wurde, ebenso erschüttert wie fasziniert ist. Außerdem war Ende Januar in Polen bereits die Zensur eingeführt worden. Auf der Seite des Jüdischen Historischen Instituts (JHI/ŻIH) in Warschau wird angesichts von Adolf Forberts Auschwitz-Dreh die Trauer über das Verschwinden des Filmmaterials zum Ausdruck gebracht: Forbert spent two days and one night in the camp. The former prisoners led him and his film crew colleagues to the women’s hospital in Birkenau where around 500 sick women were staying and where he sat long into the night listening to the tales of the women. On the second day he walked around Birkenau, which he called “a gigantic factory of suffering and death”, taking pictures and continuing his conversations with former prisoners. Forbert had a lot of experience in filming the war and might have been considered inured to the horrifying images especially since he was one of the crew that documented the liberation of Majdanek. However, what he saw in KL Auschwitz-Birkenau surpassed any cruelty he could conceive of. He later said that taking photographs in this horrifying place was very problematic for him. […] The photographer took some panoramic shots in Auschwitz, filmed the guard towers, the barbed wire, the destroyed crematoria, the faces of the sick, exhausted and starved faces of former prisoners and a container of Zyklon B, which one of the prisoners offered to hold, posing for a surreal photograph that could never have been taken before the camp’s liberation. After finishing his photographic documentary of the Auschwitz-Birkenau camp Forbert left the films to be developed in a laboratory. This is where all trace of them is lost and their fate remains a mystery until this day. The negatives mysteriously disappeared, maybe in some Soviet government archive or somewhere else. We don’t even know whether the photographs were ever developed. One thing is certain: nothing that Forbert documented with his camera ever saw the light of day.618

Da wir manche der Motive wie etwa die Frauenbaracke wiedererkennen, ist die Geschichte des „Verschwindens der Negative“ cum grano salis zu lesen. Unter Umständen musste Forbert sich bei seinen späteren Darstellungen vor antisemitischen Angriffen schützen, denen er nach dem Krieg aufgrund dieser Filmaufnahmen in Polen ausgesetzt gewesen wäre. Wir können zudem festhalten, dass die Politabteilung der Front nur zögerlich auf die Filmsendungen aus Auschwitz reagiert, nachdem bereits vorher den Bitten um Tonkameras und mehr Filmmaterial nicht nachgekommen wurde; dies hat Hicks (2012, S. 175–176) überzeugend anhand der Korrespondenz zwischen Ošurkov und Štatland dargestellt. Entscheidend ist die behindernde Rolle, die der uns bekannte Funktionär Štatland gespielt hat, der inzwischen in der Hierarchie des Studios aufgestiegen war. Er ist es, der nun aus Moskau mit den Kameraleuten an der Front korrespondiert, sie vertröstet bzw. hinhält und in seinem Schreiben an Michail Ošurkov vom 3.4.1945 ihre Dreharbeiten bewertet und dabei über „Gefahren des Naturalismus“ spricht (Hicks 2012, S. 256); paradoxerweise sind 618 Agnieszka Kajczyk 2018; http://www.jhi.pl/en/blog/2018-01-27-images-from-the-liberationof-the-auschwitz-birkenau-camp [10.8.2018] Der Text unterschiedet hier an manchen Stellen offensichtlich nicht zwischen Fotografie und Kinematografie.

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es die surrealistisch-„fantastischen“ Gräuel-Elemente, die hiermit gemeint sind (Skelette, Schädel, die hyperbolischen Berge von Effekten). Štatland verhält sich zu Ošurkov im April 1945 ähnlich wie zu Karmen im Herbst 1944. Ošurkov wurde vor einem „inakzeptablen Ausdruck von Naturalismus“ in der Darstellung der Lager gewarnt.619 Ähnlich wie die Majdanekaufnahmen, die nur in Polen die Namen ihrer Schöpfer im Vorspann trugen, scheinen auch die „surrealen“ Forbert-Aufnahmen aus Auschwitz nicht nur zensiert, sondern einkassiert bzw. anonymisiert weiterverwendet worden zu sein. Dieses Procedere erklärt auch die von Haltof (2012, S. 213) erwähnten Fotos/Aufnahmen, die in einer „polnischen Wochenschau“ 1945 verwendet wurden. Hoberman (1991, S. 300) erwähnt den „dokumentarischen Prolog“ zu Mir lebn geblibene (1947), in dem Auschwitzmaterial vorkommt: Unzere Kinder dramatizes Mir Lebn Geblibene’s concern for the Jewish children who survived the war, but its mildly didactic tone is consistent with Dzigan and Schumacher’s own experience of returning to Poland from the Soviet Union to hear devastating firsthand accounts of Nazi occupation. A newsreel prologue showing Jews deported to Auschwitz, and then Auschwitz itself, is followed by a klaynkunst performance given by Dzigan and Schumacher before a Jewish audience in postwar Lodz.

Stellen diese „Aufnahmen von Auschwitz selbst“ in Mir lebn geblibene zumindest teilweise jene von Haltof erwähnten „verlorenen“ Filme dar, die in den Nachkriegsjahren ihren Weg in einen polnisch-jiddischen Film über die farnichtung gefunden haben? Mir lebn geblibene enthält Filmausschnitte, die Auschwitz wie auch Majdanek (darunter die Kriegsgefangenen hinter dem Stacheldraht!) zeigen, auch der Vorspann mit Schädel und Schild „Vernichtungslager Majdanek“ (Abb. 2.7) ist darunter.620 Dies bestätigt den Kontakt zwischen N. Gross, Goskind, den Forberts bzw. anderen Mitgliedern des Majdanek-Teams und Kinor, bzw. möglicherweise die heimliche Übergabe und Verwendung von Befreiungs-Filmmaterial. U. U. gelangte es bis nach London, wo Sidney Bernstein ab Februar 1945 gemeinsam mit Sergei Nolbandov die Kompilation German Concentration Camps Factual Survey mit Filmmaterial aus Majdanek und Auschwitz plante. Aufgrund Bernsteins internationaler Vernetzung sind Filmkontakte zwischen London und dem befreiten Polen wahrscheinlich. Auch Bernstein, dessen familiäre Wurzeln ins Russische Reich zurückreichten, verständigte sich im Frühjahr 1945 mit Überlebenden der Lager in Europa auf Jiddisch.621

619 „unacceptable expressions of Naturalisms would include any undue concentration on images that identified the dead as Jews.“ (Hicks 2012, S. 176). 620 Mir lebn geblibene https://www.youtube.com/watch?v=QxLJilb9yW0 [9.5.2019] 621 „Bernstein, son of Jewish parents from the East End of London, had arrived in Europe on one of the first D-Day landing crafts. Making his way through Nazi-occupied areas of France and Belgium, he arrived in Bergen-Belsen a day after the troops liberated it in April 1945. Although Bernstein was just passing through with his unit, the vision of the corpses and walking skeletons haunted him throughout his life. Given his Jewish upbringing, he was able to converse with some of the prisoners in Yiddish.“ (Michalczyk 2014, S. 33) 397

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Shaul Goskind, der den Krieg in der UdSSR überlebt hatte, gründete später zusammen mit den Forbert-Söhnen eine neue Filmkooperative mit dem Namen Kinor622 – auf Polnisch: Spółdzielnia Kinor –, geleitet von Filmemacher und -historiker Natan Gross (1919 Krakau – Tel Aviv 2005), der den Krieg versteckt bei einer nicht-jüdischen Familie in Polen überstanden hatte: Along with Leo Forbert’s sons, Władysław and Adolph (the latter a member of the Polish United Workers’ Party), Goskind formed a film cooperative, Kinor (named for the Hebrew word for “Harp”) and made a series of newsreel-style documentaries on postwar Jewish life. (Hoberman 1991, S. 330)

Ford stand hinter der Verstaatlichung der Kinematografie in Polen, von der es jedoch eine Ausnahme gab, nämlich die Kinor-Genossenschaft. Doch nahm er zu deren Gründung eine ambivalente Stellung ein. Danielewicz (2019, S. 144) beschreibt den Austausch zwischen Saul Goskind und Ford: „Er wiederholte oft mit Erstaunen, was Ford zu ihm gesagt hatte: ‚Hier gibt es keine Juden mehr‘. (Tutaj Żydów już nie ma).“ Da es offiziell aus der Perspektive von Ford keine polnische Judenheit mehr gab (die Juden waren entweder der Vernichtung amheimgefallen oder seien restlos assimiliert), ist es nur logisch, dass die jiddischen Filme des Studios Kinor nach dem Krieg in Polen nicht öffentlich gezeigt werden konnten, sondern nur in geschlossenen Vorstellungen für das nicht-existente jüdische Publikum: According to Gross, who learned his Yiddish in the course of working with Kinor, their short documentaries were the first films made in Poland after the war: “Everything else was paralyzed by politics.” Polish authorities, however, were not enthusiastic to see their movie industry reborn as a series of Yiddish newsreels. Hence Kinor’s early films were never officially released, but shown in cinemas at special shows attended almost entirely by Jews.” (Hoberman 1991, S. 228)

Das Gleiche gilt für S. Wohls Film Dwie godziny (Zwei Stunden; Polen 1946): …the film was framed by a train’s arrival and departure: concentration camp survivors mix with collaborators, lovers are reunited, betrayals uncovered. (Although it was the first postwar Polish feature to be completed, Two Hours was deemed insufficiently “optimistic,” and was withheld from release until 1957.) (Hoberman 1991, S. 228)

Die Zensur der jiddischen Filme mag auch der Hintergrund dafür sein, dass die Forberts, Wohl und andere Beteiligte dieses Kapitel später aus ihrer offiziellen Biografie strichen. Erschwerend kam Ende der 1940er die Gefahr hinzu, des Kontakts mit Zionisten bezichtigt zu werden: Gross war ein „enthusiastischer Zionist“, der 1949 nach Israel auswanderte, und Jabotinsky-Anhänger Goskind war ihm 1950 gefolgt.623 622 Hebr. Harfe. Möglicherweise handelt sich um eine Anknüpfung an das Vorkriegsstudio Kinor. 623 Hoberman (1991, S. 335); er nennt auch die Zugehörigkeit zum Jüdischen Bund als Negativum.

7.1 Die Filmspeerspitze

399

Hoberman (1991, S. 334) erwähnt jedoch auch die unverwirklichten Pläne für ein gemeinsames Filmprojekt von N. Gross und A. Ford anlässlich der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 mit dem Titel „Melodie des Spinnrads“. Danielewicz (2019, S. 144) bringt Fords Einstellung gegenüber dem Judentum wie auch Kinor auf den Punkt: Ford hatte oft das Gefühl, in einer jüdischen Schublade zu stecken, die ihm immer zu eng gewesen war. In Majdanek konnte er mit eigenen Augen sehen, wie solche Versuche [das Bekenntnis zur jüdischen Identität, N. D.] enden konnten. […] Vielleicht ist dies auch der Grund, warum Ford nun noch fester an ein Volkspolen glaubte? In diesem Land – ob Jude oder nicht – wird er endlich das Gefühl haben, zu Hause zu sein. Die Kinor-Genossenschaft wird hauptsächlich aus ausländischen Mitteln finanziert, aber irgendwann wird auch Ford versuchen, sie zu unterstützen. Als Direktor des Film Polski wird er der staatlichen Genossenschaft Kameraleute und Ausrüstung zur Verfügung stellen.

Weitere Studien der Geschichte der Genossenschaft Kinor und der kurzen Blütezeit der jiddischen Nachkriegsproduktionen könnten aufgrund der beteiligten Personen mit einer Netzwerkanalyse das Schicksal der verlorenen Befreiungsaufnahmen beleuchten. U. U. wurde das Filmmaterial 1944–47 in anderen Studios oder Orten in Lublin oder Łódź entwickelt, bearbeitet, archiviert bzw. geschmuggelt. Atina Grossmann (2017, S. 203) schreibt über die einige Jahre währende Euphorie der „flight survivors“ in einem neuen Polen, das nicht nur als „Friedhof“ der Juden angesehen wurde: In Poland, the relatively large groups of Jews returning from the Soviet Union formed the core of a brief efflorescence of post-Shoah Yiddish culture in Lodz, or Stettin/Szczecin, and in Breslau/Wroclaw in the western “recovered territories” from which Germans had been expelled and where repatriates were often settled. Indeed, it is important to note that, for some young Jews, liberated Poland in the early postwar years was not only a “graveyard” but a place for temporary euphoria, with “enthusiasm and support for an optimistic and future-oriented vision of the country,” including active Zionist youth movements, Hebrew and Yiddish schools, theater, music, film, and even a baby boom (with 500 newborns delivered in 1947 in the Jewish hospital in Lodz). The liminal Jewish revival both reflected what had been preserved in the Soviet Union and anticipated and helped to shape the vibrant Zionist-dominated social and cultural life in the DP camps. The presence of unexpectedly numerous repatriates—and, it must be noted, not primarily the tragically smaller numbers emerging from the camps, partisan encampments, and hiding—served, however, not only as a catalyst for cultural and Zionist political life but also as a provocation for the postwar antisemitic violence that triggered the flight of Jewish survivors from Poland. By 1948, the Jewish experiment in postwar Poland was essentially over—a shortlived “life in transit”—having migrated to another transitional space, the DP camps of American-occupied Germany.

Eine Zusammenarbeit polnischer, israelischer, britischer und deutscher Archive bei der Ortung und Identifikation der Filmstücke könnte sich hier auszahlen.

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400

7.1.4

7 Die Filmteams

Olgierd Samucewicz / Oleg Samucevič

Abb. 7.14 Oleg Samucevič (Foto aus Fomin 2018)

Der parteilose Oleg Boleslavovič Samucevič / Olgierd Samucewicz (1911–1996; Abb. 7.15) war laut Fomins Nachschlagewerk zu sowjetischen Front-Kameraleuten („Zabytyj polk“ in Fomin 2018) ein ethnischer Pole. Er stammte aus Vjaz’ma im Gebiet Smolensk, hatte 1937 das VGIK in Moskau abgeschlossen und in der UdSSR gearbeitet, war also offensichtlich ein Sowjetbürger (Derjabin 2016, S. 726). Im Jahr seines Hochschulabschlusses wurde sein Vater, ein Arzt, Opfer der Stalinschen Repressionen (posthum rehabilitiert). 1936–1941 war er in der Filmchronik von Novosibirsk tätig, danach an der Front. Ab Sommer 1944 bis zum Juli 1950 arbeitete er als Kameramann „im Dienst der politischen Führung der Polnischen Armee“ und nahm in dieser Funktion u. a. den Fall von Kolberg und Berlin auf.624 Nach Kriegsende fi lmte er „Reportagen militärischer Ereignisse in Polen“ und war 1945–1953 Kameramann beim Film Polski in Łódź. Er war Fords Kameramann im Film Ulica graniczna. 1953 kehrte er aus Polen in die UdSSR zurück und wurde Kameramann bei Mosnaučfi l’m.

624 „С лета 1944 г. по июль 1950 г. работал кинооператором при Главном Политическом Управлении Войска Польского, снимал репортажи военных событий для Кинохроники Польской Демократической Республики. Снятые военные эпизоды вошли в фильмы „Падение Берлина“, „Взятие Кольберга“.“ (Fomin 2018, 137)

7.1 Die Filmspeerspitze

7.1.5

401

Evgenij Efimov

Abb. 7.15 Abb. 7.15 Evgenij Efimov (Foto aus Fomin 2018)

Die Informationslage zu Evgenij Efimov (Moskau 1906–1978; Abb. 7.15) ist karg, jedoch gibt es Hinweise darauf, dass er für den NKWD tätig war. 1942 wurde er für seine „inszenierten Aufnahmen“ kritisiert, arbeitete danach kurzzeitig für Mosfi l’m; als Vasil’čenko, Leiter der Filmchronik, ihm verbot „zur Frontkinogruppe zurückzukehren“, wurde er jedoch im Jahr darauf vom Filmkomitee als „Helfer“ zur Polnischen Armee abgeordnet.625 W. Jewsiewicki (1972, S. 177) schreibt über Efimov, dass er im August 1944 aus der UdSSR gekommen sei, um „zu helfen, die Ereignisse der Filmchronik systematisch zu bearbeiten“. Die erste Nummer der Filmchronik auf polnischem Boden erschien jedoch erst am 1.12.1944 (ibid., S. 178). Später wurde Efimov für die Befreiung Warschaus und die Einnahme von Berlin ausgezeichnet (Fomin 2018, S. 710). In seinen Erinnerungen an die Befreiungsaufnahmen von Warschau figuriert der Name „Wladek Forbert“.

625 Vasil’čenko hatte am 24.12.1942 an das Filmkomitee geschrieben: „Оператора Ефимова временно переведенного на работу в „Мосфильм“, не возвращать больше во фронтовую киногруппу. Начальник Главка кинохроники Васильченко“ (РГАЛИ, ф. 2451, оп. 1, д. 70. л. 1).“ (Fomin 2018, S. 698) 401

402

7.1.6

7 Die Filmteams

Stanisław Wohl

Abb. 7.16 Wohl nach dem Krieg http:// www.filmpolski.pl/fp/index. php?osoba=119367

Stanisław Wohl (Warschau 1912–1985; Abb. 7.16) war Mitbegründer der Vereinigung der Freunde des Künstlerischen Films START (1930), der Union der Kurzfilmproduzenten (1933) und der Genossenschaft der Filmautoren (1935). Er verfasste das Drehbuch für den Tonfilm Strachy (1938),626 mit Ludwik Perski als Regieassistenten. In einem Nachkriegs-Lebenslauf von 1973 gibt er an, er sei bürgerlicher Herkunft und habe die École technique de photographie et de cinéma (ETPC) in Paris besucht, sei 1932–39 als Kameramann und 1939–40 im Fototrest (vielleicht Fototrust?) Łódź als Fotograf tätig (im April 1940 wurde das Ghetto geschlossen) gewesen; ab 1940 arbeitete er wieder als Kameramann im sowjetischen Kino, bis 1943 in Kiew und dann in Aschgabat, wohin ein Teil der Kiewer Filmstudios evakuiert worden war. Ab 1943 war er stellvertretender Kommandant (im Rang eines Oberstleutnants) in der Ersten Division der Polnischen Armee. Nach dem Krieg re-organisierte er die technische Basis der polnischen Kinematographie in Krakau und Łódź, in den Jahren 1946–47 war er technischer Direktor bei Film Polski. Er war Mitbegründer der Filmhochschule Łódź und von 1948–1981 ihr Dozent bzw. Dekan der Fakultät für Kinematografie (1948–1951, 1952–1958). In den Jahren 1959 bis 1968 war er Prorektor. Seine pädagogischen Aktivitäten reichten bis nach Zürich und zum American Film Institute in Hollywood. Er war einer der Gründer des Internationalen Zentrums für die Kooperation von Filmhochschulen (CILECT), im Jahre 1967 dessen Präsident. In den Jahren 1961–68 war er künstlerischer Leiter der Filmgruppe Syrena.627

626 http://www.filmpolski.pl/fp/index.php?film=22581 [27.11.2018] 627 http://www.filmpolski.pl/fp/index.php?osoba=119367 [5.4.2018]

7.1 Die Filmspeerspitze

7.1.7

403

Ludwik Perski und Ljudmila Nekrasova / Ludmiła Niekrasowa

Abb. 7.17 Ludmiła Niekrasowa und Luwik Perski. Fotograf unbekannt; https://bit. ly/2SJ3kAZ

Ludwik Perski (Warschau 1912–1993) ist in erster Linie als Regisseur von Dokumentarfilmen bekannt.628 Frühzeitig arbeitete er als Kamera- und Regieassistent (Anfang der 1930er Jahre). 1930–33 besuchte er in Österreich die Höhere Schule für Außenhandel, Wien, beherrschte also das Deutsche, was bei der Analyse der Dokumente und Objekte für die Majdanek-Filmproduktion sicherlich von Nutzen war. In den Jahren 1940–43 war er Kameraassistent in den von Kiew nach Aschgabat evakuierten Spielfi lmstudios.629 Gemeinsam mit S. Wohl war er an den Filmarbeiten zu Bogdan Chmel’nickij beteiligt, Regie führte I. Savčenko (Ukrainfi l’m, 1941),630 und die Musik hierzu schrieb Sergej Potockij. Dies bedeutet, dass Perski und Wohl den Komponisten spätestens zu diesem Anlass in Aschgabat kennengelernt

628 https://sztetl.org.pl/pl/biogramy/3491-perski-ludwik [5.4.2018] 629 Eine nach dem Überfall auf Polen entstandener Film dieses Studios war der selten in polnischen Filmografien erwähnte Film Adam Mickiewicz (1940) von Juliusz Gardan (geb. Gradstein 1904 Częstochowa – 1944 Aschgabat). In diesem Film spielte der später berühmte sowjetische Komiker Arkadij Rajkin und die Ausstattung stammte von Isaak Rabinowicz, der mit Aleksandra Ekster die Kostüme für den futuristischen Film Aelita (Ja. Protazanov, 1924, Mežrabpomfi l’m) entworfen hatte. https://www.bfi.org.uk/fi lms-tv-people/4ce2b82acb082 [4.12.2018] 630 Laut einem Artikel auf der Seite von culture.pl https://culture.pl/pl/tworca/ludwik-perski [4.12.2018] 403

404

7 Die Filmteams

haben.631 In den Jahren 1943–45 baute Perski die Filmspeerspitze mit auf, laut Jewsiewicki (1972, S. 80) blieb er jedoch in Sel’ce, während die anderen nach Westen zogen. Ab dem 1.12.1944 bis 1950 war er zusammen mit Bossak Redakteur der Polnischen Filmchronik (Polska Kronika Filmowa), die aus der Filmspeerspitze hervorgegangen war; später war er in der Dokumentar- und Spielfilmproduktionsgesellschaft (WFDiF) tätig. Er drehte einen abendfüllenden Film über Warschau (1952/4): Warszawa. Dokumenty walki, zniszczenia, odbudowy / Warschau. Dokumente des Kampfes, der Zerstörung, des Wiederaufbaus. Perskis Frau, die Russin Ludmila „Lala“ Nekrasova (?–2002) war bereits vor ihrer Ankunft ausgebildete Cutterin und hatte zuletzt im Zentralen Dokumentarfilmstudio gearbeitet (Abb. 7.17).632 Ihre Filmtätigkeit in Lublin/Majdanek wird zwar als „Regieassistenz“ bezeichnet, doch arbeitete sie bis 1972 in der Polnischen Volksrepublik als Schnittmeisterin, wo sie über sechzig Filme schnitt und zahlreiche hochkarätige Cutterinnen ausbildete. Sie wird in den Erinnerungen von Barbara Kosidowska (2008) als resolute Frau beschrieben, die in Polen eine Gruppe junger Assistentinnen um sich scharte und ihnen das Schneidehandwerk beibrachte. Auch wenn sie ihre Karriere im Spielfilmstudio Mosfil’m – „unter dem tyrannischen Eisenstein“ (Kosidowska 2008, S. 134) – begonnen hatte und stets Interesse an der Fabula des Films zeigte, war sie auf Dokumentarfilme spezialisiert. Sie arbeitete oft mit Perski, Wohl und Bossak zusammen. Ihr Name wird meist in polonisierter Form angeführt: Ludmiła Niekrasowa.633 1954 führte sie gemeinsam mit ihrem Mann Perski bei dem Film W cyrku / Im Zirkus Regie. Es ist unklar, ob Nekrasova(-Perska) einen militärischen Rang hatte (in den Listen der Filmspeerspitze steht sie nicht). Im Hinblick auf den Majdanek-Film kann man davon ausgehen, dass sie einen größeren Anteil am Schnitt hatte als ihre CSDF-Kollegin Setkina.

631 Hier bezeichnet als Leon Persky (um den deutsch klingenden Namen Ludwik zu vermeiden): „Outstanding filmmaker and film teacher Igor Savchenko, the masters of Soviet musical comedy Alexander Ivanovsky and Vladimir Schmidthof, novelist and screenwriter Yuri Olesha, world-­ renowned cameramen Yuri Ekelchik and Danylo Demutsky, assistant directors and operators Shulamith Tsybulnik, Boris Shvachko, Alexei Mishurin, Stanislaw Wohl, Leon Persky (who would later become famous Ukrainian and Polish filmmakers) worked at the evacuated Kyiv Film Studio in Ashgabat.“ http://magikafilm.com.ua/en/film/page1494054762/about [4.12.2018] 632 Im digitalen CSDF-Museum ist sie jedoch nicht verzeichnet [2.10.2019]. Sie wurde aufgrund ihrer früheren Ehe mit dem Polen Piotrowski der Filmspeerspitze zugeordnet, da man davon ausging, dass sie Polnisch spräche (was aber nicht der Fall war). Sie heiratete Perski 1944, blieb jedoch bis 1974 Sowjetbürgerin (sie sorgte für eine in Moskau zurückgebliebene Mutter) und war daher bei der Aufenthaltsverlängerung vom Wohlwollen der sowjetischen Botschaft abhängig (Kosidowska 2008, S. 134–5, 140). 633 https://www.imdb.com/name/nm0630700/ [4.4.2018], http://www.repozytorium.fn.org.pl/?q=pl/ search/site/NIEKRASOWA [5.5.2019], http://archiwum.nina.gov.pl/katalog?Filter.PersonCodenames=ludmila-niekrasowa, http://www.filmpolski.pl/fp/index.php?osoba=1118942, http:// www.filmweb.pl/film/W+cyrku-1954-302466 [4.4.2018]

7.1 Die Filmspeerspitze

7.1.8

405

Władysław Krasnowiecki

Władysław Krasnowiecki (Krakau 1900–Warschau 1983) hatte den Kommentar zur polnischen Filmversion eingesprochen. Seine Biografie ist in unserem Kontext aussagekräftig, da sie den Lebenslauf eines nicht-jüdischen Polen aufzeigt, der sich mit der Sowjetmacht arrangiert zu haben scheint, ohne interniert gewesen zu sein: Er war vor dem Krieg Schauspieler in Krakau und Warschau. Der Kriegsausbruch überraschte ihn in Lwów, das in die Ukrainische Sowjetrepublik eingegliedert wurde. Krasnowiecki spielte weiter. Auf der Bühne von L’viv/L’vov wirkte er in Inszenierungen von Mickiewicz über Wyspiański bis zu Brechts Dreigroschenoper mit, in der er Mackie Messer darstellte (Hryciuk 2000, S. 21ff ). Da er dem „Bund der Polnischen Patrioten“ beigetreten war, überstand er den Krieg ohne weitere Probleme in der UdSSR, zeitweise in Kiew und dann vermutlich ebenfalls in der Evakuation. Bald leitete er das Fronttheater der Polnischen Streitkräfte in der UdSSR, das 1944 in das Polnische Armeetheater (Teatr Wojska Polskiego) umgewandelt wurde. Als Major der 1. Tadeusz Kościuszko-Infanteriedivision erreichte Krasnowiecki spätestens am 27. Juli Lublin, möglicherweise bereits früher. Später war er am Polnischen Armeetheater in Łódź tätig, ab September 1946/47 war er dessen stellvertretender Direktor. Er verließ die Polnische Volksarmee im Rang eines Oberst, ist aber nicht in den Listen der Filmspeerspitze verzeichnet.

Abb. 7.18 Krasnowiecki als Gen. Bourgoyne in G. B. Shaws The Devil’s Disciple (1946) im Theater der Polnischen Armee in Łódź. Aus: Film Nr. 2, 16.8.1946. https:// pl.wikipedia.org/wiki/ Władysław_Krasnowiecki#/ media/File:Władysław_ Krasnowiecki_-_Film_ nr_02_-_1946-08-16.JPG

405

406

7 Die Filmteams

7.2

Die sowjetischen Kameramänner

7.2

Die sowjetischen Kameramänner

7.2.1

R. L. Karmen – Die Familien Muskat-Leipuner und KorenmanKarmen aus Odessa Konstantin Simonov hat richtig festgestellt: Über den Vater Karmen zu erzählen, hilft die Wurzeln des Sohnes Karmen zu verstehen. (Oskar Semenovskij 1983, S. 101)634

Abb. 7.19 Roman Karmens Mutter Dina Leipuner (verh. Muskat) und sein Großvater Arieh Leipuner († 1929 in Tel Aviv); Quelle: https://www.jewage.org/wiki/ en/Profi le:P1194185998

Roman Lazarevič Karmen wurde am 29. November 1906 als Efraim Korenman in eine sowohl künstlerisch als auch politisch aktive Familie in Odessa hineingeboren (Panasenko 2016, S. 82). Seine Eltern waren der Schriftsteller Lazar’ und Dyna / Dina Korenman, geb. Muskat-Leipuner, eine Übersetzerin, u. a. aus dem Deutschen (Ivanova 2008; Abb. 7.19).635

634 Das Russische enthält das Wortspiel Kornman-korni (koren’ – russ. Wurzel): „korni‘ Karmena-syna.“ Oskar Semenovskij hatte mit Roman Karmen die Erzählsammlung von Lazar’ Karmen herausgegeben. 635 Der Vater des in Odessa geborenen und verstorbenen Lazar’ (1876–1920) wird auf der Seite Jewage.org als Lehrer bezeichnet: https://www.jewage.org/wiki/en/Profi le:P0653144552. In GENi wird der Name seiner Mutter als Leipuner angegeben: Дина Львовна Лейпунер (1889–1938), d. i. der Name ihres Vater Arieh: https://www.geni.com/people/Dina/6000000071204124851. Arieh Leipuner wurde in Sejny (russisches Teilungsgebiet, später im Kreis Powiat Suwałki der Woiwodschaft Białystok zur Zeit der Polnischen Republik) geboren und starb 1929 in Tel Aviv – somit hatte Karmen Familie in Palästina. https://www.jewage.org/wiki/en/Profi le:P1074409895. R. Karmens Großmutter war eine geborene Miriam Muskat (1854 – Odessa 1913): https://www. jewage.org/wiki/en/Profi le:P0045054292 [15.2.2019]

7.2 Die sowjetischen Kameramänner

407

Abb. 7.20 Romans Vater Lazar’ Korenman, Pseudonym „Carmen“; http://jewishmemorial.narod.ru/Karmen. htm

Als Journalist hatte sich Lazar’ ein für die damalige Zeit typisches Pseudonym zugelegt, „Carmen“ – auf kyrillisch transliteriert mit K als Кармен – , manchmal unterschrieb er auch auf spielerische Weise mit dem Namen Carmencita (Abb. 7.20).636 In den Erinnerungen des späteren Zionisten und Gründers der Irgun, Vladimir Zeev Žabotinskij (Odessa 1880 – Hunter, USA 1940), bildete Lazar’ gemeinsam mit Kornej Čukovskij und ihm selbst ein journalistisches „Triumvirat“ in Odessa, das gemeinsam Cafés besuchte.637 Žabotinskij, der ebenfalls ein weibliches Pseudonym, Altalena, verwendete, erwähnt die

636 Inwieweit Lazar’ hier auf Carmencita bzw. den gleichnamigen gleichnamigen Kinetoskop-Stummfi lm (des schottischen Filmpioniers William K. L. Dickson) aus dem Jahr 1894 anspielte, ist unklar. Die gefi lmte Carmencita war eine aus Spanien stammende Tänzerin, die international auft rat. Zu Lazar‘ Karmens Warnungen an die Frauen und Mädchen am Hafen von Odessa, nicht der Prostitution zu verfallen vgl. den Artikel: http://obodesse.at.ua/publ/malaja_arnautskaja_ulica/1-1-0-254 [1.2.2019] 637 V. Žabotinskij, Povest’ moich dnej. Jerusalem 1989, S. 35–36. Zitiert nach Ivanova 2008. 407

408

7 Die Filmteams

damalige Mode, „klangvolle Pseudonyme wie Lohengrin, Baron X, die Eiserne Maske, der Unbekannte“ auszuwählen. Der „aus Bizets Oper stammende Name Carmen“ jedoch sei „aufgrund des Anklangs an den eigenen Familiennamen gewählt worden“, und da Lazar’ das „Leben der odessitischen Carmencitas stets vor Augen hatte.“638 Alle drei schrieben für die russischsprachige Zeitung Odesskie novosti. Carmen/Karmen, wurde als der „Sänger der Gosse“ („Pevec nizov“; Slavin 1989, S. 13) oder „Gor’kij aus Odessa“ bezeichnet, doch laut Žabotinskij, der ihn in seinem Roman Pjatero / Fünf beschrieben hat, übertraf der jüdische Očerkist (von očerk, Skizze) Maksim Gor’kij in der Kenntnis der Welt und der spezifischen Sprache der Obdachlosen und Prostituierten, zumindest im Süden des Russischen Reiches.639 In den 1910er Jahren zog die Familie Korenman-Leipuner nach St. Petersburg. In Slavins Buch wird angedeutet, dass Lazar’ und Dina dort unter Antisemitismus zu leiden hatten: als „unzuverlässige“ Juden mussten sie die Hauptstadt verlassen (es muss sich um die Zeit des 1. Weltkriegs handeln, wie ich sie bereits oben beschrieben habe). Der kleine Roman und seine Mutter hielten sich daraufhin im südkarelischen Villmanstrand (heute Lappeenranta in Finnland) auf, während der Vater nach Petrograd zurückkehrte und sich dort versteckt hielt (Slavin 1989, S. 15). Von Lazar’ Karmen erhielt Roman eine Brownie-Kodak-Kamera geschenkt, mit der er den schwerkranken Vater, der während des Bürgerkrieges im Gefängnis gewesen war, vor seinem Tod fotografiert hatte – seine „erste fotografische Aufnahme.“640 Das Interesse für Literatur und Sprachen hatte Karmen offensichtlich von seinen Eltern geerbt: Kotov (1983, S. 272) erinnert sich, Karmen habe in Chile einen Filmvortrag auf spanisch gehalten, Slavin (1989, S. 97) schreibt, dass er sich „in vier ausländischen Sprachen verständigen konnte.“ Ähnlich wie Fords Vater starb Karmen Senior, als sein Sohn noch nicht volljährig war: Mosze/Aleksander war 15 oder 16, Efraim/Roman war 14. Der junge Karmen war nun auf sich selbst gestellt und begann seine Karriere als Journalist und Reporter in Illustrierten, u. a.

638 „Имя героини оперы Ж. Бизе несомненно было выбрано по созвучию с собственной фамилией, и известность в читательских кругах компенсировала его гендерную нестыковку с тем, кто подписывал им свои фельетоны.“ (Ivanova 2008) 639 „Один из них был тот самый бытописатель босяков и порта, […] и босяков знал гораздо лучше, чем Горький, который, я подозреваю, никогда с ними по настоящему и не жил, по крайней мере, не у нас на юге. Этот и в обиходе говорил на ихнем языке – Дульцинею сердца называл «бароха», свое пальто «клифт» (или что-то в этом роде), мои часики (у него не было) «бимбор», а взаймы просил так: нема «фисташек»? Его все любили, особенно из простонародья. Молдаванка и Пересыпь на eго рассказах, по-видимому, впервые учились читать; в кофейне Амбарзаки раз подошла к нему молоденькая кельнерша, расплакалась и сказала: – Мусью, как вы щиро вчера написали за «Анютку-Боже-мой»…“ (aus Žabotinskijs Roman Fünf zitiert in Ivanova 2008) 640 „Как жалею, что не сберег подаренный мне отцом дешевый фотографический аппарат – коробочка «кодак», сыгравший, как сейчас вижу, решающую роль в моей жизни. Сохранился только пожелтевший крохотный снимок – я сфотографировал отца незадолго до его смерти. Первый мой фотографический снимок!“ (Karmen 2017, S. 2)

7.2 Die sowjetischen Kameramänner

409

in Kol’covs Ogonek. 1932 beendete Karmen die Ausbildung zum Kameramann am VGIK. Die Heirat mit Marianna (1913–2005), Bildhauerin und Tochter von Emel’jan Michajlovič Jaroslavskij (geboren 1878 in Čita als Minej Izraelevič Gubel’man), Berufsrevolutionär und führender Kopf in der Säkularisierung der UdSSR eröffnet ihm den Weg zu Kreisen der Parteielite.641 Die Ehe zerbrach; später heiratete er Nina Orlova, und in dritter Ehe Majja [Maya] Zmeul (1930–2014), die Karmen wegen des regimekritischen Romanciers Vasilij Aksenov verließ und mit diesem später in die USA emigrierte. Aksenov war der Sohn von Evgenija Ginzburg, deren mutiges Buch Krutoj maršrut (Marschroute eines Lebens und Gratwanderung) ihre Erlebnisse als Jüdin im Gulag beschrieb und in den 1960er Jahren in der Gestalt von Samizdat- und Tamizdat-Ausgaben ein wichtiges literarisches Zeugnis der Stalinrepressionen darstellte (es konnte erst 1988 in der UdSSR erscheinen). Es ist unklar, wie sich Karmens Verhältnis zur jüdischen Kultur gestaltete, da dieser Aspekt in den mir bekannten (Auto)Biografien nicht oder nur in verstellter Weise vorkommt, und dann in erster Linie den Vater betrifft, der während des ersten Weltkriegs unter der Deportation jüdischer Untertanen (bei denen aufgrund ihrer Sprachkenntnisse oftmals Sympathien für den deutschen Kaiser vermutet wurden) aus den Grenzgebieten zu leiden hatte. Allerdings kann man nicht übersehen, dass Karmens wichtigster Förderer Kol’cov und seine erste Frau Marianna jüdischer Herkunft waren. Und dies zu einer Zeit, als in der UdSSR Ehen zwischen Partnern verschiedener Religion (in der Herkunftsfamilie) oder ethnischer Herkunft häufig waren. Über Karmens Kontakt mit dem Jiddischen in seiner Geburtsstadt Odessa bzw. die Haltung zur jiddischkejt in seiner politisch progressiven und philologisch ausgerichteten Familie, ebenso wie sein Verhältnis zu der in den 1920er Jahren staatlich geförderten jüdischen Kultur in Moskau, wo seine Karriere als Fotograf begann, ist wenig bekannt; es wäre jedoch seltsam, wenn keine Auseinandersetzung mit dem Jiddischen stattgefunden hätte. Dies kann man bereits aufgrund seiner engen Beziehung zu beiden Elternteilen vermuten, von der das – keinesfalls selbstverständliche – Beibehalten des Künstlernamens des verehrten Vaters zeugt, der früh verstorben ist. Dass Karmen sich in Bezug auf seine jüdische Identität nicht in die Karten sehen ließ, mag angesichts der Repressionen verständlich sein, denen Künstler ausgesetzt waren, die sich offen zu ihrem Judentum bekannten oder für ihre Partizipation am sowjetischen Jiddischismus nach dem Krieg auf die Abschussliste gerieten. Stets informiert, wohin der politische Mainstream fließt, schwamm Karmen selten gegen den Strom – das unrühmliche Majdanek-Projekt gehört offensichtlich zu den Ausnahmen, das jedoch durch die Filme für und aus Nürnberg wettgemacht wurde. Karmen blieb bis zu seinem Ende ein auch international angesehener Dokumentarfilmer. In den 1970ern wurden ihm im Ausland Retrospektiven gewidmet: 1971 in der DDR und 641 Laut dem Dokumentarfilm von Barbéris und Chapuis Dokumentarfilm von 2002 hatte er als Sohn eines Märtyrers der Revolution bereits Vergünstigungen vom Kreml erhalten, wo er angeblich auch in den 1920ern wohnen durfte. In den Erinnerungen seiner Zeitgenossen wird dies nicht erwähnt, lediglich seine Aussage, er hätte sich anstrengen müssen, um über die Runden zu kommen („zdorovo krutit’sja“; Tėss 1983, S. 87). 409

410

7 Die Filmteams

1973 im Museum of Modern Art. Zu beiden Retros gab es Publikationen – laut Katalog wurde jedoch auf keiner dieser Retrospektiven der Majdanek-Film gezeigt. Am 28.4.1978 starb Roman Karmen in Moskau – bewundert, geehrt, aber doch ein offiziöser Vertreter der UdSSR im Ausland, wo er stets an den Orten gewesen war, an denen Geschichte geschrieben wurde, sei es in Spanien vor dem Krieg, in Vietnam (u. a. das Reenactment mit französischen Kriegsgefangenen von Điện Biên Phủ in Viêt Nam, 1954), in Kuba oder in Chile. Seine Kollegin Tat’jana Tėss (1983, S. 90) erinnert sich, wie er nach seinem Einsatz im spanischen Bürgerkrieg „plötzlich abflog, es wurde Geheimhaltung gewahrt“ („s sobljudeniem sekretnosti“). Sie fügt hinzu, nichts habe Karmen aufhalten können, wenn er mit seiner Filmkamera an einen Brennpunkt oder Krisenherd reiste (Tėss 1983, S. 91). Patrick Barbéris und Dominique Chapuis erwähnen in ihrem Dokumentarfilm Roman Karmen, un cinéaste au service de la révolution (Frankreich, 2002), dass Major Karmen im 2. Weltkrieg als Mitglied von „Zhukov’s staff had access to confidential info“ und behaupten – wohl etwas übertrieben –, er habe über „logistical support of a 5 Star general“ verfügt. Richtig ist jedoch ihre Beobachtung, dass er regelmässig ein perfektes „date with history“ gehabt und sich immer am richtigen Ort befunden habe, oft schon bevor sich die Ereignisse entwickelten. Tėss (1983, S. 93) erzählt eine Anekdote aus der Zeit nach seiner Rückkehr aus Spanien und seinem Leben allein Moskau, d. h. im Jahr 1938, dem Todesjahr seiner Mutter: Karmen habe ihr mit einem „dicken Füller“ eine Hemingway-Fotografie zum Andenken beschriften wollen und dabei ihr „neues Kleid mit blauer Tinte befleckt“, die jedoch dann verblasste. Sie schreibt, der Spaßvogel Karmen habe offensichtlich „von irgendwoher einen Füller als Souvenir mitgebracht, in dem sich eine besondere chemische Mischung befand: unter dem Einfluss von Luft verschwand der ‚Tinten‘-Fleck spurlos.“ Inwieweit Karmen mit Spezialtinten ausgestattet war, die er auch für seine späteren Montagelisten verwendet haben könnte, wäre an den Originalen zu prüfen. Auch sein Spezialauftrag von 1944 legt nahe, dass er von den sowjetischen Nachrichten- und Sicherheitsdiensten eine seinen geheimen Aufgaben entsprechende Ausstattung erhielt und stets rechtzeitig aufgeklärt wurde, wo es etwas zu filmen geben würde, d. h. wohin die (politische) Reise ging. Und dies ganz wortwörtlich – schließlich war es für einen Sowjetbürger nicht selbstverständlich, sofort eine Reisegenehmigung bzw. ein Visum zu erhalten. Karmen war hierfür dankbar, er blieb seiner Regierung – von Stalin bis Brežnev – treu, wie es ein Journalist der französischen Zeitung Libération 2002 schrieb, geschützt „vor den stalinistischen Säuberungen durch seine Loyalität zum Regime“.642

642 „Le cinéaste russe n’avait pas d’états d’âme: il est passé à travers les purges staliniennes au prix d’une loyauté sans faille à l’égard du régime. Mort brutalement en 1978, Roman Karmen laisse une série d’images qui ont façonné la mémoire collective du XXe siècle.“ (Thomas Hofnung, Karmen, un roman. Libération, 25.2.2002)

7.2 Die sowjetischen Kameramänner

7.2.2

411

Viktor Štatland und Avenir Sof’in

Abb. 7.21 Viktor Aleksandrovič Štatland (links) auf der Seite „Alleja Slavy Alatyrja“/ „Ruhmesallee von Alatyr’“. http://gov.cap.ru/home/56/ album2009/album2014/ news2014/17062014.pdf [13.10.2018]

Viktor Aleksandrovič Štatland (1912–71; Abb. 7.21) wurde geboren in der Stadt Alatyr’, einem historischen Zentrum der russisch-orthodoxen Missionierung und Kolonisation der Tschuwaschen und Mari. In der Stalinzeit wurden Tausende von tschuwaschischen Familien von Berija 1940–41 nach Karelien zwangsumgesiedelt – als Schutzwall gegen Finnland. Die Herkunft des Familiennamens Štatland ist unbekannt. Laut A. Derjabin (2016, S. 954–55) begann er als Beleuchter in Sovkino und legte 1937 die Kameramannprüfung am VGIK ab. Seit 1940 Mitglied der Kommunistischen Partei, wurde er am 25.3.1941 eingezogen und – gemeinsam mit S. Ešurin und P. Kogan – Mitglied einer „besonderen Kameramann-Gruppe“, die von der politischen Führung der Roten Armee geschaffen worden war, um sich auf den bevorstehenden Krieg vorzubereiten; im selben Jahr erlitt er eine Verletzung (Derjabin 2016, S. 955). 1943 wurde er gemeinsam mit der später beim Filmen an der Front gefallenen Kamerafrau Marija Suchova nach Iran kommandiert. Vom Mai 1944 bis Mai 1945 war er stellvertretender Leiter der Front-Filmgruppen der Glavkinochronika, vom 1. Juli 1944 zusätzlich Leiter der Filmgruppe der 1. Belorussischen Front. 411

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7 Die Filmteams

Abb. 7.22 Avenir Sof’in (Fotografie: aus Fomin 2018)

Avenir Petrovič Sof’in (Gouvernement Kazan’ 1909 – Saratov 1992; Abb. 7.22) besuchte Regiekurse in Saratov und begann als Kameragehilfe im Filmstudio von Saratov an der Volga. Ab 1942 war er Kameramann in verschiedenen Truppenteilen, ab 1944 an der 1. Belorussischen Front. Sof’in erhielt 1943 den Stalinpreis 1. Ranges für seine Aufnahmen aus Stalingrad, am 18.6.1945 den Orden des Großen Vaterländischen Kriegs 1. Ranges (Derjabin 2016, S. 803–804). Fomin weist darauf hin, dass der Russe Avenir Sof’in einen ungewöhnlichen, jedoch im russisch-orthodoxen Heiligenkalender verzeichneten Vornamen habe: Avenir. Dieser – wie der Zufall es will – „alte hebräische Name bedeute Licht“.643 Es kann also durchaus sein, dass bei diesem russischen Träger eines biblischen Namens – im Englischen lautet er Abner – eine jüdische Herkunft vermutet wurde.

7.3

„Mehrheitlich jüdisch?“

7.3

„Mehrheitlich jüdisch?“

Shneer (2010, S. 167) spricht im seinem Kapitel „How Jewish Documenters De-Judaized Majdanek“ von einer Dejudaisierung von Majdanek und fasst in Bezug auf die Filme korrekt zusammen, dass sie die Geschichte der Juden in Majdanek nicht erzählt hätten, wobei er von der Annahme geleitet wird, dass er „fast überwiegend [von] polnischen und sowjetischen Juden gemacht worden ist.“ (ibid.) Andrzej Selerowicz und Winfried R. Garscha (2011, S. 67) schreiben im Jahr darauf in ähnlicher Weise über die Teams:

643 „Русский. Дали Софьину довольно необычное для этих мест имя – Авенир, но оно есть в православных святцах, где, видимо, нашли его родители, и в переводе с древнееврейского означает ‚свет‘. Беспартийный.“ (Fomin 2018, S. 148)

7.3 „Mehrheitlich jüdisch?“

413

Abgesehen vom Anliegen der – sowohl auf sowjetischer als auch auf polnischer Seite mehrheitlich jüdischen – Filmemacher, den Judenmord für künftige Generationen zu dokumentieren, war der Film Cmentarzysko Europy implizit auch Teil der Prozessvorbereitungen: Indem die Produzenten mehr als ein Viertel des Films der Tätigkeit der polnisch-sowjetischen Untersuchungskommission widmeten, wollten sie offenkundig betonen, dass die Befreier nicht Rache übten, sondern nach der Wahrheit suchten.

Wichtig ist zum einen aus produktionstechnischer Perspektive festzuhalten, dass der Film nicht von den Frontkameraleuten „gemacht“ wurde, die gewöhnlich nur Filmmaterial lieferten (und dies ist in diesem Fall sogar beim Starreporter Karmen der Fall, dessen Schnittanweisungen unbeachtet blieben), zum anderen, dass die Filmleute nur auf der polnischen Seite als überwiegend jüdisch bezeichnet werden können – wobei man sich hier fragen muss, wie dieser Begriff zu definieren ist. Ein Blick auf die Montagelistentabelle zeigt, dass die überwiegende Zahl der (nicht im Vorspann genannten) sowjetischen Kameraleute, die in Lublin/Majdanek gefilmt haben und hier in Frage kämen, nicht jüdischer Herkunft sind. Eine Ausnahme stellen Arons und Posel’skij dar, die aber ebenfalls nicht im Vorspann genannt sind und den Majdanek-Filmen auch nicht nachträglich, etwa in den Katalogen, zugeordnet wurden. Die einzigen Sowjets jüdischer Herkunft, die zur Dokumentation des Films beigetragen haben, sind Roman Karmen und, in geringem Maße – u. U. sogar nur aus dem Flugzeug – Šnejderov (der auch nicht im Vorspann genannt wird). Die Annahme der Dokumentation des Lagers durch „mehrheitlich jüdische“ Filmemacher (vgl. auch Liebmans rejudaisierende Argumentation) ist also in Bezug auf die sowjetischen Teilnehmer nicht korrekt. Sie hätte im Übrigen kaum zu den sowjetischen Propagandazielen von Lublin im Herbst 1944 gepasst. Bei einem Vergleich der beiden Teams können wir feststellen, dass lediglich das polnische Team mit Aleksander und Olga Ford, Jerzy Bossak, Stanisław Wohl, Ludwik Perski, Adolf und Władysław Forbert „überwiegend jüdischer Herkunft“ war. Offensichtlich hatte die sowjetische Filmgruppen-Leitung hierauf kaum Einfluss, denn die Beteiligung der Filmspeerspitze am Majdanek-Projekt war in diesem Fall wichtiger als der Makel der nicht-slawischen Namen (was dann aber offensichtlich später dazu führte, dass einige Autorschaften für die Majdanek-Filme getilgt wurden). Olgierd / Oleg Samucewicz – gleichgültig ob Pole oder (Weiß)Russe – waren nicht jüdischer, sondern slawischer oder anderer Herkunft, wie auch die Polen Krasnowiecki und S. Sienkiewicz bzw. die Russen V. Kotov und Ljudmila „Lala“ Nekrasova. Im sowjetischen Team war – zumindest laut Katalogangaben – eine jüdische Herkunft eher die Ausnahme. Russen waren Avenir Sof’in und Viktor Štatland; der (im November hinzugekommene) David Ibragimov war Tatare und I. Komarov Weißrusse. Zu den Russen gehören auch Tonmeister V. Kotov, der Komponist Sergej Potockij – trotz polnisch klingendem Namen – und die Schnittmeisterin Irina Setkina, die in Russland am bzw. für den Film arbeiten.

