Film-Reflexionen: Autothematische Filme von Wim Wenders, Jean-Luc Godard und Federico Fellini [Reprint 2012 ed.] 9783110917420, 9783484340329

187 66 13MB

German Pages 254 [256] Year 1992

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Film-Reflexionen: Autothematische Filme von Wim Wenders, Jean-Luc Godard und Federico Fellini [Reprint 2012 ed.]
 9783110917420, 9783484340329

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Der ‘autothematische Film’ – Problem und Programm
2. Der Film als künstlerischer Text
3. DER STAND DER DINGE von Wim Wenders
4. LE MÈPRIS von Jean-Luc Godard
5. 8 1/2 von Federico Fellini
6. Der ‘autothematische Film’ als Reflexion des Selbst
7. Der ‘autothematische Film’ als Reflexion des Status des Regisseurs
8. Der ‘autothematische Film’ als Reflexion der Rezeptionsbeziehung
9. Der ‘autothematische Film’ als Beitrag zu einer Theorie des Films
Anhang
Literaturverzeichnis

Citation preview

MEDIEN IN FORSCHUNG + UNTERRICHT Serie A Herausgegeben von Dieter Baacke, Wolfgang Gast, Erich Straßner in Verbindung mit Wilfried Barner, Hermann Bausinger, Hermann K. Ehmer Helmut Kreuzer, Gerhard Maletzke Band 32

Harald Schleicher

Rlm-Reflexionen Autothematische Filme von Wim Wenders, Jean-Luc Godard und Federico Fellini

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schleicher, Harald:

Rlm-Reflexionen : autothematische Hlme von Wim Wenders, Jean-Luc Godard und Federico Fellini / Harald Schleicher. - Tubingen : Niemeyer, 1991 (Medien in Forschung + Unterricht: Ser. A ; Bd. 32] NE: Medien in Forschung und Unterricht / A ISBN 3-484-34032-0

ISSN 0174-4399

D 30

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck, Darmstadt. Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt 1. Der 'autothematische Film' - Problem und Programm 1.1 Die Reflexion der künstlerischen Arbeit als Thema der Kunst 1.2 Der Untersuchungsgegenstand 'autothematischer Film' 1.2.1 Abgrenzung zum'Film im Film' 1.2.2 Kriterien für die Filmauswahl 1.2.3 Ziele der Untersuchung

2. Der Film als künstlerischer Text 2.1 2.2 2.3 2.4

Das Kunstwerk als sinnstiftendes Modell von Welt Die Narration als Organisation des Weltmodells Der konzeptionelle Rahmen als ganzheitsbildender Faktor Der Film als medienspezifische Präsentation 2.4.1 Bild 2.4.2 Montage 2.4.3 Point of View im Film 2.4.4 Schichtenmodell des narrativen Films 2.4.5 Spezifische Rezeptionssituation 2.4.6 Autorenschaft beim Film 2.5 Die Filmanalyse 2.5.1 Ziele der Filmanalyse 2.5.2 Voraussetzungen der Filmanalyse 2.5.3 Verfahren der Filmanalyse

3. DER STAND DER DINGE von Wim Wenders 3.1 Die Erzählung 3.1.1 Umriß und Anordnung der Geschichte 3.1.2 Zentrale Konflikte 3.1.3 Rolle des Erzählers 3.1.4 Verknüpfungen 3.1.5 Personenkonstellation 3.1.6 Zeitstruktur 3.1.7 Raumstruktur 3.1.8 Infraierungsstruktur 3.2 Die filmische Präsentation 3.2.1 Bildgestaltung 3.2.1.1 Einstellung 3.2.1.2 Point of View der Kamera 3.2.1.3 Kameraoperationen 3.2.1.4 Bildkomposition 3.2.1.5 Lichtgestaltung 3.2.1.6 Kameraspezifische Gestaltungsmittel 3.2.2 Tongestaltung 3.2.2.1 Sprache 3.2.2.2 Geräusche 3.2.2.3 Musik

1 1 3 3 6 9

11 12 16 23 26 27 33 38 41 46 47 49 50 51 51

56 56 56 57 58 60 61 64 66 68 70 70 70 71 72 73 77 77 78 79 80 80

VI 3.2.3 Montage 3.3 Die semantischen Felder 3.3.1 Die Arbeit als Spurensuche und Spuren hinterlassen 3.3.2 Die Liebe als Erinnerung 3.3.3 Der Tod als Kinotod 3.3.4 Zwischen Selbstverwirklichung und Dienstleistung: die ökonomischen Bedingungen

4. LE MEPRIS von Jean-Luc Godard 4.1 Die Erzählung 4.1.1 Umriß und Anordnung der Geschichte 4.1.2 Zentrale Konflikte 4.1.3 Rolle des Erzählers 4.1.4 Verknüpfungen 4.1.5 Personenkonstellation 4.1.6 Zeitstruktur 4.1.7 Raumstruktur 4.1.8 Infraierungsstruktur 4.2 Die filmische Präsentation 4.2.1 Bildgestaltung 4.2.1.1 Einstellung 4.2.1.2 Point of View der Kamera 4.2.1.3 Kameraoperationen 4.2.1.4 Bildkomposition 4.2.1.5 Lichtgestaltung 4.2.1.6 Kameraspezifische Gestaltungsmittel 4.2.2 Tongestaltung 4.2.2.1 Sprache 4.2.2.2 Geräusche 4.2.2.3 Musik 4.2.3 Montage 4.3 Die semantischen Felder 4.3.1 Die Arbeit als Machtkampf 4.3.2 Die Liebe als Intrigenspiel 4.3.3 Der Tod als Nicht-Lösung 4.3.4 Zwischen Tradition und Protest: der kulturelle Kontext

5. 8V 2 von Federico Fellini 5.1 Die Erzählung 5.1.1 Umriß und Anordnung der Geschichte 5.1.2 Zentrale Konflikte 5.1.3 Rolle des Erzählers 5.1.4 Verknüpfungen 5.1.5 Personenkonstellation 5.1.6 Zeitstruktur 5.1.7 Raumstruktur 5.1.8 Infra ierungsstruktur

81 82 82 85 85 87

90 90 90 92 93 94 94 99 101 102 107 107 107 108 115 116 117 117 118 119 120 120 122 127 127 128 130 130

132 132 133 134 134 136 139 144 147 149

VII 5.2 Die filmische Präsentation 5.2.1 Bildgestaltung 5.2.1.1 Einstellung 5.2.1.2 Point of View der Kamera 5.2.1.3 Kameraoperationen 5.2.1.4 Bildkomposition 5.2.1.5 Lichtgestaltung 5.2.1.6 Kameraspezifische Gestaltungsmittel 5.2.2 Tongestaltung 5.2.2.1 Sprache 5.2.2.2 Geräusche 5.2.2.3 Musik 5.2.3 Montage 5.3 Die semantischen Felder 5.3.1 Die Arbeit als Selbstfindung 5.3.2 Die Liebe als Utopie 5.3.3 Der Tod als Voraussetzung zur Erlösung 5.3.4 Zwischen Innen- und Außenwelt: der psychische Prozeß

151 151 151 152 155 157 159 162 162 162 163 164 164 167 167 168 170

6. Der 'autothematische Film' als R e f l e x i o n des Selbst 6.1 Die Stellung im (Euvre 6.2 Der autobiographische Charakter 6.3 Die schöpferische Arbeit als Identitätsbalance

178 179 186 192

172

7. Der 'autothematische Film' als R e f l e x i o n des Status des Regisseurs 7.1 Der Konflikt zwischen Regisseur und Produzent 7.2 Die Kontaktsuche zur Filmtradition

197 197 205

8. D e r 'autothematische Film' als R e f l e x i o n der Rezeptionsbeziehung 8.1 Das Verhältnis Schauspieler-Rolle 8.2 Die Rezeption als Prozeß

211 211 217

9. Der 'autothematische Film' als Beitrag zu einer Theorie des Films

221

Anhang Grafiken Filmographische Daten

227 227 229

Literaturverzeichnis

231

VIII Vorwort

Die ersten Schritte zu dieser Arbeit erfolgten im Rahmen des Forschungsprojektes 'Produktive Medienanalyse' am Institut für Deutsche Sprache und Literatur I an der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt am Main. Die Leitung des Projekts hatte Professor Dr. Ingeborg Degenhardt, die die Untersuchung auch in den folgenden Jahren betreute. Für ihre wichtigen Anregungen und hilfreiche Kritik möchte ich mich bedanken. Dank auch an das Deutsche Filmmuseum, Frankfurt am Main, für die technische Unterstützung.

Wiesbaden, im Mai 1991

1. Der 'autothematische Film' - Problem und Programm

1.1 Die Reflexion der künstlerischen Arbeit als Thema der Kunst Vom Teufel zum Blick in den Spiegel verführt, verliert Adam seine göttliche Natur und seine Unschuld - heißt es in einer Vorstellung der kabbalistischen Mystik. In der Konfrontation mit dem Spiegelbild, in der Doppelrolle von Subjekt und Objekt, erfährt der Mensch sein Getrenntsein, den Verlust seiner Einheit mit der Welt. Für die Kunst war diese Erfahrung in mehrfacher Weise Impuls zur Gestaltung und Reflexion. Zur Einführung in die Thematik der Reflexion künstlerischer Arbeit soll darum zunächst ein Blick auf die Entwicklung des Selbstbildnisses in der bildenden Kunst des Abendlandes geworfen werden. Aus der Zwiesprache des Künstlers mit seinem Spiegelbild entstehen Darstellungen zwischen Selbstliebe und Selbsterkenntnis, zwischen Selbsterforschung und Selbstbekenntnis. In der Geschichte der abendländischen Malerei zeigt sich gerade an den Selbstdarstellungen, welche Entwicklungen der Status des Malers in der Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Gesellschaft genommen hat und welchen gesellschaftsunabhängigen Gefährdungen er sich zu allen Zeiten ausgesetzt sah. Bis ins 13. Jahrhundert war es undenkbar, daß ein Maler sich durch ein Selbstporträt verewigt. Erst allmählich entzog man sich der Bevormundung durch Kirche und Fürsten. Gewachsenes Selbstbewußtsein und Stolz auf die eigene Künstlerexistenz spricht aus Diego Velasquez' 'Las Meniflas' (1656): das Königspaar ist in den Hintergrund gedrängt, bildbeherrschend sind die Infantin, ihr Gefolge und - der Maler. Auch Rembrandts 'Selbstbildnis mit reichem Mantel' (1631) zeugt von ausgeprägtem Selbstwertgefühl, ja von Selbstüberhöhung; der Müller-Sohn in der Rolle des Grandseigneurs blickt dem Betrachter keck ins Gesicht. Aber weltmännisches Gehabe allein genügt nicht, allen Bedrohungen gewachsen zu sein. Das Publikum bleibt launisch, seine Gunst unberechenbar. Adolph von Menzels Zyklus 'Künstlers Erdenwallen' (1834) schildert die Stationen eines Künstlerdaseins von der Schule bis zum bitteren Ende - und dem Nachruhm, in dessen Genuß der Künstler nicht mehr kommen konnte. In seiner Verunsicherung sieht der Künstler sich immer wieder Melancholie und Verzweiflung ausgeliefert. Typisch ist die Haltung, in der sich Caspar David Friedrich porträtiert: in seinem 'Selbstbildnis mit aufgestütztem Arm' (um 1802) hat er den Blick hilfesuchend in die Ferne gerichtet. Hilfe und Unterstützung in schweren Zeiten erfährt der Künstler von Lebenspartnern, der Familie und mitunter auch von Gleichgesinnten. In 'Füssli im Traum von seinen Freunden besucht' (1763) empfängt der Maler Johann Heinrich Füssli Huldigung und Solidarität. Max Ernst zeigt in 'Rendezvous der Freunde' (1923/24) seine Kollegen Gesten der Taubstummensprache

2 nachbildend - Verständigung ist nur untereinander, im Zirkel der Eingeweihten, möglich. Schon Gustave Courbet gab sich da keinen Illusionen hin: auf seinem Bild 'Das Atelier des Malers' (1854/55) hat er neben den Menschen, die ihn zu seiner Arbeit motivierten, jene kleine Gruppe festgehalten, die seinem Werk Verständnis entgegenbringt. Fehlen diese Menschen, sieht sich der Künstler schnell in der Rolle des Märtyrers. Vincent van Goghs 'Selbstbildnis mit verbundenem Ohr und Pfeife' (1889) ist dabei bar jener mitunter anzutreffenden Selbststilisierung im Leiden. Er hat sich die Verletzung tatsächlich selbst zugefügt - Resultat einer Lebenskrise und des Verlustes eines Freundes, des Malers Paul Gauguin. Gauguin wiederum begegnet Anfeindungen, indem er sich mit einer schutzbietenden Aura umgibt; im 'Selbstbildnis mit Heiligenschein' (1889) stellt er sich ironisch als auserwählt und folglich unverletzbar dar. Lovis Corinth materialisiert die Aura, in 'Selbstbildnis mit Harnisch' (1914) trägt er eine Ritterrüstung zur Abwehr von Angriffen. Egon Schiele fehlt dieser Schutz - in seinem 'Selbstbildnis als hl. Sebastian' (1914) wird er von Pfeilen durchbohrt; unter eine Selbstdarstellung aus dem Jahre 1912 schrieb der gebrandmarkte Maler, der wegen seiner Bilder sogar inhaftiert wurde: "Den Künstler hemmen ist ein Verbrechen! Es heißt keimendes Leben morden!" 1 Neben der Gesellschaft, die des Künstlers physisches und psychisches Dasein erschwert oder gar unmöglich zu machen sucht, zeigt der Blick in den Spiegel aber auch das Gesicht des auf seine Stunde wartenden Todes. In Arnold Böcklins 'Selbstbildnis mit fiedelndem Tod' (1872) steht der dem Maler über die Schulter blickende Totenkopf als Symbol für die eigene Vergänglichkeit. Was bleibt ist ein Sichaufbäumen im Grimassenspiel - als Beispiel sei genannt: 'Selbstbildnis, schreiend' (1901) von Max Beckmann - oder ein Sichbescheiden im Bewußtsein, allenfalls eine Spur zu hinterlassen. Neben der Inszenierung des eigenen Selbst ist dann auch das Spurenhinterlassen die dominierende Variante des Selbstbildnisses in unseren Tagen. Diese wenigen Beispiele mögen auf die lange Tradition der Selbstdarstellung in der bildenden Kunst verwiesen. Vielfältig sind die Aspekte, die das Thema umfaßt. Darüber hinaus sind die Werke oft für das (Euvre eines Künstlers von besonderer Aussagekraft. Immer wieder dokumentiert sich in ihnen "die Summe eines Lebensabschnitts, oft sogar eines ganzen Lebens" 2 . Wie verhält es sich nun mit der Reflexion des Mediums, des Selbst und der Rezeptionsbeziehung in der vergleichsweise jungen und in vielem so andersgearteten Filmkunst? Was bei Malern weitgehend Resultat einer individuellen Entscheidung ist, hat bei Regisseuren 3 zunächst eine Reihe von außerindividuellen Entscheidungsprozeduren zu überstehen, bis diese sich in der Lage sehen, mit Film über ihr Metier zu reflektieren, denn jeder Film ist nicht nur Ergebnis von Kommunikations- und Entscheidungsprozessen unter 1

2 3

'Den Künstler hemmen...'. Aquarellierte Bleistiftzeichung. Wien. Graphische Sammlung Albertina. Gasser. Selbstbildnis. 7. Wenn in dieser Arbeit von Regisseuren die Rede ist, so sind Spielfilm-Regisseure gemeint; für Experimentalfilmer z.B. kann sich die Situation durchaus anders darstellen.

3 seinen 'Machern'. Er ist zugleich ein Industrieprodukt, das sich am Markt behaupten muß. Sind unter diesen so verschiedenen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen filmische Selbstreflexionen überhaupt zu erwarten?

1.2 Der Untersuchungsgegenstand 'autothematischer Film' 1.2.1 Abgrenzung zum Genre 'Film im Film' Als erster Film, der im Filmmilieu spielt, gilt MAKING MOTION PICTURES. A DAY IN THE VITAGRAPH STUDIO 4 aus dem Jahr 1908. In der Folgezeit bedienten sich vor allem die Slapstick-Komödien der illustren und dabei ständig verfügbaren Kulissen der Studios. Und bis auf den heutigen Tag ist kaum ein Jahr vergangen, in dem nicht ein erwähnenswerter Film entstand, der sich in irgendeiner Weise mit dem Filmmetier auseinandersetzt. 5 Die Namen, die in diesem Zusammenhang zu nennen sind, lesen sich wie ein 'Who is Who' der Filmgeschichte. Die Reihe der Regisseure reicht von Charlie Chaplin (THE MASQUERADER, USA 1914) bis Buster Keaton (FREE AND EASY, USA 1930), von Ernst Lubitsch (MEINE FRAU DIE FILMSCHAUSPIELERIN, Deutschland 1919) bis Woody Allen (STARDUST MEMORIES, USA 1980), von Howard Hawks (TWENTIETH CENTURY, NAPOLEON AM BROADWAY6, USA 1934) bis Joseph von Sternberg (THE LAST COMMAND, SEIN LETZTER BEFEHL, USA 1928), von Ingmar Bergman (FÄNGELSE, GEFÄNGNIS, Schweden 1948) bis Pier Paolo Pasolini (LA RICOTTA, DER WEICHKÄSE, Frankreich/Italien 1962), von Jean-Luc Godard (LE MEPRIS, DIE VERACHTUNG, Frankreich/Italien 1963) bis Franqois Truffaut (LA NUIT AMERICAINE, DIE AMERIKANISCHE NACHT, Frankreich/Italien 1972), von Luchino Visconti (BELLISSIMA, Italien 1951) bis Federico Fellini (8V2, Italien 1963), von Rainer Werner Fassbinder (WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE, BRD 1971) bis Wim Wenders (DER STAND DER DINGE, BRD 1982). Berühmte Filmschauspieler wie Humphrey Bogart (STAND-IN, Regie: Tay Garnett, USA 1937), Mae West (GO WEST, YOUNG MAN, Regie: Henry Hathaway, USA 1936), Gloria Swanson (SUNSET BOULEVARD, BOULEVARD DER DÄMMERUNG, Regie: Billy Wilder, USA 1950), Jean Harlow (BOMBSHELL, DIE SEXBOMBE, Regie: Victor Fleming, USA 1933) oder Brigitte Bardot (VEE PRIVEE, PIVATLEBEN, Regie: Louis Malle, Italien/Frankreich 1961) standen in diesen Filmen vor der Kamera. Die Schicksale einiger dieser und anderer Stars wie Rudolph Valentino (THE WORLD GREATEST LOVER, DER GRÖSSTE LIEBHABER DER 4

5 6

Der Kurzfilm zeigt die Produktion des Vitagraph-Projekts THAN RICHES. Siehe Aufstellung in Film Center. Movies on Movies. Deutsche Verleihtitel sind in dieser Arbeit kursiv gesetzt.

LOVE

IS

BETTER

4

WELT, Regie: Gene Wilder, USA 1977), Clark Gable (GABLE AND LOMBARD, SAG' JA ZUR LIEBE, Regie: Sidney J. Furie, USA 1976), Marilyn Monroe (GOODBYE, NORMA JEAN, DIE MARILYN MONROE STORY, Regie: Larry Buchanan, USA 1976) und James Dean (THE JAMES DEAN STORY, Regie: George W. George und Robert Altman, USA 1957) dienten wiederum als Vorlagen für Film-Biographien. Für Filme, die sich mit Film befassen, hat sich der Begriff 'Film im Film' eingebürgert. Ja, man billigt dieser Gruppe von Filmen mitunter sogar den Status eines Genres zu.7 Wenn man vom Genre 'Film im Film' spricht, dann weil diese Filme thematisch zusammengehören.8 Dennoch, es bleiben Vorbehalte: "Unlike genres such as the western or the musical, movies about movies have no general cultural consensus about their generic existence and inherent characteristics."9 Ein Genrebegriff, der ein derart weites Feld umfassen will, läuft Gefahr, zu breit und damit unpräzise und unbrauchbar zu werden. Das Problem ist weniger ein quantiatives als ein qualitatives.10 Ein Blick auf Gliederungen von Arbeiten zu diesem Thema zeigt die Schwierigkeiten, das Genre abzugrenzen. Meyers11 ordnet die von ihm vorgestellten Filme einerseits wiederum anderen Genres zu (Biographien, Western, Komödien etc.), andererseits aber auch Epochen (Stummfilmzeit etc.). Anderson 12 behandelt: The Conventions of the genre. Easy success in the movies. The dark side of the dream. In America's image. Schäfer 13 rubriziert in: Filme über Filmgeschichte, Studios und das Filmemachen, Berufsgruppen (Produzenten, Drehbuchautoren, Regisseure/Filmemacher, Stars, Stuntmen, Komparsen/Statisten/Kleindarsteller), fiktive Biographien, Fans, Kinos; ein weiteres Kapitel ist jenen Filmen gewidmet, in denen der Film lediglich als Kulisse dient. Alle Autoren bekennen ihre Probleme, eindeutige Zuordnungen und Abgrenzungen festzulegen. Die Grenzen des Genres 'Film im Film' sind fließend, und eine Definition sucht man denn auch vergeblich; allenfalls finden sich Auflistungen der Themen und Stereotypen. Hervorgehoben wird beispielsweise die Standard-Story der frühen Kinojahre: Ein Mädel aus der Provinz gewinnt in einem Preisausschreiben den ersten Preis: eine Reise nach Hollywood - und macht, wen wundert's, in der Traumstadt Karriere. Andere Filme schildern, was danach geschieht: Aufstieg und Fall des Stars. Was 7 8

9 10

11 12 13

Anderson. In It's Own Image. 1. Als Genre wird eine Gruppe von Filmen bezeichnet, die 'gewisse' gemeinsame Merkmale verbindet. Diese Merkmale können geographischer, zeitlicher, thematischer, motivischer, dramaturgischer oder produktionstechnischer Art sein; dem würden beispielsweise entsprechen: Western, Science Fiction, Kriegsfilm, Musical, Epischer Film, Ausstattungsfilm. Film Center. Movies about Movies. 3. Die Zahl der Filme, die dem Genre zugerechnet werden, schwankt zwischen gut 200 (Anderson. In It's Own Image. 1, und in Behlmer. Hollywood's Hollywood. 1) und über 400 (Aufstellung in Parish. Hollywood on Hollywood)·, an anderer Stelle heißt es gar, der Kanon dieser Werke sei "schier unerschöpflich" (Deutsche Kinemathek. Film im Film). Meyers. Movies on Movies. Anderson. In It's Own Image. Schäfer. Film im Film.

5 bleibt, ist der ebenso unbändige wie gnadenlose Überlebenswille einer Branche, die dem Motto folgt: 'The show must go on!'. Wenn Hollywood sich den Spiegel vorhält, dann entstehen Melodramen, dann wird in einem Mikrokosmos der umgebenden Gesellschaft der amerikanische Traum vom Erfolg ins Extrem verzerrt. 14 Der Gegenpol zu den dekadenten und morbiden Melodramen wird aus Komödien gebildet, in denen sich die Branche grotesk präsentiert. So ist es kein Zufall, daß die Hollywood-Clowns sich gerne des 'Film im Film' bedienten und bis auf den heutigen Tag bedienen. "Die Lächerlichkeit, der sich die Branche dabei preisgibt, entspricht ihrer Selbstverachtung im Melodram." 1 5 Die Filme, die die Herstellung von Filmprojekten behandeln, versprechen dem Publikum einen 'Blick hinter die Kulissen'. Aber zumeist dominiert der Wunsch nach Selbstdarstellung über tatsächliche Hintergrundinformation und Problematisierung des eigenen Geschäfts. "Not surprisingly, the vast majority of movies dealing with Hollywood and moviemaking bore no more relation to reality than did the majority of Hollywood movies that dealt with life, love, war, crime, or, for that matter, the biographies of noted persons." 1 6 Hollywood war nur in Ausnahmefällen an einer ambitionierten Aufarbeitung der Traumfabrik interessiert. 17 Meist bildete das Filmmilieu Hollywoods lediglich eine dekorative Kulisse, oder es diente als stimulierendes Element in der dramaturgischen Konstruktion. Nun ist aber die Geschichte des 'Film im Film' weitgehend identisch mit der Geschichte "Hollywood on Hollywood" 18 . Die Publikationen zum Thema behandeln folglich Produktionen aus anderen Ländern überhaupt nicht oder nur am Rande. Aber: "The genre itself, Hollywood on Hollywood, has become so international that today it should probably be broadened to read 'Films on Filmmaking'." 1 9 Zwar bleibt für die Filme übers Filmemachen Hollywood der Fixpunkt, aber diese Filme sind mehr als bloß an anderen Schauplätzen spielende Varianten der Hollywood-Filme. Viele dieser Arbeiten - gerade aus dem europäischen Raum - setzen neue Akzente: sie stellen andere Themen in den Mittelpunkt und beschreiten eigene Wege bei der filmischen Realisation. Diese Filme gehören zwar auch unter das weitläufige Dach des 'Film im Film', dennoch können sie beanspruchen, als eigenständiges Sub-Genre betrachtet zu werden. Genrebegriffe, die wie 'Film im Film' ein allzu weites Feld zu umfassen suchen, verlieren ihre klassifikatorische Funktion. Nur indem man durch Erhöhung der Zahl der notwendigen Übereinstimmungen weitere Merkmalkomplexe bildet, gelangt man zu aussagekräftigen Differenzierungen.

14

15 16 17

18 19

Siehe auch: Seeßlen. Kino der Gepihle. Besonders das Kapitel 'Die Rückseite der Sterne*. 204-215. Brandlmeier. "Das Kino hält sich den Spiegel vor". Barris. Hollywood According to Hollywood. 10. Als Beispiel sei genannt SULLIVAN'S TRAVELS (SULLIVANS REISEN), Regie: Preston Sturges, USA 1941. Der Film schildert die Geschichte eines Komödien-Regisseuis, der sich als Tramp verkleidet, um Eindrücke für einen sozialkritischen Film zu sammeln, und dabei die Fragwürdigkeit seiner Arbeit erkennen muß. Titel von Parishs umfangreichem Nachschlagewerk. Parish.HollywoodonHollywood.il.

6

Als Sub-Genre zu 'Film im Film' wird in dieser Arbeit der Begriff 'autothematischer Film' eingeführt. Zum Sub-Genre 'autothematischer Film' werden Filme gezählt, die folgenden Merkmalen genügen: - sie sind ambitionierte Auseinandersetzungen mit dem Filmmetier, die über Hintergründe, Bedingungen und Ziele der Filmarbeit Aufschluß geben wollen; - in ihrem Mittelpunkt steht eine Person (bzw. mehrere Personen), die kreativ an der Entstehung eines Filmprojekts beteiligt ist (sind) - in der Regel der Regisseur; - die Filme verstehen sich auch in der Art und Weise, wie sie gestaltet sind, als Zeugnis der Auseinandersetzung mit dem Thema. Der 'autothematische Film' begnügt sich also nicht damit, ein Thema zu behandeln, das 'irgendwie' mit Film zu tun hat. Er sucht zur Vermittlung seines Themas Wege, die die Kommunikation via Film selbst zum Gegenstand des Interesses erklären. Der 'autothematische Film' verbindet also 'Film im Film' mit jenen Filmen, die den Film als Prozeß kenntlich machen, die den Zuschauer mit seinem Rezeptionsprozeß konfrontieren. Diese Konfrontation ist zunächst nicht an ein bestimmtes Thema - z.B. aus dem Filmmetier - gebunden. Erst die Verbindung mit einer Thematik aus dem Bereich 'Film im Film' macht einen 'Film als Prozeß' zum 'autothematischen Film'. Während der 'Film im Film' thematisch bestimmt ist, ist der 'Film als Prozeß' durch eine spezifische Rezeptionsbeziehung charakterisiert, die den Zuschauer auf seinen Bedeutungsbildungsprozeß hinweist - auf einen Prozeß somit, der in allen Filmen abläuft, gewöhnlich aber unbemerkt bleibt. Der 'autothematische Film' schließlich ist durch die Kombination dieser beiden Merkmalkomplexe definiert: Es handelt sich um Filme, die die Konstituierung des Textes Film so thematisieren, daß der von ihnen vorstrukturierte Rezeptionsprozeß selbst zum Thema erhoben wird. Wenn diese Filme über Film 'sprechen', so 'sprechen' sie immer auch über ihre Sprache.

1.2.2 Kriterien für die Filmauswahl Die Definition des 'autothematischen Films' rückt zwangsläufig Werke des europäischen Autorenkinos in den Mittelpunkt des Interesses. Da die Filme im Verlauf dieser Arbeit einer genauen und möglichst umfassenden Analyse unterzogen werden sollen, muß sich die Auswahl auf wenige Arbeiten beschränken. Ziel war, solche Filme auszuwählen, - die verschiedene, einander ergänzende Aspekte des Themas behandeln, - die in der Art und Weise, in der sie sich mit ihrem Thema auseinandersetzen, unterschiedliche und eigenständige Wege beschreiten, - die in verschiedenen Ländern (und damit in unterschiedlichen kulturellen Kontexten und unter unterschiedlichen Produktionsbedingungen) entstanden sind, - die im Werk des Regisseurs eine exponierte Stellung einnehmen. Es galt also Beispiele zu finden, die man als besonders prädestinierte Werke des Sub-Genres 'autothematischer Film' ansehen kann. Für die Untersuchung wurden folgende drei Arbeiten ausgewählt: - 8V2, Regie: Federico Fellini, Italien 1963,

7

- LE MEPRIS, (DIE VERACHTUNG), Regie: Jean-Luc Godard, Frankreich/Italien 1963, - DER STAND DER DINGE, Regie: Wim Wenders, BRD 1982. Bei den für die Analyse vorgesehenen Arbeiten handelt es sich um drei Beispiele aus unterschiedlichen Ländern abendländischer Tradition. Ihre Regisseure haben nicht nur in ihren Heimatländern eine exponierte Position, ihre Namen sind in die Filmgeschichte eingegangen - nicht zuletzt dank ihrer 'autothemathischen Filme'. Federico Fellini, Jahrgang 1920, arbeitete zunächst als Journalist und Karikaturist bevor er zum Film ging. Als Co-Autor wirkte er u. a. an Filmen Roberto Rossellinis20 mit, seine erste eigene Regiearbeit war 1952 LO SCEICCO BIANCO 21 . Zunächst galt Fellini als Förderer des Neorealismus; mit dem Anfang der 40er Jahre geprägten Begriff wird eine Richtung des italienischen Kinos beschrieben, die sich gegen die Banalität des italienischen Films wandte und eine "Bewußtwerdung der Wirklichkeit"22 anstrebte. Wie stark der Neorealismus auch eine soziale, politische und moralische Philosophie war, verdeutlicht folgendes Zitat von Cesare Zavattini, dem bedeutenden Scenarist des neorealistischen Films und Co-Autors von LADRI DI BICICLETTE 23 : "Das Radio müßte die Liste aller Italiener, unterschiedslos, durchgeben, um ihnen Mut zu machen. Der Neorealismus hat dieses Ziel: allen Mut zu machen, allen das Bewußtsein zu geben, Menschen zu sein."24 Nach Fellinis LA STRADA25 warf ihm Zavattini Verrat an den Prinzipien des Neorealismus vor - Fellinis Entwicklung führte weg von den Konventionen des Neorealismus, hin zu persönlichen Filmen, die von seiner imaginativen Kraft lebten. Mit 8V2 schließlich erreichte er "einen Höhepunkt seiner Karriere und den Kulminationspunkt seiner autobiografischen Filme"26. Jean-Luc Godard, 1930 geboren, schrieb ab 1952 sporadisch, seit 1956 regelmäßig für die legendäre französische Filmzeitschrift 'Cahiers du Cinema'. Seine oft polemisch vorgetragenen Kritiken waren der 'politique des autors' verpflichtet, die hierzulande unter 'Autorentheorie' firmierte: ihr zufolge ist der Regisseur der eigentliche Schöpfer des Films, der Regisseur wird als Autor gesehen. Sein (Euvre soll im Hinblick auf thematische Einheit und künstlerische Individualität betrachtet werden. Nach diesen Prämissen gelangten eine Reihe von Hollywood-Regisseuren zu neuer Wertschätzung - Paradebeispiel ist Alfred Hitchcock. 1960 wechselte Godard die Seiten, er drehte A BOUT DE SOUFFLE27; sein erster Spielfilm war nicht nur stilistisch innovativ, er behandelte auch gleich eines seiner zentralen Themen: die Prostitution im weitesten Sinne, als Absage an die moralische Integrität zugunsten materieller Vorteile. Einen Konflikt, den er auch in LE MEPRIS wieder aufgreift. Aber LE MEPRIS ist mehr als die ins Filmmilieu 20

21 22 23 24 25 26 27

ROMA, α τ λ APERTA (ROM; OFFENE STADT), Italien 1947. (DER WEISSESCHEICH), Italien 1952. Zavattini. "Gedanken zum Film". 13. (FAHRRADDIEBE). Regie: Vittorio de Sica. Italien 1948. Zavattini. "Gedanken zum Film". 23. (LA STRADA - DAS LIED DER STRASSE). Ilaüen 1954. Rororo Filmlexikon. Bd. 4. 960. (AUSSERATEM), Frankreich 1960.

Italien 1945; PAISA (PAISA),

8 verlagerte Fortschreibung dieser Thematik: Godard, der sich als prominenter Vertreter der 'Nouvelle Vague' in seinen früheren Arbeiten an ein Cineasten-Publikum wandte, konnte nun mit LE MEPRIS nicht nur über seinen bislang größten Etat und eine internationale Starbesetzung verfügen, sondern mußte sich auch auf neue Produktionsbedingungen einlassen. Er hatte die Auflage, einen kommerziell erfolgreichen 'großen' Film abzuliefern neue Konditionen für Jean-Luc Godard. Wim Wenders, als Angehöriger des Jahrgangs 1945 zur Nachkriegsgeneration zählend, hat an der Hochschule für Fernsehen und Film an München studiert, und damit einen Zugang zur Branche gefunden, der sich deutlich von dem Fellinis oder Godards unterscheidet. Nach DIE A N G S T DES TORM A N N S BEIM ELFMETER 2 8 avancierte Wenders zu einer großen Hoffnung des 'Jungen Deutschen Films'. Schon seine frühen Arbeiten waren von einer Bildsprache geprägt, die sich am US-Kino orientierte. Seine Affinität zu Amerika und der amerikanischen Kultur zeigt sich auch an den oft englischsprachigen Titeln seiner Filme 29 , an seinen Reminiszenzen an Heroen den US-Kinos 3 0 und an den Versatzstücken amerikanischer Alltagskultur 31 , die in seine Filme Eingang fanden. Nachdem er seine europäischen Helden Stipvisiten in die USA unternehmen 3 2 bzw. den 'amerikanischen Freund' nach Europa reisen ließ, schien für Wenders ein langgehegter Wunsch in Erfüllung zu gehen, als Francis Ford Copolla ihm 1977 das Angebot unterbreitete, in Amerika H A M M E T T zu verfilmen. Wenders, in dem von amerikanischer Kultur bestimmten Teil Deutschlands aufgewachsen, für den es als Kind an Karneval wie selbstverständlich nur die Wahl zwischen Cowboy oder Indianer gab 33 , dieser Wim Wenders glaubte sich vor der Realisierung eines Traumes: in den USA einen amerikanischen Film unter amerikanischen Produktionsverhältnissen zu realisieren. Das Scheitern seines 'amerikanischen Traums' ist als kaum vernarbte Erfahrung in DER S T A N D DER DINGE immer Präsent. Gemeinsam ist den ausgewählten Filmen, daß sie sich im Kontext des europäischen Autorenkinos verstehen. Auch wenn das US-Kino - tatsächlich oder virtuell - der Bezugspunkt bleibt, so beziehen sich diese Filme doch immer wieder auch auf die abendländische Kultur und die nationalen Besonderheiten ihrer Produktionsländer Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und Italien. Wichtige Filmländer, in denen die Regisseure eine herausragende Bedeutung hatten (und haben): Fellini beherrschte - zusammen mit Michelangelo Antonioni - die italienische Filmszene der sechziger Jahre, Godard bestimmte mit Frangios Truffaut und Claude Chabrol den französischen Film dieses Jahrzehnts 34 und Wim Wenders zählt - gemeinsam mit Werner 28 29 30

31

32 33 34

BRD 1971. Drehbuch Peter Handke. Z.B. SAME PLAYER SHOOTS AGAIN, BRD 1968 Zeitung mit der Meldung von John Fords Tod in ALICE IN DEN STÄDTEN, BRD 1974. Ζ. B. Einrichtung der Hamburger Wohnung von Tom Ripley (Dennis Hopper) in DER AMERIKANISCHE FREUND, BRD/Frankreich 1977. ALICE IN DEN STÄDTEN. Siehe Wenders. "Der amerikanische Traum". 148. Ulrich Gregor nennt Godard "die Schlüsselfigur des französischen Films der sechziger Jahre". In: Geschichte des Films ab 1960. Bd. 3. 24.

9 Herzog und Rainer Wemer Fassbinder - zu den wichtigsten Vertretern der 'zweiten Generation' des 'Jungen Deutschen Films'. Ihre Filme verbindet das Ziel, künstlerische Intentionen in der industriell organisierten Filmbranche einzubringen und durchzusetzen ein vorprogrammierter Konflikt, von dem diese Filme auch handeln. Inhaltlich setzen sie jedoch unterschiedliche Schwerpunkte: von der schöpferischen Krise vor Beginn der eigentlichen Dreharbeiten, über die Verflechtung von künstlerischen Konflikten mit privaten Problemen bis hin zur Kollision von Autorenfilmvorstellungen mit kommerziellen Erwartungshaltungen. Gemeinsam ist den Filmen Wenders', Godards und Fellinis wiederum und auch hier verbindet sie die Abgrenzung gegen Produktionen ä la Hollywood - ein bestimmtes Bild vom Zuschauer: der Rezipient gilt ihnen als Mitschöpfer. Ihn zu kreativer Beteiligung aufzufordern, ist Teil ihres Kulturverständnisses. Zwei der drei ausgewählten Filme stammen wie erwähnt aus den beginnenden 60er Jahren, einer Zeit, in der "die internationale Filmszene eine qualitative Veränderung erfuhr" 35 . Eine Zäsur, die - über das 'Oberhausener Manifest' und die Revolte von 1968 - auch den dritten, aus dem Jahr 1982 stammenden, Film erst möglich machte. In der Untersuchung weicht die Reihenfolge der Analysen von der historischen Folge ab. An die Stelle der Chronologie wurde ein 'inneres Gliederungsprinzip' gesetzt, das auf einer Hierarchie beruht, die aus dem Grad der Erfüllung der 'autothematischen' Kriterien abgeleitet wurde.

1.2.3 Ziele der Untersuchung Die Untersuchung der ausgewählten 'autothematischen Filme' soll zu den folgenden Fragenkomplexen Aufschluß geben: - Gestatten diese Filme einen aussagekräftigen 'Blick hinter die Kulissen'? Wie schildern sie die Möglichkeiten kreativer Arbeit in der Filmbranche? Geben sie Einblicke in die Grundlagen des Kinos (Bedeutung des Drehbuchs, der Geschichte, der Stars etc.)? - Wie wird in diesem Zusammenhang die Rolle des Regisseurs beschrieben (Grenzen und Freiräume)? - Handelt es sich dabei um Beschreibungen der eigenen Rolle, sind die Filme autobiographisch? - Was verleiht den 'autothematischen Filmen' eine exponierte Stellung im (Euvre der Regisseure? Sind es persönliche Bilanzen, dienen sie der Krisenüberwindung und Neuorientierung, kann man sie als 'Schlüsselwerke' der Regisseure ansehen? - Erfolgt in diesem Zusammenhang eine Auseinandersetzung mit der Kultur· und Film-Tradition innerhalb deren man arbeitet? - Sind Erzählung und filmische Präsentation innovativ gestaltet? Gibt es spezifische Merkmale des 'autothematischen Films'? - Setzen sie sich mit Regeln und Normen des Metiers auseinander, werden in der Folge dieser Auseinandersetzung innovative Wege beschritten? 35

Gregor. Geschichte des Films ab 1960. Bd. 3.9.

10

-

Entwickeln sie Strategien, um den Zuschauer einzubeziehen, und verfolgen sie somit ein Interesse, den Zuschauer über seine Rolle 'aufzuklären'? - Welchen Beitrag können die 'autothematischen Filme' zu einer Theorie des Films leisten?

2. Der Film als künstlerischer Text

In Untersuchungen über die Qualitäten Textes: Film rücken schnell jene Aspekte in den Vordergrund, die das, was man als 'spezifisch filmisch' zu erkannt haben glaubt, betreffen. 1 Die Konzentration oder auch die Einengung des Blicks auf diese Besonderheiten ist erklärlich aus der Geschichte des Films und aus der Geschichte der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Medium Film, dennoch erscheint ein Vorgehen, das das Spezifische zum Ausgangspunkt der Untersuchung macht, wenig geeignet, zu einer angemessen gewichteten Charakteristik des Mediums Film zu führen. Deswegen wird hier ein Weg beschritten, der zunächst nicht nach den spezifischen Merkmalen des Films fragt, sondern der statt dessen von den allgemeinen Merkmalen des künstlerischen Textes ausgehend über die jeweiligen Formen der Organisation hin zu den medienspezifischen Gestaltungen führt. Erst vor dem Hintergrund der allgemeinen Kennzeichen des künstlerischen Textes und als Ergebnis einer fortschreitenden Differenzierung wird das spezifisch Filmische angemessen beschreibbar. Die allgemeinen Eigenschaften des künstlerischen Textes scheiden ihn von jenen Bereichen, die (noch) nicht Text geworden sind bzw. von den Bereichen, die zwar Textstatus haben, allerdings dabei nicht über die Merkmale des Künstlerischen verfügen. Inwieweit diese Voraussetzungen erfüllt sind, wird nicht tangiert von einer bestimmten Materialisierung - sei es als Roman, als Bild oder als Film. Ebenfalls irrelevant ist in diesem Stadium, wie das Material organisiert ist - sei es narrativ oder nicht. Mit der Frage nach der Organisation geht eine weitere Differenzierung einher. Hier trennen sich jene Texte, die als Erzählung aufgebaut sind, von denen, die anderen Organisierungen gehorchen. Die narrative Organisation verbindet den Film z.B. mit dem Roman oder auch dem Comic. Dann erst ist das Stadium erreicht, in dem ein Bündel von Charakteristika zu beschreiben sein wird, die ausschließlich dem Film eigen sind. Der Film (als Kunstwerk) wird also als einmaliger Typ Text verstanden, der dennoch auch Eigenschaften aufweist, die er mit anderen Texttypen teilt, und der zugleich gekennzeichnet ist von Merkmalen, die jeden künstlerischen von nichtkünstlerischen Texten scheiden. Ziel dieser Ausführungen über den Film als künstlerischen Text ist die Entwicklung eines Modells der Textkonstituierungsprozesse, das als theoretischer Rahmen für die folgenden Analysen der 'autothematischen Filme' dienen soll. Das logisch generierte Modell wird anhand der Analysen auf seine Tauglichkeit hin überprüft, schwerpunktmäßig extensiviert und weiter differenziert. Wenn hier von dem Film als Text die Rede ist, basiert dies auf einem Textbegriff, der, ungeachtet der Artikulation in einem bestimmten Medium, jede zeichenhafte und bedeutungstragende Äußerung meint. Als Film wird der erzählende Spielfilm bezeichnet; Teile der Ausführungen können auch für andere Bereiche wie Dokumentär· oder Experimentalfilm gelten, bedürfen dann allerdings der Modifikation.

12 Gegeben ist zunächst die Ebene der Geschehnisse, die ein "unabschließbares Feld von Darstellbarkeiten" 2 bilden. "Die Kategorie des Geschehens impliziert Kontinuierlichkeit der Veränderungen und Ambiguität ihrer Richtung." 3 Aus dieser als unendlich und ungeordnet erachteten Fülle der Ereignisse - seien es nun äußerliche oder innerseelische - werden jene Elemente als Bestandteile des künstlerischen Textes ausgewählt, die als Rohstoff zur Verwirklichung der verfolgten Idee Verwendung finden. Diese Selektion erfolgt zielgerichtet. 4 In der Entscheidung, was für auswählenswert, also für bedeutsam erachtet wird, nimmt der künstlerische Text erste Konturen an. Schon hier eröffnen sich Einblicke in die im Kunstwerk schließlich realisierte Weltsicht seines Schöpfers. Der Text ist Resultat einer Reihe von Entscheidungsverfahren. Die Selektion und die folgenden Prozesse sind Schritte zur Textkonstituierung. Diese Operationen finden ihre integrative Größe in dem 'konzeptionellen Rahmen', der auf allen Ebenen als Steuerung der Entscheidungsprozeduren fungiert. Mit diesem Begriff soll verdeutlicht werden, daß diese Entscheidungen auf dem jeweiligen Niveau nicht isoliert erfolgen, sondern bestimmten Leitlinien Rechnung tragen, die alle Prozeduren durchdringen. Die Konzeption beruht auf einer expliziten oder unterschwelligen Strategie, nach der die Schritte im Hinblick auf Bedeutungserzeugung stattfinden. Als nächstes Stadium auf dem Weg zum narrativen Film wird die Ebene der Organisation erreicht. Hier wird das selektierte Material in einen Zusammenhang gebracht und nach bestimmten Kriterien geordnet. Beim narrativen Kunstwerk handelt es sich um den Merkmalskomplex: Erzählung. Erzählung meint hier nicht einen materialisierten literarischen Text, sondern ein Geflecht von Strukturen, von bestimmten Anordnungen des selektierten Materials. Die Organisation bezieht sich zum einen auf die sich sukzessiv entfaltenden Erzählstränge, deren Verknüpfungen etc. Zum anderen gilt es neben dieser chronologischen Dimension die atemporalen Strukturierungen zu untersuchen: die semantischen Felder, in denen sich topologische Konstellationen entfalten. Erst auf der nächsten Ebene - die hier als Ebene der Präsentation beschrieben wird - erfolgt die dem jeweiligen Medium eigene Materialisierung. Hier ist der Ort dessen, was filmspezifisch zu nennen wäre, wenngleich die besonderen Qualitäten des Mediums auch schon in früheren Phasen Entscheidungsprozesse mit beeinflussen.

2.1 Das Kunstwerk als sinnstiftendes Modell von Welt Wenn im folgenden die Frage untersucht werden soll: Was macht ein Werk zu einem Kunstwerk?, dann geht es nicht um Kriterien für Werturteile, ange-

2 3 4

Stierle. "Geschehen, Geschichte, Text". 50. Ebd. Sieht man von künstlerischen Verfahren ab, die dem Zufall ausdrücklich Raum geben - aber auch hier ist der Zufall funktional, Teil des Konzepts.

breiten

13

strebt wird vielmehr, strukturelle und funktionelle Merkmale des Kunstwerks zu ermitteln. Alle Kunst ist ein Spiel mit dem Chaos, sagt Hauser, "sie rückt in eine immer gefährlichere Nähe zu ihm und entreißt ihm immer weitere Seelenbereiche"5. Sie überführt das Ungegliederte und Ungeordnete in Struktur. Das Kunstwerk ist, so Barthes, "was der Mensch dem Zufall entreißt"6. Kunst lebt einerseits von der Wirklichkeit, andererseits existiert sie neben der Wirklichkeit; sie schafft eine neue Realität. Dabei nimmt sie für sich in Anspruch, als dargestellte Wirklichkeit der Alltagserfahrung überlegen zu sein: Was sie von der einfachen Reproduktion trennt, beruht auf der ihr vorbehaltenen besonderen Form der Erkenntnis, die auf intuitivem 'Begreifen' basiert. Lotman: "Wissenschaftliche Wahrheit existiert in jeweils einem semantischen Feld, künstlerische gleichzeitig in mehreren, in deren Korrelation zueinander."7 Während die wissenschaftliche Auseinandersetzung den Nachweis der Unzulänglichkeit der Gegenposition anstrebt, lebt die künstlerische Auseinandersetzung von der Unmöglichkeit eines endgültigen Sieges einer Position. Teil dieser besonderen Realität ist, daß das Kunstwerk grundsätzlich mehrdeutig ist. Die Kunst eröffnet Möglichkeitsfelder, läßt individuelle Lesarten zu. Ein weiteres elementares Merkmal des Kunstwerks besteht darin, daß in ihm die jeweilige Sprache nicht bloß dienende Funktion hat - wie im nichtkünstlerischen Text -, sondern selbst eine Informationsquelle darstellt. Neben der spezifischen Organisation des Materials ist es dieser Spracheinsatz, der dazu führt, daß das Kunstwerk "sich vom wirklichen Leben durch die rhythmische Gliederung"8 unterscheidet. Der nichtkünstlerische Text benutzt eine Sprache, um sein Anliegen zu übermitteln, und die ganze Aufmerksamkeit bleibt diesem Anliegen vorbehalten. Der künstlerische Text dagegen lenkt das Interesse nicht nur auf das, was gesagt wird, sondern auch darauf, wie es gesagt wird. Dabei bedient er sich in der Regel vieler 'Sprachen', wobei das Gefüge der Sprachen im Fluß bleibt, die Dominante wechselt. Kunst schafft so eine "Art sekundärer Sprache"9. Die ästhetische Funktion, die nicht nur auf Kunst beschränkt ist, sondern über einen weit größeren Wirkungsbereich verfügt, übernimmt im Kunstwerk eine dominierende Rolle. Dazu Mukarovsky: "Es gibt jedoch eine bestimmte Trennlinie, die den ganzen Bereich des Ästhetischen in zwei Hauptsegmente spaltet, und zwar nach dem relativen Gewicht, das die ästhetische Funktion gegenüber den übrigen Funktionen erhält: Es handelt sich hier um die Linie, die die Kunst von den außerkünstlerischen Phänomenen scheidet."10 Das Kunstwerk bildet ein abgeschlossenes Modell im nicht abgeschlossenen Fluß der Ereignisse und stellt somit immer auch eine 'Übersetzung' dar. Das Kunstwerk ist endlich, es hat einen definierten Anfang und ein definiertes Ende. Was dazwischen Platz findet, ist zunächst Resultat eines Selektionsprozesses. Das Kriterium für die Selektion besteht darin, dem Eingang 5 6 7 8 9 10

Hauser. Sozialgeschichte der Kunst. 1015. Barthes. "Strukturalistische Tätigkeit". 156. Lotman. Struktur literarischer Texte. 353. Lotman. Kinoästhetik. 44. Lotman. Struktur literarischer Texte. 23. Mukarovsky. Kapitel aus der Ästhetik. 16.

14 zu verschaffen, was zur jeweiligen Auseinandersetzung beiträgt. Die Auswahl erfolgt nach funktionalen Gesichtspunkten. Sie strebt Raffung, Verdichtung und Steigerung an, um Ökonomie zu gewährleisten und die einheitsbildenden Kräfte im Kunstwerk zu intensivieren. "Der Übergang von einer impliziten und verworrenen zu einer expliziten und klaren Vielschichtigkeit, vom Gegebenen zum Konstruierten, verwandelt schließlich die Objekte in Aspekte, in Dinge, das heißt in Träger von Vokabeln, was bedeutet: in Ideen." 11 Dieser Übergang ist regelgeleitet - von Regeln, die das Kunstwerk adaptiert oder auch neu kreiert. Durch die Abgrenzung zur als ungeordnet erachteten Welt schafft sich das Kunstwerk das Terrain für seinen Weltentwurf: Obwohl selbst begrenzt, schafft es ein Modell der unbegrenzten Welt. Es zieht Grenzen und lebt davon, daß es diese Grenzen überwindet. Das Kunstwerk profitiert von seiner Begrenztheit und Konzentration auf Bedeutung kreierendes - daher rührt sein Potential, Sinn zu stiften. Dem Kunstwerk wird a priori Sinn unterstellt; es wird angenommen, daß die Funktion der Teile und ihr Zusammenwirken in eine Bedeutung, in eine Botschaft münden. Es lebt vom Nebeneinander, von der Konfrontation und Vereinigung heterogener Elemente, die es in eine sinnbildende Struktur überführt. Unter Struktur wird das relativ zeitunabhängige Gefüge der Relationen zwischen den Teilen eines Ganzen bzw. den Elementen eines Systems verstanden. Innerhalb eines Systems beschreiben Strukturen die Beziehungen zwischen den Bestandteilen im Hinblick auf das von ihnen gebildete Ganze. E c o betont bezugnehmend auf den Begriff der Form den 'abstrakten Charakter' der Struktur: "Von Struktur statt von Form wird man sprechen, wenn weniger die körperliche individuelle Beschaffenheit des Gegenstandes hervorgehoben werden soll als seine Analysierbarkeit [...]". 1 2 Stierle favorisiert den Begriff Struktur, weil er den in der Einheit des narrativen Textes begründeten unauflöslichen Zusammenhang zwischen Form und Inhalt bewahrt. 13 So wie die Schaffung einer Struktur noch nicht die eigentliche Kommunikation darstellt, so ist die Rekonstruktion der Struktur nur ein Teil des Rezeptionsprozesses. In der Strukturierungsarbeit des Rezipienten verschmelzen Akte der Sinnfindung mit denen der Sinngebung. Strukturen bestehen also nie 'an sich', sondern sie sind immer ein Modell 'für uns'. Berthes: "Die Struktur ist in Wahrheit also nur ein simulacrum des Objekts, aber ein gezieltes, 'interessiertes' Simulacrum, da das imitierte Objekt etwas zum Vorschein bringt, was im natürlichen Objekt unsichtbar [...] blieb." 1 4 Die Ermittlung von Strukturen als Arbeitsschritt zum Verständnis eines künstlerischen Textes ist ein Hilfsmittel zur Informationsgewinnung und -Ordnung; es ist ein Operationsverfahren unter anderen. Charakteristisch für den künstlerischen Text ist, daß er eine 'Konstruktion in Bewegung' schafft. So sorgen die verschiedenen ihn bildenden, einander überlappenden Systeme dafür, daß Relationen wie 'neu-redundant' ständig im Wandel sind; dadurch wird ein hoher Informationsgehalt des künstlerischen Textes gewährleistet. 11 12 13 14

Cohen-S&iL Film und Philosophie. 89. Eco. Das offene Kunstwerk. 15. Stierle. "Struktur narrativer Texte". 11. Barthes. "Strukturalistische Tätigkeit". 154.

15

Die über Strukturen und Systeme gebildeten Modelle sind nicht statisch sie sind geschichtliche, d.h. der Wandlung unterworfene Phänomene: neue Strukturen lösen ältere ab. Ein Motor dieses Wandels liegt in dem, was die Struktur zu einer sinnvollen Struktur macht. Das Sinnvolle als essentielle Bedingung der Struktur meint dabei mehr als lediglich 'Stimmigkeit' - es ist eine Zielvorgabe, die es im Verlauf des vom Kunstwerk gesteuerten Rezeptionsprozesses einzulösen gilt. "Struktur wird erfaßt im Hinblick auf Sinn, Sinn im Hinblick auf Struktur."15 Der Sinn eines Kunstwerkes weist über die Grenzen des Werkes hinaus - zu dessen sozialem und kulturellem Kontext. Sinn verlangt Artikulation und Vermittlung, Sinn erfüllt sich erst instrumented, in seiner kommunikativen Funktion. Zur Ergründung des Sinns muß die Untersuchung "darauf hinauslaufen, den Bereich dessen, was zunächst als das Zufällige oder Individuelle an einer konkreten Manifestation erscheint, immer weiter zurückzudrängen und so zugleich die Kategorie des Sinns aus seiner metaphysischen Bedeutung in eine zumindest hypothetisch konstruierbare systematische Bedeutung zu transformieren"16. Das Kunstwerk ist 'halbfertiges Material', es braucht den Rezipienten. "Der Künstler [...] bietet dem Interpretierenden ein zu vollendendes Werk." 17 Neben dem Künstler ist der Kinobesucher, der Leser, der Betrachter etc. die zentrale personale Größe in diesem Kommunikationsprozeß. Innerhalb dieses Prozesses erscheint das Subjekt also zweimal: als Autor und als Rezipient. Der künstlerische Text ist Ausdruck einer Strategie seines Schöpfers, die der Strategie des Rezipienten begegnet - der Rezipient wird letztlich nur das im Text finden, was er zu finden bereit bzw. imstande ist. Der künstlerische Text ist nicht mehr und nicht weniger als eine Rezeptionsvorgabe, er stellt ein Potential dar, das zu erschließen ist. Die Vorgabe ist absichtsvoll und zielgerichtet, sie will beim Rezipienten etwas bewirken: Kunst ist organisierte Emotion. Die Eigenschaft der Kunst, die Wirklichkeit als 'interessiertes' Modell abzubilden führt dazu, daß der Zuschauer ein Kunstwerk sowohl zu seinen künstlerischen Erfahrungen wie zu seinen Lebenserfahrungen in Beziehung setzt. Das Kunstwerk bietet zwar ein spielerisches Modell an, aber der Spielraum kann nicht beliebig sein. Und doch lebt das Kunstwerk von seiner Vieldeutigkeit, von seiner 'Offenheit'. Dazu Eco: "In diesem Sinne also ist ein Kunstwerk, eine in ihrer Perfektion eines vollkommen ausgewogenen Organismus vollendete und geschlossene Form, doch auch offen, kann auf tausend verschiedene Arten interpretiert werden, ohne daß seine irreproduzible Einmaligkeit davon angetastet würde. Jede Rezeption ist so eine Interpretation und eine Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in einer originellen Perspektive neu auflebt."18 Dennoch variieren Kunstwerke in Art und Grad der von ihnen angebotenen Offenheit. Wuss 19 nennt drei Aspekte: - Offenheit der Erzählweise: die Handlung bleibt unbestimmt;

15 16 17 18 19

Stierle. "Semiotik als Kulturwissenschaft". 103. Ebd. 113. Eco. Das offene Kunstwerk. 55. Ebd. 30. Wuss. Tiefenstruktur. 36 f.

16

-

Offenheit der Evokation: die kommunikative Absicht und die (gesellschaftliche) Wirkung bleiben offen; - Offenheit der spezifisch kulturellen Intention: die Zuordnung zu einem bestimmten Repertoire kultureller Erscheinungen bleibt unbestimmt. Das 'offene Kunstwerk' 2 0 kreiert ein betont breit angelegtes Feld von Möglichkeiten. 21 Ein solches Kunstwerk eröffnet - sorgfältige Organisation des Möglichkeitsfeldes vorausgesetzt - dem Rezipienten "Akte bewußter Freiheit" 22 . Offenheit bezieht sich nach Eco nicht in erster Linie darauf, wie Probleme gelöst werden, sondern darauf, wie sie gestellt werden. Daraus resultieren Konsequenzen für die vom künstlerischen Text vorstrukturierte Rezeptionsbeziehung. Werke kann also verbinden, daß sie verwandte Konsumptionsbeziehungen initiieren. Während das Artefakt (die materielle Gestalt) ein für allemal festliegt, ist das ästhetische Objekt (das, was durch die Konfrontation von Artefakt und bestimmten Vorstellungsstrukturen entsteht) der historischen Veränderung unterworfen. Diese Wandlungen betreffen im wesentlichen die Normen, die Welt der Werte - seien sie künstlerischer oder außerkünstlerischer Natur. Wertewandel kann von dem 'Seismograph' Kunst mitunter früh registriert werden. Angesichts des spielerischen Charakters des Kunstwerks und - wenn man so will - seiner 'Folgenlosigkeit' ist die Kunst prädestiniert, vermeintlich 'universale Werte' als historische Ausprägungen zu entlarven.

2.2 Die Narration als Organisation des Weltmodells Verfolgt man den Konstitutionsprozeß des künstlerischen Textes weiter, gelangt man zur Ebene der Organisation. Diese organisierende Funktion übernimmt beim narrativen Text die Geschichte. Unter Geschichte ist eine vorsprachliche Anordnung des ausgewählten Materials zu verstehen, die zwischen Anfang und Ende eines Textes einen sinnhaften Zusammenhang herstellt. Geschichte hat den Status eines Modells. Sie steht somit zwischen den Geschehnissen und dem eigentlichen Text der Geschichte. Stierle beschreibt die Relation zwischen diesen Stadien in dreifacher Hinsicht: 1. als Fundierungsrelation: Das Geschehen fundiert die Geschichte, die Geschichte fundiert den Text der Geschichte. 2. Als 'hermeneutische' Relation: Die Geschichte interpretiert das Geschehen, der Text der Geschichte interpretiert die Geschichte. 3. Als Dekodierungsrelation: Der Text der Geschichte macht die Geschichte sichtbar, die Geschichte macht das Geschehen sichtbar. 23 20

21

22 23

Eco spricht auch von einer Offenheit zweiten Grades', um im Bewußtsein zu lassen, daß jedes Kunstwerk über Offenheit verfügt. Der Begriff des Feldes soll statt einer Ursache-Folge-Beziehung ein "komplexes Interagieren von Kräften, eine Konstellation von Ereignissen, einen Dynamismus der Struktur" ausdrücken. Eco. Das offene Kunstwerk. 48. Pousseur, Henri zit. und übers, in Eco. Das offene Kunstwerk. 31. Stierle. "Geschehen, Geschichte, Text". 51.

17 Geschehen stellt eine Abstraktion dar, die als solche noch über keinen Sinn verfügt. Vor dem Akt der Selektion ist in ihr keine Intention erkennbar. Um so mehr allerdings das Geschehen Handlungszüge annimmt, umso mehr tendiert es zur Sinnhaftigkeit. "Die Geschichte im Gegensatz zum Geschehen hat einen Sinn. Einen Sinn hat sie als spezifische Form einer Handlung, nämlich als Aneignungshandlung von Geschehen." 24 Durch die Narration wird die Aneignungshandlung vorstrukturiert. Die Geschichte des narrativen Textes kreiert zum einen die Entfaltung eines Stoffes in der Zeit, zum anderen schafft sie bedeutsame Felder - semantische Räume -, die zueinander in Relation gesetzt werden. Hinter der Darstellung von Objekten und Dingen, innerhalb derer die Figuren agieren und Ereignisse stattfinden, liegt ein System semantischer Beziehungen. Lotman spricht in diesem Zusammenhang von der 'Struktur des Topos': "Diese Struktur des Topos ist einerseits das Prinzip der Organisation und der Verteilung der Figuren im künstlerischen Kontinuum und fungiert andererseits als Sprache für den Ausdruck anderer, nichträumlicher Relationen des Textes. Darin liegt die besondere modellbildende Rolle des künstlerischen Raumes im Text." 25 Die Struktur des Raumes, den der Text erzeugt, versteht sich als Struktur des Raumes der ganzen Welt. Dieses räumliche Modell der Welt ist die organisierende Größe und Dynamik, um die herum sich andere, nichträumliche Elemente gruppieren. Die Geschichte entwickelt eine Folge von Beziehungen, die von einander ergänzenden und miteinander konkurrierenden Wertsystemen leben. Die Organisation des selektierten Materials erfolgt im Zuge der narrativen Organisation also auf zwei miteinander verflochtenen und doch eigenständigen Ebenen: - der syntaktischen Organisationsebene und der - semantischen Organisationsebene. In jedem künstlerischen Text sind beide Schichten vorhanden; was variiert, ist ihr jeweiliges Gewicht und die Art der Relation. Hinsichtlich des Darstellungsmodus sind beide Ebenen indifferent. Aus der Perspektive der schöpferischen Textkonstituierung stellt die Bildung von semantischen Feldern die Grundlage für die eigentliche Erzählungsgestaltung dar. Im Gegensatz zu der sich sukzessiv-chronologisch entwickelnden syntagmatischen Organisation ist die semantische Organisation nicht temporal. Die Chronologie wird von ihr logisch überformt. Die semantische Ordnung bildet die logische Basis für die chronologische Gliederung. Diese Logik kann auf verschiedenen Kausalitäten beruhen. Todorov 26 nennt die Gruppen: - ereignishafte Kausalität: Der Akzent wird auf die Verbindung der berichteten Ereignisse gelegt; - psychologische Kausalität: Die Handlungen sind nicht die Folge einer vorausgegangenen, sie verursachenden Handlung, sondern Resultat eines Charakterzugs;

24 25 26

Stierle. "Geschehen, Geschichte, Text". 51. Lotman. Struktur literarischer Texte. 330. Todorov. "Poetik". 131 ff.

18

-

philosophische Kausalität: Die Handlungen sind illustrierende Symbole bestimmter Ideen oder Begriffe. Ein Prozeß, der zur Bildung semantischer Felder führt, ist unabdingbar, ohne daß er deswegen zwangsläufig bewußt erfolgen müßte: Es kennzeichnet geradezu den künstlerischen Text, daß diese Bezüge intuitiv gebildet werden. Auch für den Part des Rezipienten gilt, daß er eher unbemerkt - während er den Gang der Geschichte verfolgt und sie durch seine Anwesenheit 'vervollständigt' - ein Bild von den vorgezeichneten Bedeutungsfeldern gewinnt. So gesehen, liegt die narrative Seite der Erzählung an der Oberfläche, die es zu durchdringen gilt, um die durchschimmernde, dahinter.liegende Tiefenstruktur zu erschließen. "Nach strukturalistischem Verständnis bilden narrative Strukturen in der Tiefenstruktur aller Erzählungen eine, letztlich auf elementaren Bedeutungsstrukturen beruhende, autonome strukturelle Schicht, die nicht unmittelbar zugänglich ist, sondern erst durch die Analyse der konkreten Oberflächenstruktur der einzelnen Werke erschlossen werden kann." 27 Die Oberflächenstruktur verfügt im Vergleich zur Tiefenstruktur über größere Evidenz. Die Oberflächenstruktur wird nach Wuss in der Regel "durch bekannte oder leicht einsichtige Handlungsmotive, Konfliktkonstellationen oder Verhaltensweisen der Figuren hergestellt." 28 Das hat zur Folge, daß der Rezipient die Oberflächenstruktur ziemlich bewußt und 'problemlos' aufnehmen kann - ist sie doch der Wahrnehmung zugänglich und knüpft sie doch an Vorwissen an, das er mit in die Rezeptionssituation bringt. Um die Tiefenstruktur zu ergründen, muß der Rezipient den invarianten Kern erkennen, der die verschiedenen Erscheinungen oder Ereignisse zu Reihen verbindet. Das verbindende Merkmal macht im künstlerischen Text zwar durch Wiederholung auf sich aufmerksam, aber es ist gerade eine Qualität des künstlerischen Textes, daß diese Verbindung nicht offensichtlich sein muß: Die Invarianz verkleidet sich in den verschiedensten Formen, hinter denen sich erst verbindende Strukturmerkmale entdecken lassen. Die Invarianz muß als solche erkannt werden. Die damit verbundene - auch emotionale - Anstrengung bezieht den Rezipienten in den Bedeutungskreationsprozeß mit ein, muß er doch die rückbezüglichen Elemente auffinden und zuordnen. Durch diese Art der künstlerischen Wiederholung wird die gegenständliche Bedeutung des Gezeigten reduziert, das eher Abstrakte am 'gemeinsamen Nenner' wird gleichzeitig hervorgehoben. Das Gewicht und die Aussagekraft, die in einem bestimmten Text von der Oberflächen- bzw. Tiefenstruktur eingenommen und erzeugt wird, verweist auf das Vorhandensein und die Stärke des Sujets. Sujet bezieht sich immer auf ein Ereignis, einen 'Fall'. "Die Institution konfliktueller Relationen ist das Merkmal, das die Narration in erster Linie bestimmt. Konflikte und ihre Aufhebung sind das eigentliche Thema der Narration, das Moment, das der Narration ihren eigentlichen Sinn gibt." 29 Was nun ein Konflikt, ein Ereignis genannt werden kann, liegt nicht allein und nicht zuvörderst in der Handlung selbst begründet, sondern hängt wesentlich von dem ihn umgebenden Rahmen ab. Erst in diesem Kontext 27 28 29

Kanzog. Erzählstrukturen - Filmstrukturen. 14. Wuss. Tiefenstruktur. 25. Stierle. "Semiotik als Kulturwissenschaft". 116.

19

finden sich die Maßstäbe, die es erlauben, von einem Ereignis zu sprechen. "Das Sujet hängt [...] organisch zusammen mit dem Weltbild, das den Maßstab dafür liefert, was ein Ereignis ist und was nur eine Variante, die uns nichts neues bringt." 30 Ereignisse sind dadurch charakterisiert, daß vom Helden ein Verbot übertreten wird, daß ein 'Gesetz' verletzt wird, das nicht hätte verletzt werden dürten. Es kennzeichnet geradezu den Helden, daß er über das Vermögen verfügt, die Grenzen semantischer Felder zu überschreiten. Der Grenzübertritt verlangt eine Grenze, die Regelverletzung eine Regel - das Sujet als Verbotsakt ist auf Ordnung angewiesen. "Das Sujet ist eine Abfolge bedeutungstragender Elemente, die dessen regelhaftem Aufbau dynamisch entgegengesetzt sind." 31 Unentbehrliche Elemente eines jeden Sujets sind demzufolge: - ein bestimmtes semantisches Feld, das in zwei sich ergänzende Teilmengen gegliedert ist; - eine Grenze zwischen diesen Teilen, die unter normalen Umständen unüberschreitbar ist, sich im vorliegenden Fall für den Helden doch als überwindbar erweist; - der Held als Handlungsträger. 32 Dabei ist ein Ereignis auf der Skala der Sujethaftigkeit umso höher anzusiedeln, je weniger mit seinem Erscheinen gerechnet werden konnte, je geringer also die Wahrscheinlichkeit seines Eintreffens war. Das führt zu einer Differenzierung zwischen sujethafiten und sujetlosen Texten. Ein ausgeprägtes Sujet erzeugt eine dominante Oberflächenstruktur, ein eher sujetarmer Text verlangt eine starke Tiefenstruktur, da es in diesem Fall an ihr liegt, ein verbindendes Prinzip zu erzeugen. In sujetlosen Texten ist es die Tiefenstruktur, die den Fabelzusammenhang erzeugt. In der Tiefenstruktur selbst steckt somit auch ein Verweis auf das jeweilige inhärente, verbindende Prinzip des künstlerischen Textes, auf den semantischen Zusammenhang. In der Gestaltung des Sujets findet Weltsicht ihren Ausdruck; so tendieren sujetlose Texte dazu, die Welt und ihre Ordnung zu bestätigen. Auf der anderen Seite bildet das sujetlose System die Basis für das Sujet: Das Sujet-System ist "sekundär und stellt immer eine Schicht dar, die die zugrunde liegende sujetlose Struktur überlagert. Dabei ist das Verhältnis der beiden Schichten zueinander immer konfliktgeladen: Gerade das, was die sujetlose Struktur als unmöglich behauptet, macht den Inhalt des Sujets aus. Das Sujet ist ein 'revolutionierendes Element' im Verhältnis zum 'Weltbild'." 33 Was das sujetlose System als Unmöglichkeit behauptet, realisiert das Sujet - personifiziert durch den Helden, der aus dem ihm angestammten semantischen Feld in ein 'Gegenfeld' eintritt. Der Held ist dadurch ausgezeichnet, daß er über eine solche Beweglichkeit verfügt, die andere Figuren nicht besitzen - sie verharren in ihrem 'heimatlichen' Terrain. Der Held als Handlungsträger, als dynamische Größe, bedarf insoweit der statischen Bedingungen und Umstände der Handlung. In der Scheidung zwischen Personen, die zu solchen Bewegungen fähig sind, jenen Personen, die ihm dabei helfen, 30 31 32 33

Lotman. Struktur literarischer Texte. 333. Lotman. Kinoästhetik. 102. Lotman. Struktur literarischer Texte. 341. Lotman. Kinoästhetik. 339.

20 und anderen, die in einem bestimmten Gebiet verharren, liegt eine zentrale Kraft der sich im künstlerischen Text entfaltenden Personenkonstellation. In der Personenkonstellation findet die grundlegende konzeptionelle Struktur mit ihren semantischen Feldern ihr Forum. "Der Übergang von der fundamentalen Grammatik, die rein logisch aufgebaut ist, zu einer narrativen Oberflächengrammatik stellt sich dar als Besetzung, die den Charakter einer Antropomorphisierung hat." 34 Die ein Sujet bildende Bewegung braucht die sujetlose Ebene als Fundament, von dem es sich erheben kann. In der Fähigkeit des Helden, Grenzen zu überschreiten, die als unüberschreitbar galten, steckt ein Hinweis auf Normenkomplexe, die der Welt zugrunde liegen. Der künstlerische Text benötigt diese Normensysteme, um sie zu attackieren oder sogar zu überwinden. Er lebt von der Spannung zwischen Erfüllung und Nichterfüllung der Forderungen der Normensysteme. Richtet sich nun das Interesse auf den 'Bau der Erzählung', so verspricht vor allem die Untersuchung ihrer Zeitstruktur Aufschlüsse über die Strukturierung der Elemente innerhalb der Erzählung. Die zeitliche Ordnung ist eng mit der - wie immer bestimmten - Kausalität der Narration verwoben. Berthes sieht in der "Vermengung von Aufeinanderfolge und Schlußfolge" 35 die eigentliche Triebfeder der Tätigkeit des Erzählers. Um ein Begriffssystem für die Gestaltung der Zeitdimension in dem narrativ organisierten Text zu gewinnen, erweist es sich als nützlich, auf Lämmerts Typologien zurückzugreifen. 36 Er hat drei dualistische Typenreihen formuliert: - die Unterscheidung hinsichtlich der Relation Erzählzeit - erzählte Zeit; - die Gruppierung der Geschichte im Erzählablauf; - das relative Gewicht des äußeren Geschehens der Geschichte (Ereignisse) im Vergleich zu anderen Elementen des Erzählens (Milieuschilderung, Reflexion, Bewußtseinsdarstellungen etc.). 37 Die erste Typenreihe beruht auf der in der Erzählung (fast) immer gegebenen Ungleichzeitigkeit zwischen der Zeitlichkeit der Geschichte und der des Aussagevorgangs. 38 Im Weglassen, Raffen oder ausgedehnten Verweilen setzt die Erzählung Prioritäten. Durch diese 'Deformation' verweist sie zugleich auf ihren Charakter als etwas Geschaffenes, sie setzt sich in einen Gegensatz zur "Monotonie der bloßen Sukzession" 39 . Der Umriß der Geschich34 35 36

37 38

39

Stierle. "Semiotik als Kulturwissenschaft". 115. Barthes, Roland zit. und übers, in Todorov. "Poetik". 136. Die Narration verfügt im Film über ein anders geartetes Potential als beispielsweise die Romanerzählung. Als ganz entscheidende filmspezifische Erweiterung sei an dieser Stelle nur erwähnt, daß der Film im Gegensatz zum Roman nicht nur sukzessiv, sondern aufgrund seiner Bildeigenschaften auch simultan zu erzählen vermag. Dennoch lassen sich auch in der Filmnarration eine Reihe von Merkmalen feststellen, die mit Hilfe von Lämmerts Typologien bestimmbar werden. Lämmert. Bauformen des Erzählens. 36 ff. Der Film - das sei an dieser Stelle schon erwähnt - verfügt prinzipiell über die Fähigkeit, die Differenz zwischen diesen beiden Zeitdimensionen aufzuheben. Als berühmtes Beispiel sei erwähnt: THE ROPE (COCKTAIL FÜR EINE LEICHE), Regie: Alfred Hitchcock, USA 1948. Der 80minütige Film beschreibt Ereignisse, die sich in exakt diesem Zeitraum abgespielt haben ohne Raffungen und Dehnungen. Lämmert. Bauformen des Erzählens. 23.

21 te kann dabei von der knappen Krisengeschichte bis zur Generationen übergreifenden Lebensgeschichte reichen. In diesem Zusammenhang verdienen Einstieg und Ausgang der Erzählung besondere Beachtung. Durch Anfang und Ende grenzt sich die Erzählung zunächst von der übrigen Welt ab und stellt sich dieser in ihrem Modellcharakter gegenüber. Besonders die Art und Weise, wie die Erzählung den Zuschauer 'entläßt', verspricht bedeutsame Aufschlüsse hinsichtlich der von ihr artikulierten Weltsicht ihres Schöpfers. Noch deutlicher erweist sich die Erzählung als etwas Gestaltetes in der die 'natürliche Abfolge' ignorierenden Neugruppierung von Teilen der Erzählung. Indem die Erzählung Ereignisse in einer anderen als der linearchronologischen Reihenfolge montiert, schafft sie zudem 'Spannungsbögen'. Lämmert unterscheidet zwischen der Verflechtung verschiedener Fäden einer Handlung und der Verschachtelung mehrerer Handlungsstränge. Verschiedene Handlungsstränge müssen dabei in wenigstens einem der Kriterien Handlungszeit, Schauplatz oder Personen Unterschiede aufweisen. Es ist dann eine Frage der dominierenden Strukturierung, ob eine Ubergeordnete Handlung anderen selbständigen Teilen der Erzählung den Status von Erzählsträngen bzw. Episoden zuweist, oder ob umgekehrt diese vorherrschen und dann die übergeordnete Handlung lediglich die Funktion eines Rahmens übernimmt. Verläßt die Narration die bloße Sukzession, so bildet sie zugleich Verknüpfungen, die additiven, korrelativen oder konsekutiven Gesichtspunkten folgen. Auch hinsichtlich der additiven Verknüpfungen wird eine Bandbreite entfaltet, die Ausdruck der jeweils dominierenden Struktur ist: Sie reicht von Beigaben wie Wartezeiten über Bereicherungen illustrativer Art, die der Gegenwartshandlung noch Priorität belassen, bis zu Formen, in denen die eingeschlossenen Vorzeithandlungen die Erzählung beherrschen und die Gegenwartshandlung lediglich die Funktion einer 'Klammer' übernimmt. Die korrelative Verknüpfung ist dadurch gekennzeichnet, daß sie - statt lediglich eine Anreicherung von Erzählgegenständen zu verfolgen - durch den Einbau verschiedener Handlungsstränge vielmehr eine sich steigernde Akzentuierung und Spiegelung des Gesamtvorgangs herbeiführt: Sie verlangt das Erinnern an vergangene Erzählstränge bzw. das Antizipieren zukünftiger. Die konsekutive Verknüpfung schließlich verschafft der Erzählung sozusagen rückwirkend eine Logik, indem sie gegen Ende eine Vorzeithandlung nachreicht, die der Gegenwartshandlung erst ihre Plausibilität verschafft: Was zunächst in einer geheimnisvollen Korrelation zu stehen schien, erfährt durch die 'Auflösung aller Rätsel' seine kausale Begründung. Die dritte Typenreihe fragt nach der Gewichtung von äußeren Ereignissen versus anderen Elementen der Erzählung, nach der Dominanz von Aktion oder Reflexion. Gerade hier, so scheint es, stoßen die Aussagen, die für den narrativen Text 'Roman' formuliert wurden, an die Grenzen ihrer Übertragbarkeit auf das Medium Film, hat der Film als audiovisuelles Medium doch eine besondere Affinität zur Aktion. Aber auch wenn der Film der sich äußerlich manifestierenden Realität verhaftet ist, verfügt er doch über ein anders geartetes Potential. In diesem Zusammenhang wird das dem Film zur Verfügung stehende Mittel der Personenrede bedeutsam. Sie kann als Bericht, Beschreibung, Reflexion etc. Gestalt annehmen. Zunächst ist die Rede als Aktion in der Chro-

22

nologie der Erzählung ebenso positionierbar wie andere, wortlose Teile. Der Inhalt der Rede kann jedoch diese Temporalität verlassen: er kann vorgreifen und Zukünftiges antizipieren, er vermag Vergangenes in Erinnerung zu rufen und zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Die Personenrede verleiht der Erzählung auch hinsichtlich der Zeitstruktur eine eigene Dimension von besonderer Flexibilität. Geschehnisse wie Personenrede dienen dem Erzähler zur Artikulation seiner Weltsicht. In der Art und Massivität des 'Eingreifens' des Erzählers liegt ein wesentliches Merkmal zur Bestimmung seiner Rolle. So kann der Erzähler durch eine 'szenische Darstellung' die Illusion einer unmittelbar erlebten Wirklichkeit schaffen, oder er gibt statt dessen das Erzählte ausdrücklich als Erzähltes aus und übernimmt dadurch vorgeblich eine Position zwischen den Ereignissen und dem Rezipienten, die bei diesem wiederum die Illusion größerer Nähe zur Persönlichkeit des Erzählers hervorruft. "Dominiert bei in sich ruhender Handlung durchaus die Wirkung des Geschehens, so bannt und unterhält hier die Wirkung seiner Persönlichkeit."40 Die Unterschiede der Position lassen sich auch mit dem Begriffspaar 'internal' - 'external' beschreiben. Nimmt der Erzähler einen 'internal' Point of View ein, so stellt er ausschließlich die erlebte Wirklichkeit der handelnden Akteure dar, und sein Wissensstand - so wird wenigstens vorgegeben - entspricht dem ihrigen; ihre Zukunftsungewißheit ist die seine. Greift er dagegen kommentierend und explizit ordnend in den Lauf der Ereignisse ein, so bezieht er die Position eines 'external' Point of View, der ihm erst die Distanz zur Neuordnung von Handlungssträngen und somit der Gestaltung 'seiner' Zeitstruktur erlaubt. Sein Kenntnisvorsprung gegenüber den Protagonisten trennt ihn von deren Status. Das Maß dieser Distanz bestimmt die Erzählergegenwart und ist aufs engste mit der erzählerischen Perspektive verbunden. Die Positionen von Autor und Erzähler sind nicht identisch, aber auf vielfältige und jeweils individuelle Art und Weise miteinander verbunden. Im Gegensatz zum Autor ist der Erzähler Teil der Textstruktur; ihm fällt die Aufgabe zu, zwischen den Figuren, dem Erzählgegenstand und dem implizierten Leser zu vermitteln. Um diesen Komplex zu untersuchen, differenziert Weimann zwischen den Begriffen Point of View (Erzählwinkel), Erzählerstandpunkt und Erzählperspektive. Als Point of View bezeichnet er die "den optischen, sprachlichen und erzähltechnischen Blickpunkt des auktorialen oder personalen Erzähler-Mediums bestimmende Erzählsituation"41. Auch Branigan betont die Rolle des Point of View als Mittel zur Steuerung der Bedeutungsvermittlung: "I consider point of view to be a textual system which controls (expands, restricts, changes) the viewer's access to meaning. Point of view is a limit on the very existence or production of meaning."42 Weimann beschreibt den Point of View als Kategorie der 'Fiktion', der Erzählerstandpunkt dagegen ist eine reale Kategorie. Erzählerstandpunkt ist das "die sozialen und ethischen Erzähleinstellungen bestimmende Verhältnis des Autor-Erzählers zu der Wirklichkeit als seinem Stoff und zum Publikum 40 41 42

Lämmer! Bauformen des Erzählens. 69. Weimann. "Erzählsituation und Romantypus". 335. Branigan. Point of View in the Cinema. 211 f.

23 als seinen Lesern" 43 . Im Gegensatz zur fiktiven Kategorie des Point of View ist der historisch bedingte Erzählerstandpunkt "nur insofern künstlerischer Bestandteil des Werkes, als er darin perspektivisch, d.h. in Inhalt und Form, aufgeht. Folglich ist der 'Inhalt' der Perspektive nur denkbar als perspektivische Form, die Form ihrerseits ist zugleich immanenter Bestandteil der erzählperspektivischen Sichtung und Wertung der Wirklichkeit" 44 . Point of View und Erzählerstandpunkt kreieren gemeinsam die umfassende Erzählperspektive, die somit den Oberbegriff bildet. In der Erzählperspektive laufen psychologische und erzähltechnische Faktoren zusammen.Sie bildet die Einheit "als Summe der in Inhalt und Form poetisch realisierten Einstellungen des Autor-Erzählers" 45 . Zu dem Komplex von Einstellungen gehören die Haltung zum Werk, zu Zeitgenossen und Vorläufern sowie das Bild vom Publikum - schließlich die Haltung zu Natur und Gesellschaft. Hier manifestiert sich der konzeptionelle Rahmen des Textes am greifbarsten. Über den Erzähler, der als zentrale Größe der Textstrukturierung fungiert, eröffnet der künstlerische Text dem Rezipienten den Weg zum Autor, zu dessen Weltsicht und die diese stützenden Haltungen zu Normensystemen.

2.3 Der konzeptionelle Rahmen als ganzheitsbildender Faktor Ein Kennzeichen des künstlerischen Textes ist seine 'Ganzheit', seine Eigenschaft somit, eine organisch wirkende Einheit zu bilden. Er schafft eine Struktur, deren Teile sinnhaft zusammengehen, deren Elemente in und für das Ganze eine funktionale Rolle übernehmen. Initiert und zusammengehalten wird die Ganzheit durch die Erzählperspektive: "Sie befähigt den Autor-Erzähler, die hundertfachen Aspekte seines Stoffes von einem geschlossenen Winkel aus zu erfassen und - wählend, wertend, stilisierend - zu einem dichterischen Ganzen zu fügen." 46 In der Erzählperspektive manifestiert sich der künstlerische Blickpunkt. Er steht in engem Zusammenhang mit der Schaffung eines Weltbildentwurfs durch die künstlerische Struktur. Teil dieses Entwurfes kann sein, daß die Blickpunkte nicht in einem Zentrum zusammenlaufen, sondern vielmehr durch bestimmte Anordnungen eine 'Art von zerstreutem Subjekt' konstituieren. Jeder Blickpunkt aber braucht, um künstlerisch aktiv werden zu können, sein 'Anti-System', das Ausdruck des diametral entgegengesetzten Blickpunktes ist. Künstlerische Spannung hat hier eine ihrer Wurzeln, denn jeder Blickpunkt im Text beansprucht Richtigkeit und Wahrheit für sich. Nun ist es aber gerade ein Merkmal des künstlerischen Textes, daß sich die Blickpunkt-Systeme nicht auslöschen im Gegensatz z.B. zu einem wissenschaftlichen Text, der durchaus 'klare Sieger' kennt -, sondern im lebendigen Widerstreit bleiben. Lotman deutet den Begriff des künstlerischen Blickpunktes als "Relation eines Systems zu 43 44 45 46

Weimann. "Erzählsituation und Romantypus". 335. Ebd. 336 f. Ebd. 337. Ebd. 331.