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414

7 Die Filmteams

Karmens Rolle wird nach dem Dreh vom Studio geflissentlich heruntergespielt. Ebenfalls jüdischer Herkunft wäre der – lediglich im Krasnogorsker Katalog aufscheinende – Arrangeur und Filmmusik-Dirigenten David Štil’man, der vermutlich für die (Komposition der) Musik zumindest in der russischen Version zuständig war, jedoch im Vorspann durch den ‘polnischen’ Namen „Sergiusz Potocki“ (Sergej Potockij) ersetzt wurde, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, dass zu viele Personen mit nicht-slawischen Namen an dem Film arbeiteten bzw. im Vorspann stehen. Der RGAFKD-Katalog enthält oft Abweichungen zum Vorspann der Filme, d. h. er enthält auch nicht-öffentliche Informationen, die näher an der Wahrheit sind, jedoch ohne Quellenangabe. Ob D. Štil’man sowohl 1944 als auch 1949 für die Musik der russischen Version verantwortlich war, ist unklar (vgl. Kap. 9). Denkbar wäre auch, dass Potockij die polnische Version verantwortete und Štil’man die russische(n) – weitere Forschungen in den Archiven der Musiker wären vonnöten. Ähnlich wie im Karmen-Vertov-Fall wurden jüdische Kollegen unter Druck gesetzt oder genötigt, sich gegenseitig zu kritisieren oder verleumden, was zu einer Tilgung ihrer Autorschaft führen konnte.644 Die Behauptung, dass die „Filmemacher“ der ersten KZ-Befreiungsfilme mehrheitlich jüdisch waren, kann nicht aufrechterhalten werden. Jüdischer Herkunft waren A. Ford, O. Ford, Bossak, A. Forbert, W. Forbert, Wohl, Perski und Karmen, [Šnejderov], [Štil’man] (9-10 Namen). Anderer Herkunft waren: Efimov, Samucewicz, Sof’in, Štatland, Komarov, Nekrasova, Sienkiewicz, [Kotov], [Potockij], [Ibragimov], [Setkina] und Krasnowiecki (11–12 Namen). In Bezug auf (nicht nur ethnische) Herkunft und Sprachkenntnisse ergibt sich allerdings ein weniger klares Bild. Ich beziehe aufgrund des ungeklärten Beitrags der Komponisten und der Tonaufnahmen hier nur die vor Ort Anwesenden ein: • Polnische Bürger und polnische Sprache: A. Ford, O. Ford, Bossak, A. Forbert, W. Forbert, Wohl, Perski, Sienkiewicz [das Polnische beherrschten u. U. die in Weißrußland geborenen Samucewicz und Komarov] • Sowjetbürger: Karmen, Šnejderov, Efimov, Samucewicz, Sof’in, Štatland, Komarov, Nekrasova (später Niekrasowa); jüdischer Nationalität waren vermutlich Karmen, Šnejderov • Geboren im Russischen Reich/Russischen Teilungsgebiet: Alle außer Krasnowiecki, der in Krakau geboren wurde • Beherrschung des Russischen: Vermutlich alle • Beherrschung des Jiddischen: Karmen, die Fords, Bossak, die Forberts, Wohl, Perski und Šnejderov; [passiv: möglicherweise Samucewicz] Dies zeigt zum einen, dass sich die Merkmale und Charakteristika der Teams überschneiden, zum anderen, dass die sowjetische politische Führung darauf achtete, dass 644 „За создание нездоровой атмосферы между дирижёрами Гамбургом, Ройтманом и Штильманом освободить от работы дирижёра Д. С. Штильмана с 30 сентября 1950 года. Мой отец знал, что создана какая-то странная комиссия, ‚расследовавшая‘ работу оркестра Кинематографии, куда вызывали Гамбурга и Ройтмана.“ (Štil’man 2015)

Literaturverzeichnis

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Kamera-Teams in der Roten Armee nicht „mehrheitlich jüdisch“ waren, was man auch an anderen Einsatzorten beobachten kann (vielleicht mit Ausnahme des geheimen Drehs von Katyn’, wo ein sowjetischer und ein polnischer Jude als Kameramann eingesetzt wurden). Zum zweiten scheint es, dass das Vertrauen in die polnische Filmspeerspitze begrenzt war – daher wurden ihr zwei Sowjetbürger zur Seite gestellt, von denen einer eine geheimdienstliche Funktion hatte. Zum dritten könnte man die Mehrheit der vor Ort zusammenarbeitenden Filmleute insofern als „jüdisch“ ansehen, als dass sie das Jiddische beherrschten. Dies bezieht sich auf bis zu acht Filmleute (Karmen, A. Ford, O. Ford, Bossak, A. Forbert, W. Forbert, Wohl und Perski),645 die auch eine gemeinsame Diskriminierungs- und Verfolgungsgeschichte aufwiesen. Damit kommt dem Jiddischen nicht nur eine Bedeutung für die Verständigung mit den jüdischen Überlebenden oder angereisten Helfern in Lublin zu, sondern auch als Kommunikationsplattform. Die Genannten konnten sich über die farnichtung austauschen, ohne dass ihre Kollegen – gebürtig aus Alatyr’ bzw. Saratov – daran notwendigerweise teilhatten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der eine oder andere Sowjetbürger russischer Herkunft auch Jiddisch verstand – im Fall von Sof’in und Štatland ist dies jedoch eher unwahrscheinlich; anders bei dem aus Weißrussland stammenden Samucewicz, der überdies als Sohn eines „Volksfeindes“ eine schlechtere Kaderakte hatte als die beiden genannten Südrussen, sich mit den Fords gut verstand (später filmte er mit ihnen in Barrandov, Prag) und daher von Efimov überwacht wurde. Man kann vermuten, dass die äsopische Bemühung, das Wort farnichtung im Filmtitel Vernichtungslager Majdanek zu verankern, ohne Beteiligung bzw. an den russisch-monolingualen Filmleuten vorbei, geglückt ist.

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Film-Vorschriften und Zensur: das unterdrückte Zeugnis und „organisierte“ Zeugen 8 Film-Vorschriften und Zensur

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Drehanweisungen, Motivlisten und der Faktor der sowjetischen Zensur

8.1

Drehanweisungen, Motivlisten und der Faktor der sowjetischen Zensur

Auch wenn in Memoiren, Oral-History-Quellen oder Interviews (etwa dem Zeugnis von A. Voroncov646 in dem britischen Film von André Singer Night Will Fall, GB 2014) anders dargestellt, hatten sowjetische Kameraleute spätestens ab Herbst 1943 klare Anweisungen, was sie in einer Situation wie sie die Entdeckung eines KZs darstellte, zu filmen hatten. Ich möchte hier eine Quelle zugänglich machen, die klare Aussagen trifft, was Kameraleuten in den Reihen der Roten Armee zur Aufnahme vorgeschrieben wurde. Die ersten Kameraaufnahmen wurden nach dem Überfall auf die UdSSR im Sommer 1941 und im Rahmen der ersten wiedereroberten Gebiete im Winter 1941 (Kerč’ auf der Krim im Februar 1942) angeordnet. Im Verlauf des Kriegs wurden die Anweisungen genauer, wie man in dem am 8.9.1943 verfassten Rundbrief des Leiters des Dokumentarfilmstudios (damals hieß es Glavkinochronika) F. M. Vasil’čenko lesen kann („Cirkuljarnoe pis’mo načal’nika Glavkinochroniki F. M. Vasil’čenko načal’nikam frontovych kinogrupp“); genannt wurden hier die „wichtigsten Aufgaben der Kameraleute in den Gebieten, die von der Roten Armee befreit wurden: die Filmaufnahmen der Spuren der Verbrechen und der Zerstörung, die von den deutsch-faschistischen Aggressoren angerichtet wurden“. Solche „Filmreportagen 646 Voroncov, der in Auschwitz gefilmt hatte, erhält von Ošurkov, dem Leiter der Filmgruppe der 1. Ukrainischen Front, eine negative Charakterisierung. Er sei „arrogant, besserwisserisch, undiszipliniert“ und hätte im Januar-Februar 1945 – die Periode der Auschwitz-Aufnahmen – nichts Interessantes aufgenommen, nachdem er im Dezember 1944 aufgrund Nichtausführens eines Befehls gerügt worden war: „Большого творческого роста нельзя отметить у асс. оператора Воронцова благодаря его некритическому отношению к своей работе. Излишнее самомнение, полнейшее отсутствие скромности, зазнайство – этими качествами Воронцов обладает в полной мере. Наблюдаются случаи недисциплинированности. За невыполнение приказания нач. кино-группы ему в декабре 1944 г. приказом по Центральной студии кинохроники был объявлен выговор. За время наступления войск 1-го Украинского фронта январь – февраль 1945 г. Воронцов пока не дал интересного боевого материала. Начальник киногруппы 1-го Украинского фронта майор Ошурков“. (РГАЛИ. Ф. 2487. Оп. 1. Д. 1002. Л. 32.)“ (Fomin 2018, S. 685) © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Drubek-Meyer, Filme über Vernichtung und Befreiung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30531-4_8

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8 Film-Vorschriften und Zensur

sind Dokumente von staatlicher Bedeutung“ und sollen „den Schaden (uščerb), der dem sowjetischen Volk zugefügt wurde“, dokumentieren (Fomin 2005, S. 749). Als Objekte der Aufnahmen werden aufgezählt: • zerstörte und gesprengte Denkmäler, Häuser, Unternehmen, Brücken und andere Bauten; • das Innere und Äußere barbarisch verwüsteter Wohnungen, Museen, Schulen, Bibliotheken, Kirchen; • Orte, an denen die Faschisten sowjetische Menschen gerichtet haben [rasprava nad sovetskimi ljud’mi]: Gestapo-Vernehmungsräume, Richtplätze, Leichen ermordeter und gefolterter Bürger,647 Kriegsgefangenenlager für Rotarmisten; • Augenblicke des Erkennens der Toten; Menschen, die aus faschistischer Gefangenschaft fliehen konnten, die aus Deutschland Geflohenen; Waisen, deren Eltern von den Deutschen getötet wurden; Mütter, die während der Okkupation ihre Kinder verloren haben; • materielle Beweise (veščestvennye svidetelst’va) deutscher Verhöhnung (izdevatel’stvo) der Bewohner sowjetischer Städte und Dörfer: Schilder, Plakate mit Drohungen, Warnungen, Verboten, Geboten des Hitlerkommandos; Kennnummern / Abzeichen (birki), Armbinden (povjazki), die unseren Leuten von deutschen Sklavenhaltern umgebunden wurden. • alle weiteren Spuren der Verbrechen und der Zerstörung, die von den Besatzern verursacht wurden. Hinzugefügt wurde der Satz: „Es müssen sowohl Totalen als auch Nahaufnahmen mit einer Präzisierung der ausdruckstärksten Details aufgenommen werden. Weisen Sie die Kameraleute darauf hin, detaillierte Montagelisten zu verfassen, als vollständige Dokumentation von allem, was mit den Aufnahmen dieser Sujets zusammenhängt.“648 Am 2. Dezember 1943 wurde in einem weiteren Rundschreiben von Vasil’čenko betont, dass die Untaten der deutschen Besatzer besondere Aufmerksamkeit erfordern. Es wird vermerkt, dass nun die „Filmaufnahmen der Gräueltaten und Verheerungen der

647 Hier findet man eine Anweisung, Tote zu filmen, streng genommen jedoch nur Zivilisten, mit einer Betonung auf Sowjetbürger. Dies steht in Kontrast zu den Praktiken des im Oktober 1941 gegründeten britischen Army Film and Photoagraphic Unit (AFPU), der laut Haggith (2005, S. 37) gewöhnlich weder tote Militärs noch Zivilisten filmte, auch wenn keine „official guidelines on filming military dead“ vorlagen, aus Rücksicht auf „sensibilities of newsreel editors who had produced a sanitized account of the war.“ Für die Zensur war in Großbritannien das Ministry of Information bzw. das War Office zuständig (zu den Zensurschnitten in Bezug auf Memory of the Camps [German Concentration Camps Factual Survey] vgl. Kay Gladstone 2011, S. 79). 648 RGALI 2451, op. 1, d. 112, l. 8–9. abgedruckt in Fomin 2005, S. 749–750. Penfold (2013, S. 104) irrt, wenn er den Kameraleuten die Verantwortung der Vorabauswahl zuschreibt: „The cameramen did not simply record these sights but, as with the filming of Oświęcim, carefully determined which subjects would be filmed, how they would be filmed, and which individuals would be used to encapsulate wider suffering.“ Obgleich er Fomin 2005 zitiert, lässt er den mehrstufigen Zensurprozess (Militär, Institutionen der Politische Zensur und Studio) außer Acht.

8.1 Drehanweisungen, Motivlisten und der Faktor der sowjetischen Zensur

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Deutschen für die Außerordentliche Staatliche Kommission systematisiert und bearbeitet werden“. Weiter heißt es: „Nehmt die Gräueltaten und Zerstörungen der Deutschen auf, die furchtbarsten, die schlimmsten, ästhetische Erfordernisse missachtend. Der Kameramann soll nichts Anderes empfinden außer dem Pflichtbewusstsein, die Abscheulichkeiten und Plünderungen der Deutschen auf unserer Erde, für die sie bezahlen werden müssen, festzuhalten.“ (Fomin 2005, S. 757) Hier ist es unerlässlich, sich das Vorgehen der sowjetischen Zensur vor Augen zu führen, die für jenes Filmmaterial galt, das nach dem 27. März 1944 aufgenommen wurde, denn es gilt für alle bedeutenden sowjetischen KZ-Filmaufnahmen. In einer Zensur-Anleitung der „Kurzanleitung der Abteilung der Militärzensur für den Vorsitzenden des Komitees der Filmangelegenheiten I. G. Bol’šakov bezüglich der Regelung der Durchsicht von Filmchronikmaterial durch die Militärzensur“ („Instruktivnaja zapiska otdela voennoj cenzury predsedatelju komiteta po delam kinematografii I. G. Bol’šakova o porjadke prosmotra voennoj censuroj materialov kinochroniki“, 27.3.1944) wurde vom Leiter der Militärzensur des Generalstabs der Roten Armee, Oberst Berezin festgelegt, wie mit Kameraleuten umzugehen sei und wie das Procedere bezüglich Frontaufnahmen auszusehen hat: 1. Alle in die Armee aufgenommenen Kameraleute müssen umgehend bei den entsprechenden politischen Organen und der Militärzensur registriert werden, wo sie Hinweise zu den Objekten erhalten, deren Aufnahme aufgrund des Militärgeheimnisses verboten sind. 2. Alle Filmaufnahmen bedürfen der Genehmigung des Kommandierenden der entsprechenden militärischen Abteilung. Das gesamte belichtete Filmmaterial muss vom Kameramann versiegelt und „ins Zentrum649 geschickt werden, wo es weiter verarbeitet und geprüft wird (opečatana i otpravlena v centr dlja dal’nejšej obrabotki i proverki)“. 3. Alle Filmmaterialien, die an der Front und in den Bezirken aufgenommen wurden, werden pflichtgemäß von der Militärzensur geprüft. Der Prüfung unterliegen auch jene Kriegsfilme, die von den Kinostudios hergestellt werden, die eine „Verteidigungsaufgabe“ haben und für die Öffentlichkeit bestimmt sind. 4. Während der Sichtung der Filmaufnahmen durch den Militärzensor, verantwortliche Vertreter der Filmstudios, der Kameraleute, die das Material aufgenommen haben und geladenen Beratern ist weiteren Personen die Anwesenheit verboten. 5. Während der Sichtung der Filmaufnahmen bestimmt der Militärzensor, welche Episoden herausgenommen/gesperrt werden (ob iz’’jatii otdel’nych epizodov) oder auch ob das gesamte Material gesperrt wird. Das zur Veröffentlichung zugelassene Material genehmigt der Zensor für die Produktion des Films. 6. Der Militärzensor prüft auch die Montagelisten (montažnye listy)650 und die Kommentare der Sprecher; aus ihnen werden alle jene Informationen herausgestrichen, die ein 649 Damit ist das Studio CSDF bzw. die Vorgänger gemeint. 650 Vgl. auch M. Trojanovskijs Befehl bezüglich der Montagelisten „O montažnych listach po frontovym s’’emkam“/ „Über Montagelisten mit Frontaufnahmen“ (Prikaz Glavnogo Upravlenija po proizvodstvu chronikal’no-dokumentalnych fil’mov) vom 14.4.1944 (Michajlov/Fomin 423

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Militärgeheimnis darstellen bzw. „Informationen, deren Publikation unerwünscht (neželatel’nye) ist“. 7. Nach der Herstellung der Filmchronik wird sie dem Militärzensor vorgelegt. Nach der Vorführung gestattet er ihre öffentliche Aufführung. 8. „Alle Filmmaterialien, deren öffentliche Vorführung gesperrt wird, werden dem Filmstudio zur Archivierung als Geheimdokument übergeben.“651 Wie man aus diesem Dokument folgern kann, handelte es sich um einen mehrstufigen Prozess, der das Filmstudio in entscheidender Weise mit einbezieht, denn die „verantwortlichen Vertreter des Filmstudios“ sind stets beteiligt: Zunächst wurde passendes Filmmaterial vom Militärzensor ausgewählt und zum Schnitt freigegeben. Gleichzeitig wurde das gesperrte Material (und dies war offensichtlich keine kleine Menge) als Geheimdokument archiviert. Die aus den genehmigten Aufnahmen erstellte Schnittfassung mitsamt Texten wurde dann der Militärzensur vorgeführt. In Bezug auf das Majdanek-Material bedeutet dies, dass man die Filmleute (Kamera und Schnitt) für die Differenz zwischen den aus Majdanek gelieferten Aufnahmen und den endgültigen Fassungen kaum verantwortlich machen kann.

8.2

Die Montageliste von 1949: „Regisseur“ Setkina und die getilgten ‚jüdischen‘ Namen

8.2

Die Montageliste von 1949

Welche Rolle spielt nun in diesem Prozess Irina Setkina in Moskau? Bisher haben Filmhistoriker der Schnittmeisterin eine große Verantwortung in Bezug auf die (fehlende) Repräsentation des Judenmords zugeschrieben – Karmens Rolle in den Hintergrund rückend. Michalczyk (2014, S. 58) spricht von Setkina und Ford, deren Filme den Aspekt der vollständigen Vernichtung erst nachvollziehbar gemacht hätten: „The two films edited by Irina Setkina and Aleksander Ford lay the groundwork for fully grasping the intent of the Third Reich to exterminate with Zyklon B gas, like unwelcome rodents, Jews, gypsies, political prisoners […].“ Noch weiter geht das Autorenkollektiv Pozner/Sumpf/Voisin (2015, S. 54), wenn sie in ihrem Katalogtext zu dem sowjet-russischen Majdanek-Film schreiben, dass Ford das Zermahlen der Knochen nicht kommentiert habe, während „Setkina auf der Vernichtung der europäischen Intelligenzia insistiere“ („tandis que Setkina insiste sur l’anéantissement de l’intelligentsia européenne“). Vermutlich geht diese Fokussierung auf die Cutterin Setkina auf jene zu Zensurzwecken gemachte „Kopie der Montageliste“ des Jahres 1949 zurück, in der Setkina als „režisser“ bezeichnet wird. Abgesehen davon, dass wir Karmen bzw. Olga Ford als Urheber mitden2010, S. 333–4). Hier kommt u. a. zur Sprache, dass die Montagelisten in standardisierter Form verfasst werden müssen und geheimer Natur sind (überschrieben: „sekretno“). 651 Diese wichtige Quelle wurde in Fomin 2005, S. 215–216, publiziert, bisher jedoch kaum beachtet.

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ken sollten, ist die Annahme einer inhaltlichen Verantwortung Setkinas, die nie in Lublin oder Majdanek war, wenig sinnvoll. Die Bezeichnung „Regisseur“ mag Ende der 1940er Jahre eher politische wie auch rechtliche Hintergründe gehabt haben und weniger mit dem eigentlichen künstlerischen Beitrag zusammenzuhängen. Der Film, der im Imperial War Musuem (IWM) liegt beispielsweise, entspricht weder Karmens Filmplan noch trägt Setkina hierfür eine Verantwortung als mit Karmen konkurrierende Urheberin dieser Version. Es wäre angebrachter, sie als „Regisseurin der Montage“ oder Redakteurin zu bezeichnen, die den Film beim (Um)Schneiden herrschenden Gegebenheiten anpasst – möglicherweise sogar mehrmals, aber jeweils mit einer bereits editierten Vorauswahl arbeitend; unter Umständen kamen bestimmte Aufnahmen nicht einmal auf ihren Schneidetisch. Ich möchte daher vorschlagen, die bisherige Beschreibung der Entstehung der russischsprachigen Version des Majdanek-Films im Kontext einer Nichtübereinstimmung der Intentionen von Karmen und den anderen sowjetischen Kameraleuten neu zu interpretieren. Hier stellt sich nun die Frage: Musste Setkina, im Oktober 1949 als „Regisseur“ angeführt werden, um im Jahr der Anti-Kosmopolitenkampagne den Namen des jüdischen Roman Karmen in den Hintergrund zu drängen? Das Jahr 1949 war für sowjetische Juden schwierig, und dies betraf v. a. Künstler und Kulturschaffende, denen „wurzelloses Weltbürgertum“ vorgeworfen wurde, wie von Yaacov Ro’i beschrieben: The onslaught upon Jewish “cosmopolitans” was given wide publicity. It was initiated in mid-December 1948 at the Twelfth Board Plenum of the Writers Union, where Jewish drama critics were depicted as representatives of a “hostile group” striving to conceal “antipatriotic views.” In late January 1949, a Pravda editorial lashed out against these same critics, emissaries of “rootless cosmopolitanism,” to whom the “sentiment of Soviet national pride was foreign” and who sought flaws in patriotic and politically purposeful works. […] Other papers and journals focused on Jewish critics, literary figures, and intellectuals, reiterating charges of “formalism,” “aestheticism,” “kowtowing” to the West, rejecting the achievements of Soviet and prerevolutionary Russian culture, and being alien to and contemptuous of the Russian nation and its traits.652

Ro’i beschreibt die Gruppe, die hier unter Beschuss stand, als überwiegend jüdisch: The group of people singled out in this assault was homogenous in its ethnic background rather than in its ideas. Although those accused of cosmopolitanism included non-Jews, the national character of the “cosmopolitans” as a group was transparent. More than 70 percent of the people whose names appeared in the press in this context during February and March 1949 were Jews. The campaign emphasized the ethnic Jewishness of most of its victims, their lack of roots in the Soviet Union—into whose cultural life and institutions they had deceitfully insinuated themselves—and their “clannishness” and “tribelike solidarity.”

652 Ro’i (2010), basierend auf Kap. 7 von Yaacov Ro’is Buch Soviet Decision Making in Practice: The USSR and Israel, 1947–1954 (1980). 425

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8 Film-Vorschriften und Zensur

Gerade zu dieser Zeit fand ein bösartiges ‚Enthüllen‘ der Pseudonyme oder der in ‚neutrale‘ oder russische veränderte Namen von Personen mit jüdischen Wurzeln statt; Sheila Fitzpatrick (2005, S. 263ff) beschreibt den implizit antisemitischen Effekt der Veröffentlichung von Namenslisten: „it simply gave a list of names of traitor doctors.“ (ibid., S. 297) Das Ändern der Vor-, Vaters- und Familiennamen war in der UdSSR nach der Oktoberrevolution gang und gäbe gewesen, oft unter Beibehaltung des Anfangsbuchstabens. Aus David Kaufmann wurde in der russischen Schule Denis und später Dziga Vertov, das Patronym Moiseevič wurde zu Michajlovič, Najman wurde zu Novikov russifiziert. Romans Karmens Vater Lazar’ hatte sich bereits vor der Revolution ein Schriftsteller-Pseudonym zugelegt und seinen deutsch klingenden Namen Kor[e]nman653 abgelegt; Roman übernahm das Pseudonym Karmen von seinem früh verstorbenen Vater. Lazar’ K. hatte in Odessa mit Vladimir Žabotinskij / Jabotinsky eine enge Freundschaft gepflegt, und dieser Anhänger von Herzl war kein angeblicher, sondern ein echter Zionist, nationalistisch-revisionistisch ausgerichtet. Žabotinskij war zwar 1940 bereits verstorben, sein Schüler Menachem Begin (1913 Brest-Litowsk – 1992 Tel Aviv) jedoch führte seine Sache im neugegründeten Staat Israel fort.654 Karmen hatte also durchaus Sorge zu tragen, dass er nicht zionistischer Kontakte bezichtigt würde. 1949 setzte die sowjetische Presse in einer antisemitischen Hetze die vermeintlich authentischen Namen in Klammern hinter die dejudaisierten Namen von Kulturschaffenden: When Jewish “cosmopolitans” used non-Jewish-sounding pseudonyms, the original names or patronymics would be provided in parentheses to highlight their ethnic identity. The media similarly made frequent use of Jewish family names as collective nomenclaturesv—the Iuzovskiis and Gurviches, the Borshchagovskiis, frequently rendering the first letter in lower case. Jewish “rootlessness” was underscored by phrases such as “lacking kith or kin” and “passportless vagabonds.” Purportedly, group favoritism had enabled these Jews to attain influential positions in Soviet cultural life, publishing houses, professional magazines, and elite associations. (Ro’i 2010)

653 Roman Karmen wurde als Efraim Korenman in Odessa geboren und daselbst beschnitten (vgl. hierzu diese Angabe, die jedoch den Geburtsnamen Efraim nicht erwähnt: https://www. moma.org/interactives/objectphoto/artists/24463.html9) [4.4.2018] Lazar’s Vater trug den Namen Ios’-Ber Michelevič Korenman (Panasenko 2016, S. 82), dessen Bruder schrieb sich laut GENi Kornman (ohne e): https://www.geni.com/people/Lazar-Karmen/6000000064638071991 [1.2.2019] 654 Begin wurde nach seiner Flucht vor der Wehrmacht in Wilna als „Agent des britischen Imperialismus“ zu acht Jahren Zwangsarbeit im sibirischen Vorkuta verurteilt, kam jedoch 1941 nach der Unterzeichnung des Sikorski-Majskij-Abkommen (30.7.1941) frei, trat den polnischen Streitkräften unter General Anders bei und gelangte 1942 so über den Iran nach Palästina, wo er 1948 seine politische Karriere mit der Gründung der Cherut-Partei begann. Zahlreiche Zionisten waren im Russischen Reich geboren, so etwa stammte David Ben Gurion aus Płońsk (Kongresspolen).

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Üblich war die Diffamierung von Juden als „vaterlandsloser Gesellen“. Trafen mehrere Personen (vermuteter) jüdischer Abstammung aufeinander, liefen sie Gefahr einer anti-russischen Konspiration oder zionistischer Sympathien bezichtigt zu werden. Damit die Majdanek-Filme nicht als „vaterlandslose“ Machwerke beschimpft wurden, war es wichtig, dass ihre Autoren nicht als „Korenmann“, „Schneiderow“ & „Stillmann“ entlarvt werden konnten. Ich hatte schon erwähnt, dass Zeitungsredakteure ohne Karmens Zustimmung seinen fremdländisch klingenden Namen in das russische Karpov geändert hatten. Die Indizien und der Zeitpunkt legen nahe, dass eben zu dieser Zeit „Regisseur Irina Setkina“ als schützender Deckname in den Vordergrund rückte, ebenso „Sergej Potockij“ für „David Štil’man“. Ende der 1940er Jahre blieb es jedoch nicht bei rein verbalen Verleumdungen und Angriffen. Es kam auch zu Kündigungen und Parteiausschlüssen: By mid-February 1949, the campaign had turned into a large-scale incitement and purge operation. The central and local media reported numerous party meetings at which secretaries of professional aktivs (leadership groups) and cells condemned their peers for manifestations of cosmopolitanism in literature, theater, music, architecture, the natural sciences, higher education, and a host of other fields. Frequent and extensive personnel changes in institutions followed; the accused were removed from their posts and professional organizations and expelled from the party, and their works were no longer published. (ibid.)

Auch wenn im März 1949 die Kampagne aufgrund des internationalen Friedenskongresses nicht offen geführt werden konnte, blieb das antisemitische Fundament bestehen, das 1953 in der Paranoia eines angeblichen Komplotts jüdischer Ärzte gegen das Politbüro kulminierte und in dem auch der Name des inzwischen verstorbenen Politzensors der Roten Armee Ščerbakov eine Rolle spielte. Ro’i (2010) führt Stalins Einsatz antisemitischer Ideen in erster Linie auf seinen schlechten Gesundheitszustand, die Gründung Israels und die internationale Sympathie für den jungen Staat zurück. Eine weitere Rolle soll der Umstand gespielt haben, dass sich Stalins Wahnvorstellungen auf die jüdischen Ehefrauen seiner möglichen Nachfolger Molotov und Vorošilov richtete.655

655 „The reasons for Stalin’s actions are traceable to circumstances at the end of World War II: the onset of the cold war; Stalin’s failing physical condition; his desire to prevent the rise of any of his lieutenants to too dominant a role, particularly as undisputed heir apparent; and a revival of international Jewish solidarity associated with the founding of the State of Israel. Soon after the victory over Hitler, Stalin suffered some kind of physical collapse, which necessitated long periods of recovery in his Crimean residence. The exact nature of Stalin’s physical ailment is not known. This left Molotov and other members of the Politburo in charge of the daily affairs of the Soviet state. Western media speculated that Molotov would soon succeed Stalin. Molotov gave reason to believe that he favored closer relations with the Western powers as well as a relaxation of censorship. Stalin criticized him bitterly for this, calling both him and Politburo member Anastas Mikoyan in December 1952 subversive. In parallel, the demonstrations at Moscow’s Main Synagogue in 1948 welcoming Golda Meir (Meyerson), Israel’s first envoy to the USSR, caused Stalin to recognize the power of Jewish nationalist sentiment. Furthermore, 427

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Der Friedenskongress mag auch den Verlauf der Karriere von D. Štil’man beeinflußt haben. Hier kann man die Erinnerungen seines in den USA lebenden Sohn Artur an die Stalinzeit heranziehen, da sie helfen, die Unterschlagungen von jüdischen Namen zu verstehen. Die beschriebene Praxis der Manipulation der Namen im Vorspann im Fall von David Štil’man hat heuristische Bedeutung für die Rekonstruktion der Filmografie, da bei diesem Musiker jüdischer Herkunft ein typischer Fall anonymer Arbeit und der Manipulation von Stablisten in den 1940er Jahren dokumentiert ist. Štil’man arbeitete seit Beginn des sowjetischen Tonfilms für das Kino und war Mitglied der KP.656 Nach dem Krieg war er eine Zielscheibe antisemitischer Hetze, die jedoch 1949 – das heißt in dem Jahr, in dem sein Name im Kontext des Majdanek-Films auftaucht – vorübergehend ausgesetzt wurde. Gemäß den Erinnerungen seines Sohnes (A. Štil’man 2015) hat David Štil’man – da der eigene Name öffentlich nicht tragbar war – anonym und in Kooperation mit anderen Musikern gearbeitet, um den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen.657 So wird etwa beschrieben, wie er zusammen mit dem erwähnten A. Rojtman „im Tandem“ Filmmusik, darunter auch für einen „bekannten Dokumentarfilm-Regisseur“, arrangiert hätte.658 1948 wurden sowohl Štil’man als auch Rojtman und ein weiterer jüdischer Dirigenten-Kollege namens Arnol’d Gamburg im Kontext der Antikosmopoliten-Kampagne die Verwendung „ideenloser Musik westlicher Komponisten in Filmen, die einen ernsthaften ideologischen Zugang erfordert hätten“ vorgeworfen.659 Trotz dieser Rüge hatte Štil’man many prominent leaders, among them Viacheslav Molotov and Kliment Voroshilov, had Jewish wives, frequently with relatives in the United States or Israel.“ (Ro’i 2010) 656 „Он, вместе с Гамбургом начинал свою деятельность на заре звукового кинематографа в СССР, а Ройтман начал свою работу в кино примерно с 1944 года.“ (Štil’man 2015) 657 „всё было хорошо до выяснения его фамилии…“ Schwarzarbeit am Dirigentenpult des „Allsowjetischen Radio-Orchesters für Volksinstrumente“ in den 1950ern war nur ohne Namensnennung möglich: „Разрешение было дано, но без упоминания в передаче имени дирижёра.“ (Štil’man 2015) 658 „После войны отец вместе с Ройтманом делали вдвоём музыкальное оформление для очень многих фильмов – они совместно подбирали к ним музыку, и дирижировали по очереди, чтобы каждый получил свою равную долю. Работали они быстро и режиссёры были очень довольны работой их ‚тандема‘. Но, конечно, часто они работали и порознь. Начиналась работа над фильмом с просмотра отснятого материала – в присутствии режиссёра, который излагал предположительный, ещё не написанный текст, а также свою концепцию материала, настроения данного эпизода, чтобы дирижёр и он же музыкальный оформитель имел представление о замысле режиссёра и характере необходимой музыки для этих целей.“ (Štil’man 2015) Der Name Gamburg findet sich auch in den Filmografien polnisch-sowjetischer Produktionen, die 1944 in der UdSSR entstanden sind (im Anhang von Jewsiewicki 1972). 659 „Гамбург, как и Арнольд Савельевич Ройтман, не был в штате оркестра Кинематографии, но оба достаточно много работали в озвучивании фильмов с рядом композиторов. Поэтому, несмотря на то, что они не были в штате, во время развернувшейся компании по борьбе с ‚космополитизмом‘ в 1948 году всем трём дирижёрам был вынесен ‚строгий выговор‘ за использование ‚безыдейной‘ музыки западных композиторов в фильмах, требующих серьёзного идеологического подхода. Весной 1949 года всем троим выговор

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als Dirigent des Filmorchesters 1949–1950 eine Anstellung, wurde jedoch im September 1950 wieder entlassen. Angesichts dieser antisemitischen Kampagne, die sich gerade auf ‚jüdische Namen‘ richtete, wäre das Tilgen des Namens Karmen [enttarnbar als Pseudonym für Korenman] in Urheberfunktion im Jahr 1949 durch die Produzenten mehr als wahrscheinlich. Daher möchte ich vorschlagen, dass der Name Roman Karmen als Urheber der – ansonsten mit keinem Autorennamen versehenen – russischen Variante wiederhergestellt wird, wie bereits in 1.4.2. angedeutet.660 Während der von Liebman und Hicks angenommene, bereits 1944 einsetzende Antisemitismus, der sich schon beim Drehen durchgesetzt habe, kaum nachzuweisen ist, sieht die Situation vier-fünf Jahre später fürwahr anders aus: 1949 wird im Katalog der Name Karmen durch den Namen Setkina ersetzt, ähnlich wie dies beim Katyn’-Film der Fall gewesen zu sein scheint, bei dem die Namen I. Posel’skij, W. Forbert und A. Levitan selten erwähnt werden. Das Umwidmen von Verantwortung für propagandistisch exponierte Produktionen wie die über Katyn’, Majdanek und Auschwitz geschah offensichtlich im Moskauer Dokumentarfilmstudio, wo man sich russische Namen von Schnittmeisterinnen auswählte, denen diese Urheberschaft zugeschrieben werden konnte: Setkina und Svilova (beide hatten mit Material und Anweisungen von Karmen gearbeitet). Dieses für 1949 in sowjetischen Kulturinstitutionen typische Tarnen durch russische Namen diente wohl in erster Linie dem Schutz des Studios (und vielleicht auch Karmens), ist jedoch nicht auf 1944–45 rückprojizierbar. Wenn wir davon ausgehen, dass die im IWM vorliegende Fassung von 1949 ist, dann bleibt Karmen im Vorspann zwar erhalten, aber sein Name steht an seltsamer Position – quasi eingeklemmt zwischen zwei Russen, wobei der zweite einen deutsch und entsprechend für russische Ohren auch potentiell jüdisch klingenden Namen hat, auch wenn er nicht jüdischer Herkunft ist. Es mag Štatlands Paranoia in Bezug auf den eigenen wenig slawischen Familiennamen gewesen sein, die ihn dazu bewegte, vermeiden zu wollen, dass Karmen große Mengen von „naturalistischen“ Aufnahmen der Spuren des Judenmords macht. Štatland hatte 1949 Sorge zu tragen, dass sein Name nicht zu Stadtland wurde – gemeinsam mit dem Übermaß an enthüllbaren, ‚fremd‘ klingenden Namen der am Film Beteiligten: Karmen-Korenman, Ford-Lifšic, ­Šnejderov-Schneider, Štil’man-Stillman[n] im Vorspann, seien sie nun deutsch oder jüdisch. So konnte es zu einem Wegfall von Namen (Šnejderov) kommen oder einer Ersetzung dort, wo es möglich war: Potockij statt Štil’man.661

неожиданно сняли. […] Так жизнь и шла до самого сентября 1950 года, когда моего отца всё-таки ‚вычистили‘ из кинематографии.“ (Štil’man 2015) 660 In der 1971 verfassten ost-deutschen Filmografie wird Karmen bei Majdanek (1944) mit „KA, zus. mit anderen“ angeführt (KA steht für Kamera), für Sud narodov: „DB, KA, RE“ (ohne Svilova), auf S. 11 wird sie jedoch erwähnt (Staatliches Filmarchiv der DDR 1971, S. 6 und 11). 661 Dies führte zu einer Anonymisierung der Autorschaft des Films, die jedoch aufgrund ihrer Ästhetik und Poetik auf Karmen bzw. die Fords und nicht auf die sich durch keine Besonderheiten auszeichnende Štatland-Kameraarbeit hindeutete. 429

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Doch all diese Mühe war vergeblich – denn gemeinsam mit Karmen und anderen Kameraveteranen kam Štatland 1951 im Rahmen der „Kampagne gegen Kosmopolitismus und Katzbuckeln vor dem Westen“ auch auf die schwarze Liste (vgl. Dokladnaja zapiska an M. Suslov vom 18.4.51, veröffentlicht in Kremlevskij kinoteatr 2005 als Dokument № 310): Das Ministerium für Staatssicherheit ist seinerseits verpflichtet, das Ministerium für Kinematographie spätestens 7–10 Tage vor den Dreharbeiten über die Ergebnisse der Prüfung von Filmarbeitern zu unterrichten und künftig rechtzeitig über alle Änderungen in der Zusammensetzung der Arbeiter zu informieren, die zugelassen werden dürfen. (RGASPI f. 17, op. 133, ed. chr. 338, l. 29)

Štatland wurde also 1951 von den „prestigeträchtigen Filmaufnahmen der Regierung“ ferngehalten. Der Kommentar in Kremlevskij kinoteatr (2005) erwähnt seinen Namen in einer Liste derer, wer unter dieser Zurücksetzung zu leiden hatte: Im Rahmen der Kampagne gegen Kosmopolitismus und der Katzbuckelei [gegenüber dem Westen] wurden die besten sowjetischen Dokumentarfilmer von prestigeträchtigen Filmaufnahmen der Regierung ausgeschlossen. Bis 1951 arbeiteten sie in Krisenherden (Spanien, China), an den Fronten des Vaterländischen Krieges, filmten die Siegesparade und den Koreakrieg. S. A. Semenov war viermal Gewinner des Stalin-Preises, G. M. Bobrov dreimal, M. M. Glider, R. L. Karmen und V. A. Štatland zweimal. V. N. Beljaev wurde fünf Mal mit dem Stalin-Preis ausgezeichnet. Alle waren Mitglieder der KPdSU(b).662

Viktor Štatland erscheint hier Seite an Seite mit seinem Rivalen Roman Karmen. Doch zurück zum Sommer 1944, als jener zugespitzte sowjetische Antisemitismus, wie er Ende der 1940er auftrat, noch nicht vorliegt, sondern eine keineswegs eindeutige politische Situation in Osteuropa. 1944 behandelt die sowjetische Führung das Thema des Genozids an den Juden im Dokumentarfilm und die damit verbundene internationale Unterstützung durch Juden im Ausland nicht systematisch oder gar ideologisch, sondern verfährt taktisch und trifft utilitaristische ad-hoc-Entscheidungen. Das anfänglich große Interesse an einer sowjetischen Einflussnahme auf den entstehenden jüdischen Staat ist ein gutes Beispiel hierfür. Erst ab Ende 1948 entwickelt sich in der UdSSR eine offene und in den gesamten Ostblock exportierbare antisemitische und anti-israelische Politik, unter der übrigens nicht nur der Sowjetbürger Karmen leidet, sondern deren Vorläufer auch Ford zu schaffen machten, in jener Volksrepublik Polen, deren sowjetische Ausrichtung er selbst gefördert hatte. Auch hier fraß die (importierte) Revolution ihre Kinder: 1947 verlor Ford seinen Leitungsposten in Film Polski (Białous 2015, S. 105).

662 Glider war einer der Kameraleute, die 1939 in Birobidžan gefilmt haben, gemeinsam mit der später gefallenen Kamerafrau Ottilija Rejzman: Uborka kartofelja v odnom iz chozjajstv Birobidžana / Kartoffelernte in einem der Landwirstchaftsbetriebe von Birobidžan. (Mislavskij 2013, S. 170).

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Wenn „Setkina“ ein Stand-in für Karmen war, bedeutet dies, dass wir unter Umständen eine komplexere, und bisher unterdrückte Zensurgeschichte vorliegen haben, eine, die 1949 Setkinas Umschnitt des Karmen-Films erforderte? Jolanta Leman-Zajiček (2003, S. 16ff) gab ja den wichtigen Hinweis, dass in der UdSSR zwei Filme aus dem von Ford und Karmen aufgenommenen Material gemacht wurden, die verschiedene Titel aufweisen sollen. Soweit ich sehen kann, stimmt die IWM-Fassung mit der 1949er Schnittliste (auch bezeichnet als „Drehbuch“) überein. Gab es also noch eine weitere, näher an Ford und Karmens Intentionen liegende ‚Urfassung‘, die ab 1944/5 im Umlauf war, jedoch heute nicht mehr nachgewiesen ist? Unklar ist auch, ob sie russisch oder polnisch war. Laut FINA-Katalogkarte wurde die polnische Nitrat-Fassung Ende der 1950er verbrannt, nachdem sie auf Azetat umkopiert worden war – ob hier eine Redaktion stattfand, ist unklar. Es könnte durchaus sein, dass hier die originale polnische Schnittversion von 1944 ausrangiert wurde. Ein weiterer Hinweis auf diesen Umstand findet sich in der Beschreibung der Outtakes in einem undatierten Dokument der polnischen Filmoteka narodowa (FINA). Ich habe sie bereits erwähnt: In der Beschreibung des Inhalts der „Filmdose 31“ wird eine Aufschrift „AAV-2380 Anna Weissbarth, Prag XII 1434“ dokumentiert, begleitet von Koffern.663 Könnte sie aus der in der Globocnik-Villa angefertigten Urversion des Jahres 1944 stammen? Da die Weissbarth-Einstellungen offensichtlich in Polen oder aber der polnischen Version in der Nachkriegszeit noch vorlagen, jedoch in keiner der heutigen im Umlauf befindlichen Fassungen sind, fielen sie offensichtlich einer späteren Redaktion (Zensur) zum Opfer und befanden oder befinden sich bis heute noch in einem Archiv. Außerdem verzeichnet die Filmoteka Narodowa einen im Jahr 1964 erfolgten Verkauf einer „gekürzten russischen Fassung“ wie auch von Outtakes an die UdSSR. Offensichtlich kam es mehrmals zu Kontakten zwischen den Archiven bezüglich dieses Materials. Wir hatten zu Anfang festgehalten, dass im russischen RGAFKD-Archiv in Krasnogorsk zwei polnischsprachige Fassungen liegen, darunter eine 735,5 m lange Version mit dem polnischen Titel Majdanek – cmentarzysko Europy. An diesem Punkt kann weitere Forschung ansetzen, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass in Krasnogorsk abweichende und sogar ältere Fassungen oder zumindest deren Bestandteile vorliegen könnten.664 Hier könnte unter Umständen sogar das aus den Filmen herausgeschnittene Kofferfragment zu finden sein, mit Rosa Stern und/oder Anna Weissbarth. Wenn dem tatsächlich so wäre, wäre eine Rekonstruktion der ausgeschnittenen genuinen Namen jüdischer Opfer und eines klareren Bilds der ursprünglichen Intentionen denkbar. Angesichts der oben angeführten Zensur-Regeln kann man folgende Formulierung von Hicks korrigieren: „The fact that these people’s names were recorded and that the camera663 „Napis na kamiennej płycie AAV-2380 Anna Weissbath [sic], Prag XII 1434“, also wörtlich eine „Aufschrift auf einer Steinplatte“. Es handelt sich um eine spätere Beschreibung, die vom polnischen Archiv gemacht wurde. Auch die in der Filmoteka Narodowa verwahrte Schnittliste ist aus einer späteren Zeit, denn in ihr ist von Auschwitz die Rede. 664 Auch die im Museum Majdanek vorliegende Dokumentation zu dem Museumsfilm bzw. verbleibenden Filmmaterialien könnte vor Ort untersucht wurden. 431

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men took many images that unambiguously identify the victims as Jewish is a testament to the fluid situation and lack of clear guidelines warning filmmakers from referring to the Nazis’ murder of the Jews.“ (Hicks 2012, S. 171) Kodifizierte „Warnungen“ vor Aufnahmen mit Hinweisen auf den Judenmord sind ausgeschlossen – der entscheidende Punkt, an dem das jüdische Thema gefiltert wurde, war nicht die Motivwahl des Kameramanns an der Front, sondern die Zensur, die überwiegend in Moskau durchgeführt wurde. Ein Beispiel für eine explizite Dokumentation des Mords an den Juden in der Ukraine ist die bereits erwähnte Montageliste vom September 1943: Es handelt sich um ein Dokument vom später in Lublin aktiven Evgenij Efimov, der in Char’kov ein jüdisches Massengrab mit 16.000 Opfern filmte und die Montageliste so überschrieb: „Deutsche Gräueltaten, die an der jüdischen Bevölkerung von Char’kov verübt worden sind“ („Немецкие зверства над мирным еврейским населением Гор. Харькова“), darunter steht: „Für den General-Major Nikolaj Selivanovskij“. Dies war kein geringerer als der Stellvertreter von Viktor Abakumov, der das SMERŠ leitete.665 Solche Aufnahmen dienten auch geheimdienstlichen Zwecken. Hicks ist jedoch Recht zu geben, wenn er von einer sich „im Fluss befindlichen Situation“ spricht – doch bezieht sich diese nicht auf das Drehen selbst, sondern auf die Bearbeitung der Aufnahmen, wie etwa durch Irina Setkina in Moskau: Setkina was perceived as a reliable editor whose work was consistent if unremarkable, a member of the newsreel studio’s ‘old guard’ who would thus tend to standardize the content to a certain Soviet stylistic and ideological norm within generic boundaries of the two-reel special-release newsreel. Indeed, she had edited a number of films depicting Nazi atrocities, from the Soviet film of Katyn (discussed later) to that of Kerch.666

Hicks scheint hier andeuten zu wollen, dass Setkinas „konsistente wenn auch wenig bemerkenswerte“ Schnittarbeit mit der Auslassung der jüdischen Thematik in Verbindung

665 Fomin 2018, S. 348. Zu General-Major Nikolaj Selivanovskij (1901–97) vgl. https://www.sb.by/ articles/lichnoe-delo-chekista-selivanovskogo.html [1.1.2019]. Viktor Abakumov (1908–1954 durch Exekution), der im Juli 1950 eine Verhaftung der Dichterin Anna Achmatova forderte, hatte Repressionen gegen zahlreiche Juden initiiert (Michoel’s, Fefer und Lozovskij fielen ihnen zum Opfer). Seine Verfolgung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees prädestinierte ihn dazu, sich mit dem sog. Ärztekomplott zu befassen, allerdings wurde er wegen zögerlichen Umgangs seinerseits im Juli 1951 verhaftet und des Landesverrats sowie einer zionistischen Verschwörung bezichtigt. Auch Selivanovskij wurde im November 1951 verhaftet. Es hat sich ein Telegramm vom 8.11.1944 von Abakumov und L. Canava an Berija erhalten, in dem über die Verhaftung von Mitgliedern der AK und polnischer Untergrundorganisationen berichtet wird (zitiert in Kołakowski 2003, S. 208). 666 Hicks 2012, S. 159. In Bezug auf Katyn’ erinnere ich daran, dass die Aussagekraft des Namens „Setkina“, der im den jeweiligen politischen Erfordernissen angepasst Vorspann fehlt, begrenzt ist.

8.2 Die Montageliste von 1949

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steht. Irina Setkina als Vertreterin der „old guard“ beträfe auch ein Befolgen der Kinoglaz-Prinzipien, wie in Kap. 3.1. bereits erwähnt.667 Gesichert scheint lediglich, dass die Schnittmeisterin Setkina eine Majdanek-Fassung im Jahr 1949 (um)schnitt – alle anderen Daten sind Konjektur. Dies bedeutet zugleich, dass die der Majdanek-Forschung der letzten Jahre zugrunde gelegte russische Version, die aufgrund der Schnittliste vom Oktober 1949 als Setkina-Version bezeichnet wurde, erst aus dem Jahr 1949 stammt.668 Aufgrund des umfangreichens nicht-verwendeten Materials bzw. der Outtakes muss man annehmen, dass die Setkina-Version von 1949 mit der im Januar 1945 in Moskau gezeigten Fassung nicht übereinstimmt. Dies wird indirekt durch die Aussage von Kotov (1983, S. 271) bestätigt, er habe erst nach Kriegsende für Karmen, der ihn zur Kooperation aufforderte, gearbeitet; er beschreibt Karmens besondere Art und Weise, Filmaufnahmen aus verschiedenen Kamerapositionen zu machen, wie er es erstmals in Nürnberg erlebt habe. Zudem wird der Majdanek-Film nicht als eines von Kotovs Werken als Tonmeister auf der Webseite des CSDF angeführt (sondern nur im RGAFKD-Katalog). Wenn Kotov erst später am Umschnitt vom Majdanek-Film von 1945 beteiligt war, dann haben wir es tatsächlich mit zwei russischsprachigen Versionen 667 In Vertovs Tagebuch von 1934 erwähnt er sie als eine der Dokumentarfilmpionierinnen – gemeinsam mit seiner Frau und seinem Bruder: „‘Not artistic’ – therefore ‘the way open to bootlickers.’ Does anyone think Kopalin, Svilova, Yerofeyev, Setkina, Kaufman, Belyakov, Stepanova, and Raizman are satisfied with what they’re doing? Kopalin gets an A+ .. for his work but won’t show it to me. Apparently he himself is not satisfied. Kaufman’s in the Ukraine shooting a script, doing senseless, useless work. He suffers. He’s dissatisfied. Svilova, the most enthusiastic of enthusiasts, flouted on the fifteenth anniversary of Soviet cinema, works from morn till late at night at Potylikha, never sure of tomorrow, never knowing whether her work will be in vain.“ (Vertov 1983, S. 191). Auch Karmens Beschreibung der „Gruppe von Enthusiasten“ des Dokumentarfilmstudios in der Moskauer Brjanskij-Gasse enthält ihren Namen: „Молодость Центральной студии документальных фильмов – это невзрачный с виду домик в Брянском переулке близ нынешнего Киевского вокзала, где была киностудия „Культурфильм“. Сектор кинохроники этой студии занимал на втором этаже всего лишь две комнаты. Со временем фабрикой кинохроники стал весь дом. […] Начинала группа энтузиастов – операторов, режиссеров, организаторов производства – Виктор Иосилевич, Ирина Сеткина, Сергей Гуров, Николай Кармазинский, Илья Копалин, Самуил Бубрик, Михаил Ошурков, Владимир Ешурин, Сергей Гусев, Алексей Лебедев, Александр Медведкин, Борис Макасеев, Михаил Бессмертный, Роман Григорьев, Александр Щекутьев. Студия шаг за шагом выходила из кустарных форм производства, обзаводилась кое-какой аппаратурой. На съемки зачастую ездили на трамвае, на извозчике, пленку проявляли вручную, наматывая ее в темном подвале на деревянные рамы.“ (Karmen 2017, S. 7) 668 Die Meterzahlen weisen in eine ähnliche Richtung, insoweit in Krasnogorsk eine Version 490 m lang ist, d. h. 17:55 (Musik laut Katalog: Potockij), und die kürzere 417,6 m, d. h. 15:16 (Musik laut Katalog: Štil’man). Die polnische 570 m-Version wurde von Goergen (2015) mit 20:50 bemessen (570 m stand auch in der mit dem 1.11.1944 datierten Angabe und findet sich in der Filmografie in Jewsiewicki 1972, S. 222, der „S. Potocki“ als Komponisten anführt), während die deutschsprachige Version mit ihren 436 Metern (15:56 Minuten) am ehesten der Länge der IWM-Version (16 Minuten) ähnelt. Wenn wir davon ausgehen, dass die in den USA gezeigte Version 14 Minuten betrug, liegt noch eine weitere kurze Schnittversion vor (383 m). 433

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8 Film-Vorschriften und Zensur

mit verschiedenen Titeln (Leman-Zajiček 2003, S. 16) zu tun, Majdanek. Kinodokumenty o čudoviščnych zlodejanijach nemcev v lagere uničtoženija na Majdaneke v gorode Lublin und einfach nur Majdanek. So würde sich auch das Katalog-Chaos erklären, das auf einer Vermischung der filmografischen Daten von 1945 und 1949 beruht, welche die ‚Existenz‘ der Urfassung von 1945 verdunkelt. Ich möchte als in Deutschland Forschende an diesem Punkt stehen bleiben, da ich der Auffassung bin, dass die jeweilige Erschließung und Provenienzforschung nicht meine Aufgabe ist und auch meine Kompetenzen überschreitet. Ich sehe jedoch mit Spannung einer russisch-polnischen Bestandsaufnahme Korrektur meiner Hypothesen entgegen. Hier wäre ein genauer Abgleich der Kopien und ihrer späteren Versionen, Montage- bzw. Schnittlisten bzw. weiterer Dokumentation vonnöten, die von polnischen russischen Forschern und eventuell auch britischen Forschern in den jeweiligen Archiven (in Krasnogorsk, Warschau, IWM-London669) geleistet werden könnten.