24 seinem Subjekt [...]. Unter 'Subjekt des Systems' verstehen wir ein Bewußtsein, das fähig ist, eine derartige Struktur hervorzubringen und das folglich bei der Rezeption rekonstruiert werden kann" 47 . Damit rückt das System der Autorenidee und die es tragenden Konzepte in den Mittelpunkt des Interesses. "Jeder narrative Text hat sein eigenes System von Konzepten, seine eigene 'Ideologie', eine unter dem Blickpunkt spezifischer Interessen konstituierte Totalität, die sich zur Totalität der Welt wie zur Totalität des sprachlichen Systems als artikulierte sekundäre Totalität versteht." 48 Das Konzept bildet den Rahmen eines jeden künstlerischen Textes, und es durchdringt alle Prozeduren, die zur Textkonstituierung stattfinden. Die Ausbildung einer Konzeption ist somit Kern der künstlerischen Produktion, wie es das Ziel der Rezeption ist, diesen Kern zu erfassen. In der Konzeption als integrative Größe offenbaren sich Weltsicht und Weltentwurf des Verfassers eines künstlerischen Textes. Der Verfasser hat wie jede Person - eine 'doppelte Geschichte', eine individuelle und eine soziale. Während die Sozialperspektive die zeitgeschichtliche Ideologie berührt, bezieht sich die Individualperspektive auf die subjektiv-kritische Art und Weise, in der Erfahrungen verarbeitet werden. "Die Sozialperspektive bildet die Grundlage des gemeinsamen Stils aller Künstler einer Epoche; sie erklärt die ähnliche Bewertung und Darstellungsform der in den Werken einer Epoche widergespiegelten Erscheinungen. Die Individualperspektive bildet die Grundlage des Personalstils; ihre Konsequenzen reichen gleichfalls bis in die Struktur von Erzählerstandpunkt und point of view, d.h. bis in die entsprechenden sprachlich-syntaktischen Stilformen." 49 Letztlich ist die Person der Ort, "an dem sich die Auseinandersetzung von Kräften und Mächten abspielt, die der Person vorgeordnet sind und damit nicht in ihrem Belieben stehen. Die überpersönlichen Faktoren manifestieren sich durch die Person" 50 . So ist die Struktur eines Textes immer in Beziehung zu setzen zu der historischen Situation, in der sich der Verfasser befindet bzw. befand. Das Verhältnis des Autors zur Gesellschaft und zu seiner 'Bezugsgruppe' ist Teil des Textes. Diese Bezüge zu würdigen, heißt nicht, dem Subjekt des Textautors Konditioniertheit oder gar Determiniertheit zu unterstellen. Vielmehr steht dem schöpferischen Individuum ein mehr oder weniger großer Freiheitsraum zur Verfügung, der es ihm erlaubt, sinnvolle Strukturen zu entwerfen - Strukturen, die sich gegen Konditionierung und Determinierung wenden können. Im Feld der Normensysteme tangiert die soziale Geschichte die individuelle - ob sie sich decken oder im Widerstreit liegen. Die Auseinandersetzung mit Normen durchzieht alle Phasen und Ebenen der künstlerischen Produktion: von der ersten Auswahl dessen, was später als gestalteter Bestandteil des Diskurses erscheinen wird, über den Blickpunkt des Betrachters, die Gliederung der narrativen Elemente in Zeit und Raum bis hin zu dem Ort, an dem schließlich die Kamera aufgestellt wird etc. Jede Entscheidung des Textkonstituierungsprozesses berührt Normen, sie bestätigt sie oder widerspricht ihnen. Ignorieren kann sie sie nicht. 47 48 49 50

Lotman. Struktur literarischer Texte. 374 f. Stierle. "Geschehen, Geschichte, Text". 52. Weimann. "Erzählsituation und Romantypus". 343. Fietz. Strukturalismus. 89.

25

Ebenso ist im Rezeptionsprozeß die Norm als konstitutiver Faktor des Wertesystems eine zentrale Größe. Im Aufeinanderprallen oder in der Dekkung der Normen, die der Rezipient mitbringt, und jenen, die sich im Werk artikulieren, liegt eine Wurzel für die Dynamik des Rezeptionsprozesses. Hier lassen sich auch Kriterien finden für das jeweilige Verständnis von Welt und für das Selbstverständnis des Künstlers. Dabei sind ästhetische und andere Normensysteme aufs engste miteinander verflochten. Eine eindeutige Trennungslinie läßt sich nicht ziehen: Die Bereiche gehen ineinander über und beeinflussen sich gegenseitig. Die im Kunstwerk zum Ausdruck gelangenden Normen lassen sich jedoch insoweit bestimmten Regionen zuordnen, als sie sich zuvörderst entweder auf das beziehen, was gezeigt wird bzw. darauf, wie es gezeigt wird. Norm läßt sich in einer ersten allgemeinen Bestimmung als eine "Regel oder eine Vorschrift für die Ausführung einer Handlung bzw. für ein theoretisches oder praktisches Verhalten"51 fassen. Normen schaffen in der Vielfalt der Erscheinungen Ordnungssysteme, sie bieten Orientierung und Halt. Kennzeichnend für Normen ist ihre 'überindividuelle' Verbindlichkeit, sei es für die Gesamtgesellschaft oder für bestimmte Gesellschaftsgruppen. Normen existieren unabhängig vom Willen des Individuums, sie sind Teil dessen, was Mukarovsky als 'kollektives Bewußtsein' beschreibt: Den "Ort der einzelnen Systeme kultureller Erscheinungen wie z.B. der Sprache, der Religiosität, der Wissenschaft, Politik usw. Diese Systeme sind Realitäten, obschon sie mit Hilfe der Sinne nicht unmittelbar wahrnehmbar sind: Ihre Existenz ist dadurch erwiesen, daß sie im Hinblick auf die empirische Wirklichkeit eine normierende Kraft offenbaren"52. Normen beanspruchen für verschiedene Gruppen (Geschlechter, Schichten, Berufs-, Altersgruppen etc.) Gültigkeit, die in Grad und Anspruch variieren. Verschiedene Normensysteme existieren nebeneinander und überlappend, einander ergänzend oder miteinander im Widerstreit liegend. Sie bilden Reihen und Stufen von ästhetischen und anderen Systemen. In der Hierarchie der ästhetischen Normensysteme stehen jene oben, die jung, wenig mechanisiert und mit Normen anderer Gattungen kaum verbunden sind - unten befinden sich die älteren, mechanisierten und mit anderen Systemen verflochtenen Normen. Die Normensysteme beanspruchen zwar geradezu naturgesetzhafte Gültigkeit, dennoch sind sie in permanenter Entwicklung, sind sie dem historischen Wandel unterworfen. Dieser Wandel, so scheint es, artikuliert sich besonders im Kunstwerk - mehr noch, die Auseinandersetzung mit Nonnen, Regeln und Konventionen wird immer wieder als elementarer Wesenszug des Kunstwerks herausgestellt; so schreibt Mukarovsky: "Das Kunstwerk ist immer eine inadäquate Anwendung der ästhetischen Norm, und zwar so, daß ihr jeweiliger Stand keineswegs aus einer unbeabsichtigten Notwendigkeit heraus, sondern absichtlich und deshalb meist fühlbar gestört wird." 53 Und Lotman meint: "Ein künstlerisches Bild wird nicht nur als Realisation eines bestimmten kulturtypischen Schemas errichtet, sondern

51

Kanzog. Erzählstrategie. 110.

52

Mukarovsky. Kapitel aus der Ästhetik. 31. Mukarovsky. "Ästhetische Funktion". 45.

53

26 auch als ein System relevanter Abweichungen von diesem Schema, die durch partielle Geordnetheiten Zustandekommen." 54 Die Normen bilden den Hintergrund, vor dem Neues geschaffen und letztlich erst erkennbar wird. Die Konventionen bilden die Basis für Innovation. Erst zwischen Akzeptanz der Norm und ihrem Bruch entsteht die Dynamik des Kunstwerks. "Das lebendige Kunstwerk pendelt immer zwischen dem vergangenen und dem zukünftigen Stand der ästhetischen Norm hin und her: Die Gegenwart, unter deren Blickwinkel wir es wahrnehmen, wird empfunden als Spannung zwischen der vergangenen Norm und ihrer Zerstörung, die dazu bestimmt ist, Bestandteil einer zukünftigen Norm zu werden." 5 5 Jede Auseinandersetzung mit einem künstlerischen Text muß bestrebt sein, dessen Normensysteme zu ermitteln. Damit wird ein Weg eröffnet, wie ihn Eco für die semiotische Analyse fordert: "[...] jede Spontaneität auf Konvention, jedes Faktum der Natur auf ein Faktum der Kultur, [...] jeden Gegenstand auf Zeichen, jeden Referenten auf Bedeutung und damit jede Wirklichkeit auf Gesellschaft reduzieren." 56 Ziel ist dabei nicht, den Werken ihre Originalität abzusprechen, sondern vielmehr diese herauszupräparieren! Im Bruch der Norm liegt ein Zukunftsmoment, das sich gegen verfestigte Denkstrukturen wendet. Der Normbruch verweist zunächst auf einen Helden, der als Funktionsträger im künstlerischen Text den Kristallisationspunkt der Normenreflexion bildet. Darüber hinausgehend verweist er auf die Rolle des Textschöpfers. Schließlich ist es das schöpferische Individuum, das in einer von Normen geregelten Welt als 'Störfaktor' auftritt, das erstarrte Denk- und Darstellungsstrukturen attackiert. Indem es die Norm bricht, thematisiert es Konventionsgebundenheit. Es läßt so die Norm prägnant werden, macht sie selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Indem es die Spielregeln verletzt - seien es die der Welt oder die des Modells von Welt - und deren Selbstverständlichkeit in Frage stellt, eröffnet es einen Reflexionsprozeß sowohl hinsichtlich des Spielcharakters der Kunst als auch hinsichtlich deren Regelgebundenheit. Derartige künstlerische Texte bilden eine Gruppe von Rezeptionsvorgaben, denen gemeinsam ist, daß sie den Zuschauer auf den Bedeutungsbildungsprozeß verweisen.

2.4 Der Film als medienspezifische Präsentation Die Ebene der Präsentation ist die Ebene, auf der der Text sprachlichen Ausdruck erlangt. Aber ist Film überhaupt eine Sprache? Gibt es doch "kein Lexikon der Bilder" 57 , verfügt der Film doch über "keine Grammatik" 5 8 . Es ist schwer zu verstehen, warum der Film - meist - so leicht verstanden wird, zumal fast alle an dem Kommunikationsprozeß Beteiligten 'nur' Rezipienten54 55 56 57 58

Lotman. Struktur literarischer Texte. 358. Murarovsky. Kapitel aus der Ästhetik. 49. Eco. "Gliederung desfilmischenCode". 71 Pasolini. "Kino der Poesie". 52. Monaco. Film verstehen. 158.

27

status haben, denn Film wird im Gegensatz zur Wortsprache oder anderen Sprachen von ganz wenigen 'gesprochen'. Der Film besteht aus der Kombination verschiedener Ausdrucksmittel, die er nicht nur gemeinsam verwendet, sondern in ein System zu integrieren vermag. Dieses System wurde mehrfach mit einem Orchester verglichen - so von Eisenstein59, der von einem "Gesamtensemble"60 spricht, von einer "allgemeinen kompositorischen Einheit"61, und von Morin, der schreibt, der Film "ruft alle Sprachen herbei, weil er selbst die synkretistische Möglichkeit aller Sprachen in sich hat: diese kontrapunktieren einander, stützen einander, bilden eine Orchestersprache"62. Der Film erinnert an die Sprache eines Orchesters: Manchmal dominieren bestimmte Stimmen, ohne daß die leisen oder stummen deswegen vergessen würden, ein andermal kommen alle Instrumente zum Einsatz. Morin geht noch weiter: "Der Film umfaßt nicht nur Theater, Dichtkunst, Musik, sondern auch das innere Theater des Geistes: Träume, Einbildungen, Vorstellungen -: dieses kleine Kino in unserem Kopf."63 So gelangt er zu dem Fazit, daß die Filmkunst die allumfassendste jemals mögliche ästhetische Empfindung sei. Die Filmvorführung findet im Dunkeln statt, unter Rezeptionsbedingungen, die den Zuschauer in eine merkwürdige Situation zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Wachheit und einem schlafähnlichen Zustand bringen. Dort sieht er sich dem Film ausgesetzt, und damit Zeichen, die er (wenigstens zum Teil) kennt, ist er doch gewohnt, auch die ihn umgebende Wirklichkeit zu 'lesen' - sei es nun die äußere oder die innere Wirklichkeit, die der Phantasien und Träume. Auch hinsichtlich der Organisation der Zeichen kann er auf Vorerfahrungen zurückgreifen. Abgesehen von einer Geschichte des Sehens, die jeder Rezipient heute hinter sich hat, scheint der Film auch auf Strukturen der alltäglichen Wahrnehmung Bezug zu nehmen. Der Film ist ein Text, in dem die Entzifferungsarbeit des Rezipienten vorstrukturiert ist. "Wie ein Mixgerät zermahlt der Film die Wahrnehmungsarbeit. Vorkäuend ahmt er die psychischen Mechanismen der Annäherung und Aneignung nach."64 Und doch verläuft jede Rezeption einmalig...

2.4.1 Bild Das fotografierte Bild und die Kunst scheinen auf den ersten Blick Ziele zu verfolgen, die sich gegenseitig ausschließen - will das Foto die Welt doch möglichst direkt so, wie sie erscheint, wiedergeben, während die Kunst gera-

59 60 61 62 63 64

Eisenstein. "Farbfilm". 136. Ebd. 137. Ebd. Morin. Der Mensch und das Kino. 213. Ebd. 227. Morin. Der Mensch und das Kino. 226.

28 de Abstand braucht, um ihre Rolle erfüllen zu können. 65 Insoweit steht die fotografische Exaktheit dem Filmkunstwerk im Wege, das sich von jedem technischen Automatismus befreien muß, denn: "Das Ziel der Kunst ist nicht, einfach das eine oder andere Objekt abzubilden, sondern es zum Bedeutungsträger zu machen." 6 6 Die Wirklichkeitsnähe des Filmbildes, seine Ähnlichkeit mit dem Leben, verursacht den besonders intensiven Realitätseindruck des Mediums Film: Emotional reagiert der Rezipient auf den Film wie auf ein tatsächliches Ereignis, wenngleich ihm bewußt bleibt, daß er im Kino sitzt und 'eigentlich' nichts passiert. Mehr noch: Dem Bild wird die Aura unantastbarer Gültigkeit zugeschrieben. Ein Bild, so heißt es, sagt mehr als tausend Worte - und einem Bild glaubt man mehr als tausend Worten. Hier liegt die Quelle jener Spannung, die zwischen der (vermeintlichen) Wahrheit des Bildes und den Worten, die immer eine Lüge darstellen können, besteht. 67 Im Kino, schreibt Kracauer, "gepackt vom Realitätscharakter der Bilder auf der Leinwand, kann der Zuschauer nicht umhin, auf sie zu reagieren, wie er auf die materiellen Aspekte der Natur im Rohzustand reagieren würde, die durch diese fotografischen Bilder reproduziert werden" 6 8 . Mit diesem Vermögen geht allerdings einher, daß der visuelle Sektor des Films auf die dingliche Welt beschränkt bleibt. Bilder sind immer konkret. Das Bild ist ein "Perzept" 69 im Gegensatz zum 'Konzept' Wort. In der Filmerzählung allerdings ist der Film dank der Integration der Wortsprache dann sehr wohl in der Lage, sich zu 'abstrakten Sachverhalten' zu äußern, die keine dingliche Form annehmen. Dennoch, das Dilemma bleibt, eine "Sprache der Abstraktion auf der Basis fotografischer Zeichen ist nur als Konflikt mit ihrem innersten Wesen möglich" 70 . Das Filmbild bedient sich der "Sprache der Dinge" 71 , einer Sprache, die in ihm weiter spricht und die sich doch verändert im Kontext des Films. Epstein formulierte diesen Sachverhalt pointiert: "Ist es nicht merkwürdig, daß auf der Leinwand niemand sich selbst ähnlich sieht? Daß nichts auf der Leinwand sich selbst ähnlich sieht?" 72 Diese Differenz beruht nicht auf reproduktionstechnischen Verfälschungen oder einem solchermaßen zu erklärenden Informationsverlust. Die 'neue Qualität' erlangt das Filmbild, indem es das sichtbare Ding in einen semantischen Gegenstand verwandelt. Was wir auf der Leinwand sehen, ist nicht mehr das Ding - bzw. die Landschaft, der Mensch etc. - an sich, auch nicht dessen bloße Reproduktion, sondern ein

65

66 67

68 69 70 71 72

So schreibt Pawek: "Nur das ist Kunst, was die Distanz zur Wirklichkeit besitzt, nur das ist Photographie, was diese Distanz überwindet." Pawek. Bild aus der Maschine. 144. Lotman. Kinoästhetik. 27. Auch Alfred Hitchcock mußte diesem Axiom Tribut zollen. In STAGE FRIGHT (ROTE LOLA), USA 1950, zeigt er innerhalb einer Rückblende ein Ereignis, das sich im Nachhinein als Lüge erweist. Der Zuschauer allerdings nimmt das, was er doch mit 'eigenen Augen' gesehen hat, als Wahrheit hin - und reagiert verwirrt. Kracauer. Theorie des Films. 216. Peters. "Struktur der Filmsprache". 172. Lotman. Kinoästhetik. 69. Bitomsky. "Einleitung". 31. Epstein, Jean zit. und übers, in Moria Der Mensch und das Kino. 45.

29

Zeichen, "in dem das Abgebildete verstanden wird"73. Und es ist darüber hinaus das Resultat eines Selektionsprozesses des schöpferischen Individuums im Hinblick auf die zu vermittelnde Botschaft. Es eröffnet schließlich den Zugang zur Autorenidee. Jedem Bild wird eine Intention, ein Sinn, unterstellt - jedem Bild für sich genommen sowie im Hinblick auf das Ganze des künstlerischen Textes. Denn jedes Bild ist Teil dieses Ganzen und mehr: In ihm liegt das Ganze begründet. Der Sinn ergibt sich im wesentlichen aus dem Zusammenhang; er hat seine Quelle aber auch in jedem einzelnen Bild, in dem, was vor, für und mit der Kamera inszeniert wird sowie in dem, was die Kamera 'vorfindet', denn "die Kamera sucht die Welt an Stellen auf, wo sie schon Bedeutung angenommen hat"74. In Verbindung mit der Fähigkeit der Kamera, Blickwinkel und Sichtweisen einzunehmen sowie Dinge durch nahes Herangehen oder durch Verweilen zu 'intensivieren', erklärt sich, daß die Filmkamera "die eigentümliche Fähigkeit entfaltet, die optische Hülle der Erscheinungswirklichkeit zu durchdringen f...]"75. Allerdings greift eine Einschätzung, die diese enthüllende Funktion der Kamera selbst zuschreibt, zu kurz: Es gibt - wie Tudor es ausdrückte - keine "unbefleckte Empfängnis"76, d.h. die Kamera ist lediglich ein Instrument, dessen sich der Mensch bedient. Im Unterschied zu anderen Kunstformen, z.B. zum literarischen Text, liefert der Film bereits 'fertige Bilder'. Sie zu schaffen, ist dem Rezipienten abgenommen. Damit geht zumindest potentiell eine gewisse 'Bequemlichkeit' einher, ohne daß dies allerdings bedeuten müßte, dem Zuschauer bliebe jegliche 'Arbeit' erspart - sie erfolgt lediglich an anderer Stelle. Zur visuellen Erkundung der Welt bedient sich der Film der Kamera, die immer wieder als 'Vertreter' des menschlichen Auges beschrieben wurde. "Es ist gleichsam der Blickapparat des Beschauers eines Films durch den Blickapparat ersetzt, den die Kamera bei einer Folge ihrer Aufnahmen im Entstehen des betreffenden Films aufgebaut hat."77 Mit 'ersetzen' wird ein schlichter Austausch von Kamera und Auge suggeriert, der in dieser Form aber nicht stattfindet. Zwei Beispiele: Zur Konzentration auf ein Detail richtet das Auge seine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt des Blickfeldes, das als solches jedoch weiterhin erhalten bleibt. Die Kamera dagegen wird zur Konzentration dicht an das Objekt herangehen (bzw. zoomen) und dadurch das Gesichtsfeld selbst verengen. Oder: Ein Wechsel der Blickrichtung ist für das Auge problemlos rasch durchführbar - wird diese Operation jedoch dementsprechend von der Kamera ausgeführt, entsteht eine ganz andere Wirkung (Reißschwenk). Die Kamera wird also ein anderes Tempo wählen, um zwischen unterschiedlichen Blickrichtungen zu vermitteln, das hat wiederum zur Folge, daß das, was sie unterwegs 'sieht', mehr Zeit und mehr Aufmerksamkeit erhält, etc. D.h., die Kamera simuliert die Tätigkeit unseres Auges nicht, sie modifiziert sie. Gleiche Aufgaben können unterschiedliche Lösungen notwendig machen. 73 74 75 76 77

Peters. "Struktur der Filmsprache". 172. Bitomsky. Die Röte des Rots. 40. Dadek. Filmmedium. 75. Tudor. Film-Theorien. 77. Pötzl. "Vergleichspunkte zwischen Film und Traum". 98.

30 Dennoch: Der Zuschauer ist auf das angewiesen, was ihm die Kamera zeigt - und wie sie es ihm zeigt. Darin steckt auch ein Diktat des Films, hier dokumentiert sich die Macht seines Autors: "Die Bildwand zwingt ihren neuen Blick dem unseren auf." 78 Grenzenlos ist diese Macht jedoch nicht, denn dieser Vorgang mag noch so zielgerichtet stattfinden und im Hinblick auf den Gesamttext erfolgen - nie wird der Autor vollständig im Griff haben, was der Rezipient schließlich dem Bild entnimmt. Selbst wenn es das Ziel des Autors bzw. des Kameramanns sein sollte: Das Filmbild verfügt über eine derart große Menge an Informationen, daß eine absolute Kontrolle unrealisierbar erscheint. Es beläßt immer einen - mehr oder weniger großen Spielraum. Das Filmbild ist lediglich ein "Wahrnehmungsangebot" 79 . Jedes Bild zeigt die Welt immer in einer bestimmten Weise, es legt einen bestimmten Gesichtspunkt fest. Mit dem Gesichtspunkt werden allerdings nicht bloß die räumlichen Koordinaten etabliert, sondern zugleich wird ein Bedeutungsfeld abgesteckt. Der filmtechnische Begriff der Einstellung beinhaltet auch den alltagssprachlichen Sinn, der als Beziehung oder Haltung zur Welt beschrieben werden kann. Baläzs: "Jede Anschauung der Welt enthält eine Weltanschauung. Darum bedeutet jede Einstellung der Kamera eine bestimmte innere Einstellung des Menschen." 80 Teil dieser Haltung zur Welt, die sich in der Einstellung manifestiert, ist auch, welcher Platz dem Zuschauer zugewiesen wird; das Spektrum reicht von der Position des neutralen Außenseiters bis zu einer Position, die mit der eines der Schauspieler zusammenfällt. Die Einstellung dient außerdem der Gliederung von Zeit und Raum. Weitere, die Wirkung des Einzelbildes bzw. einer Folge von Einzelbildern beeinflussende Faktoren sind die Einstellungsgröße und die Einstellungsdauer. Die Länge einer Einstellung richtet sich in erster Linie nach dem zu vermittelnden Informationsgehalt und wird bestimmt von der Komplexität des Bildes, von Bewegungsabläufen, der Textlänge etc. Eine Verlängerung der Einstellungsdauer darüber hinaus kann die Aufmerksamkeit auf Details richten. Auch der Rhythmus des Films ist davon betroffen. Sogar 'Langeweile' kann Funktion haben, kleine Veränderungen erhalten dann mehr Gewicht. Die Einstellungsgröße bezieht sich auf die Nähe bzw. Ferne der Kamera zu ihrem Objekt. 81 Beim Film wird die Einstellungsgröße meist auf die menschliche Figur bezogen, ohne daß allerdings verbindliche Definitionen vorliegen würden. 82 Die - auch unterschiedlich differenzierte - Bandbreite reicht von 'Weit' bzw. 'Total' (der Mensch und große Teile seiner Umge-

78 79

80 81

82

Epstein, Jean zit. und übers, in Morin. Der Mensch und das Kino. 226. Begriff geprägt von Kurt Weber. Was von diesem Angebot wahrgenommen wird, ist auch Resultat der individuellen Lebensgeschichte des Rezipienten. Baläzs. Der Geis: des Films. 31. Lotman weist darauf hin, daß dieser Faktor auch in der literarischen Erzählweise zum Tragen kommt. "Die Nah- und Ferneinstellung existiert jedoch nicht nur im Film. Sie ist auch in der literarischen Erzählweise deutlich spürbar, wenn dort Erscheinungen unterschiedlicher Qualität der gleiche Raum oder die gleiche Aufmerksamkeiteingeräumt wird." Lotman. Struktur literarischer Texte. 370. Die im Rahmen dieser Arbeit zur Anwendung kommenden Einstellungsgrößen sind im Anhang beschrieben.

31

bung werden gezeigt) bis zum 'Detail' (ein Ausschnitt wie ein Auge ist bildfüllend); sinngemäß gilt diese Abstufung auch für andere Motive. Die Einstellungsgröße ist ein wichtiges Mittel, um die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu steuern. Die verschiedenen Einstellungsgrößen favorisieren dabei die Übermittlung bestimmter Artikulationsebenen; bezogen auf die menschliche Figur beispielsweise, dient die totale Einstellungsgröße dem Erfassen von Bewegungen im Raum, der Bereich 'Amerikanisch'-'Nah' für die gestische Ebene, und noch nähere für die Mimik der Person. Die Wahl der Einstellungsgrößen ist also zunächst funktionsbedingt, sie kann darüber hinaus auch anderen, strategischen (z.B. informationsbegrenzenden) Gesichtspunkten folgen. Besondere Beachtung fanden schon früh Großaufnahmen - insbesondere das Motiv des Gesichts, riesig groß auf der Leinwand, faszinierte, schien es doch die Seele zu enthüllen. Die Großaufnahme bringt es an den Tag, meinte Baläzs: "Nicht wie man dreinschaut, sondern wie man aussieht, entscheidet hier. Denn jeder sieht so aus, wie er ist."83 In der Großaufnahme scheint sich etwas Spezifisches des Filmmediums zu offenbaren, etwas, das ihn von anderen visuellen Künsten unterscheidet: Die Fixierung der Distanz des Zuschauers ist aufgehoben, der Gegenstand verliert seine räumliche Begrenztheit: "Das Bild, das nicht mehr raumgebunden ist, ist auch nicht zeitgebunden. In dieser eigenen, geistigen Dimension der Großaufnahme wird das Bild zum Begriff und kann sich wandeln wie der Gedanke."84 So veranlaßt gerade die Großaufnahme, ein anderes konstitutives Merkmal des Films zu erwähnen: den Rahmen, der das Gesichtsfeld begrenzt. Was die Bildkomposition angeht, spricht man von einer 'geschlossenen Form', wenn Motive und Bewegungen den Rahmen respektieren, von einer 'offenen Form', wenn sie ihn zu verlassen trachten. "Ein grundlegendes Element des Begriffs 'Einstellung' ist die Begrenzung des künstlerischen Raums."85 Die Einstellung ist begrenzt hinsichtlich der Abfolge (sukzessive Einbettung), der räumlichen Ausdehnung (Flächigkeit) und des Seitenumfangs (Ränder der Leinwand). Wieder stoßen wir auf den konstitutiven Faktor eines jeden künstlerischen Textes: die Trennung von dem Fluß der Ereignisse und die Konzentration durch Separierung bestimmter Elemente. "[...] bei der Transformation des unbegrenzten Raums in eine Bildeinstellung werden die Abbildungen zu Zeichen und können mehr bedeuten als das, dessen sichtbare Wiedergabe sie sind."86 Im Kino ist das Gesichtsfeld eine konstante Größe. Innerhalb dieses festgelegten Rechtecks, der Bildebene, entfalten sich die Geographie des Raumes und die Tiefenwahrnehmung. Hinter dem Bild steht eine verborgene Zeichnung, die durch Überschneidungen, Kongruenzen und Perspektiven, durch Größenrelationen und Proportionen räumliche Tiefe auf der Fläche der Leinwand suggeriert. Diese Faktoren stellen eine Attacke gegen die Begrenztheit des Raumes dar. Sie sind mit verantwortlich für das spannungsvolle Wechselverhältnis des Filmerlebnisses. "Das Bild steigt aus der Lein83 84 85 86

Baläzs. Der Geist des Films. 17. Ebd. 65. Lotman. Kinoästhelik. 41. Ebd. 49.

32

men, aber wir treten auch in das Bild ein." 87 Im 'Herausspringen' aus der Leinwand überschreitet der Film seine eigene Limitierung. Für Lotman ist dieses 'Herausspringen' ein prägnantes charakteristisches Merkmal des Filmmediums, denn "in keiner der bildenden Künste versuchen die Bilder, die den künstlerischen Raum füllen, so vehement, ihn zu durchbrechen, seine Grenzen zu überwinden, wie im Film" 88 . Ein weiteres Mittel im visuellen Bereich (vom Ton wird an dieser Stelle abgesehen), diese Grenze zu überschreiten, besteht in der senkrecht zur Leinwand angeordneten Handlungsachse, allgemeiner noch: in der Bewegung im Bild - sei sie durch das Objekt, durch Kameraoperationen oder durch eine Kombination beider Faktoren gegeben. Der Film zeigt nach Kracauer die "Welt in Bewegung" 8 9 , Peters sieht in der Bewegung von Menschen und Dingen das "wichtigste bildkompositorische Mitteilungsmittel des Films" 90 , und Morin nennt Bewegung "die entscheidende Wirklichkeitsmacht: in ihr und durch sie werden Zeit und Raum erst real" 91 . Durch Bewegung wird die Illusion der Räumlichkeit gefördert, Dinge erhalten ihre Körperlichkeit zurück, die sie in der erstarrten Fotografie verloren hatten. In der Bewegung verdeutlicht sich die Entzifferungsarbeit der Kamera, in ihrem Erforschen übernimmt sie Aktionen der menschlichen Wahrnehmungsarbeit. Wieder liegt der Vergleich mit dem Auge nahe, verfügt die Kamera doch über eine Beweglichkeit, die an das menschliche Sehorgan erinnert. Der Versuch aufzulisten, was die bewegte Kamera zu leisten vermag, muß zu einem nicht abschließbaren Katalog der Kameraoperationen führen. Vor allem aber gilt es festzuhalten, daß eine bestimmte Kameraoperation nur aus ihrem Umfeld heraus zu verstehen ist. Mit diesen Vorbehalten versehen, seien an dieser Stelle dennoch einige Beispiele für die Möglichkeiten der Kamera in Bewegung angedeutet. Sie vermag -

aus einem Komplex bestimmte Elemente zu selektieren, selektierte Elemente in einen größeren Zusammenhang zurückzuführen, die Blickrichtung aus 'eigenem Antrieb' (d.h. dem des Autors) zu verändern, - die Blickrichtung in der Verfolgung eines bestimmten Motivs zu verändern und es solchermaßen zum Gegenstand des besonderen Interesses zu erklären etc. In der Bewegung wird der Raum zu einer Kategorie der Zeit, denn Bewegung ist immer aktuell, stets gegenwärtig. Durch die Bewegung intensiviert das Filmbild sein erzählerisches Moment. "Der Faktor des Bewegtseins der filmischen Photographie macht diese zu einer Erzählfunktion [...]." 92

87 88 89 90 51 92

Bitomsky. "Einleitung". 47. Lotman. Kinoästhetik. 129. Kracauer. Theorie des Films. 216. Peters. "Struktur der Filmsprache". 177. Moria Der Mensch und das Kino. 133. Hamburger. Logik der Dichtung. 203.

33 2.4.2 Montage In ihrer allgemeinsten Bestimmung meint Montage die Verbindung von Elementen auf der simultanen und sukzessiven Achse. Montage betrifft sowohl den Faktor der Zeit wie den Faktor Raum. Montage ist der Oberbegriff sowohl für die Anordnung des Geschehens vor und für die Kamera in Relation zu den Aktionen der Kamera - die Mise en Scene 93 - als auch für die Anordnung der Elemente auf der chronologischen Ebene - die Korrelation Erzählzeit/erzählte Zeit. Montage bezieht sich sowohl auf Erscheinungen innerhalb eines jeden Augenblicks als auch auf solche, die aus der Abfolge von Augenblicken resultieren. Daraus folgt, daß bereits jede Einstellung Merkmale der Montage aufweist, ohne daß der Schnitt 94 notwendige Voraussetzung hierfür wäre. Bereits innerhalb des Einzelbildes stehen Elemente in komponierter Beziehung zueinander. Eine Folge von Einzelbildern zeigt zunächst die Entwicklung dieser Elemente - z.B. die Mikrodramatik des Gesichts. Verändert die Kamera ihre ursprüngliche Blickrichtung durch Schwenken, Neigen oder durch eine Fahrt, so verändert sich auch die Bildkomposition: Bestimmte Elemente verlassen das Sichtfeld, andere kommen hinzu, neue Schwerpunkte und Aufmerksamkeitszentren werden geschaffen. Für diese Form des In-BeziehungSetzens wurde der Begriff 'innere Montage' 95 geprägt. Die Verknüpfung von Einstellungen führt zur Kombination von (mehr oder weniger) heterogenen Elementen. Verbindende oder differenzierende Faktoren sind das Denotat bzw. der Modus. Nach Lotman lassen sich die Elemente auf zweifache Weise gleichsetzen: - Die beiden Elemente sind auf der semantischen Ebene identisch; dasselbe Denotat wird in verschiedenen Modi gezeigt. Bezogen auf die Fotografie bedeutet dies, daß das Objekt erhalten bleibt, andere Faktoren (wie Position, Perspektive, Lichtführung etc.) variieren. - Der Modus, in dem beide Elemente gezeigt werden, bleibt konstant, stattdessen verändern sich die Denotate. 96

93 94

95

96

In etwa zu übersetzen als In-Szene-setzen. Die Begriffe 'Montage' und 'Schnitt' werden oft synonym benutzt; auch die Berufsbezeichnung Cutter verweist auf den Handgriff, der zur Trennung des Filmmaterials ausgeführt wird. Durch den Ausdruck 'Schnitt' wird die Aufmerksamkeit allerdings lediglich auf das Zerlegen gerichtet, doch dabei handelt es sich nur um einen ersten Arbeitsschritt. Der Begriff 'Montage' dagegen ist umfassender und insoweit angemessener, als er auch das Zusammenfügen und damit die eigentliche Bedeutung dieser Phase des Textkonstituierungsprozesses anspricht. Filmgeschichtlich wird der Begriff der 'inneren Montage' vor allem in Verbindung gebracht mit CITIZEN KANE (CITIZEN KANE), Regie: Orson Welles, USA 1941. Welles hat dieses Mittel natürlich nicht 'erfunden', durch außergewöhnliche Kamerapositionen, Kameraoperationen und große Tiefenschärfe allerdings besonders intensiv genutzt. "Die Schaffung neuer Bedeutungen sowohl aufgrund der Montage zweier verschiedener Abbildungen auf der Leinwand als auch aufgrund des Wechsels verschiedener Zustände einer Abbildung ist keine statische Mitteilung, sondern ein dynamischer narrativer (erzählender) Text, der, mit Hilfe von Abbildungen, von optischen ikonischen Zeichen realisiert, das Wesen des Films ausmacht." Lotman. Kinoästhetik. 91.

34

Die M o n t a g e verlangt das Umschalten von einer Struktur auf eine andere, denn "eines der grundlegenden Strukturgesetze des künstlerischen T e x t e s ist seine Ungleichmäßigkeit - das Nebeneinander konstruktionsmäßig heterogener Elemente" 9 7 . Dabei belegt die Montage den Satz: ' D a s G a n z e ist m e h r als die S u m m e seiner Teile'. In der Kombination können E l e m e n t e B e d e u tungen erlangen, die ihnen als isolierten oder auch addierten Einheiten nicht z u k o m m e n w ü r d e n . Baläzs spricht dann von der 'produktiven M o n t a g e ' im G e g e n s a t z zur ' u n p r o d u k t i v e n ' , die lediglich ordnende Funktionen übern i m m t . "Produktiv wird die Montage, w e n n wir durch sie etwas erfahren, w a s in den Bildern selbst gar nicht gezeigt wird." 9 8 An diesem - mitunter überbetonten - Potential machten sich immer wieder ideologiekritisch m o t i vierte Ä u ß e r u n g e n fest, wie: "Die Montage suggeriert eher, als daß sie a n a lysiert." 9 9 B e v o r die die M o n t a g e kreierenden Faktoren R a u m und Zeit näher untersucht werden, m u ß noch darauf hingewiesen werden, daß M o n t a g e im Film m e h r ist als lediglich die Verbindung visueller Elemente. Durch d e n T o n trakt kann die M o n t a g e v o l l k o m m e n neue Dimensionen erlangen. Die Relation des T o n e s (also Sprache, Geräusche oder M u s i k ) z u m Bild k a n n nach K r a c a u e r 1 0 0 'aktuell' oder ' k o m m e n t i e r e n d ' sein. Den aktuellen T o n kennzeichnet, daß er 'logisch z u m Bild' gehört, also Resultat eines synchron erfolgten Registriervorganges ist. Der kommentierende T o n löst sich v o n dieser A n b i n d u n g , er nimmt aus der Distanz eine potentiell kontrapunktische, j e d e n f a l l s aber eigenständige Rolle ein. W a s die Sprache angeht, k o m m t hinzu, daß sie - neben der visuell v e r g e genwärtigten - eine eigene Dimension auch hinsichtlich des Zeitgerüsts der E r z ä h l u n g zu bilden vermag. Denn während der Sprechakt als solcher in die Sukzession eingebunden ist, kann sich der Inhalt der R e d e frei von dieser zeitlichen Achse bewegen. In der Reflexion wird die Vergangenheit verwertet, im ' W o l l e n ' Zukünftiges artikuliert. Im Gespräch als Ü b e r s c h n e i d u n g von R e d e und Gegenrede entwickelt sich eine Mehrdimensionalität dieser Zeitschichten. Der aus dem off k o m m e n d e Erzähler schließlich unterliegt nicht m e h r den Begrenzungen - z.B. hinsichtlich seines W i s s e n s s t a n d e s - der h a n d e l n d e n Personen. A u c h die M u s i k kann aus der Szene selbst erwachsen: dann ist die M u s i k quelle, sei es eine Person oder seien es Instrumente, im Bild sichtbar (on). Oder aber sie ist von der Szene losgelöst, die Musik hat hier keine Quelle im Bild, sie w u r d e nachträglich, aus dem off k o m m e n d , hinzugefügt. B e s o n d e r s in diesem Fall wirkt die Musik als "dritte Dimension des Bildschirms" 1 0 1 , die i m m e r auf Abstraktes bezogen bleibt und schon von daher in einem spannungsvollen Verhältnis zu den im Film gezeigten ' o b j e k t i v e n T a t b e s t ä n d e n ' steht. "Die Musik geht von der Seele aus; doch selbst w e n n sie deskriptiv ist, gelangt sie nicht zu den Dingen." 1 0 2 Die Musik mit ihrer k o n n o -

97 98 99 100 101 102

Lotman. Struktur literarischer Texte. 395. Baläzs. Der Geist des Films. 50. Mitta. Reflexionen zur Regie. 53. Kracauer. Theorie des Films. 158 ff. Morin. Der Mensch und das Kino. 149. Ebd. 212.

35

tativen Semantik fungiert als Ausdruck der "subjektiven Bewertung" 103 des Autors. Darüber hinaus vermag die Musik vermag Brücken zwischen Elementen zu schlagen, die bezüglich des von ihnen etablierten Raumes und der von ihnen gestalteten Zeit auseinanderdriften. Die Zeitgestaltung im narrativen Film wird von zwei zentralen Größen bestimmt: - dem Zeitablauf des Kinematographen und - der Auflösung und Neuanordnung von Zeitfragmenten im Hinblick auf die Erzählung. Der Kinematograph (die Kamera) registriert Zeitabläufe in 24 bzw. 25 Einzelbildern pro Sekunde. Bei der Projektion in derselben Geschwindigkeit auf der Leinwand werden diese Abläufe in eben der Zeit wiedergegeben, die sie ursprünglich beansprucht hatten. Bezogen auf eine ungeschnittene Bildfolge, die Einstellung, ist der Film das Erzählmedium, in dem erzählte Zeit und Erzählzeit identisch sind. 104 Auch in der Kombination von Einstellungen verfügt der Film über die Möglichkeit, diese Identität aufrechtzuerhalten. Unter Beibehaltung der linearen Chronologie, aber bei Aussparung von als nicht relevant erachteten Passagen, ergibt sich eine Verdichtung der Zeitstruktur. Aber auch komplexere Neuanordnungen der Zeitabläufe sind mit dem Film realisierbar. "Die Kraft, die auf den Film verwendet werden muß, damit er aus dem automatischen Registrator des Tempos der Realität in ein künstlerisches Modell der Zeit transformiert wird, empfindet der Zuschauer als künstlerische Energie, Spannung und Sättigung mit Bedeutungen." 105 Eine gewisse Orientierung hinsichtlich der Zeitgestaltung im Film erlauben nach wie vor die von Metz beschriebenen 'Großen Syntagmen des Films' 1 0 6 . Seine Typologie basiert auf einer Folge von Dichotomien, die ihn zu acht Arten von Syntagmen führen. Zunächst unterscheidet er zwischen autonomen Einstellungen - im wesentlichen eine durchgedrehte d.h. ungeschnittene Einstellung, die eine solche Komplexität bzw. einen solchen Umfang besitzt, daß sie das Gewicht einer Sequenz gewinnt - und denjenigen Syntagmen, die aus mehreren Einstellungen bestehen. Es sind Syntagmen im eigentlichen Sinne, nämlich autonome Segmente, die mehr als ein minimales Segment umfassen. Für die folgenden Typen bildet der Faktor Zeit das differenzierende Kriterium. Zunächst unterscheidet Metz die Gruppe der achronologischen von den chronologischen Syntagmen; während die zeitliche Dimension in der letzteren den Typ definiert, ist die zeitliche Zuordnung der Elemente in der ersteren offen und unbestimmt. Innerhalb der achronologischen Syntagmen bildet Metz die Haupttypen 'paralleles Syntagma' - Wechsel zwischen zwei oder mehreren Motiven, ohne daß ein klares zeitliches oder auch räumliches Verhältnis konstituiert würde - und 'Syntagma der umfassenden Klammerung' - Verbindung von Elementen im Hinblick auf einen übergeordneten 103 104

105 106

Pudowkin, Wsewolod zit. und übers, in Morin. Der Mensch und das Kino. 115. Von kameratechnischen Mitteln, die den Zeitablauf durch verringerte Bildzahl pro Sekunde raffen bzw. durch vergößerte Bildzahl dehnen, wird an dieser Stelle abgesehen, da sie im Spielfilm nur nebensächliche Bedeutung haben. Lotman. Kinoästhetik. 121. Metz. Semiologie des Films. 165 ff.

36

Begriff, ohne daß ein raumzeitlicher Zusammenhang geschaffen wird und ohne daß ein Alternieren vorliegt. In der Gruppe der chronologischen Syntagmen wird zunächst der Typ des 'deskriptiven Syntagmas' von dem des 'narrativen Syntagmas' geschieden. Bei dem 'deskriptiven Syntagma' besteht zwischen den Elementen, die sukzessiv aufeinanderfolgen, ein simultanes Verhältnis, sie ereignen sich gleichzeitig. Der von Metz etwas unglücklich als 'narratives Syntagma' bezeichnete Typ ist dadurch gekennzeichnet, daß die Ereignisse nicht nur durch Simultaneität, sondern auch durch Konsekution verknüpft sind. Kriterium für die nächste Dichotomie ist, ob das Syntagma eine oder mehrere Abfolgen zusammenfaßt. Die Mischung mehrerer ergibt den Typ des 'alternierten Syntagmas', die Verbindungen lediglich einer Abfolge gehören zur Gruppe der 'linearen narrativen Syntagmen'. Im Alternieren bildet der Film eine spezifische Raum-Zeit-Beziehung. 107 Bei einer - dem Theater vergleichbaren - 'Szene' erfolgt die filmische Schilderung ohne Zeitsprünge. Erzählzeit und erzählte Zeit stimmen überein. Dieser kontinuierlichen Zeitfolge stehen die diskontinuierlichen der 'gewöhnlichen Sequenz' und der 'Sequenz durch Episoden' gegenüber. Die 'gewöhnliche Sequenz' basiert auf Entscheidungen, die im Hinblick auf die Bedeutung bestimmter Elemente für die Erzählung erfolgten: tote Zeit wird komprimiert. Die 'gewöhnliche Sequenz' und die 'Szene' bevorzugen den 'unsichtbaren Schnitt', d.h. ein Erkennen der Montage wird zu verhindern gesucht, dem Fluß der Erzählung wird Vorrang eingeräumt; Verbindungen zwischen Einstellungen werden hier oft durch Bewegungen oder Blickkontakte motiviert. Die 'Sequenz durch Episoden' dagegen faßt die Diskontinuität explizit als Prinzip der Organisation und Konstruktion auf. Die 'Großen Syntagmen' basieren auf einer Reihe von binären Entscheidungen: autonom oder nicht, chronologisch oder nicht, deskriptiv oder narrativ, linear oder nicht, kontinuierlich oder nicht, organisiert oder nicht. Metz' Typologie muß in mancherlei Hinsicht Widerspruch hervorrufen. So erscheint zweifelhaft, daß sie alle existierenden oder vorstellbaren Typen erfaßt. Einige der Typenbezeichnungen sind mißverständlich gewählt, kollidieren sie doch mit anders definierten produktionstechnischen Begriffen (Beispiel: 'Szene'). Die Größe der 'Großen Syntagmen' ist nicht klar definiert, und auch das Gewicht der einzelnen Typen wirkt unausgeglichen. Die Unterscheidung zwischen der Gruppe der narrativen und nicht-narrativen Syntagmen ist irreführend: Alle Syntagmen erfüllen Funktionen im Hinblick auf die Erzählung. Schließlich bleibt die von Metz selbst eingeräumte Einschränkung, nach der seine Typologie die akustischen Elemente nicht berücksichtigt, ein gewichtiges Manko. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Tontrakt - insbesondere durch die Sprache - eine völlig eigenständi107

"Erst das Erlebnis der Gleichzeitigkeit verschiedener, räumlich getrennter Vorgänge versetzt den Zuschauer in jenen schwebenden Zustand, der sich zwischen Raum und Zeit bewegt und die Kategorien beider Ordnungen für sich in Anspruch nimmt. Erst durch die gleichzeitige Nähe und Ferne der Dinge - ihre Nähe zueinander in der Zeit und ihre Ferne voneinander im Raum - konstituiert jene Zeit-Räumlichkeit, jene Zweidimensionalität der Zeit, die das eigentliche Medium des Films ist und die Grundkategorie seiner Gegenstandsbildung ist." Hauser. Sozialgeschichte der Kunst. 1011.

37

ge Zeitdimension bilden kann, die in der Lage ist, die visuell gebildeten Syntagmen zu 'unterlaufen'. Trotz dieser Einschränkungen scheint Metz' Syntagmatik geeignet, die Aufmerksamkeit auf die durch den Faktor Zeit gebildete Organisationsstruktur des Films zu lenken. Zu den ontologischen Eigenschaften der Zeit im Film gehört, daß der Film immer in der Gegenwart 'spricht'. In Rückblenden oder in Filmen, die gänzlich in der Vergangenheit bzw. in der Zukunft spielen, wird der Zuschauer zwar in eine andere Zeit versetzt, dort aber beginnt eine 'neue Gegenwart'. Mit der Formulierung "Vergangenheit und Gegenwart haben den gleichen Zeitkörper" 108 , beschreibt Morin dieses Phänomen. In der Wiedergabe von Vergangenheit und Zukunft stellen sich dem Film spezifische Probleme, die er mit anderen anschaulichen Kunstgattungen teilt; man kann, wie Lotman es ausdrückte, "die Zukunft auf einem Bild darstellen, aber man kann kein Bild in Futur malen" 109 . Ohne Berücksichtigung der Flexibilität, über die der Tontrakt des Films verfügt, läßt sich konstatieren, daß der Filmerzählung hinsichtlich der Zeitgestaltung und auch hinsichtlich der Darstellung des Konjunktivs und irrealer Modi engere Grenzen gezogen sind als dem sprachlichen Text. Wenn gesagt wurde, daß der Film in der Gegenwart 'spricht', bedarf diese Aussage der Präzisierung, denn: "Die Zeitform des Films ist nicht eigentlich die Gegenwart. Sie ist vergangene Gegenwart - vergegenwärtigte Vergangenheit." 110 Auch der erzählende Film birgt ein dokumentarisches Moment in sich, registriert und bewahrt er doch Erscheinungen seiner Zeit - und zwar in einer viel größeren Fülle, als es den Intentionen des Autors entsprochen haben mag. 111 Auch auf Gegenstände, vor allem aber auf die Menschen im Film ist die Aussage bezogen, daß Filmen bedeute, dem Tod bei der Arbeit zuzuschauen. Der Vollständigkeit halber sei noch angefügt, daß der Film in den Blenden über spezifische Mittel verfügt, Zeit zu gestalten. Mit der Aufblende beginnt ein neuer Zeitabschnitt, die Abblende bringt die Zeit zum Ausklingen, zum Stillstand, und die Überblendung signalisiert einen Zeitsprung, ja sie kann sogar für ein Verschmelzen der Zeiten sorgen. Eine Szene zu schaffen heißt, sowohl die Zeit als auch den Raum zu organisieren. Aus der Spannung zwischen der Gestaltung des Raumes, der Mise en Scene, und der Gestaltung der Zeit, der Montage im engeren Sinne, gewinnt die Filmästhetik ihre Energie. Beide Faktoren sind aufs engste miteinander verflochten: Die Montage bringt Ordnung in die Zeitabläufe, die Mise en Scene in die Raumgestaltung.

108 109 110 111

Morin. Der Mensch und das Kino. 70. Lotman. Kinoästhetik. 119. Morin. Der Mensch und das Kino. 70. Manch künstlerisch bedeutungsloser Film findet nach Jahren neue Aufmerksamkeit allein dank der Architektur, der Kostüme, der Autos etc., die er zeigt.

38

2.4.3 Point of View im Film Spielfilm ist ein erzählend dargebotener Text - und doch ist der Erzähler kaum zu 'fassen'. 112 Eine Ursache für diese Schwierigkeit besteht darin, daß die Position des Erzählers im Film - zumal wenn man sie mit der des Romanerzählers vergleicht - eher schwach ausgeprägt ist. Der Erzähler im Roman vermag den Informationsfluß kontrollierter zu steuern: Nur was er den Rezipienten hören und 'sehen' lassen will, wird dieser 'sehen' und hören können. Im Film dagegen ist eine so vollständige Beherrschung der Information durch den Erzähler nicht zu erreichen. Angesichts der Informationsfülle, die der Film bietet, bleibt der Freiraum des Rezipienten, bestimmte Elemente auszuwählen, größer. Auch hinsichtlich der Flexibilität der Rollen, die der Erzähler im Film einzunehmen vermag, sind ihm engere Grenzen gezogen. So sind Formen wie die Ich-Erzählung im Film ohne weiteres nicht zu realisieren. Auf Einschränkungen hinsichtlich der temporären Gestaltung wurde bereits hingewiesen. Die zweite wichtige Quelle für die Schwierigkeit, den Film-Erzähler auszumachen, liegt schlicht darin, daß - zumindest im Bereich des herkömmlichen Spielfilms - alle Mittel, die der Film einsetzt, eine erzählende Funktion übernehmen. Sie sind in den Dienst der Erzählung gestellt und vermeiden es zudem, die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken. Sie leugnen - wenn man so will - ihre Existenz, um umso wirkungsvoller zu funktionieren. Der Film-Erzähler bedient sich der abbildenden, sprachlichen und klanglichen (Musik, Geräusche) Erzählmittel, die er simultan und sukzessiv verschränkt. Er setzt alle Artikulationsweisen, die das Medium bietet, zur Gestaltung seiner Weltsicht ein, wobei je nach Thema, Genre, Stil etc. (auch innerhalb eines Films) wechselnde Prioritäten gesetzt werden können. Eines der wichtigsten Mittel des Erzählers, seine Rolle zu delegieren, besteht darin, sie auf eine oder mehrere Personen der Erzählung zu übertragen. In der Gestaltung einer Personenkonstellation und in deren Relation zu dem Kameraverhalten artikuliert sich der Blickpunkt des Erzählers. Es handelt sich um ein Wechselverhältnis, das nur in seiner gegenseitigen Bezugnahme verstanden werden kann. "Der Kamera werden durch den Helden Artikulationsweisen vorgeschrieben, und umgekehrt delegiert die Kamera ihre filmische Rede an den Helden als ein menschliches Medium. Auf diese Weise ist der Held mehr als eine Person der Erzählung - er wird zur Person des Erzählers, die Kamera im Rücken."113

112

113

Eine Ausnahme stellt hier allenfalls ein bestimmter Filmtyp dar, der bezeichnenderweise besonders in Literaturverfilmungen Verwendung findet: der Erzähler ist als Stimme aus dem off zu hören - seltener erscheint er auch visuell -, er spricht den Zuschauer direkt an, führt ihn in die Geschichte ein, faßt größere Zeiträume durch eine knappe Schilderung dessen, was 'inzwischen geschah', zusammen und eröffnet ihm Einblicke in das Seelenleben der Protagonisten, die anders kaum zu erlangen wären. Gottähnlich steht dieser Erzähler über den Ereignissen, die er aus exponierter Position vermittelt. Aber abgesehen von diesem Extrem, das - wohl weil der Erzähler sich primär des akustischen Trakts bedient - als 'unfilmisch' gilt, ist der Erzähler im Film schwer zu orten. Bitomsky. "Einleitung". 39.

39

Damit wird das Interesse auf ein weiteres, bislang noch nicht erläutertes spezifisches Mittel des Filmmediums gerichtet - den Point of View der Kamera. 114 Er etabliert eine Relation zwischen der Kameraachse und der Handlungsachse; Handlungsachse meint hierbei die zentrale Aktionslinie im Bild, die auch durch einen Blick gebildet werden kann. In einer einfachen Dialogsituation, die im folgenden als Beispiel geschildert werden soll, kann die Kamera auf einer Seite der Handlungsachse sieben eindeutig voneinander unterscheidbare Positionen einnehmen. Begibt sich die Kamera ohne vermittelnde Einstellung oder verbindende Bewegung über die Handlungsachse, entsteht ein 'Achsensprung', der gemeinhin als 'handwerklicher Fehler' gilt, verursacht er doch eine Störung der Raumorientierung des Zuschauers. Im Rahmen bestimmter Konzeptionen kann der Achsensprung aber auch zur bewußten Inritation des Betrachters eingesetzt werden.115 Achsenrelationen

Allein auf das Verhältnis Handlungsachse-Kameraachse und unter Vernachlässigung anderer Faktoren, die in der Lage wären, die folgenden Aussagen zu konterkarieren, läßt sich festhalten:

114

115

Dieser ist nicht zu verwechseln mit dem Point of View des plexer ist und alle Artikulationsmöglichkeiten des Films Der Point of View der Kamera prägt den Point of View des dend. Branigan hat in seinem Modell alle erdenklichen Positionen Kamera erläutert. Siehe Branigan. "Point-of-View Shot".

Erzählers, der viel kommiteinbezieht. Dennoch: Erzählers ganz entscheides Point of View der

40

Position 4:

Die Kameraachse steht senkrecht zur Handlungsachse; die Kamera hält zu beiden Personen denselben Abstand und nimmt insoweit eine neutrale Position ein. Die Kameraachse richtet sich auf eine Person, deren Blick Positionen 3, 5: (Handlungsachse) das Bild verläßt; die visuelle Information beruht lediglich auf dem, was diese Person vermittelt dazu gehören auch Reaktionen auf Handlungen und Äußerungen der nicht sichtbaren Person. Positionen 2, 6: Die Kameraachse hat sich der Handlungsachse angenähert, ohne jedoch mit ihr übereinzustimmen; das Gesicht der gegenüberliegenden Person wird fast frontal gezeigt, deren Mimik und Gestik werden bevorzugt erfaßt, allerdings ist die andere Person wieder ins Bild gerückt, sie wird 'angeschnitten' gezeigt; diese Position - sie wird auch als 'overshoulder' bezeichnet - erfaßt die Dialogsituation. Kameraachse und Blickachse sind identisch; die Kamera Positionen 1,7: hat die Position einer der beteiligten Personen eingenommen und zeigt folglich die gegenüberstehende frontal: Auge in Auge; diese Position wird als 'Subjektive' bezeichnet, da die Kamera den Blickpunkt einer Person einnimmt. Die letztgenannte Position fand schon früh besonderes Interesse, legt sie doch die Vermutung nahe, der Film könnte so eine subjektive Weltschilderung realisieren; Baläzs euphorisch: "Mein Blick und mit ihm mein Bewußtsein identifizieren sich mit den Personen des Films. Ich sehe das, was sie von ihrem Standpunkt aus sehen. Ich selber habe keinen."116 Truffaut scheint völlig anderer Meinung zu sein, wenn er feststellt, daß die subjektive Camera das Gegenteil des subjektiven Films sei117. Ein auflösbarer Widerspruch: Als in eine Einstellungsfolge eingebettete Position vermag die 'Subjektive' durchaus zu einer intensivierten Anteilnahme an der Position des Betrachters führen - allerdings bedarf es der anfänglichen und wiederholten Fixierung dieses Standpunktes von außen, erst dann wird der subjektive Standpunkt etabliert und stabilisiert.118 Gerade in der Gestaltung des Point of View der Kamera verfügt der FilmErzähler über einen Weg, seinem Standpunkt und seinem Blickwinkel Ausdruck zu verleihen. Er kann Elemente isolieren und damit herausheben oder sie in ihrem Umfeld belassen und in dieses einbetten, er kann Distanz wahren oder sich mitten ins Geschehen begeben - immer nimmt er den Rezipienten mit, zwingt ihn, seinen Blick zu teilen. Für die Gestaltung des Point of View gilt wie für alle im Film zur Anwendung gelangenden Mittel - seien sie nun spezifisch oder integriert -, daß 116 117 118

Baläzs. Der Geist des Films. 10. Truffaut. "Interview". 8. Als - gescheitertes - Beispiel, subjektive Weltsicht durch ausschließlichen Einsatz eines subjektiven Point of View der Kamera zu realisieren, gilt LADY IN THE LAKE (DAME IM SEE), Regie: Robert Montgomery, USA 1947. Der Film versucht, die Welt des Helden alleine aus dessen Perspektive zu schildern: wir sehen nur, was der Held sieht, und konsequenterweise sehen wir ihn selbst nicht bzw. nur sein Bild im Spiegel. "An experiment that failed because it was not really understood." Halliwell's Film Guide. 502.

41

sie im Dienst des konzeptionellen Rahmens der Autorenidee stehen und in diesem Kontext gewürdigt werden müssen. Die isolierte Betrachtung einzelner Faktoren ist mehr als problematisch - zumal wenn dann noch 'allgemeingültige' Schlußfolgerungen gezogen werden.

2.4.4 Schichtenmodell des narrativen Films Versuche, die vielfältigen den künstlerischen Text Film konstituierenden Faktoren in ein Modell zu überführen, sind schon mehrfach unternommen worden. Peters119 setzt auf der Ebene des Filmbildes an, wenn er unterscheidet hinsichtlich dessen: - materieller Schicht, die ein Licht- und Schattenmuster erzeugt, das starke Analogien mit den Strukturen der aufgenommenen Gegenstände aufweist; - Vorstellungsschicht, die dem Zuschauer ermöglicht, sich das im Filmbild Abgebildete vorzustellen; - Abbildungsschicht oder Bildperspektive, die sich auf den im Bild enthaltenen Blickpunkt der Kamera und die damit gebildete Relation des Zuschauers zum Motiv bezieht; - akustische Schicht, soweit sie nicht von im Bild sichtbaren Quellen ausgeht (Musik, Kommentarstimme etc.). Die von Lotman120 beschriebenen Stufen des Zerfalls bzw. der Organisation des Filmtextes greifen da schon weiter. Sein Modell zielt mehr auf die erzählerische Dimension ab und deutet eine Differenzierung hinsichtlich des Erzählerischen in einem allgemeinen kulturellen Sinn und der eigentlich kinematographischen Erzählweise an. Er unterscheidet vier Stadien: 1. Verbindung der selbständigen Einheiten (hier: Einstellungen); die Bedeutung muß noch nicht in jedem Element vorhanden sein, sondern kann auch erst aus der Kombination der Elemente resultieren. 2. Das elementare syntagmatische Ganze, welches in der natürlichen Sprache dem Satz entspricht. Es ist gekennzeichnet durch eine Organisation, die im Gegensatz zu einer kumulativen Kette begrenzt ist. Der kinematographische Satz ist "ein abgeschlossenes Syntagma, das durch die innere Einheit gekennzeichnet und nach beiden Seiten durch Strukturpausen abgegrenzt wird".121 3. Die Kette von Sätzen, die aus gleichberechtigten Elementen besteht und im Prinzip unbegrenzt angeordnet sein kann (entspricht insoweit der ersten Ebene). 4. Die Ebene des Sujets ist hingegen wieder als Satz organisiert (entsprechend der zweiten Ebene). Während die erste und dritte Ebene mehr 'Ausdrucksschichten' darstellen, beziehen sich die zweite und vierte Ebene eher auf 'inhaltliche Schichten'. Bezogen auf die Erzählweise, liegen die erste und dritte Schicht tendenziell im Kinematographischen (Montage-Ebene), die zweite und vierte im allge119 120 121

Peters. "Bild und Bedeutung". 56 ff. Lotman. Kinoästhetik. 109 ff. Ebd. 109.

42 mein Erzählerischen (Satz-Ebene). Lotmans Modell verfolgt eine hierarchische Gliederung, die strukturelle Gemeinsamkeiten der beteiligten Ebenen berücksichtigt. Schichtenmodell nach Lotman Montage Ebene

Einstellung

\7

SatzEbene

AusdrucksEbene

InhaltsEbene

Ebenfalls auf die Bildung hierarchischer Relationen zielen Ansätze ab, die schon durch die Verwendung von Begriffen wie Oberflächen- oder Tiefenstruktur räumlich gestaffelte Vorstellungen wecken. Wuss 1 2 2 unterscheidet zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur wie folgt: - Die Oberflächenstruktur ist evident, sie verfügt über ein Sujet und bevorzugt die 'geschlossene Form'. Die Oberflächenstruktur wird vom Rezipienten bewußt aufgenommen, da sie seiner Wahrnehmung und seinem Denken leicht zugänglich ist. - Die Tiefenstruktur kennzeichnet demgegenüber, daß die weniger evidenten Merkmale erst durch Wiederholung ihren invarianten Kern offenbaren. So konstituiert die Tiefenstruktur gerade bei sujetlosen Filmen den Fabelzusammenhang. Die Tiefenstruktur "organisiert das Möglichkeitsfeld, läßt Gesetzmäßigkeiten innerhalb von Wirkungsfaktoren erkennen, die bei der Rezeption dem Zuschauer fast unbewußt bleiben, aber eine Funktion innerhalb der Erkenntnis- und Kommunikationsprozesse haben" 1 2 3 . Oberflächen- und Tiefenstruktur sind demzufolge in jedem künstlerischen Text vorhanden, sie ergänzen einander. In Abhängigkeit von der Stärke des Sujets und der vom Text konstituierten Rezeptionssituation variiert das j e weilige Gewicht. Kanzog 1 2 4 bestimmt die Oberflächenstruktur als Diskurs-Ebene und die Tiefenstruktur als die Ebene der Geschichte des Werks. Erst die Analyse der konkreten Oberflächenstruktur eröffnet den Zugang zur Tiefenstruktur, die er

m 123 124

Wuss. Tiefenstruktur. 13 ff. Ebd. 35. Kanzog. Erzählstrukturen - Filmstrukluren. 7 ff.

43

versteht als eine "auf elementaren Bedeutungsstrukturen beruhende autonome strukturelle Schicht [...]" 125 . Auch Stierle 126 arbeitet mit den Begriffen Oberflächen- und Tiefenstruktur, differenziert sie allerdings weiter und bettet sie vor allem ein in den komplexen Vorgang der (literarischen) Textkonstituierung. Die vier zentralen Begriffe seines Modells sind: - Geschehen ist der als nicht sinnbestimmt gedachte Fluß der Ereignisse; - Geschichte meint den sinnbestimmten Unterschied zwischen Anfangsund Endpunkt der Zeitachse; - Diskurs bezieht sich zum einen auf die noch vorsprachliche Anordnung des Erzählzusammenhangs durch den Erzähler (Zeitgestaltung), z u m zweiten auf die sprachliche Artikulation selbst und zum dritten auf sekundäre Bedeutungen (Metaphern etc.); - Konzepte sind die in einen Begriff übersetzten, aus wiederholten Erfahrungen gewonnenen zeitenthobenen Anschauungen. Schichtenmodell nach Stierle

Konzepte

Geschehen

zeitenthoben

licht sinnbastinnt

Geschichte sinnbestiqnter Unterschied zwischen Anfangs- und Endpunkt auf der Zeitachse

Diskurs l.Zeit estaltung 2.Sprachl: che Gestaltung 3.Sekund Ire Bedeutung

S

Dieser Arbeit liegt ein Schichtenmodell des narrativen Films zugrunde, das bereits die Struktur für weite Teile des Kapitels 'Der Film als künstlerischer Text' vorgab und das auch als Folie für die Analysen der 'autothematischen Filme' dienen wird. Es greift einige der in den vorgestellten Modellen angelegten Gliederungen auf - vor allem Stierles Unterscheidungen der Ebenen des Textes verdankt es wichtige Anregungen. Das Schichtenmodell des narrativen Films verfolgt die Ziele:

125

Kanzog. Erzähbtrukturen - Filmstrukmren. 14.

126

Stierle. "Struktur narrativer Texte". 11 ff.

44 -

Es soll das Filmspezifische erfassen in Relation - zu dem allgemein Erzählerischen, - zu dem, was noch nicht Text geworden ist, sowie - zu dem, was nicht den Status des Künstlerischen besitzt. - Es soll der Dynamik der Textkonstituierung gerecht werden. 127 - Schließlich soll das Modell in eine graphische Darstellung überführbar sein, die der Visualisierung der Prozeduren dient. Das Schichtenmodell des narrativen Films stellt eine Zuordnung der wesentlichen Operationen dar, die zur Konstituierung des künstlerischen Textes Film führen. Aus der Vielzahl der Operationen wird, um eine gewisse Ubersichtlichkeit zu wahren, eine Auswahl der bedeutsamsten getroffen, diese wiederum sind 'gebündelt' auf vier Ebenen, die für bestimmte Sets von Entscheidungen stehen. Die Anordnung der Ebenen folgt einer fortschreitenden Differenzierung, ausgehend von Prozeduren eines jeden künstlerischen Textes und endend bei den spezifisch filmischen. In der Praxis muß das nicht bedeuten, daß die Genese eines Werkes unbedingt mit der ersten Stufe zu beginnen hat. Allerdings ist schließlich jeder narrative Film Resultat von (bewußt oder nicht) vollzogenen Entscheidungen, die in dem Schichtenmodell angesprochen sind. Basis eines jeden Kunstwerks ist demzufolge der Fluß ungeordneter Geschehnisse, den das Kunstwerk als 'Material' ebenso braucht, wie es ihn als Bezug benötigt, um ihm seine Ordnung entgegenzusetzen. Der Selektion aus diesen Geschehnissen im Hinblick auf die sinnstiftende Struktur des Kunstwerks folgt die Stufe der Organisation. Das Schichtenmodell unterscheidet innerhalb der Organisation zwei Stadien: Organisation 1 bezieht sich auf die Übernahme/Bildung von semantischen Feldern, die geprägt sind von Werten und Normen, die unüberschreitbare Grenzen postulieren und die dennoch in der Grenzverletzung und Grenzüberschreitung das Sujet bergen. Auf der Ebene der Organisation 1 hat der künstlerische Text weder Merkmale des Films noch Merkmale der Geschichte (z.B. Temporalität). Er ist in einem vorfilmischen und vornarrativen Stadium. Erst die Organisation 2 bringt die syntagmatische Anordnung und damit als zentrale Größen den Point of View des Erzählers, eine Personenkonstellation und die Organisation der Faktoren Zeit und Raum. Die Geschichte nimmt Gestalt an, aber sie hat noch keine Sprache 'gefunden'. Die Ebene der Präsentation ist die Schicht der medienspezifischen Darbietung. Im narrativen Film wird diese Schicht im Bildtrakt vom Point of View der Kamera, der Bildkomposition, kameraspezifischen Gestaltungsmitteln und anderen Faktoren gebildet, die in der Bildmontage zusammenfließen; im Tontrakt sind es Sprache, Musik und Geräusche, die in der Tonmontage vereint werden. Die Ton-Bild-Montage schließlich führt beide Trakte zusammen. Alle in diesem Modell angelegten Entscheidungsvorgänge werden von einer zentralen Kraft getragen und gesteuert: dem konzeptionellen Rahmen. Wie eine Klammer hält er die Stadien der Textkonstituierung zusammen. 127

Dies führt zu Konsequenzen bei der Wahl der Begriffe. Sie betonen das aktive Moment der Textkonstituierung: Selektion, Organisation und Präsentation.

45

Die für die Grafik gewählte Form der übereinandergelagerten Schichten schafft zum einen ein 'oben' und 'unten' - entsprechend Strukturierungen, die auf die Begriffe Oberflächen- und Tiefenstruktur Bezug nehmen; zum anderen soll diese Form der Visualisierung verdeutlichen, daß die einzelnen Schichten nicht in sich geschlossene Ebenen bilden, sondern die jeweils tieferliegende in sich bergen. So stecken z.B. in der Gestaltung einer Personenkonstellation die in den Zustand der Geschichte überführten Normensysteme, deren Grenzen und Verletzungen. Das Schichtenmodell ist doppelt lesbar. Wie beschrieben - von unten nach oben fortschreitend -, folgt es den Stadien der Textkonstituierung. In entgegengesetzter Richtung - von oben nach unten gelesen veranschaulicht es die Stufen der Filmrezeption: Über die medienspezifische Präsentation erschließt der Rezipient die syntagmatische Ordnung, und er zieht Folgerungen hinsichtlich der ihr zugrunde liegenden semantischen Felder. Unter Einbeziehung der Selektionsprozesse und im Lichte des konzeptionellen Rahmens schließlich gelangt der Rezipient zu einem Gesamtbild von dem künstlerischen Text als Artikulation des 'Weltentwurfs' seines Autors. Dieser Rezeptionsprozeß ist als antizipierte Größe Bestandteil der Textkonstituierung. Schichtenmodell des narrativen Films

KONZEPTIONELLER

RAHMEN

TON-ΒILD-MONTAGE TONMONTAGE _ ^ ^ K A M E R A S P E Z I F I SCHI G E S T A L T U N S M I T T E L .f GERfiUSCHE ^KOMPOSITION J MUSIK Γ P O I N T OF VIEW f SPRACHE DER KAMERA f TON

PRÄSENTATION MEDIENSFEZIFISCHE

DARBIETUNG

RAUM

ORGANISATION SVNTAGMATISCHE

2

ANORDNUNG

HERTE/'NORMEN

46 2.4.5 Spezifische Rezeptionssituation Wenn man sich mit dem Filmmedium befaßt, darf ein entscheidender Faktor, der den anderen Größen erst ihre Potenz verleiht, nicht unberücksichtigt bleiben: die besondere Rezeptionssituation, wie sie das Kino schafft. Merkwürdiges scheint dort dem Zuschauer zu widerfahren. Kracauer sieht sich an eine hypnotisierte Person erinnert, die sich in tranceartiger Versenkung befindet.128 Cohen-Seat spricht von innerlichem Taumel.129 Morin sieht den passiven, ohnmächtigen Zuschauer in einer verhältnismäßig regressiven Situation.130 Was, so muß man sich fragen, macht den Kinobesucher so 'anfällig'? Da ist zum einen die merkwürdige soziale Situation, in der er sich befindet: allein und doch zwischen vielen Menschen. Bedingungen, die offenbar die Suggestion fördern. Andere Faktoren kommen hinzu. Die Dunkelheit im Kinosaal eröffnet dem Zuschauer Freiräume, in denen die soziale und die Selbst-Kontrolle reduziert sind. Die besondere Rezeptionssituation des Textes Film erhöht die Bereitschaft, sich auf das Spiel, das der Film anbietet, einzulassen - ist es doch ein Spiel ohne Verpflichtung und ohne praktische Konsequenzen. Der psychische Zustand des Kinobesuchers ist gekennzeichnet durch eine eigenwillige Kombination aus Passivität und Aktivität. In dem Mangelzustand des Rezipienten liegt ein großes Aktivitätspotential verborgen, denn "wenn die Ventile der Tat verstopft sind, dann öffnen sich die Schleusen des Mythos, des Traums, der Magie"131. Unbeaufsichtigt und doch geborgen in der Gruppe bleibt all seine Kraft der Imagination vorbehalten. Im Sich-Einlassen auf den Film vollzieht er einen Prozeß, in dem er in eine fremde Welt eintaucht und sich dabei ein Stück weit verliert - um sich schließlich wiederzufinden, sich selbst zu begegnen. In dem Versuch, zu beschreiben, was der Film im Kino mit dem Besucher 'macht', werden immer wieder Parallelen zum Schlaf, zum Tag- oder Nachttraumerlebnis gezogen. Und es ist schon bezeichnend, daß ein Synonym für Hollywood der Begriff 'Traumfabrik' ist! Vergleicht man die Mittel des Filmes mit denen des Traumes, fallen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: Zeit wird zur flexiblen Größe, sie kann gedehnt, verkürzt und umgestellt werden; Gegenstände verlieren ihre natürliche Größe und materielle Existenz. Beide Faktoren folgen eher semantischen Notwendigkeiten denn tatsächlichen Gegebenheiten. Film und Traum verbindet die visuelle Kontinuität der Bilder, durch die ein gewisser 'Schwebezustand' erreicht wird. Epstein gelangt zu dem Fazit: "Die Ausdrucksformen, deren sich die Traumsprache bedient und die ihre tiefe Aufrichtigkeit ermöglichen, finden ihre Analogien im Stil des Films."132 Aber die Gemeinsamkeiten beschränken sich nicht auf eher formale Aspekte. So sieht Tedesco im Film geradezu das Medium zur Gestaltung dessen, was den Traum auch inhaltlich ausmacht: "Es hat den Anschein, als wären die beweglichen Bilder speziell zu dem 128 129 130 131 132

Kracauer. Theorie des Films. 226. Cohen-S&t. Film und Philosophie. 99. Morin. Der Mensch und das Kino. 109. Ebd. 111. Epstein, Jean zit. und übers, in Morin. Der Mensch und das Kino. 91.

47 Zweck erfunden worden, uns die Sichtbarmachung unserer Träume zu ermöglichen." 133 So scheinen es gerade die unter der Oberfläche liegenden Thematiken zu sein, die den Bildern des Films wie des Traums Botschaften von unseren Sehnsüchten und Ängsten verleihen. Wenn Morin allerdings behauptet: "Der Film ist nach dem Bilde unseres gesamten Seelenlebens aufgebaut" 134 , scheint es angebracht, auf die gravierenden Unterschiede zwischen dem Film und dem in Träumen Gestalt annehmenden 'Seelenleben' hinzuweisen. So sind im Film die Attribute des Traums mit der Präzision der Wirklichkeit ausgestattet. Und wenn der Traum eine geschlossene Vision darstellt, so ist der Film eine von der Welt bewirkte und ihr offenstehende, auf sie zurückwirkende offene Vision. Bliebe zu erwähnen, daß der Film im Unterschied zum Traum anderen, weitgehend bewußt vollzogenen Organisationen folgt. Jung äußerte sich zu dem, was den Traum von einer mit Bewußtsein erzählten Geschichte scheidet, folgendermaßen: "Im täglichen Leben überlegt man sich vorher, was man erzählen will, wählt die effektvollste Erzählweise und versucht, alles in einen logischen Zusammenhang zu bringen. [...] Aber Träume sind ganz anders angeordnet. Widersprüchlich und lächerlich erscheinende Bilder drängen sich dem Träumer auf, man verliert vollkommen den normalen Zeitsinn, und ganz gewöhnliche Dinge können einen faszinierenden oder auch bedrohlichen Aspekt bekommen." 135

2.4.6 Autorenschaft beim Film Die Untersuchung der spezifischen Strukturierungen des 'autothematischen Films' zielt darauf ab, die Autorenidee zu ermitteln. Mag in anderen Kunstgattungen die schlichte Frage, wer denn der Autor eines bestimmten Werkes sei, noch problemlos zu beantworten sein - bezogen auf den Film, bereitet schon diese Frage große Schwierigkeiten. Wer ist mit Autor gemeint: der Regisseur oder der Drehbuchautor (üblicherweise sind die Funktionen getrennt)? Ist es bei der Verfilmung einer literarischen Vorlage nicht eher deren Verfasser als die Person, die, als Drehbuchautor auftretend, den Stoff für den Film bearbeitete? Im Zuge der Filmanalysen wird dann, bezogen auf den Autor, von der Kameraarbeit, dem Schnitt, der Musik etc. die Rede sein. Aber sind die Kameraleute, Cutter, Komponisten u.a. zu vernachlässigende Individuen, die lediglich als ausführende Organe des Autors, des Regisseurs fungieren? 136 Und die Schauspieler - sind auch sie bloße Erfüllungsgehilfen? Eine Vielzahl von Personen ist an der Herstellung des Textes Film beteiligt - die nicht enden wollende Auflistung von Namen in den Credits zeugt davon. Der Regisseur mag sie alle instruiert und in den Dienst seiner Idee 133 134 135 136

Tddesco, Jean zit. und übers, in Morin. Der Mensch und das Kino. 12. Morin. Der Mensch und das Kino. 227. Jung. "Zugang zum Unbewußten". 39. Von einigen Hollywood-Regisseuren - z.B. John Ford - ist bekannt, daß sie den Film nach Abschluß der eigentlichen Dreharbeiten bis zur Premiere nicht mehr zu Gesicht bekamen. Wichtige Arbeitsschritte wie der Schnitt wurden ohne Überwachung Spezialisten überlassen.

48

gestellt haben - sie bleiben Mitschöpfer, deren Gewicht je nach Part, aber auch je nach cLn historisch zu bestimmenden Produktionsformen variiert. Panofski hat die kooperative Realisation eines Films mit dem Bau einer mittelalterlichen Kathedrale verglichen: "[...] the role of the producer corresponding [...] to that of the bishop or the archbishop; [...] that of director to that of the architect in chief; that of the scenario writers to that of the scholastic advisers establishing the iconographical programm [,..]."137 Die Rolle des Regisseurs bei dem Bau der Kathedrale Film ist filmhistorisch und auch regional sehr unterschiedlich zu bestimmen. In diesem Zusammenhang ist es sicher kein Zufall, daß die Regisseure der im Rahmen dieser Arbeit analysierten Filme sämtlich aus Europa stammen und dem Autorenfilm zugerechnet werden. Aber der Begriff Autorenfilm ist ebenso wie der damit einhergehende Begriff der Autorentheorie diffus. Die Begriffe - von den Autoren der 'Cahiers du Cinema' geprägt und in die Diskussion gebracht - basieren auf einer Einschätzung, die den Regisseur als Autor sieht und seine Arbeit entweder nach thematischen oder stilistischen Gesichtspunkten betrachtet. Mit der Aufwertung des Regisseurs als dem eigentlichen Schöpfer des Films war auch eine Trennung zwischen dem künstlerischen und dem sogenannten populären Film verbunden. Zunächst dachte man dabei an europäische Regisseure, denen man volle Kontrolle über ihre Arbeit unterstellte138, später erfuhren auch Hollywood-Regisseure 139 solche Anerkennung. Angesichts einer gewissen Inflation plötzlich entdeckter Autorenfilmer sah sich Wollen rückblickend zu der eher süffisanten Bemerkung veranlaßt: "It implies an operation of decipherment; it reveals authors where none had been seen before." 140 Zwar erfüllte die 'Autorentheorie' nicht die Ansprüche, die an eine Theorie zu stellen sind, sie initiierte aber methodische Ansätze, die auch in dieser Arbeit wiederzufinden sind. So verfolgte sie eine 'Entzifferungsarbeit', die letztlich strukturelle Merkmale - seien es modifiziert wiederkehrende Motive oder stilistische Charakteristika - im Visier hatte. Dennoch: die Autorentheorie und ihr Produkt, der Autorenfilm, sind in weiten Teilen weltanschauliche Bekenntnisse, sie sind Strategie und Politik. Der französische Ausdruck 'Politique des Auteurs' bringt dies deutlicher zum Ausdruck. Die 'Politique des Auteurs' nimmt den persönlichen Faktor in der künstlerischen Produktion als Bezugspunkt; sie geht davon aus, daß er sich von einem Film zum nächsten fortschreibt und weiterentwickelt. Aber Fragestellungen, wie sie Bitomski formuliert hat, bleiben. "Die Vorstellung, die in der Theorie vom Kino der Autoren steckt, ist irgendwie unwahrscheinlich; sie besagt nämlich, daß der Autor etwas zeigt und daß Abertausende von Zuschauern sehen, was er zu zeigen hat. Soviel kann einer so vielen gar nicht zu sagen haben - und um das Wenige zu sagen, muß er überdies eine große Industrie bewegen. Eher ist es umgekehrt denkbar, daß nämlich nicht die Industrie und die Zuschauer sich diesem Mann beugen, sondern daß der vorhandene Reichtum, der nur vermeintlich herangezogen wird, 137 138

139 140

Panofski. "Style and Medium". 29. So erscheinen in den in dieser Arbeit analysierten 'autothematischen Filmen' die Namen der Regisseure auch als Autoren bzw. Co-Autoren. Z.B. Howard Hawks und Nicholas Ray. Wollen. Signs and Meaning. 77.

49 um den Regisseur zu bedienen, sich eher des Autoren bedient, um sich selbst darzustellen." 141 Wenn also im folgenden Untersuchung der Autorenidee im Hinblick auf den verantwortlich zeichnenden Regisseur erfolgt, geschieht dies in Kenntnis der Tatsache, daß der Film ein kaum noch zu entwirrendes Resultat der schöpferischen Arbeit einer Reihe von Personen ist. Den Regisseur als Autor des künstlerischen Textes Film zu verstehen, ist insoweit eine methodische Vereinfachung.

2.5 Die Filmanalyse Dem Filmanalytiker ist das 'naive' Filmerlebnis verschlossen. Das, was den Kinobesuch ausmacht, die von der Ungewißheit der Entwicklung und des Ausgangs genährte Spannung, ist ihm, der den Film im Laufe der Zeit auswendig kennen dürfte, abhanden gekommen. Die sinnliche Dimension des Filmerlebnisses droht während der analytischen Arbeit verlorenzugehen. Das liegt zum Teil an den äußeren Bedingungen: Statt alleine und doch in Gesellschaft im dunklen Kinosaal vor einer - hoffentlich - großen Leinwand zu sitzen, in einem Ambiente also, welches das Traum-Moment des Films zu stimulieren vermag, befindet sich der Analytiker vor dem Schneidetisch oder dem Video-Equipment, um sich die Szene ' X ' zum wer-weiß-wievielten Male anzusehen. Die Möglichkeit, den Film anzuhalten, bestimmte Szenen zu wiederholen etc., verschafft ihm tiefere Einblicke, entfernt ihn zugleich aber auch von der üblichen Lektüre des Kinobesuchers, zu der auch gehört, daß er den Film im Normalfall nur einmal sieht - dafür ist der Film schließlich konzipiert. Während dieses einmaligen Sehens vollzieht der Zuschauer einen Lernprozeß; dieses Lernen entfaltet sich in der Zeit und ist frühestens mit dem Ende der letzten Einstellung abgeschlossen. Der Filmanalytiker hat dagegen immer den gesamten Text vor Augen bzw. im Kopf - dieses Wissen bildet sein Koordinatensystem, in das er Detail-Beobachtungen einbettet. Daß dieses System normalerweise erst allmählich wächst, daß die Filmrezeption nur als Prozeß adäquat zu verstehen ist, das muß sich der Analytiker immer wieder vergegenwärtigen, er muß sich selbst künstlich in einen 'unschuldigen Zustand' zurückversetzen. Auf der anderen Seite ist derjenige, der Filme wissenschaftlich untersucht, gezwungen (und sei es auch bloß vorläufig) zu isolieren und zu segmentieren, wohlwissend, daß "jegliche Beschreibung irgendeiner beliebigen Strukturebene unvermeidlich mit einem Verlust am semantischen Reichtum des Textes verbunden" 1 4 2 ist. Schließlich bliebe noch zu erwähnen, daß der Analytiker von Filmen - im Gegensatz z.B. zu einem Kollegen, der sich zu Literatur äußert - immer einen Wechsel der Sprache vollziehen muß, bedient er sich doch der Worte, um über ein audiovisuelles Werk zu informieren.

141 142

Bitomsky. "Einleitung". 44. Lotman. Struktur literarischer Texte. 425.

50

Das Dilemma des Filmanalytikers weist vielfältige Facetten auf - gemeinsam ist ihnen das Risiko der Verfälschung und der Verarmung hinsichtlich der sinnlichen Qualitäten. So ist Metz nur zuzustimmen, wenn er, Trost zusprechend, schreibt, der semiotische (und das gilt für jeden analytischen) Diskurs "trägt zu seinem Verlust bei in der Hoffnung, Wissen zu gewin-

2.5.1 Ziele der Filmanalyse Versteht man Film als im Hinblick auf Erzeugung von Sinn konzipierte, zeitlich organisierte Kombination von visuellen und akustischen Zeichen, dann besteht die Aufgabe der Filmanalyse in ihrer allgemeinsten Bestimmung zunächst in der "Rekonstruktion der Zeitstruktur, der narrativen Struktur und der Struktur der zeitlich organisierten Kombination"144. Das Ziel der Analyse liegt in der Aufdeckung der den Film bildenden Ordnungsprinzipien, Regeln und Strukturierungen als Funktionen im Hinblick auf den Rezipienten und als Ausdruck der Vermittlungsintention des Textschöpfers. Gefragt wird nach Elementen und ihren Beziehungen untereinander, die in eine organisierte Struktur des Untersuchungsgegenstandes einmünden. Die Ermittlung struktureller Grundgegebenheiten liefert eine möglichst exakte Basis für fundierte Aussagen hinsichtlich des Weltbildes und des Weltentwurfs des Autors. Die Analyse kreiert Modelle, die als Denk- und Vermittlungsinstrumente fungieren, um "mit den Begriffen vertrauter Dinge an nicht vertraute Dinge zu denken"145. Die das Modell bildende Struktur ist "in Wahrheit also nur ein simulacrum des Objekts, aber ein gezieltes, 'interessiertes' Simulacrum, da das imitierte Objekt etwas zum Vorschein bringt, was im natürlichen Objekt unsichtbar [...] blieb"146. Der Film stellt eine Kombination funktionell heterogener Elemente dar. Sie sind zu analysieren in ihren bedeutungstragenden, bedeutungsverändernden und bedeutungsbildenden Rollen - wobei zu untersuchen sein wird, inwieweit es sich dabei um allgemeine Merkmale des künstlerischen Textes, um Merkmale seiner narrativen Organisation oder um spezifisch filmische Merkmale handelt. Die im Filmwerk zur Anwendung gelangenden Mittel verschiedenster Herkunft werden kompositorisch verknüpft in der Absicht, Empfindungen und Gedanken beim Rezipienten zu initiieren und zu steuern. Die Rezeption des Zuschauers läuft unterschwellig, die des Wissenschaftlers ausdrücklich darauf hinaus, das Werk als sinnvolle Kreation eines Weltentwurfs seines Schöpfers zu begreifen. "[...] die Suche nach dem ursprünglichen Plan geht über eine Analyse der endgültigen Strukturen des künstlerischen Objekts als eines Dokuments für eine operative Intention, als Spur einer Intention."147

143 144 145 146 147

Metz. "Imaginery Signifier". 76. Zit. und übers, in Paech. "Semiotik". 112. Kanzog. Erzählstrukturen • Filmstrukturen. 13. Eco. Einführung in die Semiotik. 361. Barthes. "Strukturalistische Tätigkeit". 154. Eco. Das offene Kunstwerk. 10.