8.3

Der mehrstufige Zensurprozess im Allgemeinen und im Besonderen

8.3

Der mehrstufige Zensurprozess im Allgemeinen und im Besonderen

Man kann jedoch bereits jetzt zwischen dem Dokumentieren der farnichtung und ihrem (Nicht)Eingang in die fertigen Filmfassungen differenzieren. Dass dies nicht immer unterschieden wurde, kann man aus dem Pressetext zur Pariser Ausstellung Filmer la guerre: les Soviétiques face à la Shoah (1941–1946) von 2015 herauslesen, der dem Gegensatz zwischen der Front und dem Moskauer Studio mit seinen Zensurinstanzen keine Beachtung schenkt: Durant la guerre, des équipes d’opérateurs soviétiques ont documenté l’atroce diversité des crimes de masse nazis à l’Est. Ils ont capté l’ampleur du massacre spécifique des Juifs, sans rendre compte du projet génocidaire – ni à Babi Yar, ni à Klooga, ni dans les camps d’extermination en Pologne. Pourtant connue et prouvée, la Shoah n’avait pas sa place dans le système de propagande de guerre soviétique – d’ailleurs à Nuremberg, le film américain n’a pas non plus insisté sur ce point. (https://www.aphg.fr/IMG/pdf/dp_filmer_la_guerre.pdf; S. 22; 15.2.2019)

Korrekt ist jedoch, dass „die Shoah keinen Platz im System der sowjetischen Kriegspropaganda“ fand. Wenn man sich die lebendige Diskussion jüdisch-polnischer Beziehungen und um den Antisemitismus in Polen ab November 1944 vergegenwärtigt (s. u.), erstaunt v. a. das Fehlen der Erwähnung der jüdischen Opfer in der polnischen Filmfassung. Hierfür 669 Gladstone (2005, S. 51–52) schreibt, Bernstein hätte zu Beginn von 1945 von den „Russian authorities“ erfahren, sie würden Filme mit „German atrocities“ vorbereiten und hätte Nolbandov beauftragt, die im Foreign Office aufliegenden Lavendel zu sichten. Als das Filmprojekt German Concentration Camps Factual Survey abgebrochen wurde, ist vermutlich auch das hierfür aufbereitete Majdanek-Material in den 1950ern unter „Serial F3080“ im IWM deponiert worden (mehr dazu in Kap. 9.10).

8.3 Der mehrstufige Zensurprozess im Allgemeinen und im Besonderen

435

gäbe es verschiedene Erklärungen: Ford wurde auf seiner Moskaureise im Oktober 1944 tatsächlich die sowjetische Linie in kruder Form aufgezwungen, wobei man hier auch eine Differenz seiner Auffassung zur Darstellung des Genozids, wie sie von Olga Ford zum einen und Bossak zum anderen angelegt worden war, annehmen kann. Die private Entfremdung von seiner Ehefrau 1944 mag auch eine Rolle gespielt haben – sie hätte es ihm psychologisch erleichtert, sich von Olgas Regiearbeit zu distanzieren. Angesichts des sowjetischen Lebensabschnitts seiner damaligen Geliebten Janina, die mit Hilfe eines einem Gefängnisdirektor gegebenen Liebesversprechens aus sowjetischer Haft entkommen sein soll, kann man vermuten, dass Janina im Hinblick auf Ford eine Aufgabe hatte, ähnlich wie der auf Elinor angesetzte Kałużyński – diese Fälle des Einbrechens des (scheinbar) Privaten in das Berufliche erweisen sich im Kontext sowjetischer Geheimdienstpraktiken der Nachkriegszeit geradezu als stereotyp.670 Aufgrund von Janinas Schwangerschaft bzw. der Geburt von Aleksander Ford Jr. in einem Feldspital war Aleksander Ford Sr. leichter unter Druck zu setzen. Inwieweit dies bei der Bearbeitung des Majdanek-Films in Moskau eine Rolle gespielt hat, ist unklar. Gegen Fords Verantwortung für eine Ausmerzung jüdischer Motive in der Lubliner Rohfassung spräche, dass die Diskussion um die Vernichtung der Juden in der polnischen Presse im Herbst 1944 frei geführt wurde. Klaus-Peter Friedrich (2002, S. 381) vermerkt, dass etwa Borejszas PKWN-Zeitung Rzeczpospolita, die Ende 1944 noch in Moskau in der Izvestija-Druckerei gedruckt (und zensiert) wurde, das Thema nicht umging bzw. die Gemeinsamkeit von Polen und Juden betonte. Dass das Ausblenden des Genozids keine von Anfang an ausgemachte Sache war, wurde an den Verwendungsgeschichten der Filmaufnahmen671 und den Karrieren der Kameraleute gezeigt. Ähnliches bezeugt Hicks’ (2012, S. 171) Beschreibung der im September 1944 gemachten Aufnahmen für den Film Klooga – lager’ smerti / Das Todeslager Klooga, die Detailaufnahmen der Kleidung Toter mit dem Davidstern enthielten, auf den Mord an den Juden hinweisend (vgl. Abbildung 2.3). Hicks bezeichnet die Aufnahme des Davidsterns auf einer Hose eines Toten, die sich in den Nürnberg vorgeführten sowjetischen Filmdokumenten über die von den deutsch-faschistischen Invasoren verübten Gräueltaten (1945/46) findet, 670 In Anbetracht der konsequenten Pflege der Ineinssetzung von Olga und Janina sowohl auf IMDb, zahlreichen Artikeln wie auch auf der polnischen Wikipedia kann man vermuten, dass es ein Interesse an der Vermischung der Identitäten von Olga und Janina gab und gibt (es ist das Verdienst von M. Danielewicz 2019, S. 258, dieser Desinformation ein Ende bereitet zu haben – in die digitale Welt ist die Korrektur noch nicht vorgedrungen). Man muss fast vermuten, dass Janinas Beziehung zu A. Ford nicht rein romantischer Natur war, sondern dass ihr abenteuerlicher Weg aus der Haft in Sibirien nach Sel’ce zu Ford kein Zufall war; darauf weist auch die Geschichte der Trauung durch den katholischen Kaplan Kubsz hin, der als Zeuge in Katyn’ die Lüge bezüglich der deutschen Täter bekräftigte – ihr Sohn Aleksandr Jr. wurde übrigens in der evangelischen Sektion des Łódźer Friedhofs bestattet. 671 Man kann nicht ausschließen, dass alle Fassungen, die wir heute vorliegen haben, in den späten 1940 bzw. -50ern stärker zensiert wurden und mehr verändert wurde, als bisher angenommen, so dass kein ursprünglichen Versionen mehr zugänglich sind. 435

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8 Film-Vorschriften und Zensur

als „outtake of a Jewish victim’s clothing“ (Hicks 2012, S. 170). Streng genommen ist der Davidstern jedoch kein „outtake“ – im Gegensatz zum Majdanek-Film, wo aufgrund der Arbeit der Fords, L. Nekrasova und Perski in der Globocnik-Villa von einer Rohfassung und daher Tageskopien („rushes“) und „outtakes“ gesprochen werden kann, gab es bei den gewöhnlichen Frontaufnahmen keine entwickelten Tagesmuster, die die Kameraleute zu Gesicht bekommen hätten. Schematisch kann man den Aufnahme-, Produktions- und Zensurprozess, dem die Front-Aufnahmen gewöhnlich unterworfen wurden, so skizzieren (Unterstreichungen bezeichnen Zensiertes, Sperrungen bzw. Outtakes, meist archiviert und erhalten): Kameraleute vor Ort filmen und erstellen Montagelisten ⇓ Filmmaterial I mit Montagelisten geht versiegelt ins „Zentrum“ ⇓ MILITÄRZENSOR sperrt Front-Material ⇒ Filmmaterial IIa (Archivierung als Geheimdokument) und zensiert die Montagelisten Filmmaterial IIb ⇓ (Politische) ZENSUR in der PRODUKTION / Studio672 ⇒ Filmmaterial IIIa (Archivierung als Geheimdokument) Film(material) IIIb ⇓ Cutterin montiert EndfassungFilm im CSDF ⇓ Abnahme durch MILITÄRZENSOR [⇒ archiviertes Filmmaterial IVa] öffentliche Aufführung Film IVb Wendet man die offiziellen Instruktionen auf das in Majdanek aufgenommene, jedoch nicht in den uns vorliegenden Fassungen verwendete Material an, gelangt man zu zwei Schlüssen. Erstens, dass der Rundbrief-Punkt „materielle Beweise (veščestvennye svidelst’va)“ indirekt darüber Aufschluss gibt, dass visuelle Beweise der Aussonderung der Juden nicht zu den a priori verbotenen gehören konnten – sonst hätten die Kameraleute Aufnahmen, die auf die Identität der Opfer (etwa durch den Stern auf der Kleidung) hinweisen, ohne weitere Aufforderung (von selbst) vermieden. Das aber durften sie gerade nicht tun, denn sie waren ja explizit angewiesen, „materielle Beweise deutscher Verhöhnung“ sowjetischer Bürger (Nummern, Abzeichen und Armbinden) zu dokumentieren – nicht immer war bei 672 Vgl. den Punkt 5 der zitierten „Instruktivnaja zapiska otdela voennoj cenzury predsedatelju komiteta po delam kinematografii I. G. Bol’šakova o porjadke prosmotra voennoj censuroj materialov kinochroniki“ (27.3.1944).

8.3 Der mehrstufige Zensurprozess im Allgemeinen und im Besonderen

437

den Opfern ersichtlich, wer sowjetischer Bürger war und wer nicht. Der von den Besatzern verpflichtend gemachte Davidstern, der an der Kleidung angebracht werden musste und verschiedene Formen aufweisen konnte (auf einer Armbinde, als gelber Stern auf der Brust, als aufgedrucktes Zeichen mit einer rechts davon stehenden Nummer), gehörte einwandfrei zu diesen „materiellen Beweisen“ und war noch im Filmmaterial IIa, IIIa und, falls etwas im letzten Zensurgang herausfiel, IVa, vorhanden, d. h. wurde archiviert. Wenn die sowjetischen Kameraleute diese Kleidung 1944–45 filmten, handelt sich also weder um eine hehre Suche nach einer dokumentarischen Wahrheit, noch um ein persönliches Interesse oder eine Betroffenheit aufgrund ihrer jüdischen Herkunft, sondern um eine Befolgung von Befehlen während des 2. Weltkriegs. Zweitens müssen wir davon ausgehen, dass die von der militärischen und politischen Zensur aussortierten Filmmaterialien, die den Mord an den Juden als gesonderter Opfergruppe belegen, automatisch den Status von Geheimdokumenten erhielten. Dieses Filmmaterial sollte laut Rundschreiben im Studio lagern, später vermutlich jedoch nicht in der in Studios üblichen production library verwahrt werden, sondern in dem bis in die 1980er Jahre kaum zugänglichen Archiv des RGAFKD. Das gilt bis zu einem bestimmten Grad auch für die mitgeschickten Montagelisten, die ebenfalls den Status eines Geheimdokuments hatten – u. U. lässt sich so erklären, dass manche ohne Datum und Ort überliefert sind; sie fielen nicht nur unter die Militärzensur, sondern auch unter die der Außerordentlichen Untersuchungskommission, wie etwa das aufschlussreiche P. S. des Kameramanns Cytron am Ende einer Montageliste verrät: „Das Material ist ohne die Erlaubnis der Außerordentlichen Untersuchungskommission nicht zu verwenden.“673 Aus den Rundbriefen vom Herbst 1943 wissen wir, dass sowjetische Kameraleute nicht nur angewiesen wurden, die militärischen Triumphe zu filmen, sondern auch die Gräuel (zverstva) der Nazis detailliert zu dokumentieren. Offensichtlich führte das Gebot der (Mit-)Dokumentation des Judenmords in Lublin/Majdanek zu Bildern, die entweder einem „Militärgeheimnis“ entsprachen, oder es handelte sich um „Informationen, deren Publikation nicht wünschenswert“ war (vgl. Punkt 6) – hier spielen veränderliche politische Gesichtspunkte eine Rolle. Diese Aufnahmen mit den standardisierten Beschreibungen ihrer Entstehung wurden als Filmmaterial IIa-IVa archiviert. Grund hierfür waren der zeitliche Aufschub der Publikation einer Information, die später von einer unerwünschten zu einer erwünschten oder in einem Gerichtsprozess relevant werden konnte (daher ihre sorgfältige Archivierung).

673 „Montageliste des Sujets ‚Krankentötung‘“ VS 556, 567, 568, von April 1944, in Fomin 2018. Hier wird im ersten Teil der Montageliste zu deutschen Kriegsverbrechen beschrieben wie im Herbst 1941 Geisteskranke im ukrainischen Vinnicja/Vinnica ausgehungert und erschossen, und später „vergiftet“ wurden. Im zweiten Teil werden die Filmaufnahmen der Exhumierungen durch die Untersuchungskommission – in Anwesenheit eines Gerichtsmediziners und eines Priesters – vom 28.4.1944 geschildert. Die Rote Armee hatte die Stadt am 20. März 1944 eingenommen. 437

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8 Film-Vorschriften und Zensur

Der konkrete Fall des Majdanekmaterials ist jedoch komplexer, da hier bereits – in Abweichung von der gewöhnlichen Praxis der Filmarbeit an der Front – in Lublin eine Rohfassung erstellt wurde, vermutlich stumm. Wir können davon ausgehen, dass dies unter der Federführung der Filmspeerspitze, namentlich der Fords, geschah. Mein Vorschlag zu einer Chronologie des darauffolgenden mindestens sechstufigen Zensurprozesses sieht so aus (Durchstreichungen markieren nicht erhaltene Fassungen): Spezialfall Majdanek-Aufnahmen 7/8-1944: Kameraleute vor Ort (Forberts, Wohl, Sof’in, Karmen, Štatland usw.) filmen, die Sowjets erstellen Montagelisten 7/8-1944: Regie/Konzept: A. und O. Ford; Karmen Kommentartext: Bossak 8/9-1944: Rohfassung, hergestellt im Schneideraum der Globocnik-Villa674 ⇓ Film I [⇒ Filmmaterial Ia (bleibt in Lublin) ?]675 9/10-1944: Rohfassung von Majdanek – cmentarzysko Europy und weiteres unverwendetes Filmmaterial I (ca. 1,5 h) mit Montagelisten nach Moskau ⇓ Zensoren in Moskau sichten Rohfassung u. benennen unerwünschte Teile, bestellen Ford nach Moskau676, [parallel: Zensur der Montagelisten?] ⇒ Filmmaterial Ia zur Sperrung vorgesehen letztes Oktoberdrittel 1944: Ford soll nur mit Filmmaterial Ib arbeiten ⇓ Ford schneidet neue Filmfassung in Moskau mit Setkina ⇒ Filmmaterial IIa (Outtakes werden archiviert: z. B. Reznik, Weissbarth) Film IIb ⇓ 10/11/12-1944: Musik für 2 Fassungen wird hergestellt, Filme vertont 11-1944: Krasnowiecki spricht polnischen Text in Moskau oder Lublin Film IIIb ⇓ 11-1944: Setkina montiert poln. Majdanek – cmentarzysko Europy im CSDF [⇒ Filmmaterial IIIa] ⇓ 674 Laut Liebman 2011, S. 208–9. Es handelt sich bei diesem Rohschnitt um eine Ausnahme. 675 Hiervon gibt es bisher keine Spur und die Wahrscheinlichkeit ist klein, da zugeteilte und abgefilmte Meter wieder ins „Zentrum“ geschickt werden mussten. 676 Vgl. den Brief von Ford an Wieczerzyńska am 17.10.1944 (Kap. 6).

8.3 Der mehrstufige Zensurprozess im Allgemeinen und im Besonderen

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26.11.1944: UA Majdanek – cmentarzysko Europy in Lublin (IIIb) auf Grundlage der Vorführung der polnischen Version werden spätere Versionen bearbeitet und bereinigt [⇒ Filmmaterial IVa]677 Film IVb ⇓ 12-1944: Setkina fertigt nach der polnischen Premiere russische Version an 4.1.1945: Sowjetische UA von Majdanek. Kinodokumenty o čudoviščnych zlodejanijach nemcev v lagere uničtoženija na Majdaneke v gorode Lublin in Moskau ⇓ Film Vb ⇒ Filmmaterial Va [1949: Setkina fertigt neue russische Redaktion an? Änderung des Titels und Vorspanns] ⇓ Majdanek – cmentarzysko Europy (VIb)678 Wir können aus dieser schematischen Darstellung erkennen, dass das a-Material das archivierte Filmmaterial bezeichnet, die b-Versionen diejenigen waren, die dem Publikum zugänglich gemacht wurden. Da die Majdanekfassungen Film I (Lubliner Rohfassung), Film IIb (Moskauer Ford-Fassung), Film IIIb (polnische Premierenfassung 1944) und IVb (russische Premierenfassung 1945) mit größter Wahrscheinlichkeit nicht erhalten sind, standen den meisten Forschern lediglich die bereinigte russische Vb (1949) und VIb (polnische Fassungen der 1950er) zur Verfügung.679 Da auch die russische Fassung im britischen IWM dejudaisiert ist (ohne Reznik und Weissbarth), müssen wir davon ausgehen, dass sie dem Typus der späten Vb-Fassungen angehört und nicht das Fimmaterial darstellt, das Bernstein 1945 gesehen hat und das ihn zu Interviews in befreiten Lagern mit Originalton durch britische Kameraleute inspiriert hat. Bedauerlicherweise scheinen keine a-Fassungen die stalinistische Antikosmopolitenkampagne überlebt zu haben – es sei denn in Archiven der Länder, die möglicherweise Majdanek-Filme 1944–45 noch während des Kriegs als Popagandamaterial erhalten haben, wie etwa das 1944 befreite Rumänien. 677 Beispiel hierfür: Entfernung der Synchronaufnahmen der Zeugen und andere Änderungen, so etwa in den Titeln: der „Österreicher“ Tomasek (P 1945) wird zu einem „Tschechen“ (Ru 1945). Dieses Material bleibt im Archiv erhalten und wird in den 1980ern wiederentdeckt. 678 Ohne Anna Weissbarth. 679 Es gibt vermutlich auch spätere russische Redaktionen. Ob die die polnischen Fassungen im RGAFKD-Archiv (570 m bzw. 735,5 m) ältere Zustände zeigen, müsste in Krasnogorsk geprüft werden. U. U. verfügt das Archiv des CSDF bzw. des RGAFKD über Zensurdokumente oder andere Spuren der Redaktionen. Im RGAFKD liegt das für an die farnichtung interessierte Forscher wertvolle Filmmaterial I (ca. 1,5 h), aus dem eventuell die Fassungen I und IVb rekonstruiert werden könnten. 439

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8 Film-Vorschriften und Zensur

8.4

Gefilmte Zeugen

8.4

Gefilmte Zeugen

Das Sprechen vor Gericht bringt das absente Geschehen über das sprachlich-rhetorische Narrativ hinaus zusammen mit der Performanz des Körpers, der Mimik und Gestik sowie mit den sich stimmlich artikulierenden Emotionen der Personen, die als Richtende, Fragende, Plädierende, Berichtende und Zeugnis Ablegende im Gerichtssaal agieren. (Ursula von Keitz 2013, S. 142)

Der zeitgenössische polnische Rezensent schrieb in der PKWN-Zeitung Rzeczpospolita,680 dass der erste Teil des Films Majdanek – cmentarzysko Europy besser gelungen sei als der zweite, dessen Motive willkürlich ausgefallen seien, lediglich die Szene mit den gefangenen Deutschen hätte überzeugt. Jerzy Pański kritisiert den Schnitt: man hätte die makabren Schuhberge mit den Kinderschuhen zusammenschneiden sollen. Abgesehen von dem Verhör von Thernes wurde die Vertonung als nicht gelungen angesehen, „zuweilen als kakophonisch“. Die Kritik bezieht sich gerade auf die Tonspur mit den Zeugenaussagen. Auch ohne das in diesem Buch erstmals erforschte und im Weiteren en détail dargestellte Wissen um die Lagerkarrieren der deutschsprachigen Zeugen wirken die in die Filme aufgenommenen Zeugenaussagen nicht spontan und authentisch, sondern vorab geprobt und ,gestellt‘ – was offenbar sowohl Liebman als auch Hicks dazu bewogen hat, hier eine Manipulation zu vermuten. Man kann sich fragen, ob die Kameraleute statt der langen und theatralischen Rede eines Kommunisten aus Wien und Erzählungen von Personen, die aus Angst vor Verfolgung ständig ihre Nationalität wechseln mussten, nicht eher das Schicksal der in den Gaskammern ermordeten Opfer hätten darstellen können. Auch wenn zu Beginn der industriellen Massenvernichtung gerade auch sowjetische Kriegsgefangene Opfer von Vergasungen wurden (so etwa in Auschwitz),681 betraf diese Form der Ermordung in der Geschichte des KL Lublin in überwiegender Zahl Juden, worauf auch die Überlebenden vor laufender Kamera Bezug nehmen. In beiden Filmen kommt dies nicht vor, es wird auf den Genozid weder verbal im Kommentar oder den Zeugenaussagen, noch indirekt durch die Auswahl der Pässe oder andere audiovisuelle Signale wie rituelle Kleidung, Gebetsriemen oder beschriftete Koffer hingewiesen; auch in den Montagelisten der im Vorspann genannten Kameraleute fehlt das Wort Jude oder jüdisch gänzlich (wie ich schon anmerkte, gilt das nicht für andere Kameraleute, die in Lublin gefilmt haben, wie etwa Tomberg). Unter den im Film sichtbaren Majdanek-Überlebenden befinden sich keine jüdischen Überlebenden682 – und auch keiner der befragten Überlebenden erinnert 680 J. P.[= Jerzy Pański], Film o Majdanku. „Cmentarzysko Europy“. Rzeczpospolita, 28.11.1944, Nr. 115, S. 3. 681 Gaswagen wurden noch vor dem Beginn der Genozide 1941 zur Ermordung von Patienten in psychiatrischen Anstalten oder Menschen mit Behinderung eingesetzt, und zwar im Deutschen Reich ebenso wie in den eroberten Gebieten in der UdSSR. 682 Dies unterscheidet die Majdanek-Filme vom sowjetischen Auschwitz-Film, in dem Namen jüdischer Opfer genannt werden.

8.4 Gefilmte Zeugen

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sich, wen die „Aktion Erntefest“ am 3. November 1943 betraf, als die „Aktion Reinhardt“ beendet und nahezu alle in Lublin/Majdanek verbleibenden Juden durch Erschießung ermordet wurden. Dabei war die Ermordung der Juden des KL Lublin, bei der 18.400 Menschen an einem Tag getötet wurden, eine der brutalsten Mordaktionen in der „Endlösung der Judenfrage“, deren Umstände sicher keinem der Beteiligten entfallen war.683

8.4.1 Die unterschlagene Tonaufnahme des SonderkommandoMitglieds J. Reznik Aus dem Dokumentarfilm Majdanek 1944 – Opfer und Täter (21:00-22:20) wissen wir, dass in Majdanek zumindest ein polnischer Kriegsgefangener jüdischer Herkunft gefilmt wurde, Korporal Jósef Reznik (Grodno 1912 – Israel 1990), der erzählt, wie er sein Judentum verbergen und sich durch Flucht retten konnte (Abb. 8.1).

Abb. 8.1

Links: „Józef Reznik playing for Maccabi Grodno“ (ca. 1932 in Grodno, „Familienarchiv Y. Reznik“); https://sprawiedliwi.org.pl/en/stories-of-rescue/storyrescue-bojarska-stefania [12.12.2018]

683 Da an dem Massaker etwa 2000 Täter mitwirkten, fragt man sich, wer von denjenigen, die dieses Ereignis im Film beschreiben, zu ihnen gehört haben mag. 441

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8 Film-Vorschriften und Zensur

Im Communiqué of the Polish-Soviet Extraordinary Commission for Investigating the Crimes Committed by the Germans in the Majdanek Extermination Camp in Lublin aus dem Jahr 1944 wird dieser Zeuge sogar zweimal zitiert, einmal in seinem Bezeugen des Hungers unter den russischen Kriegsgefangenen: Corporal Reznik of the Polish Army and former prisoner of the camp stated: “I noticed that the Russian prisoners of war were hardly fed at all. They were reduced to an extreme state of exhaustion. Their bodies swelled, and they were not even able to talk. They died in large numbers.” (Communiqué 1944, S. 5)

Zum zweiten in einer Aussage, in der er sich zu seiner jüdischen Identität bekennt: The witness Reznik stated the following: “In January 1941, about four thousand of us Jewish prisoners of war were loaded into railway trucks and sent eastward. … We were brought to Lublin, told to get out of the train and handed over to SS men. Approximately in September or October 1942, they decided to leave in the camp in No. 7 Lipovaya Street684 only those prisoners who had factory qualifications and were needed by the city. All the rest, including myself, were sent to the Majdanek Camp. (Communiqué 1944, S. 10)

Die bis heute weithin unbekannte und in der Sekundärliteratur nicht aufscheinende Tonfilmaufnahme mit Reznik ist eine einmalige Quelle, die Claude Lanzmanns Interviews der Mitglieder der Sonderkommandos für den Film Shoah (1985) vorwegnimmt. Das Faktum, dass Reznik – ein Überlebender aus den Sonderkommandos, der sich als Zeuge freiwillig bei der polnisch-sowjetischen Kommission meldete – nicht in der (uns bekannten) Premierenversion zu Wort gekommen ist, ist schon deshalb auffällig, weil hier ein polnisch-sprachiges Zeugnis, das keiner Übersetzung bedurft hätte, ignoriert wurde. Wäre diese authentische Aufnahme im Sommer 1944 international bekannt geworden, hätte Reznik durch seine Zeugenschaft den West-Alliierten, dem neutralen bzw. befreiten Europa, der polnischen Exilregierung in London (und damit auch dem kämpfenden Widerstand in Warschau) die grausamen Interna des sich weiterhin vollziehenden Judenmords überbracht – mit Hilfe der Kamerabilder dieses Zeugen hätte man die an humanitären Fragen und sog. Staatenlosen wenig interessierten alliierten Politiker und Militärs unter Druck setzen können. Umfangreiche Transporte in den Tod – aus den Ghettos Litzmannstadt und Theresienstadt (über 18.000 im Herbst 1944) – hätten verhindert oder aufgehalten werden können. Während der Arbeit am Majdanek-Film wurden allein im August und September 65.000 Menschen aus Polen nach Auschwitz in den Tod transportiert.685 Rezniks – übrigens ebenfalls mit Kameras aufgezeichneter – großer Moment sollte später im Zusammenhang mit dem Eichmannprozess kommen, wo er seine Arbeit im „Enterdungs“-Kommando und das Abspielen von Unterhaltungsmusik vor und während 684 Gemeint ist die Lipowa-Straße 7 in Lublin. 685 Gestützt auf Franciszek Pipers Die Zahl der Opfer von Auschwitz (1993):https://de.wikipedia. org/wiki/Opferzahlen_der_Konzentrationslager_Auschwitz [10.4.2019]

8.4 Gefilmte Zeugen

443

der Erschießungen beschreibt.686 Seine Aussagen wurden auch in einem Verfahren gegen den Führer des Sonderkommandos Hermann Rohlfing in der BRD verwendet (vgl. Birn 2012, S. 111–112). Gerade weil Reznik im Eichmann-Prozess als bereits 1944 gefilmter Holocaust-Überlebender für die Bezeugung der „Aktion 1005“ verantwortlich ist, liefert er auch ein Beispiel für das unterdrückte Wissen über den Judenmord, auf beiden Seiten der 1944 noch bestehenden Front. Im folgenden Kapitel werden wir noch einmal zu ihm zurückkehren, wenn wir diejenigen Zeugen, die in den Film aufgenommen wurden, näher untersuchen.

8.4.2 Fiktive und echte Nationalitäten der Opfer Bärbel Schmidt (2000, S. 10) untersucht in ihrer Dissertation KZ-Kleidung als vernachlässigte historische Quelle. In diesem Zusammenhang erwähnt sie Manipulationen in den Akten, wie etwa den Nationalitätenwechsel auf einem Häftlingsfoto: Überlebende nehmen Veränderungen an der Kleidung vor. Im Fotoarchiv in Buchenwald ist ein Foto des Überlebenden Nikola Beltschenko. Das „U“ auf dem Foto wurde mit dem Kugelschreiber mit einem „R“ übermalt. […] Die Kleidungsstücke und damit die Geschichte wird der Gegenwart angepaßt, die Geschichte verfälscht. (Schmidt 2000, S. 275–276)

Der „Ukrainer“ retuschierte sich nach der Befreiung zum „Russen“ – offenbar, um unangenehmen Nachforschungen der sowjetischen Seite vorzubeugen. Kann man sich das Ausmerzen ‚jüdischer‘ Namen und Themen in ähnlich grober Form vorstellen? Als erster Forscher analysierte Hicks (2012) die 1944 in Majdanek aufgenommenen Filmquellen. Seine Sichtung der „fourteen reels omitted from both Setkina’s and Ford’s films“687 im Archiv RGAFKD bei Moskau führt zu dem Schluss, dass Hinweise auf die jüdische Identität der Opfer wie auch einschlägige Bemerkungen der deutschen SS-Lageraufseher, die in Originaltonaufnahmen vorlagen, nicht in die endgültigen, in Moskau erstellten Schnittfassungen eingingen.688 Hierauf basiert Hicks seine These, dass das Material einem antisemitischen „vorbestimmten Narrativ, das besagt, dass die Nazis Menschen

686 Josef Reznik sagte am 5. Juni 1961 (Sitzung 64) in jiddischer Sprache aus. Ihm folgt Jakov Friedman, der Eichmann als denjenigen SS-Offizier, der 1942 Majdanek inspiziert hatte, identifiziert. https://www.ushmm.org/online/film/display/detail.php?file_num=2280 [10.5.2017] Siehe auch die englische Übersetzung: http://www.nizkor.org/hweb/people/e/eichmann-adolf/transcripts/ Sessions/Session-064-01.html [10.4.2018] 687 Hicks 2012, S. 165. 688 Sie finden sich in Majdanek 1944 – Opfer und Täter (1986) und in einer englischsprachigen Version, die auf youtube unter „A Chronos UK Presentation“ zu finden ist und eine britische Redaktion erhalten hat: https://www.youtube.com/watch?v=lqFFYagEwYg [10.4.2017]. Vgl. Hicks 2012, S. 165. 443

444

8 Film-Vorschriften und Zensur

aller Nationalitäten aus dem besetzten Europa“ folge.689 Hicks meint, das Unterdrücken der jüdischen Opfer von Majdanek690 wäre einem politisch-ideologischen Plan geschuldet, der bereits den in Majdanek aufgezeichneten Verhören zugrunde liegt: Later, when the Soviet interrogator reads a list of nationalities similar to the one that appears in the Setkina film, a SS guard named Ternes intervenes to include Jews: “Juden waren’s.” The Soviet interrogator works hard to foist his predetermined narrative on the German and insists, in a mixture of Russian and German, “Ne tol’ko [Nicht nur] Juden”. (Hicks 2012, S. 165)

Das planvolle Verschweigen des Mords an den Juden mag auf Verfahren der Kommission zutreffen, nicht jedoch die Filmteams, die im Juli bzw. August vor Ort waren, mit ihren Apparaten das Lager abbildeten und die Verhöre filmten – zumindest bis nach einigen Wochen Dreharbeiten gegen die detaillierte Dokumentation des Lagers eingeschritten wurde bzw. es durch die erneute Aufnahme eines Teils der Interviews zu Inszenierungen kam.

8.4.3 Das Anton Behnen-Missverständnis Liebmans Argumentation folgend geht Hicks davon aus, dass in den Majdanek-Filmen ein „absichtliches Verbergen“ der jüdischen Identität der gefilmten Zeugen vorliegt: „As Liebman points out the ,Dutchman’ Benem691 who appears in the film is also Jewish, but both films deliberately conceal this fact.“ (Hicks 2012, S. 165–166). In der polnischen Übersetzung von Liebmans Artikel für die Zeitschrift Zeszyty Majdanka von 2011 wird diese Aussage mit dem Hinweis korrigiert, Behnen habe angesichts der drohenden Gefahr verhaftet zu werden, gelogen (dieser Hinweis ist mit abgedruckt in Liebman 2011, S. 221). (Abb. 8.2) Nach dem Erscheinen der polnischen Übersetzung und der berichtigenden Redaktion des Liebman-Artikels muss man also Hicks’ Vorwurf an die Filmemacher revidieren. Aufgrund der Korrekturen der Herausgeber der Zeszyty Majdanka stellt sich die wahre Identität des Mannes mit Halsverband wie folgt dar: Bei dem in den weißen, das Behnen-Bild in auffälliger Größe verdeckenden Titeln als „ehemaliger Häftling“ und „Holländer“ bezeichneten Zeugen handelt es sich um den Stabsfeldwebel Anton Behnen,692 der sich bei der Befreiung 689 Sie finden sich in Majdanek 1944 – Opfer und Täter und in einer englischsprachigen Version, die auf youtube unter „A Chronos UK Presentation“ zu finden ist und eine britische Redaktion erhalten hat: https://www.youtube.com/watch?v=lqFFYagEwYg [10.4.2017]. Vgl. Hicks 2012, S. 165. 690 Die Identifikation von Behnen als eines deutschen Häftlings stammt aus der Studie von Lenarczyk 2009, kam jedoch nicht für Hicks‘ Buch von 2012 zum Tragen. 691 Eigentlich Behnen; manchmal als Benem/Benen bezeichnet. 692 Fabian Schmidt verdanke ich den Fund folgender Suchanzeige, die zum einen darauf hindeutet, dass Anton Behnen nicht zu seiner Familie in Deutschland heimkehrte, zum anderen bestätigt, dass er kein Jude im Sinne der NS-Rassegesetze war: „Welcher Kamerad der FP.-Nr. 45 908 B kann mir Angaben machen über den Stabsfeldwebel Anton Behnen. Nachricht erbittet Frau

8.4 Gefilmte Zeugen

Abb. 8.2

445

„Der ehemalige Majdanek-Häft ling, HOLENDER [ein HOLLÄNDER]“ im Film: Majdanek – cmentarzysko Europy

des Lagers als Niederländer ausgegeben hatte. Auch in der Setkina-Montageliste von 1949 und in der späteren polnischen Montageliste wird er fälschlich als „Holländer“ bezeichnet. Aus dem Abgleich mit einem Aufsatz von W. Lenarczyk 2009 und dem Communiqué (1944)693 geht jedoch eindeutig hervor, dass der 1919 im westfälischen Selsten an der Grenze zu den Niederlanden geborene Behnen die Polnisch-Sowjetische Außerordentliche Kommission über seine Nationalität getäuscht haben muss. Laut den von mir hinzugezogenen Listen von ITS/JewishGen zum KL Dachau kam der Wehrmachtssoldat Anton Behnen (*8. Mai 1919 Heinsberg) am 26.2.1943 in das KZ Dachau (Häft lingsnummer 44361) und

Ursula Behnen, Oberlangen 69, Ober Lathen (Ems).“ Aus einer Vermisstenanzeige der Zeitung Gegenwart vom 10.11.1946, abgedruckt auf S. 263 von http://web.krao.kg/4_istoria/2_raz/0_pdf/2. pdf [2.3.2020] 693 In der englischen Fassung von Communiqué (1944, S. 4): „Benen, a Netherlander“. 445

446

8 Film-Vorschriften und Zensur

wurde am 28.1.1944 nach Lublin überführt.694 Selsten ist ein Vorort der westfälischen Stadt Heinsberg.695 In Liebmans Artikel heißt es, Behnen spreche in gebrochenem Deutsch, doch hört man vielmehr ein verlegenes Nuscheln – möglicherweise täuscht der Befragte ein fehlerhaftes Deutsch vor. Ein niederländischer Akzent ist nicht erkennbar, doch gab sich die polnisch-sowjetische Kommission mit solchen Feinheiten sicher nicht ab.696 Auf dem Filmmaterial in den polnischen und russischen Fassungen ist erkennbar, dass der Sprecher es vermeidet, in die Kamera zu blicken und sich an der sprichwörtlich ,langen Nase‘ kratzt, als er sagt, er habe „vieles mitgemacht“ in Majdanek, man habe ihn „verhauen und geschlagen“, was auf Polnisch hyperbolisch mit „gefoltert“ (torturowali) übersetzt wird. Die von Liebman und Hicks angeführte Behauptung, die Darstellung Behnens sei ein Beispiel sowjetischen Antisemitismus, erweist sich somit als nicht stichhaltig. Doch haben die Forscher recht, dass etwas mit der Identität dieser sichtlich nervösen Person nicht in Ordnung ist – wie bei zahlreichen der aufgenommenen Zeugen des KL Lublin/Majdanek. In der deutschen Nachkriegsversion wird Behnen übrigens als „der Holländer Manner“ bezeichnet. Die Aussage des 25jährigen Behnen ähnelt vom biografischen Schema her der Aufnahme des Juden J. Reznik, die nicht in die Filmversionen von 1944–5 aufgenommen wurde.697 Der 32-jährige Reznik erzählt, es sei ihm gelungen, kurz vor der Befreiung zu fliehen; er sei als polnischer Kriegsgefangener durch 13 Lager gegangen, habe seine Eltern verloren und sei nun ganz allein. Der hochgewachsene und starke Mann war mehrmals in Aufbau- und Sonderkommandos eingesetzt worden, beschreibt seine Zwangsarbeit auf dem V. Feld von Majdanek („Todesfeld“) und bei der Beseitigung der Massengräber (dies bezieht sich auf die „Aktion 1005“, die „Enterdung“ der eilig begrabenen Leichen, die überwiegend jüdischen 694 JewishGen volunteers, comp. Deutschland: Aufzeichnungen des Konzentrationslagers Dachau, 1945 [database on-line]. Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations Inc, 2008. Ursprüngliche Daten: Miscellaneous Lists and Registers of German Concentration Camp Inmates, Originated or Collected by the International Tracing Service (Arolsen); (National Archives Microfilm Publication A3355, rolls 15–19); National Archives Collection of Foreign Records Seized, Record Group 242; National Archives, Washington, D. C. Auch in den Häftlingslisten des Majdanekmuseums erscheint er in der korrekten Schreibung, Behnen, hier mit „Lagernummer 6927“ http://www.majdanek.eu/pl/prisoners-results?id=1752 [15.9.2018]. Vgl. neuerdings auch https:// collections.arolsen-archives.org/en/search/people/80255584/?p=1&s=Behnen&s_lastName=asc [20.5.2019] 695 Das Dorf Selsten liegt zwischen Düsseldorf und der Limburger Stadt Maastricht; auf limburgisch heißt es Zaelste. Heute hat die westgermanische Sprache bzw. der Dialekt des Limburgischen – gesprochen in Deutschland, Niederlande und Belgien – in den Niederlanden den Status einer Minderheitensprache. https://www.ethnologue.com/language/lim [5.12.2018]. Auch wenn Behnen das Limburgische gesprochen haben sollte, ist dies noch kein Beweis dafür, dass er kein Deutscher war. 696 So fälschlich übernommen in „A Chronos UK Presentation“, Teil 2:https://www.youtube.com/ watch?v=qIyblZiyp1U&feature=share [10.4.2017] 697 Einsehbar in Teil 2 von „A Chronos UK Presentation“. https://www.youtube.com/watch?v=qIyblZiyp1U&feature=share [10.4.2017]

8.5 Reznik sagt aus – in Lublin (1944) und in Jerusalem (1961)

447

Sonderkommandos auferlegt wurde). Reznik erwähnt Dokumente und Pässe, die bei den Toten gefunden wurden, ein Motiv, das sich im Film wiederfindet, allerdings nicht in der zu erwartenden Form von Identitätspapieren, die mit einem J gestempelt waren.

8.5

Reznik sagt aus – in Lublin (1944) und in Jerusalem (1961)

8.5

Reznik sagt aus – in Lublin (1944) und in Jerusalem (1961)

Korporal Reznik war über die Prozesse der farnichtung gut informiert und konnte auch die Namen der Kommandanten der „Vernichtungs-Kompanie“ nennen – in die Filme gingen sie nicht ein. Seine Geschichte, die aufgrund der Flucht einer gut organisierten Gruppe durch einen Tunnel abenteuerlichen Charakter hatte, entsprach der Art von Sujet, nach der die Reporter und Kameraleute suchten. Eine ähnliche Geschichte hat der Moskauer Ingenieur Julij Farber erlebt. Auch sein Bericht über die Arbeit für das „Leichenkommando“ im litauischen Ponary und die Flucht durch einen Tunnel am 15. April 1944 gelangte zur Sowjetischen Außerordentlichen Kommission.698 Mir lag er in verschiedenen Versionen vor, der nüchternen für die Černaja kniga, „bearbeitet von R. Kovnator“ (Farber 1980) und der sowjetisch patriotischen in der Zeitschrift Družba narodov (Farber/Makarov 2006). Hat der Umstand, dass Reznik kein Kommunist und ein Jude war, seine Aussage entwertet? Sein Überleben aufgrund der Arbeit in einem Sonderkommando machte Reznik u. U. zu einem unwägbaren Zeugen. Reznik wird am 5.6.1961 in Jerusalem Zeugnis ablegen, wie er sich retten konnte und 1944 mit dem sowjetischen Staatsanwalt die Tatorte aufsuchte: Witness Reznik: The others – four people saved themselves together with me. Two others are here in Israel, and one is in America. After the War, I went to the Russo-Polish Prosecutor’s Office together with a companion of mine who is here in this country, and gave them a description of what happened there. We travelled with the Polish Prosecutor’s men to that forest. We had written a testament in Russian, in Polish and in Yiddish, and that testament we buried inside a bottle like this [shows an ordinary bottle]. When I came there with the entire Russo-Polish Prosecutor’s Office to find it, we came upon a place where there was concrete, big blocks of concrete. So we understood right away that the others did not manage to escape, because we had drawn lots who should go first and who should go later, and it appears that the concrete was poured so as to prevent them from getting out. The Russo-Polish Prosecutor’s men started hammering away at the concrete, but could not crack it because it was very thick, so they left off. I showed them the places where new grass had been sown, and where the bodies had been burned, and where the bones had been ground, and at that time heaps of small bones still remained which had not been fully ground. Attorney General: Mr. Reznik, later you were hiding with some Poles. There was also a Polish priest who helped you to hide, and thus you were saved, until the Soviet army arrived?

698 Laut der Publikation „Tragedija Litvy,“ Evropa, 2006, gelangte am 14.08.1944 der Spezialbericht vom NKGB SSSR zum NKWD SSSR. Auch Farber (1980) betont die überregionale Bedeutung der Massengräber: „Es wurden nicht nur Juden aus Vilnius erschossen, sondern auch Juden aus der Tschechoslowakei und Frankreich.“ 447

448

8 Film-Vorschriften und Zensur

http://nizkor.com/hweb/people/e/eichmann-adolf/transcripts/Sessions/Session-064-01.html) [15.8.2018]

Die Einmaligkeit der Rettung eines polnischen Unteroffiziers jüdischer Herkunft war vermutlich aufgrund der Arbeit Rezniks in einem Sonderkommando von der Zensur nicht gewürdigt worden; zudem passte auch die Geschichte der gegenseitigen Unterstützung katholischer Polen und Jude699 nicht – zumindest nicht aus der Moskauer Perspektive. Die Unterdrückung von Rezniks Zeugnis, gerade weil er sich zur Verfügung gestellt hatte, und bereits befragt und gefilmt worden war, ist der wohl schwerwiegendste bekannte Fall von Ausblendung von Informationen über den Judenmord auf polnischem Boden im Sommer 1944. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis das gefilmte Zeugnis von jüdischen Angehörigen der Sonderkommandos der Öffentlichkeit zugemutet wurde – wie etwa im von Fernsehkameras aufgezeichneten Eichmannprozess, wo Reznik auf Jiddisch darüber spricht, wie sein Spaten auf den „Kopf von einem Menschen“ stieß (der SS-Mann entgegnete: „Weisst Du nicht, dass das Figuren sind“?), den Gestank beim Graben, wie die Gebeine in einer „Mühle“ gemahlen wurden, das Gold ausgesiebt und Knochenmehl auf den Feldern verstreut.700 Hier stellt sich zudem die Frage, wie genau Karmen, Ford, Bossak bzw. die Forberts das Zeugnis eines jüdischen Überlebenden wie Reznik sichergestellt haben. Die sowjetischen Montagelisten (in Fomin 2018) bestätigen, dass die Tonaufnahmen alle unter der Leitung des polnischen Teams angefertigt wurden, laut Adolf Forbert mit Hilfe der erwähnten Akeley-Tonkamera. Dies mag auch erklären, warum Reznik polnisch sprach. Beim Eichmannprozess bittet er nämlich darum, Jiddisch sprechen zu dürfen. Ich folgere daraus, dass das Ford-Team im Hinblick auf sein polnisches Publikum auf einer Aussage auf Polnisch bestand. Reznik wird vor einem Stacheldrahtzaun aufgenommen und wirkt im Vergleich zu Behnens Schweigen oder Stammeln und zu Tomaseks Bühnenmonolog authentisch (Abb. 8.3).

699 Natalia Aleksiun (2015) rekonstruiert seine Rettungsgeschichte: Versteckt hat ihn die Polin Stefania Bojarska, Gerechte unter den Völkern. 700 Rezniks filmisches Zeugnis vom 5.6.1961 am Jerusalemer Bezirksgericht, wo er das „Erntefest“ und die dabei gespielte „schöne Musik und Schlager“ beschreibt, ist auf der Seite des Holocaust Museums unter Session 64 einzusehen: https://www.ushmm.org/online/film/display/detail. php?file_num=2280) [10.4.2017]

8.5 Reznik sagt aus – in Lublin (1944) und in Jerusalem (1961)

Abb. 8.3

449

Der nicht in die Filme von 1944–45 aufgenommene J. Reznik im KL Lublin/ Majdanek 1944 (aus Majdanek 1944 – Opfer und Täter, 1986)

Reznik erwähnt, dass er nach seiner Flucht von einem polnischen Priester versteckt wurde. Polnisch-jüdische Solidarität war ein Thema, das Ford bereits vor dem Krieg und dann wieder in seinem Film Ulica graniczna / Grenzstraße (1948) beschäftigt hatte. Es kann durchaus sein, dass die Tonaufnahme Rezniks in erster Linie einer Initiative der Fords zuzuschreiben ist, auch weil Rezniks Name in den Montagelisten (die nur von den sowjetischen Kameraleuten verfasst wurden) fehlt (Abb. 8.4, 8.5, 8.6).

Abb. 8.4 449

450

8 Film-Vorschriften und Zensur

Abb. 8.5

Abb. 8.6 (Abb. 8.4–8.6) Reznik legt auf Jiddisch Zeugnis ab im Eichmannprozess 1961 (screenshots von https:// collections.ushmm.org/ search/catalog/irn1001693)

Statt eines singulären Augenzeugen wie Reznik wurden zwielichtige Figuren wie Tomasek und Behnen in die Filme aufgenommen, die als Kommunisten durchgehen konnten, was jedoch im Film selbst nicht direkt zur Sprache kommt. Es wurden also sowohl dokumentarische Innenaufnahmen der Aussagen der im Lager Vorgefundenen gefi lmt als auch Verhöre, die nur für die Kamera geführt wurden. Bei den letzteren hat man bei der Wiederholung auf Außenaufnahmen gesetzt, die aufgrund der Lichtverhältnisse bessere Resultate versprachen. Diese Entscheidungen gehen offenbar auf das Konto von Štatland, der Ende August zusätzlich Tonaufnahmen erstellen ließ – nicht nur, weil die Innenaufnahme von Tomasek durch eine Außenaufnahme ersetzt werden musste, sondern auch weil ihm offensichtlich der stumme Behnen vom Verhör vor der Kommission, das vermutlich um den 19.–20. August stattfand, nicht behagte. Dies bedeutet, dass wohl auch Behnen am 27.8.1944 vor

8.6 Weitere Überraschungen im archivierten Filmmaterial

451

dem Krematorium aufgenommen wurde, und ein weiteres Mal von der „polnischen Gruppe auf Veranlassung“ von Štatland (vor oder am 28.8.1944) – in der entsprechenden Montageliste VS 1133 fehlt jedoch die Beschreibung dieser Außenaufnahmen. Die technische Information in Štatlands Schnittliste zu einer doppelten Aufnahme (dublirovanie) kann in Klartext übersetzt werden als „Inszenierung“ (russ. inscenirovka) der Zeugenaussagen, die auch mit einem Casting für bestimmte Typen von Überlebenden aus ganz Europa wie ‚Proletarier‘, ‚Kommunist‘ oder ‚junger Mann, dessen Familie ermordet wurde‘ einherging.

8.6

Weitere Überraschungen im archivierten Filmmaterial

8.6

Weitere Überraschungen im archivierten Filmmaterial

Dass die Zeugenaussagen insgesamt wenig glaubwürdig und damit kaum überzeugend wirken, liegt auch daran, dass in diesen, im Bezirk Lublin – also im Zentrum der „Aktion Reinhardt“ – gedrehten Filmen, weder ein einziger jüdischer Überlebender zu sehen ist, noch die in den Verhören genannten jüdischen Opfer auch nur zur Sprache kommen. Das hängt auch damit zusammen, dass die SS bei ihrem Abzug kaum Zeugen in Lublin hinterlassen hat, die sie ernsthaft hätten belasten können. Das Lager war Ende Juli 1944 nahezu leer.701 Dieser Umstand führte zwar zu einem Mangel an Authentizität der Darstellung der Beschaffenheit der deutschen Vernichtungslager, doch trugen die Filmteams keine Verantwortung hierfür, ebensowenig wie für das Fehlen einer jüdischen Stimme in den vorliegenden Filmversionen. Sie hatten Rezniks Zeugnis sichergestellt und nach Moskau geschickt – wie die zensierten und archivierten Aufnahmen beweisen. Doch ganz aus der Verantwortung entlassen können wir die Filmleute nicht, denn um die Zeugen dem ideologischen Konzept von Bossaks Kommentartext anzupassen, wurde geeignete Zeugen des Lagerlebens offensichtlich „organisiert.“ Misstrauisch stimmen Szenen mit Zeugenaussagen aus dem archivierten und bisher nicht untersuchten Majdanek-Filmmaterial. Dieses wirft enthüllendes Licht auf die in den Filmen enthaltenen Aufnahmen der Zeugen Tomasek und Behnen. In einer nicht die Filme aufgenommenen Szene bittet Behnen (ohne gestreifte Jacke) die Dolmetscherin, für ihn zu sprechen, „da er seine Stimme verloren habe“. Man kann davon ausgehen, dass er nicht Niederländisch sprechen konnte und nun vor der versammelten 701 „As Soviet troops approach the prewar Polish border from the east, the SS authorities begin to evacuate prisoners from Majdanek to the west. In five months, thousands of prisoners are transferred west from Majdanek to Auschwitz, Bergen-Belsen, Gross-Rosen, Ravensbrueck, Natzweiler, and Plaszow. By early June 1944, Majdanek is almost empty. At the end of 1943, of 6,562 prisoners registered at Majdanek, approximately 71 were Jews. In mid-March 1944, as surviving Jews from various subcamps of Majdanek were brought to the main camp for eventual evacuation west to Auschwitz and other concentration camps in the Reich, 834 Jews were imprisoned in Majdanek. Some were killed in the gas chambers between March and July 1944; the SS transferred the rest to Auschwitz and Plaszow.“ http://www.ushmm.org/wlc/en/ article.php?ModuleId=10005190 [15.1.2016] 451

452

8 Film-Vorschriften und Zensur

Kommission und den Kameras vermeiden wollte, an seinem westfälischen Idiom erkannt zu werden. Er trägt ostentativ eine Halsbinde und schweigt – die sowjetische Dolmetscherin scheint eingeweiht zu sein und spricht „für ihn“. Folgende (an sich unmotivierte) Halsbinden-Einstellung ist nur in der russischen Fassung erhalten geblieben – offensichtlich fehlte der Cutterin in Moskau dazu der Kontext, doch sagte ihr die Szene zu (Abb. 8.7).

Abb. 8.7 Der stumme Behnen mit Halsbinde (aus: Majdanek. Kinodokumenty)

Im Archiv finden sich weitere Szenen, in denen ein Zeuge in Wiener Dialekt aussagt, er wäre am 5.8.1894 geboren und im Juni 1942 nach Majdanek gekommen. Er bezeichnet sich als Österreicher. Auf die Frage nach dem Grund seiner Verhaftung, antwortet er, er hätte für die kommunistische Partei gearbeitet. Diese Szene stammt – wie die mit Behnen – aus dem authetischen Verhör der Polnisch-Sowjetischen Außerordentlichen Kommission (Abb. 8.8). Sie ist völlig anderer Natur als eine weitere Aufnahme, in der Tomasek in gestreifter Häft lingskleidung im gleichen Exterieur wie Reznik aufgenommen wurde (Abb. 8.9).

Abb. 8.8 und 8.9

Tomasek in dunkler Jacke links und rechts oben in zwei nicht in den Filmen enthaltenen Aufnahmen (erstmals in Majdanek 1944 – Opfer und Täter)

8.6 Weitere Überraschungen im archivierten Filmmaterial

453

Tomasek in der dunklen Jacke (Abb. 8.8) beim Verhör sieht dem später gefi lmten Tomasek in der gestreiften Häft lingskleidung (Abb. 8.9) nur bedingt ähnlich. Auch unterscheiden sich beide hinsichtlich Stimme und Mentalität erheblich. Vergleicht man die beiden Tomaseks (Abbildungen 8.8 und 8.10 vs. 8.9 und 8.11), muss man davon ausgehen, dass hier zwei verschiedene Personen unter dem gleichen Namen geführt wurden. Dass Tomasek Kommunist ist, geht aus keinem der 1944–45 veröffentlichten Filme hervor, lediglich aus dem zensierten Filmmaterial. Abbildung 8.11 zeigt die Tomasek-Aufnahme aus dem polnischen Film (Abb. 8.10, 8.11).

Abb. 8.10 Tomasek spricht vor der Kommission; nicht in den Filmen enthalten, erstmals in Majdanek 1944 – Opfer und Täter (1986)

Abb. 8.11 „Eine Weltanschauung, die den Grundsätzen des Nationalsozialismus widerspricht“: Tomasek im Film Majdanek – cmentarzysko Europy

Da wir den ‚gestreiften‘ Tomasek nicht bei der Befragung durch die Kommission sehen, liegt hier ein anderer Kontext vor, der weniger Wahrhaftigkeit erfordert. Bei einer fi lmischen „dos’emka“ (hier: Nachstellung) handelt es sich schließlich nicht um eine falsche Zeugenaussage, sondern nur um eine zweifelhafte Praxis des Dokumentarfi lmens, für die man juristisch kaum belangt werden konnte.

453

454

8 Film-Vorschriften und Zensur

8.7

Opferbiografien und -narrative

8.7

Opferbiografien und -narrative

Im Hinblick auf die Manipulationen der Nationalität („Holländer Behnen“) oder die Konstruktion der Persona des „Tschechen Tomášek“ kann man Sheila Fitzpatricks Studie (2005) zum „Identitätsprojekt“ in der UdSSR zu Rat ziehen, die sich der Spezifik von zugerichteten bzw. manipulierten (Auto-)Biografien widmet. Bei der Vorbereitung der Majdanek-Aufnahmen muss man mit einer flexiblen Auffassung von „Identität“ rechnen, und sie betraf nicht nur die Befreiten: sowohl den (sowjetischen) Umgang mit den Zeugen wie auch das polnische Team selbst, das entsprechende Erfahrungen in der UdSSR hinter sich hatte und ebenfalls mit der Zurichtung von Biografien vertraut war (von angepassten Daten und Orten der Geburt bis hin zu Angaben zu einer „freiwilligen Mobilmachung“ in der UdSSR in den Akten der Filmspeerspitze; vgl. Kap. 7). Fitzpatrick untersucht „Namensmasken“ als neuerworbene Formen sozialer Identität in den ersten Jahrzehnten der Sowjetunion.702 Fitzpatrick unterscheidet hierbei zwei Typen von Hochstapelei bzw. Betrug, political bzw. criminal imposture: Two different types of imposture can be identified in Soviet prewar discourses. One may be called political imposture: the attempt to ‘deceive the party’ as to one’s true social or political face, to hide one’s true identity from the authorities and claim a false one, but not for criminal purposes. […] The second type of imposture, criminal imposture, whereby an individual claimed a false identity for the purposes of gain, was very common in postrevolutionary Russia but provoked very different reactions from political imposture. Common confidence men (often called moshenniki [swindlers] or obmanshchiki [deceivers]) were a noticeable presence, not just in everyday life but also in contemporary journalism and literature. (Fitzpatrick 2005, S. 20–22)703

Fitzpatrick stützt sich auf Rom Harré (Personal Being: A Theory for Individual Psychology, 1984), der schreibt: „Though a person has only one real-self, he or she will be accompanied through life by a flock of file-selves of unknown extent, each member of the flock representing an aspect of a person as defined by the appropriate file-master.“ (ibid., S. 15) Wie wir im Folgenden sehen werden, ist es im Fall von Tomasek oder auch Behnen zu einem

702 Fitzpatrick demonstriert die Gestaltung einer – auch im bürokratischen Sinne – neuen Persona am Beispiel der Sowjetunion der 1920er Jahre, als religiös, klassenbedingt oder ethnisch markierte Namen abgelegt wurden. Sie geht auch auf die Folgen ein: Die zuvor zur Namenswahl Ermunterten geraten im Spätstalinismus in gefährliche Situationen des ‚Aufdeckens‘ der alten als ‚wahrer‘ Namen, wie wir in Kap. 9.2. sehen werden. 703 „All identity projects require impersonation […]. But at a certain point, or in certain circumstances, impersonation becomes imposture, defined by the OED as ‘the action or practice of imposing on others; wilful and fraudulent deception.’ Or, to put it another way, impersonation is always trembling on the brink of imposture, and societies in which large numbers of citizens are actively engaged in impersonation may well turn out to be societies in which imposture and the fear of imposture are widespread. In the Soviet case, at any rate, it is impossible to discuss identity adequately without dealing with the question of imposture.“ (Fitzpatrick 2005, S. 19–20)

8.7 Opferbiografien und -narrative

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Identitätsbetrug gekommen, der sowohl einen politischen als auch einen kriminellen Hintergrund hatte, da einige der befreiten Häftlinge Grund hatten, eine Strafe zu befürchten. Im Hinblick auf Generierung von korrekten „file-selves“ in sozialistischen Staaten zitiert Fitzpatrick eines seiner Opfer, den politischen Häftling Herbert Zilber, der im Erstellen von (Kader-)Akten den „ersten großen sozialistischen Industriezweig“ sieht: “the first great socialist industry was that of the production of files. […] In the socialist bloc, people and things exist only through their files. All our existence is in the hands of him who possesses files and is constituted by him who constructs them. Real people are but the reflection of their files.” The making of files was a basic project of the Soviet state from its early years. (Fitzpatrick 2005, S. 15).

Fitzpatrick erklärt weiter, dass nicht nur der Staat, sondern auch Individuen ihre eigenen „Personal-Akten“ zu modellieren („self-fashioning“) oder fälschen versuchten: Thus, file-making was not only a state project but also an individual one, and “self-fashioning” in the sense of fashioning a file-self must be part of the discussion on Soviet identity. How could Soviet citizens fashion their file-selves? At the crudest level, they could and did manufacture false data and false identity documents. […] It was possible to buy false passports on the black market, thus creating a set of basic personal data (for example, place and date of birth, nationality, social position) that would subsequently be entered in the individual’s various personal files. (Fitzpatrick 2005, S. 16).

Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass Behnens jiddische Syntax imitierende Aussage, dass „vier Bruder [sic] sind getötet worden von’n Deutsch’n“ und seine Mutter und sein Vater im Krieg umgekommen seien, möglicherweise strategischer Natur ist. Er nähert damit sein Schicksal an das eines Juden an, da der Verlust der gesamten Familie einer jüdischen Biografie ähnelte. In der Gedächtnisfabrikation von Majdanek schiebt sich das vermeintliche Opfer Behnen-Benen völlig vor den Juden Reznik und drängt diesen aus den Filmen heraus. Der Geschichte dieser Filmproduktion folgend werden wir Zeugen, wie der als Niederländer getarnte deutsche Behnen dem Juden Reznik seine Autobiografie ‚entwendet‘. Zunächst täuschte Behnen mit weißem Halsverband vor, ein unter Heiserkeit leidender Niederländer namens Benen zu sein (Innenaufnahme), später wurden bestimmte Aussagen für die Außenaufnahmen vorbereitet oder sogar geprobt – die Frage ist hier, von wem. Ähnliches mag für den mal als Tschechen, mal als Österreicher präsentierten Wiener Ludwig Tomas(ch)ek, der einen österreichischen Dialekt spricht, gelten (er unterzeichnete seine Aussage gegenüber der Kommission nicht als Tomaschek, sondern Tomasek bzw. mit tschechischen Diakritika, Tomášek).704 Allerdings hält Abb. 1 eine weitere Erklärung 704 „c) the evidence of a number of witnesses: former German prisoners of the camp and prisoners of war who had served in the camp, and also the evidence of former prisoners in the camp: Le-du Corantin, a Frenchman; Tomasek, a Czech; Benen, a Netherlander, and others.“ Später heißt es: „Tomasek, a Czech and a former prisoner of the camp, stated before the Commission: The people starved all the time.“ (die Schreibung der Namen zeigt, dass sie auf kyrillisch und 455

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8 Film-Vorschriften und Zensur

bereit: Der Titel „HOLENDER“ in Großbuchstaben könnte auch auf ein bereits 1944 entstandenes Missverständnis deuten. Wenn Behnen auf die Frage, wer er sei, mit „Holländer“ geantwortet hat, konnte dies von der Filmspeerspitze als sein Eigenname aufgefaßt werden – denn dieser Name, den zahlreiche jüdische Familien tragen (etwa der polnisch-jüdische Kameramann Adam Holender)705 wird auf Polnisch so geschrieben. Welche Rolle spielte der Mann mit der Halsbinde im Lager, war er politischer Häfling oder ein gemeiner Verbrecher? In der Edition der Zeugenaussagen vom Düsseldorfer Majdanek-Prozess von Ambach/Köhler aus dem Jahr 2003 taucht der Name Anton Behnen nicht auf und auch die Webseite der Gedenkstätte verzeichnet unter diesem Namen nur eine Nummer, die 6927.706

8.7.1 Die gestreifte ‚Uniform‘ des politischen Gefangenen In der polnischen Fassung hören wir ehemalige Häftlinge in gestreifter Kleidung in ihren Muttersprachen sprechen, d. h. französisch, deutsch, flämisch, und österreichisch. Die Zeugensequenz beginnt mit dem aus Frankreich stammenden Corentin Le Dû, auf dessen gestreifter Jacke eine Häftlingsnummer (9724) in Nahaufnahme gezeigt wird. Laut der Arolsen-(ITS)-Datenbank hatte der Sch.-Häftling Corentin Le Dû jedoch die Nr. 9886707 – ist dies also ein ähnlicher Fall wie ihn Stephan Matyus (2011) für die Jackenweitergabe bei der fotografischen Dokumentation der Befreiung von Mauthausen durch F. Boix beschrieben hat? Ähnliche Beispiele der Verwendung von „Zebra-Kleidung“ gibt auch Schmidt (2000, S. 274). Man muss davon ausgehen, dass die gestreiften Anzüge der Kinder und Überlebender, die auf Fotografien und Filmen der Befreier zu sehen sind, größtenteils als rein konventionelle Zeichen fungieren, d. h. eher „symbolisch-appellierenden als dokumentarischen Charakter“ haben.708 Schmidt (2000, S. 7–8) kommt zu dem Schluss, dass „die im Lagerjargon als ‚Zebra-Kleidung‘ bezeichnete Bekleidung der KZ-Gefangenen“ nach der Befreiung zu einem „Ehrenkleid“ wird, das jedoch selten als authentisches Museumsstück oder historische Quelle behandelt wurde, sondern als „Symbol des bürokratisch geplanten und industriell durchgeführten Massenmordes in deutschen Konzentrationslagern.“ Hierfür

in phonetischer Form erfolgt war und dann fehlerhaft rücktransliteriert ins Lateinische: Бенен; es fällt jedoch die nicht-phonetische Schreibung von Tomášek als Томасек, und nicht Томашек (Communiqué 1944, S. 4–5) auf, die mich dazu bewogen hat, in diesem Buch die Namensform Tomasek für die in Majdanek geschaffene Persona zu wählen. 705 https://culture.pl/en/artist/adam-holender [2.2.2020] 706  http://www.majdanek.eu/pl/prisoners-results?id=1752 [2.6.20] 707 https://collections.arolsen-archives.org/en/search/people/5786165/?p=1&s=le%20du&s_lastName=asc. Gefangene mit der Nr. 9724 finden sich hier: https://collections.arolsen-archives. org/en/search/people/10863133/?p=1&s=9724&s_lastName=asc [20.5.2019] 708 Schmidt 2000, S. 252. Wie später die textilen Artefakte in Gedenkstätten, die oft nicht aus dem betreffenden Lager stammen oder für Gedenkfeiern nachgeschneidert worden waren (ibid., S. 15, 208).

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waren jedoch vielfach die Befreier hinter der Kamera verantwortlich, die wenig Ahnung davon hatten, was im Lager eine gestreifte Uniform bedeutete, wer sie tragen durfte – und wer mit markierter Zivilkleidung oder Militäruniformen der Ermordeten vorliebnehmen musste. Schmidt (2000, S. 298) mahnt zur Vorsicht: Kaum ein Museum appelliert so stark an Erinnerung, Zeugenschaft und Nicht-Vergessen wie KZ-Gedenkstätten und KZ-Museen. Die einfache Differenzierung zwischen „gut“ und „böse“ ist in den meisten Ausstellungen zu finden. „Gut“ waren die gestreift gekleideten Opfer, „böse“ die SS in ihren Uniformen. Damit hat sich das Symbol von der historischen Faktizität gelöst. Die Geschichtsschreibung läuft Gefahr, sich vom materiellen Befund zu loszumachen.

Schmidt (2000, S. 296) registriert, dass das „Gedächtnis an die Konzentrationslager […] im wesentlichen durch die Erinnerung an politische Gefangene organisiert“ wird. Allerdings fehlt dieser wesentlichen Feststellung der historische und politische Kontext: Bereits die Befreiung der KZs durch die Rote Armee geschah unter ideologischen Vorzeichen, die die Zeichenkonventionen für die Repräsentation der Überlebenden und sogar ihr Geschlecht festlegten, und diese Übereinkunft galt auch für die Darstellung der Opfer der Genozide, die in den Lagern stattgefunden hatten.709 Die Verwendung der gestreiften Kleidung als einziger legitimer Repräsentation des ‚universalen‘ KZ-Häftlings bedeutet nicht nur eine Verengung, sondern hier waltet ein System bei der Auswahl aus den Befreiten in der Epoche der frühesten Befreiungen, wobei die Wahl – auch unserer Filmteams – in erster Linie auf männliche politische (d. h. nicht-jüdische) Häftlinge fiel, in Majdanek vorzugsweise Arbeiter aus West- und Mitteleuropa. Das Kalkül ist klar – der Heros unter den KZ-Überlebenden war im Sommer 1944 ein Mann, wenn kein aktiver Widerständler, dann doch ein politisch Organisierter mit korrekter „Weltanschauung“, – kein „friedlicher“ (passiver) Bürger, wie jüdische Opfer meist bezeichnet wurden. Juden und Frauen gehören zu Majdaneks Unsichtbaren, so dass sich in den ersten Befreiungsfilmen auch keine dokumentarische Repräsentation weiblicher Opfer herausbildet, lediglich eine mit rhetorischen Mitteln erreichte Ikonografie, an der immerhin eine Frau mitgewirkt hat. Schmidt gibt zu Bedenken: Wie die Koffer sollte die Kleidung den Genozid an dem jüdischen Volk symbolisieren. Während die Gepäckstücke, die bei der Ankunft auf der Rampe dort verblieben und vom Sonderkommando Kanada [Effektenlager in Auschwitz II] eingesammelt und sortiert wurden, durchaus dazu dienen, die Endlösung zu symbolisieren, trifft dies für die Zebra-Kleidung nicht zu. Die

709 Dies galt auch für die Majdanek-Filme, die weibliche Überlebende nicht einbeziehen bzw. tilgen, wie die jüdischen Namen der Anna Weissbarth aus Prag oder Rosa Stern aus Wien. Die einzige Erinnerung an die Frauen der Lager findet sich in den Pässen, bzw. in tropischer Form, den Damenschuhen und den Puppen, die nicht nur Mädchen gehörten, sondern auch weibliche Opfer allgemein repräsentieren. 457

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meisten der in Gaskammern Ermordeten trugen keine gestreifte Häft lingsmontur, sondern wurden direkt von der Rampe in den Tod geschickt.710

Und es sind ausgerechnet die bereits im Lager privilegierten „Zebrakleid“-Träger, die auch nach der Befreiung das Sagen haben, die alte Lagerhierarchie perpetuierend: Im befreiten Majdanek haben manche Kapos, die unter der SS obenauf waren, auch nach dem Krieg eine Position der Macht, insb., wenn sie politisch organisiert waren. Dann haben sie von den Befreiern auch nichts zu befürchten. Nicht alle „Politischen“ waren tatsächlich Kommunisten – doch zahlreiche Kapos oder Funktionshäft linge schwenkten rasch auf die richtige Linie um. Das kann auch für Kriminelle gelten. Bei Le Dû handelte es sich aber allem Anschein nach um einen echten politischen Häftling. Der am 14.11.1890 in Riec-sur-Bélon (Bretagne) geborene, verheiratete Chauffeur war am 21.5.1943 durch die Sipo Paris verhaftet worden, im Mai 1943 aus dem KZ Mauthausen überführt nach Buchenwald, am 26.1.1944 in das „KL Lublin“. Ankunft dort am 2.2.1944, mit Vermerk auf seiner Karte in Lublin: „Polit. Nr. 9886“, „Dikal“ („Darf in kein anderes Lager“), als Beruf wird Schlosser angegeben und er hat Schreibverbot.711 Der im Film Majdanek 1944 – Opfer und Täter als „Bretone“ (16:50) bezeichnete Häft ling erzählt in seiner französischen Aussage, dass Juden, die am Abend ankamen, am nächsten Morgen oft verschwunden waren. Auf Corentin Le Dû [alternative Schreibungen: Le Du; Leduc; Leducq] folgt eine weitere Nahaufnahme des „SU“ auf einer Jacke (ohne Identifi kation ihres Trägers), dann eine gestreifte Jacke mit der Nummer 6765 und einem Winkel mit dem Buchstaben B für Belgier, dann ein anonymes Hosenbein mit einem dunklen Winkel. Danach folgt die Einstellung mit Behnen – jedoch ohne Nummer oder Zeichen auf der Jacke (Abb. 8.12).

Abb. 8.12 Nummer 9724 auf der Häft lingsjacke von Corentin Le Dû; Majdanek – cmentarzysko Europy 710 Schmidt 2000, S. 239, über KZ-Artefakte in der Ausstellung „München – Hauptstadt der Bewegung“, Münchener Stadtmuseum 1993. 711 https://collections.arolsen-archives.org/en/search/people/5786165/?p=1&s=ledu&s_lastName=asc [20.5.2019]

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Hier fällt auf, dass keiner der sowjetischen Insassen interviewt wird, und dies, obwohl vor der Sequenz der Zeugenaussagen eine mit den Buchstaben „SU“ für Sowjetunion bemalte Uniform-Jacke zu sehen ist (Abb. 8.13).712 Das polnische und das sowjetische Publikum hören nicht das zu erwartende Russisch oder Polnisch der in der russischen Fassung als „Zeugen des blutigen Albtraums“ („svideteli krovagogo košmara“; RU: 1:30-1:48) bezeichneten Häft linge.

Abb. 8.13 Anonyme Jacke eines sowjetischen Kriegsgefangenen; Majdanek – cmentarzysko Europy

Tomasek und Behnen – Häft linge aus dem Deutschen Reich – haben bei den Außenaufnahmen keine Kennzeichnung auf der gestreiften Jacke. Wenn eine eindeutige visuelle Identifi kation über eine Nummer vermieden werden sollte, kann man sich fragen, ob es sich bei Behnen und Tomasek um Funktionshäft linge handelte.713 Beide wurden erst bei den wiederholten Aufnahmen im gestreiften „Ehrenkleid“714 des KZ gefi lmt und Tomasek hat auffallend langes Haar. Schmidt (2000, S. 151) schreibt:

712 Vgl. die übliche Praxis der Kennzeichnung von Zivilkleidung oder Uniformen: „Auf die Jacken wurden mit roter Ölfarbe die großen Buchstaben ‚KL‘ aufgetragen und durch einen breiten Streifen in derselben Farbe voneinander getrennt. Mit denselben Streifen wurden auch die Hosen markiert.“ (Marszalek 1982, S. 93). 713 Zu den Grauzonen bei der Trennung zwischen Verfolgern und Verfolgten, auf die bereits Primo Levi hingewiesen hat, vgl. die Rezension einer Edition der Majdanek-Zeugenaussagen: „Unter die erste Gruppe fallen sechs ehemalige Mitglieder des Wachpersonals der SS und eine Aufseherin sowie neun Angehörige der Wachbataillone, aber auch fünf deutsche Funktionshäft linge. Im Rahmen der justiziellen Ahndung von NS-Verbrechen saßen Funktionshäft linge bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit zusammen mit der SS auf der Anklagebank.“ (Elissa Mailänder Koslov 2004, 09.02.2004,. [10.4.2017]) 714 „Bereits am Ende des Krieges gilt der Streifenanzug im Lager als Ehrenkleid. In der Nachkriegszeit wird die öffentliche Bildwerdung zunehmend vom ‚Unbekannten Hä ft ling‘ mit der Zebra-Kleidung geprägt. Besonders deutlich ist dieses in Polen zu beobachten.“ (Schmidt 2000, S. 7–8) 459

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Außer an ihrer tadellos sitzenden Kleidung waren Funktionshäftlinge gewöhnlich an den Armbinden zu erkennen, die mit der Aufschrift ihrer Funktion im Lager versehen waren. Neben der guten Versorgung mit Kleidung, genossen die Privilegierten je nach Lager unterschiedliche weitere Vorzüge. Sie hatten ausreichend zu essen, ihnen wurde gestattet, das Haar länger zu tragen, gelegentlich wurden sie von der Arbeit befreit, sie konnten die Lagerbordelle besuchen oder erhielten eine bevorzugte Zuteilung von Tabak. Der Grund für diese Vorzüge, war vor allem die Angst der SS sich beim Kontakt mit den Funktionshäftlingen mit den in den Lagern grassierenden tödlichen Krankheiten anzustecken. Vor allem deshalb konnten die Prominenten ihre Wäsche und sich selbst waschen.

Bis zu zehn Prozent der Lagerinsassen wurden von der SS als Funktionshäftlinge eingesetzt und erhielten Sonderverpflegung. Unter den Funktionshäftlingen gab es eine eigene Hierarchie: Der Lagerälteste (in Kontakt mit der SS), Kapos, Blockälteste, die für Ordnung und Disziplin in den Baracken verantwortlichen Barackenleiter und zuletzt die Stubenältesten. Kapos spielten in den KZs eine zwiespältige Rolle, waren aber immer Personen mit Macht, wie man dieser Beschreibung entnehmen kann: Wir haben hier sogenannte Kapos eingesetzt. Also einer ist der verantwortliche Aufseher, ich möchte sagen, Häftlingsälteste, über 30, 40, über 100 andere Häftlinge. In dem Moment, wo er Kapo ist, schläft er nicht mehr bei denen. Er ist verantwortlich, dass die Arbeitsleistung erreicht wird, dass sie sauber sind, dass die Betten gut gebaut sind. […] Er muss also seine Männer antreiben. In dem Moment, wo wir mit ihm unzufrieden sind, ist der nicht mehr Kapo, schläft er wieder bei seinen Männern. Dass er dann von denen in der ersten Nacht totgeschlagen wird, das weiß er. (Rede vom 21.6.1944, Himmler 1974, S. 200)

Die SS war bei der „Selbstverwaltung“ großer Lager auf Funktionshäftlinge angewiesen. Ihr Aufgabenbereich erstreckte sich auf alle Bereiche, wo Mangel an SS-Personal herrschte. Die Kapos, die selbst nicht arbeiteten, überwachten die Arbeit und trieben die Häftlinge an. Schmidt (2000, S. 151) zitiert den französischen Widerständler Robert Antelme (L’espéce humaine / Das Menschengeschlecht, 1947) zur „Situation der bevorzugten Gefangenen“ im KZ Gandersheim, einem Außenlager von Buchenwald: „Er gehörte bereits zu dieser Kategorie von Häftlingen, die man dann die – ausschließlich aus Kriminellen gebildete, denn unsere Kapos (Gandersheim, B. S.) sind keine Politischen, sondern deutsche Kriminelle – Aristokratie des Lagers nennen wird. Sie bekommen zu essen, zu rauchen, sie bekommen Mäntel und richtige Schuhe. Sie werden herumschreien, wenn wir schmutzig sind, wo es doch nur einen Wasserhahn für fünfhundert Häftlinge gibt, während sie sich selber mit warmem Wasser waschen und ihre Wäsche wechseln.“

Indem sie ihre Kameraden kontrollierten, wurden sie zu Komplizen der NS-Täter, genossen verschiedene Privilegien und hatten inoffiziell Zugang zu geraubten Gegenständen wie etwa Kleidung. Viele Kapos hatten also nach der Befreiung keine großen Überlebenschancen, weshalb sie in manchen Fällen von der abziehenden SS auf der Flucht vor der Roten Armee mitgenommen wurden.

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Bei den Zeugenaussagen fiel bereits auf, dass mindestens zwei der Gefangenen ihre Nationalität den neuen Gegebenheiten anpassen. Auch wenn die Filmleute keine Detailinformationen zur Lagerhierarchie der Häftlinge hatten, konnten sie mit bloßem Auge erkennen, dass einige zum Zeitpunkt der Befreiung wohlgenährt waren und ihr Schädel nicht geschoren, was darauf hindeutet, dass sie in Majdanek verantwortliche Stellungen innehatten.

8.7.2 Kapo 181 Während wir von Behnen über die genannten Quellen hinaus keine weiteren in den Archiven finden können, lässt sich Tomaseks Werdegang genauer rekonstruieren. Er wurde als Ludwig Tomasek geführt, mit der Gefangenennummer 13627, geb. 1894.715 Eine aufschlussreiche Perspektive gewährte eine Quellenannotation auf der Webseite des polnischen Museums in Majdanek zum „Objekt der Woche“ im September 2013. Der von einem Uscha unterzeichnete halb verkohlte Bericht vom 2.10.1943 wird hier so annotiert: „The commando of carpenters was headed by capo no. 36 (Franc Pejsar from Vienna), the commando cleaning the camp commandant’s rooms by capo no. 181 (Ludwig Tomaschek), and the commando cleaning up sewage pits by Vorarbeiter no. 12370 (Bolesław Kowalek).“716 Es geht konkret um den „Lageraufbau“ auf dem III. Feld (Abb. 8.14). Die Majdanek-Gedenkstätte identifizierte Tomasek hier offensichtlich über seine Nummer als eine Person, die der Spitze der Macht im KZ nahe gestanden hat: Kapo Nr. 181 war für die Ordnung in der „Wohnung des Kommandanten“ zuständig.717 Es gibt weitere Hinweise dafür, dass es sich bei Tomasek um einen Kapo handelt. Laut der Erinnerung von Jerzy Kwiatkowski war der Gefangene Tomasek mit der Nummer 13628 Lagerkapo der Felder IV und V (dem sog. „Todesfeld“,718 wo er mit dem jüdischen Zwangsarbeiter Reznik zusammengetroffen sein konnte). Ohne auf die Problematik der Verstrickung von Funktionshäftlingen eingehen zu können, möchte ich darauf hinweisen, dass in den Lubliner Kriegsverbrecherprozessen zwei Kapos angeklagt waren, zum einen Heinz Stalp (verurteilt und gehängt am 3.12.44), zum anderen Eduard Pohlmann, der sich am 22. November 1944

715 http://www.majdanek.eu/pl/prisoners-results?id=28667. [5.9.2018] 716 http://www.majdanek.home.pl/articles.php?acid=283&lng=1 [4.4.2015] (Dieser Link ist tot, er kommt auch in einer anderen FN vor) 717 „komandem utrzymującym porządek w pomieszczeniach komendanta obozu kapo nr 181 (Ludwig Tomaschek)“ http://starewww.majdanek.eu/articles.php?acid=283&lng=1 [1.2.2016] Da auf der abgebildeten Liste die Nummer nicht vermerkt ist, ist sie offensichtlich über eine andere Liste erschlossen. Vgl. auch http://www.majdanek.eu/en/prisoners-results?id=22043 [4.4.2016] 718 E-Mail-Auskunft von Łukasz Myszala, 3.12.2018. 461

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Abb. 8.14 Kapo 181 oben auf der Liste von Verantwortlichkeiten im KL Lublin, 2.10.1943, verantwortlich für die „Wohnung des Kommandanten“; http://starewww.majdanek. eu/articles.php?acid=283&lng=1 [4.4.2016]

in der Haft das Leben nahm.719 Ludwig Tomasek jedoch starb am 12.11.1958 eines natürlichen Todes und wurde in der Gallitzinstraße 5, in Wien-Ottakring begraben.720 Vorher 719 http://www.majdanek.com.pl/obozy/majdanek/wykaz_sadzonych.html [3.5.2017] In der Erinnerung von Bernhard Storch wurden im Juli 1944 auch zwei (später verurteilte) polnische Kollaborateure „gefangen“: „We caught there four SS people and two Polish collaborators. And I didn’t do it myself, but the other units did it. They were tried after the war.“ https://www. facinghistory.org/resource-library/video/red-army-enters-majdanek [14.9.2019] 720 Hier gilt „Grabnutzungsrecht bis auf Friedhofsdauer“, mit ihm begraben sind Maria Karoline Tomasek (20.1.1903–21.03.1987) und drei weitere Personen (Nachnamen: Mille und

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hatte er noch einen Antrag auf Kompensation für die KZ-Jahre beim Bundesministerium des Innern der BRD gestellt. Wer also ist dieser Ludwig Tomas(ch)ek in gestreifter Jacke ohne Häftlingsnummer, um Tomaseks Jargon zu übernehmen: ein „gewesener“ Majdanek-Kapo oder ein Kommunist721 – beides oder womöglich keines von beiden? Er teilt sich mit dem anderen Mann (in dunkler Jacke) auf jeden Fall Geburtsdatum und -ort, Vor- und Familienname, Beruf und „Weltanschauung“. Auf der Webseite des „Dokumentationszentrums des österreichischen Widerstands“ wird der in der Tiefendorfergasse 4, Wien, wohnhafte „Mechanikergehilfe Ludwig Tomaschek (Tomasek)“ als Opfer der Gestapo beschrieben: „wegen Verdachts der kommunistischen Betätigung im Juni 1939 festgenommen und am 1. 12. 1939 von der Gestapo Wien erkennungsdienstlich erfasst. Er wurde am 29. 6. 1940 in das KZ Dachau eingeliefert und am 10. 6. 1942 von dort in das KZ Majdanek überstellt. Dort blieb er bis zur Befreiung des Lagers am 23.7.1944 in Haft.“722 Laut der Datenbank der Jewishgen volunteers zum KZ Dachau723 findet sich bei diesem Namen (geb. 5.8.1894 Wien, wohnhaft Tiefendorfergasse 4; Gefangenennr. 13627) eine nicht ganz eindeutige Eintragung: Ludwig Tomasek wurde laut Vermerk von Dachau nach „M.“ transferiert, also nach Mauthausen, ebenfalls am 10.6.1942, d. h. zu jener Zeit, als aufgrund des Anschlags auf R. Heydrich zahlreiche Tschechen aus dem Protektorat nach Mauthausen gebracht und dort hingerichtet wurden. Es muss sich hier jedoch um eine falsche Eintragung handeln. Die zunächst naheliegende und häufig notierte Vermutung, „M.“ stünde für Majdanek, übersieht, dass die offizielle Bezeichnung Majdanek für das Konzentrationslager Lublin vor 1944 noch nicht existierte. 724 Wäre Ludwig Tomasek bzw. Gefangener Nr. 13627 allerdings tatsächlich nach Mauthausen gekommen,

Stift). https://www.friedhoefewien.at/grabsuche?submitHidden=true&name=Ludwig+Tomasek&friedhof=-1&jdb_von=&jdb_bis=&historischerGrab=false&latitudeWGS84_y=&longitudeWGS84_x=. [3.5.2018] 721 Aufgrund seiner Parteizugehörigkeit sollte noch der 1915 geborene Wiener Kommunist Ludwig Tomaschek genannt werden, der – wie Roman Karmen – in Spanien kämpfte und dort 1937 fiel.http://www.doew.at/erinnern/biographien/spanienarchiv-online/spanienfreiwillige-t/ tomaschek-ludwig,http://www.doew.at/erinnern/biographien/spanienarchiv-online/spanienfreiwillige-t/tomaschek-ludwig“ [3.2.2017] 722 https://www.ith.or.at/php/gestapo/index.php Man findet auch sein erkennungsdienstliches Konterfei (Abb. 8.15) auf http://www.doew.at, Suchmaske: http://www.doew.at/personensuche?gestapo=on&findall=&lang=en&shoah=on&politisch=on&firstname=Ludwig&lastname=Tomaschek&birthdate=&birthdate_to=&birthplace=&residence=&newsearch=10&iSortCol_0=1&sSortDir_0=asc&lang=en&suchen=Suchen# [2.4.2016] 723 S. 6071/Fa.; über die Ancestry-Datenbank. 724 „Bezüglich der irreführenden Angabe auf der JewishGen-WebSite, wonach Ludwig Tomaschek (Tomašek), geb. 5.8.1894, von Dachau in das KZ Mauthausen überstellt worden sei, hat Ihnen Frau Mehany ohnehin schon geschrieben, dass in den Dachauer Transportlisten der Zielort abgekürzt angegeben wird und mit ‚M.‘ in diesem Fall Lublin-Majdanek gemeint sein muss.“ (Winfried Garscha E-mail 16.1.2018) 463

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würde dies bedeuten, dass 13627 nicht in Majdanek war. Dann hätte die Person, die sich für Tomasek ausgibt, in Wahrheit eine andere Identität. Wie Tomasek von Mauthausen nach Lublin kam, bleibt erklärungsbedürftig. Wie aus den Aufzeichnungen zu den Häftlingen in Dachau hervorgeht (Dachau Concentration Camp Records), scheint Ludwig Tomasek (5.8.1894 Wien) bereits in Dachau zwei IDs gehabt zu haben. Zumindest zwei verschiedene Identifikations-Zahlen: 202733, page: 6072/Fa. und 202708, page: 6071/Fa. (die Adresse ist in den Records bei der Zahl 202708 falsch geschrieben: Tiedendorferg. 4 statt Tiefendorferg. 4). Die Gefangenennummer ist die gleiche: 13627. In beiden Fällen wird er jedoch als „Sch. D.“ (Schutzhäftling Deutsches Reich) geführt, nicht als „Sch. Tsch.“, wie z. B. der echte Tscheche Jaroslav Tomášek (ID 202706) aus dem westböhmischen Klatovy/Klattau. Dies weist darauf hin, dass hier eine nicht ganz eindeutige Identität vorliegt oder, dass hier möglicherweise jemand nach dem Krieg an den Ziffern geschraubt hat. Warum aber musste die Person, die von den Befreiern als Tomasek bezeichnet wird oder sich als T. ausgibt, eine andere Identität annehmen? Glücklicherweise verfügt das DÖW über erkennungsdienstliche Gestapo-Fotos, die laut ihrer Datenbank aus dem Jahr 1939 stammen und tatsächlich die gleiche Person zeigen, die wir auch in den Majdanek-Filmen sehen (Abb. 8.15). Soweit so gut. Doch kann es sich hier wirklich um Ludwig Tomas(ch)ek handeln? Es fällt auf, dass Ludwig Tomasek auf den Gestapo-Fotos von 1939 ähnlich alt oder älter aussieht als im Film selbst. Dies würde nahelegen, dass die Aufnahmen zu Kriegsende oder nach dem Krieg gemacht wurden, d. h. entweder in Majdanek/Lublin (Ludwig Tomasek blieb nach der Befreiung aufgrund der andauernden Kämpfe noch fast ein ganzes Jahr in Polen) oder aber 1945/6 in Wien. Laut der Webseite des DÖW sind die Dokumente und auch die Fotografien der Gestapo-Opfer (die „Opfer der Shoah“ sind bilderlos) erst 2000 wiedergefunden worden. Es ist denkbar, dass in Lublin/Majdanek ein Schreiber bzw. Lager-Archivar, der Zugang zu den Archiven und Akten hatte, im Zuge der Befreiung oder danach systematisch politisch korrekte Wiener Identitäten für ehemalige Funktionshäftlinge und andere Personen produziert hat. Dafür wären jedoch eine professionelle Kamera und ein Labor notwendig gewesen. Unter Umständen führt der Weg hier zu den Filmleuten, die schließlich in der ehemaligen Apotheker- und dann Globocnik-Villa ein Entwicklungslabor im Keller hatten.

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Abb. 8.15 Screenshot von www.doew.at: Erkennungsdienstliche Gestapo-Fotos von 1939, unter der Nummer 1295 [4.4.2016]

B. Schmidt erwähnt aber im Zusammenhang mit korrigierten Biografien auch kommerzielle Fotostudies in Polen, die nach der Befreiung Porträtsitzungen in gestreifter Kluft anboten, wie sich Art Spiegelmans Vater Vladek erinnerte: „Sein Vater hatte ihm erzä hlt, daß er ein Foto besäße, daß er in einem Fotogeschäft hätte machen lassen, welches mit einer neuen und sauberen KZ-Uniform für Erinnerungsfotos warb.“ (Schmidt 2000, S. 275) Ähnlich wie Tomasek sich für die Kameras die gestreifte Uniform anzog, mag er sich 1944 eine maßgeschneiderte Weltkriegsbiografie besorgt haben. Es fällt zudem auf, dass die Datumkarte mit Nummer und Aufschrift „Stapo-Leitstelle WIEN“ des Ludwig Tomasek im linken Bild in etwas liederlicher Weise in Schieflage platziert ist, bei den anderen Gestapo-Fotos von 1939 jedoch ordentlich, und im mittleren Foto.

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Exkurs: Doppelgänger in Wien. Leopold Tomasek / Tomašchek – Karl Tomašek – Ludwig Tomas(ch)ek Zum Vergleich möchte ich Gestapo-Fotos des Kommunisten Leopold Tomasek (Abb. 8.16) anführen, der – im Gegensatz zu Ludwig T. – eine echte Widerstandsbiografie aufweisen kann, die durch verschiedene Quellen bezeugt ist.

Abb. 8.16 Leopold Tomasek, Gestapo-Foto von 1941, Stapo-Leitstelle Wien Nr. 3503 http:// www.doew.at/cms/images/ab9d2/default/1361790870/Tomasek-Leopold.png [4.4.2016]

Der Schlosser Leopold Tomasek [auch: Tomašchek] (*14.10.1900 Wien) war laut DÖW Funktionär der KPÖ und leitete 1940 eine kommunistische Widerstandsgruppe unter den Wiener Straßenbahnern. Er wurde am 27.1.1941 festgenommen und am 5.11.1942 vom Volksgerichtshof Wien wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zum Tode verurteilt und laut den auf der Webseite hinterlegten Akten am 28.1.1943 im Landesgericht Wien hingerichtet. Doch ist dieser Mann nicht der einzige Schlosser Tomasek, der in Wien während des Kriegs hingerichtet wurde. Auch Karl Tomašek wurde in Wien exektutiert, allerdings erst neun Monate später. Diese beiden Tomaseks (aber kein Ludwig!) bilden zusammen mit anderen Kommunisten, die für die Verkehrsbetriebe arbeiteten, eine illegale Zelle. Auf der Webseite des Wiener Vereins „Zur Erinnerung“ findet sich Karls Biografie: Karl Tomasek war Funktionär der KPÖ. Er stellte Ende 1940 Flugblätter und die „Rote Fahne“ her. Die „rote Fahne“ galt als Zentralorgan der kommunistischen Partei. Während der Diktatur des Nationalsozialismus war sie verboten. In parteinahen Widerstandskreisen wurde sie unter Bedingungen der Illegalität aus dem Untergrund heraus verbreitet. Karl Tomasek wurde am 17.3.1941 verhaftet. Seine Verurteilung zum Tode erfolgte am 9.11.1942. Die Hinrichtung wurde am 23.9.1943 im Landesgericht I in Wien vollstreckt. (Abb. 8.17) http://karl-tomasek.zurerinnerung.at/ [2.2.2020]

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Abb. 8.17 Eisenbahnwerkzeugschlosser Karl Tomašek, Gestapo-Foto von 1941, Stapo-Leitstelle Wien Nr. 3688

In dem auf der Webseite von DÖW einsehbarem Urteil zu dem am 23.9.1943 in Wien hingerichteten Karl Tomašek wird erwähnt, dass er 1940 den Kommunisten Leopold Tomasek kennengelernt habe, jedoch nicht mit ihm verwandt sei, wie wir auf S. 5 des Urteils lesen können: Im Verlaufe dieser Tätigkeit lernte Tomasek auch andere KPÖ.-Funktionäre, darunter den Kommunisten Leopold Tomasek, der trotz der Gleichheit des Zunamens nicht mit ihm verwandt ist, den Otto Kales […] kennen.725

Das Urteil des Volksgerichtshofs Wien wurde vier Tage nach dem Todesurteil gegen Leopold T. ausgesprochen, ebenfalls wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“. Im Urteil vom 9.11.1942 in „der Strafsache gegen den Eisenbahnwerkzeugschlosser Karl Tomašek“ und die Hilfsarbeiterinnen Anna Muzik und Katharina Odwody, die Stenotypistin Rosina Benedikt, den Straßenbahnschaffner Josef Reznicek, den Tischlermeister Franz Wahlberger und den Steindruckergehilfe Waldemar Rubas. Hier fällt auf, dass im Verhör Karl Tomašek bestritt Bezirksleiter gewesen zu sein, das sei Leopold Tomaschek gewesen (laut Urteil vom 9.11.1942, S. 7). Es scheint bereits in Wien zu Verwechslungen der Tomaseks gekommen zu sein, wobei die kommunistische Zelle die Namensgleichheit auch zu konspirativen Zwecken nutzte. Die Doppelgängerei ist also ein Phänomen, das nicht erst im KL Lublin beginnt, sondern eine Technik der Camouflage unter kommunistischen Widerständlern war. Für den führenden Kopf der Organisation wurde der mehrseitigen, die Todesurteile und Strafen 725 Urteil des Volksgerichtshofs Wien, S. 5. Vgl. die auf der Seite des DÖW hochgeladene Abschrift: http://www.doew.at/cms/download/4chle/19793_191.pdf [1.12.2018] 467

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begründenden Untersuchung zufolge, Leopold Tomasek gehalten. Aus der Untersuchung geht hervor, dass der Name Tomasek / Tomašek auch über die Eisenbahnerkreise von Wien-Favoriten hinaus bekannt war. Was jedoch erstaunt, ist, wie sich die Nachwelt an die Wiener Tomaseks (nicht) erinnert. Bereits am 21. Oktober 1945 wurde an der Fassade des Straßenbahn-Betriebsbahnhof Favoriten in der Gudrunstraße 153–159 eine Gedenktafel angebracht, „mit den Namen der sieben WiderstandskämpferInnen, die wegen ihres Widerstands gegen das nationalsozialistische Regime in verschiedenen Konzentrationslagern (Groß-Rosen, Dachau, Flossenbürg) oder im Wiener Landesgericht ermordet/hingerichtet wurden“.726 Die Tafel trägt die Inschrift: Unsterbliche Opfer ihr sanket dahin. Fahrer: Benedikt Otto, Kaspar Franz. Schaffner: Haselsteiner Leopold, Dlabaja Albert, Maras Johann, Plöbst Franz, Kales Otto. Vom Faschismus gemordet, in Treue die Strassenbahner Favoritens.

Wenn die Stifter der Tafel die „Straßenbahner Favoritens“ waren, also die Kollegen der Tomaseks, ist unverständlich, warum hier kein Tomasek oder Tomaš(ch)ek erwähnt wird, obgleich beide sowohl mit den Verkehrsvertrieben bzw. den „Reichsbahnausbesserungswerken“ waren727 als auch mit dem Ehepaar Benedikt bzw. Otto Kales verbunden waren. Ihr Fehlen könnte – wie auch das Auslassen von Kommunistenfunktionär Leopold Tomasek in der Erinnerung an die widerständische „Gruppe 40“ auf dem Zentralfriedhof bis heute – auf zweierlei hindeuten: Die Tomaseks hatten 1945 bzw. später keinen guten Leumund oder aber sie sind nicht als „unsterbliche Opfer dahingesunken.“ In Wien wird eine reiche Kultur der Erinnerung an Tote in Ehrenhainen auf Friedhöfen oder Grab- und Gedenkstätten gepflegt. Sie wird überwiegend von der Stadt Wien finanziert. Neben den nur auf dem Zentralfriedhof bestehenden Ehrengräbern gab und gibt es auch „ehrenhalber gewidmete Gräber“. Die Stadt Wien trägt für beide Grabtypen, die auf Friedhofsdauer vergeben werden, die Grabmiete. Keines der Tomasek-Gräber ist laut Webseite als ein Ehrengrab ausgewiesen, auch nicht das in Gruppe 40, Reihe 30 Nummer 26 auf dem Zentralfriedhof. Im Vergleich dazu war ein privates Grab „auf Friedhofsdauer“ für einen Mann ohne Nachkommen u. U. nicht erste Priorität – es sei denn, eine Institution, die sich um das Gedenken an diese Person kümmerte, zahlte hierfür; es ist nicht ausgeschlossen, dass der österreichische KZ-Verband, namentlich sein Obmann Ludwig Soswinski, dies dem Majdanek-Überlebenden Tomasek ermöglichte.

726 https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Gedenktafel_für_sieben_hingerichtete_Straßenbahner [2.2.2020] 727 Urteil vom 9.11.1942, S. 5; der Sterbefall des „Straßenbahners Leopold Tomašchek“ ist zu finden auf http://www.doew.at/cms/images/ab9d2/default/1361790870/Tomasek-Leopold.png)

8.7 Opferbiografien und -narrative

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Die einzige weitere Grabstätte der überaus zahlreichen Wiener Tomas(ch)eks, die „auf Friedhofsdauer“ besteht, war die von den Widerständlern Leopold Tomasek und Maria Tomasek (Modistin und Wiederstandskämpferin, 27.1.1907–2.2.1989)728, und zwar auf dem Zentralfriedhof. Bemerkenswert ist zudem, der Umstand, dass Leopold Tomasek nicht in die Datenbank der Nationalen Gedenkstätte der WiderstandskämpferInnen gegen das NS-Regime am Wiener Zentralfriedhof („Gruppe 40“) aufgenommen wurde, im Gegensatz zu Karl Tomašek (hier als Tomasek), und dies, obgleich Leopolds Name im ehemaligen Hinrichtungsraum des Landesgericht für Strafsachen Wien zu finden ist, direkt unter dem von Karl (Abb. 8.18).