51

2.5.2 Voraussetzungen zur Filmanalyse Für eine exakte Filmanalyse ist ein detailliertes Filmprotokoll unerläßliche Voraussetzung; es ist - neben dem Film - auch unverzichtbar, um eine Überprüfung der Analyseergebnisse zu ermöglichen. Das Filmprotokoll basiert auf genauer Beobachtung, die Grundlage ist für eine Beschreibung, die sorgfältig zwischen denotativer und konnotativer Ebene zu unterscheiden hat und schließlich eine Darstellung anstrebt, die trotz der Fülle an Informationen eine möglichst große Übersichtlichkeit bewahrt. Die Erstellung eines Filmprotokolls ist sehr arbeitsaufwendig. Allerdings schärft die Arbeit am Protokoll die Beobachtung, aus der dann auch Impulse für die Analyse erwachsen. Das Protokoll liefert darüber hinaus die notwendigen Daten für quantitative Auswertungen. Für das Protokoll wurden Piktogramme ausgearbeitet, die auch in den Analysen Verwendung finden; sie informieren über: - Einstellungsgröße, - Kameraoperationen (Fahrten,. Schwenks, Neigungen, Brennweitenveränderungen), - Kameraneigungswinkel (Untersicht, Aufsicht) und - Blendenart. In dieser Arbeit dienen graphische Darstellungen zur Visualisierung von - narrativen Strukturierungen (Zeitstruktur, Raumstruktur, Infraierungsstruktur), - Beziehungsfeldern (persönliche, kulturelle, ökonomische Beziehungen), - komplexen Kamera- und Personenbewegungen (Point of View-Relationen, Raumpläne), - Montagefiguren, - Realisationsphasen des zur Diskussion stehenden 'Film'-Projekts. 148 Die in der Arbeit wiedergegebenen Fotografien sind alle direkt den Filmen entnommen.

2.5.3 Verfahren der Filmanalyse Von Lotman stammt das Bild, "daß unter allem, was Menschenhände geschaffen haben, der künstlerische Text in höchstem Maße jene Merkmale aufweist, die den Kybernetiker an der Struktur des lebenden Gewebes faszinieren" 149 . Ein Vergleich, der in besonderem Maße auf die Orchestersprache' Film zutrifft! So verlangt der komplexe Anspruch der Filmanalyse eine adäquate und das heißt: dynamische Betrachtungsweise, die zunächst zwischen zwei Blickpunkten wechseln wird. "Sie muß alle analysierten Einzelformen in Bezug zum Gesamtvorgang setzen und umgekehrt die Einstrahlung des Gesamtvorgangs auf die verschiedenen Glieder und Schichten des Werkes verfolgen." 150

148

149 150

Erläuterungen zu den graphischen Darstellungen und zu den Piktogrammen im Anhang (Grafiken). Lotman. Struktur literarischer Texte. 425. Lämmer! Bauformen des Erzählens. 246.

52

Die wechselseitige Erhellung ist auch Ziel eines Vorgehens, das Makround Mikro-Analyse verschränkt. Während erstere Strukturen des gesamten Films untersucht, sich dem Text also von einer 'totalen' Perspektive her nähert, geht letztere den umgekehrten Weg, indem sie von kleinen Teilen, von Binnenstrukturen, ausgeht. Spezifisches Merkmal des Films ist die integrative Verflechtung vielfältiger Artikulationsweisen, als künstlerischer Text spricht er "nicht mit einer Stimme, sondern als komplex polyphoner Chor" 151 . Untersucht man diesen Chor, müssen seine einzelnen Stimmen analysiert werden - wenngleich man sich der Vorläufigkeit dieses Ansinnens bewußt bleiben muß, denn ein Chor ist mehr als die Summe seiner Stimmen. Segmentierung von Fakten und Isolierungen von Ebenen sind dennoch als Zwischenschritte analytischer Arbeit unerläßlich. Im weiteren Verlauf der Analyse wird es allerdings notwendig sein, die atomisierten Partikel und abgetrennten Ebenen an einer Verselbständigung zu hindern - d.h., sie wieder in ein Integrationssystem, in den semantischen Zusammenhang einzubetten. Die Filmanalyse wird nicht alle Details erschöpfend behandeln können, sie muß problemorientiert vorgehen. Diese Forderung, die alleine auch eine gewisse Ökonomie in der analytischen Arbeit verspricht, ist nur zu berechtigt - im vorliegenden Fall ist sie allerdings nur begrenzt einzulösen. Scheint es doch gerade ein Wesensmerkmal 'autothematischer Filme' zu sein, die den künstlerischen Text Film bildenden und organisierenden Kräfte aufs engste zu verflechten. Ein so komplexer künstlerischer Text wie der Film läßt sich nicht mit einem einzigen Ansatz, mit einer Methode allein rekonstruieren. So gesehen könnte man meinen, wir seien heute noch nicht weiter als in jener Phase, von der Metz - mit dem Unterton des Bedauerns - schrieb, daß sie einen "vorläufigen aber notwendigen Methodenpluralismus" 152 verlange. In diesem Bedauern drückt sich eine historisch vielleicht verständliche, letztlich aber doch fragwürdige Sehnsucht nach einer 'reinen Lehre' aus, der es in ihrem omnipotenten Anspruch gelingen möge, eine 'runde' Theorie zu formulieren, die aber spätestens an die von ihr im gleichen Zuge errichteten Grenzen stößt, wenn es gilt, konkrete Filme befriedigend zu analysieren. So ist heute zu konstatieren, daß bestimmte, lang diskutierte Fragestellungen - wie z.B. die nach der kleinsten Einheit des Films - für die Analyse von Filmen folgenlos geblieben sind. Betrachtet man diese Diskussion, so drängt sich eher die Vermutung auf, daß sich die 'heimatlose' Filmwissenschaft als "Projektionsfläche für bestimmte Techniken" 1 5 3 und wissenschaftliche Trends geradezu anbietet. Hat man sich doch der mühevollen Aufgabe unterzogen, die Theorie am konkreten Produkt auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen, dann wird der Verdacht genährt, daß ein 'geeigneter' Film zur Analyse ausgewählt wurde. Todorov sieht das Dilemma und entschließt sich zur Flucht nach vorn: "Es wäre genauer und ehrlicher, wenn man sagte, daß das Ziel des wissenschaft-

151

Lotman. Kinoästhetik. 105. Metz. Sprache und Film. 22. 153 Seeßlen. "Kategorien der Filmanalyse". 7. 152

53 liehen Werkes nicht die bessere Kenntnis seines Objekts, sondern die Vervollkommnung der wissenschaftlichen Rede ist." 1 5 4 Das Ziel dieser Arbeit besteht in der Vervollkommnung des Verständnisses der analysierten Filme, des narrativen Films überhaupt. Alles, was zur Vertiefung dieses Verstehens dienen kann, muß Eingang in die Analyse finden bzw. finden können. Entsprechend dem theoretischen Rahmen, der vom Kunstwerk als sinnstiftendem Modell von Welt ausgeht und zum Film als medienspezifischer Präsentation der Organisation dieses Modells führt, handelt es sich um Ansätze, die sich mit dem Charakter des Kunstwerkes als solchem (unabhängig von der Organisations- und Präsentationsweise) befassen, sowie um Theorien, die sich auf die Strukturierung der Erzählung (unabhängig von der Präsentation) beziehen, und schließlich um Filmtheorien im eigentlichen Sinne. Neben dieser programmatischen Offenheit verfolgt das hier vorgeschlagene Analyseverfahren ein zweites zentrales Interesse: die integrative Verbindung der einzelnen Analysefelder zu einem strukturellen Ganzen. Struktur, das ist zunächst einmal eine Hilfskonstruktion zum Verstehen und Veranschaulichen des Films. Der Begriff soll darüber hinaus deutlich machen, daß Film nicht bloß als Aneinanderreihung von Fakten und Faktoren gesehen werden kann, sondern aus einem dynamischen, sich gegenseitig erhellenden Gittergeflecht besteht. Die übereinandergelagerten Strukturen gehorchen verschiedensten Logiken narrativen und handlungslogischen, temporären und atemporalen, immanenten und 'übergreifenden' etc. Sie bilden eine bewegliche Hierarchie von Strukturdominanten. Das Strukturmodell des narrativen Films bildet den Rahmen, innerhalb dessen die einzelnen Analyseschritte erfolgen. Den Analysen ist gemeinsam, daß sie die Erzählung untersuchen hinsichtlich der Aspekte: - Umriß und Anordnung der Geschichte, - zentrale Konflikte, - Rolle des Erzählers, - Verknüpfungen, - Personenkonstellation, - Zeitstruktur, - Raumstruktur, - Infraierungsstruktur. Der Begriff 'Infraierung', von Metz 1 5 5 in die Filmanalyse eingeführt, ist der Wappenkunde entliehen. 'Infraierung' meint ursprünglich, daß sich in einem Wappen ein zweites Wappen befindet, das das erste in kleinerer Größe reproduziert. Auf den Film übertragen, handelt es sich um solche Filme, die einen zweiten 'Film' in sich bergen. 156 Die Analyse der filmischen Präsentation befaßt sich mit der: - Bildgestaltung (Einstellung, Point of View der Kamera, Kameraoperationen, Bildkomposition, Lichtgestaltung, kameraspezifische Gestaltungsmittel), - Tongestaltung (Sprache, Geräusche, Musik) 154 155 156

Todorov. "Poetik". 175. Metz. "Infraierungskonstruktion von β 1 / / · 290. Dieser zweite 'Film' wird in dieser Arbeit in Anführungszeichen 'Kamera' = das Gerät, mit dem der 'Film' aufgenommen wird etc.).

gesetzt

(ebenso

54 - Montage. Die semantischen Felder lassen sich charakterisieren durch die Begriffe: Arbeit, Liebe und Tod. Durch die Bezugnahme auf diese zentralen abendländischen Themen soll die Vergleichbarkeit der Untersuchungsergebnisse gewährleistet werden. Was die Quelle des dynamischen Zusammenhangs angeht, setzt jeder Film eigene Prioritäten: - die ökonomischen Bedingungen in DER STAND DER DINGE, - der kulturelle Kontext in LE MEPRIS und - der psychische Prozeß in 87 2 . Bei der Analyse wird davon ausgegangen, daß Form und Inhalt keine Antipoden sind, sie verschmelzen in der Struktur zu einer Einheit. "Die Opposition von Inhaltsebene und Ausdrucksebene wird relativiert und so ein Schema hierarchisch abgestufter Artikulationsebenen gewonnen, das es erlaubt, Modelle für Strukturen sehr unterschiedlicher Komplexität zu entwickeln." 157 Die Modelle, Hilfsmittel zur Informationsgewinnung, wachsen und verändern sich im Laufe der Auseinandersetzung, sie sind Vorausentwürfe und Nachbildungen. Ein weiteres Hilfsmittel, das in den folgenden Analysen zur Anwendung gelangen wird, sind quantitative Auswertungen, z.B. hinsichtlich des Einsatzes bestimmter Einstellungsgrößen und Kameraoperationen oder des quantitativen Raumes, den bestimmte Schauplätze und Zeitabschnitte beanspruchen. Diese quantitativen Teile der Analyse sind nicht als Tribut an einen 'wissenschaftlichen Anspruch' zu verstehen; sie haben lediglich dienende Funktion, können sie doch die Aufmerksamkeit des Analytikers auf bestimmte Faktoren lenken, ohne daß damit allerdings schon etwas über ihr 'Gewicht' ausgesagt wäre. Immerhin zählt der Film zu jenen Texten, in denen eine Aussage - ein Bild oder ein Satz - den gesamten Rest in ein anderes Licht setzen, ja umstülpen kann! Nach den Filmanalysen, die Prinzipien und Vorgehensweisen folgen, welche für jeden narrativen Film Geltung beanspruchen, werden anschließend die spezifischen Merkmale der 'autothematischen Filme' untersucht. Die Filme werden als Reflexion des Selbst betrachtet im Hinblick auf - die Stellung im (Euvre und - den autobiographischen Charakter sowie - auf die Funktion der schöpferischen Arbeit zur Gewinnung von Identitätsbalance. Anschließend wird zu untersuchen sein, was die 'autothematischen Filme' auszusagen vermögen hinsichtlich des Status des Regisseurs, - seines Konflikts mit dem Produzenten und - seiner Kontaktsuche zu der Filmtradition. Dann wird ermittelt, ob die 'autothematischen Filme' eine besondere Rezeptionsbeziehung schaffen und worin gegebenenfalls das Spezifische dieser Beziehung besteht; dazu werden untersucht, - das Verhältnis Schauspieler-Rolle und - die Rezeption als Prozeß. Dem Rezipienten gilt der Film, und ihm gilt auch die Analyse, will sie doch nicht mehr und nicht weniger, als zu ergründen, was der Film mit dem Rezi157

Stierle. "Semiotik als Kulturwissenschaft". 104.

55 pienten 'macht' - oder auch, was der Rezipient mit dem Film 'macht'. Das Artefakt, das materielle Werk, ändert sich im Laufe der Zeit nicht, es bleibt ein semantisch offener und interpretabler Vorstellungsstimulus für den Zuschauer. Der Rezipient ist aktiver Mitschöpfer, der Film entsteht letztlich in seinem Kopf. Der Rezipient bringt in diesen Prozeß vielfältige Faktoren ein - biographische, kulturelle, gesellschaftliche. Schließlich gibt es so viele Lektüren wie Rezipienten. Allerdings sind einer Filmanalyse wie der vorliegenden hier Grenzen gesetzt - sie kann solche Differenzierungen nicht leisten und muß von einem 'idealen' Rezipienten ausgehen. Gerade eine Rezeptionsvorgabe, wie sie ein 'autothematischer Film' liefert, sollte für den Zuschauer eine große Herausforderung darstellen und dem Analytiker eine besondere Chance bieten - können sie hier doch Funktionsweisen des Films erleben und untersuchen, die zwischen kreativen und reflektierenden Tätigkeiten einen neuen Zusammenhang herstellen. Damit ist schließlich die Frage aufgeworfen, inwieweit die 'autothematischen Filme' einen Beitrag zu einer Theorie des Films zu leisten vermögen.

3. DER STAND DER DINGE von Wim Wenders

3.1 Die Erzählung In dem Film DER STAND DER DINGE wird nicht nur über Bedingungen, Aufgaben und Ziele des Geschichtenerzählens reflektiert - der Film ist zugleich 'Anschauungsmaterial' dieser Reflexion. Blumenberg gelangt zu dem Fazit: "Der Film erzählt nicht eine Geschichte, sondern viele Geschichten." 1 Wetzel sieht sich bei dieser Erzählweise an jemand erinnert, "der zwar zielstrebig genug ist, sich in einen Zug zu setzen, weil er ein bestimmtes Ziel auf einem bestimmten Weg erreichen will, der sich aber Muße und die Freiheit bewahren will, immer mal wieder auszusteigen und Blumen zu pflücken" 2 . Und von Wenders selbst stammt die Aussage: "Da gibt es keine Story, sondern die Geschichte als Zustand." 3 Drei Versuche, die Erzählstruktur von DER STAND DER DINGE zu beschreiben, die sich nur auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen, denn der Film erzählt viele Geschichten, die sich zu einer Geschichte fügen; er schreitet voran, um zu verweilen; er hält inne, um seine Zustandsbeschreibung abzuschließen. Und er behauptet zugleich: 'Stories only exist in stories (whereas life goes by without the need to turn into stories)'. (E168) 4

3.1.1 Umriß und Anordnung der Geschichte DER STAND DER DINGE besteht zumindest aus zwei, bei näherem Betrachten sogar aus drei klar voneinander zu scheidenden Teilen. Der Film wird eröffnet durch einen längeren, in sich geschlossen Komplex: den 'Film' SURVIVORS. Der Zuschauer (ohne Vorinformation) sieht sich mit einem Geschehen konfrontiert, dessen Fortgang zu erleben von ihm erwartet werden muß: Wird es den letzten Menschen gelingen, den tödlichen Gefahren, die eine Katastrophe über die Welt brachte, zu entrinnen - zu überleben? Aber anstatt hierauf eine Antwort zu erfahren, wird ihm bald offenbart, daß er gerade Zeuge eines von Menschen gestalteten Produkts war, daß er 'nur' einen 'Film'-Ausschnitt' sah. Seiner Illusion beraubt, muß er sich in einem neuen Scenario zurechtfinden, das sich nunmehr als 'Wirklichkeit' präsentiert: Der zweite Teil des Films DER STAND DER DINGE beginnt. Das Filmteam dreht eine letzte Einstellung, dann ist das Filmmaterial verbraucht. Die zermürbende Zeit des Wartens beginnt. Schon nach einigen wenigen Tagen sind die Spannungen auf dem Siedepunkt. Der Regisseur be-

1 2 3 4

Blumenberg. "Odysseus auf Umwegen". Wetzel. "Der Stand der Dinge". 37. Wenders in Bühler. "Alice in den Städten". 131. Ε = Einstellung

57

schließt zu klären, warum der amerikanische Produzent sie im fernen Portugal im Stich läßt; er reist nach Hollywood. Im dritten Teil des Films versucht der Regisseur dieses Rätsel zu lösen, und das bedeutet, den Produzenten, der sich aus dem Staub gemacht hat, aufzuspüren. Schließlich findet er ihn, muß sich Erklärungen anhören, die nur den Schluß zulassen, daß SURVIVORS nie zu Ende gedreht werden wird. Während sie sich verabschieden, werden sie von Kugeln tödlich getroffen. Die Killer rasen im Auto davon - bleibt zu vermuten, daß die sich betrogen fühlenden Geldgeber den Mordauftrag erteilten. Die Dreiteilung: 'Film' - Drehort - Hollywood verbleibt nicht auf der räumlichen oder thematischen Ebene. Sie betrifft auch die Erzählstruktur und die filmische Gestaltung von DER STAND DER DINGE. So ist der SURVIVORS-Teil nicht nur ein Remake eines Filmes aus den 50er Jahren er ist in Erzählweise und filmischer Präsentation zugleich eine Widmung an das 'alte Hollywood': Der 'Film' folgt einer eindeutigen räumlichen und zeitlichen Achse. Der mittlere Teil erinnert an den europäischen Autorenfilm: viele kleine, simultane Bewegungen statt eines geradlinigen Voranschreitens, statt Sukzession eher Verweilen. Im Schlußabschnitt wiederum wird auf Konventionen des traditionellen Erzählkinos zurückgegriffen: Er zeigt eine doppelte Verfolgung - Friedrich verfolgt Gordon, die Killer verfolgen Friedrich und Gordon. DER STAND DER DINGE schildert eine Umbruchsituation und bedient sich dabei einer Erzählweise voller Brüche.

3.1.2 Zentrale Konflikte Im ersten Abschnitt des Films DER STAND DER DINGE, dem 'Film' SURVIVORS, versucht eine kleine Gruppe Überlebender den tödlichen Gefahren nach einer atomaren Katastrophe zu entkommen. Zunächst gilt es, die Küste zu erreichen, damit scheinen die Überlebenschancen zu wachsen. Das Ziel der Flucht jedoch bleibt ebenso unklar wie die Hintergründe der Katastrophe. Mit dem Erreichen der Küste endet der 'Film'-Ausschnitt SURVIVORS. Nach dem Abbruch des Science-Fiction-Films und dem Wechsel zu den Dreharbeiten an diesem Projekt werden neue und anders geartete Konfliktfelder geschaffen. Mangels Filmmaterials muß eine Zwangspause einlegt werden. Vergebens wird versucht, den Produzenten (Gordon) im fernen Hollywood zu erreichen. Spekulationen machen sich breit: ...eine einzige Panne, ein Klischee wie's im Buche steht. (E257) Gordon ist dabei, uns zu verschaukeln. (E100) Eine einzige Bescheißerei, dieses Geschäft. (El 16) In dieser auferlegten Zeit des Wartens kommen nicht nur Verunsicherungen auf, die das Projekt oder die eigene berufliche Zukunft betreffen - nun ist auch Zeit und Raum für zwischenmenschliche Begegnungen und Auseinandersetzungen. Die Gruppe zerfällt in Individuen. Man begegnet einander eher kühl und distanziert, zu wirklicher Kommunikation ist kaum jemand fähig. Der Regisseur Friedrich Munro wird darüber hinaus mit der Tatsache konfrontiert, daß sein noch zu drehender Film im Computer bereits 'fertig' ab-

58 gespeichert ist. In seinem Selbstbild verunsichert, beschließt er, nach Amerika zu fliegen, um einerseits zu klären, warum sie kein Filmmaterial mehr erhalten, andererseits um herauszufinden, welche Rolle ihm eigentlich bei dem Projekt zugedacht ist. In den USA erhält er zunächst von seinem Kameramann den Rat, einen neuen Traum zu träumen (E425). Dennoch sucht der Regisseur weiter nach seinem Produzenten - und wird bald selbst verfolgt von Leuten, die hoffen, über ihn an den flüchtigen Gordon zu gelangen. Friedrich glaubt, seine Verfolger abgeschüttelt zu haben. Schließlich findet er den Produzenten, erfährt von Auseinandersetzungen zwischen diesem und den Geldgebern, die sich angesichts der Muster, die sie zu sehen bekamen, betrogen fühlen. Er sieht seine künstlerischen Intentionen - sich als Autor/Regisseur einzubringen - an den ökonomischen Bedingungen - mit Film Geld zu verdienen - scheitern. Während sie sich verabschieden, werden beide von Kugeln tödlich getroffen. Der Konflikt, in dem sie sich wähnten, lautete nicht: Inwieweit kann ich mich mit Filmen selbst verwirklichen? Es ging vielmehr darum, ob man mit solchen Utopien in dieser Branche überhaupt überleben kann. Auf anderer Ebene wird so die Überlebens-Frage wieder aufgegriffen, die SURVIVORS zu Beginn aufwarf. Die Redewendung 'Der Stand der Dinge' zielt ab auf eine Zwischenbilanz, eine Zustandsbeschreibung - auch bezogen auf einen Kranken oder Sterbenden. DER STAND DER DINGE thematisiert die Krise einer künstlerischen Existenz und das Siechtum der Filmkultur.

3.1.3 Rolle des Erzählers Der Erzähler als fiktive Größe, die den Ablauf der Erzählung organisiert, ist in DER STAND DER DINGE schwer auszumachen. 'Er' hält sich bedeckt agiert dennoch und zudem auf unterschiedliche Weisen. Mit dem SURVIVORS-Teil wird der Zuschauer ohne weitere Vorbereitung in eine ihm fremde Welt gestoßen. Ihm fehlt jedwedes Hintergrundwissen über Vergangenheit und Ziel der Protagonisten. Er teilt nicht nur deren Ungewißheit über die Zukunft, er hat darüber hinaus keinen Einblick in die vergangenen Ereignisse, die sie in ihre desolate Lage brachten. Kein Erzähler verhilft ihm zu mehr Klarheit, allenfalls Andeutungen (das Meer zu erreichen, kann die Rettung bedeuten etc.) bekommt er mit auf den Weg. So wird eine bewußt distanzlose Haltung zum Schicksal der Überlebenden geschaffen. Dies verändert sich schlagartig mit dem Ende von SURVIVORS. Plötzlich wird deutlich: alles, was bisher zu sehen war, beruhte bloß auf Illusionen - und jetzt folgt die 'Realität'. Der Eindruck, das, was am Drehort in Portugal passiert, sei 'wirklich', profitiert von diesem Kontrast. Ein Erzähler scheint nunmehr völlig zu fehlen. DER STAND DER DINGE gibt sich jetzt als quasi-dokumentarische Wiedergabe tatsächlich stattfindender Ereignisse aus. Statt zielgerichtetem Verhalten, das den Figuren in SURVIVORS die einzige Überlebenschance bot und das dem 'Film'-Ausschnitt eine ebenso streng organisierte Erzählweise auferlegte, herrscht nun Stagnation. Die Er-

59 zählung zerfasert, sie schildert vielfältige, nebeneinander stattfindende Ereignisse, deren Kombination keiner zwingenden Logik zu gehorchen scheint. Dem Stillstand der Dreharbeiten entspricht eine 'umherschweifende' Betrachtung und Schilderung der Ereignisse am Set: Wie werden die so zufällig miteinander konfrontierten Menschen mit dieser Wartesituation fertig? Hier scheint jeder Mensch, jedes Ereignis in dem Auge des Erzählers gleichwertig. Der Film realisiert insoweit das, was er von seinen Protagonisten theoretisch erörtern läßt: Hat das Leben einen Drang, sich zu Geschichten zu 'verdichten'? Oder existieren Geschichten ausschließlich in Geschichten? Während DER STAND DER DINGE in dieser Passage noch weitgehend von sich behauptet, selbst die Verneinung dieses Zwangs zum Geschichtenerzählen zu sein, wird doch gleichzeitig das Fundament für eine neue Geschichte errichtet - für eine Kinogeschichte par excellence. In der Zeit des Wartens macht sich die Erzählung keinen Blickwinkel eines der Protagonisten zu eigen. Sie favorisiert dennoch - der Hierarchie am Drehort folgend - immer mehr die Sicht des Regisseurs. Führt die Erzählung zunächst noch 'selbstherrlich' an Schauplätze, so engt sich diese Offenheit im Laufe der Zeit ein: Der Zuschauer nimmt vornehmlich an jenen Ereignissen teil, die dem Regisseur widerfahren. Er wird Zeuge von dessen existentieller Verunsicherung beim Betrachten 'seines' Films im Computer, erlebt seinen Traum (Baumstumpf, E207 ff.), teilt dessen 'innere Bilder' (Flugzeug, E389 ff.) - und er verläßt schließlich mit ihm den Drehort. Auch bei seinem Streifzug durch Hollywood folgt der Erzähler 'seinem' Helden, läßt uns sehen, was Friedrich sieht: So erhellen sich allmählich die dunklen Geschäfte, mit denen der SURVIVORS-'Film' finanziert werden sollte. So registriert er mit dem Regisseur, daß dieser verfolgt wird, und teilt dessen Erleichterung, als der glaubt, die Verfolger abgeschüttelt zu haben. Der Wissensstand des Zuschauers entspricht dem des Helden. An zwei - miteinander in Verbindung stehenden - Stellen allerdings ignoriert der Erzähler diese 'Spielregeln' eher nebenbei und doch entscheidend. Nachdem Friedrich Gordon ausfindig machen konnte, in dessen Wohnwagen stieg und mit ihm das Drive-In verließ, folgt die Kamera - das 'Auge' des Erzählers - nicht (wie es zu erwarten gewesen wäre) dem Wohnmobil, sondern 'verselbständigt' sich: Sie schwenkt auf Friedrichs Auto, das er auf dem Platz zurückläßt (E456). Dieses Auto ist den Verfolgern bekannt, es kann ihnen den Weg zu Gordon weisen. Dessen ist sich Friedrich nicht bewußt - der Zuschauer erhält ein 'mehr' an Information. Später (E499) wiederholt sich diese Prozedur: Wieder verläßt die Kamera den zurückkehrenden Wohnwagen, wieder schwenkt sie weiter auf Friedrichs Wagen. Wie sich zeigen wird, eine Bestätigung der Rolle, die Friedrichs Auto gespielt hat - es hat die Gangster auf Gordon und Friedrich aufmerksam gemacht. Ein tödlicher Fehler. Im Sterben des Helden vereinigt sich dann der Blick des Helden mit dem des Erzählers. Mit seinem Tod stirbt die Welt: Die Bewegung friert ein, das Bild verdunkelt sich. Der Film DER STAND DER DINGE verlangt von dem Zuschauer wiederholt, die Rolle des Erzählers neu zu fassen. Sieht er sich zunächst in eine entfernte, aber nicht undenkbare Science-Fiction-Welt versetzt, die konventionellen Mustern des traditionellen Hollywoodfilms folgt, wird von ihm abrupt eine Neuorientierung gefordert. Angesichts der 'Realität' der Drehar-

60

beiten sieht er sich rückwirkend als Opfer einer Illusion und ist schon wieder in Gefahr, einem Trugschluß aufzusitzen. Was sich jetzt als Realität gebärdet, ist auch erzählte und gestaltete Welt. Schließlich zollt auch DER STAND DER DINGE seinen Tribut gegenüber dem Verlangen, Geschichten zu erzählen und abzuschließen - einem Verlangen, das zu ignorieren er vorgab.

3.1.4 Verknüpfungen DER STAND DER DINGE bedient sich weitgehend fließender Übergänge. Erzählzeit und erzählte Zeit stimmen oft in längeren Abschnitten überein. Zur Raffung werden bei Szenen, die am Drehort spielen, mehrfach Außeneinstellungen des Hotels gezeigt (El 12, E123). Eher beiläufig, in der Konsequenz aber bedeutsam, erscheint die zuvor untersuchte Passage, in der sich der Wissensstand des Erzählers (und damit der des Zuschauers) von dem des Helden ablöst. Zwei weitere Verknüpfungen, durch die Ebenen gewechselt werden, sollen nun analysiert werden. Die radikalste Zäsur stellt der Übergang von SURVIVORS zu dem nachfolgenden Geschehen, den Dreharbeiten dar. Knappe neun Minuten haben ausgereicht, den Zuschauer in eine andere Welt zu versetzen. Ein Vorgang, wie ihn viele Filme zu initiieren vermögen, der einem dennoch üblicherweise nicht bewußt wird. Bei DER STAND DER DINGE allerdings ist der Bruch der Illusion betont schroff gestaltet: Gerade noch hat man mit dem Kind den Blick zu den Möven am Himmel gerichtet (E51, Subjektive Julia), da wechselt der Ton (die Brandung ist plötzlich sehr laut zu hören), und die Arme, dann der Kopf eines bislang unbekannten Menschen (des Regisseurs Friedrich) kommen ins Bild. Eine Stimme fragt sachlich: Wie war's diesmal, Joe? (E52) Dieser Übergang wirkt wie ein Schock. Daß man anschließend noch die Demaskierung der SUVIVORS-Schauspieler und das Wegtragen von Teilen der Dekoration sieht, sind Nachwehen dieser Konfrontation mit der Tatsache, was der 'Film' mit uns gemacht hat bzw. was wir mit den bewegten Bildern gemacht haben. Dieser Verlust der Selbstverständlichkeit, der im Hinweis auf das 'Gemachtsein' dessen, was sich als wahr ausgab, steckt, verweist auf die dahinterstehende Instanz: den Erzähler zunächst, den Autor schließlich. Als weitere aus dem vom Film abgesteckten Rahmen fallende Verknüpfung soll die Verbindung der Schauplätze Portugal/USA näher betrachtet werden. Ein Flugzeug am nächtlichen Himmel (E386) und zwei Einstellungen, in denen Friedrich im Flugzeug zu sehen ist, bereiten eine Folge von Einstellungen vor, die menschenleere Szenerien in Portugal zeigen; anschließend ist Friedrich bereits in Amerika (E393). Erwähnenswert ist hier nicht allein, daß nach vorangegangener breiter Schilderung der Wartezeit nunmehr stark gerafft wird, sondern daß sich der Film hier erstmalig und einmalig die 'inneren Bilder' einer Person (Friedrichs) zu eigen macht. Er nähert sich dadurch nicht nur mehr als zuvor einem Protagonisten. Er ermöglicht uns, an seiner 'Sicht der Dinge' teilzuhaben: Friedrich läßt noch einmal die Schauplätze vor seinem inneren Augen Revue passieren - aber ohne daß darin eine 'Menschenseele' zu sehen ist.

61

3.1.5 Personenkonstellation Zentrale Figur von DER STAND DER DINGE ist der Regisseur Friedrich Wilhelm Munro. Er steht im Mittelpunkt beinahe aller persönlichen, ökonomischen und kulturellen Beziehungen, die der Film kreiert bzw. offenbart. Friedrichs Verhältnis zu weiteren Hauptfiguren des Films soll zunächst untersucht werden - zu dem Kameramann Joe, dem Drehbuchautor Dennis, dem Produzent Gordon, der Schauspielerin Anna und zu Kate, Script und Geliebte. Friedrich verbindet mit Joe ein fast väterliches Lehrer-Schüler-Verhältnis. Während Friedrich mit SURVIVORS gerade seinen zehnten Film dreht, ist Joe offensichtlich ein 'alter Hase' im Filmgeschäft. So weiht Joe den jungen Regisseur auch nicht ein, als sich das Filmmaterial dem Ende zuneigt. Erst als kein Rohfilm mehr vorhanden ist, informiert er Friedrich. Joe: Wenn ich dir das gestern oder vorgestern gesagt hätte, hätten wir überhaupt nichts mehr zustande bekommen... (E90) In Hollywood eingetroffen, sucht Friedrich Joe auf, um ihn nach Rat zu fragen: Was wird aus unserem Film? Joe: Hm. Schnee von gestern. Träume einen neuen Traum. Laß dir was einfallen. Friedrich: Ich hab' viele Träume. Alpträume. (E425) Während Friedrich noch der Illusion nachhängt, sich mit dem Filmen selbst verwirklichen zu können, hat Joe diese Vorstellung schon lange aufgegeben bzw. nie besessen. Er ist Profi, kennt die Gesetze - und die Gesetze sind die des Marktes. Dementsprechend äußert er sich über ihren Produzenten Gordon: Hat zuviel geborgt, da und dort und nicht nur aus sauberen Quellen. Hat keine Zukunft mehr, wenn du mich fragst. (E425) Joe und Friedrich teilen ihre Filmleidenschaft, der sie viel opfern - Joe hat sogar seine todkranke Frau in Los Angeles zurückgelassen, um in Portugal einen Film zu drehen! Auch Dennis bringt große Opfer, um das SURVIVORS-Projekt zu realisieren: Das Geld für die Dreharbeiten in Portugal stammt teilweise von ihm. Allerdings erfährt dies Friedrich (und der Zuschauer) erst sehr spät (E422). Lange Zeit besteht in Unkenntnis dieses Engagements zwischen beiden eine beinahe feindselige Spannung, jeder unterstellt dem anderen, den Film zu sabotieren. Sie sind nicht in der Lage, offen miteinander zu reden, statt dessen operiert jeder mit seiner Macht: Friedrich mit seinem Kenntnisvorsprung, indem er Dennis triumphierend Anweisungen gibt, wie ein Drehbuch zu schreiben sei (E78), Dennis durch seinen engen, für Friedrich lange undurchschaubaren Kontakt zu Gordon: er hat den Schlüssel zu Gordons Villa in Portugal und beherrscht den Computer, in dem die vorgegebenen Bilder von SURVIVORS gespeichert sind. Ohne die Hintergründe zu kennen sagt Friedrich: Wenn du's auch nicht wahrhaben willst, Dennis - wir sind im selben Boot. Dennis verzichtet darauf, ihn aufzuklären und flüchtet sich in einen Kalauer: Du bist vielleicht in einem Boot - ich bin an Land, ha... (E333) Auch das Verhältnis zu Gordon ist ein Streitpunkt zwischen ihnen; Dennis: Was hast du gegen Gordon? Friedrich: Gegen Gordon? Gordon und ich sind gute Freunde seit Jahren. (E313)

62 DER STAND DER DINGE: Ökonomische Beziehungen 5

KAREN

FRIEDRICH ROBERT JULIA

CHICO JOANS FREUND

Friedrich sieht in Gordon tatsächlich einen Freund; sie kennen sich schon länger und haben zuvor auch schon andere Projekte gemeinsam realisiert. Umso mehr muß Friedrich verunsichern, daß Gordon ihn und sein Team im Stich läßt. Während andere (Joe, Kate) schon lange begriffen haben, daß das Projekt nie zu Ende geführt werden wird, glaubt Friedrich beharrlich an den Film - und damit an Gordons Zusagen, an Gordons Aufrichtigkeit. So dient die Reise nach Amerika nicht nur der Klärung der finanziellen Engpässe, sondern auch der Versicherung einer Freundschaft. Gordon fiel es schwer, diese Zuneigung zu entwickeln: Nie im Leben hätte ich gedacht, daß ich mal mit einem Deutschen zusammenarbeite. Ich, ein Jude aus New York, New Jersey, und dieser deutsche Heini, den ich auf dem Sunset Boulevard aufgelesen habe. (E487) Das SURVIVORS-Projekt wird ihre letzte Zusammenarbeit sein. Im Wohnmobil besingen sie ihre Liebe zu Hollywood, zeigen einander ihre Zuneigung, und schließlich reicht ihre Männerfreundschaft bis in den Tod. 6

Grau unterlegt: Das Team am Drehort. Männerfreundschaften prägen die Personenkonstellationen in einer Reihe von Wenders'-Filmen. So schwingen bei Bruno und Robert in IM LAUF DER ZEIT, BRD 1976, bei Jonathan und Ripley in DER AMERIKANISCHE FREUND, BRD/Frankreich 1977, latent homosexuelle Züge mit. Man fühlt sich an Beziehungen erinnert, wie sie für das Western-Genre typisch sind: Eigentlich geht es um die Frauen, aber diese Sehnsucht scheint unerfüllbar, also verbündet man sich in der ungestillten Sehnsucht.

63 DER STAND DER DINGE: Persönliche Beziehungen7

Wenders' Männerfiguren sind unfähig, Kontakte zu Frauen bzw. zu ihren eigenen weiblichen Anteilen aufzunehmen. Anstatt sich innerlich zu bewegen, sind sie allenfalls in der Lage, räumliche Veränderung zu unternehmen. 8 Wenders: "Sometimes I think the emotion in my films comes only from the motion: it's not created by the characters..." 9 In den Bewegungen dokumentieren sich Suche und Ausweichen zugleich. Wenders zu seiner 'männlichen Perspektive': "Nicht aus Mißachtung für Frauen sind alle meine Männer Helden. Ich betrachte dies vielmehr als eine Form von Respekt für Frauen. Ich kann ihre Geschichten nicht erzählen." 10 Friedrichs Verhältnis zu Frauen ist distanziert und vermittelt. Anna bezeugt ihm zwar ihre Solidarität - Ich bin auf deiner Seite (E121) -, ihre gegenseitige Zuneigung findet aber allenfalls Ausdruck in einem Buch, das sie beide schätzen. Mit Kate verband Friedrich ehemals ein enges Verhältnis, was blieb, ist eine ratlose Retrospektive. Friedrich: Kate, Kate, Kate - wo ist unsere Liebe geblieben? Kate: Ich verstehe deine Geßhle nicht. Friedrich: Offen gestanden, ich hab' keine Gefühle. Das hat man mir immer vorgeworfen. Kate: Wer ist 'man'? Deine Mutter? Friedrich: Frauen überhaupt. (E363 f.) Angesichts des von Friedrich zelebrierten Kults vom gefühllosen Einzelgänger weiß Ka7

8

9 10

Grau unterlegt: Personen, zu denen Friedrich persönliche Beziehungen pflegt oder aufnimmt. Friedrich geht nach Los Angeles, Jonathan (DER AMERIKANISCHE FREUND) reist nach Paris, Bruno (IM LAUF DER ZEIT) fährt entlang der innerdeutschen Grenze und Wilhelm (FALSCHE BEWEGUNG, BRD 1975) durchquert die Bundesrepublik. Wenders in Dawson. Wenders. 14. Wenders in Filmverlag. Der Stand der Dinge. 14.

64

te ihre Interessen zu vertreten: Halt's Maul, ich brauch' deinen Körper! (E369) Aber körperliche Nähe ersetzt keine menschliche Berührung. Das wird auch in der zweiten sexuellen Beziehung des Films deutlich, der Affäre zwischen Anna und Mark. Ohne sich näher zu kennen, ereilt Anna ein Dejä-vu-Gefühl, sieht sie sich in einem Spiel ohne Perspektive. Die Personen scheinen ersetzbar, die Regeln übermächtig. DER STAND DER DINGE: Kulturelle Beziehungen11

Einen Gegenpol zu dieser pessimistischen Perspektive, die bei fast allen Protagonisten in der Zeit des Wartens (und das heißt: in der Zeit der Selbstkonfrontation) durchschlägt, bilden vielleicht Robert mit seiner Ironie 12 oder auch Gordon in seinem Galgenhumor13 - auf jeden Fall aber die Kinder Jane und Julia. Auch ihr Alltag ist geprägt von den Irritationen und der Orientierungslosigkeit der Erwachsenen, beide haben kein 'geordnetes Elternhaus'. Und dennoch strahlen sie Lebensfreude und Optimismus aus, bringen sie Leben in die stillstehende Welt der Erwachsenen.

3.1.6 Zeitstruktur DER STAND DER DINGE beginnt mit einer längeren geschlossenen Passage aus dem Science-Fiction-'Film' SURVIVORS. Ohne daß eine Jahreszahl 11

12 13

Grau unterlegt: Personen, deren kulturelles Umfeld vorwiegend aus den USA stammt. Vgl. seine Krankengeschichte: E245 ff. Vgl. seine skurrile Idee, die er während der Flucht entwickelt: die Fernsehserie Gordons fideler Wohnwagen. (E484).

65 genannt würde, ist klar: Der 'Film' spielt in der Zukunft. In der Schilderung dieser Vision überlagern sich verschiedene Zeitebenen: - die Kleidung (besonders die Brillen) der Protagonisten, auch die abstrakt wirkenden Landschaften, scheinen aus einer unbekannten fernen Welt zu kommen; - die Musik allerdings stammt aus der Entstehungszeit des 'Films', Anfang der 80er Jahre; - die Story wiederum weist Elemente apokalyptischer Visionen auf, wie sie in Filmen der 50er Jahre häufig auftraten14; auch die Verwendung von S/W-Film verweist auf diese Zeit. Mit dem Abbruch der Drehbeiten setzt eine neue Etappe in der Zeitstruktur ein: Die Zeit in Portugal und anschließend in den USA ist in der Gegenwart, der Entstehungzeit des Films, angesiedelt. Insgesamt erzählt der Film nun von Ereignissen, die in fünf Tagen stattfinden, wobei der 1. bis 3. Tag in Portugal, der 4. und 5. Tag in Amerika spielen. Breiten Raum nehmen besonders die ersten beiden Tage ein (9Ό5 Min. - 82'46 Min.). Große Abschnitte des Films spielen nachts. Die Ereignisse - ob am Tage oder in der Nacht - werden weitgehend ohne Zeitsprünge und ohne Umstellungen erzählt. In der Zeit des Wartens schildert der Film mehrfach parallel verlaufende Vorgänge. Rückgriffe und Vorausdeutung finden lediglich verbal statt. Wenders spricht von "Loyalität gegenüber Zeitabläufen"15, die zu bewahren ihm Ziel sei: "In Filmen gibt es Zeitabläufe, die zueinander passen müssen, und nicht Gedanken, die zueinander passen müssen."16 Er setzt darauf, daß die Chronologie sich 'im Lauf der Zeit' zu Geschichten verdichten wird. DER STAND DER DINGE: Zeitstruktur

2

3 4 5 6 7 θ 9 10 II 12 13 14 IS 16 17 1Θ 13 20 21 SS 23 24 25 •2.TAG | 43 44 4S 46 47 46 49

5 1 52 53 54 55 56 57 56 59 60 6 1 62 63 64 65 66 67 66 69 70 •4 . TrtG

S C S I1

IM na iii na na Der Zeitablauf in DER nem Zeitstillstand. Die Zeiteinteilung - die der hen die Menschen sich 14

15 16

CΓ L

4-EILO ΡΚΙΕΚΤ EIN

72 73 74 75

J

Φ

STAND DER DINGE gleicht in weiten Passagen eiursprüngliche, für die Tage in Portugal vorgesehene Dreharbeiten - ist außer Kraft gesetzt, unerwartet semit freier Zeit konfrontiert, und das in einer Umge-

SURVIVORS ist geplant als Remake von THE MOST DANGEROUS MAN ALIVE, Regie: Allan Dwan, USA 1958. Wenders in Blum. "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter". 74. Ebd.