Abb. 8.18 Karl und Leopold Tomasek gemeinsam auf einer Gedenktafel im Landesgericht für Strafsachen Wien (http:// karl-tomasek.zurerinnerung. at/) [1.2.2018]

Entweder die Erinnerung an Widerstandkämpfer in Wien ist höchst selektiv oder Leopold ist seinen Häschern möglicherweise doch entkommen? Ein Indiz findet sich in der Beschaffenheit des mit Bleistift ausgefüllten Formulars seines „Sterbefalls“ von 1943. Die Enthauptung wurde auf einem altem „Ostmark“-Vordruck dokumentiert. Am 8.4.1942 hatte die Reichskanzlei jedoch angeordnet, statt „Ostmark“ die Bezeichnung „Alpen- und Donau-Reichsgaue“ zu verwenden, und zwar nach einer dringenden Aufforderung im Januar 1942 (Broucek 1983, S. 291). (Abb. 8.19)

728 „Die Modistin Maria Tomasek wurde am 10. 2. 1941 wegen kommunistischer Betätigung festgenommen. Sie wurde am 5. 11. 1942 vom Volksgerichtshof wegen ‚Vorbereitung zum Hochverrat‘ zu 4 Jahren Zuchthaus verurteilt und im Dezember 1942 in das Frauenzuchthaus Aichach (Deutschland) überstellt. Ihr Mann Leopold Tomasek wurde hingerichtet.“ http:// ausstellung.en.doew.at/index.php?action=gestapo_db&todo=search&kategorie=1&geb_datd=&geb_datm=01&geb_daty= [1.2.2019] 469

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8 Film-Vorschriften und Zensur

Abb. 8.19 „Sterbefall“ von „Strassenbahner Leopold Tomašchek“ 1943 auf obsoletem „Ostmark“-Formular (links oben)

Es wurde also entweder Ausschuss-Papier verwendet oder es handelt sich um ein gefälschtes Dokument auf einem aussortierten und ungültigen Formular. Daher müsste der Sache nachgegangen werden, ob der Beamte des Statistischen Amts, der 1943 das „Sterbefall“-Formular – mit Bleistift ! – ausgefüllt hat, ein altes Formular („Ausgabe 1942“) benützt haben könnte.729 729 Diese Forschung, die zu weit von der Majdanek-Thematik wegführen würde, kann in diesem Rahmen nicht geleistet werden; ich möchte daher nur eine Überlegung anstellen: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Amt in Wien – aus Sparsamkeit? – ein Jahr nach der Empfehlung den Begriff „Ostmark“ nicht mehr zu verwenden Makulatur einsetzte und sich

8.7 Opferbiografien und -narrative

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Auf Karl Tomašeks Formular hingegen steht korrekt „Statistisches Amt für die Alpenund Donau-Reichsgaue“ (Abb. 8.20).

Abb. 8.20 „Sterbefall“ von „Karl Tomasek“ auf „Alpen- und Donau-Reichsgaue“-Formular (1943)

dadurch dem Vorwurf des Separatismus (dies führt Broucek 1983 als Grund für das Verbot der „Ostmark“ an) aussetzen würde? Da bei der Gerichtsverhandlung gegen Karl Tomašek neben den Juristen (Granzow, Fikeis, Friedrich; als „Urkundsbeamter“ der „Justizassistent“ Becker) ein SA-Gruppenführer und zwei SS-Brigadeführer zugegen waren, kann man annehmen, dass die Dokumentation dieser Prozesse gegen Widerständler – auch aufgrund der Existenz von Witwen und Familien – von der Partei scharf überwacht wurden und die Beamten gefährliche Schlampereien vermeiden wollten. 471

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8 Film-Vorschriften und Zensur

8.8

Das falsche Familiengrab

8.8

Das falsche Familiengrab

Nachforschungen zu der Familie von Ludwig Tomasek haben ergeben, dass die Gräber dieser Familie über Wien verstreut sind. Während der Vater in Ottakring begraben ist, liegt der Rest der Familie an anderen Orten. Frau Marion Suppan von der Friedhöfe Wien GmbH hat mir im Dezember 2018 mitgeteilt, dass Josefa Tomasek, 1961 auf einem anderen Friedhof begraben wurde als ihr heimgekehrter Mann, nämlich in Wien-Baumgarten: Frau Josefa Tomasek wurde am Friedhof Baumgarten am 16.02.1961 in die Grabstelle Gruppe R Grabnr., 1719 beigesetzt, ebenso wie Frau Wendler Hildegarde Maria (geb. 10.08.1923) verstorben am 27.07.2008. Am Friedhof Ottakring wurde Herr Ludwig Tomasek (geb. 05.08.1894) verstorben am 12.11.1958 in die Grabstelle 19–16A-4 beigesetzt. Leider konnte ich weder einen Alfried noch einen Altfried finden, jedoch am Friedhof Gersthof Herrn Adelfried Tomasek verstorben 1942, Gruppe 3 Reihe 1A Grabnummer 32.

Josefa Tomaseks Sohn ist 1942 während des Kriegs gestorben. Der 16-jährige Adelfried wurde auf dem Friedhof Gersthof (Währing) begraben.730 Da der aus Polen zurückgekehrte Tomasek nicht gemeinsam mit seiner Frau Josefa und auch nicht seinen Kindern Hildegard und Adelfried, geboren 1923 und 1926, begraben ist, kann man vermuten, dass die Ehepartner spätestens zum Zeitpunkt des Todes des Gatten kein Paar mehr waren oder es nie gewesen sind, was u. U. auch erklären könnte, warum Ludwig es nach der Befreiung von Wien im April 1945 nicht eilig hatte, nach Hause zurückzukehren (erst am 24. Juni 1945). Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass es sich bei dem im Film sichtbaren Mann nicht um Josefa Tomaseks Ehemann und Vater von Hildegard und Adelfried, und damit nicht um Ludwig Tomasek handelt.731 Ebenfalls für einen solchen Identitätsbetrug spricht die Tatsache, dass der ‚echte‘ Ludwig Tomasek laut Dokumentation im Museum von Majdanek seit dem Sommer 1944 als verschollen gilt. Der Verbleib des Lagerkapos und Gefangenen Nr. 13627 ist offiziell seit der Evakuierung des KL Lublin am 22. Juli 1944 unbekannt: 730 Dort befand sich während des 2. Weltkrieges ein Militärspital, in dem Adelfried u. U. vor seinem Tod behandelt wurde. Inwieweit die Bestattung des Jungen mit dem 1942 auch in Österreich begonnenen Bombenkrieg zusammenhängt, wäre zu erforschen. Jungen unter 18 wurden ab 1943 als Flakhelfer eingesetzt, einer gefährlichen Tätigkeit. 731 Der zweigliedrige und germanisch klingende Name Adelfried ist in Wien selten und wurde im DÖW als Mädchenname aufgefasst (s. u.). Ich konnte lediglich wenige Adelfrieds in Wien finden, und zwar mit den Nachnamen Steinhart, Lämmermann und Jünger – alle auf dem Zentralfriedhof bis 1924 begraben, https://www.friedhoefewien.at/eportal3/ep/channelView. do/pageTypeId/75472/channelId/-55270 [1.2.2019], bzw. Adelfried Jarolien, der 1930 auf dem Friedhof Gerstberg bestattet wurde https://www.findagrave.com/memorial/160169195 [1.2.2019] Ich möchte hier Zweifel anmelden, dass Adelfrieds Vater Ludwig Tomasek tatsächlich eine innige Beziehung zu seinem Tschechentum gehabt hat, denn für tschechische Patrioten war es damals eher ungewöhnlich, Kindern althochdeutsche Namen geben.

8.8 Das falsche Familiengrab

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Ludwig Tomasek, born on 05.08.1894, prisoner number 13627, represented in one official file from the camp, according to testimony of Jerzy Kwiatkowski, a Czech born in Vienna, Lagerkapo of field number IV then V, shot in the leg during the stay in the camp, evacuated with the last transport marching out of the camp on July 22, 1944, never reached the Wisła river, fate unknown.732

V war das sog. „Todesfeld“, wo Erschießungen stattfanden. Sollte wirklich ein Identitätswechsel stattgefunden haben, so käme als Täter auch einer der österreichischen SS-Männer in Frage, die sich nach der Befreiung unter die Soldaten zu mischen versuchten. Einem SS-Mann hätte man in Ermangelung von Anzeichen der Unterernährung eine Tarnung als Häftling nicht abgenommen, die Identität eines Kapos dagegen wäre plausibel gewesen. Da der im Film sichtbare Mann sich sein Grab in Ottakring mit der Familie Mille teilt,733 findet sich hier eine Spur, die zum unterschlagenen Familiennamen führen könnte. Auffällig sind neben den Umbettungen, die Tomasek 1954 veranlasst, v. a. seine privilegierte Bestattung, die für einen einfachen Schlosser kostpielig war: Die Grabstelle von Hr. Ludwig Tomasek bleibt bestehen solange der Friedhof besteht […] man konnte bis zu den 1950er Jahre gegen Entgelt das Grab auf Friedhofsdauer ankaufen, seither können Gräber bis 60 Jahre im voraus bezahlt werden. (Marion Suppan, Friedhöfe Wien GmbH, e-mail 7.12.2018)

Als ich mich im Dezember 2018 an die Friedhofsverwaltung wandte, waren diese 60 Jahre gerade abgelaufen, jedoch besteht das Grab weiter, da es ja „auf Friedhofsdauer“ besteht. Konnte sich der Schlosser, der 1958 in Ottakring begraben wurde, ein Grab „auf Friedhofsdauer“ leisten? Ob er es selbst bezahlt hat, Angehörige oder eine dritte Instanz, ist bisher nicht aktenkundig. Allerdings scheint es, dass seine Grabstätte 1954 für ihn und möglicherweise seine Eltern vorbereitet wurde. Unter seinem neuen Namen hat er scheinbar auch geheiratet – denn in dem Grab liegt auch eine Maria Karoline Tomasek (20.1.1903–6.4.1987).

732 E-Mail-Auskunft von Łukasz Myszala, 3.12.2018. 733 Antonie Mille (*1876 und gestorben 1929, aber in diesem Grab bestattet erst im Jahr 1954) und Johann Mille (??–1951). Des Weiteren ist dort auch ab 1954 Leopold Stift (1899–1937) bestattet. Diese drei wurden alle am 15.6.1954 in Ottakring beigesetzt bzw. dorthin umgebettet. Antonie (sie war in seinem Geburtsjahr 18 Jahre) und Johann gehören in etwa der Elterngeneration von Ludwig Tomasek an, und dies scheint mir der einzige plausible Grund zu sein, warum er mit ihnen das Grab teilen würde. In diesem Fall wäre sein echter Name Mille. 473

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8 Film-Vorschriften und Zensur

8.9

Der Name Tomasek in Majdanek

8.9

Der Name Tomasek in Majdanek

Die Lagerkanzlei. Auf dem Fußboden stapelweise Dokumente der Ermordeten aller Nationalitäten. […] Das alles in zehn Minuten, auf dem Fußboden eines Zimmers – ein papierner Grabhügel aus ganz Europa. (Simonow 1979, 20. Kap.)

Auch wenn der 1894 geborene Ludwig Tomasek vermutlich kein Tscheche war, hat es unter den Wiener Widerständlern zahlreiche Tschechen gegeben. Auf den Gedenktafeln wie auch in der Datenbank zur „Gruppe 40“ finden sich viele tschechische Vor- und/oder Nachnamen, zum Teil mit diakritischen Zeichen oder in germanisierter Form wie etwa Josef Blaschek (Blažek) „am 20.2.1893 in Wien geboren.“734 Ein Detail in einer Korrespondenz verrät, dass Karl Tomašek bzw. auch seine Frau tschechische Wurzeln hatten. Eine seiner Sendungen aus der Todeszelle (datiert 15.11.1942) weist auf eine Herkunft der Familie aus Böhmen hin, da er in dem deutschen Brief das tschechische Wort maminka (Mami, Mutti) verwendet: Liebe Mitzi und Fritzi! Alle meine Lieben! Vor allem grüße ich euch alle von ganzem Herzen. Ich glaube, du wirst ja von meinem allzu harten Urteil bereits erfahren haben. Hätte nie geglaubt, dass mein Vergehen so schwer ist, dass ich mit der härtesten Strafe, die es für einen Menschen gibt, zu rechnen hatte. […] Ich bitte dich, unserer kleinen, lieben Puppe einen kleinen Christbaum zu schmücken. Sind wir froh, dass sie noch nicht weiß und versteht, welch großen Kummer und Sorgen wir jetzt alle zu ertragen haben. Ich wünsche dir und auch der Maminka viel Glück zum Namenstag, auch unserer Fritzi zum Geburtstag. http:// karl-tomasek.zurerinnerung.at/?cemetery_view=1 [5.12.2018]

Die Behauptung eines Majdanek-Häftlings oder Kapos im Juli 1944, er sei der generische „tschechische Kommunist Tomasek aus Wien“, wäre also zumindest im lokalen Kontext glaubwürdig. Die Selbstbezeichnung eines „Tschechen Tomasek“ war geschickt, da zahlreiche Personen in Wien über die kommunistischen Tomaseks Bescheid wissen konnten, die Verfolgten ebenso wie die Verfolger, die dieses Dokument erstellt oder zur Einsicht hatten (Abb. 8.21). Da wir wissen, dass sich in Majdanek viele Identitätspapiere ansammelten (ein Thema, das die sowjetisch-polnischen Filmaufnahmen eigens unterstreichen) wäre es möglich, dass kurz vor oder während der Befreiung eine Person, die auch aus Wien kam und ungefähr der gleichen Generation angehörte, die Identität eines in Majdanek ermordeten oder anders verstorbenen Tomas(ch)ek aus Wien angenommen hat. Wie ich aufgrund der Informationen aus der Majdanek-Gedenkstätte annnehme, war der echte Wiener Tomasek Ende Juli nicht mehr am Leben oder wenigstens verschollen – jeder beliebige andere (und nicht 734 „Er war als Anstreicher und Bahnpost-Facharbeiter beschäftigt. Hingerichtet.“ http://josef-blaschek.zurerinnerung.at/?cemetery_view=1 oder „Philomena (Filomena) DANEK (Daňková), HÄUSLERIN. Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime. Hingerichtet. 1898 † 1943.“ http:// philomena-danek.zurerinnerung.at/?cemetery_view=1 [1.2.2019]

8.9 Der Name Tomasek in Majdanek

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Abb. 8.21 Leopold und Karl Tomasek im Wortlaut des Gerichtsurteils vom 9.11.1942

nur Häft ling) konnte also in seine Haut schlüpfen, vorausgesetzt er wurde seiner Papiere habhaft, oder der aufgenähten Nummer auf der gestreiften Jacke. Zugang zu passenden Stoff fetzen oder Dokumenten hatten freilich nicht alle, ein SSMann beispielsweise hätte allerdings sogar noch vor der Befreiung Zugang zu den Papieren eines ausgewiesenen Kommunisten, der in Majdanek ermordet worden war, oder den Marsch in den Westen nicht überlebt hatte, haben können. Unklar ist auch, wo der im archivierten Filmmaterial sichtbare Mann (in dunkler Jacke auf Abb. 8.8 und 8.10) ist, wenn später ein anderer (in gestreifter Jacke, Abb. 8.9, 8.11) seine Rolle übernimmt? Ohne weitere makabre Schlüsse ziehen zu wollen, kann man feststellen, dass einige Zeugenaussagen unwahr sind bzw. Identitäten und Nationalitäten vorgetäuscht wurden. Nicht auszuschließen ist auch, dass das SMERŠ / NKWD unangenehme Identitäten aufk lärte und anstatt dieser geeignete Personen zu Zeugenaussagen animierte.735 General Leopold Okulicki äußerte sich zu ähnlichen Praktiken der Sowjets im befreiten Polen folgendermaßen: Die konspirative Tätigkeit in den von den Sowjets eingenommenen Gebieten ist unvergleichlich schwieriger als die Konspiration gegen die Deutschen. Der sowjetische NKWD arbeitet effektiver und einfallsreicher als die Gestapo. Er nötigt zur Zusammenarbeit und findet viele Bereitwillige innerhalb der polnischen Bevölkerung. (Zitiert in Kołakowski 2003, S. 210)

Kołakowski weist darauf hin, dass etwa in Sandomierz während der „ersten Monate der Tätigkeit des NKWD-NKGB mehr Polen festgenommen wurden als in den fünf Jahren deutscher Besatzungszeit.“ (ibid.) Er führt als wichtigste Aufgabe die Zerschlagung der unter deutscher Besatzung entstandenen polnischen Untergrundbewegung an: Spitzelwesen, Denunziationen, „perfide Verhörmethoden“ und Erpressung, sowjetische Unterwanderung der Heimatarmee, wie etwa durch W. Lechowicz, „den langjährigen sowjetischen Agenten 735 Über die Praktiken der sowjetischen Sicherheitsdienste zur Gewinnung von Mitarbeitern unter Staatsbürgern anderer Länder vgl. Piotr Kołakowski 2003. 475

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8 Film-Vorschriften und Zensur

und Mitarbeiter der Abteilung II ‚Militärisches Nachrichtenwesen‘ der Volksarmee (AL)“ (ibid., 2010–211). Dies bezieht sich natürlich auch auf die reichsdeutschen Häftlinge, die den Ansprüchen der Befreier umso mehr ausgeliefert waren, da sich im Sommer 1944 niemand für sie einsetzte. Jan Tomasz Gross (2001) hat sich der Untersuchung dieser Methoden in der Nachkriegsgeschichte in Polen in seiner Mikrostudie zu Jedwabne gewidmet, in der er den „ungebrochenen Konformismus“ einiger Opportunisten beschreibt, die sich „den mörderischen Regimes mit Haut und Haar“ verschrieben: Erst war er geheimer Mitarbeiter des NKWD, dann erledigte er die Drecksarbeit für die Nazis und tötete die Juden, und schließlich trat er der PPR, der Kommunistischen Partei, bei. Für diese Art der vorauseilenden Anpassung an wechselnde Umstände haben die Franzosen einen schönen Ausdruck – fuite en avant, Flucht nach vorn. (Gross 2001, S. 86)

Ich möchte hier eine Passage aus einer typischen Nachkriegsaussage eines für jedes Regime arbeitenden Zuträgers, Agenten und Verbrechers zitieren, die Gross untersucht: „Nach einer Prüfung meiner Anschauungen erlaubte mir der NKWD in Jedwabne, an der Liquidierung des antisowjetischen Übels mitzuwirken. [Anscheinander war Laudański einer der Pentiti von KNWD-Oberst Misurjew]. Damals nahm ich Kontakt zum NKWD in Jedwabne auf (meinen Decknamen gebe ich schriftlich nicht an). Während ich mit ihm in Verbindung stand, hatte ich, um effektiver arbeiten zu können und mich nicht der Reaktion zu verraten, Befehl von meinem sowjetischen Vorgesetzten, eine antisowjetische Haltung einzunehmen, da ich den Behörden bereits bekannt war. Als im Jahre 1941 plötzlich der deutsch-sowjetische Krieg ausbrach, konnte der NKWD nicht alle seine Dokumente vernichten, und ich traute mich nicht heraus, aber hintenherum konnte ich ermitteln [er bewog seinen jüngeren Bruder, bei der deutschen Gendarmerie zu arbeiten!], daß die wichtigsten Dokumente auf dem Hof des NKWD verbrannt worden waren. […] Ich fühle mich von dem ganzen Urteil ungerecht behandelt, denn meine Ansichten sind andere, als man mir unterstellt, denn als ich mit dem NKWD in Verbindung stand, war mein Leben ständig bedroht. […] Ich erkläre, daß ich ein mißverstandener Mensch im Gefängnis gelandet bin, denn wäre meine Meinung über die Freundschaft mit der Sowjetunion bekannt gewesen, wäre ich mitsamt meiner Familie, wenn nicht von den Deutschen, so von den reaktionären Banden vernichtet worden.“ (Gross 2001, S. 85–86; Bemerkungen in eckigen Klammern sind von Gross)

Auch wenn Tomas(ch)ek diesen Diskurs der Nachkriegszeit nicht in vollem Maße beherrscht haben mag, ist er doch vom ersten Tag der Befreiung an mit ähnlichen Strukturen konfrontiert, v. a. der geheimdienstlichen Befragung durch sowjetische Offiziere und den sowjetischen Sicherheitsapparat, u. U. assistiert vom Kameramann E. Efimov. Inwieweit waren die Filmemacher in die Geschichte des falschen und doppelten Tomas(ch)ek eingeweiht? Hierfür gibt es folgende Argumente: Karmen und/oder Ford bzw. Sof’in nahmen zuerst Tomas(ch)ek als Zeugen in der offiziellen Befragung durch die Kommission auf; da entweder die Performanz nicht genehm war oder etwas Anderes nicht mehr in Ordnung war mit Tomas(ch)ek, baten die Filmleute (unter Štatlands Anleitung?) einen anderen Österreicher, den Part des tschechischen ‘Kommunisten Tomasek’ aus

8.10 „Er war ein sehr guter Kamerad“ – Soswinskis Zeugnis zu Tomasek

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Wien vor dem Krematoriumsschornstein zu übernehmen. Er erhielt eine gestreifte Jacke ohne Nummer und hielt seine Rede über diejenigen, die aufgrund ihrer Weltanschauung „durch den Kamin“ mussten. Was wirklich mit dem wahren Tomasek geschah, der möglicherweise doch nach Mauthausen verlegt worden war, vielleicht aber auch beim Marsch Richtung Weichsel seiner Schussverletzung erlag, bleibt unklar. Doch wie zuverlässig sind Angaben von Verfolgtenvereinen und anderen, nach dem Krieg erstellten Datenbanken? Da es sich bei den Informationen, über die das DÖW verfügt, um eine Selbstauskunft des heimgekehrten Ludwig Tomasek handelt, bei der Jewishgen-Information jedoch um eine Quelle von Überlebenden aus dem KZ Dachau, hat die Information über die Verlegung nach Mauthausen einen möglicherweise objektiveren Status.

8.10

„Er war ein sehr guter Kamerad“ – Soswinskis Zeugnis zu Tomasek

8.10

„Er war ein sehr guter Kamerad“ – Soswinskis Zeugnis zu Tomasek

In der Quellenedition von 2003 finden sich zahlreiche Passagen, die speziell in Majdanek gehäuft auf individuell gefälschte Papiere (meist „arische“ wie die von der Jüdin Barbara Briks), das Wandern von Namen oder Identitätswechsel hinweisen. Der Majdanek-Kapo Ernst Fischer (Ambach/Köhler 2003, S. 78) beschreibt die lagertypische Identifikation von Personen durch die Nummer auf der Häftlingskleidung: „Die Nummer war auf einem weißen Stoffstreifen. Ob die Nummern bei einem Wechsel des Trägers draufblieben, weiß ich nicht.“ Auffällig ist, dass dieser „Badekapo“, der in allernächster Nähe des Geschehens lebte („Von der Badebaracke habe ich mehrmals Vergasungen gesehen“; ibid.), gerade diese entscheidende Frage nicht beantworten kann oder will, obwohl er in der „Wäschekammer“ schlief. Man kann also davon ausgehen, dass gerade in diesem von Korruption betroffenen Lager Häftlinge mit etwas Hilfe jene Identität annehmen konnten, die die Nummer auf der Jacke angab, um sich vor der Vernichtung zu retten. Allerdings funktionierte dies nur innerhalb bestimmter Gruppen, die hinsichtlich der Sprache homogen waren, ansonsten musste ein deutscher Häftling mit der Nummer eines ‚niederländischen‘ Trägers plötzlich seine Stimme verlieren – es sei denn, er beherrschte die Sprache fließend. Dies brachte jene, die mit Kleidung und Wäsche zu tun hatten, in eine privilegierte Position, die Kapo Fischer nicht preisgeben will. Aspekte der Fehlidentifikation der Figur, die sich auf den Kommentar zu den Filmaufnahmen auswirkt, können auch auf die Filmleute zurückgehen. Allerdings enthält das schriftliche Communiqué (1944) die gleiche Ungenauigkeit, so dass wir davon ausgehen können, dass die nur in der polnischen Version vom November 1944 genannte Nationalität eines „Österreichers“ einen Lapsus darstellt, der in der russischen Fassung (Januar 1945) korrigiert wurde.

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8 Film-Vorschriften und Zensur

Winfried Garscha (DÖW) hat mir dankenswerterweise folgende Biografie zugänglich gemacht, die eine weitere Aufklärung der Wiener Netzwerke zeitigt: TOMASEK (Tomaschek) Ludwig: Festnahme Juli 1939 wegen Verdachts der Vorbereitung zum kommunist. Hochverrat. Haft im LG I vom 16.2.1940 bis 24.4.1940 (zu GZl. 7 J 93/40 – Hl 44/40), Überstellung an die Gestapo. Schutzhaft im KZ Dachau ab 29.6.1940, Überstellung ins KZ Lublin-Majdanek am 10.6.1942-Aug. 1944. Haftbefehl, Ermittlungsrichter des VGH beim LG Wien 27.2.1940 (weil seit März 1938 f. d. kommunist. Partei betätigt). Bestätigung Polnisches Rotes Kreuz/Lublin 8.8.1944, Gef. LG I 7.11.1946, Gauaktauskunft, BMfI 19.11.1952, ITS Arolsen 22.6.1953 (dort Hinweis: „In der Transportliste vom 10.6.1942 des K. L.Dachau ist ein Bleistiftvermerk: ‚N.Gross-Rosen‘„). Aus den Dokumenten und Zeugenangaben, die Ludwig Tomasek 1946 für seine Aufnahme in den KZ-Verband vorlegte (DÖW-Akt 20100/12376), geht hervor, dass er im KZ Dachau im Isolierblock war und im KZ Majdanek die Funktion eines Kapos innehatte (bezeugt von Ludwig Soswinski, einem prominenten kommunistischen Häftling, der später Obmann des KZ-Verbands wurde), weiters, dass er nach seiner Befreiung im KZ Majdanek (22.7.1944) in Polen blieb und erst am 24.6.1945 nach Wien zurückkehrte. Ludwig Tomasek war verheiratet (Ehefrau: Josefine, geb. 1.3.1895) und hatte zwei Kinder: Hildegard (geb. 10.8.1923) und Alfried [im Akt „Altfried“ geschrieben] (geb.19.7.1926). Auf die Rückseite des Aufnahmeantrags schrieb Soswinski mit Rotstift: „Ich kenne Herrn Tomaschek aus Dachau und Lublin. Er war ein sehr guter Kamerad und stets hilfsbereit.“736

Abgesehen davon, dass Soswinskis im Jahr 1946 geschriebene Biografie noch einmal vor Augen führt, dass die Personen im KL „Lublin“ und nicht „Majdanek“ waren, ist sie überaus aufschlussreich. L. Tomasek wurde angeblich – wie es auf der JewishGen-WebSite hieß – nicht nur nach „M.“ transportiert, also das oberösterreichische Mauthausen oder Majdanek, sondern auch nach „Groß-Rosen“ in der Nähe von Breslau, das 500 km westlich von Lublin liegt. Es wird des Weiteren sowohl bestätigt, dass Tomasek im August 1944 noch in Majdanek anwesend war, als auch, dass er trotz seiner Kapo-Vergangenheit mit den Befreiern bzw. dem Polnischen Roten Kreuz gut zurechtkam. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden in all den Ländern, in denen nach Kollaborateuren und Kriegsverbrechern gesucht wurde, auch ‚Persilscheine‘ ausgestellt. Man sollte also gerade Leumundbestätigungen unter Parteigenossen mit Vorsicht begegnen. Zugleich kann man erkennen, dass der nach Österreich zurückkehrende Tomasek von den Netzwerken der Wiener Kommunisten gestützt wird. Die entscheidende Rolle spielt hier der sich über ihn so positiv äußernde KPÖ- und später DÖW-Funktionär Soswinski.737 Der Jurist Soswinski wiederum hatte in Majdanek 1944 die Schlüsselfunktion des Lagerschreibers inne: 736 Laut E-mail-Auskunft von W. Garscha am 16.1.2018. 737 Zu Ludwig Soswinski (1905–1997) vgl. die Biografie „Wir waren ‘Weana’“: „1925–1929 Verband Sozialistischer Studenten Österreichs, dort Sekretär. Jurist, Revisor bei den Konsumgenossenschaften. Nach dem Februar 1934 KPÖ, 1937/38 Haft. Neuerliche Festnahme am 13. März 1938, am 1. April 1938 mit dem so genannten ‚Prominententransport‘ Überstellung in das KZ Dachau. Bis Kriegsende Haft in den KZ Dachau, Flossenbürg, Lublin, Auschwitz und

8.10 „Er war ein sehr guter Kamerad“ – Soswinskis Zeugnis zu Tomasek

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Im Jänner 1944 werden 100 „deutsche“ Häftlinge aus Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau nach Lublin, einem Außenkommando des KZ Majdanek, überstellt. Auf Beschluss der illegalen Lagerleitung von Dachau wird Ludwig Soswinski als künftiger Lagerschreiber des Außenkommandos Lublin in die Transportliste eingeschmuggelt.738

Unklar ist, wann genau Soswinski, in dessen Biografie als Stationen nach Lublin „Auschwitz und Mauthausen“ genannt werden, das Konzentrationslager Lublin/Majdanek verließ. Wenn er bis zum 22. Juli 1944 evakuiert wurde, musste er etwaige Schreibtätigkeiten, mit denen er den Genossen half, bis zu diesem Zeitpunkt beendet haben (Abb. 8.22).

Abb. 8.22 Ludwig Soswinski als Häftling in Dachau (DÖW Foto 6026) https://www. doew.at/erinnern/fotosund-dokumente/1938-1945/ der-erste-dachau-transportaus-wien-1-april-1938/ soswinski-ludwig-dr [4.4.2018]

Indirekt bezieht sich Soswinskis Schilderung der Pflichten und Privilegien der Putz-Kapos auf Tomasek, der als Kapo die Kommandantenwohnung sauber halten musste:

Mauthausen, Beteiligung an der Organisierung des Widerstands der politischen Häftlinge. 1945–1958 Wiener Gemeinderat (KPÖ), 1955 Wiener Obmann des KZ-Verbandes, ab 1964 dessen Bundesobmann. 1963 maßgeblich an der Gründung des DÖW beteiligt.“https://www. doew.at/erinnern/biographien/erzaehlte-geschichte/haft-1938-1945/ludwig-soswinski-wir-waren-weana [4.9.2016] 738 „Am 27.9.1939 vom KZ Dachau in das KZ Flossenbürg überstellt, am 2.3.1940 nach Dachau rücküberstellt. Am 28.1.1944 vom KZ Dachau in das KZ Majdanek überstellt. Von Majdanek nach Auschwitz und schließlich nach Mauthausen verlegt, wo er am 25.1.1945 registriert wurde. In Mauthausen bis zur Befreiung 1945 in Haft.“ https://www.doew.at/erinnern/biographien/ erzaehlte-geschichte/haft-1938-1945/ludwig-soswinski-wir-waren-weana [4.4.2016] 479

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8 Film-Vorschriften und Zensur

Es hat einige vom Lager gegeben – so wie in allen Lagern –, die mussten in den SS-Unterkünften sauber machen. Das war sicher ein sehr gutes Kommando, weil es dort oft Brot gegeben hat. Das hat es sogar in Mauthausen in den Führer- und Unterführer-Baracken gegeben, dass der, wenn er schön sauber gemacht hat, ein Stück Brot bekommen hat. Man hat zum Beispiel feststellen können, dass der SS-Mann vergessen hat, am Abend den Feindsender abzudrehen. Wenn er dann gekommen ist, hat man gesagt: „Wenn Sie schon hören, dann drehen Sie das am Abend wieder zurück.“ Das war natürlich ein Vertrauensverhältnis, das da geschaffen wurde. […] Ich erkläre das immer wieder: Das kann man nicht vergleichen mit Dachau oder mit Buchenwald 1938, von mir aus sogar bis 1945. Das war im Osten, das war in Polen, das war in einer bestimmten Kriegszeit. Wenn schon der SS-Mann Feindsender gehört hat, war sicher schon der Glaube, dass der Krieg gewonnen wird, erschüttert.739

Hier wird demonstriert, wie ein Putz-Kapo in Lublin/Majdanek mit den Kommandanten ein „Vertrauensverhältnis“ aufbauen konnte. Da er Radio in der Wohnung hören konnte, hatte er somit auch Gelegenheit zur Erpressung: in einer SS-Wohnung durften Feindsender nicht straflos zugänglich gemacht werden. Auch an das Überleben im Juli 1944 erinnert sich Soswinski, und wie man mit Hilfe von polnischem Speck vermeidet, ein Muselmann zu werden: Wenn man aber alles mit Fett herrichten kann, so ist keiner dann an Unterernährung oder als „Muselmann“ [durch Hunger völlig entkräfteter Häftling] im Juli bei der „Evakuierung“ umgekommen. Die Polen haben uns das deshalb so reichlich gegeben, weil wir ihnen dafür Nachrichten vermittelt haben.740

Tomasek, Häftling und Kapo in Mauthausen/Majdanek – für den Film möglicherweise von einem anderen verkörpert – gehörte jedenfalls zu denen, die sich auf das Überleben verstanden und auch nicht unter Hunger leiden mussten. Er ist in diesem Sinne ein stereotyper Vertreter der Nation, der er anzugehören vorgibt – ein wahrer Schwejk. Den 739 Soswinski führt einen „konkreten Fall“ an: „Da hat der gesagt: ‚Jössas na, heut müss ma am Abend wieder ausse!‘ Warum muss er heute abend wieder ‚ausse‘? Zur Partisanenbekämpfung. Wenn ein Sturmbann ausgerückt ist – keine Ahnung, 500 oder 600 Mann –, hast du keinen Partisanen gesehen, weil das Machtverhältnis zu ungleich war. Aber das war nicht immer so, manchmal sind kleinere Einheiten ausgerückt, vielleicht 20, 30 Mann. Der SS-Mann hat gewusst, wozu er eingeteilt war. Wenn er nach Hause gekommen ist aus dem Dienst oder nach dem Mittagessen, hat er gewusst, was am Abend los ist. […] Wenn er gewusst hat, dass er mit einer kleinen Einheit ausrückt, hat er auch gewusst, dass für ihn eine unmittelbare Lebensgefahr besteht. Das hat er zum Ausdruck gebracht. Der Häftling hat das nach seinem Einrücken ins Lager dem Zivilarbeiter gesagt. Wenn die am Abend nach Hause gegangen sind, dann haben die Partisanen erfahren, wer draußen sein wird. Das war die Hilfe, die wir gegeben haben. Das zur Frage: Wollten die wirklich nur die Häftlinge unterstützen mit ‚Botschek‘ und mit Wodka? Bei Wodka haben sie gewusst: Wenn die SS anfängt zu saufen, dann ist manches leichter zu machen.“ https://www.doew.at/erinnern/biographien/erzaehlte-geschichte/haft-1938-1945/ ludwig-soswinski-wir-waren-weana [4.4.2016] 740 https://www.doew.at/erinnern/biographien/erzaehlte-geschichte/haft-1938-1945/ludwig-soswinski-wir-waren-weana [4.4.2016]

8.11 Opferuniversalismus und Antisemitismus

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jüdischen Häftlingen standen solche Überlebensstrategien nur in den allerseltensten Fällen zur Verfügung. Auch in dieser Hinsicht ist der Fall Tomasek symptomatisch für Majdanek.

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Opferuniversalismus und Antisemitismus

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Opferuniversalismus und Antisemitismus

Hier kann man auf eine der Grundfragen zurückkommen, ob sich in den Majdanek-Filmen ein staatlicher sowjetischer oder ein individueller Antisemitismus ausdrückt und bei den im Film gezeigten Überlebenden ihr Judentum unterschlagen wurde? 2003 nahm Stuart Liebman bei seiner Analyse der Majdanek-Zeugenaussagen nachträglich eine Judaisierung von Majdanek-Überlebenden vor – möglicherweise inspiriert von der geringen Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen oder aber der Verwendung des Majdanekfilmmaterials im Holocaustkontext bzw. als Reaktion auf die vielfachen Verfälschungen in der Darstellung der Ermordung der europäischen Juden. Inwieweit wird diese Frage aber der Intention der Filmemacher überhaupt gerecht, die sich in den 1940er Jahren der Zensur beugen mussten? Abgesehen davon, dass die Identifikation Be(h)nens als eines unerkannten Juden nun als widerlegt gelten kann, wäre den Autoren des Films, Kommunisten jüdischer Herkunft, Karmen, Ford und Bossak, im Jahr 1944 ein solches Vorgehen vermutlich als rassistischer Atavismus erschienen, der weder ihrer persönlichen Überzeugung noch dem von einem anhebenden Opfer-Universalismus geprägten Zeitgeist entsprach. Hier fand sich ein völlig anderes Denken (und Verdrängen der Differenzen) als das zu Anfang des 21. Jahrhunderts entwickelte Selbstbewusstsein einer im politischen Kontext der US-amerikanischen Demokratie positiv verstandenen jüdischen Ethnizität. Auch wenn der deutsche Behnen ein verfolgter Jude aus den Niederlanden und der österreichische Tomas(ch)ek ein misshandelter Tscheche gewesen wären, bliebe Liebmans rückwirkender Einwand gegen das Fehlen der korrekten Identifikation der Befreiten anachronistisch: zum Zeitpunkt der Aufnahmen, im Sommer 1944, konnten die Befreiten endlich von ihrer ethnischen Herkunft – die im Fall von „Juden“ im Sinne der Nürnberger Gesetze einem Todesurteil gleichkam und zudem bisweilen einer rein äußerlichen Zuschreibung gleichkam – , absehen. Sie nun wieder primär als unterdrückte „Rasse“ zu identifizieren, hätte ihrem eigenen legitimen Streben widersprochen, die menschliche Würde zurückzuerhalten. In der neuen Nachkriegswelt sollten sie in erster Linie als Menschen mit Menschenrechten erscheinen, mit neuen, ihre Vorkriegsstaatszugehörigkeit wiederherstellenden (belgischen, österreichischen und niederländischen) Pässen ausgestattet – und erst in zweiter Linie als ethnische Minderheiten: Flamen, Bretonen, Böhmen oder Juden. In der polnischen Filmfassung ist ausdrücklich die Rede „von allen Rassen und Nationalitäten“, was bereits darauf hindeutet, dass die sowjetischen KZ-Filme über Kategorien wie Rasse, aber auch ein bürgerliches Verständnis von Nationalität hinwegsehen mussten, da es

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8 Film-Vorschriften und Zensur

um die Schilderung der „faschistischen“ Aggression in erster Linie gegen das sowjetische Volk ging, und nicht um nationale oder ethnische Einzelgruppen.741 Wenn unter den Opfern im Lager differenziert wurde, dann ging es um das richtige politische Bewusstsein. Neben der Klassen- wurde Parteizugehörigkeit geschätzt; so wurde im sich bildenden Ostblock nach dem Krieg bevorzugt die Geschichte des kommunistischen Widerstands akzentuiert bzw. konstruiert, andere Untergrundgruppen wurden totgeschwiegen oder später gar der Verfolgung unterworfen. Die Frage, warum das Drehteam mit Tomasek ausgerechnet einen ehemaligen Kapo vor die Kamera holte, bleibt allerdings von diesen Überlegungen unberührt.

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741 In der 1944 aktuellen Situation des sowjetischen Anspruchs auf Polen als Einfluss- oder sogar sowjetisches Staatsgebiet wurden gerade auch polnische Juden – auch aufgrund der Vorgeschichte des Russischen Reiches – unter diesen Begriff der Nation subsumiert.

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Die ersten Filme über die farnichtung: Chancen und Hindernisse

9.1

Die verschenkte Gelegenheit einer medialen Intervention

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Die verschenkte Gelegenheit einer medialen Intervention

Auch wenn die sowjetischen Berichterstatter, allen voran Simonov, der seine Reportage angeblich vorzeitig abgeschickt hatte, eine internationale journalistische Sensation geahnt haben mögen, erfüllten sich diese Hoffnungen in den ersten Wochen nach der Entdeckung des Lagers nicht. Dies beginnt bereits mit der Wahrnehmung des Ereignisses durch die Medienvertreter der westlichen Alliierten, die dem aus Moskau zur Verfügung gestellten Bild- und Textmaterial zu diesem Ereignis nicht vorbehaltslos Glauben schenkten bzw. ihm nicht die gebührende Bedeutung zumaßen. Die amerikanische Presse gestand den sowjetischen Berichten zu Majdanek nicht einmal den Status einer genuinen Nachricht zu. Jeremy Hicks bringt das Missverhältnis zwischen dem Ereignis und seiner Wahrnehmung auf den Punkt: In fact, Western opinion failed to realize that the accounts of Majdanek were correct until British and American forces began to discover concentration camps in western Germany in April 1945. (Hicks 2013, S. 258)

Die anfängliche Unzugänglichkeit des Orts der Nazi-Verbrechen im PKWN-regierten Lublin schürte bei den westlichen Journalisten Misstrauen. Dies führte dazu, dass keine amerikanische Tageszeitung über Majdanek berichtete – mit Ausnahme der jiddischen Zeitung Der tog,742 die die Artikel „Toytn-lager in Lublin“ und „Toyt makhshirim un karbones in Lublin“ am 14. und 17. August 1944 druckte, in denen die jüdischen Opfer jedoch laut Shneer (2010, S. 167) nicht eigens erwähnt wurden. Allerdings weist die jiddische Terminologie des letzteren Titels darauf hin, wenn man das Aussagesubjekt miteinbezieht, 742 Joseph Opatoshu war einer der Autoren dieser jiddischen Zeitung; Joel Berkowitz charakterisiert seine vermittelnde Rolle innerhalb der polnisch-jüdischen Kultur: „Like Asch, Joseph Opatoshu emigrated from Poland to New York, where he became a lifelong contributor to the daily Der tog from its founding in 1914. In his masterpiece, In poylishe velder [In the Polish Woods], Opatoshu showed a people caught up in the decline of Hasidism, the rise of the Haskalah [The Enlightenment], and the struggles for Polish independence.“ (Berkowitz 2004, S. 32). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Drubek-Meyer, Filme über Vernichtung und Befreiung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30531-4_9

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9 Die ersten Filme über die farnichtung: Chancen und Hindernisse

wie ich in Kap. 2 dargelegt habe. Wenn ein jüdischer Autor von „Vernichtung“, „Katastrophe“ und „Opfern“ sprach – v. a. auf Jiddisch – bezog sich das auf die Vernichtung seines Volkes und jüdische Opfer. Wie bereits erwähnt, bezeichnet der Begriff karbones „rituelle Opfer“ und wurde etwa von dem sowjetischen Schriftsteller David Bergel’son 1942 in der Bedeutung „unsere Opfer“ in einem jiddischen Text verwendet.743 Wie verbreitet das Jiddische damals noch war, zeigt, dass die neue Regierung eine Radiostation im befreiten Lublin einrichtete, die in dieser Sprache sendete: Soviet-controlled radio stations, especially Radio Polskie Lublin, the organ of the National Committee of Liberation, were broadcasting a great deal of information about what had happened to Polish Jewry. This was particularly the case in mid-February. However, much of what was broadcast, especially in Radio Polskie Lublin’s Yiddish service, was highly propagandistic, calculated to portray the AK in particular, and Poles in general, as viciously antisemitic. The Soviets had first established this as the propaganda line regarding Polish Jewry in 1943. As Shimon Redlich notes: ‘The main aim of Soviet propaganda in this case was to point out anti-Jewish prejudices and anti-Semitic behaviour on the part of the Polish Government in Exile.’ It could hardly be described as a reliable source. The BBC were not alone in largely ignoring accounts that were emerging of the unique horror of the extermination camps. An FO official, quoted by Tony Kushner, noted ‘that information on the camps liberated by the Russians had received “only the scantiest indications in the Press’.”744

Auch wenn die jiddischsprachige Welt informiert wurde, eigneten sich diese verbalen Informationskanäle kaum, um die Nachricht alliierten Entscheidungsträgern plausibel zu machen. Alexander Werth (1984, S. 890) erinnert sich in seinem Buch Russia At War, sein eigener Augenzeugenbericht über das KZ sei vom BBC als „russischer Propagandatrick“ abgelehnt worden: Unbelievable it was: when I sent the BBC a detailed report on Maidanek in August 1944, they refused to use it; they thought it was a Russian propaganda stunt, and it was not till the discovery in the west of Buchenwald, Dachau and Belsen that they were convinced that Maidanek and Auschwitz were also genuine […] Simonov described it all in Pravda; but most of the Western press ignored his account.745

Dabei hätte Majdanek bereits Ende Juli oder Anfang August 1944 zu einem – auch von westlichen Journalisten – ausgewerteten news item werden können, ähnlich wie Bergen-Belsen im April 1945. Es fällt auf, dass – abgesehen von der politischen Ausrichtung – die Lagerbeschreibung durch den Augenzeugen Karmen (Montageliste VS 1008) derjenigen von Richard Dimbleby ähnelt, die am 19.4.1945 von der BBC gesendet wurde; sie begann 743 Die Beziehung zwischen der Verwendung von jiddischer Begrifflichkeit (farnichting, karbones) durch jiddische Literaten und der nicht auf jiddisch schreibenden Juden wie Karmen, Bossak und Ford, harrt noch ihrer Untersuchung. 744 Milland 1998, S. 239–240. Auch der amerikanische Film Death Mills (1945, Hanuš Burger, Billy Wilder) wurde auf Jiddisch synchronisiert. 745 Es war nicht die Pravda, sondern Krasnaja zvezda.

9.1 Die verschenkte Gelegenheit einer medialen Intervention

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mit den Worten „I have just returned from the Belsen concentration camp“. Der Brite Dimbleby berichtet von „Tausenden von Juden“, die sich unter den 40.000 um das Überleben Kämpfenden befinden. Die BBC sendete Dimblebys Bericht allerdings erst, nachdem er mit einer Kündigung gedroht hatte.746 Internationale Journalisten erhielten erst am 25.8.1944, also einen Monat nach der Befreiung von Majdanek, Zugang.747 Und auch dann standen noch keine Filmreportage zur Verfügung, die man hätte anbieten können. Die zuvor in den Westen gelangten Fotos waren per Bildtelegrafie versandt worden und wiesen eine mindere Qualität auf. Erst Ende August erscheint der erste amerikanische Augenzeugenbericht von W. Lawrence in der New York Times (30.8.1944).748 Sowohl dieser Artikel als auch die am 28. August in der US-Zeitschrift Life erschienene Foto-Reportage mit dem Titel „Lublin Funeral. Russians Honor Jews Whom Nazis Gassed and Cremated in Mass“ erwähnt Juden als mehrheitliche Opfergruppe von Majdanek, der Journalist beschwerte sich laut der Darstellung bei T. Kranz jedoch, dass ihm die „sowjetischen Zensoren die Information über das Faktum, dass die Mehrheit Juden gewesen wären, vorenthalten hätten.“749 Dabei fand sich diese Information bereits in Simonovs Artikel in der Krasnaja zvezda, der drei Wochen zuvor erschienen war – allerdings entsprach der Versuch des Ausländers, die jüdischen Opfer als solche zu identifizieren, Ende August offensichtlich nicht mehr der aktuellen Informationspolitik. Man kann den Life-Fotos ansehen, dass nur einzelne Majdanek-Bilder ausgewählt wurden. Bestimmte Motive wurden offensichtlich für später aufbewahrt bzw. exklusiv sowjetischen Kameras zugänglich gemacht. Die Gaskammern fehlen (Abb. 9.1).

746 „Richard Dimbleby was the first broadcaster to enter the camp and, overcome, broke down several times while making his report. The BBC initially refused to play the report, as they could not believe the scenes he had described, and it was only broadcast after Dimbleby threatened to resign.“ https://www.bbc.co.uk/archive/richard-dimbleby-describes-belsen/zvw7cqt [2.2.2019] Es ist unklar, ob die originale Sendung die Information zu den Juden enthielt, laut Milland (1998, S. 252) wurde sie zensiert: „Most pertinently, Dimbleby’s original introduction included a description of the nationalities of the inmates as ‘German, and about a half a dozen other nationalities – thousands of them Jews.’ One of the very few references to Jews amid the huge amount of reportage from the recently liberated camps had been cut.“ 747 Shneer 2010, S. 165. Vgl. auch „A Chronos UK Presentation“, Teil 3. 748 Im Detail dargestellt in Shneer 2010, S. 164–7. 749 Anm. des Übersetzers: „[Amerykański dziennikarz Lawrence skarżył się, że sowieccy cenzorzy usunęli mu informację, że większość ofiar Majdanka stanowili Żydzi. Zob. T. Kranz, Majdanek w świetle…, S. 337, przyp. 7 – od red.].“ (Liebman 2011, S. 220) U. U. hat hier W. Forbert, der vor dem Krieg für Life gearbeitet hatte, versucht, den Korrespondenten aufzuklären. Es ist denkbar, dass der mit der sowjetischen Informationspolitik unzufriedene Forbert diese frühe amerikanische Reportage vermittelt hatte. 487

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Abb. 9.1

9 Die ersten Filme über die farnichtung: Chancen und Hindernisse

“Begräbnis in Lublin“, in der US-Illustrierten Life vom 28.8.1944

9.1 Die verschenkte Gelegenheit einer medialen Intervention

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Dass ausländische Reporter erst Ende August nach Majdanek kommen konnten, mag unter anderem daran liegen, dass in Majdanek – die Infrastruktur des KZs nutzend – vom sowjetischen Geheimdienst ein (Filter-)Lager eingerichtet wurde.750 Hier wurden auch Militärs inhaftiert, die der der Londoner Regierung unterstehenden Heimatarmee angehörten. Kurz vor der Zugänglichmachung von Majdanek wurden Untergrundkämpfer – wie zum Beispiel Oberst Ludwik Bittner, seit 1.8.1941 Kommandant der Lubliner Untergrundarmee,751 oder Jan Mickunas, im August 1944 in sowjetische Lager im Gebiet Rjazan’ verbracht (Mickunas war vorher noch im Lubliner Schloss von der deutschen Besatzungsmacht gefangen gehalten worden, das im Juli von der Roten Armee befreit worden war).752 Ein Bericht der Heimatarmee nach London schildert die Situation am 19.8.1944: Massenverhaftungen von AK-Soldaten werden im gesamten Landkreis vom NKWD durchgeführt und vom PKWN geduldet. […] Die Verhafteten werden in Majdanek festgesetzt […] Die Verluste der Nation und der AK sind nicht kleiner als während der deutschen Besatzung. Die Behandlung sind oft Schläge. Wir bezahlen auch mit Blut. Im NKWD-Lager wurden Offiziere des Heimatschutzkommandos von Lublin und anderer Abteilungen, der 3. Infanteriedivision der Heimatarmee, der 27. wolhynischen Infanteriedivision, der 30. Infanteriedivision, die sich beeilte, dem kämpfenden Warschau zu helfen, interniert. (Pełczyński 1991, S. 189)

Laut der Darstellung der Majdanek-Gedenkstätte wurden am 23.8.1944 250 Offiziere und Unteroffiziere vom Appellplatz in Majdanek in Lastwägen auf den Bahnhof Lublin-Tatary gebracht und von dort in die UdSSR verschleppt, von wo sie – wenn sie überlebten – erst 1947 zurückkehrten.753 Zwei Tage später konnten die ausländischen Journalisten das Lager-Gelände betreten, ohne auf diese neuen Majdanek-Häftlinge aus der post-nationalsozialistischen Ära zu stoßen. Es gibt also zahlreiche Gründe, warum das Majdanekfilmmaterial unmittelbar nach seiner Herstellung zu keinem Medienereignis mit internationaler Wirkung werden konnte: der eine wurde bisher mit der Unentschlossenheit der sowjetischen politischen Zensur in den ersten Wochen nach der Öffnung, wie mit dem Ausmaß des speziell genozidalen Aspekt von Majdanek zu verfahren war (und damit vieler anderer Lager, in denen v. a. Juden interniert oder ermordet worden waren) begründet. Davon künden die schwankenden Bezeichnungen: Einmal ist von einem Lager bei Lublin, dann wieder von einem Maj750 „W krótce na terenie Majdanka zorganizowano obóz NKWD dla aresztowanych członków polskiego Państwa Podziemnego. W barakach byłego obozu przetrzymywano także przez pewien czas wziętych do niewoli żołnierzy niemieckich.“ http://www.majdanek.eu/articles. php?acid=45 [4.3.2016] Monika Heinemann (2017, S. 201, 214), die sich der musealen Kriegs­ erinnerung widmet, nennt lediglich das Lubliner Schloss als NKWD-Gefängnis (ab der zweiten Augusthälfte 1944 bis 1954). Zum Lubliner Schloss vgl. den instruktiven polnischen Artikel auf http://teatrnn.pl/leksykon/artykuly/wiezienie-na-zamku-w-lublinie-1944-1954/ [1.3.2018] 751 Diese zählte im Februar 1944 „40.000 Angehörige, von denen ein beträchtlicher Teil Partisanenverbänden angehörte, die gegen die Deutschen kämpften.“ (Mazur 2003, S. 132–133). 752 http://indeksrepresjonowanych.pl/indeks [1.3.2018] 753 http://www.majdanek.com.pl/czytelnia/nkwd.html [1.1.2020] 489

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dan(ek) die Rede, und dies bis hin zu den Titeln der Simonov-Broschüre. Betrachtet man die erste Hälfte des Jahrs 1944, lässt sich erkennen, dass verschiedene Medien, Zensoren und Gremien die Dokumentation der jüdischen Identität der Opfer keineswegs einheitlich behandeln. Ein aktenkundiges Beispiel wäre Šverniks Erwähnung jüdischer Opfer vom Anfang des Jahres 1944, die von Molotov im Februar 1944 korrigiert wird (Pozner/Sumpf/ Voisin 2015, S. 66). Im März 1944 erschien in der sowjetischen Zeitschrift Internationale Literatur eine Spezialnummer zum Judenmord. Der andere Grund ist auf die Taktik der Sowjets zurückzuführen, bestimmte Bildzeugnisse für einen späteren Moment der Abrechnung mit dem Feind zurückzuhalten – als Überraschungseffekt; gerade bei den atrocity-Aufnahmen liegt solch eine „Aufklärung durch Schrecken“ (Goergen 2005) nahe, der auch im Kontext eines Gerichtsverfahrens gezielt zum Einsatz kommen sollte, d. h. im November 1944. Die Filmaufnahmen aus dem KZ werden in der UdSSR mit großer Vorsicht behandelt: Im Sommer 1944 schien es den Medienvertretern sicherer, das Thema mit einigen wenigen Fotos illustriert von Schriftstellern bearbeiten zu lassen bzw. mit einem Fotoessay zu den Gräueln an die Öffentlichkeit zu gehen. Der Umstand, dass der Filmemacher Karmen bereits im August 1944 in einem westlichen Medium mit einem Zeitungsartikel in der amerikanischen Presse in Erscheinung trat, kommt einer nicht eingelösten Ankündigung seines Films gleich, der dann aber viele Monate auf sich warten lässt und international während des Kriegs keine Wirkung zeitigen wird. Die spätere Majdanek-Berichterstattung korrigiert jene Uneindeutigkeit in Bezug auf die Schilderung des Judenmords, dem im August 1944 in den Zeitungsartikeln und im Bericht der Kommission immerhin eine Erwähnung zukommt. Schon im Herbst kommen Juden nicht mehr vor. Sicher ist, dass die Zensur in Moskau Ende 1944 die Filmaufnahmen, die den Genozid an den Juden dokumentieren (der in den Majdanek-Aufnahmen augenscheinlich war und auch in den mit Ton gefilmten Zeugenaussagen von Opfern und Tätern bestätigt wird), nicht zur Veröffentlichung in den beiden Filmversionen freigab. Im Kontext der polnischen Ereignisse und der polnisch-sowjetischen Beziehungen zwischen Juli 1944 und Januar 1945 (PKWN-Etablierung, Warschauer Aufstand, Repressionen von Polen ab Oktober 1944, Vorbereitung der Einführung von Zensur in Polen Ende 1944) kann man erkennen, dass die Vernichtung der Juden in einem kurzen Zeitfenster und zwar in der ersten Augusthälfte, oder vielleicht sogar nur in der zweiten Augustwoche in taktischer Weise von sowjetischer Seite öffentlich thematisiert wurde; der Umgang mit dem Thema im Juli 1944 wie auch in den nachfolgenden Monaten lässt sich mit Geheimhaltung, Informationslenkung, Täuschung bzw. Unterschlagung beschreiben. Die Fertigstellung des Films wiederum fand nicht im Sommer statt, lediglich die Aufnahmen, die in ihrem vollen Umfang – also auch dem archivierten Teil – davon Zeugnis ablegen. Die Montagelisten legen nahe, dass die für die Dokumentation des Genozids relevanten Aufnahmen in erster Linie von Karmen und dem polnischen Team stammen. Štatlands (bzw. Sof’ins) Aufnahmen vom 27. und 28.8.1944 gehören bereits in die Periode der sowjetischen Ausblendung der jüdischen Opfer – parallel zu den Berichten der

9.2 Karmens Widersacher: Viktor Štatland und Vasilij Stalin?

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ausländischen Reporter, denen nur ausgewählte Ansichten des Lagers, das nicht mehr im Originalzustand war, vorgeführt wurden. Bisher wurde das Verschweigen des Judenmords in den fertigen Filmen meist als Spannungsverhältnis zwischen dem von den Kameraleuten aufgenommenen Material und dem Schnitt bzw. dem Regisseur gesehen. Die Regisseure und die Cutterin hatten in Bezug auf dieses Material aber wenig Entscheidungsspielraum. Die jüdische Herkunft Wohls, Karmens, der Forberts und Fords konnte nicht verhindern, dass im Laufe des Jahres 1944 in den Moskauer Zensurapparaten eine gänzliche Verdrängung des Genozids in der filmischen Majdanek-Darstellung beschlossen wurde, sondern führte paradoxerweise zum Gegenteil; es scheint, dass man im Studio um die Glaubwürdigkeit eines Propagandafilms fürchtete, in dem Juden den Mord an den Juden dokumentieren. Ein Indiz hierfür ist, dass die Namen Wohl, Forbert und Ford keinen Einlass in den russischen Vorspann erhalten. Dass die jüdischen Filmemacher diesen Vorwurf ihrer eigenen Parteilichkeit vorhergesehen haben, lässt sich möglicherweise aus dem polnischen Titel ablesen, der zu einem rhetorischen Verfahren greift: Majdanek als Friedhof Europas, also als Trope einer Grabstätte der europäischen Juden.

9.2

Karmens Widersacher: Viktor Štatland und Vasilij Stalin?

9.2

Karmens Widersacher: Viktor Štatland und Vasilij Stalin?

Es fällt auf, dass laut Fomins Sammlung von Biografien der Kameraleute („Zabytyj polk“ in Fomin 2018) nur einer der sowjetischen Kameraleute für seine Teilnahme an den Majdanek-Aufnahmen ausgezeichnet wurde, und dies war Viktor Štatland. Wenn wir uns seinen individuellen Beitrag zum Film ansehen, ist die Differenz zwischen der Beschaffenheit der Štatland-Aufnahmen und der Qualität der von Karmen gelieferten Einstellungen beträchtlich. Wurden tatsächlich seine farblose Aufnahmen des befreiten Lagers prämiert, oder war es der Film – mit dem Material von zahlreichen Kameraleuten, darunter vom anerkannten Ass an der Kamera, Karmen? Man kann davon ausgehen, dass Štatland, hätte er selbst mehr im Lager Lublin/Maj­ danek und nicht nur die Besuche der Prominenten gefilmt, anderes Filmmaterial vorgelegt. Dann hätte der Majdanek-Film vermutlich bereits im Sommer 1944 gesäubert und geglättet ausgesehen, ohne hyperbolische Motive und ungewohnte Perspektiven bzw. grotesk-surrealistische Anklänge, die an die einige Jahre zuvor verurteilten formalistischen Experimente erinnerten. Die von Karmen und Ford vorgefundenen „phantastischen Bilder“ des Lagers waren Štatland offensichtlich unheimlich – schließlich waren sie von einer gefährlichen Vieldeutigkeit, die sich in der Universalität ihrer Aussage u. a. auch auf sowjetische Lager und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hätte beziehen können. Dies war eine Filmästhetik, die Štatland weder guthieß noch als Leiter der Filmgruppe und Parteimitglied verantworten wollte. Ein Alleingang Štatlands – mit seinem Assistenten Komarov, Sof’in bzw. unterstützt durch Efimov – war aber nicht möglich, weil beträchtliche Mengen von Filmmaterial 491

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vom prominenten Reporter Karmen abgedreht waren und aus politischen Gründen das polnische Team mit von der Partie sein musste. Auch die Fords sorgten dafür, dass sich Štatlands (sozialistisch-)realistische Auffassung von einem (Lager-)Befreiungsfilm nicht gänzlich durchsetzen konnte – wenn es also Reibungen gab zwischen Kameraleuten, dann lagen sie auch im Konflikt der Filmstile. Es mag zudem eine Rolle gespielt haben, dass dem zwischendurch abwesenden Štatland und denen, die dem Grauen von Majdanek bereits seit einem Monat ausgesetzt waren (zufälligerweise waren die letzteren überwiegend jüdischer Herkunft), wenig Sympathie zu bestehen schien; laut Montagelistentabelle war Štatland zwar als einer der ersten in Lublin (VS 901 bezieht sich auf Juli: „die ersten Stunden des befreiten Lublin“), seine nächste Montageliste (VS 1020/1021) betrifft allerdings erst Ereignisse, die um den 4.–6.8. stattfinden – offensichtlich war er selbst vor Ort, um Bulganin zu filmen. Hätte Štatland allein entschieden, hätten in das befreite Lublin einrollende Panzer, ein kurzer Ausflug auf die Majdanek- Felder und einige Panoramen der Paraden und Feierstunden aus dem Zentrum von Lublin genügt – seine Objekte waren Militärs, Politoffiziere, Paraden und Politiker (vgl. VS 1133: Bulganin, Morawski, Rokossovskij). Aber damit endet Štatlands Sabotage des Ringens um eine wahrhaftige Darstellung des ersten befreiten KZ nicht. In der Charakterisierung des obersten Leiters der Frontfilmgruppen im CSDF (L. Saakov) wird dem ehrgeizigen Štatland „politische Zugespitztheit und hochgradige Wachsamkeit“ bescheinigt.754 Wer mit dem Diskurs der von Parteileuten verfassten Personalgutachten vertraut ist, kann diese Passage in deutschen Klartext übersetzen. Nicht nur über ein politisch geschärftes Auge verfügte Štatland, sondern auch über Wachsamkeit, was in dem vorliegenden Kontext als Beschreibung verstanden werden kann, die Kameraleute in Majdanek zu überwachen bzw. Berichte über sie zu verfassen. Saakov erwähnt weiter, dass der Stalinpreisträger sich durch eine „energische Entscheidungsfreudigkeit bei der Arbeit“ mit den militärischen Vorgesetzten auszeichnet (Fomin 2018, S. 179). Der Armenier Leon Saakov (1909–1988) war von 1943–45 der Leiter der Front-Filmgruppen des Studios CSDF (zuvor stellvertretender Leiter im Sojuzdetfil’m-Studio, d. h. dem früheren Mežrabpomfil’m). Es fällt auf, dass Štatland von ihm besonders für seine Aufnahmen der „Befreiung der Stadt Lublin“, des „Todeslagers Majdanek“ und für die Chroniknummer Na podstupach k Varšave / Annäherung an Warschau belobigt wurde. Roman Karmen jedoch wird für die Majdanek-Aufnahmen nicht nur nicht ausgezeichnet, sondern seine KZ-Aufnahmen werden bei der Aufzählung seiner Verdienste gar nicht erwähnt, als wäre er nicht dabei gewesen. Die Rede ist nur allgemein von „Reportage-Material im Prozess des Angriffs der Roten Armee im Sommer 1944“ („Работает в группе 1-го Белорусского фронта с июля 1944 г. Являясь кинооператором высшей

754 „Оценивая работу т. Штатланда как руководителя фронтовой киногруппы, необходимо отметить политическую заостренность и высокую бдительность при выполнении оперативной работы в боевой обстановке, умение плодотворно работать в контакте с представителями командования, энергичное и быстрое решение организационных и хозяйственных вопросов. […] Начальник военных киногрупп Л. Сааков.“ (RGALI, f. 2487, op. 1, d. 1002, k. 158; fond Central’noj studii dokumental’nych fil’mov). (Fomin 2018, S. 179).

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категории, заснял некоторое количество сюжетов и репортажного материала в процессе летнего наступления Красной Армии летом 1944 г.“). Wie hat man dies zu verstehen? Da manche Einstellungen von Karmen und den anderen sowjetischen Kameraleuten doppelt aufgenommen wurden, ist nicht ausgeschlossen, dass Štatland Karmen um seine Befreiungsfilm-Lorbeeren gebracht hat und möglicherweise auch Aufnahmen von Solov’ev (erste datierte Erwähnung des Lagers Majdanek in einer Montageliste – 27.7.1944), Tomberg und Šnejderov, deren Namen nicht im Vorspann auftauchten, ‚übernahm‘. Die Kameraarbeit seines Assistenten I. Komarov wurde auch nicht eigens ausgewiesen. Sein Name fehlt in Fomins „Zabytyj Polk“, jedoch liefert Derjabin (2016, S. 429–430) eine knappe Biografie: Der ab 1949 im Geodäsie-Institut tätige Komarov wurde 1920 in Gomel’ geboren, hatte 1942 das VGIK abgeschlossen (d. h. eine bessere Ausbildung als sein Chef) und war ab Oktober 1944 an der 1. Belorussischen Front.755 Es ist nicht ausgeschlossen, dass Štatlands tatsächlicher Anteil an den ihm zugeschriebenen Aufnahmen gering ist – zumal die polnischen Kameraleute nicht im russischen Vorspann und auch nicht im sowjetischen Kompilationsfilm für Nürnberg genannt, aber ihre KZ-Aufnahmen verwendet wurden. Es kam mitunter vor, dass Kameraleute, die sich politisch auf der sicheren Seite fühlten, Aufnahmen anderer aneigneten. Diese Vorgehensweise beschreibt die Schnittmeisterin des CSDF, S. Pumpjanskaja (2003, S. 75) im Fall des über „Leichen gehenden“ Vladimir Ešurin (Smolensk 1909–Moskau 1985), mit dem sie im CSDF an dem Film V strane večnych l’dov / Im Land des ewigen Eises (dt. Verleihtitel: Der sechste Kontinent; Regie: V. Ešurin, 1956) arbeitete: Ešurin hätte ihren Namen nicht in den Vorspann gesetzt und sich die Aufnahmen des Kameramanns Aleksandr Kočetkov756 angeeignet. Ich erwähne diesen Vorfall, da Ešurin zusammen mit Štatland in der bereits im März 1941 gebildeten „besonderen Kameramann-Gruppe“ der Roten Armee war – möglicherweise einer Schule unethischen Umgangs mit Filmdokumenten. In Fomins Edition von Dokumenten wird ein extremer Fall in einem Schreiben Trojanovskijs an Vasil’čenko und Kacman vom 1.2.1942 beschrieben: Kameramann Popov, der gemeinsam mit Sologubov, Kairov, Aslanov und Levitan die Befreiung Rostovs aufgenommen hatte, hat mit Hilfe einiger unehrenhafter Tricks die Versendung des Filmmaterials dieser Genossen teils verzögert, teils versucht die Sache so darzustellen, als wäre er der einzige Autor und Monopolist der Aufnahmen im befreiten Rostov. […] Popov versuchte die Aufnahmen der anderen Genossen zu behindern, mit dem Namen des Leiters der Politabteilung spekulierend. Angeblich hätte nur ihm die Politabteilung erlaubt in Rostov

755 Zuvor diente er an der Süd-Westlichen Front. Da das Datum nicht übereinstimmt, war er möglicherweise inoffiziell in Lublin/Majdanek, wo er jedoch viele Hunderte Meter mit/für Štatland drehte. Ähnlich wie Štatland hatte er zwei Roter-Stern-Orden erhalten (am 10.10.1943 und am 18.6.1945), jedoch wird in Derjabins Werk nur Berlin (1945) genannt. Štatland erhielt zahlreiche weitere Auszeichnungen. 756 Aleksandr Kočetkov (Frunze 1925–1982) diente als Assistent-Kameramann an der 1. Belorussischen Front (Derjabin 2016, S. 446). 493

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zu drehen. […] Ich erachte Popovs Verhalten einfach für kriminell. Hier traten Züge auf, die nur einem Journalisten der kapitalistischen Presse eigen sind.757

Der aus Rostov stammende Georgij Popov (1910–78) hätte versucht, die Kameraleute zu „desorientieren“, indem er sie „an uninteressante Orte geführt“ hätte und behauptete, ihr Filmmaterial sei „konfisziert“. Den Kameramann Aslanbek Kairov versuchte er dadurch zu verwirren, dass er ihm weismachen wollte, dieser würde „als Deserteur vor Gericht gestellt“ und dürfe daher nicht drehen, er „solle ihm das Aufgenommene überlassen“, worauf dieser „beinahe eingegangen wäre“ (Trojanovskij in Fomin 2005, S. 178). Popov wurde am 5.8.1942 aus der Filmchronik entlassen und die Sache dem Staatsanwalt übergeben; der diebische Kameramann wurde vom Militärtribunal der NKWD-Truppen zu 10 Jahren verurteilt.758 Allerdings währt seine Strafe nicht lange, und im sowjetischen Filmbeitrag zu den Nürnberger Prozessen von 1945/6 (Kinodokumenty o zverstvach nemecko-fašistskich zachvatčikov) wird sein Name im Zusammenhang mit Rostov wieder genannt (zusammen mit Arkadij Levitan und Andrej Sologubov); er fehlt jedoch in der Auflistung auf dem sowjetischen abgefilmten Schriftstück mit V. Bol’šincovs Unterschrift (zu diesem svidetel’stvo und den Affidavits in Nürnberg (vgl. Drubek 2020). Černenko (2000) erwähnt in seiner kurzen Liste der Erwähnungen des Genozids in den besetzten Gebieten der UdSSR die Nr. 114, des Sojuzkinožurnal (Ende 1941) Ne zabudem, ne prostim (O zverstvach fašistov v g. Rostove-na-Donu). Diese Nummer wurde ein halbes Jahr später „ohne Veränderungen“ als Sojuzkinožurnal Nr. 27 (1942) wiederholt, jedoch mit anderen filmografischen Angaben – Černenko führt diesen Austausch der Namen kommentarlos an: der Regisseur S. Gurov [geb. Goldstein]759 wird in der späteren Version des Rostovmaterials mit „I. Setkina“ ersetzt, der unredliche Popov wiederum verdrängt Kairov und Panov. Bei einer weiteren Verwendung der Befreiung von Rostov heißt der Regisseur nun plötzlich V. Strel’cov und der Kameramann Mazrucho. Es ist kein Zufall, dass bei den heiklen Gräuel-Dokumenten die Namen verändert werden, doch dies hat auch einen bleibenden Einfluss auf die Zuschreibung der Autorschaft (vgl. Drubek 2020). Sowohl in Rostov als auch in Majdanek handelte es sich um Befreiungsfilmmaterial, das offensichtlich als Trophäe, ja, als sensationsträchtig und preisverdächtig angesehen wurde. Wurde 1942 ein Popov noch bestraft, hatte sich zum August 1944 die Leitung der Front-Filmgruppen am CSDF geändert und damit auch die ethischen Standards im Studio. Das Resultat war, dass alle drei im Vorspann genannten Majdanek-Kameramänner – Roman

757 Mark Trojanovskijs Dokladnaja zapiska, in Fomin 2005, S. 177–178. Auch Gaj Aslanov (1913–74) stammte aus Rostov (Derjabin 2016, S. 68). 758 „В августе приказом Главкинохроники от 5.8.1942 г. уволен из кинохроники. В личном деле появилась отметка: „Материал о незаконных действиях передан в прокуратуру“. По приговору Военного трибунала войск НКВД получил срок 10 лет.“ („Zabytyj polk“, Fomin 2018, S. 127). 759 https://csdfmuseum.ru/names/126-сергей-гуров [1.9.2019]

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Karmen, Avenir Sof’in760 und Viktor Štatland – hohe Auszeichnungen für Aufnahmen in Stalingrad und Leningrad erhalten hatten, jedoch der Majdanek-Film in diesem Kontext nicht eigens erwähnt wird. Karmen, dem Stalinpreisträger von 1942, wird gerade für die Periode, in die sein Engagement in Polen („bis zum Ende des Jahres 1944“) fällt, keine positive Charakterisierung zu Teil: Er zeigte keine ausreichende Aktivität in der Produktion von Kampfaufnahmen – er nahm in seiner Gruppe nicht die Führungsposition ein, die seiner Erfahrung und seinen Qualifikationen entsprochen hätte. Die wichtigsten militärischen Aufnahmen des Genossen Karmen – wie das „Forcieren der Weichsel“, „Motorradfahrer“ und „Kämpfe östlich von Praga“– enthielten einige interessante Einstellungen und Beobachtungen, waren jedoch im Allgemeinen Material von begrenztem Wert. Eine gravierende qualitative Veränderung in der Arbeit des Genossen Karmen war erst im Zuge der Dreharbeiten zur Winteroffensive der Roten Armee in Deutschland im Jahr 1945 zu verzeichnen. Bis Ende 1944 muss seine Arbeit als relativ schwach eingestuft werden, Genosse Karmen verdient keine staatliche Auszeichnung. (RGALI. F. 2487, o.1, d. 993, l. 138)761

Der in Fomins Edition nicht angeführte Autor dieser Bewertung ist der Auffassung, dass ausgerechnet 1944 Karmens Arbeiten „relativ schwach“ waren. Die Aufnahmen des Konzentrationslagers werden mit keinem Wort gewürdigt und das Faktum, dass Karmen für seine Leistungen im letzten Kriegsjahr keinen Preis bekommen soll, mit dem schwachen Argument des Fehlens von Kampfszenen begründet. Dieser Text stammt vom Kriegsende und drückt eine zuvor nicht vorhandene Reserve gegenüber dem Kameramann aus, dem hier ein stereotyp antisemitischer Vorwurf gemacht wird, er wolle die Front vermeiden.762 Zahlreiche Zeugnisse belegen, dass Karmen stets dorthin strebte, wo gekämpft wurde, in tollkühner Weise auf Panzer kletterte und ohne Rücksicht auf Todesgefahr sein Leben riskierte, um Kampfszenen filmen zu können (Abb. 9.2).763

760 Sof’in erhielt den Orden des Großen Vaterländischen Kriegs I am 16.6.1945 (Derjabin 2016, S. 803). 761 „Достаточной активности в производстве боевых съемок – не проявил и не занял в своей группе того ведущего места, которое соответствовало бы его опыту и квалификации. Основные военные съемки т. Кармена – такие как „Форсирование Вислы“, „Мотоциклисты“ и „Бои восточнее Праги“ – содержали отдельные интересные кадры и наблюдения, но в целом дали материал ограниченной ценности. Серьезный качественный перелом в работе т. Кармена наступил лишь в процессе съемок зимнего наступления Красной Армии в Германии в 1945 г. До конца 1944 года его работа должна быть признана сравнительно слабой, а т. Кармен не заслуживает правительственной награды.“ (Fomin 2018, S. 68) 762 Laut der ebenfalls aus Odessa stammenden Journalistin Tat’jana Tėss (1983, S. 86) war Karmen ein hervorragender Schütze. Sie erinnert sich, dass er im in Moskauer Haus der Journalisten den 1. Preis der Heckenschützen gewonnen hatte. 763 Grigorij Čuchraj (1983, S. 262). 495

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Abb. 9.2

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Der am Kopf verwundete Roman Karmen im Mai 1945 vor dem Brandenburger Tor; Fotografie: Evgenij Chaldej; http://waralbum.ru/270575/

Wie wir aus dem Spezialauftrag wissen, hatte der zu Kriegsende nahezu 40-jährige Starreporter mit internationalem Renommee eigentlich andere Aufgaben, als Panzer zu filmen. Auf der anderen Seite waren militärische Motive laut Boris Efimov gerade im Sommer 1944 von Karmen sehr wohl gefilmt worden, so die Überquerung des Flusses Narew (einem Nebenfluss der Weichsel) im Rahmen der Operation Bagration: Später sollte ich auf der Leinwand die am nächsten Tag von Karmen angefertigten Aufnahmen sehen, die zeigten, wie unsere Panzer, stürmische Kaskaden von Wasser verbreitend, sich unter dem heftigen Feuer des Feindes von einem Ufer zum anderen kämpften. Auch der mutige Kameramann wurde als Teilnehmer dieser schwierigen militärischen Operation mit einem militärischen Orden ausgezeichnet. (Efimov / Fradkin 2005)764

Efimov (Boris Efimovič Fridljand, 1900–2008), Karikaturist der Izvestija, war Michail Kol’covs jüngerer Bruder; er blieb im Gegensatz zu diesem auf ausdrücklichen Wunsch von

764 „мне впоследствии довелось увидеть на экране снятые Карменом на другой день кадры, показывающие, как наши танки, вздымая бурные каскады воды, прорывались под бешеным огнем противника с одного берега на другой. В числе участников этой трудной военной операции был награжден боевым орденом и отважный кинооператор.“ (Efimov / Fradkin 2005) https://1001.ru/books/item/ovremenah-iludyah-54/3281[23.2.2019]

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Stalin, der dessen Zeichnungen schätzte, verschont. Efimov schildert sein Zusammentreffen mit Karmen im Sommer 1944 im Kontext der Beziehung zwischen Nina Orlova-Karmen und dem Flieger Vasilij Stalin als einen der Gründe, der Karmen an die Front getrieben habe, wobei er gleichzeitig begierig auf alle Neuigkeiten aus Moskau wartete, die seine Frau betrafen. Nina hatte ihm 1941 den Sohn Aleksandr geboren und im gleichen Jahr wurde ihr angeblich – bereits in der Evakuierung nach Zentralasien – von dem zwanzigjährigen Flieger Vasilij Stalin (1921–62) der Hof gemacht. Während Aleksandr Karmen von einer späteren Entführung seiner Mutter durch den jungen Trunkenbold spricht,765 beschreibt Boris Efimov die Situation zu Ungunsten von Karmens Frau: Es gab eine enge „Freundschaft“ zwischen ihnen, die Nina ernst nahm. Und bald nannte sie sich, wenn sie jemand kennenlernte, einfach Stalina. Sie können sich den Zustand von Karmen vorstellen. Erregt entschied er sich, einen Brief an Vasjas Vater zu schreiben. Es hieß, dass Vasjas Vater, obwohl er mächtig mit dem Krieg gegen Hitler beschäftigt war, doch Zeit gefunden hatte zu antworten, dass „ein Mann in der Lage sein sollte, seine Ehre zu verteidigen und keine Beschwerden zu schreiben“. Aber angeblich gab er die Anweisung „diese Idiotin ihrem Mann zurückzugeben“.

Allerdings ist diese humoristische Beschreibung der Beziehung zwischen Stalins Sohn und Karmens Frau (wie ernsthaft war „Nina Stalina“ gemeint?) von einem Genderstereotyp gekennzeichnet, der stets der Frau als Verführerin die Schuld zuschreibt. Efimov schreibt weiter, wie Karmen darauf reagiert, dass Stalins jüngerer Sohn ihm seine Frau streitig machen wollte: Ich möchte betonen, dass diese nicht sehr angenehmen persönlichen Erfahrungen Karmen nicht daran gehindert haben, zu einem der aktivsten und kämpferischsten Frontkameraleute

765 Im Film Roman Karmen (2006) sagt Aleksandr Karmen, der Sohn von Roman und Nina, seine Mutter wäre durch Stalins jüngeren Sohn Vasilij entführt worden; Karmen habe sich daraufhin an Iosif Stalin gewandt, der Vasilij gemaßregelt hätte. Einer ukrainischen Zeitung zufolge hat sich sein früherer Schwiegervater E. Jaroslavskij an J. Stalin gewandt: „С ревностью Василий узнал, что она вышла за ‚старика‘, известного кинодокументалиста Романа Кармена. Через год супруги оказались в числе приглашенных на сталинскую дачу в Зубалове, Василий с Ниной танцевали… Потом встречались на квартире летчика Павла Федрови. Бывалый Кармен, ветеран Испании, собирался ‚расстрелять Васю‘ и даже маузер зарядил. Но передумал и через бывшего тестя, историка Емельяна Ярославского, пожаловался Сталину-старшему. Так родилась крылатая резолюция: ‚Вернуть эту дуру Кармену. Полковника Сталина посадить на 15 суток‘.“ (Evgenij Nekrasov o. J., „Vse zenščiny Stalina“, Kievskij telegraf (http://telegrafua.com/social/12275/). Eine andere Quelle nennt Svetlana Allilueva als diejenige, die ihrem Vater die Nachricht über Vasilij und Nina überbracht hatte; dieser hätte daraufhin die Seite seiner Schwiegertochter Galina ergriffen (Tat’jana Mamaeva, „Vasilij Stalin: Ja živ poka živ otec.“ https://www.business-gazeta.ru/article/90492 29.10.2013). [23.3.2019] 497

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zu werden. Ich erinnere mich an unser Treffen in der Armee. Es war bereits 1944, als die sowjetischen Truppen die Deutschen in Polen in die Enge trieben.766

Efimov beschreibt zudem ein Zusammentreffen von Grossman und Karmen, der seinem Kollegen ein Foto von Nina als Grund für seinen „Wunsch mit einem Auge in Moskau zu weilen“ zeigte, worauf dieser entgegnete: „Ich kann Sie sehr, sehr gut verstehen“. Diese Szene soll sich laut Efimov kurz nach der Überquerung des Flusses Narew abgespielt haben, die Karmen gefilmt hatte, d. h. Ende Juli 1944, also der Zeit, aus der die Majdanekfilmaufnahmen stammen (Abb. 9.3, 9.4).767

Abb. 9.3 Nina, Aleksandr und Roman Karmen 1941; https:// csdfmuseum.ru/articles/76роман-с-острым-сюжетом

Abb. 9.4 Vasilij Stalin, Hauptmann bei der 23. Jagdfliegergruppe (1942); Quelle: https://de.wikipedia.org/ wiki/Wassili_Iossifowitsch_ Stalin 766 Efimov / Fradkin 2005. https://1001.ru/books/item/ovremenah-iludyah-54/3281[23.2.2019] 767 Efimov / Fradkin 2005. https://1001.ru/books/item/ovremenah-iludyah-54/3281 [23.2.2019] Vgl. den Befehl hierzu vom 28.7.1944: https://ru.wikisource.org/wiki/Директива_Ставки_ ВГК_от_28.07.1944_№_220162 [26.2.1944]

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Vasilij Stalin war ein Pilot, jedoch [d]irekte Kampfeinsätze verbot der Vater. Den Austausch des Bruders Jakow, der als Artillerie-Oberleutnant in deutsche Gefangenschaft geraten war und im KZ Sachsenhausen ums Leben kam, lehnte der Tyrann kategorisch ab („Ein Stalin gerät nicht in Gefangenschaft“). Den jüngeren Sohn wollte er vorsichtshalber vor einem ähnlichen Schicksal bewahren. […] Nur 27 Feindberührungen verzeichnet seine militärische Kaderakte, einmal soll er eine deutsche FW-190 abgeschossen haben. Dennoch beendete Stalin junior im Mai 1945 den Krieg als Gardeoberst, ausgezeichnet mit zwei Rotbanner-, einem Alexander-Newski- und einem Suworow-Orden.

Stalin jun. war also selten an der Front und reagierte auf seine Sonderstellung mit auffälligen Verhalten, trank viel. Wer ihm nicht genehm war, soll denunziert worden sein – es ist nicht ausgeschlossen, dass dies auch eine Auswirkung auf Karmen hatte. Hinweise seiner unmittelbaren Vorgesetzten auf „schwache Gesundheit“ und ein labiles „Nervensystem“ beeinträchtigten die Karriere ebensowenig wie schlechte Charakterzeugnisse: „Grob zu Untergebenen“, „persönliche Verfehlungen“. Die Generalität wollte es sich offenkundig weder mit dem einen noch mit dem anderen Stalin verderben.768

Ich möchte noch einmal Aleksandr Karmen zum Wort kommen lassen, der schreibt, beide Elternteile seien mit Vasilij und Svetlana Stalin bis in die 1950er Jahre befreundet gewesen: Er schreibt zwar, dass Vasilij bereits in der Schule in Nina verliebt gewesen sei, doch streitet der Sohn ab, es wäre zu einer Affäre gekommen. Dies ist auch nicht relevant – von Bedeutung ist, dass die Umgebung die Beziehung zwischen dem Sohn Stalins und der Frau Karmens wahrnahm und daraus ihre eigenen Schlüsse zog – zu Gunsten oder Ungunsten des Kameramanns.769 Da wir aus Aleksandr Karmens Erinnerungen wissen, dass sein Vater nach der Erschießung seines Freunds und Mentors Kol’cov befürchtete, ihm könne als Spanienkämpfer das Gleiche zustoßen, mag die junge Mutter sich bemüht haben, ihren Mann während seiner Abwesenheit durch einen guten Kontakt zur Familie Stalin zu schützen. 768 „Obwohl Berija im Juni 1953 selbst festgenommen und bald darauf hingerichtet wurde, bestand Ministerpräsident Bulganin auf Verurteilung des Stalin-Sohns, vielleicht weil er in ihm einen potentiellen Kult-Erben witterte. Am 2. September 1955 fällte in der Strafsache Nr. 39 ein Militärtribunal hinter verschlossenen Türen seinen Spruch: acht Jahre Freiheitsentzug wegen Amtsmißbrauchs. Begründung: Der General habe im Krieg unbequeme Offiziere in den Tod geschickt, Vorgesetzte wie den Hauptluftmarschall Nowikow beim Vater denunziert und sich an Staatseigentum bereichert.“ (Ohne Autor, Spiegel, 10.5.1993, S. 180). 769 „Хочу коснуться одной деликатной стороны – отношений Василия Сталина с моей семьей. Еще со школьных лет Василий был безнадежно влюблен в мою маму, одну из самых красивых женщин Москвы. Он даже обвинял ее в том, что, мол, из-за неразделенной любви у него не сложилась семейная жизнь, что он пристрастился к алкоголю. У моих родителей с Василием сложилась долгая дружба, продолжавшаяся вплоть до 50-х годов. Однако кому-то понадобилось и тут распустить слухи о на самом деле не существовавшем ‚романе‘ моей мамы с Василием Сталиным.“ (Aleksandr Karmen) https://csdfmuseum.ru/ articles/76-%20-роман-с-острым-сюжетом [8.3.2019] 499

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Um noch einmal zum Vorwurf der Feigheit oder der Frontscheue zurückzukommen. Man könnte genauso gut Štatland vorwerfen, sich nicht aktiv genug an „Kampfaufnahmen“ beteiligt, d. h. sich nicht an der vordersten Frontlinie befunden zu haben – schließlich war er oft in Moskau. V. a. im Vergleich zu der übertriebenen Belobigung Štatlands für den gleichen Film zeigt sich, dass sich die Qualitätskriterien und die Ausrichtung der Leitung des CSDF geändert haben (wir erkennen dies an diametral unterschiedlichen Bewertungen von Kameraleuten wie Frolov oder Voroncov, die zuerst gerügt werden, dann – nach dem errungenen Sieg und der Änderung in der Führung – hoch gelobt). Der Autor der negativen Charakterisierung Karmens gehörte der Leitung des Studios an; bedauerlicherweise hat V. Fomin weder den Namen angeführt noch – sollte er getilgt worden sein – eine Vermutung ausgesprochen, um wen es sich handelt. War es der gleiche Saakov, oder letztendlich gar der in der Hierarchie aufgestiegene Štatland, der diesen – selten abfälligen – Text über seinen Rivalen Karmen (mit)verfasste? Štatlands „Wachsamkeit“ lässt zudem darauf schließen, dass Štatland mit Karmen bei der Bearbeitung des Majdanek-Narrativs in Konflikt geriet und der wachsamere über seinen jüdischen Kollegen unter Umständen sogar einen Bericht verfasste. Wie auch immer es gewesen ist – während Štatland eine Auszeichnung erhält, konnte Karmen die Dreharbeiten in Majdanek nicht als Erfolg verbuchen. Ob Karmen aus Eigenantrieb das jüdische Thema direkt thematisieren wollte oder nicht, kann man erst nach einer Durchforstung seines Nachlasses sagen, der auch die (indirekte) Rolle Vasilij Stalins in seinem In-Ungnadefallen ab Sommer 1944 bis 1945 beleuchten kann; auch die Akten des Filmstudios, insb. des Fonds 2487 des CSDF-Studios (beide im Archiv RGALI) und der Karmen-Fond im Muzej Kino, Moskau (f. 32) könnten Aufschluss geben. Und wenn Vasilij Stalin seinem Rivalen tatsächlich schaden wollte, dann könnte das erklären, warum Karmens Stern durch entsprechend angewiesene Funktionäre im Dokumentarfilmstudio vorübergehend künstlich verdunkelt wurde. Bald war Karmen aber wieder Primus inter pares, spätestens als er nach Nürnberg als Berichterstatter entsandt wurde.

9.3 Die Ausnahme-Poetik der Majdanek-Filme

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Die Ausnahme-Poetik der Majdanek-Filme

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Das lehrte er auch uns, die Frontkameraleute, als er sagte, wir müssen die Sowjetmenschen rühmen, um den menschlichen Stolz zu festigen. Knochen für Knochen setzen Paläontologen Tierskelette zusammen. In ähnlicher Weise – sagte Dowshenko – werden künftige Historiker des zwanzigsten Jahrhunderts die Ereignisse des Großen Vaterländischen Krieges rekonstruieren. Und sie finden die Knochen nicht immer in brennenden Panzern, detonierenden Geschossen und fliegenden Kugeln, sondern im Menschen. Letztlich nur im Menschen. (Karmen 1985, S. 72–3)

Die Majdanek-Filme beschreiben jene Annihilierung von Menschen, die in den Vernichtungslagern betrieben wurde, mit poetischen Mitteln, die über ein Bezeugen und Trauern hinausgehen.770 Das ideologisch unterfütterte Argument wird rhetorisch entwickelt und zugleich mit zusätzlichen Bedeutungsebenen wie der der farnichtung im Titelwort Vernichtungslager ausgestattet: Über den Genozid in der Form des industriellen Massenmords, mit der die Entdecker von Lublin/Majdanek konfrontiert wurden und für die v. a. die aus der UdSSR zurückgekehrten „flight survivors“ unter ihnen eine ästhetische Form suchten, in der sie der ganzen Welt gezeigt und erzählt werden kann. Die Filmleute wenden klassische rhetorische Verfahren an, um den Genozid und das bis dahin noch nicht durch faktische Beweise belegte NS-Instrument des Judenmords, das Giftgas, sichtbar zu machen. Allerdings gibt es auch kulturspezifische Tropen wie am Beispiel der Schädel und der Knochenpyramide gezeigt werden kann. Laut Alexandre Sumpf wurden die sterblichen Überreste von den Befreiern nach der Exhumierung in dieser Weise aufgeschichtet und angeordnet, um auf Vasilij Vereščagins Gemälde „Die Apotheose des Krieges“ (1871–72) „als Ikone des Pazifismus“ zu verweisen, die oft mit der Eroberung der Stadt Isfahan assoziiert wird, wo der Mongole Tamerlan (Timur) 28 Schädeltürme seiner Feinde (etwa 70.000, also in einer ähnlichen Größenordnung wie die Zahl der in Majdanek/Lublin ermordeten Juden) aufschichten ließ: Pour le public soviétique, ils ne peuvent que rappeler les pyramides de crânes du célèbre tableau L’Apothéose de la guerre, peint en 1871 par Vassili Verechtchaguine après qu’il a suivi l’expédition russe au Turkestan, œuvre considérée comme l’icône du pacifisme en Russie. (Sumpf 2015)

Das Werk, in dessen Rahmen die Worte „Allen großen Eroberern: den vergangenen, den gegenwärtigen und den zukünftigen“ eingeritzt ist, ist Teil seiner Serie „Die Barbaren“. Im Film sind es jedoch nicht die Schädel, aus denen der Turm gebaut ist, sondern Knochen (Abb. 9.5, 9.6). 770 Dies fällt insbesondere auf, wenn man die sowjetischen Reportagen mit Titeln englischsprachiger Berichterstattung vergleicht, die auf prosaisch-sachliche Weise von „Vergasung“ („Gassed“) und „Cremated in mass“ („Massenkremierung“) sprechen. 501

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Abb. 9.5

„Die Apotheose des Krieges“ (1871–72); Foto: Kairzhan Orynbekov (2016), Tret’jakov-Galerie Moskau; https://gramho.com/media/1077566782668788445

Abb. 9.6

Fotografie Viktor Temins mit dem Titel „Apotheose des Kriegs“771; Quelle: https:// perexilandia.net/pamyat/lichnosti/viktor-temin-korol-fotoreportazha-3

771 Irrtümlich wird auf der Seite des Multimedia Art Museums Moskau / Moskauer Haus der Fotografie Ostpreußen als Ort angegeben. Die Unterschrift heißt: „Überreste der Kriegsgefangenen

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Ich möchte dem entgegnen, dass unklar ist, von wem die mise-en-scène der kahlen Schädel stammt. Da sie in der an die „Ikone“ des russischen Pazifismus erinnernden Weise (A. Sumpf) angeordnet wurden, kann man genauso gut vermuten, dass es die sowjetischen Kriegsgefangenen waren, die diese Kegel aus den Knochen, in denen sie die Überreste ihrer Mithäftlinge oder Landsleute sahen, gebaut haben. Karmens Filmen der menschlichen Überreste bezieht sich auch auf diese heimische Tradition, die nicht die jüdische Tragödie ins Visier nimmt. Durch die Anordnung der Schädel, die nicht Karmen, sondern einen anderen Betrachter des Bilds anschauen (Abb. 9.10), ist auch nicht festzustellen, ob sie Genickschüsse (etwa vom „Erntefest“ im November 1943) aufweisen. Karmen jedoch scheint sehr wohl die Hinterköpfe der Opfer zu filmen… Der Zustand der Schädel deutet darauf hin, dass die Schädel Opfern gehörten, die 1941/2 dem Hungertod bzw. Krankheit überlassen wurden oder anderweitig zu Tode gekommen sind. Der russische Kommentar jedoch wird hinzufügen, dass „Massen von Menschen, die Hitlerdeutschland nicht genehm waren (neugodnych)“ hier „gewöhnlich durch Genickschuss aus nächster Nähe erschossen wurden“ (RU 4:45-4:48) – der Genickschuss kam übrigens auch im Katyn’-Film vor. Die Polnisch-Sowjetische Kommission stellt in ihrem Communiqué sogar eine Beziehung zwischen den Funden in den Wäldern von Katyn und den Enterdungen bei Majdanek her.772 Die Aufschichter können jedoch tatsächlich die Soldaten-Befreier gewesen sein, wie es der Fotograf Temin erzählt (Gladkov 2015). Temin erinnerte sich nämlich in einem Gespräch mit Gladkov im Jahr 1985, dass er Soldaten gebeten habe, das Gemälde mit echten Knochen ,nachzustellen‘: Als ich durch das Lager ging, war ich entsetzt über die Anzahl der menschlichen Überreste. Einige – am Boden, auf einem Haufen, andere mit deutscher Genauigkeit in Regalen aufbewahrt … Und ich dachte: man wird sie der Erde übergeben, in namenlose Massengräber, und die Menschheit wird nicht die ganze Tragödie der Tat erfahren, wird nicht durch die Grausamkeit des Nazismus aufgerüttelt … und dann erinnere ich mich an Vereščagin … ich bat, dass mir ein halber Zug Soldaten helfe … „überredete“ sie mit Hilfe von drei Flaschen Alkohol eine Pyramide aus Knochen und Totenköpfen zu bauen … am Abend war die „Apotheose“ fertig.

des KZ Majdanek (22.7.–31.8.1944)“: „Останки пленных концлагеря Майданек (22 июля 1944–31 августа 1944), Место съемки: Восточная Пруссия“. https://m.russiainphoto.ru/ search/?query=Майданек 772 „After the exposure of the atrocities perpetrated by the Germans in the Katyn Woods, the Hitlerites set to work with increased energy to disinter the corpses from the pits and trenches, and burn them. The Committee of Medical Experts opened twenty pits of this kind; eighteen within the precincts of the Majdanek Camp and two in the Krembecki Woods.“ (Communiqué 1944, S. 19) 503

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Abb. 9.7 Foto: V. Temin (am Rand: „Press Photoagency“); Quelle: Archiwum Państwowego Muzeum na Majdanku (APMM), http://www. majdanek.com.pl/gallery/ majdanek/archiwalne/big/ 63.jpg

Abb. 9.8–9.11 Foto: unbekannt („Mitnehmen von Knochen ist streng verboten“), Foto: unbekannt (Yad Vashem); Foto von Karmen eine ähnliche Pyramide fi lmend (mit zusätzlichen Schädeln), Filmbild der Knochen; https://www.histoire-image. org/sites/default/styles/galerie_principale/public/russes-camps-maidanek-f. jpg?itok=gvC47l03 [4.4.2017]

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Allerdings gilt das nicht für alle Majdanek-Knochenhaufen, die wir in zahlreichen Formen und Medien und auch an verschiedenen Orten vorfinden (Abb. 9.8–9.11). Aus der russischen Filmversion scheint hervorzugehen, dass manche Knochenberge von deutschen Gefangenen im Sommer 1944 aufgeschichtet wurden, die zur Strafe exhumieren mussten, oder aber von polnischen Anwohnern, die die Leichen bereits früher ausgegraben hatten und in einer Art Pietätsgeste aus den Knochen solche Hügel errichteten, oder überlebende Häftlinge, für die sie eine besondere Bedeutung gehabt haben könnten, wenn Nahestehende, Familie oder vielleicht auch Landsleute unter den Ermordeten waren. Dies alles betrifft jedoch nicht die Vernichtung der Juden, da die im Gas oder während des „Erntefests“ ermordeten Juden verbrannt und die Knochen zerkleinert wurden. Sollten die Schädel jüdischen Opfern gehören, müssten sie mehrere Monate aufbewahrt worden sein. Informationen dieser Art konnten beim SS-Endkommando eingeholt werden – die SS war schließlich Spezialistin für die Ausführung nicht nur der Vernichtung von Menschen, sondern auch ihrer sterblichen Überreste. Oder bei einem Mitglied des Sonderkommandos, wie Reznik oder Farber, der ähnlich wie Reznik fliehen konnte und über die „Enterdung“ in Ponary von Ende 1943 bis April 1944 einen schriftlichen Bericht für die Außerordentliche Kommission verfaßte. Hier wird der Zustand der ältesten „Figuren“ (Leichen) festgehalten, die offensichtlich in Ponary nicht mit Chlorkalk bedeckt worden waren: Die Figuren von 1941 zerfielen in eine breiige Masse. Faßt man an den Kopf, fällt der Schädel auseinander, und die Hände sind mit menschlichem Hirn bedeckt. Nimmst du die Hand, löst sie sich wie gallertartige Sülze vom Körper. Die Beine stehen fast knietief in einer Masse verrottender menschlicher Überreste. Viele Figuren mussten fast Knochen für Knochen gesammelt werden. Oft stapelt man einen Haufen auf die Trage und kann nicht feststellen, wie viele Figuren sich darin befinden. Frische Figuren von 1943 war nicht so stark zersetzt, aber sie sind noch unangenehmer zu tragen. Einer der Arbeiter aus Vilnius erkannte in den Figuren am Kleid oder an den Haaren seine Freunde oder Verwandten. Einer der aktiven Teilnehmer an unserer Flucht, der Vilniuser Arbeiter Dogim, jetzt in der Partisanenabteilung von Nevskij, Vorošilovs Brigade, zog mit eigenen Händen die Leichen seiner Frau, Mutter und seiner beiden Schwestern heraus. Viele fanden Frauen, Kinder, Eltern. (Farber / Makarov 2006)

Inwieweit die Massengräber in Lublin/Majdanek ähnlich aussahen, ist unklar, doch läßt das Zeugnis des Ingenieurs Farber darauf schließen, dass die Menge an kahlen Schädeln, die hier aufgereiht waren, erklärungsbedürftig ist. Das Communiqué hält fest, dass „342 der [untersuchten] 467 Leichen und 266 Schädel Spuren von Genickschüssen aufweisen“ (Communiqué 1944, S. 13) – möglicherweise hat diese forensische Untersuchung dazu geführt, dass im Verlauf des August größere Mengen an sauberen Schädeln für die Fotos und Filme zur Verfügung standen. Aufschlussreich ist nun, dass in beiden Film-Versionen die aufgereihten Schädel bzw. die Knochenpyramide je verschiedene Bedeutungen haben, die sprachlich und kulturell bedingt sind. Im russischen Film befinden sie sich in der Nähe von juristischen und forensischen Motiven und getrennt von den Kohlköpfen, die einige Minuten später auftauchen. In der 505

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polnischen Version erscheint der Kohl zweimal. Zunächst folgt auf groteske Weise dem Berg der Schuhe das Kohlfeld und diesem die Nahaufnahme des Kopfs des Häftlings, der seine tätowierte Brust entblößt. Beim zweiten Erscheinen, in Minute 18:05, sehen wir einen zerschlagenen, skelettierten Schädel und danach „den deutschen Kohl“,773 dessen Zusammenhang mit den Knochen, die am Anfang so „phantastisch“ erschienen, nun erklärt wird. Hier wird ein Rätsel aufgelöst, das durch die Zeichnung des Schädels im Vorspann, dann das „Achtung!“-Schild mit einem Totenschädel (PO: 6:20), angekündigt worden war. Die Poetik ist keine (sozialistisch-)realistische, sondern orientiert sich eher am Manierismus eines Arcimboldo. Sein „Vertumnus“ hat als Schulter ein Kohlblatt (Ende 16. Jahrhundert; vgl. auch seine Umkehrbilder „Der Gemüsegärtner“ oder „Der Früchtekorb“). Während das russisch-sowjetische Publikum am ehesten die abstrakte Anti-Kriegs-Botschaft von Vereščagins realistischem Kunstwerk wahrgenommen haben mag, erinnert die Montage der Totenköpfe mit den Nahaufnahmen des Kohlfelds die Lubliner Bürger konkret an den vom Lager gezüchteten Kriegskohl, der auch in Lublin verzehrt wurde. Ähnliches gilt für deutschsprachige und (Volks)Deutsche, falls es sie unter dem Filmpublikum in Lublin gegeben haben sollte, die entsprechend ‘um ihren Kopf fürchten’. Aus dem Umstand, dass die automatisierte Metapher des Kohlkopfs auch im Polnischen (główka kapusty) und des Kohl-Haupts im Jiddischen (a hiptl kroyt) existiert, nicht jedoch im Russischen (dort heißt er kačan kapusty), könnte man folgern, dass die Initiative der Gedankenfigur des KohlKopfs von den polnischen bzw. den jiddisch-sprachigen Beteiligten kam. Ist die Alternation von kahlen Schädeln und Kohlköpfen als gewagtes concetto die jüdisch-ironische Lesart jenes Lagers, in dem außer Asche, Rauch, Gebein, Schädel und Kohlköpfen keine Spuren der größten Opfergruppe zu finden waren? Hier stellt sich die Frage, ob diese grotesken Tropen wie auch der sarkastische Humor als Abwehr-Reaktion der Filmspeerspitze auf die traumatisierende Erfahrung des Lagers interpretiert werden können? Die „flight survivors“ finden in Majdanek eine verkehrte und phantastische Welt vor, deren Rätsel als handfeste Praktiken der Ausbeutung aufgelöst werden. In der polnischen Filmversion erklärt der Sprecher, sich wieder in eine Metapher flüchtend: „Ganz Deutschland lebt von fremdem Blut und fremdem Schweiß.“ Die Sprache der unheimlichen Mär von Majdanek schwankt zwischen übertragener und wörtlicher Bedeutung. In der plakativen Poetik des Films, die sowohl an sowjetischer visueller Propaganda wie auch Surrealismus geschult ist, gehen auf metonymische Weise die menschlichen Köpfe in den Kohlköpfen auf, metaphorisch sind sie über das tertium comparationis der Kugelform verbunden. Das Gemüse kündet von einem perversen utilitaristischen Kalkül der Betreiber des Lagers, deren Ziel eine Gewinnmaximierung auf Kosten der Häftlinge und ihrer Kannibalisierung zu

773 Auch Grossman verwendet in „Die Hölle von Treblinka“ das Motiv des Kohlanbaus, wenn er deutsche ‚Zucht und Ordnung‘ im Hinblick auf Landwirtschaft und die Industrie für sinnvoll erachtet, jedoch hätte die „Reichs SS ein polnisches Arbeitslager nach den gleichen Prinzipien geführt wie den Anbau von Blumenkohl oder Kartoffeln“: „Гитлеризм приложил эти черты к преступлению против человечества, и рейхс СС действовал в польском трудовом лагере так, словно речь шла о разведении цветной капусты или картофеля.“ (Grossman 2002)

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sein scheint – in der polnischen Version ist von „deutschen Menschenfressern“ die Rede (Abb. 9.12, 9.13).774

Abb. 9.12 und 9.13

Kohlköpfe auf einem Samenpäckchen und einer amerikanischen Werbung für Krautsamen, die auf das Sauerkraut in Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ anspielt; http://www.cardigansandcravats.com/ blog/2015/4/15/anthropomorphic-seed-packets; https://www.pinterest.de/ pin/239464905173667939/

Vom Kommentator erfährt der Zuschauer, dass auch das von der Kamera ins Visier genommene Feld kein gewöhnliches ist, denn der Majdanek-Kohl wächst auf menschlichem Dünger: „auf den Knochen der Ermordeten wächst üppig deutscher Kohl“ („Na polach użyźnionych kośćmi pomordowanych bujnie wschodzi niemiecka kapusta.“). Im angelsächsischen Kontext provoziert der Kohl die Assoziation zu Sauerkraut und damit die krauts (ein Deutsche bezeichnendes Wort aus dem 1. Weltkrieg). Im west- und mitteleuropäischen

774 „Nawet prochy ludzkie żywią niemieckich ludożerców“ (PV [FINA], S. 18–19). Ähnliche Vergleiche finden sich auch in der polnischen Presse, so ist in Głos Ludu Nr. 3 am 16.11.1944 im Artikel „Rassismus ist der Feind“ von der Menschenfresser-Ideologie und dem „ideologischen Zyklon B“, als dem „Zyklon des Rassismus“ zu lesen (Friedrich 2002, S. 439). Fitzpatrick (2005, S. 292) zitiert einen Artikel aus der sowjetischen Zeitung Bol’ševik 1946, die Antisemitismus als Form des Kannibalismus brandmarkt. 507

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künstlerischen Kontext der gebildeten Eliten wiederum evozieren die Schädel barocke Vanitas-Motive, oder aber ihre surrealistischen Echos im 20. Jahrhundert. Man kann ähnliche Motive in der Vorkriegstradition des polnisch-jiddischen Films finden, die das polnische Team kannte: Als erstes ist ein Werk zu nennen, das von einem Autor geschaffen wurde, der sowohl in Russland als auch Polen wohlbekannt war, Salomon An-skij. Er sammelte als völkerkundlich Interessierter Folklore der jiddischsprachigen „Eingeborenen“ im Zarenreich. Daraus schöpfte sein vom Symbolismus inspiriertes Stück über einen Dämon. Es trug den Titel Меж двух миров [Дибук] / Der dibbek oder cwiszn cwej weltn / Der Dibbek oder Zwischen zwei Welten (1913–16 verfasst), das erstmals 1920 auf Jiddisch in Warschau aufgeführt wurde. 1922 folgte die hebräische Version des Habima-Theaters in Moskau. 1937 wurde das Stück in Polen verfilmt. Der Film reichert genuin chassidische Folklore mit phantastischen Elementen an. Grundlage für das Narrativ des Totentanzes ist die kabbalistische Vorstellung der Seelenwanderung (gilgul). Die Regie bei Der dibbek / Dybuk führte der in Wien wie auch in Warschau tätige Michał Waszyński, der dem Film seine expressionistische Ästhetik verlieh, die jedoch zugleich eine Verzerrung des Chassidismus (die sog. Cholerahochzeit auf einem Friedhof) und der Ideen der Seelenwanderung mit sich brachte. Der Dämon des toten Geliebten fährt in Leah, seine einstige Braut, so dass ihr nur ein wagnerianischer Liebestod bleibt (Abb. 9.14).