66

bung, die wenig bietet, um die Zeit zu nutzen oder totzuschlagen! Anna notiert in ihr Tagebuch: Eigenartiges Zeitgefiihl. Hier in Lissabon - anstatt zu fragen, wie spät es ist, frage ich, welches Jahr haben wir? (E289) Im Warten eröffnen sich Augenblicke der Besinnung - die Zeit wird zum Thema. Zum Abschluß der Ereignisse in Portugal und überleitend zu denen in Amerika verläßt der Film zum ersten und einzigen Mal17 die strikte Sukzession: Friedrich sitzt im Flugzeug (E387 f.), anschließend sind in einer Folge von vier Einstellungen menschenleere Ansichten des Hotels in Portugal zu sehen (E389 - E392), dann ist Friedrich bereits in den USA. Der Rückblick erfüllt verschiedene Funktionen: Er schließt die Ereignisse in Portugal ab und schafft eine Zäsur, er wirft ein Schlaglicht auf Friedrichs Sicht der Dinge (keine Menschen) und bereitet einen neuen Abschnitt vor. Die Zeitstruktur des ersten Tages in den USA (der 4. Tag im Film) ist geprägt durch mehrere Einschnitte, die jeweils mit einem Schauplatzwechsel verbunden sind. Das Tempo ist in der Urbanen Umgebung beschleunigt - bis Friedrich Gordon trifft. Dann folgen lange kontinuierliche Abschnitte; obwohl räumlich unstet, im Wohnmobil die Stadt durchquerend, wird der Zeitrhythmus wieder ruhiger.18 Am Schluß, im Sterben der Helden, kommt die Zeit schließlich zum Stillstand - auch visuell: Das Bild friert ein.

3.1.7 Raumstruktur Der Film DER STAND DER DINGE spielt in drei Groß-Räumen: - der Landschaft von SURVIVORS, - in Portugal: dem Hotel an der Küste und der Stadt Lissabon, - in den USA: in Los Angeles und Umgebung. DER STAND DER DINGE: Raumstruktur19 tJSRSCH. Η Ort L2 IMMER P Ott Τ II Ε A |_hotk LOfCH CfrETCXXA ι Ii—π—π—ir TC Ϊ7 1Ö 14 53 Π 53 53 53 Ts KERSCH. HOTELZ [ Ν*ΚΪΓ~

-I tΈΙ•,Ζ.II-» IΟ DTΤ ELA ' 26 £7 2β

•3

34 35 i l

BT X

19 Individuation< darum auch als >Verselbstung< oder als >Selbstverwirklichung< übersetzen."3 Individuation stellt nicht das Ende der Persönlichkeitsentwicklung dar, sie ist eine Etappe auf dem Weg der Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung, die mit dem schmerzvollen Verlust von trügerischen Selbstbildern und Projektionen, die dem tatsächlichen Kontakt mit der Welt im Wege stehen, verbunden ist; "[...] bevor das Ego triumphieren kann, muß es seine Schatten bezwingen und assimilieren."4 Das Ziel dieser Entwicklung beschreibt Fellini als innere Befreiung: "I want to suggest to modern man a road of inner liberation, to accept and love life the way it is without idealizing it, without creating concepts about it, without projecting oneself into idealized images on a moral or ethical plane. I want to try to give back to man a virginial availability, his innocence as he had in childhood, but knowing this [...]."5 Die Lebensmitte ist der bevorzugte Lebensabschnitt der oft konfliktträchtigen Besinnung und Neuorientierung. Guidos Verhalten zeigt eine Reihe von Merkmalen der männlichen Menopause: Angst vor sexueller Impotenz und beruflichem Überfordertsein, Angst vor Krankheit, Alter und Tod. 1 2 3 4 5

Henderson. "Mythen". 112. Fromm. "Psychoanalyse und Zen-Buddhismus". 118. Jung. Analytische Psychologie. 191. Henderson. "Mythen". 121. Fellini in Levine. "Conversation with Fellini". 80.

173 8V2 beschreibt das Scheitern eines Lebenskonzeptes, das allmähliche Bewußtwerden von Lebenslügen und die Ansätze zu einer Öffnung sich selbst und der Umwelt gegenüber. Kernstück dieser eher intuitiven denn intellektuellen Reifung ist die Konfrontation mit der eigenen Kindheit und den Projektionen, die aus ihr erwuchsen. Was zunächst als Flucht vor der Realität erscheinen mag - die Regression in Kindheit und Adoleszenz - birgt den Schlüssel zur Heilung durch die Überwindung von Projektionsmechanismen. Projektionen führen zu falschen, d.h. verschobenen und idealisierten Bildern, die lebendige Beziehungen verhindern. "Der Erfolg der Projektionen ist eine Isolierung des Subjekts gegenüber der Umwelt, indem statt einer wirklichen Beziehung zu derselben nur eine illusionäre vorhanden ist. Die Projektionen verwandeln die Umwelt in das eigene, aber unbekannte Gesicht. Sie führen darum in letzter Linie zu einem autoerotischen oder autistischen Zustand, in dem man eine Welt träumt, deren Wirklichkeit aber unerreichbar bleibt."1 Allein das Bemühen, diese unbewußten Projektionen ins Bewußtsein zu heben, verspricht, nicht länger von ihnen beherrscht zu werden. Der Komplex von Verdrängungen, der in Guidos 'falschen Bildern' zum Ausdruck kommt, entspricht in weiten Teilen dem, was bei Jung Anima-Projektion genannt wird. Jungs Schülerin von Franz zu dieser femininen Komponente der männlichen Psyche: "Die Anima verkörpert alle weiblichen Seeleneigenschaften im Manne, Stimmungen Gefühle, Ahnungen, Empfänglichkeit für das Irrationale, persönliche Liebesfähigkeit, Natursinn und als Wichtigstes die Beziehung zum Unbewußten."2 Die Anima ist mehr als ein abstraktes Konstrukt: in Träumen, Phantasien und im Wachzustand in Form von Projektionen nimmt sie Gestalt an. Die Struktur von 81/2 folgt dem Prozeß der Bewußtwerdung der Anima-Projektionen, die sich auch hier der Vehikel Projektion, Phantasie und Traum bedienen. Fellini selbst nannte übrigens die Bücher Jungs eine "freudige Offenbarung, eine begeisternde, unverhoffte, einzigartige Bestätigung für etwas, das ich zum kleinen Teil schon vermutet hatte"3. Er sagt von Jung, er sei ein "Reisegefährte, ein älterer Bruder, ein Weiser, ein seherischer Gelehrter [...]"4. Für die Verwandtschaft Fellinis zu dem Denken Jungs bedarf es allerdings der Geständnisse des Regisseurs nicht: Der Film selbst enthält eine Vielzahl von direkten und indirekten Hinweisen. So handelt es sich bei dem Schlüsselwort 'Asanisimasa', das Guido in die Kindheit führt, um eine kindliche Verfremdung des Begriffes Anima. Auch die bereits erläuterte Verschiebung von Rollen zwischen Frauen aus Guidos Kosmos wird als Transformation innerhalb der Anima-Projektion erklärlich. Notwendigkeiten, die aus seinem Seelenleben resultieren, führen z.B. dazu, daß Luisa Aspekte des Mutterparts übernimmt: Sie ist für den Erwachsenen Guido die strafende Instanz, der er sich weder entziehen kann noch entziehen will. Er braucht sie in dieser Funktion, zu der Fromm ausführt: "Die Folge davon ist, daß die Anima in Form der Mutterimago auf die Frau übertragen wird mit dem Erfolg, daß der Mann, sobald er heiratet, kindisch, sentimental, anhängig und unter1 2 3 4

Jung.i4ion. 18. Franz, von. "Individuationsprozeß". 177. Fellini. Liebesgeschichte. 132. Ebd. 133.

174

würfig wird, oder im anderen Fall aufbegehrerisch, tyrannisch und empfindlich, immer aufs Prestige seiner superioren Männlichkeit bedacht."1 Die Rolle der Magie - in der Geschichte der Psychologie eng mit dem Namen Jung verknüpft - verdient in diesem Zusammenhang gewürdigt zu werden. Die Magie bzw. deren diesseitige Vertreter begleiten Guido; sie konfrontieren ihn mit der Wahrheit und bauen ihm Brücken, um in tiefere Schichten seiner Persönlichkeit zu gelangen. So gelingt es dem Zauberer Maurice mit Hilfe seiner Assistentin, dem Medium Maya2, das Wort 'Asanisimasa' ans Tageslicht zu fördern. Maurice begleitet Guido während seiner schwersten Stunden - der Pressekonferenz -, und Maurice wird in Guidos tiefster Verzweiflung zur Stelle sein, um das 'glückliche Finale' herbeizuführen. Eine weitere wichtige Figur, die über magische Fähigkeiten verfügt, ist Rosella. Sie fungiert nicht nur als Mittlerin zwischen Luisa und Guido, sie stellt auch den Kontakt zur weiblich-magischen Welt her, und sie hat die Kraft und Autorität, den Finger auf Guidos Wunden zu legen: Offen gesagt, ich glaube, das einzige Heilmittel wäre, wenn du versuchen würdest, dich zu ändern. (E467) Ein Rat, den Guido zu diesem Zeitpunkt noch scharf zurückweist, obwohl er bereits zu ahnen scheint, daß sie recht behalten wird. Rosella spielt auch im Harem eine eigentümliche Rolle. Hier, am Ort von Guidos Kindheit (Bauemhaus), der jetzt zum Schauplatz seiner OmnipotenzPhantasien geworden ist, zieht sie sich in die Rolle des Beobachters zurück: Ich möchte nur sehen, wie du dich da rausziehst. Jetzt hast du ja den Harem, den du dir insgeheim gewünscht hast, alter Pascha! (E521) Rosella weiß, daß Guido ein Fiasko bevorsteht, denn in seinem Männlichkeitswahn haben Frauen nur als Prostituierte (im weitesten Sinne), als Ersatz-Mütter oder als Kombination von beidem einen Platz. Diese Funktionalisierung des Weiblichen führt dazu, daß die Frauen seines Lebens ihn nie verlassen können und daß er zugleich nie eine wirklich menschliche Beziehung zu ihnen aufbauen kann. Sie existieren für ihn nicht als tatsächliche Lebewesen, sondern als Projektionsfläche nicht integrierter Anteile seiner eigenen Persönlichkeit. Eine andere zentrale Frauengestalt fehlt in seiner Harem-Riege: Claudia. Während die Harem-Phantasie regressiv in die Vergangenheit gerichtet ist, gilt ihm Claudia als zukünftige Utopie - von Guido wenig kaschiert beschrieben als halb Kind, halb Frau, wie eine junge Göttin. Sie wäre natürlich seine Rettung... (E671) Aber Claudia, die ihm zuvor als Phantasie-Figur immer wieder die Flucht aus der bedrohlichen Wirklichkeit ermöglichte, weist seine Avancen zurück. Guido gibt vor zu begreifen, daß es nicht möglich ist, daß eine Frau einen Mann ändern kann. (E687 f.) Aber genau das war lange Zeit seine größte und einzige Hoffnung! Das Scheitern der Projektion: Claudia kündigt sich übrigens gleich zu Beginn von &l/2 an. Es ist Claudias Manager, der ihn in seinem Alptraum mit Hilfe des Seils aus den luftigen Höhen in die Niederungen, auf den Boden der Tatsachen zurückholt (E15 f.). Im Finale erscheinen alle Figuren aus dem Film - aus Guidos Welt - wieder: nur Rosella und Claudia verlassen die Szenerie sogleich. Ihr Weg ist ein 1 2

Jung. Analytische Psychologie. 217. Dies ist auch der Name von Buddhas Mutter.

175

anderer, denn ihre Rollen als Hebamme und dienstbare Fluchtvision sind ausgespielt, sie haben sich erübrigt. Dem Schluß des Films kommt für seine Botschaft eine herausragende Bedeutung zu - läßt er doch Aufschluß darüber erwarten, inwieweit der Prozeß, den Guido durchlief, zu einem Abschluß gekommen ist. Zunächst gilt es festzuhalten, daß der Film mehrere Enden aufweist bzw. andeutet:1 - Nachdem die reale Claudia Guidos Hoffnungen zerstört hat, gelangt er zu dem resignierten Fazit: Es ist aus, es wird nie einen Film mehr geben von mir. Die ganze Geschichte könnte hier enden. (E691 f.) - Von Journalisten bedrängt, von Freunden im Stich gelassen, begeht Guido während der Pressekonferenz 'Selbstmord' (E736). - Der Abbruch der Dreharbeiten und damit das Eingeständnis seines Scheiterns bringt ihn dank der Unterstützung des Magiers Maurice zum Leben zurück - seine "verzauberte Tafelrunde"2 findet sich ein (E748 f.). - Guido wird zum Organisator des Finales; er ergreift das Megaphon und agiert als Regisseur, indem er die Personen seines Lebens dirigiert: er ist wieder Gestalter des Geschehens, Lenker seines Schicksals (E769). - Guido reicht seiner Frau die Hände und reiht sich mit ihr in den Kreis der Tanzenden ein (E772). - Zurück bleibt schließlich das von den Menschen verlassene Zirkusrund "the idea of theatre"3. So führt der Film seine zentralen Handlungsstränge und Themen zu einem Ende: - Die Projektion der idealisierten Frau, die die Lösung aller Probleme zu sein schien, erweist sich als unrealistische Perspektive. - Die symbolische Selbsttötung schafft die Voraussetzung für einen Neuanfang. - Der einsame Held gewinnt wieder Kontakt zu seinen Mitmenschen. - Der Regisseur findet zu seiner schöpferischen Kraft zurück. - Die Versöhnung mit seiner Frau wird eingeleitet. - Die Zirkusarena verweist auf den Charakter der Kunst als spielerisches Welt-Modell. Eine Reihe von Kritikern äußerte die Meinung, daß das Ende von 8V2 allzu harmonisch geraten sei und besonders die Versöhnung zwischen Guido und Luisa in Anbetracht der vorausgegangenen Entfremdung wenig überzeugend wirke. Jedenfalls scheint Luisa ihre Zweifel nicht ganz abstreifen zu können. Aufschlußreich ist hier der folgende Dialog (E763 - E765): Guido ('on'): Aber ich hab' keine Angst mehr [...] die Wahrheit zu sagen über das, was ich nicht weiß, was ich noch suche, was ich noch nicht gefunden habe. Nur so kann ich leben, und dir - ohne mich zu schämen - in/ Guido (off): /die Augen schauen. Es ist eine Freude, zu leben. Ich kann dir nichts anderes sagen, we1

2 3

Metz nennt drei Enden: den symbolischen Selbstmord, die Tafelrunde und den Eintritt Guidos in den Kreis, wodurch er selbst zu einer Person von 8V2 wird und den Platz des Regisseurs räumt, diesen frei macht für Federico Fellini. "Infraierungskonstruktion in 8V2"· 295 f. Branigan nennt die nach dem Abgang der Clowns menschenleer zurückbleibende Arena als vierten Schluß - ein Sinnbild der Kunst. Point of View. 160. Metz. "Infraierungskonstruktion in 8V2"· 295. Branigan. Point of View. 160.

176

der dir noch den anderen. Nimm mich so wie ich bin, wenn du es kannst. Nur so können wir versuchen, einander zu finden. Luisa: Ich weiß nicht, ob das, was du sagst, richtig ist,/ Luisa (off): laber... wenn du mir hilfst, will ich es versuchen. Benderson kommt zu dem Fazit, daß nur neue Lügen die alten ersetzen.1 Auch McDonald nimmt an, daß alles beim Alten bleiben wird.2 Favazza kann nicht erkennen, daß Guido seine parasitäre Haltung überwunden hat3, und auch Perry bemängelt die fehlende Logik in Guidos Metamorphose: "Nothing attempts to explain logically the change, except for Guido's verbal rationalizations of what he has experienced. [...] It is an act of grace rather than of will."4 Rosenthal dagegen hält Guidos Individuationsprozeß für positiv abgeschlossen: "We have seen Guido move from narcissism to a state in which he has no self-esteem whatever. In this final sequence, he recognises that there is a middle ground where he can still have pride and confidence in himself while admitting his mutual dependence on others. [...] Guido, we take it, has successfully isolated his childhood experience and reconciled it with his immediate needs."5 Zur Beantwortung der strittigen Frage, inwieweit tatsächlich eine Reifung von Guidos Persönlichkeit erfolgt ist, soll die bereits zitierte Passage (E763 - E765) noch einmal betrachtet werden. Neben dem, was gesagt wird, ist auch aufschlußreich, wie die Information von Guido zu Luisa gelangt: Zunächst ist seine Stimme hörbar, während er im Bild ist, ohne daß sein Mund sich bewegen würde. Seine 'innere Stimme' geht dann ins Off über, die Kamera zeigt Luisa, die ihm dann im On antwortet. Das bedeutet, Luisa nimmt an seinen unausgesprochenen Gedanken Anteil, sie hat den Zugang zu seinem Innersten wieder gefunden. Das revueähnliche Finale enthält weitere Elemente, die auf einen tendenziell positiven Abschluß von Guidos Individuationsprozeß hindeuten. So mündet das Zusammentreffen von Guidos Mitmenschen in einen ekstatischen Tanz auf dem Zirkusrund. Das Tanzen ist Ausdruck von Lebensfreude und Kontakt - zumal, wenn es wie hier in Form eines von Menschen gebildeten Rings erfolgt. Der Kreis ist ein kulturenübergreifendes Symbol der Seele. "Wo das Motiv des Kreises auftaucht, in alten Sonnenkulturen oder in modernen religiösen Darstellungen, in Mythen oder Träumen, in Meditationsbildern oder im Grundriß moderner Städte: immer weist es auf einen Aspekt des Lebens hin - auf seine ursprüngliche Ganzheit."6 Nach dem Hereinbrechen der Nacht haben die Tanzenden die Arena verlassen, zurück bleibt allein der weiß gekleidete, Flöte spielende Junge, der das Kind Guido verkörpert. Das Selbst als seelisches Zentrum7 kennt viele Inkarnationen, es ist alt und jung zugleich, Weiser und Kind in einem. Dann geht auch der Junge, die 1 2 3 4 5 6 7

Benderson. Approaches to Fellini 's 8'/2· 136. McDonald. "Fellini's Masterpiece". 22. Favazza. "Analyst without Portfolio". 185. Perry. Filmguide to 8'/2. 65. Rosenthal. Cinema of Fellini. 160. Jaffe. "Kunst als Symbol". 240. "Es stellt die Ganzheit unserer Psyche dar, im Gegensatz zum Ich, das nur einen kleinen Teil unseres seelischen Lebensbereichs ausmacht." Von Franz. "Individuationsprozeß". 161.

177

Scheinwerfer verlöschen, und es folgt der Schriftzug, mit dem der Film begann: 8V2· Er kennzeichnet den Anfang und das Ende, das ein erneuter Anfang sein könnte. Guidos zumindest in Ansätzen gewonnene Einsicht in seine Projektionsmechanismen eröffnet ihm größere Freiheit von Verdrängungen und die Rückkehr zur Unschuld auf einer höheren Ebene, denn "diese Rückkehr zur Unschuld ist nur möglich, nachdem man seine Unschuld verloren hat" 1 .

Fromm. "Psychoanalyse und Zen-Buddhismus". 164.

6. Der 'autothematische Film' als Reflexion des Selbst

Die 'autothematischen Filme' erzählen nicht nur Geschichten über das Kino, von den Möglichkeiten und Einschränkungen, eine so aufwendige und kostspielige Kunstform zu realisieren, von den Querelen, die das Filmemachen als Gruppenprozeß mit sich bringt, etc. Die 'autothematischen Filme' versprechen darüber hinaus Einblicke in das Innerste ihrer Schöpfer. Das Produkt 'autothematischer Film' soll zu psychologischen Aussagen über seinen Produzenten verhelfen. Man schreibt den Arbeiten den Status von 'Schlüsselfilmen' zu: Gelingt es, die mehr oder weniger leichte Verhüllung aufzuschließen, dann erscheint nicht nur das Werk in einem neuen Licht, vor allem eröffnen sich Wege zum Selbst des kreativen Individuums. Die 'autothematischen Filme' suggerieren, einen privilegierten Zugangsweg zur Identität ihrer Schöpfer zu ebnen. Der Begriff der Identität wird von Erikson als stetige Übereinstimmung beschrieben, die von der Umwelt auch als solche registriert wird: "Das bewußte Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen: der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, daß auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen." 1 In der Vermittlung einander widersprechender und sich permanent verändernder Erwartungen und Anforderungen ist der kommunikative Aspekt der Identität angesprochen. Für Krappmann ist dieser Aspekt das zentrale Merkmal seines Identitätsbegriffes: "Die Leistung, die das Individuum als Bedingung der Möglichkeit seiner Beteiligung an Kommunikations- und Interaktionsprozessen zu erbringen hat [...]."2 Jedes Individuum hat eine zweifache Geschichte - eine soziale und eine individuelle. Zwischen diesen Geschichten und den sie ausbildenden Perspektiven die Identität des Ichs zu bewahren und zu entwickeln, stellt einen dynamischen Vorgang dar. "Diese Interpretation divergierender Anforderungen und Erwartungen geschieht in der Identitätsbalance, die das Individuum vor den Augen seiner Partner aufrechtzuerhalten sich bemüht." 3 Diese nach innen und außen gelebte relative Konstanz von Einstellungen ist tagtäglich aufrechtzuhalten. Vor allem in Krisenzeiten aber gerät das angestrebte Gleichgewicht in Gefahr. Zugleich allerdings bergen diese Zeiten der Verunsicherung die Aufforderung zur Bilanz, den Impuls zur Neuorientierung und die Chance zur Reifung. Diese Auseinandersetzung "beginnt meistens mit einer Verwundung oder einem Leidenszustand, der eine Art von Berufung darstellt, aber oft nicht als solche erkannt wird" 4 . Es kennzeichnet 1 2 3 4

Erikson. Identität und Lebenszyklus. 18. Krappmann. Soziologische Dimensionen der Identität 207. Ebd. Franz, von. "Individuationsprozeß". 166.

179 diese Phasen der Verwundung und Verwundbarkeit, daß sich Stimmen Gehör verschaffen, die zu anderen Zeiten kaum wahrgenommen werden: Aus dem Dunkel melden sich Träume und Phantasien, die sich als Hilfe zur Wiedererlangung der verlorenen Identitätsbalance anbieten. Für die Untersuchung der 'autothematischen Filme' ergeben sich aus diesen Überlegungen folgende Fragestellungen: - Kommt diesen Arbeiten im Schaffen der Regisseure ein exponierter Status zu, der das (Euvre in einem anderen, erhellenden Licht erscheinen läßt? - Sind die Filme auf Zelluloid gebannte Selbstbildnisse - können sie als Film-Autobiographien gelten, in denen sich die Persönlichkeit des Regisseurs auf besondere Weise dokumentiert? - Sind die 'autothematischen Filme' aus einem Leidenszustand heraus geboren? Erlauben die Filme Einblicke in die Bemühungen, eine aus den Fugen geratene Identität wieder herzustellen? Die Beantwortung dieser Fragen soll in drei Schritten erfolgen: - Zunächst gilt es, die Stellung des 'autothematischen Films' im (Euvre zu betrachten. Im näheren Umfeld ist vor allem der vorausgegangene Film von Interesse, liegt doch die Vermutung nahe, daß der 'autothematische Film' auf eine Situation Bezug nimmt, in die diese frühere Arbeit geführt hat. - Danach soll überprüft werden, inwieweit die 'autothematischen Filme' autobiographische Züge aufweisen, ob es sich also um Darstellung des eigenen Lebens handelt. - Schließlich wird zu untersuchen sein, inwieweit die Filme als Versuche, die verlorene Identitätsbalance wieder zu erlangen, verstanden werden können. Bei Wenders interessiert in diesem Zusammenhang dessen Auseinandersetzungen mit seinem 'Traumland' Amerika, bei Godard, wie er sich dem Druck seiner Produzenten gegenüber verhielt, und bei Fellini, welche Wege seine Helden beschreiten, um aus ihren Notlagen einen Ausweg zu finden.

6.1 Die Stellung im (Euvre In DER STAND DER DINGE zieht Regisseur Friedrich Munro Bilanz: Ich habe 10 Filme gemacht [...]. Und immer habe ich die gleiche Geschichte erzählt. Am Anfang war es ganz einfach. Da ging's von Einstellung zu Einstellung. Aber jetzt habe ich Angst, am Abend vorher... (E498) Worte, die auf Kontinuität ebenso hindeuten, wie auf einen Einschnitt im Schaffen des Regisseurs, der ihn seine 'Selbstverständlichkeit' verlieren ließ. DER STAND DER DINGE ist Wenders' zehnter Spielfilm 5 . Auch Wenders' Werk zeichnet sich durch Kontinuität aus - und durch einen Einschnitt, der mit dem HAMMETT-Projekt 6 verbunden ist.

5

6

Sofern man seine Kurzfilme außer acht läßt und SUMMER IN THE CITY als ersten Spielfim betrachtet. HAMMETT (HAMMETT), USA 1979-1982.

180

Betrachtet man Wenders' Filmographie, so fällt auf, daß er mehrfach seinen Filmen englischsprachige Titel gab: SAME PLAYER SHOOTS AGAIN, SILVER CITY 7 , ALABAMA: 2000 LIGHTYEARS 8 , S U M M E R IN T H E CITY, N I C K ' S FILM - LIGHTNING OVER WATER. Der Titel SUMM E R IN T H E CITY zitiert einen Rocksong der Gruppe Lovin' Spoonful. Ein weiterer Kurzfilm trägt den Titel 3 AMERIKANISCHE LP'S. Auch in der Musik dokumentiert sich bei Wenders die ständige Bezugnahme auf die amerikanische Kultur. 9 In DER AMERIKANISCHE FREUND stammt nicht nur der Titelheld aus den USA - er bringt auch Versatzstücke amerikanischer Alltagskultur mit in sein Hamburger Domizil. Ein Teil dieses Films spielt in den USA, ebenso wie bei ALICE IN DEN STÄDTEN. Dieser Film zählt zu Wenders' Trilogie der Road-Movies 1 0 - eine Filmform, wie geboren für die USA. Der Held von ALICE IN DEN STÄDTEN reist mit einem großen Wagen durch die USA, stößt in allen Motels auf TVs und liest in einer Zeitung, daß der Regisseur lohn Ford gestorben ist. Amerika und das von den Medien einst und jetzt vermittelte Amerika-Bild sind allgegenwärtig. Letztlich kommt der Protagonist in dieser Welt nicht zurecht, er kehrt zurück in die Bundesrepublik Deutschland. So wie die Suche nach Heimat von Fernweh begleitet wird, so sind Wenders' Filme, die sich mit der Bundesrepublik auseinandersetzen, undenkbar ohne den wiederholten Bezug auf das 'Land der unbegrenzten Möglichkeiten'. Nachdem Wenders seine Helden immer wieder Stipvisiten in die U S A unternehmen ließ, die auch ihn veranlaßten, sporadisch in diesem Land zu arbeiten und zu leben, muß es ein langgehegter Wunsch gewesen sein, endlich einen Film gänzlich in den USA spielen zu lassen und diesen Film unter Bedingungen herzustellen, unter denen dort Filme produziert werden. 1977 erhielt er von Francis Coppola das Angebot, HAMMETT zu verfilmen - ein Traum schien in Erfüllung zu gehen. Wenders ahnte wohl, welche Umstellung von ihm gefordert werden würde: "Eine amerikanische Produktion, in Hollywood gedreht, in einem Studio, mit einem Produzenten, der sich als Mittelpunkt des Films sieht: Das sind genau die Bedingungen, die die Geschichte des amerikanischen Films ausmachen; all jene Filme, die ich so bewundert habe und die meine Ausbildung ausgemacht haben. Es ist eine so andere Art, einen Film zu produzieren, fast das Gegenteil von dem, was ich vorher gemacht habe, in dieser europäischen 'Autoren'-Tradition, wo ich mein eigener Produzent war [...]." 11 Immerhin eröffnete sich ihm die Chance, zu zeigen, daß der deutsche Autorenfilm auch unter den Bedingungen industrieller Filmproduktion in den USA bestehen kann und daß er als Handwerker, Techniker und Künstler Anerkennung verdient. Der Stoff von HAMMETT wies zudem Berührungspunkte zu Themen auf, die Wenders naheliegen - so in der Reflexion über das Schreiben und das Erleben von Geschichten. Aber die in seinen Augen reizvolle Nichtanpassung und Integrität der Figur Dashiell Hammett konnte 7 8 9

10 11

BRD 1969. BRD 1969. Über die Bedeutung der Rockmusik für sein Lebensgefühl - und das seiner Generation - schrieb Wenders eine Reihe von Artikeln; siehe: Wenders. Emotion Pictures. Zu ihnen zählen noch: FALSCHE BEWEGUNG und IM LAUF DER ZEIT. Wenders in Film vertag. Der Stand der Dinge. 11.

181

er nicht in den endgültigen Film einbringen; er hatte in den folgenden Jahren genug damit zu tun, seine eigene Integrität und Selbstachtung zu wahren... Die Geschichte des HAMMETT-Projekts im Abriß: - 1978 sollten die Dreharbeiten beginnen. Wenders seinerzeit zu dem Charakter des Projekts: "Ich mache kein amerikanisches Kino. Ich mache zwar eine amerikanische Produktion, aber ich mache einen Film von mir." 1 2 Die Fertigstellung von HAMMETT war ursprünglich für 1979 geplant, aber das Projekt verzögerte sich ständig. Früh schon mußte Wenders seinen Wunsch aufgeben, den Film in S/W zu drehen. - Nach einem Jahr lag ein Drehbuch vor, das zwar den Geldgebern gefiel nicht aber dem Produzenten Coppola: Der fand die Geschichte zu kompliziert. Er ließ eine Hörspielfassung anfertigen, die, anschließend mit Storyboard-Zeichnungen versehen, eine neue Diskussionsgrundlage bilden sollte. Auch diese stieß bei ihm auf Ablehnung. - Ein anderer Drehbuchautor wurde engagiert, man mußte wieder von vorne beginnen. HAMMETT hatte sich mittlerweile zum Prestigeobjekt von Coppolas ZOETROPE-Studios entwickelt, der Druck auf Wenders wuchs weiter. Die neu im Studio installierte Video-Technik erlaubte Coppola, Wenders bei der Arbeit - auch unbemerkt - zu beobachten. Täglich sah sich Coppola die Muster an, um dann zu entscheiden, was neu gedreht werden mußte. Das Verhältnis zwischen Regisseur und Produzent verschlechterte sich weiter. Gerade einen Tag vor dem Team erfuhr Wenders, daß die Dreharbeiten abgebrochen würden; Wenders: "Das war die schlimmste Zeit." 13 - Coppola war auch mit dem Rohschnitt des Films unzufrieden; ein neuer Drehbuchautor wurde mit der Überarbeitung des Buches beauftragt. - Die Geldgeber forderten, daß der Regisseur ausgewechselt werde. Producer Ron Corby 1981: "Es war Francis Coppola, der Wenders in dieser Zeit nicht hat fallen lassen, als die Geldgeber sagten: Der logische Schritt ist doch, den Regisseur zu feuern!" 1 4 Aber diesen Schritt konnte Coppola allein aus finanziellen Erwägungen nicht gehen. Wenders selbst gab den Film übrigens gleich zweimal ab - um dann dennoch weiterzuarbeiten. - Schließlich - nach vier Jahren - stand Wenders wieder fast am Nullpunkt: Hauptdarsteller wurden ausgewechselt, und 80% des Films mußten neu gedreht werden. "Mitte 1981 mußte sich Wenders eingestehen, daß er gescheitert war." 1 5 - 1982 endlich kam HAMMETT in die Kinos. Aber da war nicht mehr die Rede von einem 'Film von Wim Wenders', nun hieß es, ein Film 'directed by Wim Wenders'. Schon in früheren Arbeiten hat sich Wenders mit dem lieblosen Umgang Hollywoods mit seinen einstigen Stars befaßt 1 6 - nach dem H A M M E T T 12 13 14 15 16

Wenders in Schaukasien. TV-Sendung. Wenders in Adler. Das große Geld. TV-Feature. Corby in Adler. Das große Geld. TV-Feature. Buchka.Augen. 18. In NICK'S FILM (LIGHTNING OVER WATER), BRD 1980, hat Wenders sich mit dem Schicksal seines Freundes und Regie-Kollegen Nicholas Ray auseinandergesetzt.

182

Projekt hatte er selbst eine Fülle hautnah erlebter Erfahrungen zu verarbeiten. In DER STAND DER DINGE schimmern sie immer wieder durch. Wie oft muß sich Wenders gefragt haben: Warum hat Coppola mich diesen Film machen lassen? Jetzt läßt er Friedrich Munro fragen: Warum läßt gerade Gordon mich diesen Film machen? Dennis bemüht sich um eine Antwort: Weil, ich glaube, weil du Stil hast, so'ne Art... europäischer... Friedrich ergänzt: Sehweise. (E337) Eine Entscheidung, die Gordon angesichts des Scheiterns bedauert: Wenn ich denselben Film mit einem amerikanischen Regisseur und in einer amerikanischen Besetzung gedreht hätte, wär' ich in ein paar Monaten wieder obenauf. (E495) Mag sein, daß sich Coppola eben diese - nicht näher definierte - europäische Sehweise von Wenders versprach. Wenders hingegen, der als der 'amerikanischste' unter den jungen deutschen Regisseuren galt, beabsichtigte, als Europäer einen amerikanischen Film abzuliefern - in diesem Widerspruch liegt eine Ursache für das Scheitern von HAMMETT. Aber ohne das Desaster HAMMETT wäre DER STAND DER DINGE nie entstanden. 1963, als LE MEPRIS gedreht wurde, war Jean-Luc Godard unter den Rebellen der 'Nouvelle Vague' bereits ein anerkannter Star. Gerade vier Jahre waren vergangen, seit er - aus Anlaß der Nominierung von Truffauts LES QUATRE CENTS COUPS 17 als französischer Beitrag für Cannes - Frankreichs 'Altfilmern' ins Stammbuch schrieb: "Eure Kamerabewegungen sind häßlich, weil eure Sujets falsch sind, eure Schauspieler spielen schlecht, weil eure Dialoge nichts taugen, mit einem Wort, ihr könnt keine Filme machen, weil ihr nicht wißt, was das ist. [...] Jedesmal, wenn wir eure Filme sehen, finden wir sie so schlecht und so weit entfernt, ästhetisch und moralisch, von dem, was wir erhofften, daß wir uns unserer Liebe zum Kino fast schämen." 18 Aus den ehemaligen Kritikern um die Zeitschrift 'Cahiers du Cinema' wurden Regisseure; Godard sieht darin allerdings keinen Frontwechsel: "Shooting hasn't changed my life much, for I was already shooting while doing criticism, and if I were to go back to being a critic it would still be, for me, a way of making films."19 Gerade in der Verbindung künstlerischer Tätigkeit mit selbstkritischer Betrachtung des eigenen Tuns drückt sich jene neue Beziehung zwischen Fiktion und Wirklichkeit aus, in der Godard ein Merkmal der 'Nouvelle Vague' sieht. "The nouvelle vague is defined, in part, by this new rapport between fiction and reality. It is defined also by regret, by nostalgia for a cinema which no longer exists. As soon as you can make films - you can no longer make films like the ones that made you want to make them." 20 Godard spricht hier ein Dilemma an, das sich durch sein Werk zieht. Teil dieses Dilemmas ist, daß den Regisseuren der 'Nouvelle Vague' 2 1 zunächst nur ein schmales Budget zur Verfügung stand, wodurch ihren Projekten enge 17 18 19 20 21

(SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN), Frankreich 1959. Godard. "Les 400 coups". 145 f.. Godard in Sarris. Interviews. 183. Ebd. 182. Zu nennen wären hier - neben Godard - vor allem: Francos Truffaut, Jacques Rivette, Claude Chabrol, Alain Resnais, Louis Malle und Eric Rohmer.

183

Grenzen gezogen waren. Godards Traum, daß die 'Nouvelle Vague' in Hollywood 'Spartacus' für 10 Millionen Dollar verfilmen könnte, blieb jedenfalls bis heute unerfüllt! Daß es auf der anderen Seite ein Charakteristikum der Filme der 'Nouvelle Vague' sein sollte, daß sie billig produziert sein müssen - und man ihnen das auch ansieht -, war Godard immer ein Dorn im Auge. Ein Mißverständnis, das er beseitigt sehen wollte: "People have always believed that the nouvelle vague means cheap films as opposed to expensive ones. It is, simply, good film as opposed to bad film."22 Auch Godard bestreitet nicht, daß manche Filme von dem kleinen Budget profitierten, will davon allerdings keine Regel abgeleitet wissen. Die Rebellen des französischen Kinos hatten mit ihren billigen, aber kreativen Arbeiten ein Kino gegen das Establishment etabliert. Dann jedoch stand eine Neuorientierung an, man suchte cineastische Ambitionen mit kommerziellen Erwägungen zu verbinden. Auf die Frage, ob sich Godard, als er LE MEPRIS drehte, in einer Situation befand, in der er nicht einfach weitermachen konnte, sich gar fragen mußte, ob man keine Filme mehr machen kann, antwortete er: "Nein, man kann doch noch, glaube ich. Es genügt, einen oder zwei große Stars zu haben." 23 So markiert LE MEPRIS einen neuen Abschnitt in Godards (Euvre. Aber Kontinuitäten sind nicht zu übersehen: - auch in LE MEPRIS setzt sich Godard mit seinem Verhältnis zur Kinotradition auseinander 24 ; - er variiert eines seiner Lieblingsthemen, die Prostitution 25 ; - wieder steht der Tod am Ende der Entwicklung 26 . Dennoch unterscheidet sich LE MEPRIS deutlich von den herkömmlichen Werken der 'Nouvelle Vague'. LE MEPRIS ist: - der teuerste Film, den Godard je gedreht hat, - ein Film mit internationaler Starbesetzung, - und damit zwangsläufig ein Film für's 'große Publikum'. Hat Godard geahnt, in welche Abhängigkeiten er sich da begab? Zumindest scheint ihm klar gewesen zu sein, daß nunmehr die Schauspieler und nicht mehr der Regisseur die eigentlichen Stars sein würden: "Da der Film nun einmal nur dank der Gegenwart der Bardot existierte, habe ich sie während der Dreharbeiten immer als die eigentliche Produzentin betrachtet." 27 Ziel

22 23 24

25

26

27

Godard in Sarris. Interviews. 182. Godard in Reichart. "Interviews". 47. In vorausgegangenen Arbeiten läßt Godard Jean-Paul Belmondo Humphrey Bogart imitieren - A BOUT DE SOUFFLE - und Nana S. findet sich in VIVRE SA VIE (DIE GESCHICHTE DER NANA S.), Frankreich 1962, wieder im stummen Dialog mit Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D'ARC (DIE PASSION DER HEILIGEN JOHANNA), Frankreich 1928. Die Prostitution wird thematisiert in UNE FEMME EST UNE FEMME (EINE FRAU IST EINE FRAU), Frankreich/Italien 1961, und in VIVRE SA VIE. Bis zu PIERROT LE FOU (ELF UHR NACHTS), Frankreich/Italien 1965, steht der Tod am Ende; Ausnahmen: UNE FEMME EST UNE FEMME und UNE FEMME MARIÜE (EINE VERHEIRATETE FRAU), Frankreich 1964. Godard. "Die Verachtung".