Abb. 9.14 Polnisches Plakat zu Der dibbek (1938) Abb. In Hoberman 1991, S. 280.

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Die polnische Kritikerin Stefania Zahorska empfand den Film als pathetisch, identifizierte jedoch Werke der polnischen Romantik wie Adam Mickiewiczs Drama Dziady/ Ahnenfeier (erschien ab 1823) und spätromantische Gemälde des polnischen Malers Artur Rottger (vgl. etwa seinen Zyklus „Polonia“) als Vorbilder des Films (Abb. 9.15).775

Abb. 9.15 Leah tanzt mit dem Tod (Schauspieler mit Schädelmaske; aus dem der Film Der dibbek) Abb. https:// he.wikipedia.org/wiki/‫_הדיבוק‬ (‫סרט‬,_1937)

Die in Kap. 2 herausgearbeitete romantische Poetik des Horrorfilms und der Friedshofsmotive – erweitert durch symbolistische Gleichsetzungen der realen Welten, des Jenseits und der jiddisch-polnische Film der Zwischenkriegszeit – liefert unerwartete Bausteine für den ersten Befreiungsfilm der Alliierten mit dem Titel Majdanek – cmentarzysko Europy / Majdanek – Friedhof Europas, oder Grabstätte Europas (1944). Es fällt nicht schwer, die Entscheidung für diese Ästhetik Olga Mińska-Ford, Perski und den Forberts zuzuordnen. Die Kommunisten A. Ford und R. Karmen zielen auf eine universelle Bildsprache – inwieweit ihnen das im Hinblick auf die breite Masse der damaligen Zuschauer gelungen ist, 775 Die Rezeption ist bei Hoberman (1991, S. 284) dargestellt. 509

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ist fraglich. Bei den Politkommissaren jedenfalls stieß der atrocities-„Naturalismus“ gepaart mit makabrem Surrealismus nicht auf Zustimmung. Der manieristisch-expressionistische Stil der für Polen gemachten (Olga-)Ford-Rohfassung kam sowohl in A. Fords Umschnitt in Moskau vom Oktober 1944 wie auch in Karmens russischer Version, auf der dann auch die internationale Fassung beruhen sollte, weniger zur Geltung; wie wir aus der negativen Charakteristik zu seinem „Reportagestil“ dieser Zeit und den Montagelisten herauslesen konnten, mag die Auseinandersetzung sich um die in Majdanek „kollektiv“ geschaffene Ästhetik gedreht haben. Es scheint, dass Karmen sich daraufhin auf bewährte russische Rhetoriken des Realismus des 19. Jahrhunderts zurückzog. Auch so kann man das Bild von Karmen, der die vom Fotografen Temin zur russischen „Ikone des Pazifismus“ angeordneten Knochen und Schädel von Majdanek filmt, nämlich interpretieren: In dem Foto filmt Karmen das – in doppeltem Sinne – bereinigte Majdanek als abstrakte Repräsentation der unsichtbaren Spuren der Vernichtung: die – vermutlich nicht-jüdischen – Schädel verweisend auf die mit jüdischem Knochenmehl und Asche gedüngten Kohlköpfe. Als arrangiertes Fotodokument der Inszenierung der Filmdokumentation von anonymen Opfern, die Bestandteil eines sowjetischen Opfernarrativs werden können – ein klassisches mise-en-abyme, wie es in der Kunst des Manierismus oder der Romantik vorkommt und einen unendlichen Verweis auf das im Spiegel oder im Bild enthaltene Bildchen enthält, das wieder ein Bildchen enthält.

Abb. 9.16 Temins Foto des leeren Duschraums im Badeshaus, der zur Gaskammer führt; Quelle: МАММ / МДФ [5.10.2017]

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1944 hält der Fotograf dem Filmemacher sozusagen den Spiegel seiner Kamera hin. Das mise-en-abyme-Bild, das nur auf den ersten Blick zu zeigen scheint, was wir erwarten, ähnelt den Badehaus-Einstellungen, die die Kameraleute aus dem KZ geschickt haben, und in denen man Duschköpfe sieht. Dies ist jedoch nicht die Gaskammer, sondern man kann nur die Tür sehen, die zur Gaskammer führt. Das eigentlich zu Zeigende wird zu einem dunklen Rechteck, hinter dem sich weitere Bilder des Grauens verbergen (Abb. 9.16). Zugleich fordern diese mise-en-abyme-Bilder aus dem Lager, die Bilder enthalten oder auf andere Bilder verweisen, uns jedoch auf, aus den Knochen „die Ereignisse des Großen Vaterländischen Krieges zu rekonstruieren“ (Karmen 1985, S. 72–3). (Abb. 9.17)

Abb. 9.17 Temins Foto der Badehaus-“Ausgänge“ Quelle: МАММ / МДФ [5.10.2017]

Beide Filmversionen legen nahe, dass in diesem unheimlichen Lager nichts ist, was es auf den ersten Blick zu sein scheint. Die Öfen und der Schornstein sind nicht Bestandteil einer Fabrik, in der etwas hergestellt wird, sondern Werkzeuge zur Beseitigung derjenigen, die angeblich zum Arbeiten nach Majdanek gebracht wurden. Das Badehaus in Wahrheit eine Mordkammer. Ein Produkt der Todesfabrik ist menschliche Asche, die entweder „an polnische Verwandte von Majdanek-Opfern für 1000 Zloty pro Urne mit 150 gr. Inhalt verkauft wird oder vor den Toren des Lagers verstreut wurde“ (PV [FINA], S. 5). 511

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Die sich über die gesamte Schilderung des Lagers fortsetzende Negation der Produktivität dieser absurden Fabrik führt zu ihrer perversen Steigerung in einen Kapitalismus des Todes in der Form einer Nekropole.776 Gleichzeitig wird das „phantastische Bild“ des gefilmten Majdanek ad absurdum geführt, was stellenweise zum Zusammenbruch der rational-materialistischen Argumentation führt, denn das vom Todestrieb erfasste Lager scheint sich in der Kohlzüchtung selbst aufzuessen. Auch der britische Journalist Werth folgt diesem makabren Gedanken in seiner Beschreibung des Düngesystems: At the other end of the camp, there were enormous mounds of white ashes; but as you looked closer, you found that they were not perfect ashes: for they had among them masses of small human bones: collar bones, finger bones, and bits of skull, and even a small femur, which can only have been that of a child. And, beyond these mounds there was a sloping plain, on which there grew acres and acres of cabbages. They were large luxuriant cabbages, covered with a layer of white dust. As I heard somebody explaining: Layer of manure, then layer of ashes, that’s the way it was done … These cabbages are all grown on human ashes … The SS-men used to cart most of the ashes to their model farm, some distances away. A well-run farm; the SS-men liked to eat these overgrown cabbages, and the prisoners ate these cabbages, too, although they knew that they would almost certainly be turned into cabbages themselves before long…777

Eine frühere Parallele zum aus dem Ruder geratenen nekropolitischen Bestandteil der NS-Todesfabriken bestand im Anlegen von gigantischen Massengräbern in der Nähe von Vernichtungslagern, die das Grundwasser zu vergiften drohten, und damit eine akute Gefahr für deutsche Anwohner darstellten. Abhilfe schaffen sollte die grauenhafte „Enterdungsaktion“. Es ist, als würden die sowjetischen Majdanek-Filme mit ihren unheimlichen Gräuel-Bildern genau das widerlegen wollen, was das deutsche Theresienstadt-Film-Idyll sich bemüht vorzutäuschen: Dass Kriegsgefangene und Häftlinge in einem deutschen Lager (über)leben können. Die Dokumentarfilme auf beiden Seiten der Front ringen um ihre Version der Repräsentation des Sinn und Zwecks eines von Deutschen geführten Konzentrationslagers, wobei der deutsche Film jene jüdische Identität der Insassen betont, die die Majdanekfilme abstreiten. (Abb. 9.18)

776 Man ist versucht, den heutigen Begriff des „Nekrokapitalismus“ zu zitieren (Mbembe und Grzinic http://pavilionmagazine.org/download/pavilion_14.pdf [15.1.2018]). 777 Werth 1984, S. 891. Milland (1998, S. 258) erwähnt, dass Werth 1945 nicht mehr nach Polen einreisen durfte: „The Soviets had refused to allow either Werth or MacDonald of The Times into Poland.“

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Abb. 9.18 Zur Weiterverwendung: in Lublin/Majdanek gefi lmtes Menschenhaar

Der Wort-Kommentar geht jedoch nicht den letzten Schritt, der erklären würde, dass Majdanek nur als Fabrik getarnt ist, dass seine Produkte die Statistiken der in Asche verwandelten Juden sind und die beschlagnahmten Gegenstände, Menschenhaar und das den Menschen aus ihren dehumanisierten Körpern gerissene Gold sind – und dass manches davon von den Wachen und Kapos778 unterschlagen wurde, zu denen auch sowjetische und polnische Funktionshäft linge gehörten, einige davon organisiert in der KP, wie wir gesehen haben. Auch wird nicht geklärt, wohin die sichergestellte „Judenbeute“ in Form der Wertsachen kommt – wird sie zu einer Trophäe der Operation Bagration?779

778 Das Streitgespräch des polnischen Leutnants St. Budzyn (neun Monate Apotheker im „russischen Revier“) mit Schollen dreht sich um das Thema der persönlichen Bereicherung. Es wurde nicht in die Endfassung aufgenommen, ist jedoch auf youtube zugänglich: „Sie haben fest geschlagen, Sie war sehr energisch da, und haben Sie viele Sachen gestohlen. Wo haben Sie das Geld jetzt – das Gold – versteckt, was Sie von den Kleidern haben herausgezogen“? (Majdanek. Opfer und Täter 37:30-39:00). https://www.youtube.com/watch?v=qIyblZiyp1U&feature=share [4.1.2017] 779 So kursierten Gerüchte zu Plünderungen in Auschwitz: „Not only had the Russian Army removed a lot of archival evidence from Auschwitz, but there were also rumours of looting […]. Shallcross write that the material object world of the Holocaust was largely destroyed by the withdrawing Nazi troops and the Russian and Polish plundering of sites of former concentration camps that Polish authorities failed to prevent.“ (Karpinski 2015, S. 23–24). Vgl. hierzu den Punkt VII des Majdanek-Communiqués, wo im September 1944 angekündigt wird, dass „keine Gegenstände mehr versendet werden dürfen“, da der NKVD in Kürze die Frage des Eigentums der Ermordeten regeln wird. (Communiqué 1944, S. 23). 513

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In „Ausgraben und Erinnern“ schrieb Benjamin bereits 1932 nicht einfach von vergangenen, sondern von „toten“ Städten, begraben unter der Vulkanasche. „Stadt des Todes“ nannte Majdanek der Feldscher, der das KZ überlebt hat und 1944 von der Roten Armee befreit wurde, auf Russisch. Angesichts des unterschiedlichen Zustands und Bekanntwerdens der befreiten Totenstädte, Grabfelder und Nekropolen fragt man sich, was geschah, bevor die Berichterstatter mit Kamera oder Bleistift an den Tatort kamen, wie Il’ja Ėrenburg, der bei seiner Ankunft in Maly Trostenez im Juli 1944 bereits Schädelpyramiden vorfand: „Eine große Anzahl von Schädeln, es waren Tausende, waren auf dem Feld auf einander getürmt. Auf der anderen Seite befanden sich Leichen, ordentlich gestapelt, aber nicht verbrannt.“780 Wenn wir uns das Zeugnis des Moskauer Ingenieurs vergegenwärtigen (Farber/Makarov 2006) muss man sich fragen: Wer hat in Maly Trostenez und Majdanek Köpfe vom Rumpf getrennt, sie unter Umständen gereinigt und Schädelberge gebaut? Geschah dies durch das Sonderkommando noch unter dem Kommando der SS oder durch die Befreier, die zu forensischen Zwecken exhumierten oder Schatzsucher, die die Gräber auf der Suche nach Gold schändeten?

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Funktionen des Filmmaterials 1944–45 und Nachkriegsbiografien

9.4

Funktionen des Filmmaterials 1944–45 und Nachkriegsbiografien

Ein Jahr vor den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozessen war die Majdanek – cmentarzysko Europy-Premiere in Lublin der erste Einsatz eines atrocity-Films in einem juristischen Kontext, er zielte auf eine Beeinflussung des Lubliner Publikums und der Teilnehmer an diesem Volksgericht. Die speziell für ein polnisches Publikum gemachte Schnittversion unterschied sich in einigen grundlegenden Merkmalen von späteren Filmen, die Majdaneksequenzen verwenden, auch von der russischsprachigen Version, die wenige Wochen später in Moskau gezeigt wurde. Die Vorführungen in Lublin und Moskau können als Testläufe für den späteren internationalen Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg angesehen werden. Die Funktionen der Filmbilder aus Majdanek, in denen macht- und geopolitische, juristische und propagandistische Kontexte der zweiten Jahreshälfte von 1944 eine Rolle spielen, lassen sich in sieben Bereiche bündeln: 1. Im Kontext der noch andauernden Offensive gegen die Wehrmacht und damit verbunden eines (internationalen) Propagandafeldzugs gegen NS-Deutschland wollte man der sowjetischen Bevölkerung, Europa und der Welt zeigen, welche Verbrechen die „faschistischen Aggressoren“ in den besetzten Gebieten (hier: in Polen) an Zivilisten und Kriegsgefangenen begangen haben. Es scheint jedoch nicht der Fall gewesen zu sein, dass der Film zur Motivation sowjetischer Soldaten vorgeführt wurde.

780 Smilovitsky 1999. https://www.jewishgen.org/Yizkor/belarus/bel234.html [2.2.2020]

9.4 Funktionen des Filmmaterials 1944–45 und Nachkriegsbiografien

515



Die internationale Verbreitung des sensationellen Filmmaterials – etwa in Großbritannien oder den USA, oder auch im befreiten Frankreich – scheitert während des Kriegs weitgehend. Im Westen wird ‚Majdanek‘ bis zum Frühjahr 1945 als sowjetische Propa­ ganda aufgefasst. Auch die Verbreitungs-Versuche von Sympathisanten des sowjetischen Films wie Sidney Bernstein in London sind zum Scheitern verurteilt (s. u.). 2. Im sowjetischen Kontext kam der filmischen Präsentation von Majdanek nur begrenzter Neuigkeitswert zu; es waren weder die ersten noch die extremsten Gräuel, mit denen das sowjetische Filmpublikum konfrontiert wurde. Darauf weist auch das Faktum hin, dass man sich mit der Uraufführung der russischen Variante Zeit ließ, sie erst Wochen nach der polnisch-sprachigen Premiere und viele Monate nach dem Ereignis selbst zeigte. Die russische Variante war eine filmische Anklageschrift gegen den menschenverachtenden Kapitalismus der „Hitleristen“, die nach eingehender Untersuchung und mit reicher Illustration des Fabrikcharakters des Lagers vorgelegt wird – also eine universale Anklageschrift in Filmform in Vorbereitung auf ein internationales Gerichtsverfahren. Der russische Film wendet sich in ambivalenter Form an das sowjetische Publikum: er kann auch als Einschüchterung derjenigen Sowjetbürger, denen eine Repatriation bevorstand, verstanden werden. Parallel hierzu scheint sich die sowjetische Seite früh nach der Befreiung entschlossen zu haben, das gut erhaltene Gelände des Lagers Majdanek zu einem Museum der NS-Kriegsverbrechen und einer Mahnstätte auf polnischem Boden unter sowjetischer Ägide zu machen. In diesem Kontext stehen auch die Führungen deutscher Kriegsgefangener (wie im Frühjahr 1945 durch westalliierte Militärs) sowie sowjetischer Soldaten und polnischer Bürger durch Majdanek. 3. Im lokalen polnischen Kontext diente die Bilddokumentation von Majdanek auf dreierlei Weise: a. als eine im Kinosaal Ende November 1944 stattfindende Einstimmung auf einen frühen, wenn nicht den ersten Kriegsverbrecherprozess, der außerhalb der UdSSR geführt wurde; in dieser Hinsicht nimmt die zu diesem Anlass erfolgte Filmproduktion die Filmvorführungen anlässlich der Nürnberger Prozesse vorweg, die zwei Jahre später begannen. b. als pro-sowjetische Propaganda, die sich an die moskau-kritische Bevölkerung auf dem von der Roten Armee eingenommenen polnischen Territorium richtete und sie davon überzeugen wollte, dass in Lublin Kriegsverbrecher gegen das polnische Volk gerecht bestraft werden. c. als Ablenkung von aktuellen militärischen Geschehnissen, die die Rote Armee in einem schlechten Licht zeigen und die polnische Bevölkerung gegen die UdSSR aufbringen konnten: Hier geht es in erster Linie um den Warschauer Aufstand, dem von den Alliierten und v. a. der UdSSR nicht genügend Unterstützung zuteil wurde. 4. Als sowjetische Europapolitik: Im Kontext der Vorbereitung von Foto- und Filmpropaganda im gesamten von den Alliierten befreiten Ost- und Mitteleuropa, auf das die UdSSR zum Teil in Anwendung des Hitler-Stalin-Pakts, also eigentlich widerrechtlich, territoriale Ansprüche erhob bzw. wo Einfluss gewonnen werden sollte – Filme waren hier für eine Beeinflussung der Bevölkerung das erste Mittel der Wahl. 515

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9 Die ersten Filme über die farnichtung: Chancen und Hindernisse

5. Im Kontext der Vorbereitung von Foto- und Filmmaterial zur Konfrontation mit dem besiegten Feind a. als Illustration und als juristisches Beweismittel für die Arbeit der Kommission und später für die Prozesse, insb. in Nürnberg. Die Tatsache, dass in den Nürnberger Prozessen Film in Gerichtsverfahren denkbar wurde, verdankt sich nicht zuletzt sowjetischen Praktiken der Beweissicherung, die mit allen verfügbaren Mitteln unternommen wurde. Das Dokumentieren und Sammeln von Beweisen, das Anlegen einer Sammlung forensischer Filmaufnahmen hatten ihren Ursprung in der Errichtung der Ausserordentlichen Untersuchungskommission zur Untersuchung der NS-Kriegsverbrechen im Jahr 1942. Als in der Nachkriegszeit alliierte Filme im Gerichtssaal gezeigt wurden, konnte dies für die sowjetische Seite als gelungene Anwendung und Entwicklung ihrer Intentionen, Film nicht nur als Propaganda, sondern auch als Beweismittel einzusetzen. b. das sowjetische Instrument des „Filmdokuments“ wurde nicht nur zur Beweissicherung eingesetzt, sondern auch zur Dokumentation der Gerichtsprozesse selbst, die die in den Beweis-Filmen vorgeführten Verbrechen verhandeln. Aus der Perspektive des sowjetischen Weltkriegs-Narrativs der Vergeltung stellen sie ihre Vollendung dar: Ein Verbrechen wird gesühnt, wenn die Aggressoren bzw. ihre Helfer verurteilt oder gar gehenkt werden.781 c. als emotionales Medium: Aufklärung und Mahnung durch „Gräuel“-Bilder782 6. Im Hinblick auf die (fehlende) Dokumentation und Geschichtsschreibung der Vernichtung der polnischen Juden, die als „Aktion Reinhardt“ maßgeblich von Lublin aus gesteuert wurde und vorrangig an anderen Orten als Majdanek stattfand. In diesem Kontext wird das „furchtbare Wort Majdanek“ geprägt, um den Symbolwert der Stadt Lublin, Sitz der neuen Regierung, nicht herabzusetzen. Die Halbwahrheit des „Vernichtungslagers Majdanek“ verdeckt das genuine Vernichtungslager Treblinka-„Ober-Majdan“. In dieser Kontinuität der polizeilichen Besatzungsmethoden und der Wahrung von Besitzständen stellen aus der Perspektive vieler in Polen Befreiter das RSHA und die sowjetischen Geheimdienste keinen Gegensatz dar. 7. Aus der damaligen wie auch heutigen Perspektive der jüdischen Geschichte handelte es sich um die ersten Filmaufnahmen, die von einem der Tatorte der industriellen Ermordung der europäischen Juden berichten, jedoch ohne explizite Erwähnung der jüdischen Herkunft der größten Opfergruppe im distribuierten Filmwerk. Bedauerlicherweise spielte in keinem der vorgenannten sechs Kontexte des Kriegsjahrs 1944 die Aufdeckung der Wahrheit des Judenmords als sachliches oder als visuelles Argument eine Rolle.

781 1943 wurden die Volksgerichtsverhandlungen im Gebiet Krasnodar gefilmt (Prigovor naroda / Urteil des Volkes, UdSSR, 1943). 782 Als mediale Verstärkung und Erweiterung des Zwangsbesuchs des Lagers Majdanek durch deutsche Kriegsgefangene auf Geheiß der Roten Armee.

9.4 Funktionen des Filmmaterials 1944–45 und Nachkriegsbiografien

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Für die sowjetische Führung war im Herbst 1944, als der erste Schnitt des Majdanek-Filmmaterials vorlag, die wichtigste Funktion die juristische, geplant in dem Doppelschritt der Vorführung in den Kinos von Lublin während des Sonderstrafgerichts, die zu einer Vorreiterrolle des sowjetischen Filmmediums an einem internationalen Gerichtshof führen sollte. In Bezug auf Punkt 7. könnte man einwenden, dass ein gefestigtes historisches Wissen um die Ausmaße des Judenmords damals noch nicht existierte,783 so dass man nicht jene Sensibilität für das Schicksal der Juden, die wir heute haben, erwarten kann. Allerdings wusste sowohl die sowjetische Regierung als auch die Bevölkerung der besetzten Gebiete der UdSSR und Polens bereits 1944, dass und auch wie rassistisch motivierter Massenmord ausgeführt wurde und auf welche Bevölkerungsgruppen sie sich richtete, d. h. neben den Juden auch Sinti und Roma. Die Sowjetunion hatte sich allerdings im Herbst des Jahres 1944 aus den oben ausgeführten Gründen dagegen entschlossen, dieses audiovisuell dokumentierte Wissen mit dem Massenmedium Film zu verbreiten. Wichtig erscheint mir darauf hinzuweisen, dass es sich um eine in Moskau getroffene politische Entscheidung handelt, kaum um eine individuelle ethische Wahl auf Seiten der Filmleute. Die polnischen und sowjetischen Kameraleute hatten es nicht versäumt, die vorgefundenen Spuren des Genozids zu filmen und sogar Zeugenaussagen aufzuzeichnen. Ihre Aufnahmen gewähren uns heute in veröffentlichter oder aber archivierter Form einen Zugang zu jenen audiovisuellen „Filmdokumenten“, die – wenn auch erst Jahrzehnte später – einen privilegierten Zugang zum KL Lublin/Majdanek 1944 und implizit auch zu anderen Lagern, deren Opfer ihre Habe in Lublin lassen mussten, ermöglichen. Aussagekräftig in Bezug auf das dokumentarische Ethos sind die Nachkriegsbiografien der führenden Köpfe der Majdanek-Aufnahmen: Roman Karmen war ein Fotograf, Journalist und ein Sensationsreporter sowjetischer Couleur, der nicht nur hervorragend mit seiner Filmkamera umgehen konnte, sondern auch seine Sujets gewöhnlich vor Ort ‚im Kasten‘ hatte, da er sie wie eine eigenständige Reportage visuell konstruierte. Er hätte zweifellos Ende Juli eine Filmreportage über die Vernichtung der Juden in der „Todeskombinat“ bei Lublin, oder im August auch eine umfassende Reportage über die von Globocnik von Lublin aus geplante und durchgeführte „Aktion Reinhardt“ liefern können. Im Distrikt Lublin gab es genug Zeugen, die ihn darüber hätten aufklären können. Doch dieser Reportagefilm existiert nicht. Wenn das Dokumentarfilmstudio angesichts der Entsendung Karmens nach Lublin/Majdanek auf eine Wiederholung des Erfolgs von Moscow strikes back gehofft hatte, erfüllte sich dieser Plan nicht, was für das Studio sicherlich eine Enttäuschung darstellte. Aleksander und Olga Ford, die in den 1930er Jahren nach Palästina eingeladen worden waren, haben sowohl vor als auch nach dem Krieg Interesse an jüdischer Geschichte und Gegenwart gezeigt – zumindest mehr als Karmen, dessen Beziehung zum Judentum sich vor seinen anderen Interessen (Spanien, Asien, Süd- und Nordamerika) nur sehr undeut783 Davon künden auch die aufgrund der Zählung der Schuhpaare überhöhten Zahlen, die im Film von 1944 als Gesamtzahl der Opfer in Majdanek genannt werden und zum Teil andere „Aktion Reinhardt“-Opfer mitvertreten, deren Todesorte jedoch nicht genannt werden. 517

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9 Die ersten Filme über die farnichtung: Chancen und Hindernisse

lich abzeichnet. Wenn wir die Fords und Karmen vergleichen, erscheint es denkbar, dass die Polen auf eine Dokumentation der farnichtung drängten und dafür möglicherweise auch Karmen gewinnen konnten. Gelang es ihnen, an Karmens jüdisches Gewissen zu appellieren und ihn zu überzeugen, jene Darstellung des Lagers zu liefern, die zunächst als „naturalistisch“ kritisiert und später Gefahr liefen, als nationalistisch-zionistisch ausgelegt zu werden, da sie auf das Schicksal der Juden aufmerksam machte? Es fällt auf, dass Karmen auch in den 1970er Jahren seine hochgestellte und einflussreiche Position nicht dafür verwandte, in der sowjetisch-amerikanischen Serie über den 2. Weltkrieg die Wahrheit über den Genozid an den Juden, die ihm bekannt war, zur Verbreitung kommen zu lassen: hier wurde v. a. in Bezug auf das sowjetische Publikum, dem ein Pendant der etwa gleichzeitig in den USA produzierten TV-Serie Holocaust fehlte, eine Chance verpasst. Bis heute ist die visuelle Identifikation der Vernichtung der Juden, die auch auf sowjetischem Territorium stattfand, nur lückenhaft und unklar im Bewusstsein der Bürger Russlands verankert, wie ich im Kap. 1. im Zusammenhang mit Temins Foto gezeigt habe. Der Kommunist Karmen sah jedoch diesen Genozid nicht als einen an „seinem Volk“ an. Dies wird auch im letzten Satz von Michail Ošurkovs (1983, S. 125) Erinnerungen offenbar, der lautet, Karmen sei „ein herausragendes Beispiel eines Mannes gewesen, der seinem Volk (svoemu narodu) diente“, gemeint ist damit dem sowjetischen. Karmen starb 1978 an einem Herzinfarkt – seine Frau war mit dem regimekritischen Literaten Vasilij Aksenov liiert und verließ bald darauf die UdSSR in Richtung USA. Ford ist zu dieser Zeit bereits in den Vereinigten Staaten und wird zwei Jahre später in Florida seinem Leben selbst ein Ende setzen.784 Doch Ford hat während seiner späteren Karriere einige Male versucht, seine Zeugenschaft der farnichtung filmisch umzusetzen – gemeinsam mit seiner Frau Olga ist ihm dies in erster Linie im Spielfilm Ulica graniczna (1947) gelungen.

9.5

Unterdrückte Filmkader vs. Undarstellbarkeit

9.5

Unterdrückte Filmkader vs. Undarstellbarkeit

Die Diskussion um Fragen der Nichtdarstellbarkeit des Genozids an den europäischen Juden, die in Frankreich mit großer Leidenschaft geführt wurde (der Höhepunkt war die Kontroverse zwischen Bilderstürmer Lanzmann und Bilderverteidiger Didi-Huberman) ist in den letzten Jahren in eine Sackgasse geraten; augenfällig wurde dies durch Lanzmanns Entscheidung, seinen letzten großen Dokumentarfilm Le dernier des injustes (2013) über den Judenältesten Benjamin Murmelstein mit NS-Archivbildern aus dem Ghetto Theresienstadt zu illustrieren und so gegen sein eigenes Dogma zu verstoßen.

784 Ford hat die Emigration seelisch nicht überstanden und verfiel einer Depression. Danielewicz (2019, S. 322–323) erwähnt frühere Selbstmordversuche bereits in Dänemark.

9.5 Unterdrückte Filmkader vs. Undarstellbarkeit

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Auch wenn die Film- und Fotoanalysen akademischer Holocaust-Studien weiterhin von dem Darstellungstabu informiert sind, bedrängt uns angesichts der heutigen Situation eine ganz andere Fragestellung. Es geht nicht mehr um Fragen des Stils und des decorum, sondern um das Problem der Leugnung von Geschichtsfakten im großen Stil, der absichtlichen Ausblendung von Ereignissen und der planvollen Etablierung von Bildreservoirs, die Material für ‚alternative Wahrheiten‘ und revisionistische Narrative zur Verfügung stellen. Eben diese Techniken konnte man auch in der Herstellung von Propagandafilmen der 1940er Jahre beobachten, und sie basierten damals wie auch heute auf der Entscheidung der Produzenten bzw. anderer Gatekeeper, die Wahrheit nicht zu berichten oder sie – wider besseres Wissen – nur auszugsweise an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Man kann einwenden, dass dies nichts mit der philosophischen Position der Darstellungskritik zu tun hat, doch ist es eben die Entscheidung gegen die Darstellung mit einer Kamera, die Tür und Tor öffnet für Spekulationen. Denn ist kein Bild da, kann ein anderes untergeschoben werden – in unserer bilderhungrigen Welt ist dies die Regel. Auch die von Traumastudien beeinflussten Filmwissenschaften sind hiervon betroffen, die davon ausgingen, dass ein Bezeugen des Genozids unmöglich sei. Shohini Chaudhuri beschreibt das Dilemma der Wahrheit in der Zeugenaussage, das zum kritischen Konzept des „Holocaust als ‚Ereignis ohne Zeugen‘“ geführt hat: Truth-telling is demanded by testimony, usually a first-person narrative relating suffering and injustice. In Shoshana Felman and Dori Laub’s account of Holocaust testimony, the endeavour to bear witness is marked by impossibility. In their well-known statement, the Holocaust is an ‘event without a witness’, meaning that not only were the bulk of its witnesses exterminated, but the experience traumatically dislocated survivors’ memories (Felman and Laub 1991: 80). (Chaudhuri 2014, S. 5–6)

Man kann zwar behaupten, dass die Erinnerung eines jüdischen Sonderkommandomitglieds traumatisch disloziert und daher anders beschaffen ist als die Wahrnehmung von Nichtbetroffenen oder indirekt betroffenen Zeugen, jedoch führt dieses Argument, das mit der These der Undarstellbarkeit der Gaskammern direkt verbunden ist, in unserem Fall ins Leere. Eine Kritik an der Darstellung ist im Fall der Majdanek-Aufnahmen, die durch die Tonaufnahme des Zeugen Reznik ergänzt hätten werden können, wenig angebracht. Sowohl Foto- als auch Filmaufnahmen erlauben es nämlich bis heute, das vom Kameraauge – zuweilen mechanisch – Aufgenommene zu untersuchen. Ich fasse die beiden Punkte zur Darstellbarkeit, Voyeurismus und Zeugenschaft zusammen: Die Majdanek-Gaskammern wurden gefilmt, jedoch von innen, zeugen also nicht von einem voyeuristischen Standpunkt.785 Über die farnichtung wurde von Tätern, Überlebenden 785 Hier spielt es keine entscheidende Rolle, ob hier Juden filmten, aktenkundig ist nur, dass auch der Russe Avenir Sof’in Gaskammern und Guckloch gefilmt hat (Montageliste 1132, am 28.8.1944). Karmen hat mit größter Wahrscheinlichkeit vor ihm im Badehaus II und der Gaskammer gefilmt (VS 1008). Wir wissen jedoch nicht, ob die Aufnahmen in den Filmen von Karmen, Sof’in oder vielleicht auch Tomberg bzw. den Polen stammen. 519

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9 Die ersten Filme über die farnichtung: Chancen und Hindernisse

und Augenzeugen Zeugnis abgelegt – verschiedene Stimmen, authentische und die mit gefälschter Identität, wurden aufgezeichnet. Die im Krasnogorsker Archiv bewahrten Aufnahmen in ihrer Gesamtheit stellen einen – zum Teil noch nicht gehobenen – Schatz dar, der auch über die Aufnahmebedingungen Auskunft zu geben vermag. Das Majdanek-Problem liegt nicht in der Unrepräsentierbarkeit der Gaskammern oder Unerzählbarkeit der „Enterdungsaktion“, sondern in der Unterdrückung von bereits gestalteten Filmaufnahmen und audiovisuellen Zeugnissen von/über Juden durch sowjetische Stellen im Jahr 1944. Hier liegt auch der Skandal der Filmproduktion, die Aufnahmen, die in Lublin – dem Zentrum der „Aktion Reinhardt“ – gemacht wurden, verwendet, aber im Film dann nur das abgeschwächte Majdanek zeigen; es ist in diesen sowjetisch zensierten Filmen ein Lager an erster Stelle für (sprechende) politische Häftlinge, (stumme) Polen und (nicht als solche identifizierte) sowjetische Kriegsgefangene. Nicht zur Sprache kommen Juden – tot oder lebendig. Die einzige physische Spur ihrer Körper im Film findet sich in den Knochenresten und Aschebergen bzw. in transformierter Form auf den Feldern (Kohl wächst innerhalb von zwei Monaten), die mit Menschenasche gedüngt wurden – ein hochgradiger Zynismus angesichts der vorliegenden Aufnahme von Reznik. Aus ethischer Perspektive ist unschwer zu verurteilen, dass die Aufnahmen in Moskau in dieser Form zensiert und geschnitten wurden. Doch was sich im Rahmen einer machtpolitisch bedingten Zensurmaßnahme abspielt, geschah nicht auf der Grundlage einer filmästhetischen Entscheidung – auch wenn sie in mancher Hinsicht auf Emotionen der Filmleute zurückgehen mag: Trauma, Ratlosigkeit, Angst, Abwehr, Scham und Verdrängung. Hier möchte ich noch einmal an das Benjamin-Zitat aus Kap. 2 in Erinnerung rufen, in dem von einem „historischen Index der Bilder“, die „erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen“ die Rede war. Das gilt gerade auch für jene Filmbilder, die nicht nur von Befreiern, sondern auch von Traumatisierten gemacht wurden, d. h. jüdischen Filmleuten, die selbst als „flight survivors“ in der UdSSR interniert oder im Lager gewesen waren und nicht darüber reden konnten oder wollten,786 Kindern von in Weißrussland Repressierten wie Samucewicz und einer verwaisten Mutter, die auf der Flucht vor Hitler in der zentralasiatischen Evakuierung ihr Kind verloren hatte. Jeder dieser Beteiligten sah in den Aschebergen und den Knochen etwas Anderes, doch für die polnischen Juden unter ihnen war die Entdeckung der Spuren des Genozids in Polen ein sie und ihre Familien mehr oder weniger direkt betreffendes Erlebnis des Grauens. Es bedurfte also eines besonderen Wagemuts, diese Bilder der farnichtung lesbar zu machen, denn das „gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrundeliegt,“ wie W. Benjamin (1991, V/1, S. 578) im Passagen-Werk meint. Den Literaten Simonov und Grossman gelang in ihren Reportagen und Sprachbildern eine unmittelbare Lesbarkeit, die 1944 die Zensur 786 A. Grossmann (2017, S. 204–5) spricht von einem Privilegieren der „‚direct survivor‘ story“ gegenüber der UdSSR-Biografie durch die Rückkehrer, da die „Soviet wartime story was so common that it did not warrant much mention; it was the ‘default’ taken-for-granted backstory.“

9.6 Luftbilder und Menschenrechte

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durchbrechen konnte, besser als den Filmleuten. Doch auf der anderen Seite leisteten die letzteren eine mittelbare ‚Lektüre‘ des Lagers im Prozess seiner Kamera-Dokumentation: die durch die sowjetische Erfahrung und den Tod ihres Kindes sensibilierte Olga Ford nahm die Herausforderung der Begegnung mit dem Trauma des Genozids an, der ihr Mann im Juli 1944 auswich, und verarbeitete sie auf künstlerische Weise; Karmen wiederum forderte 1944 – wenn auch vergeblich – den „kritischen Moment“ eines „lesbaren Bilds“ der farnichtung ein, worüber uns seine Montagelisten aufklären.

9.6

Luftbilder und Menschenrechte

9.6

Luftbilder und Menschenrechte

Chaudhuri weist darauf hin, dass wir von Dokumentarfilmen nicht nur erwarten, dass sie auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machen, sondern auch, dass sich aus einer Filmvorführung eine humanitäre Verantwortung ergibt: Human rights organisations and activists have long recognised the power of film for evidence, advocacy and awareness-raising. A film can offer personal stories and background, making human rights ‘tangible by eyewitness experience’ (Claude and Weston 2006: xii). At the heart of activists’ use of film is the belief that, by exposing human rights abuses around the world, film can bring about change or prevention: a belief in cinema’s transformative power to break through spectators’ ignorance, indifference or denial. The assumption is that representation promotes recognition, which, in turn, promotes the responsibility to act. (Chaudhuri 2014, S. 5)

1944 war dies keinesfalls selbstverständlich, die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ erfolgte erst 1948; doch das engagierte Filmwerk der Fords aus der Vorkriegszeit zeigt, dass sie dem Filmmedium wichtige gesellschaftliche Aufgaben zuschrieben und an eine aufklärende, ja, performative Wirkung des Films glaubten. Hier musste es zu einem Zusammenstoß mit der sowjetisch intendierten Propaganda- und Rechtsfunktion kommen, auf die das Filmprojekt und alle Filmoffiziere verpflichtet worden waren. Doch betrachtet man die Berichterstattung in britischen und amerikanischen Medien zu Lublin (vgl. Kap. 4.1.1), ist nicht ausgeschlossen, dass auch nach einer rechtzeitigen wahrhaftigen Reportage aus Lublin der Westen nicht aufzurütteln gewesen wäre. In den letzten Jahrzehnten wurde immer wieder diskutiert, warum – trotz alliierter Luftbildaufnahmen – kein ernsthafter Versuch unternommen wurde, die letzte Phase der industriellen Vernichtung der europäischen Juden im Sommer 1944 zu verhindern. So fragte sich der Autor eines Artikels mit dem Titel „Why Auschwitz wasn’t bombed“: How could it be that the governments of the two great Western democracies knew that a place existed where 2,000 helpless human beings could be killed every 30 minutes, knew that such killings actually did occur over and over again, and yet did not feel driven to search for some way to wipe such a scourge from the earth? (Wyman 1998, S. 583) 521

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9 Die ersten Filme über die farnichtung: Chancen und Hindernisse

Bereits ab April 1944 wurde aufgrund schriftlicher Berichte (darunter die Auschwitz-Protokolle von Vrba und Wetzler) an britische und US-Regierungsstellen appelliert, man möge Auschwitz zerstören bzw. die Transportwege unterbrechen.787 Die Idee, Bahnlinien zu bombardieren war aufgrund des im Sommer 1944 gegen das „3. Reich“ geführten Ölkriegs ohnehin vorhanden (Wyman 1998, S. 574). Warum geschah dies nicht? Die Begründungen sind meist militärischer Art bzw. es werden die Einwände jüdischer Interessenvertreter wie Chaim Weizmans (Präsident der Zionistischen Weltorganisation) angeführt, es könnte ungewollte Opfer des Bombardements geben. Jüngst wandte Rafael Medoff (2019) ein, das Studium freigegebener Quellen zeige, dass Ben Gurion und die Jewish Agency im Juni 1944 aufgrund der Beweise, dass es sich bei Auschwitz um ein Vernichtungslager handele, ihre Meinung geändert hätten, da insb. die zielgerichtete Zerstörung von Brücken einen rettenden Effekt gehabt hätte. Eden und Churchill unterstützten Weizmans und Moshe Shertoks (Jewish Agency in London) Anliegen britischer Luftangriffe, jedoch meinte Archibald Sinclair vom Air Ministry am 15. Juli, ein RAF-Bombardement sei „out of our power.“ Am 1.9.1944 schrieb Richard Law (Foreign Office), der Vorschlag sei endgültig abgelehnt. Welches Einschreiten es auch gewesen wäre – Basis hierfür wären neben schriftlichen Berichten oder Plänen, auf die sich humanitäre Argumente stützen konnten, eine Dokumentation der Vernichtung mit echter Beweiskraft. Eben jene Reportagen und Filmdokumente (kinodokumenty) der Sowjets fehlten in dem entscheidenden Zeitraum – d. h. Ende Juli bis Oktober. Einstweilen wurden dem Internationalen Roten Kreuz (IKRK) und dänischen Delegierten in Theresienstadt am 23. Juni 1944 vorgeführt, wie harmlos deutsche Lager, in denen Juden interniert waren, seien. Den Dänen wurde versichert, dass ihre jüdischen Staatsbürger nicht in den Osten deportiert würden, doch galt dies nicht für die anderen Theresienstädter, die im Laufe der nächsten Monate nach Auschwitz in den Tod geschickt wurden. Im August und September wurde ausserdem das „verschönerte“ Ghetto gefilmt – ein wichtiger Schachzug, der das RSHA gegen die drohenden atrocities aus Lublin/ Majdanek wappnete. Als dieser sowjetische Angriff ausblieb, konnte der audiovisuelle Präventivschlag auf der deutschen Seite als Erfolg verbucht werden.788 Die Errichtung der medialen Festung Theresienstadt vereitelte nicht nur den Auschwitz-Besuch des IKRK, sondern wirkte sich auch negativ auf den Plan der Westalliierten des Bombardements der Verkehrswege aus.

787 https://www.yadvashem.org/odot_pdf/Microsoft%20Word%20-%205784.pdf [5.5.2019] Die Forderung nach Bomben erhob Rabbi Weissmandel (Slowakei). Leon Kubowitzki (World Jewish Congress) schlug eine Fallschirmspringeraktion zur Übernahme des Lagers vor vor (Milland 1998, S. 218). 788 In diesem Sinne hatte Friedrich Kittler nicht recht, als er in Grammophon, Film, Typewriter (1986, S. 190) schrieb: „Der Transport von Bildern wiederholt nur den von Patronen.“ Filmbilder können militärische Handlungen vielmehr antizipieren, vereiteln oder hervorrufen. Das Theresienstadt-Film-Projekt wurde im Herbst 1944 unterbrochen und kam erst im April 1945 als Alibi-Vorführung für einen beschränkten Kreis (darunter das IKRK) zum Einsatz (Drubek 2016).

9.6 Luftbilder und Menschenrechte

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Untätigkeit wird dann unverzeihlich, sobald die Alliierten – in der Gestalt der Roten Armee – im Juli 1944 die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager in Polen entdeckt: dies waren zum einen kaum sichtbare oberirdische Spuren wie in Treblinka, das wir auch als Ober-Majdan kennengelernt haben, zum anderen waren es im ehemaligen KL Lublin – nun als Majdanek bezeichnet – filmbare Gebäude und Spuren des Genozids. Erstklassige Reporter untersuchten den Tatort und erfahrene Kameraleute filmten dieses Lager. Mit einer zeitnah produzierten, die Gaskammern und Krematorien dokumentierenden Reportage hätte eine reale Chance bestanden, kamaragenerierte Prima-Facie-Beweise für die industrielle Vernichtung in Gaskammern zur Verfügung zu stellen. Ein transparenter Umgang mit dem Lagergelände im Originalzustand – ausländischen Reportern zugänglich gemacht –, hätte genügt, dass die Nachricht zusammen mit einem kurzen Filmbericht eine mediale Sensation auslöst. Das „Filmdokument“ als humanitär-politisches Druckmittel hätte als gewichtiges Argument für die Unterbrechung der Deportationen etwa einer halben Million Menschen nach Auschwitz dienen können. Die Presseberichte und qualitätsarmen Fotos allein, die aus Lublin/Majdanek kamen, genügten nicht, den Westen von der Realität der Vernichtung durch Gas und Massenerschießungen zu überzeugen. Es war notwendig, Film- und Fotokameras einzusetzen. Milland zeigt, dass der Rundfunk allein als Medium ungeeignet gewesen war, Menschen die Vernichtungslager begreifbar zu machen, und dass in Großbritannien erst im April 1945 das Bildzeugnis dies vermochte. Ich möchte hinzufügen, dokumentiert in Ohrdruf und Bergen-Belsen durch westliche und nicht sowjetische Kameras.789 Ein solcher, Menschenrechte einfordernder Film aus einem von einer alliierten Armee befreiten Lager hätte mehr bewegen können als die Luftbilder von Auschwitz eines alliierten Aufklärungsflugzeugs es vermochten. Der Majdanek-Film wurde jedoch erst vorgeführt, als die „Mühlen“ in Auschwitz schon aufgehört hatten zu mahlen. Es ist unheimlich, dass seine Premiere im November 1944 mit der Demontage der Mehrzahl der Kammern und Öfen zusammenfällt (zur Datierung vgl. Danuta Czech 1989, S. 921–933). Gab es für die Erhaltung von Auschwitz – wie Sutton (2012) dargestellt hat – handfeste Gründe, die nicht militärischer, sondern ökonomischer Natur waren? Aber gerade dann, wenn es sich um kapitalistische Interessen der Fabrikeigentümer gehandelt hat, die zudem von internationalen Banken gestützt wurden, hätte die Kamera des in Lublin anwesenden „Reportergewissens“ die Nachricht vom Massenmord mit Hilfe von Zyklon B, mit dem

789 Milland (1998) zeigt, wie dünn bzw. unwirksam die Berichterstattung des Home Service der BBC war: „the impact of the BBC’s reporting of the Final Solution on the British public was marginal. Mass Observation conducted research on the public reaction to the news coming from the western camps on 18 April, 1945. The majority of those polled stated that although they had been aware of conditions in concentration camps before their liberation they had ‘not able been able to assimilate or believe them’. It was only when they saw photographs that they actually believed what many had heard before. This is perhaps evidence of the limited power of radio as a medium – in leaving so much to the imagination it cannot hope to fully impart a message that the imagination finds so difficult to deal with.“ (Milland 1998, S. 263) 523

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9 Die ersten Filme über die farnichtung: Chancen und Hindernisse

die deutschen Firmen IG Farben und Degussa Geschäfte machten, der Weltöffentlichkeit mitteilen müssen.790 Das monatelange Herauszögern der visuell aufbereiteten Information mit gefilmten „Sachbeweisen“ erscheint aus heutiger Sicht schwer fassbar. Wie ich dargelegt habe, war jedoch ein solcher Effekt eines Films zum entscheidenden Zeitpunkt für die sowjetische Führung nicht relevant. Das jüdische Thema wurde im Sommer 1944 nicht um seiner selbst bzw. der Dokumentation der Wahrheit willen und nur während einer kurzen Phase aufgegriffen und im Verlauf des Jahres fallengelassen. Es gab zudem noch weitere Umstände, die mit der geheimdienstlichen Verwendung und Auswertung der deutschen Lager nach ihrer Befreiung zusammenhingen und auf die ich hier nur am Rand eingehen konnte. Doch auch sie beschäftigten die Befreier vor Ort und behinderten das Durchdringen der Wahrheit über die „Todesfabriken“ nach Europa.

9.7

Europäische Pläne für die Majdanek-Aufnahmen

9.7

Europäische Pläne für die Majdanek-Aufnahmen

Die aufwändige Filmdokumentation von Majdanek ist auch im Kontext sowjetischer Aktivitäten im Hinblick auf die Filmdistribution im Ausland zu sehen, die ab Frühjahr 1944 auf höchster Parteiebene geplant wurden. Sie betrafen v. a. die im Laufe des Jahres 1944 befreiten und zu befreienden Territorien wie etwa Rumänien und Polen. Bereits am 20. Mai 1944 informiert der Vorsitzende des Filmkomitees, I. G. Bol’šakov den Außenminister V. Molotov, über die Pläne der USA und Grossbritannien, die eigene Filmproduktion im großen Maßstab in den befreiten Gebieten zu zeigen. Erwähnt wird dies im Zusammenhang mit der von Eisenhower gegründeten Abteilung für psychologische Kriegsführung des Obersten Hauptquartiers der Alliierten Expeditionsstreitkräfte (The Psychological Warfare Division = PWD der Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force = SHAEF) in London, unter dem amerikanischen Brigadegeneral Robert McClure. Die Sowjets waren hieran nicht beteiligt.791 Die Filmsektion des PWD plante u. a., welche 790 Vgl. etwa die Hypothese zur weitgehenden Verschonung einiger Fabriken in Europa, darunter die Ford-Werke und die I.G. Farben durch die USAAF: „One of the more horrifying aspects of I.G. Farben’s cartel was the invention, production, and distribution of the Zyklon B gas, used in Nazi concentration camps. Zyklon B was pure Prussic acid, a lethal poison produced by I.G. Farben Leverkusen and sold from the Bayer sales office through Degesch, an independent license holder. Sales of Zyklon B amounted to almost three-quarters of Degesch business; enough gas to kill 200 million humans was produced and sold by I.G. Farben. The Kilgore Committee report of 1942 makes it clear that the I.G. Farben directors had precise knowledge of the Nazi concentration camps and the use of I.G. chemicals. This prior knowledge becomes significant when we later consider the role of the American directors in I. G.’s American subsidiary.“ (Sutton 2012, S. 37) 791 McClure war nach 1945 einer der führenden Kalten Krieger im Bereich Special Warfare; zur „Operation Ivan“ (US-Propaganda, die auf der Basis von sovietologischen Studien die Völker

9.7 Europäische Pläne für die Majdanek-Aufnahmen

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Filme in der amerikanischen bzw. britischen Besatzungszone bzw. in den befreiten Territorien, die „vier oder fünf Jahre lange Nazipropaganda ausgesetzt worden waren,“ gezeigt werden sollten (Gladstone 2011, S. 73). Hieraus ergab sich also eine Konkurrenz zu den sowjetischen Plänen.792 Der Leiter der anglo-amerikanischen Filmsektion des PWD für die Befreiten Gebiete (Chief of PWD’s Film Section, Liberated Areas) beim SHAEF war Sidney Bernstein, der auch im britischen Informationsministerium (MOI) eine analoge Funktion ausübte (Head of the Liberated Territories Section in the MOI’s Films Division; Gladstone 2011, S. 73). Bernstein war Mitgründer der London Film Society, Filmunternehmer und Produzent, und verfügte nicht nur über amerikanische Netzwerke, sondern auch gute Kontakte zur Sowjetunion und den im MOI tätigen Produzenten polyglotten Sergei Nolbandov, der in Odessa Jura studiert hatte.793 Doch zurück zu Bol’šakovs Bericht, wo die Rede davon ist, dass vom Sovkinoagentstvo in London sowjetische Filme bereits synchronisiert wurden: Erwähnt werden westeuropäische Sprachen, französische Untertitel für sowjetische Filme in Nordafrika, das Norwegische und Tschechische. In Arbeit seien Synchronisierungen ins Polnische, Serbische und Rumänische.794 Man sieht, dass den befreiten und erst zu befreienden Gebieten besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde – und dies auch unter kommerziell-organisatorischen Gesichtspunkten, da das Fußfassen sowjetischer Filmdistribution eng mit der Verbreitung der eigenen Propaganda verbunden war. In zahlreichen von Valerij Fomin in Kino na vojne veröffentlichten Dokumenten aus der zweiten Jahreshälfte 1944 ist die Rede von „Konkurrenz und Kampf um die Kinotheater“, wie etwa im befreiten Rumänien, wo amerikanische795 und britische Filmverleiher ebenfalls aktiv wurden; der Bericht des Leiters von Sojuzintorgkino P. G. Brigadnov an Bol’šakov und A. N. Andrievskij enthält eine

der UdSSR gegen ihre Regierung mobilisieren sollte) vgl. den Artikel „Umgang mit Russen“, Der Spiegel. Nr. 47, 1950, S. 18: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/44451377 [1.1.2020] 792 Die Sowjetunion hatte einen Erfahrungsvorsprung, was die Praxis der Propaganda in befreiten Gebieten anging, worauf ein Bericht des amerikanischen PWD-Mitarbeiters zur Attraktivität des Musikprogramms des Sowjetischen Rundfunks in Berlin im Juni 1945 hinweist: „After Mr and Mrs Kraut have enjoyed the nice program from Berlin, they turn the dial (to Radio Luxembourg, London or Voice of America) and what do they hear? All about concentration camp crimes, which at first they listened to attentively, but repeated every time it became nauseating.“ (Gladstone 2011, S. 76) 793 Gladstone (2005, S. 62) zu Sergei Nolbandov (Moskau 1895–1971 Lewes, Sussex). 794 Fomin 2005, S. 634–635. Am 3. Juni empfiehlt A. Vyšinskij die „Herstellung sowjetischer Filme in deutscher Sprache“, woraufhin der Empfänger mit der Hand „Untertitelung“ vermerkt (ibid., S. 642). 795 Vgl. die 1943–44 an Bol’šakov und Andrievskij gerichteten Briefe M. Kalatozovs aus Amerika, in denen er die expansiven Ziele der amerikanischen Filmindustrie beschreibt. 525

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Markt- und Rezeptionsanalyse für Bukarest.796 Brigadnov betont, dass trotz der Sympathie der „Arbeiter und armen Bauern für die Rote Armee deutsche Agenten und rumänische Faschisten in großer Zahl Panik verbreiten würden und die sowjetische Propaganda bremsten“, und zwar gerade auch die „Filmpropaganda, die momentan in Rumänien am stärksten und wirksamsten sei.“ (Fomin 2005, S. 630) In einem 20-Jahresbericht zum Export sowjetischer Filme vom 1924–44 von Brigadnov an Bol’šakov vom 11.10.1944 wird nur konstatiert: „Auf dem Territorium des befreiten Polen, wie auch Rumänien und Bulgarien werden mit Erfolg neue sowjetische Filme vorgeführt.“797 Die in Kino na vojne versammelten Dokumente ergeben folgendes Bild: Im Frühjahr 1944 verhärteten sich die Fronten innerhalb des Umgangs der Allierten miteinander. Sowjetische Filmfunktionäre beschweren sich, es würden zu wenig Produktionen aus der UdSSR im Westen gezeigt, gerade im Bereich Film sei der in der Teheraner Konferenz798 vereinbarte „kulturelle Austausch“ am schwächsten799 und sowjetische Filme hätten mit der britischen Zensur zu kämpfen, die etwa darauf bestünde, dass „sogenannte ,Gräuel’ (užasy)“ aus dem Film Bitva za Sovetskuju Ukrainu / Schlacht um die Sowjetukraine entfernt werden sollten (Fomin 2005, S. 638). Auch in diesem Kontext sind die Zensurmaßnahmen der Majdanek-Aufnahmen von 1944–45 zu verstehen, und er betrifft nicht nur die politische Zensur, sondern auch die atrocities, die – im Vergleich mit Auschwitz als auch Bergen-Belsen u. a. westalliierten Filmdokumenten – in den überlieferten Majdanek-Filmen (im Vergleich zu Fotos und dem archivierten Filmmaterial) relativ gemäßigt ausfallen bzw. auf künstlerische Sublimation, ausgefeilte Rhetorik und ideologische Argumentation setzen.

796 Fomin 2005, S. 626–630, hier S. 628. Hier findet sich auf S. 629 auch eine detaillierte Einschätzung zu technischen Fragen der Untertitelung, die mit Hilfe des Baus sowjetischer Titel-Maschinen nach dem Muster ungarischer Technologie gelöst werden könne. 797 Fomin 2005, S. 657. In diesem Bericht ist auch die Rede davon, dass die Filme synchronisiert, oder zumindest mit einem gesprochenen Text versehen werden müssen, um den vollen „gesellschaftlich-politischen Effekt“ zu erfüllen. Untertitelungen seien nur eine „halbe Maßnahme“. 798 Auf dieser Konferenz (28.11.–1.12.1943) einigten sich Stalin, Churchill und Roosevelt auf militärische Strategien, aber auch auf die Neuordnung Deutschlands nach dem Krieg. 799 Fomin 2005, S. 639 (S. 636–641). Es handelt sich um ein Protokoll eines Gesprächs zwischen Bol’šakov und dem britischen Leiter der Sowjetischen Sektion des britischen Informationsministeriums Peter Smollett vom 31.5.1944 (Hans Peter Smolka, später als sowjetischer Agent identifiziert: „Born in Vienna as Peter Smolka, during World War II Smollett was the head of the Soviet section in the British Ministry of Information—one of Orwell’s inspirations for the Ministry of Truth. […] according to the Mitrokhin Archive of KGB documents, Smollett-Smolka actually was a Soviet agent, recruited by Kim Philby, with the codename ,ABO’.“ Timothy Garton Ash, „Orwell’s List“, 25.9.2003, New York Review of Books, http://www.nybooks.com/ articles/archives/2003/sep/25/orwells-list/ [2.2.2018]

9.8 Majdanek in Bernsteins German Concentration Camps Factual Survey

9.8

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Majdanek in Bernsteins German Concentration Camps Factual Survey

Auch wenn das Majdanek-Filmmaterial die Vernichtungsmaschinerie in Oberschlesien nicht anhalten konnte, gab es in den ersten Monaten des Jahres 1945 doch Hoffnung, dass es – noch vor Kriegsende – ein westliches Publikum finden würde. Ihre Träger saßen in London: Es waren die bereits erwähnten Sidney Bernstein und Sergei Nolbandov. Bernstein verfolgte ab Beginn des Jahres 1945 die Idee eines künstlerischen Dokumentarfilms, der atrocity footage der Alliierten sammeln würde. Michalczyk beschreibt die Entstehung und nennt einige Eckdaten der German Concentration Camps Factual Survey: President Roosevelt and other Allied leaders were seeking justice for the war criminals as reports began to trickle in about Nazi atrocities. Less than two weeks earlier, the Russians liberated Auschwitz and the Red Army cameramen a short time later documented the scene they encountered. In 1945, Sergei Nolbandov, a Russian-born writer, producer and director of a celebrated British war film (Ships with Wings, 1941), was working with the British Ministry of Information film division. On February 8, he sent a note to Sidney Bernstein, Chief of the Film Section of the Psychological Warfare Division of SHAEF. Nolbandov’s memo indicates that the footage of the atrocities in various camps was extensive, “And this material, it emerges, was being collected with a view to preparing a film which will show the German atrocities in many parts of the world.” (Michalczyk 2014, S. 33)800

Anders als Michalczyk schreibt Kay Gladstone (2005, S. 51–52), Bernstein hätte Anfang 1945 von den „Russian authorities“ erfahren, sie würden Filmpropaganda für das besiegte Deutschland vorbereiten. Daraufhin hätte er Nolbandov im Januar beauftragt, von Kameraleuten verschiedener Länder gefilmte „deutsche Gräuel“ zu sichten: to trawl through the separate archives of Russian newsreels, the US Army Pictorial Service, War Office, RAF and the British newsreel companies. There was so much atrocity material that Nolbandov was able to report late in February 1945 that it was being collected with a view to preparing a film which will show the German atrocities committed in many parts of the world. The basic idea of the film is to present an objective report, almost like a criminal investigation report.” (Gladstone 2005, S. 52, zitiert Nolbandovs Memo vom 8.2.1945)

Laut Gladstone wandte Bernstein sich im Februar an seinen PWD-Vorgesetzten, den amerikanischen Brigadegeneral Robert McClure, der zunächst abwinkte, da die „angloamerikanische Strategie des PWD sei, keine Kriegsfilme (war films)“ zu zeigen, sondern das „Leben in einer Demokratie.“ Gladstone (2005, S. 51) schreibt: „It is clear that the Englishman’s

800 Vaughan (1983, S. 155) schreibt: „the primary creative impetus came from Sidney (now Lord) Bernstein. It is he who signs most of the letters; it is he who sent the directive to SHAEF (7 May 1945): ‘Cameramen should photograph any material which will show the connection between German industry and the concentration camps – e. g. nameplates on incinerators, gas chambers or other equipment […]’.“ 527

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passionate interest in film, and his belief in the power of the medium to improve mankind (widely shared by his friends in the British documentary movement) set him apart from the more pragmatic outlook of his American counterparts in this Allied body.“ Abgesehen davon war McClure ein Militär und Bernstein ein Mann des Films. Nolbandov und Bernstein wurden später verstärkt durch weitere namhafte Briten wie Alfred Hitchcock, die Cutter Stewart McAllister, Peter Tanner und Richard Crossman, den Autor des als „lyrisch“ bezeichneten Kommentars.801 Bernstein glaubte nicht nur an den internationalen Charakter von German Concentration Camps Factual Survey, wie seine Tochter, die Dokumentarfilmerin, Jane Wells, sagt, sondern war auch hervorragend international vernetzt und hatte ehrgeizige künstlerische Ziele im Hinblick auf den Film: So he brought in other people he knew. He tried to get the American units to send their footage and the Russian units. And, in fact, they did. And then he spoke to his friends in Hollywood to help them try and make a better film than the typical news reel they would have been shooting. (Fowler und Wells 2007)802

Hitchcock empfahl im Juli 1945, die Authentizität der Aufnahmen durch lange Einstellungen und Schwenks vom Vorgefundenen auf die Zeugen sicherzustellen, damit der Film maximal überzeugen würde. Da der Beweischarakter des Mediums von Relevanz war, sollte jeglicher Verdacht von „trickery“ ausgeschlossen werden: „Hitchcock achtete peinlichst darauf, Material zu verwenden, das auf keinen Fall gestellt worden sein konnte.“803 Alle Quellen scheinen zu bestätigen, dass Bernstein früh KZ-Material zugespielt bekam, Interesse an bereits abgedrehten und (ab April 1945) künftigen KZ-Aufnahmen hatte und auf sein Betreiben weiteres sowjetisches Filmmaterial der „Russian units“ nach Großbritannien kam. Doch wer genau ist mit „russischen Einheiten“ gemeint? „Nolbandov’s memo“ vom

801 „Bernstein and Crossman had attempted to make their film a warning to all of humanity. ‚Bernstein’s was a work of art by comparison,‘ says Singer, ‚mainly because of Crossman’s lyrical script‘.“ Stuart Jeffries’ Rezension von Singers Night Will Fall, 9.1.2015, https://www.theguardian. com/film/2015/jan/09/holocaust-film-too-shocking-to-show-night-will-fall-alfred-hitchcock [2.2.2020] Laut Vaughan (1983, S. 154) war Crossman „Chief of German Propaganda for the Psychological Warfare Division of SHAEF.“ 802 Diesen künstlerischen Anspruch im Hinblick auf das KZ-Material konnte Bernstein 1945 nicht umsetzen, jedoch produzierte er in den USA Hitchcocks Spielfilm Rope / Cocktail für eine Leiche, der als Experiment in die Filmgeschichte einging, da er den Eindruck erweckt, in einer langen Einstellung gedreht zu sein. Jane Wells schreibt über die britischen KZ-Aufnahmen: „it is very, very hard to watch because there are long panning shots that go on for what seems like an indecent amount of time today. And I think what we tend to do is then blink and cover our eyes and that becomes like a cut. But just going back to the techniques that my father did use if I may for a bit, he produced a film with Alfred Hitchcock called Rope in 1948, not long after this. And one of the things they did in that film was that they filmed a complete reel, or there were long, long shots in the film.“ (Fowler und Wells 2007). 803 Christoph Terhechte, auf der Seite: https://www.arsenal-berlin.de/fileadmin/user_upload/ forum/pdf2014/forum_pdf/German_Concentration_Camps_Factual_Survey.pdf [2.2.2020]

9.8 Majdanek in Bernsteins German Concentration Camps Factual Survey

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8.2.1945 kam zu einem Zeitpunkt, als die Filmarbeiten im befreiten Auschwitz noch im vollen Gange waren: Der Leiter der Filmgruppe der 1. Ukrainischen Front Michail Ošurkov sollte eine Woche später (am 15.2.) um bessere (Ton)Ausrüstung für den Dreh ersuchen, die ihm Štatland am 3.4.1945 verweigerte (vgl. meinen Exkurs in Kap. 7). Wenn Nolbandov im Februar 1945 KZ-Befreiungsfilmaterial im britischen Foreign Office sichtete, dann kann es es sich nicht um „russisches“ Material aus Auschwitz gehandelt haben, welches laut Hicks (2012, S. 175) erst am 19.3.1945 nach Moskau geschickt wurde. Der offizielle Weg aus dem befreiten Polen nach London musste über Moskau gehen, da bis August 1945 das Projekt als Kooperation der Alliierten behandelt wurde, wie Haggith (2019) feststellt: up until early August 1945, the plan was that the film would end with statements from the Big Three: Truman, Churchill and Stalin. Reflecting its importance, the MOI took responsibility for the production of the film itself and its best editors were put to work on it. In Richard Crossman and Colin Wills, Bernstein had recruited two of the best writers of the time, and he canvassed top British and American filmmakers to direct it.

Dies bedeutet, dass Nolbandov Majdanek-Material – mit Tonaufnahmen – gesichtet haben musste, oder einen der beiden Majdanek-Filme. Die geplanten Auftritte von Truman, Churchill und v. a. Stalin im Film müssen dazu geführt haben, dass – ab Mai 1945 – Befreiungsmaterial aus Majdanek und Auschwitz einer universalen Botschaft angepasst wurde, und dies könnte zu einer weiteren Dejudaisierung der im Januar 1945 vorliegenden, bereits zensierten Premierenfassungen – IIIb und IVb – zur Verwendung im sechsten Teil der German Concentration Camps Factual Survey geführt haben. Ich habe dies in dem Schema „Spezialfall Majdanek-Aufnahmen“ (Kap. 8.3) nicht vermerkt, da es sich bisher nur um eine Extrapolation handelt. Sie erscheint mir jedoch aufgrund einer strukturellen Ähnlichkeit der Auswahl der Majdanekaufnahmen mit den Plänen für Factual Survey bedenkenswert: auch in den britischen Tonaufnahmen in Bergen-Belsen kamen Opfer wie Täter zu Wort;804 Bernstein forderte, dass die westlichen Kameraleute Schilder der Hersteller von Vernichtungsmaschinerie dokumentieren wie die Kameraleute der Roten Armee (Vaughan 1983, S. 155); zudem hatte Factual Survey ein deutsches Publikum im Auge – und in Lublin/Majdanek wurden zahlreiche Verhöre und Zeugnisse in deutscher Sprache aufgenommen, mit dem Endkommando und mit Häftlingen. Dies war zweifellos ein innovativer Zugang, der zu Bernsteins und Hitchcocks Ziel passte, das deutsche Publikum nicht auf krude Weise zu erschüttern und anzuklagen (wie etwa B. Wilders Konkurrenzprojekt Death Mills, USA, 1945), sondern es mit emotionalen Mitteln anzusprechen, es im Innersten zu berühren.

804 Laut Haggith (2005, S. 39, 48) war Bernstein vom sowjetischen Material inspiriert, als er am 22.4.1945 aus Belsen den Direktor von British Movietone News veranlasste, Tonaufnahmen zu machen, die dann als MOI Special on Belsen (MOI = Ministry of Information) gesendet wurden. Dies müssen Majdanek-Aufnahmen gewesen sein. 529

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9 Die ersten Filme über die farnichtung: Chancen und Hindernisse

Es ist nicht ausgeschlossen, dass Bernstein im Verlauf der Produktion der Unterdrückung der Nachricht über den Genozid zugunsten einer allzu universalen Aussage, die an ein Totschweigen der Wahrheit grenzte, zunehmend kritisch gegenüberstand. Seine Tochter meint hierzu 2007: „he grew up to be an active socialist and not a practicing Jew, but I think that emotional tie was always there, and a sense of responsibility to that“ (Fowler und Wells 2007).805 Wells meint, dass er nach dem Eindruck von den sowjetischen Aufnahmen die Sache nicht auf sich beruhen lassen wollte; obwohl er internationalistisch dachte, hätte sich sein jüdisches Gewissen geregt: JANE WELLS: So what I understood was that he had seen this and that he, as a film maker and as a Jew, he was not going to let this one go. JERRY FOWLER: One thing you mentioned, so he was responding to this as a Jew. He had been raised, I understand, as an Orthodox Jew. JANE WELLS: Correct.

Offensichtlich hatte der Majdanek-Film zumindest in Bernstein einen Zuschauer gefunden, der so von den Umständen der „Vernichtung des jüdischen Volkes“ (Fowler) erfuhr. Gladstone (2011, S. 76) schreibt über Bernsteins Ambitionen im juristischen Bereich: „The project was still being slowed down by the constant determination of Bernstein to build up a quasi-legal case proving German guilt and to authenticate the evidence beyond any possibility of future denial.“ Bernstein war von der marxistischen Botschaft des Majdanek-Films beeinflusst, wie seine Direktive an SHAEF vom 7. Mai 1945 zeigt: „‘Cameramen should photograph any material which will show the connection between German industry and the concentration camps – e. g. nameplates on incinerators, gas chambers or other equipment […]’.“ Vaughan (1983, S. 154) hält einen weiteren Berührungspunkt fest: Am 9.6.1945 machte sich das MOI auf die Suche nach einer Filmschneidemaschine, wobei auch die sowjetische Seite um Hilfe gebeten wird: „After a search embracing – among other possibilities – the Soviet Film Agency of the 9th Air Corps, a moviola is finally found – presumably for use in Germany – on 20 June.“ In Singers Dokumentarfilm Night Will Fall (2014), der den westlichen Kontext und die Pläne des anglo-amerikanischen PWD des SHAEF nachzeichnet, kommt dies nicht zur Sprache; in dem Film ist die sowjetische Seite kaum recherchiert bzw. dokumentiert, was bedauerlich ist, denn Bernstein scheint – durch das sowjetische Material aufgerüttelt – auf die Idee einer alliierten Kompilation der atrocities unter britischer Federführung gekommen zu sein. Die Befragung des Auschwitzkameramanns Voroncov (dort: Voronstov) in mit Orden übersäter Uniform ist unergiebig; seine Antworten sind ausweichend und er verharrt bis zuletzt in der offiziellen Haltung eines sowjetischen Veteranen. Wir erinnern uns: Filmgruppenleiter Ošurkov, der eine adäquate 805 „JERRY FOWLER: Regret in what sense? JANE WELLS: That he [Bernstein] had not, perhaps, done more, that maybe he did not speak out, just emotional. I think it was still hard to talk about it. And that he had not done more to help those people through film. I think it was really one of the greatest disappointments of his life.“ (Fowler und Wells 2007)

9.8 Majdanek in Bernsteins German Concentration Camps Factual Survey

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Auschwitz-Dokumentation sicherstellen wollte, hat Voroncov als „arrogant und besserwisserisch“ bezeichnet (vgl. Kap. 8.1). Zudem war er nur einer unter vielen Kameraleuten in Auschwitz. Bei allen Darstellungen zu KZ-Aufnahmen der Roten Armee sind Korrekturen anzubringen, so etwa in Haggiths (2019) Statistik zu Factual Survey, wo er aktuell „acht Sowjets“ nennt: 43 cameramen (seven British, 28 American and eight Soviet), who filmed at the 14 locations (10 camps and four sites of atrocity) covered. Although Sidney Bernstein sent directions about what and how to film, these arrived after the bulk of the filming had taken place. In fact, only on two occasions do we know that cameramen shot material specifically for the film, or ‘serial F3080’ as it was also known.

Die Aufnahmen aus dem Osten, die bereits vor Monaten erstellt worden waren, stammten nicht nur von „sowjetischen Kameraleuten“, sondern, wie wir wissen, auch von der polnischen Filmspeerspitze, die weder in dem Dokumentarfilm noch in der Forschung erwähnt wird; zur Zahl der Kameraleute: allein in Majdanek filmten ein knappes Dutzend. Haggith (2019) erwähnt in einer Notiz auf der Webseite des BFI, dass 1946 weiter an dem Film gearbeitet wurde, bevor er 1952 in das IWM kam: we have recently discovered that some unnamed MOI technicians resumed work on the film in March 1946. The extent of their work is not yet clear, but the film remained incomplete by May of that year, when it was finally set aside. This helps to explain why the script for the commentary is dated 7 May 1946. This episode also reinforces the contention that this film was not suppressed, but that production was postponed in the autumn of 1945, until the political and production climate were more favourable for its completion. […] In May 1952, the five-reel rough cut, along with 318 reels of rushes, a script for the commentary and a complete shot list (a description of every shot to appear in all six reels) were deposited at the Imperial War Museum.

Hier stellt sich sogleich die Frage, ob dieser Zeitpunkt mit dem Eingang des Majdanek-Films in Verbindung steht – wie das IWM mir 2017 mitteilte: „I presume the film came to us from the War Office in the 1950s with the other related material.“ (vgl. Kap. 1). U. U. könnte es sich bei dem Majdanek-Film, den das IWM eignet, um die (dejudaisierte) Film-Version handeln, die von der UdSSR in den ersten Monaten des Jahres 1945 an Bernstein gesendet wurde. Michalczyk (2014, S. 37) wiederum erwähnt eine „6. Filmrolle, aufgenommen von den Russen, die mit den Kameraleuten in ihre Heimat zurückging“ („The five reels that McAllister and Tanner edited would survive the attempts for a feature-length documentary on the Nazi atrocities, but the sixth reel shot by the Russians went back to their country with the cameramen“). Ist damit u. U. Roman Karmen gemeint? Des weiteren schreibt Michalczyk (ibid.): „A shot list dated May 7, 1946, accounted for the missing reel still in the hands of the Russian cameramen.“ Dieser Satz könnte auch darauf hindeuten, dass es sich um nicht-offizielles Filmmaterial aus den Lagern handelte, z. B. das der Filmspeerspitze – sowohl aus Majdanek als auch Auschwitz. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass 1945 Kontakte zwischen Polen und London bestanden – sowohl vor 531

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als auch nach Kriegsende; Ford hielt sich im Mai 1945 in Berlin auf (Danielewicz 2019, S. 135–136 spricht von einer „informellen Beschlagnahme“ von Filmgerät, darunter einer Arriflex). Weitere Forschung in Bernsteins und Nolbandovs Nachlässen806 könnte zeigen, ob sie auch Zugang zu Aufnahmen der Filmspeerspitze erhielten – übermittelt wie zuvor Material aus dem aufständischen Warschau (u. U. sogar über das Stratton House; vgl. 6.3); das Resultat war für die Filmproduzenten in Großbritannien identisch: Es kam aus Kameras der Roten Armee, war also „russisch“. Dai Vaughan (1983, S. 155) wunderte sich bereits 1983, dass im IWM eine Montageliste vom 7.5.1946 für den 6. Teil existiert, jedoch kein Filmmaterial. Entscheidend ist, dass bis 1946 mit dem offiziellen sowjetischen Material (der 6. Rolle) gerechnet wurde (laut Gladstone 2005, S. 60, wartete Tanner auf den „cutting print of Russian material“ bis Ende September 1945). Da Bernsteins „Concentration Camp film“ (Vaughan 1983, S. 154) weder 1945 noch 1946 beendet wurde, stellt der Abbruch dieses ambitionierten Projekts ein weiteres Scheitern der künstlerischen Verwendung, der Rezeption und Verbreitung der in Lublin/Majdanek aufgenommenen Filmdokumente dar. Die Integration der KZ-Aufnahmen der sowjetischen und polnischen Filmemacherinnen in ein Werk des britischen Dokumentarfilms, dessen subtile Poetik dem Material zu einer internationalen Rezeption bzw. Anerkennung hätten verhelfen können, wurde bisher noch nicht erforscht. Ebensowenig die hypothetischen Funken, die zwischen dem surrealen Material und dem auteur Hitchcock hätten überspringen können, der eben die ungewöhnlichen stilistischen Elemente dieser atrocity footage aus Lublin/Majdanek erkannt hat und adäquat einsetzen wollte: Tanner also recalled Hitchcock suggesting the sequence in the final reel covering the possessions of the dead at Auschwitz, the harrowing montage of hair, wedding rings, spectacles, and toothbrushes. (Gladstone 2005, S. 56).

Haggith (2019) schreibt über das Ende des Projekts: The final part of the film, dealing with the prisoners’ possessions (the ‘loot’) and the closing montage were to be edited by McAllister. However, although the precise ideas and shape for this final reel exists on paper, it was not possible to complete the rough cut or the film. The final action took place on 29 September, when the five-reel rough cut of the planned six-reel film was screened to Sidney Bernstein. Less than a month later Bernstein left for America, the film was shelved and the team moved on to other things.

Ungewiss ist, ob Bernstein im Sommer 1945 nicht doch auf das archivierte Filmmaterial (z. B. Rezniks Zeugnis) aus Moskau wartete, das – aufgrund der nun verordneten vollständigen Ausblendung des Genozids – nicht (mehr) geschickt werden konnte. Von der Existenz dieses zensierten a-Materials konnte entweder er oder Nolbandov von Karmen, den Forberts oder Ford erfahren haben. 806 Bzw. staatlichen Archiven. Nolbandov arbeitete in der Liberated Territories Section der Film Division des MOI als Bernsteins Produzent (Gladstone 2011, S. 79).

9.9 „Majdanek“ als gescheitertes Projekt sowjetischer Propaganda?

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„Majdanek“ als gescheitertes Projekt sowjetischer Propaganda?

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„Majdanek“ als gescheitertes Projekt sowjetischer Propaganda?

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Wenn laut Polnisch-Sowjetischer Außerordentlicher Kommission in „Majdanek“ 1,5 Millionen umgekommen waren, zielte diese heute als überhöht abgelehnte Zahl auf die Gesamtopferzahl der „Aktion Reinhardt“ ab, und unterbot sie sogar um eine halbe Million. Denn was unter dem „furchtbaren Wort Majdanek“ 1944 berichtet wurde, kann man nicht auf das KL Lublin beschränken, sondern dieses Grauen bezieht sich auch auf Treblinka, Sobibor, Belzec und weitere Orte der Zwangsarbeit und des Todes. Die Opferzahlen werden in einer rhetorischen Ersetzung und Verminderung dem universalen und synthetisch aus verschiedenen anderen KZs zusammengesetzten „Majdanek“ zugeordnet, was zu einer Verfälschung der Geschichte der Genozide in diesem Gebiet geführt hat. Der dokumentierten Entdeckung der Spuren und Folgen der „Aktion Reinhardt“ mit etwa zwei Millionen Opfern – wovon nahezu zwei Millionen als Juden und 50.000 als „Zigeuner“ ermordet wurden – wurde im Sommer 1944 nicht der Status einer fi lmischen Aussage zugestanden, sondern sie wurde vielmehr Anlass für die sich über mehrere Monate hinziehende Konstruktion eines aus verschiedenen in Ostpolen befreiten oder entdeckten Lagern synthetisierten „Vernichtungslagers“ mit dem Namen „Majdanek“, das die Vorstellung von den realen Orten des Genozids und den Opfergruppen unscharf ließ bzw. sogar verwischte: Wir sehen Gebäude des ehemaligen KL Lublin, und werden gleichzeitig konfrontiert mit Bergen von Habseligkeiten und Effekten aus den anderen Lagern, die in Lublin verwaltet wurden. Im in Majuskeln gesetzten „MAJDANEK“ des Moskauer Filmvorspanns hallt die Täuschung des deutschen Schilds „Ober-Majdan“ in Treblinka II nach – auf unheimliche Weise dessen Wortstamm aufgreifend (Abb. 9.19).

Abb. 9.19 MAJDANEK in kyrillischer Schrift im Vorspann der russischen Version

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Das im Laufe des Sommers bzw. Herbsts 1944 entstandene universale Konstrukt „Majdanek“ war für die sowjetische Führung ein Mittel zum Zweck, ja, ein vielseitiges Medium, um bleibenden Einfluss in Polen zu gewinnen. Dieser Ort wurde in der lokalen Gedächtnispolitik multimedial eingesetzt: im entstehenden „Majdanek“-Museum, einem Schauplatz, an dem atrocity-Aufnahmen für nationale und internationale Gerichtsverfahren vorbereitet wurden. Majdanek sollte nach dem Katyn’-Debakel auch international die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit sowjetischer Medienprodukte mitsamt ihrem marxistischen Fundament sichern. Doch geschah dies dies bis Kriegsende nicht: Als Propagandamaterial kamen die Filmaufnahmen international nicht zum Einsatz. Die Inszenierungen, Täuschungen und Falsifikationen – seien sie im Vergleich zu Katyn’ auch harmlos – könnten einer der Gründe gewesen sein, warum die fertigen Filme außerhalb Polens und der UdSSR erst so spät zu sehen waren. Wie bereits Pańskis Rezension in der Rzeczpospolita vom 28.11.1944 zeigt, scheiterte der Film als Propagandamedium weitgehend. Den im Herbst bzw. Winter 1944/5 verfügbaren Versionen war offensichtlich anzusehen, dass die Filmaufnahmen verstümmelt und authentische Interviews unterschlagen bzw. nachgedreht worden waren. Film-Profis wie Bernstein ahnten, dass die entscheidenden Informationen fehlten – wir wissen heute, dass Aussagen zu den in den Gaskammern verschwundenen Juden in Moskau herausgefiltert worden waren und Aufnahmen aus Majdanek mit einer nicht nur scharfen, sondern allzu groben Schere beschnitten, wie es die entstellte und ‚namenlose‘ Puppen-Einstellung nahelegt. Während Majdanek als erste befreite „Todesfabrik“ für die Sowjetunion eine wichtige (geo-)politische, juristische und gedächtnispolitische Bedeutung haben sollte, blieb diese Rolle Auschwitz erspart. Das im Januar 1945 ebenfalls von der Roten Armee befreite Lager in Oberschlesien konnte daher den Massenmord an den Juden als ebenfalls im besetzten, und nun befreiten Polen befindlicher Teil des furchtbaren Ganzen des Judenmords in einer wahrhaftigeren Form repräsentieren. Auschwitz wurde so zu einer vollwertigen Synekdoche der farnichtung, später des Holocaust und Porajmos. Sie gesellt sich zu der ebenfalls metonymischen Rhetorik des polnischen Titels, der sich in der Antonomasie der als „Europäer“ umschriebenen Juden fand. Man kann es heute bedauern, dass die Ausrüstung bei der filmischen Dokumentation dieses Lagers schlechter war – offensichtlich hatte Auschwitz bereits 1945 in der sowjetischen Planung als zu medialisierender Ort eine geringere Bedeutung, so dass die Filmaufnahmen von Unzulänglichkeiten bestimmt waren. Dies jedoch erhöht den Wert der Majdanek-Aufnahmen, wie ich am Beispiel des unterdrückten Zeugnisses des Überlebenden J. Reznik gezeigt habe. Die Bildsprache, die von Filmspeerspitze für den Majdanek-Film entwickelt wurde, findet sich in den Forbert-Aufnahmen in Auschwitz wieder, die bis heute unsere Sicht auf die ersten Filme über die farnichtung prägen. Wenn 1944–45 die Rede davon war, dass „Europäer“ in „Majdanek“ oder „Auschwitz“ ermordet wurden, dann war dies eine rhetorische Formel, die es erst zu entschlüsseln galt. In den Filmen wurden nur „arische“ Arbeiter männlichen Geschlechts aus Europa gezeigt. Im Fall der Übereinstimmung des konkreten Ortes mit dem größten Vernichtungslager

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der Region Auschwitz ist dies geschehen, bei Majdanek weit weniger. Denn – abgesehen davon, dass die Bezeichnung Majdan(ek) ohne Zusatz keinen konkreten Ort benennt – sind mehr Menschen in Treblinka II–Ober-Majdan ermordet worden als im Lublinschen Majdanek. Treblinka II, Sobibor und Belzec sind die Orte der Vernichtung / farnichtung. Aus sprachlicher Sicht stellt „Majdanek“ eine komplexere Trope dar als „Auschwitz“, da sie zum einen auf einer um der Universalisierung willen unkenntlich machenden Verschiebung beruht, zum anderen auf einer banalisierenden Abstraktion.

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Grabstätten und Kenotaphe

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Die Medien der Berichterstattung zu Majdanek waren Wort, Fotografie und Film. Am mächtigsten wirkt 1944 das russische Wort – bis zu Celan nach Rumänien gelangt es und entzündet seine Phantasie –, danach folgt das Foto, und der Film, das audivisuelle Massenmedium, kann erst spät zur Wirkung kommen. Und doch ist er ein Medium, das dem Erdreich und der Asche ähnelt, denn er bildet alles ab, nicht nur das, was sich in den Buchstaben findet, im einzelnen Bild der Fotografie, es zeigt immer mehr, als intendiert ist. Von den anonymen Kriegsgefangenen bis hin zu den Vorzeigehäftlingen, die offensichtlich Rollen spielen und Namen annehmen – auch heute können wir ihre Simulationen dem Filmbild ablesen. Wir hören SS-Offiziere des Endkommandos frisch von der Leber weg lügen und sehen Räume, von denen heute von Holocaustleugnern behauptet wird, dass sie nie existiert haben. Also hat der Film als Medium doch eher eine forensisch-dokumentierende als Propaganda-Funktion, ganz ähnlich wie das (Aus)Graben? Auch hierin lagen Karmens Hoffnungen auf juristische Folgen seiner Aufnahmen, einen Beweise sicherstellenden Anklagefilm zu liefern. Das war tatsächlich neu. Und doch sind die sowjetischen und polnischen Filmemacher machtlos, denn das Interesse ihres Produzenten und obersten Feldherrn liegt weniger in der Aufdeckung und Verkündung der Wahrheit, sondern der Vermehrung und Expansion sowjetischer Macht. Aufgedeckt wird nur dort, wo ein in diesem Kontext nützliches Erdreich zu finden ist. Majdanek ist ein solcher Ort, nicht Treblinka. V. Grossman beschreibt die „grundlose Erde von Treblinka“ als ungeduldiges „berstendes“ Repositorium, aus dem „die Dinge kriechen“. W. Benjamins archäologische Allegorie des Grabens bestimmt das Erdreich als Medium der Erinnerung. Die Asche, die Erdschichten über den „Torsi“ der untergegangenen Welt sind nicht nur Orte des Medialen, sondern selbst Medien, und Zeugen. Ähnlich wie der Aschefilm sich automatisch auf die Pompejaner legte, entstehen über mehrere Wochen hinweg Filmaufnahmen, die frische Abdrücke des befreiten Lagers liefern – auch wenn das Gros dieser ersten Aufnahmen nicht in die endgültigen Filme aufgenommen. Die Schädel und die „Figuren“ in der Erde beginnen dann zu sprechen sobald die Befreier das polnische Erdreich umwühlen und Asche, Knochen und Dinge finden. Wer vor der Befreiung verurteilt gewesen war „tiefer in das Erdreich“ zu „stechen“, muss nun die farnichtung bezeugen und ist aufgefordert, ihre Geschichte zu schreiben – wie P. Celan es tat. 535

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Celan war bei Erklärungen seines Werks zurückhaltend, doch bei einem Gedicht ist er ganz klar: „Die Todesfuge ist ein Grabmal“.807 Das Gedicht ist eine Grabinschrift, nicht in Stein gemeißelt, sondern auf Papier, im Medium des Buchs vervielfältigt. Es hat auch die Funktion eines Kenotaphs, eines leeren Grabs – als Zeichen der Erinnerung muss es keine sterblichen Überreste enthalten. Die ersten Kenotaphe waren Scheingräber zum Andenken an Tote, die in der Ferne begraben waren (wie der Erstgeborene der Fords), oder deren Gebeine nicht aufgefunden werden konnten (wie Celans Eltern). Auch das Grabmal des Unbekannten Soldaten ist ein Kenotaph. Anders in Majdanek, wo 1947 die sterblichen Überreste gemeinsam mit Erdreich aus verschiedenen Teilen des Lagers zu einem künstlichen Grabhügel von 1300 m³ zusammengetragen werden (Olesiuk und Kokowicz 2009). 1944 haben die Haufen von Asche und Knochen in Majdanek noch die Form von Kegeln, aufgeschichtet um dem Mindestmaß an Pietät zu genügen. Doch bereits der in den ersten Kriegsjahren mit Gras bedeckte und befestigte gigantischen Aschenhügel ähnelt nicht mehr den spitz zulaufenden ägyptischen

Abb. 9.20 Schnee auf dem Aschenhügel von Majdanek; Foto unbekannt,1964. Quelle: Archiwum Państwowego Muzeum na Majdanku (APMM), http://www.majdanek. com.pl/gallery/majdanek/archiwalne/big/78.jpg 807 Celan spricht in seinem Brief vom 25.10.1959 an Rolf Schroers über eine „Todesfugen“-Besprechung von einer: „Schändung jüdischer Gräber. (Denn die Todesfuge ist ein Grabmal)“ (Celan und Wiedemann 2011, Nr. 129, unterstrichen von Celan).

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Pyramiden oder Vereščagins Schädelturm, sondern begrünten Trümmerbergen, Wällen oder Mounds des Gedenkens.808 In Polen sind solche Hügel nicht ungewöhnlich, einige sind Kosciuszko gewidmet, dem Namenspatron der Polnischen Division und damit der Filmspeerspitze. Der bekannteste „Kosciuszko Mound“ steht in Krakau,809 wo sich auch der Piłsudski-Hügel zu Ehren des Marschalls und Nationalhelden befindet; er wurde 1934–37 aufgeschüttet und enthält Erde von allen Schlachtfeldern, wo Polen im 1. Weltkrieg kämpften.810 Doch diese Hügel sind nicht aus Menschenasche wie der von Majdanek (Abb. 9.20). Künstliche Hügel der Erinnerung lassen sich mit der Zikkurat (babylon. für Himmelshügel) vergleichen, auf ihrer Plattform treffen sich Himmel und Erde. Als Vorbild für den Turm von Babel enthält der „Himmelshügel“ der farnichtung auch das Motiv der Sprachverwirrung – wie es der polnische Titel des Films „Grabstätte Europas“ andeutet. Nicht nur, dass in die Lager im besetzten Polen Menschen vieler Sprachen aus ganz Europa deportiert worden waren – auch nach der Öffnung des Lagers war es für die Befreier und Befreiten schwierig, eine gemeinsame Sprache zu finden, mit der über die Erfahrungen gesprochen und der Toten gedacht werden konnte. Diese Problematik wird entblößt, oder zumindest verhandelt in der Neugestaltung des Grabmals Ende der 1960er Jahre durch Wiktor Tołkin und Janusz Dembek. Die Asche aus dem Denkmal des Majdanek Mound, die „unzureichend geschützt war“ wurde in einem kuppelförmigen Mausoleum, laut Danuta Olesiuk und Krzysztof Kokowicz an eine „slawische Graburne“ erinnernd,811 untergebracht (Abb. 9.21).812

808 Zum Vergleich die mounds der amerikanischen Ureinwohner:https://de.wikipedia.org/wiki/ Mound#/media/Datei:USA-Georgia-Etowah_Indian_Mounds-Mound_B.jpg [1.2.2020] 809 http://www.kopieckosciuszki.pl/files/pl.pdf [1.2.2020] 810 https://en.wikipedia.org/wiki/Pi%C5%82sudski%27s_Mound#/media/File:KopiecPi%C5%82 sudskiego-Sowiniec-POL,_Krak%C3%B3w.jpg [1.2.2020] 811 Olesiuk und Kokowicz 2009. Die Autoren erwähnen die Aufstellung von Birkenkreuzen und die Bepflanzung nach dem Krieg im Sinne eines „sakralen slawischen Hains“ („słowiański święty gaj“). 812 Allerdings kamen nur etwas mehr als die Hälfte der Aschenerde ins Mausoleum (700 m³). Eine kleine Menge von Asche der im Krematorium verbrannten Opfer wurde heimlich bereits in einer zur NS-Zeit in Auftrag gegebenen Betonsäule (der zur Lager-Verschönerung dienenden sog. Drei-Adler-Säule, 1943) verborgen. (Olesiuk und Kokowicz 2009) 537

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Abb. 9.21 Verborgene Asche im Mausoleum von Majdanek. Fotografie: Claudia Schmuck (2006); https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Majdanek.monument.700px.jpg

Das Monument trägt in 28 Sprachen folgende Zeile: „Nationen, die ihr Gedächtnis verlieren, verlieren ihr Leben.“813 Aufgrund des Worts narody (Nationen) wirkt das Zitat in bezug auf die jüdischen Opfer – v. a. wenn man den Zeitpunkt (1969, also zu einer Zeit, als viele jüdischen Polen die polnische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde) – ambivalent, um nicht zu sagen, herausfordernd. Ein weiterer Mausoleumstext hat auch einen mahnenden, ja, bedrohlichen Charakter: „Lass unser Schicksal eine Warnung für dich sein.“ Manche Besucher der Gedenkstätte finden jedoch im zweiten Teil des Ensembles, der Tor-Skulptur, eine Chiffre, die andeutet, wessen Asche im Mausoleum liegt. Die Folge der abstrakten Formen des Tors aus verstümmelten Menschenkörpern lassen sich als hebräische Lettern des Wortes Lublin lesen: „The relief, which resembles an abstracted Yiddish sign similar to Lublin (‫ )לובלין‬is supposed to represent mangled bodies.“ (Abb. 9.22)814

813 Cyprian Norwids gesamtes Zitat beginnt mit den Worten „Das Vaterland sind Erde und Gräber“: „Ojczyzna to ziemia i groby. Narody tracąc pamięć tracą życie.“ 814 https://en.wikipedia.org/wiki/Majdanek_State_Museum#/media/File:Alians_PL_Obchody_ 64_rocznicy_likwidacji_KL_Majdanek_23_07_2008,P7230064.jpg [20.2.2020] „The Monument-Gate is huge, and hideous, as it should be […] contorted forms which look like giant three-dimensional letters, intended to read as the Hebrew letters for ‹Lublin‘, but cracked and smashed into illegibility – in its refusal of any consolation.“ (Hatherley 2016, S. 478)

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Abb. 9.22 DDR-Briefmarke (1980) mit Tołkins Tor von 1969: „Mahnmal Majdanek“; https://pl.wikipedia.org/wiki/ Pomnik_Walki_i_M%C4% 99cze%C5%84stwa_na_ Majdanku#/media/Plik: Stamps_of_Germany_(DDR) _1980,_MiNr_2538.jpg

Das vernichtete jüdische Lublin, in dem einst die jiddische Sprache zu Hause war, existiert nur in der Wahrnehmung der das hebräische Alphabet Beherrschenden, und dies waren und sind v. a. Besucher – denn, wie der Lubliner J. Glatstein 1946 dichtete: die Juden „bekamen die Tora am Sinai / Und gaben sie zurück in Lublin.“ 1942–44 ist der Distrikt Lublin zum „Friedhof Europas“ geworden. Ähnliche Grabstätten sind über das einst besetzte oder achsenverbündete Osteuropa verteilt, das im Sommer 1944 Stück für Stück befreit wird und dabei en passant furchtbare Massengräber freigibt. Celan verfolgt aus Rumänien die Berichte über die Freilegung und erneute Zuschüttung dieser „Torsi“ jüdischen Lebens. Die völlige Vernichtung bestand nicht nur im Morden und dem Zuschütten der Massengräber, sondern in der Enterdung und Verbrennung, der „Abäscherung“ – um jegliche Erinnerung auszulöschen. In seiner Rundfunkgeschichte über Pompei von 1931 führte Benjamin die durch zwei Naturkatastrophen vernichtete Stadt an als Beispiel für die unwiederbringliche Vernichtung der Erinnerung an eine untergegangene Zivilisation – nicht nur aufgrund des Erdbebens und Vulkans, sondern durch die Kolonisierung des Römischen Reichs: Die Samniter, ein kleines italisches Volk, lebten dort bis kurz vor Christi Geburt ganz für sich, und als dann ungefähr 150 Jahre vor dem Untergang der Stadt die Römer die Gegend sich unterwarfen, hatte Pompeji nicht grade viel zu leiden. Es wurde nicht erobert, man siedelte nur eine Anzahl römischer Untertanen dort an, mit denen die Samniter ihre Äcker teilen mußten. Diese Römer begannen nun bald, sich und die Stadt nach ihren Bräuchen und Gewohnheiten einzurichten, und da sie nun schon einmal am Verändern und Umbauen waren, machten sie sich das Erdbeben natürlich zunutze. Kurz, von den alten Samnitern ist in dem untergegangenen Pompeji nicht mehr viel erhalten geblieben, und es gibt wissensdurstige Gelehrte, denen wäre es lieber gewesen, es wäre nicht erst zu dem Erdbeben gekommen, sondern die alte samnitische Stadt wäre gleich vom Vesuv verschüttet und uns damit so wohl erhalten geblieben, wie es mit dem römischen Pompeji der Fall war. Römische Städte kennen wir nämlich auch sonst noch, samnitische aber gar nicht. (Benjamin 1991, VII/1, S. 215–216)

Ähnlich werden in Lublin/Majdanek, wie Benjamin es in seinem „Denkbild“ 1932 prophetisch schrieb, das in der Katastrophe die „toten Städte“ verschüttende Erdreich und 539

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die Asche zur einzigen Erinnerung nach der Vernichtung einer Zivilisation – die Frage ist jedoch welcher, der samnitischen oder der römischen? Die Entdecker Majdaneks, Ober-Majdans und weiterer Orte der Vernichtung wussten um die doppelte Vernichtung der jüdischen Zivilisation in Europa, die durch den Pakt zweier feindlicher Imperien bezüglich des Zwischen-Gebiets, das die beiden Reiche trennte, ermöglicht worden war. Und doch glaubten die Künstler daran, dass die in verschiedenen Medien verlaufenden Dokumentationen ein Gedächtnis der farnichtung schaffen, immer wissend, dass dieses „nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist sondern deren Schauplatz.“ Die Gedichte, Fotos und Filmaufnahmen streben bis heute danach, als Aschenschriften entziffert zu werden und als Kenotaphe ein vollgültiges Zeugnis der farnichtung abzulegen.

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