184

der Produzenten jedenfalls war ein Bardot-Film, nicht ein Godard-Film. 28 Einen Film zu realisieren, der ein 'großes Publikum' braucht, um sich zu amortisieren, stellte Godard vor eine neue Situation. Freimütig räumt er ein: "Ich habe meine Filme immer eher für Filmemacher gemacht [...]·" 29 Bis dato konnte er sich nach eigenem Bekunden damit begnügen, daß das, was er zu sagen hat, vielleicht 100 000 bis 200 000 Leute ins Kino gehen läßt. Nun mußte er sich fragen: "Was ist in mir, das vier Millionen Zuschauer interessieren könnte?" 30 Das Ergebnis ist bekannt: LE MEPRIS wurde ein finanzieller Flop. Kein 'Spartacus' der 'Nouvelle Vague' - dieses Experiment scheiterte spätestens an der Kinokasse. Trotz wirtschaftlichen Erfolgs, großer Publizität und Wohlwollen der Filmkritik sah sich Fellini vor seinem 8V2-Projekt in einer schwierigen Situation: "[...] nach LA DOLCE VITA befand ich mich in einer heiklen Lage. Meine Feinde standen Gewehr bei Fuß, und meine Freunde erwarteten große Dinge von mir." 31 Fellinis LA DOLCE VITA 32 thematisiert Krisenerscheinungen der italienischen Gesellschaft. Der Film wurde in einer, wie es hieß, skandalträchtigen Atmosphäre gedreht, er enthielt seinerzeit als sensationell geltende Enthüllungen über die römische Schickeria, und vor allem sorgten die Anfeindungen des Vatikan für ein breites Echo. 33 Fellini stand im Rampenlicht der Öffentlichkeit, die Kritik sah ihn auf dem Höhepunkt seines Schaffens - was sollte jetzt noch folgen? Bereits 1961 äußerte sich Fellini zu dem Thema seines nächsten Projekts: "[...] unmittelbar nach der Fertigstellung von LA DOLCE VITA schwebten mir nur Fragmente eines neuen Films vor: ein schwacher, unsicherer Mensch, der nicht weiß, wie er mit den Schwierigkeiten fertigwerden soll, in die er geraten ist." 34 Zwischen den Premieren von LA DOLCE VITA und 8V 2 vergingen dann doch drei Jahre! Dennoch ist 8V 2 eher Ausdruck einer konsequenten Fortentwicklung als eines Bruches oder einer Zäsur im Schaffen Fellinis. In diesem Zusammenhang ist auch der Titel des Films von besonderem Interesse. Die Uneingeweihten rätselhaft bleibende Zahlenkombination steht in keiner inhaltlichen oder thematischen Beziehung zum Film. 35 Der Titel ergibt sich aus der Addition von Fellinis früheren Arbeiten: sieben abendfüllende Spielfilme plus zwei Gruppenfilme, die als V2-Film gerechnet

28

29 30 31 32 33

34 35

Das Plakat macht es deutlich: Es zeigt die wenig bekleidete Hauptdarstellerin, der größte Schriftzug gilt dem Titel, der zweitgrößte Brigitte Bardot, der drittgrößte dem Regisseur. Godard in Reichart. "Interviews". 51. Godard. Wahre Geschichte des Kinos. 93. Fellini. "Guido eine autobiographische Figur?". 153. LA DOLCE VITA (DAS SÜSSE LEBEN), Italien/Frankreich 1959. Ein Beleg für den Aufruhr, den der Film seinerzeit verursachte, ist auch darin zu sehen, daß der Ausdruck 'la dolce vita' dank des Films Eingang in fremde Sprachen fand. Fellini. "Guido eine autobiographische Figur?". 153. 8V2 war zunächst lediglich der Arbeitstitel des Projekts. Andere, z.B. 'Anima', waren im Gespräch, schließlich blieb es bei 8V2·

185

wurden - was folgt, ist der δ 1 ^ · So verweist der Titel auf das Schaffen des Regisseurs, im Rückblick und in der Entwicklung. Das entscheidende Merkmal dieser Entwicklung ist darin zu sehen, daß äußerliche Betriebsamkeit die innere Erstarrung des Helden immer weniger zu übertünchen vermag. Diese Zuspitzung zeigt sich exemplarisch am Umgang mit Autos, den Zeichen der Mobilität in einer industriellen Gesellschaft. Ist Marcello noch ruhelos unterwegs, aus Autos Menschen wie Passagiere betrachtend, so findet sich Guido zu Beginn von 8V2 in einem Stau wieder, später sind Autos stillstehende Exponate einer Ausstellung, und wenn es ihm einmal gelingt, mit dem Auto die geschlossene Welt des Kurortes zu verlassen, dann bezeichnenderweise, um mit Claudia zu den Quellen zu fahren. Das Auto läßt sich nicht mehr als Fluchtvehikel einsetzen, die Konfrontation mit der eigenen Lage ist unerläßlich geworden. Ausweichmanöver sind zum Scheitern verurteilt, Entscheidungen müssen getroffen werden. In der Situation des Helden manifestiert sich Fellinis allmähliche Abkehr vom Neorealismus, der doch einst seine filmische Heimat bildete. Kennzeichen des Neorealismus waren zum einen bestimmte aus der Not geborene, aber auch programmatisch eingesetzte Produktionsbedingungen - geringe finanzielle Mittel, Dreharbeiten an Originalschauplätzen, Arbeit mit Laien -, zum anderen war der Neorealismus nicht nur ein Filmstil, sondern auch Ausdruck einer moralischen und politischen Haltung. Er war eine Reaktion auf gesellschaftliche Verhältnisse im Italien der 40er und 50er Jahre, die in den 60ern nicht mehr so offensichtlich Widerspruch hervorzurufen schienen, und er war eine Antwort auf die Banalität der italienischen Filmproduktion dieser Jahre. Betrachtet man Fellinis Entwicklung, so zeigt sich, daß er immer mehr ein Dogma neorealistischen Selbstverständnisses verläßt, das darin besteht, die eigene Persönlichkeit möglichst weitgehend aus den Filmen herauszunehmen, um die Verhältnisse für sich sprechen zu lassen. Von Film zu Film rückt bei Fellini das Einzelschicksal mehr in den Mittelpunkt, und zugleich werden Handschrift und Sichtweise des Regisseurs deutlicher erkennbar. Statt Einzelschicksale aufzugreifen, um auf ein soziales Problem hinzuweisen, fragt Fellini nach den Auswirkungen des Gesellschaftssystems auf den einzelnen Charakter. Vernachlässigt man allerdings historisch bedingte Merkmale des Neorealismus, und betrachtet man statt dessen seine menschliche Perspektive, dann wird Fellinis Antwort auf die Frage, ob er sich für einen neorealistischen Regisseur hält, erklärlich: "Wenn ich [...] unter Neorealismus eine Haltung der Ehrlichkeit gegenüber den Themen, die man hat, verstehe oder gegenüber den Figuren, deren Geschichte man erzählen will, so halte ich mich für einen neorealistischen Autor." 36 Eben diese Haltung spricht Schlappner an, wenn er - die Entwicklung von Rossellini bis Fellini Revue passieren lassend - zu dem Fazit gelangt, daß Fellini dem Neorealismus die "spirituelle Vertiefung" 37 brachte.

36 37

Fellini. "Beruf Regisseur". 75. Schlappner. Von Rossellini zu Fellini 271.

186

Die 'autothematischen Filme' Fellinis, Godards und Wenders' stehen alle einerseits in der Kontinuität des Schaffens der Regisseure - und doch markieren sie auf der anderen Seite auch Einschnitte. Wenders' begleitete seit seinen ersten Filmen eine starke Affinität zur amerikanischen Kultur, speziell zum US-Kino. Mit HAMMETT schien ein Lebenstraum in Erfüllung zu gehen - umso tiefer war der Fall, als das Scheitern dieser Hoffnung nicht mehr zu leugnen war. DER STAND DER DINGE kann als Versuch gedeutet werden, diese Erfahrungen zu verarbeiten und nach der schmerzvollen Dienstleistung HAMMETT zurück zu einem Selbstund Rollenverständnis zu finden, das seine früheren Arbeiten auszeichnete. LE MEPRIS dagegen ist Godards 'Testfall', mit dem er die Fesseln des Autorenkinos ä la 'Nouvelle Vague' abzustreifen versuchte. Statt einem Film für eingeweihte Cineasten war ein aufwendiges Spektakel geplant, das dank der Starbesetzung für Godard bis dahin unerreichbare Publikumskreise ansprechen sollte. Es blieb bei einem Liebäugeln Godards mit dem 'großen Kino'. Die Erwartung des Publikums, das B.B. in gewohnter Manier auf der Leinwand sehen wollte, hatte er nicht einlösen können - oder nicht einlösen wollen. Fellini sah sich mit 8V2 aufgefordert, all jene Lügen zu strafen, die nach LA DOLCE VITA keine Steigerung für möglich hielten. Die Steigerung bestand darin, seinen Weg entschlossen weiterzuverfolgen, indem er die Konventionen des Neorealismus zusehends hinter sich ließ, um zu seinem eigenen Filmverständnis zu gelangen. Wenders kehrte nach HAMMETT mit DER STAND DER DINGE von fremdem Terrain zurück, Godard begibt sich mit LE MEPRIS in ungewohnte Gefilde, und Fellini führt seine radikale Konsequenz in Neuland.

6.2 Der autobiographische Charakter Wenders nennt DER STAND DER DINGE einen "beinahe dokumentarischen Film über eine fiktive Situation" 38 . Auf eine Vielzahl von 'Verwandtschaften' zwischen Friedrich Munro und Wim Wenders wurde bereits in der Analyse hingewiesen. Ergänzend sei hier erwähnt, daß sich unter Munros Filmographie, die der Computer in Gordons Villa zeigt (E347), die Filme 'Schauplätze' (an erster Stelle) und 'Rule Without Exception' befinden. SCHAUPLÄTZE 39 war tatsächlich Wenders' erster Film, DER AMERIKANISCHE FREUND sollte ursprünglich den Titel 'Rule Without Exception' tragen. 40 Wichtiger als diese eher marginalen Verweise ist in diesem Zusammenhang, daß die Personen Munro und Wenders, was ihr Filmkonzept angeht, von vergleichbaren Positionen ausgehen und in einem vergleichbaren Di38 39 40

Wenders in Buchka. Augen. 100. BRD 1967. Bei den Jahreszahlen allerdings setzt das Verwirrspiel ein: der Computer nennt 1969 für 'Schauplätze' - er wurde bereits 1967 gedreht - und 1974 für 'Rule Without Exception' - DER AMERIKANISCHE FREUND entstand erst 1977.

187 lemma stecken: Als Vertreter des Autoren-Kinos scheinen sie an der Produktionswirklichkeit des US-Kinos zu scheitern. Diese Produktionswirklichkeiten allerdings unterscheiden sich dann doch gravierend zwischen HAMMETT und SURVIVORS. HAMMETT-Produzent Coppola war spätestens seit THE GODFATHER 41 einer der Großen des amerikanischen Filmgeschäfts. 42 SURVIVORS-Produzent Gordon (gespielt von Allen Goorwitz) gehört nicht nur einer anderen Produzenten-Generation an, seine Projekte sind auch finanziell - in anderen Regionen angesiedelt. Wenders: "But I have to say that the Allan Goorwitz character is not based at all on Francis Coppola. [...] Gordon is more like a kind of B-picture producer who doesn't really exist any more. But then again, they're still around." 43 Wenders selbst wies auf eine weitere wichtige Differenz zwischen den Produzenten hin - schließlich sei das Verhältnis zwischen Produzent und Regisseur, das DER STAND DER DINGE zeigt, im Kern ein gutes: "I don't think you would find any traces of Hammett or Coppola. For those people who still insist it's my comment on the making of Hammett, they still have to realize there's only two people who really get along with each other in The State of Things and who are really friends, and that's the producer and the director." 44 Dem Film DER STAND DER DINGE einen autobiographischen Charakter im Sinne einer dokumentarischen Wiedergabe gemachter Erfahrungen zu attestieren, wäre sicher zu kurz gegriffen. Ebenso fragwürdig allerdings klingt es, wenn Wenders lapidar konstatiert: "'Der Stand der Dinge' ist eine Fiktion, vollkommen getrennt von einer 'biographischen' Erfahrung." 45 Hier drängt sich der Verdacht auf, daß in der Rückschau - die Äußerung stammt aus dem Jahr 1982 - manche Selbstzweifel, die das HAMMETT-Projekt auslöste, vergessen gemacht werden sollen. Interviews aus der Zeit, in der HAMMETT zu scheitern drohte, belegen eindrucksvoll, wie sehr die Rückschläge am Selbstwertgefühl des Regisseurs genagt haben. 46 Diese Gefühle prägen dann auch Wenders' Standortbestimmung: "'Der Stand der Dinge' ist wahrscheinlich der düsterste Film, den ich bislang gemacht habe. Ein 'schwarzer' Film, nicht nur optisch [...] sondern auch in seiner Stimmung, die wohl zu der Zeit sehr meiner eigenen entsprach." 47 Es bedurfte des räumlichen und zeitlichen Abstands, um wieder 'zu sich' zu kommen, um ein Vorhaben wie DER STAND DER DINGE realisieren zu können. Wenders: "Im Winter '81/'82 hatte ich so viel Zeit, nachzudenken, und zum erstenmal 41 42

43 44 45 46 47

(DER PATE), USA 1971. Mit einem Teil der Gewinne, die seine Publikumserfolge einspielten, förderte Coppola übrigens Kinos, Filmverleihe und Nachwuchsregisseure; auch wenn diese Förderungsmaßnahmen nicht uneigennützig gewesen sein mögen - ein Engagement für Filmkultur ist ihm nicht abzusprechen. Während der Drehzeit von HAMMETT muß er allerdings immer mehr - folgt man Wenders' Ausführungen in Adler. Das große Geld. TV-Feature - der Vision verfallen sein, einen neuen Hollywood-Mogul abzugeben. Wenders in Combs. "Long goodby". 80. Wenders in Gallagher. "Wenders". 358. Wenders in Film verlag. Der Stand der Dinge. 11. Siehe: Adler. Das große Geld TV-Feature. Wenders in Film verlag. Der Stand der Dinge. 15.

188

war ich seit längerer Zeit aus Hollywood raus. Denn das ist ein unheimlich geschlossenes System, wenn man da drin ist, ist es sehr schwer, es von außen zu betrachten; das ging auch schon ganz anderen Leuten so, die erst merkten, als sie wieder draußen waren, was da eigentlich läuft. So, daß ich erst damals zu so etwas wie zu einer Bestandsaufnahme kommen konnte: Unter diesem Titel." 48 In diese Bestandsaufnahme sind Eindrücke mit eingeflossen, die weit über H A M M E T T hinausreichen. In den Jahren, die er in den Vereinigten Staaten verbrachte, sah Wenders sein Amerika-Bild, das er seit seiner Jugend mit sich trägt, auf die Realität USA prallen. Kollisionen, die es zu verarbeiten galt, um sich anschließend neuen Aufgaben widmen zu können. Wenders: "Dieses Kapitel wollte ich beenden, um wieder Geschichten erzählen zu können, die nicht mehr auf das Kino verweisen müssen. Im Erzählen darauf zu verweisen, woher dieses Erzählen kommt und wie der Stand der Dinge dieses Erzählens ist, war wichtig für jemanden, der, wie ich, in Deutschland groß wurde; sozusagen fremdgefüttert mit dem amerikanischen Kino." 4 9 Godard betont den autobiographischen Charakter seiner Arbeit. Er hat seine Filme sogar mit einem Tagebuch verglichen: "Each of my films is an entry in my diary, the diary of an artist, a critic and a journalist. Each film, no matter how fictional and far-fetched the plot, is a documentary of my state of mind at the time I made the film."30 In L E MEPRIS allerdings spielen die autobiographischen Bezüge eine eher marginale Rolle. So ist es für einen exponierten Vertreter des Autorenkinos schon ungewöhnlich, daß der Stoff seines Films nicht von ihm, sondern von einem Schriftsteller (Alberto Moravia) stammt. Zwar spielt der Roman im Filmmilieu, was - so könnte man vermuten - Godard angesprochen haben dürfte. Dann aber erschöpfen sich denkbare persönliche Bezüge bald. Allenfalls wäre anzuführen, daß Godard mit Paul einen Protagonisten seines Alters hatte, der sich als französischer Intellektueller auf das Filmgeschäft einläßt und dabei Schiffbruch erleidet. Da kann man Parallelen zu Godards Unternehmen L E MEPRIS herstellen. Aber Paul fehlt jedes Engagement bei der Filmarbeit - und hier erinnert er schon gar nicht mehr an Godard. So wenig wie Godard unternimmt, damit sich der Zuschauer mit Paul identifiziert, so wenig identifiziert er sich wohl selbst mit dieser Figur. Einen Einblick in Godards Welt eröffnet da schon eher die Verehrung des 'Meisterregisseurs' Fritz Lang. Langs Werk und seine Unbeugsamkeit ließen ihn zum Idol der 'Nouvelle Vague' werden. Godard macht das Lehrer-Schüler-Verhältnis deutlich, indem er als Langs Regieassistent auftritt. Die Cutterin von LE MEPRIS, Agnes Guillemont berichtet: "Godard verhielt sich gegenüber Fritz Lang fast wie ein kleiner Junge. Sehr respektvoll." 51 Von einem anderen Mitarbeiter Godards, dem Kameramann Raoul Coutard, stammt eine Äußerung, der zufolge LE MEPRIS weitere autobiographische Züge trägt: "Ich bin überzeugt, daß Godard damit versucht, seiner Frau etwas zu erklären. Es ist eine Art Liebesbrief... ein Brief, der... eine 48 49 50 51

Wenders in Schütte. "Abschied". Wenders in Prill. "Erfahrungen in Hollywood". 225. Wenders in Sarris. Interviews. 166. Guillemont in Reichart. "Interviews". 74.

189 Million Dollar kostete." 52 Als Beleg für diese - Außenstehenden zunächst kaum nachvollziehbare - These wird vorgebracht, daß Camille in der Wohnung (E86 f.) und innerhalb der Erinnerungssequenz (El 10) eine schwarze Perücke trägt und dadurch Anna Karina, Godards damaliger Frau, ähnlich sieht. Zu den persönlichen Erlebnissen, die Godard in LE MEPRIS einfließen läßt, gehören auch Vorkommnisse, die sich während der Herstellung des Filmes ereigneten. So sagt Francesca zu Prokosch: Jery, Levine is calling at once from New York. (E145) Joseph E. Levine gehörte zu den Produzenten von LE MEPRIS. Fellini, der von sich behauptet, Filme zu machen, weil es ihm gefällt, Lügen zu erzählen 53 , versteht es vortrefflich, Interviews zur Verbreitung halber Wahrheiten zu nutzen. Die naheliegende Frage, inwieweit es sich bei seinen Filmen um autobiographische Äußerungen handelt, bietet sich natürlich an, um Verwirrung zu stiften. 54 Interviewer, die eine Antwort erhielten, erfuhren: "Dieser Film ist weniger autobiographisch, als es den Anschein hat." 55 Oder: "Zu sagen, meine Filme seien autobiographisch, ist eine Unverschämtheit." 56 Dann heißt es wieder: "Was ich mache, ist immer autobiographisch, selbst wenn ich das Leben eines Fisches beschreibe!" 57 Oder (auf 8V2 bezogen): "This film will be the ultimate in autobiography: it will be a kind of purifying flame."58 Auch die Filmkritik schwankt zwischen Extremen, wenn es gilt, den autobiographischen Gehalt von 8V2 zu bewerten. Da heißt es, der Film sei eine komplette Autobiographie 59 , gar eine vollkommene Selbst-Enthüllung 60 auf der anderen Seite wiederum ist die Rede von dem autobiographischen Trugschluß 61 . Untersucht man die autobiographischen Elemente, die der Film selbst aufweist, lassen sich Gruppen bilden, die von frühen Erlebnissen Fellinis bis zu Ereignissen, die in engem Zusammenhang mit den Dreharbeiten von 8V2 stehen, reichen. 62

52 53 54

55 56 57 58 59 60 61 62

Coutard in Jung. Die Verachtung. O.S. Fellini. "Beruf Regisseur". 79. Was der Regisseur von ihn mit derartigen Fragen bedrängenden Journalisten hält, hat er in einem seiner späteren Filme - in I CLOWNS (DIE CLOWNS), Italien/Frankreich/BRD 1970 - drastisch deutlich gemacht: Dort fällt dem Journalisten während einer Zirkusvorstellung, kaum daß er seine Frage gestellt hat und natürlich bevor der Regisseur antworten konnte, ein Eimer über den Kopf. Boyer. 200 Tage von S'l? 156. Fellini. "Erzählen, das einzige Spiel". 214. Fellini. "Begraben". 149. Fellini in Solmi. Fellini. 166. Solmi. Fellini. 171. Budgen. Fellini 57. Benderson. Approaches to Fellini 's δ'/? 149 f. Auch was Berichte aus Federicos Kindheit angeht, ist vor Legendenbildung zu warnen: So ist die zugegebenermaßen schöne und auch 'passende' Geschichte, er sei bereits als Kind mit einem Zirkus davongezogen, nach Aussagen seiner Mutter schlicht unwahr. Siehe: Walter. "Wizard of Fellini". 19.

190 Autobiographisches aus Fellinis Kindheit: - Seine Erziehung war katholisch geprägt; er besuchte eine von Mönchen geleitete Schule in Fano. - Bei dem Bauernhaus (Ort der Rückblende in die Kindheit) handelt es sich um eine Rekonstruktion des Hauses von Fellinis Großmutter, in dem er als Kind oft die Ferien verbrachte. - Die Prostituierte Saraghina gab es tatsächlich, sie lebte in der Gegend von Rimini, der Stadt, in der Fellini als Jugendlicher zu Hause war. - Das Verhältnis Fellinis zu seiner Mutter war durch Sprachlosigkeit gekennzeichnet - ähnlich wird das zwischen Guido und dessen Mutter geschildert. Autobiographisches aus der Planungsphase des Films: - In ersten Entwürfen war der Protagonist von Beruf Art-Director, dann wurde er Autor, schließlich Regisseur; vergleichbare Stationen durchlief auch Fellini in seinem Berufsleben. - Die Idee für den Schauplatz des Films entstand während eines Kuraufenthaltes Fellinis in Chianciano. Vorkommnisse, die sich im Zusammenhang mit der Realisation des Projekts ereigneten und Eingang in den Film fanden: - Der Drehbeginn von 8V2 wurde mehrfach verschoben. - In wichtigen Fragen war sich Fellini noch während der Dreharbeiten unschlüssig. S o war zunächst ein anderer Schluß vorgesehen (in einem Zugabteil), der auch gedreht wurde. - Ein Zeremonialbeamter des Vatikan wurde zum Set gerufen, um fachkundig zu beraten. - Von einer Negerin hieß es während der Dreharbeiten gerüchtweise, sie würde in Fellinis Film mitspielen; in 8V2 tritt sie dann tatsächlich auf als Edy, von der Gerüchte besagen, sie bekäme eine Rolle in einem Film Fellinis. Guido übernimmt in seinem Erscheinungsbild, in der Art seines Agierens sowie in seinem Auftreten als Regisseur Züge Fellinis: - Er trägt Fellinis Hut und zitiert dessen Gesten. - Er hält die Story seines Films vor Mitarbeitern und Schauspielern geheim. - Er trifft Entscheidungen über Besetzungen primär visuell anhand von Casting-Aufnahmen und Fotografien. Schließlich soll noch ein eher nebensächliches, vielleicht aber auch bezeichnendes Detail erwähnt werden: Für die Aufnahmen von Guidos Fuß, an dem das Seil befestigt ist, das den Helden zum Absturz zwingt (E18), stellte sich Fellini zur Verfügung. Der Film 8V2 integriert eine Reihe autobiographischer Elemente aus den verschiedensten Lebensbereichen und Lebensabschnitten des Regisseurs Federico Fellini. Allerdings gibt es einen ganz entscheidenden Unterschied zwischen den Regisseuren Guido Anselmi und Federico Fellini. Anselmi muß konsequenterweise scheitern, solange er in einer seelischen Krisensituation steckt, die eine kreative Blockade und weitreichende Entscheidungsunfähigkeit mit sich bringt. Fellini dagegen belegt mit 8V2 eindrucksvoll seine Kraft und sein Vermögen, komplexe künstlerische Vorhaben zu bewältigen. Er weiß, daß es nicht genügt, die Realität lediglich zu verdoppeln wie Guido

191

es tut, sondern daß es gilt, Erlebnisse und Erfahrungen in ein künstlerisch gestaltetes, Sinn kreierendes Modell von Welt umzuformen. 8V 2 ist so gesehen "a fictional correlative of Fellini's life" 63 , eine "exposition of his persona" 64 . In diesem Sinne - also nicht als sich dokumentarisch gebende Wiedergabe, sondern als kreative Gestaltung eigener Erlebnisse - offenbart 8V2 die Persönlichkeit des schöpferischen Individuums. Die Beantwortung der Frage nach dem autobiographischen Charakter eines Kunstwerkes ist, so hat sich gezeigt, im wesentlichen davon abhängig, wie weit der Begriff 'autobiographisch' gefaßt wird. Darauf spielt auch Fellini in dem folgenden Zitat an: "Anekdotisches, Autobiographisches kommt in meinen Filmen überhaupt nicht vor. Sie sind vielmehr das Zeugnis eines gewissen Stadiums, das ich durchlebt habe: aber im gleichen Sinne ist ja jedes Buch, jeder Vers eines Dichters, jeder Farbtupfer eines Bildes autobiographisch." 65 Aber die 'autothematischen Filme' enthalten in der Selbstdarstellung auch ein - mehr oder weniger großes - Stück Selbstbekenntnis. So basiert DER STAND DER DINGE ganz wesentlich auf den Erlebnissen, die Wenders mit seinem HAMMETT-Projekt zu sammeln hatte. Von der tiefen Verunsicherung jedoch, die aus manchen Interviews jener Tage spricht, sind allenfalls die kaum vernarbten Verletzungen spürbar. Wenders verlieh allerdings seiner Figur des Regisseurs wenig persönliche Züge. Es ist eher sein Schicksal in der Filmbranche, das Parallelen aufzeigt. Es geht also weniger um einen intimen, persönlichen Konflikt, sondern um eine Bestandsaufnahme, ob unter den geschilderten Bedingungen eine Selbstverwirklichung mittels Film überhaupt (noch) möglich ist. Godard tritt in LE MEPRIS sogar selbst vor die Kamera - autobiographisch ist der Film jedoch nur in Details. Eine Person, die der Regisseur als seinen Stellvertreter ins Spiel bringt, gibt es nicht. Allenfalls Sympathien zu dem Regisseur Fritz Lang werden deutlich - aber der gehört einer anderen Zeit an. Godard ist weniger in dem spürbar, was gezeigt wird, sondern eher darin, wie er zeigt, was er zeigt. Godard wahrt Distanz: zu seiner Geschichte, seinen Helden, zu sich. Ganz anders wiederum stellt sich die Situation in 8V 2 dar. Autobiographische Züge durchziehen den Film wie ein Netz, das der Regisseur ausgeworfen hat, auf daß sich Publikum, Kritiker und Analytiker darin verfangen. Ungeachtet aller Interview-Koketterie ist 8V2 am weitgehendsten die Darstellung des eigenen Lebens. Fellini ist nicht Guido, aber er kennt Guido sehr gut. Fellini besitzt genug Abstand zu sich selbst, um sich so weit sich selbst nähern zu können.

63 64 65

Benderson. Approaches to Fellini's 8'I? 162. Budgen. Fellini 57. Fellini. "Erzählen, das einzige Spiel". 215.

192

6.3 Die schöpferische Arbeit als Identitätsbalance Der amerikanische Traum begleitete Wenders seit seiner Kindheit. 1984, nach vielen Jahren in den USA, nach HAMMETT und DER STAND DER DINGE, fragt er sich: "Ist er ausgeträumt, der Amerikanische Traum? Träumt ihn noch jemand wirklich oder träumt ihn nur noch das Kino weiter? Gäbe es ihn überhaupt ohne das Kino? Ist nicht Amerika eine Erfindung des Kinos? Gäbe es in der Welt das Träumen von Amerika ohne das Kino?" 66 Wenders, 1945 geboren, fand in amerikanischen Comic Strips 67 , in amerikanischen Filmen und in amerikanischer Musik seine Helden und Vorbilder. 68 Diese US-Importe hatten den Vorteil, von der geschichtlichen Hypothek mancher deutschen Kulturgüter nicht belastet zu sein, und sie fungierten der Eltemgeneration gegenüber als Zeichen der Opposition und des Protestes. Doch die Wahlmöglichkeit, die man da zu haben und zu nutzen glaubte, war nur eine vordergründige, denn - so Wenders - "das amerikanische Vorbild war ja doch, bei aller Freiheit, die man darin gesehen hat, ökonomisch durchaus ein Zwang, weil es gab ja keine andere Wahl, es gab ja nur amerikanische Filme zu sehen. Also von daher waren die Deutschen glaube ich schon kolonisierter als alle anderen europäischen Länder, also in Frankreich konnte man ja immer alles mögliche sehen, also ich habe ja nie eine andere Wahl gehabt." 69 Die "Kolonisation der Gehirne" 70 vollzog sich im Nachkriegsdeutschland in mehreren Etappen: zunächst verordnet im Zuge der Re-Edukation, dann schleichender und wirksamer - vermittelt durch eine Medienwelt, die dazu angetan war, eine Ersatzheimat zu kreieren. Aus der eigenen Geschichte jedenfalls war eine Legitimation der eigenen Identität nicht ableitbar. "Es ist sicherlich nicht zu weit gegriffen, in dem versperrten Zugang zur deutschen Geschichte eine wesentliche Ursache, gewissermaßen die subkutane Schicht der kulturellen Entfremdung, der Heimatlosigkeit und des Mangels an Identität der Nachkriegsgeneration zu sehen." 71 Ein Entwurzeltsein, das viele von Wenders' Filmhelden prägt: Philip (ALICE IN DEN STÄDTEN) durchquert ziellos die Vereinigten Staaten, um dann seine Suche in Deutschland fortzusetzen, Wilhelms Odyssee (FALSCHE BEWEGUNG) führt ihn vom hohen Norden der Bundesrepublik in den Süden, zum höchsten Punkt des Landes, der Zugspitze, Bruno und Robert (IM LAUF DER ZEIT) fahren 66 67

68

69 70 71

Wenders. "Der Amerikanische Traum". 144. In IM LAUF DER ZEIT kehrt Bruno in jenes Haus zurück, in dem er seine Kindheit verbrachte, um unter der Treppe verborgene Comic Strips wieder ans Tageslicht zu fördern. Wenders: "Die einzigen richtigen Vergnügen, die ich als Kind kannte, waren amerikanisches Kino und Comic Strips [...]." Wenders in Knorr/Boucard. "Gespräch mit Wenders". 21. Wenders in Adler. Das große Geld TV-Feature. Bechthold. "Fall Wenders". 32. Ebd. 36.

193 durch die Einöde entlang der Grenze zur D D R , und Jonathan ( D E R A M E R I K A N I S C H E F R E U N D ) ist in Westeuropa unterwegs, um seinen Mordauftrag zu erfüllen. In D E R S T A N D D E R D I N G E schließlich läßt Wenders Regisseur Friedrich Munro sagen, daß er sich nirgendwo zu Hause fühlt. Wenders Protagonisten - übrigens allesamt Männer - sind wie getrieben unterwegs, einen Platz für sich suchend. Rastlose Bewegungen, die in dem Begriff: 'Heimat' ihren Bezugspunkt haben - als Sehnsucht und als Abschreckung zugleich, die Ambivalenz bleibt. In ihrer Zähigkeit und Unerbittlichkeit gleichen Wenders' Helden trotzigen Kindern. Und immer wieder sind es Kinder, die Wenders als noch nicht von Entfremdung zerrissene Wesen darstellt: Schließlich ist Heimat ein B e griff, der an die Kindheit gemahnt. 7 2 In den Kindern lebt die Hoffnung auf einen verlorenen Urzustand, das 'Eins-sein' mit sich und der Welt, weiter. Dem Erwachsenen ist dieser W e g ins Paradies verschlossen. Er muß "wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen" 7 3 . Wenders hat für sich diesen Weg beschritten, als er seinen Kindheitstraum 'Amerika' mit den Augen des Erwachsenen betrachtete. "Er mußte die Erfahrung machen, daß hinter dieser Kino-Welt, hinter den vermittelten Kino-Mythen, die Gesetze des Marktes, die Sponsoren und PR-Manager die eigentlichen Regisseure sind. Es zeugt schon von einer überraschenden Naivität Wenders, aber vor allem auch von seinem radikalen Bedürfnis nach Identität, erst einmal durch die Höhle des Löwen gehen zu müssen, um diese Erkenntnis zu gewinnen." 7 4 Wenders, und mit ihm eine ganze Generation von bundesdeutschen Filmemachern, leidet unter einem Traditionsverlust, den der Einschnitt durch das 3. Reich verursachte. Viele Arbeiten des 'Neuen Deutschen F i l m s ' verbindet "die Suche in die Vergangenheit, um Ansätze jener Menschlichkeit wiederzufinden, die von Hitler so gründlich ausgerottet schien" 7 5 . Die Verabschiedung des Kindheitsbildes vom 'gelobten Land' U S A gehört in diesen Zusammenhang. Darin ist ein Versuch zur Selbstbefreiung zu sehen: Der ' U m w e g ' über Hollywood war notwendig, um sich dem eigenen kulturellen Erbe stellen zu können - und darauf eine Antwort zu finden. Denn das Motto seiner, der '68er Generation, das Wenders seine Helden in I M L A U F D E R Z E I T an die Wand schreiben ließ, ist nach wie vor nicht eingelöst: ' E s muß alles anders werden!' Godard hat L E M E P R I S , wie gezeigt, nur wenig autobiographische Züge verliehen. Die im Film geschilderte Auseinandersetzung zwischen dem R e gisseur Lang und dem Produzenten Prokosch fußt allerdings auf Erfahrungen, die Godard kennengelernt hatte - und die er nicht zuletzt mit seinem L E M E P R I S - P r o j e k t erneut zu sammeln hatte. Was sich vor, während und nach den Dreharbeiten abspielte, braucht den Vergleich mit dem, was der Film zeigt, nicht zu scheuen. In diesem kreativen Prozeß Identität und Integrität zu wahren, war Godard nur durch die Flucht nach vorne möglich!

72 73 74 75

Bloch. Prinzip Hoffnung. 1628. Kleist Marionetten-Theater. 16. Bechthold. "Fall Wenders". 36. Buchka Augen. 12.

194

Die Auseinandersetzungen mit seinem Produzenten Levine müssen so heftig gewesen sein, daß Godard mit dem Gedanken spielte, seinen Namen zurückzuziehen. Er befürchtete, nach den verlangten Änderungen sei LE MEPRIS nicht länger ein Godard-Film. Schließlich fand Godard eine Lösung, die ihm akzeptabel erschien - mit der er glaubte, sein Gesicht gewahrt zu haben. Godard zur umstrittenen Bett-Szene (E3): "Under other conditions, I would have refused this scene; but here, I shot it in a certain way, using certain colors - I used a red light, and then a blue lighting so that Bardot would become something else, so that she would become something more unreal, more profound and more serious than simply Brigitte Bardot in bed. I wanted to transfigure her, because the cinema can and must transfigure reality." 76 Sein Fazit: "Die hinzugefügten Szenen [...] sind dem Film völlig integriert, und ich übernehme die volle Verantwortung dafür." 77 Eine gewagte Behauptung - integriert sind diese Szenen bewußt nicht, sie demonstrieren allenfalls wie Godard auf die Interventionen der Produzenten in für ihn typischer Manier konterte. "In 8V2 the boundary line between what I did for myself and what I created for the public is very subtle." 78 Was Fellini hier für sich selbst tat, erhellt ein Blick auf die Geschichte seiner männlichen Protagonisten. Im Lauf der Jahre konzentriert er sich immer mehr auf einen einzigen Helden, und die Konflikte verlagern sich von primär zwischenmenschlichen hin zu mehr subjektiven Ebenen, hin zu einem zentralen Charakter, der eine existentielle Krise durchlebt. In unserem Zusammenhang ist besonders die Entwicklungslinie von Interesse, die sich zwischen den männlichen Hauptdarstellern Moraldo-Marcello-Guido ziehen läßt. Fellini bezeichnete deren Verbindung übrigens als autobiographische Ader 79 seiner Arbeit; ihr Weg belegt die Entwicklung ihres Schöpfers. Moraldo (I VITELLONI) gehört zu einer in der Provinz lebenden Gruppe von 'Müßiggängern*. Sie sind nicht bereit, ihrem Alter entsprechend die Verantwortung des Erwachsenen zu übernehmen, stattdessen ziehen sie es vor, in der Obhut ihrer Familien - speziell ihrer Mütter - zu verbleiben, auch wenn sie dort wie Kinder behandelt werden. Allein Moraldo gelingt es am Schluß des Films, dieser erstarrten Welt zu entfliehen. Er reist nach Rom so wie auch Fellini als junger Mann Rimini verließ, um in der Hauptstadt sein Glück zu suchen. Marcello (LA DOLCE VITA) hat sich zwar bereits in der Großstadt eingerichtet, und als Journalist verfügt er auch über einen großen Bekanntenkreis - eine Heimat allerdings hat er nicht gefunden. Oberflächliche Kontakte können über seine tiefe Einsamkeit nicht hinwegtäuschen. Auch der Besuch des Vaters, der aus der Provinz anreist, verdeutlicht nur seine Wurzellosigkeit. Fehlende Wärme und Sprachlosigkeit kennzeichnen hier wie in 8V2 das Verhältnis zu den Eltern. 80 Marcello Mastroianni, 76 77 78 79 80

Godard in Baby. "Shipwrecked People". 38. Godard. "Die Verachtung". Solmi. Fellini 171. Fellini. "Bitter Life". 192. Auch der Vaterdarsteller (Annibale Ninchi) ist in beiden Filmen identisch. Die Beibehaltung eines Schauspielers für die zentrale Rolle stellt auch ein Merkmal von Kontinuität dar.

195

der in L A D O L C E VTTA sogar unter seinem wirklichen Vornamen auftritt, verkörpert in 8V2 Guido. 81 Moraldo, Marcello und Guido verbindet ein ähnliches Dilemma: Diese Männer finden kein reifes Verhältnis zu einer Frau, zu Frauen, zum Weiblichen. Sie suchen Wiedergutmachung für das, was sie ihnen angetan haben 82 , und sie erwarten von den Frauen nicht mehr und nicht weniger als ihre Rettung. Sie sind aber auch selbst Opfer des italienischen Machokults, der der Entwicklung ihrer Persönlichkeit geschlechterrollenspezifische Grenzen setzt. Das männliche und weibliche Prinzip findet in den Begriffen Intellekt und Magie seine Entsprechung. Fellinis Helden - selbst kaum als intellektuell zu bezeichnen - suchen immer wieder bei Intellektuellen Rat und Hilfe. So stellt für Marcello in L A D O L C E V I T A Steiner eine Hoffnung dar, doch der bringt sich um und tötet damit auch Guidos Utopie. Daumiers Intellektualismus in 8V2 gerät schon mit dessen erstem Auftritt zur Karikatur. In seinem hohlen, selbstgefälligen Pathos läßt er alleine Guidos Scheitern als Sieg der Vernunft gelten. Ein anderes Erlösungsversprechen, mit dem sich Fellinis Helden auseinandersetzen müssen, wird durch die katholische Kirche verkörpert. Aber diese Kirche wird als eine verknöcherte Institution gezeigt, die auf die Fragen der Zeit schon lange keine Antwort mehr weiß. 83 Als letztes Machtmittel ist der Kirche die Schuldzuweisung geblieben - und auch Moraldo, Marcello und Guido können sich nicht entziehen. Die katholische Kirche ist eine wichtige Größe in der italienischen Erziehung; hier finden die Wurzeln für später aufbrechende psychische Leiden Nahrung. Fellini: "We spend the second half of our lives wiping out the taboos, repairing the damage that education has caused in the first half." 84 Die Kirche wird als ein Haupthindernis auf dem Wege der Selbstverwirklichung dargestellt. Auf der anderen Seite hinterläßt sie ein Vakuum, in dem andere Symbole und Inkarnationen der Hoffnung, der Reinheit Platz finden: das Heilung versprechende Wasser (auch das Meer zählt dazu) oder weibliche Idealgestalten wie Gelsomina ( L A S T R A D A ) , Paola ( L A D O L C E V I T A ) und Claudia (8V2). Fellinis Helden brauchen und kreieren deshalb diese Ideale - wenn es aber gilt, deren Angebote wahrzunehmen, ihre Versprechen einzulösen, dann ziehen sie sich zurück. Marcello kann auf Paolas Hilfsangebot nicht eingehen, Guido nimmt das von Claudia offerierte Heilwasser nicht an: Die weiblichen Idealgestalten können die realen Probleme der männlichen Helden nicht lösen. Bliebe noch ein letztes, von Fellini wiederholt eingesetztes Modell einer 'besseren Welt' zu erwähnen: der Zirkus. 85 Fellini sieht archetypische Ähnlichkeiten zwischen dem Leben und dem Zirkus: "Der Zirkus ist nicht nur 81

82 83

84 85

Bis auf den heutigen Tag arbeilen Mastroianni und Fellini häufig zusammen - kein Wunder, daß immer wieder von Marcello als Federicos 'alter ego' die Rede ist. Insoweit stellt die Unterdrückung der Frau ein festes Thema in Fellinis Filmen dar. Fellini findet dafür viele Visualisierungen, z.B. senile Kardinäle, heuchlerische Vertreter der Kirche oder auch das Bild eines Helikopters, der eine Christus-Statue über die heilige Stadt transportiert ( L A DOLCE VITA). Fellini zit. in Benderson. Approaches to Fellinis 167. Fellini betont die Parallelen zwischen dem Zirkus und dem Kino, das ja zunächst auch auf Jahrmärkten zu Hause war; siehe: Budgen. Fellini. 52.

196

ein Schauspiel, er ist eine Lebenserfahrung. Eine Art, im eigenen Leben zu reisen." 86 Im Zirkus hat der Clown - vor allem die Figur des 'Dummen August' - als Verkörperung des Irrationalen, des Phantastischen und des Rebellischen, eine Überlebenschance. Aber die Leere, die von der versagenden Kirche hinterlassen wurde, kann der Zirkus selbst in Fellinis Glorifikation nicht ausfüllen - ihm fehlt die metaphysische, ethische und auch gesellschaftliche Vision. Die Regisseure der 'autothematischen Filme' sind in der privilegierten Lage, eine der kostspieligsten Kunstformen zur Reflexion des Selbst nutzen zu können. Wie die Untersuchung zeigte, beschreiben sie dabei verschiedene Wege, die sie unterschiedlich weit führen. Wenders behandelt in DER STAND DER DINGE zunächst ein Kapitel seiner jüngeren Vergangenheit; darüber hinaus setzt er sich mit dem amerikanischen (Alp-)Traum auseinander, der sein Leben wie das einer ganzen Generation begleitet hat. Wenders Held hat keine Chance, Wenders selbst versichert sich mit DER STAND DER DINGE seiner künstlerischen Kompetenz. Was Wenders im Rückblick beschreibt, ist für Godard gegenwärtig: Er muß befürchten, daß sein Film LE MEPRIS aus ökonomischen Erwägungen so manipuliert wird, daß der Regisseur nicht mehr bereit sein kann, seinen Namen dafür herzugeben. In der Art und Weise, wie Godard sich dann auf Konzessionen einläßt, dokumentiert sich sein Aufbäumen gegen die verlangte Identitätsverleugnung. Fellinis Ansatz greift weiter: Er befaßt sich in 8V2 mit Themen, die für ihn über den Tag hinaus von Bedeutung sind. Auf dem vermeintlichen Zenit seines Schaffens begibt er sich mit seinem Helden auf die Suche nach den Wurzeln seiner Existenz - der Kindheit. Gemeinsam ist den 'autothematischen Filmen', daß die Regisseure Menschen in den Mittelpunkt stellen, die ihre Situation als leidvoll erfahren und aus dieser Notlage heraus die Energien schöpfen und den Willen ziehen, eine Neuorientierung anzustreben. Die Filme sind Versuche, die aus der Balance geratene Identität wieder ins Lot zu bringen, indem man sich seiner Kreativität als Mittel der Problembewältigung versichert. Insoweit handelt es sich bei den 'autothematischen Filmen' wirklich um "Therapien in eigener Sache" 87 . Störungen erweisen sich dabei als die treibende Kraft, die Bewegungen initiiert. Im Bemühen um die Wahrung der Identität finden sie ihr stabilisierendes Gegengewicht.

86 87

Fellini. "Reise in den Schatten". 155. Knorr. "Therapien in eigener Sache".

7. Der 'autothematische Film' als Reflexion des Status des Regisseurs

Die Regisseure der 'autothematischen Filme' haben sich nicht nur mit psychischen 'Gleichgewichtsstörungen' auseinanderzusetzen - sie müssen sich auch als Teil und schöpferischer 'Kopf' eines aufwendigen Unternehmens behaupten, dessen Erfolg sich nicht mit Sicherheit garantieren läßt: Von den Projekten, die in den 'autothematischen Filmen' in Angriff genommen werden, wird kein einziges beendet! In DER STAND DER DINGE werden die Entwicklung von Idee und Konzeption behandelt, die Probleme mit der Finanzierung breit dargestellt und die Dreharbeiten aufgenommen. Aus Anlaß der Mustervorführungen werden die möglichen Reaktionen des Publikums erörtert, die Geldgeber befürchten Ablehnung und stoppen die Zahlungen. Auch in LE MEPRIS ist die Vorführung der Muster das Ereignis, das den Produzenten- über die Publikumsresonanz spekulieren läßt. Er gelangt zur Konsequenz, einen Drehbuchautor zu engagieren, der Idee und Konzeption des 'Films' einer erneuten Bearbeitung unterziehen soll, auf daß er mehr Geld einbringen möge. In 8V2 dagegen kommt es erst gar nicht zur Aufnahme der Dreharbeiten. Obwohl die Finanzierung gesichert ist und die Produktionsvorbereitungen laufen, stagniert das Projekt. Die Verzögerungen haben andere Ursachen: Der Regisseur befindet sich in einer tiefen Schaffenskrise. Seine kostspielige Entscheidungsunfähigkeit ruft auch hier schließlich den Produzenten auf den Plan. Der Status des Regisseurs in der Filmindustrie ist ein zentrales Thema der 'autothematischen Filme'. Es soll dieser hier zunächst im Hinblick auf den Interessenskonflikt zwischen Regisseur und Produzent untersucht werden. Dabei werden besonders die Rolle des Drehbuchs und die antizipierten Reaktionen von Publikum bzw. Kritik zu erörtern sein. Anschließend soll ein aufschlußreiches Merkmal von zwei der drei hier untersuchten Filme näher betrachtet werden: die Kontaktsuche zur Filmtradition.

7.1 Der Konflikt zwischen Regisseur und Produzent In DER STAND DER DINGE notiert die Schauspielerin Anna die Botschaft des Regisseurs Friedrich auf der Papiertischdecke: 'Stories only exist in stories (whereas life goes by without the need to tum into stories)'. (E168) Dieser Satz, Friedrich nennt ihn den wichtigsten seiner Ansprache, offenbart Munros - und hier kann man in einem Atemzug sagen: Wenders' - Problem. In DER STAND DER DINGE wird es mehrfach angesprochen, und der Film ist auch als Ganzes (oder besser in seinen Teilen) ein Dokument dieser Auseinandersetzung: Erzählen, so behauptet der Film, ist nur noch als Nacherzählen möglich.

198

Wenders: "Es war mir wichtig, daß Friedrich ein Remake macht. Es war mir wichtig zu sagen, daß Geschichten nicht gehen, oder nicht mehr gehen dürften, sollten, könnten, die ihren Bodensatz nur noch in anderen Geschichten haben. Geschichten, die als einzige Realität nur die Realität von vorhergehenden Geschichten haben. Viel anderes als Remakes wird ja im Kino schon seit geraumer Zeit nicht mehr gemacht."1 Das Kino, von dem Wenders hier spricht, ist das der USA. Sein Fazit: "Es gibt in Amerika eine skrupellosere und einfachere Art, Geschichten zu erzählen [...].'"2 Die Aufgabenstellung der Geldgeber wird von Friedrichs Produzent klar umrissen: Eine Geschichte wollen die, sonst nichts. [...] Unsere Geschichte ist ja schon mal gemacht worden. Du hättest sie ja bloß... Nein, du mußtest nach etwas Tieferem schürfen. (E494 f.) Blumenberg sieht zwischen dieser Erwartung und Munros/Wenders' Filmverständnis nicht zu vereinbarende Zielvorstellungen: "'Der Stand der Dinge' handelt von dem Zwang, Geschichten erfinden zu müssen für das Kino, während das Leben selten die bündige Form einer Anekdote annimmt: von dem Widerspruch also zwischen amerikanischen Erzähltechniken und europäischer Sensibilität [...]."3 Ein Widerspruch, der hier jedoch auf einen allzu einfachen Nenner gebracht wird. So akzeptiert auch Wenders den Wunsch nach einer Geschichte als durchaus legitim. Er sieht darin keineswegs ein Merkmal mangelnder Sensibilität, sondern ein Bedürfnis nach Zusammenhängen, die - so Wenders - in einer immer komplexer werdenden Welt notwendiger denn je sind: "Deshalb denke ich, daß das Bedürfnis nach Geschichten eher größer wird, weil es da jemand, der erzählt, gibt, der das ordnet und die Idee reinbringt: Man hat noch einen Griff auf sein eigenes Leben. Das tun ja Geschichten, sie bestätigen, daß man kompetent ist."4 In dem Verzicht auf Geschichten drückt sich auch ein resignativer Verlust größerer Zusammenhänge aus - und die Verweigerung von solchen Geschichten, die diese Zusammenhänge lediglich vorgaukeln. Was bleibt, ist die Geschichte als Vehikel. Wenders: "[...] das ist ja das Dilemma: daß alles, was ich erzählen will, Kleinigkeiten sind, ob das nun von Städten handelt oder von Emotionen oder Verlorenheit - daß alles, was ich erzählen will, nicht erzählbar ist: - ohne Geschichten."5 Daß das Erzählen von Geschichten nicht bloß fragwürdiger Tribut zu sein braucht, sondern auch eine lebendige Darstellung von Erlebtem sein kann, zeigen in DER STAND DER DINGE die Erzählungen der Kinder und Roberts aberwitzige Krankheitsgeschichte. Robert bringt seine Haltung auf den Punkt, wenn er Friedrich sagt: Leben ohne Geschichten - das macht keinen Spaß. (E277) Auch Gordon fordert eine Geschichte, weil sie dem Zuschauer einen Halt bietet und ihm Ablenkung erlaubt: Ein Film ohne Geschichte, das hält nicht. Genausogut könntest du ein Haus ohne Mauern bauen. Aber es gibt kein Haus ohne Mauern. Filme brauchen Mauern, verstehst du?" Friedrich: "Warum Mauern? Der Raum zwischen den Personen kann die Decke tragen. Gordon: "Unsinn. [...] Im Kino geht's nicht zu wie im Leben. Davon haben die Leute schon genug. Die wollen Ablenkung." (E495 ff.) 1 2 3 4 5

Wenders in Schütte. "Abschied". Wenders in Knorr/Boucard. "Gespräch mit Wenders". 19. Blumenberg. "Lehrjahre des Zauberers". Wenders in Schütte. "Abschied". Ebd.

199

Mit dem Nachdenken ging die Selbstverständlichkeit verloren; Munro voller Selbstzweifel: Jetzt hab' ich Angst, am Abend vorher. Jetzt weiß ich, wie das Erzählen geht [...] Geschichten haben einfach zuviele Regeln. (E498) Ist angesichts dieser Regeln noch Platz für Spontaneität, in der sich der eigene Antrieb, die Selbstbestimmung äußern könnte? Spontaneität, die für Regisseure wie Friedrich oder Wenders - hier ist Friedrich zweifelsohne als sein Alter ego zu sehen - das Lebenselixier darstellt? Trotz aller unerläßlichen Planungen, die jeder größere Film verlangt, hat sich Wenders immer bemüht, der Spontaneität in seiner Arbeit eine Chance zu lassen. Wenders Arbeitsweise kennzeichnet "Erfahrungen machen, diese Erfahrungen beschreiben und schließlich mit und beim Beschreiben neue Erfahrungen sammeln"6. So bedient sich Regisseur Munro in Los Angeles einer S-8-Kamera, um ein visuelles Notizbuch zu führen - Recherchen für zukünftige Projekte. Aus dem Leben wird der Stoff für kommende Filme gewonnen. Voraussetzung für Wenders' Art zu arbeiten ist ein flexibles Drehbuch, das Eingriffen und Veränderungen während der eigentlichen Dreharbeiten Raum bietet. Wenders: "In der europäischen Tradition, die ich kenne, ist das Drehbuch etwas, das von dem nach ihm gedrehten Film in Frage gestellt werden kann. Ein Film kann als Abenteuer gesehen werden oder als eine Art Suche nach sich selbst. Ich habe diese Tradition sehr weit geführt bei 'Im Lauf der Zeit' und jetzt bei 'Der Stand der Dinge', wo es keine Drehbücher gab, nur Anfangssituationen. Die Filme suchten nach ihrer eigenen Geschichte, oder das Drehen selbst war der Prozeß des Drehbuchschreibens."7 Das 'Drehbuch' für DER STAND DER DINGE bestand lediglich aus einem dreiseitigen Expose - der Film entstand wirklich während des Drehens. Bei dieser Arbeitsweise, in der der Film während seiner Entstehung 'wächst', ist es notwendig, chronologisch zu drehen. Dieses chronologische Vorgehen wird aus organisatorischen, und das heißt letztlich aus finanziellen Gründen üblicherweise nicht angewandt - Drehbuch und Drehplan sehen unterschiedliche Abfolgen vor. 8 Außergewöhnlich und wegen der Schnelligkeit in diesem Zusammenhang erwähnenswert ist übrigens auch die Finanzierung des Projekts DER STAND DER DINGE. 9 Wenders: "Alles begann mit einer spontanen Idee in Portu6 7 8

9

Buchka. Augen. 7. Wenders in Film verlag. Der Stand der Dinge. 12. Die Aufnahmen für DER STAND DER DINGE entstanden chronologisch; lediglich die Einstellungen mit Sam Fuller (Joe) wurden wegen Terminschwierigkeiten des Schauspielers gebündelt. Andere Wenders-Filme, die chronologisch gedreht wurden, sind DIE ANGST DES TORMANNS BEIM ELFMETER und IM LAUF DER ZEIT; bei letzterem wurde anfangs sogar versucht, den Fortgang des Films während der Drehzeit in der Gruppe der Mitarbeiter sukzessiv zu entwickeln. Die Finanzierung setzte sich zusammen aus: ZDF 300 000 DM aus dem low-budget-Etat im Rahmen des Film/Femseh-Abkommens, 70 000 DM hatte Wenders Produktionsfirma noch an Referenzmitteln für DIE LINKSHÄNDIGE FRAU, Regie: Peter Handke, BRD 1977, zu bekommen, sowie aus den Verleihgarantien: 30 000 $ Film International, 30 000 $ Musidora (span. Kinoauswertung), 10 000 $ Doper Films (Lissabon), vermutlich knapp 80 000 $ italienische Gaumont, 20 000 $ Andi Engels Artificial Eye (London), 200 000 DM Filmverlag (BRD). In Wetzel. "Der Stand der Dinge". 37.

200

gal, inspiriert durch das Land, und zwei Wochen später war der Film bereits finanziert, besetzt, vorbereitet, und wir begannen wirklich zu drehen. Das muß so eine Art Rekord sein für einen Spielfilm." 10 Wenders konnte sich somit bei DER STAND DER DINGE noch einmal Bedingungen schaffen, die seiner Arbeitsweise und seinem Filmverständnis entgegenkamen. Und dies, nachdem er mit dem vorausgegangenen und während der Entstehung von DER STAND DER DINGE noch nicht abgeschlossenen Projekt HAMMETT erfahren hatte, wie die Rolle des Regisseurs heutzutage aussieht - wenigstens in den USA Dort kommt dem Regisseur die Aufgabe zu, ein bis ins Kleinste festgelegtes Drehbuch lediglich zu realisieren, er hat eher eine Dienstleistung zu erbringen. Wenders wehrt sich gegen derartige Kastrationen des schöpferischen Individuums. Seine Filme kann man sehen als Zeugnisse seines Widerspruchs, als Dokumente seines Überlebenswillens. Sein Filmverständnis gründet auf der Einschätzung, "daß das Kino etwas mit dem Leben zu tun hat, daß das Kino eine genauere und umfassendere Dokumentation unserer Zeit ist als das Theater, die Musik oder die bildende Kunst, daß das Kino den Menschen schaden kann, indem es sie von ihren Sehnsüchten und Ängsten entfremdet, oder daß das Kino den Menschen nützen kann, indem es ihnen das Leben öffnet und Freiheiten vor Augen führt, kurz: daß das Kino mehr ist als die Industrie, die Filme produziert." 11 Wenders und mit ihm und für ihn sein Held Friedrich Munro träumen vom Kino als einer persönlichen Vision. Ihr Traum lautet, sich mit dem Filmemachen selbst zu verwirklichen. Im Begriff der Selbstverwirklichung steckt die Utopie einer mit sich und der Umwelt im Einklang lebenden Persönlichkeit. Aus den unausweichlichen Differenzen nährt sich schöpferische Energie. Der Film wird in diesem Zusammenhang verstanden als ein 'Erkenntnismittel', das sich suchend, forschend und die Suchbewegungen fixierend der Welt nähert, und das andere auffordert, sich an diesem Abenteuer zu beteiligen. Das verlangt aber auch, dem Individuum - sei es Schöpfer oder Rezipient - gewisse Freiräume, Handlungsspielräume zu belassen bzw. zu eröffnen. Wenders: "Es gibt Filme, an denen kann man gar nichts entdecken, weil es nichts zu entdecken gibt, denn alles ist ganz offensichtlich, und alles ist so, daß man es auch so verstehen soll und sehen soll und ganz eindeutig. Und dann gibt es Filme, wo man ständig irgendwelche Kleinigkeiten bemerken kann, die immer einen Raum freilassen für so etwas. Es sind meist Filme, in deren Bildern nicht immer gleich Deutungen mitgetragen werden." 12 Die Auseinandersetzungen zwischen Godard und dem Produzenten von LE MEPRIS, Carlo Ponti, zu verfolgen ist aufschlußreich - werden doch Einblicke eröffnet in die Abhängigkeiten filmkünstlerischer Arbeit. Das Verhältnis zwischen beiden war von Anfang an gespannt. Ponti verlangte von Godard ein Drehbuch, doch Godard weigerte sich: "Ich habe gemerkt, daß man kein Drehbuch machen darf und keinen Drehplan, denn damit kriegen sie einen hinterher nur dran." 13 Er schlug vor, ein Buch - Moravias 'Verach10 11 12 13

Wenders in Buchka. Augen. 19. Wenders. "Nashville". Wenders in Blum. "Die Angst der Tormanns beim Elfmeter". 71. Godard. "Hollywood ist Zuschauer-Milliardär". 42.

201

tung' - als Grundlage zu nehmen, und versprach, er werde der Erzählung folgen. Die enormen Kosten des mit international bekannten Stars besetzten Films haben Ponti zu Verhandlungen bewogen, von denen er Godard nicht in Kenntnis setzte. Godard: "[...] hinter meinem Rücken hat er den Amerikanern irgendwelches Zeug eingeredet, um ihnen den Film zu verkaufen, noch ehe er fertig war. Ich vermute, daß er ihnen ungefähr erzählt hat: 'Das ist ganz einfach phänomenal, die Ea'rdot völlig nackt usw.' Und die Amerikaner haben den Film gekauft. Als sie dann den Rohschnitt sahen, gab es ein großes Geschrei: O k a y , das ist sehr künstlerisch, sehr schön, aber überhaupt nicht kommerziell, das können wir nicht akzeptieren.' Ponti fing von neuem mit seinem Gerede an, immer ohne mein Wissen: 'Ärgern Sie sich nicht, ich werde das mit Godard schon in Ordnung bringen.' Dann forderte er mich auf, den Film kommerzieller zu machen. [...] er erwies sich als unfähig, mir zu erklären, wie man einen fertigen Film 'kommerzieller' macht, ohne ihn zu zerstören." 14 Erzürnt über dieses Vorgehen nahm Godard direkt Kontakt mit den Vertretern des amerikanischen Produzenten Joe Levine auf. Von deren Offenheit und Klarheit zeigte sich Godard beeindruckt: "'Am Anfang des Films', erklärten sie mir, 'wollen wir eine Szene zwischen Michel Piccoli und Brigitte Bardot, die im Bett liegen und sich lieben. In der Mitte des Films wollen wir eine Szene mit Brigitte Bardot und Michel Piccoli, die im Bett liegen und sich lieben. Am Ende des Films wollen wir eine Szene mit Jack Palance und Brigitte Bardot, die im Bett liegen und sich lieben. Das ist alles." 15 Godard ist sehr entschieden der Meinung, daß Produzenten vom Film, vom Kino und vom Publikum keine Ahnung haben - zumal wenn sie (wie Prokosch) aus Amerika kommen. Daß 'große Regisseure' wie Stroheim, Chaplin oder Wells dort auf Dauer nicht arbeiten konnten, konstatiert er wie eine Selbstverständlichkeit. 16 Produzenten des Typs, die Godard bei LE MEPRIS antraf, haben zunächst viel Geld für ein Buch ausgegeben, und sie sind darüber hinaus bereit, es mit großem finanziellen Einsatz zu verfilmen. Verständlich, daß sie das Risiko zu minimieren suchen und nicht willens sind, sich auf Experimente mit ungewissem Ausgang einzulassen. Der Interessenkonflikt ist unausweichlich, wenn der Regisseur sich durch das Drehbuch nicht festgelegen lassen will. Godard besteht auf seiner Entscheidungsbefugnis und Entscheidungskompetenz, auch am Set: "This is no improvisation, it's decision-making at the Last minute." 17 Godard betrachtet seine Filmarbeit und speziell die Dreharbeiten als Teil seiner Nachforschung, die ihn in Neuland führen soll, denn der Film ist für ihn Suche. Ziel seiner Arbeit ist, 'Forschung' und 'Spektakel' zu verknüpfen und zu vereinen: "If I analyze myself today I see that I have always wanted, basically, to make a research film in a spectacle form." 18 Der Film hat Godard zufolge das Leben nicht nachzubilden, nicht zu imitieren. Der Film ist für ihn vielmehr, wie

14 15 16 17 18

Godard. "Hollywood ist Zuschauer-Milliardär". 42. Godard. "Die Verachtung." Siehe Godard in Feinstein. "Interview with Godard". 8. Godard in Sarris. "Die Verachtung". 171. Ebd. 175.

202

Schütte formulierte, die "Fortsetzung des Lebens mit anderen Mitteln"19 bis sich der Kreis schließt und das Leben zur Imitation des Films wird. Eben das erlebte Godard mit LE MEPRIS. Fragte er sich zunächst noch, ob die Filmleute, wie sein Film sie zeigt, nicht zu sehr zur Karikatur geraten seien, wurde er bald eines besseren belehrt. 1964 äußerte sich Godard zu den 'Leuten vom Film', wie er sie in LE MEPRIS schildert: "Als ich 'Le Mepris' begann, fand ich die Situation ein bißchen schematisch und dieses Bild der Filmleute ein bißchen forciert, ein bißchen zu sehr Karikatur. Nun hat ausnahmsweise der Film auf das Leben abgefärbt. Alle Punkte der Erzählung wurden, einer nach dem anderen, in der Realität verwirklicht. Als ich den amerikanischen Produzenten die 'Nackt'-Szenen mit Brigitte Bardot zeigte, nahmen sie die gleiche Haltung ein wie Jack Palance bei der Vorführung einer Einstellung der Odyssee', wo man ein nacktes Mädchen schwimmen sieht [...].1,20 1981 schrieb er im Rückblick: "Le Mepris kann keine Vorstellung vom Kino geben, es kann, jedenfalls habe ich das versucht, eine Vorstellung von Leuten im Kino geben [...]."21 Godard nährt keine Illusionen: Wenn er in LE MEPRIS zeigt, wie die Beziehungen der Menschen, die im Kino arbeiten, kaputtgehen, dann entspricht das seiner Beurteilung der Branche.22 Dennoch bleibt er - "weil das Kino der einzige Ort ist, der einem hilft zu leben"23. Fellini ist bekannt dafür, über Jahre und Jahrzehnte immer hinweg wieder dieselben Mitarbeiter um sich zu scharen bzw. dieselben Schauspieler zu engagieren (allen voran Marcello Mastroianni). Auch sein Protagonist in 8V2» der Regisseur Guido Anselmi, ist schon lange im Filmgeschäft, und einige seiner Mitarbeiter haben bereits mehrere Projekte mit ihm realisiert. Diese langjährigen Mitarbeiter sind es dann auch, die Veränderungen in seiner Persönlichkeit am schnellsten registrieren und sich dazu auch äußern. So sagt Conochia zu ihm voller Enttäuschung: Du hast dich ja so verändert, mein lieber Guido. (E300) Auf Guidos Anselmis frühere Arbeiten geht der Film nicht ein - sie müssen allerdings künstlerisch und auch finanziell erfolgreich gewesen sein, sonst wären die Aufmerksamkeit von Journalisten und Kritikern ebenso undenkbar wie die Geduld und Leidensbereitschaft seines Produzenten. Das Vertrauen seines Produzenten Pace ist schier grenzenlos. Bereitwillig nimmt er lange Verzögerungen hin, die Guido zu verantworten hat. Er erteilt Guido bei der ersten Begegnung noch einen freundlichen Hinweis auf die verstreichende Zeit: Er schenkt ihm eine Uhr. Später verknüpft Pace Verständnis mit leichter Kritik: Du willst mir klarmachen, wie verwirrt ein Mensch innerlich sein kann. Aber dann mußt du dich auch klar ausdrücken können, sonst hat es keinen Sinn. (E402 f.) Während der Mustervorführungen verstärkt er den Druck auf Guido: Ich will mich nicht zum Hanswurst der ganzen Filmindustrie machen lassen. Vor allem will ich nicht, daß man dich dazu stempelt. Alle warten nur darauf, dich abzuschießen. [...] Aber der Film muß jetzt gedreht werden, wir müssen endlich damit anfangen! 19 20 21 22 23

Schütte. "Worte und Bilder". 12. Godard. "Die Verachtung". Godard. Wahre Geschichte des Kinos. 86. Siehe auch Godard. Wahre Geschichte des Kinos. 93 ff. Ebd. 99.

203

(E596ff.) Als Guido während der Pressekonferenz erneut versagt, schlägt der anfänglich freundschaftliche Ton seines Produzenten endgültig in eine offene Drohung um: Wenn du den Film nicht machst, werde ich dich ruinieren! (E725) Guido hat seine Arbeitskraft verkauft und immense Investitionen veranlaßt, ohne sich über sein Filmvorhaben im klaren zu sein. Sein in der Filmbranche außergewöhnlicher Freiraum - vergleichbar Fellinis - schlägt um, gerät zum Alptraum. Die Maschinerie der Filmproduktion ist angelaufen, ohne daß wenigstens das Drehbuch fertig wäre. Der Regisseur, der angetreten ist, einer persönlichen Vision Gestalt zu verleihen, sieht sich auf sich alleingestellt. Guido leidet nun unter der selbst auferlegten Isolation. Erneut liegt der Vergleich mit Fellini nahe: Wie Fellini gewährt er dem Team keinen Einblick in das Drehbuch, er verhindert so, daß die anderen Mitarbeiter dreinreden, aber er verschließt sich auch deren Hilfe.24 Kritische Kommentare bleiben dennoch nicht aus, und sie sind in 8V2 in antizipierter Form eingeschlossen, Fellini 'liefert' die Kritik an seinem Film gleich mit. So meint Rosella, nachdem sie die Ausführungen des Produzenten zu dem Filmvorhaben verfolgt hat, zu Guido: Das sollen wir alles über uns ergehen lassen? Mama mia, die Visionen eines Endzeitpropheten, der es sich in den Kopf gesetzt hat, die Menschheit in Angst zu versetzen! (E462) Pace selbst ermahnt Guido, den zukünftigen Kinobesucher nicht aus den Augen zu verlieren: Wenn das, was du zu sagen hast, interessant ist, muß es auch alle interessieren. Warum solltest du dich nicht darum kümmern, ob die Leute dich verstehen oder nicht - entschuldige, das wäre überheblich und anmaßend, und das, Guido, darfst du nicht sein. (E405) Von Luisa, Guidos Frau, stammt die schärfste Kritik: Nur Erfindung, wieder eine Lüge! (E625) Die professionelle Kritik ist durch Carini vertreten. Er ist immer wieder zur Stelle, um Guidos Gedanken und Pläne zu kommentieren und das heißt: zu attackieren. Carini erweist sich als die personifizierte Negation: Die Story enthüllt von Anfang bis Ende so eine Armut an dichterischen Einfüllen entschuldigen Sie, aber für mich ist sie einer der eklatantesten und erschütterndsten Beweise dafür, daß der Film im Vergleich zu den anderen Kunstformen um 50 Jahre im Rückstand ist. (E56) Erst nach dem Abbruch der Dreharbeiten sieht Carini seine intellektuelle Pflicht erfüllt: Unsere wahre Mission besteht darin, die Tausend Mißgeburten zu verhindern, die in scheußlicher Obszönität täglich versuchen, das Licht der Welt zu erblicken. Und Sie haben in kluger Selbstkritik den Mut gefunden, auf die Realisation eines Films zu verzichten - wie ein Krüppel, der den Mut hat, sich seiner Deformationen nicht zu schämen. Sie haben sich von der ungeheuren Selbstüberschätzung befreit, daß ihre Irrtümer anderen Menschen weiterhelfen könnten. (E747 ff.) Der Intellektuelle wird als bloße Karikatur geschildert, dessen Denk- und Verbal-Akrobatik Guido nicht aus seiner Sackgasse heraushelfen wird. Was das für seinen Helden bedeutet, hat Fellini so formuliert: "Für ihn ist es notwendiger, sich dem Leben zu überlassen als es zu 24

So wird berichtet, daß vor und während der Dreharbeiten von 8V2 außer Mastroianni keiner der Schauspieler je das Drehbuch zu Gesicht bekam! Boyer. Die 200 Tage von 8'/2.46.

204

problematisieren."25 Carini hat bemerkenswerterweise Kenntnis von Guidos Gedanken und Träumen, ohne daß dieser sie zuvor geäußert hat: - Carini fragt nach der Bedeutung der kapriziösen Erscheinung dieses Mädchens am Brunnen (E56) - ein Tagtraum, den Guido soeben erlebte. - Nach Abschluß der Saraghina-Episode zerpflückt Carini im Cafe das gerade Gesehene (Guidos Erinnerung): Eine Figur aus ihren Kindheitserinnerungen. Mit echtem kritischen Bewußtsein hat das nichts zu tun... (E393) Dem Kritiker Carini sind intimste Informationen über Guidos Innenleben zugänglich, Informationen, die niemand außer Guido selbst besitzen dürfte. So erweist sich Carini als Teil von Guido - sein intellektuelles Gewissen, das in der Person des Kritikers Gestalt angenommen hat. Ein Gewissen, das er gerne für immer mundtot machen würde (Carini wird erhängt) und das doch nicht zu eliminieren ist (Carini übersteht das Erhängen ohne Folgen). Wenders und Godard schildern den Konflikt zwischen Produzent und Regisseur als Auseinandersetzung zwischen Vertretern finanzieller Interessen und ambitionierten Filmkünstlern. In beiden Fällen suchen die Geldgeber ihr Risiko zu minimieren. So ist DER STAND DER DINGE als Remake eines erfolgreichen Films geplant, und in LE MEPRIS setzt man gleich auf Homers Odyssee.26 In den Konflikten zwischen Friedrich Munro und den Geldgebern (bzw. zwischen Wenders und seinen Produzenten) sowie zwischen Prokosch und Lang/Paul (bzw. zwischen Godard und Ponti) spielt das Drehbuch eine wichtige Rolle. Den Produzenten soll es Einfluß sichern, den Künstlern ist es eine Fessel. Die Regisseure wollen sich durch ein Drehbuch in ihrer Gestaltungsfreiheit nicht beschneiden lassen, sie insistieren auf ihr Recht, auch vor Ort noch Änderungen vornehmen zu können. Produzenten, wie sie von Godard und Wenders geschildert werden, haben für eine Haltung, die das Filmen als abenteuerlichen Prozeß begreift, kein Verständnis. Fellini und sein Protagonist Guido Anselmi befinden sich in einer vergleichsweise privilegierten Lage. An Geld fehlt es nicht, und der Produzent begegnet seinem Regisseur lange ehrfurchtsvoll und väterlich unterstützend. Um so mehr treffen Guido die Attacken von seiner Frau Luisa und seiner spirituellen Weggefährtin Rosella. Vor allem aber der Kritiker Carini, eigentlich engagiert, ihn zu unterstützen, setzt ihm hart zu. Aber so wie sich schon in anderen Zusammenhängen zeigte, daß bestimmte Personen in 8V2 - vergleichbar dem Traum - Teile der zentralen Figur sind, so erbrachte auch hier die Untersuchung vor allem der Rolle Carinis: Er ist das intellektuelle Gewissen Guidos, eine destruktive, aber nicht auszulöschende Größe. Während also der Feind des Regisseurs in DER STAND DER DINGE und in LE MEPRIS in dem Produzenten zu sehen ist und somit 'außerhalb' steht, befindet sich der Widerpart in 8 l / 2 'innerhalb' des schöpferischen Individuums.

25 26

Fellini. "Begraben". 152. Dieses Vorgehen erfährt bei Godard insoweit eine Verdopplung, als der Stoff von LE MßPRIS auf Moravias Roman basiert.

205

7.2 Die Kontaktsuche zur Filmtradition Es überrascht kaum, daß Fellini seinen geschlossenen Kosmos 8V2 nicht verläßt, um Bezüge zur Historie seines Metiers herzustellen.27 Die Geschichte des Films ist nicht sein Thema, und vor allem: Er bedarf dieser Anbindung zur Lösung seiner Aufgabe nicht. Ganz anders stellt sich die Situation für Wenders und Godard dar. Der Film DER STAND DER DINGE nimmt häufig Bezug zur Geschichte des Mediums - sei es ausdrücklich, nur angedeutet oder auch in Form eines verborgenen Puzzles für Cineasten. Schon der Name des für amerikanische Geldgeber arbeitenden Regisseurs Friedrich Munro, auch Fritz genannt, ist ein deutlicher Hinweis auf dessen 'Biographie': Fritz verweist auf Fritz Lang, Friedrich auf Friedrich Wilhelm Murnau (auch der Nachname Munro hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Murnau). Damit wird auf zwei deutsche Regisseure angespielt, die beide nach Hollywood gingen, dort allerdings sehr unterschiedliche Erfahrungen sammelten: Murnau28 scheiterte letztlich, während Lang29 lernte, sich des Apparats zu bedienen. Aus einer Telefonzelle in den USA ruft Friedrich (vermutlich Kate) in Portugal an, um zu sagen: Vergiß nicht, ich bin nirgendwo zu Hause... in keiner Stadt, in keinem Land. (E429) - ein Zitat von Friedrich Wilhelm Murnau.30 In Hollywood verweilt Friedrich vor dem ins Pflaster eingelassenen Stern, der eine stilisierte Kamera und den Namen Fritz Lang zeigt (E418). DER STAND DER DINGE: E418

27

28 29 30

Allenfalls wäre hier die Slapstick-Verfolgung am Strand (E372) als liebevolle Reminiszenz an die frühen Jahre des Kinos zu nennen. Wie Max Ophüls oder Jean Renoir. Wie Billy Wilder, Douglas Sirk oder Otto Preminger. Schütte. "Abschied".

206

Friedrichs Filmprojekt SURVIVORS ist geplant als Remake von Allan Dwans THE MOST DANGEROUS MAN ALIVE, die Geschichte eines Gangsters, der als Folge einer Atomexplosion unverletzbar, aber auch grausam und gefühlskalt wurde; er ist "seiner erotischen Identität und jeder Leidenschaft außer seinem Haß beraubt [...]"31. Die Computer-Bilder (versehen mit Instruktionen für die Kamera und anderen Anweisungen), mit denen Friedrich von Dennis in Gotdons Haus konfrontiert wird, stammen aus Dwans Film. Ursprünglich war vorgesehen, Cormans THE DAY THE WORLD ENDED 32 als Vorlage für SURVIVORS heranzuziehen.33 Auch in diesem Film sind die Protagonisten nach einer atomaren Katastrophe emotional verroht. Beide Filme aus den 50er Jahren verbindet das Thema der Atomkatastrophe und in ihrem Gefolge die seelischen Deformationen der Überlebenden - offenbar ein Stoff, für das sich die gesichtslosen Geldgeber auch in den 80er Jahren ein Geschäft versprochen haben! Cormans Film wurde schließlich nicht benutzt - aber Corman selbst ist in einer kleinen Nebenrolle zu sehen: als Friedrichs (und Gordons) Anwalt. Auch eine Hauptrolle in DER STAND DER DINGE ist mit einem Regisseur besetzt.34 Sam Fuller spielt den Kameramann Joe.35 Die Protagonisten von Wenders' Film - allen voran Friedrich - bewegen sich in einer Weh, die mit dem Erwähnen von Filmtiteln und damit dem Zitieren von Emotionen, die diese Filme einst ausgelöst haben, noch am ehesten zu fassen ist. So sagt Friedrich in seiner Rede, die er in der Cafeteria hält, nachdem die Dreharbeiten abgebrochen werden mußten: All das hier ist Fiktion. [...] Manchmal fühlt man sich wie in MAGNIFICIENT OBSESSION [...] und im nächsten Moment wie in MY DARLING CLEMENTINE oder in JACK OF HEARTS. (E148 ff.) 36 Friedrich vergißt auch nicht, an der passenden Stelle zu husten - in Erinnerung an Victor Mature alias Doc Holliday in MY DARLING CLEMENTINE (E152).

31 32 33

34

35

36

Seeßlen. Kino des Utopischen. 174. (DIE LETZEN SIEBEN), Regie: Roger Corman, USA 1955. Roger Corman war Regisseur vom B-Pictures, die vorwiegend an Originalschauplätzen spielten; später machte er sich als Produzent und Förderer von jungen Talenten einen Namen: Peter Bogdanovich und Francis Ford Coppola gab er eine Chance. Bereits in DER AMERIKANISCHE FREUND hat Wenders mehrere Rollen - bezeichnenderweise die der Gangster - mit Regisseuren (Dennis Hopper, Nicolas Ray) besetzt. Samuel Fuller widmete sich in vielen seiner Filme gesellschaftlichen Außenseitern, kleinen Gangstern oder Angehörigen diskriminierter Rassen. Seine Filme fanden besonders bei Kritikern (Cahifers du Cindma) und Regie-Kollegen große Wertschätzung. Jean-Luc Godard ließ Fuller in PIERROT LE FOU seine Maxime verkünden: "Ein Film ist wie ein Schlachtfeld - Liebe, Haß, action, Gewalt und Tod. In einem Wort Emotion." MAGNIFICIENT OBSESSION (WUNDERBARE MACHT), Regie: John M. Stahl, USA 1935 (Remake von Douglas Sirk, USA 1954); MY DARLING CLEMENTINE (FAUSTRECHT DER PRÄRIE), Regie: John Ford, USA 1946; bei JACK OF HEARTS handelt es sich hingegen offenbar um einen erfundenen Titel.

207

DER STAND DER DINGE: E152

DER STAND DER DINGE: E413

A u c h auf einen anderen berühmten Western nimmt D E R S T A N D D E R D I N G E B e z u g : T H E S E A R C H E R S 3 7 und dessen literarische Vorlage, den Rom a n von Alan L e M a y . Die Bedeutung, die das W e r k für Friedrich hat, d o k u mentiert sich schon in der huldvollen Art, in der er mit dem B u c h u m g e h t es wird wie ein Heiligtum behandelt. In Los Angeles dann erspäht sein Blick wie zufällig Arbeiter, die an einer Kinofassade die Lettern anbringen: J O H N F O R D - T H E S E A R C H E R S (E413). Fords Film hat bei j u n g e n europäischen und amerikanischen Regisseuren den Ruf eines Kultfilms. Sein Held m u ß erleben, wie seine Ranch niedergebrannt wird und geliebte M e n s c h e n im Feuer

37

{DER SCHWARZE FALKE), Regie: John Ford, USA 1956.

208

umkommen. Nach dem Verlust von Heimat und Geborgenheit begibt er sich auf die Suche nach den Tätern - eine Zeit der menschlichen Reifung beginnt. Parallelen zu Wenders' rastlosen Helden drängen sich auf. Gordon und sein Leibwächter Herbert streiten sich während der nächtlichen Fahrt durch Hollywood über Filme und deren Besetzungen; erwähnt werden THEY DRIVE BY NIGHT38, THIEVES' HIGHWAY 39 , HE RAN ALL THE WAY 40 und BODY AND SOUL41 - allesamt S/W-Filme aus den Jahren 1940 - 1951, Vertreter eines Kinos somit, das schon lange der Vergangenheit angehört, in Gordon und Herbert aber noch sehr lebendig ist. Diese sentimentale Zuneigung ist es dann auch, die Gordon in seine fatale Lage gebracht hat, ließ sie ihn doch ein anachronistisches Werk wie SURVIVORS produzieren. Er ahnt den Fehler und ergeht sich in Sarkasmus: Allan Dwan sollte mich jetzt sehen. THE MOST DANGEROUS MAN ALIVE - he, das bin ich! (E486) Auch Godards Figuren bewegen sich in einer Kinowelt. Bevor Paul und Camille Fritz Lang zum erstenmal treffen, kennen sie ihn bereits durch seine Filme; sie erwähnen den Western mit Marlene Dietrich (E41) - gemeint ist RANCHO NOTORIUS 42 - und M43, der Lang nach eigenem Bekunden viel besser gefällt. Später liest Camille ein Buch über Fritz Lang und zitiert daraus. Im verwaisten italienischen Filmgelände Cinecittä erinnert ein Plakat an HATARI 44 und damit an erfolgreichere Zeiten der Branche. Dies gilt ebenso für die Regisseure Howard Hawks, Nicholas Ray und Vincente Minnelli, die erwähnt werden. Auch Paul und Camille bevorzugen Filme aus der 'guten alten Zeit': Er liest aus der Tageszeitung das Kinoprogramm vor und findet RIO BRAVO45 [und] Nicholas Rays Film HINTER DEM SPIEGEL46 (E82) erwähnenswert. In der Badewanne trägt Paul einen Hut und erklärt Camille: Ich kopier' nur Dean Martin in dem Film SOME CAME RUNNING47. (E87) Präzisere Vorstellungen über das Filmmetier im allgemeinen und seine Arbeit am ODYSSEUS-Projekt im speziellen hat Paul allerdings nicht. Als Prokosch ihn nach seinem Interesse an der Odyssee fragt, entgegnet er: Ich weiß noch nicht. [...] Naja, vielleicht kann man mal was anderes machen als das tausendmal gedroschene Stroh der Filmindustrie. [...] Man muß wieder bei Griffith und Chaplin anfangen. (E79) Godard dagegen hat präzise Vorstellungen, und er demonstriert sie in der Gestaltung von LE MEPRIS. So wird der Zuschauer gleich zu Beginn mit 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47

(NACHTS UNTERWEGS), Regie: Raoul Walsh, USA 1940. (GEFAHR IN FRISCO), Regie: Jules Dassin, USA 1949. (STECKBRIEF 7-73), Regie: John Berry, USA 1951. (JAGD NACH MILLIONEN), Regie: Robert Rossen, USA 1947. (ENGEL DER GEJAGTEN), Regie: Fritz Lang, USA 1951. Μ - EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER, Regie: Fritz Lang, Deutschland 1931. HATARI (HATARI), Regie: Howard Hawks, USA 1961. RIO BRAVO (RIOBRAVO), Regie: Howard Hawks, USA 1959. Ray drehte nie einen Film mit diesem Titel. (VERDAMMT SIND SIE ALLE), Regie: Vincente Minnelli, USA 1958. Die Geschichte eines gescheiterten Schriftstellers. "Bitteres Verliererporträt". Lexikon des Internationalen Films. 4050.

209

der Aussage eines renommierten Filmtheoretikers konfrontiert: Der Film sagt Andre Bazin - unterschiebt unserer Vorstellung eine Welt, die mit unseren Wünschen übereinstimmt. (E2) Ein Zitat, das das Augenmerk auf die illusionsstiftenden und Projektionen einlösenden Qualitäten des Films richtet. Es besagt auch: Der Film ist nichts ohne uns Zuschauer. Sogleich wird aber das Pathos, das in dieser Aussage steckt, untergraben durch die nur ironisch zu verstehende Aussage, die Godard dem Off-Sprecher in den Mund legt: 'Die Verachtung' ist die Geschichte dieser Welt. (E2) Später ist, unter der Leinwand im Vorführraum, ein Satz des Filmpioniers Lumiere zu lesen: IL CINEMA Ε UN INVENZIONE SENZA AVVENIRE. In Godards Augen sicher eine grandiose Fehleinschätzung, die er mit seiner Arbeit korrigieren möchte! Godards Filme gelten als intellektuelle Puzzlespiele - nicht zuletzt wegen der zahlreichen, teils offenkundigen, teils versteckten Zitate.48 Das für Godard typische Einfließenlassen von Zitaten, die nicht immer 'passend' erscheinen, hat ihm nicht nur Beifall eingebracht.49 Unbestreitbar ist jedoch: Seine Filme verlangen den kenntnisreichen Zuschauer. Godards Filme dokumentieren immer auch seinen momentanen Kenntnisstand. Seine Filme sind - und das zeigt sich gerade in den Zitaten - Zwischenergebnisse seiner Auseinandersetzung mit der Welt. Die Kunst ist bei dieser Wahrheitssuche ein Mittel unter anderen. "Von Anfang an künstlich, zusammengesetzt aus literarischen und filmischen Zitaten, gibt der Film nie vor, Realität abzubilden, sondern läßt jederzeit erkennen, daß und wie er 'gemacht' ist. [...] Durch diese ständige Brechung (des Objektiven im Subjektiven) erreicht Godard einen Grad an Wahrheit und Verläßlichkeit, zu dem kein Realismus imstande ist."50 In dem Zitieren äußert sich bei Godard und Wenders auch der Wunsch, dem eigenen unsicheren und verunsicherten Status durch die Anbindung an die Geschichte des Films eine gewisse Stabilität zu verleihen. So ist es sicher kein Zufall, daß sowohl Godard als auch Wenders auf die Regisseure Fritz Lang und Nicholas Ray Bezug nehmen. In diesen beiden 'Altmeistern' sehen die leicht ergrauten Jungfilmer Vorbilder, haben diese sich doch gegen die von der Branche nahegelegte Käuflichkeit auf beeindruckende Weise zur Wehr gesetzt.51 Indem sie sich mit ihnen solidarisieren, erfahren sie selbst eine Stärkung ihrer Position. Diese Unterstützung ist nötig, denn der Status des ambitionierten Filmemachers ist vielfältigen Gefährdungen ausgesetzt: 48

49

50 51

Neben den erwähnten Kinomythen Lang und Bardot zitiert er - via Lang - in LE MfiPRIS Brecht und Hölderlin. Paul erzählt die Geschichte von Rama Krishna. So schreibt Fäber: "Die Weise des Zatierens sollte den Blick nicht trüben für die Dürftigkeit des Zitierens." Fäber. "Die Verachtung". 143. Schütte spricht von einer "Gratwanderung zwischen dem Essentiellen und dem Banalen". Schütte. "Worte & Bilder". 19. Einen anderen Aspekt hebt Gräfe hervor: "Gerade seine Zitattechnik läßt erkennen, daß für ihn die Kunst nicht eine Form, sondern ein Faktor der Wirklichkeit ist, der gleichberechtigt neben anderen Faktoren seine Wirkung tut." Gräfe. "Vivre sa vie". 11. Jung. Verachtung. O.S. In DER STAND DER DINGE ist dieses Vater/Sohn- bzw. Lehrer/Schüler-Verhältnis auch in der Beziehung zwischen Joe und Friedrich wiederzufinden.

210

Er muß schöpferische Krisen überwinden, Geldgeber von seinen Ideen und von seiner Kompetenz überzeugen, ein Team begeistern und für seine Mitarbeiter Verantwortung übernehmen - und schließlich muß er Menschen davon überzeugen, für seine Arbeit Zeit und Geld zu erübrigen, um den Weg ins Kino zu finden.

8. Der 'autothematische Film' als Reflexion der Rezeptionsbeziehung

Der Film gilt als das Medium mit dem stärksten Realitätseindruck. So schreibt Kracauer: "[...] gepackt vom Realitätscharakter der Bilder auf der Leinwand, kann der Zuschauer nicht umhin, auf sie so zu reagieren, wie er auf die materiellen Aspekte der Natur im Rohzustand reagieren würde, die durch diese fotografischen Bilder reproduziert werden." 1 Der Zuschauer nimmt das, was er im Kino sieht - weitgehend - wie ein tatsächliches Ereignis. Die Filmrezeption ist ein fortlaufender Definitions- und Strukturierungsvorgang, bloß: Das, was passiert, wenn man im Dunkel des Lichtspieltheaters eine Geschichte erschließt, soll funktionieren, ohne Aufmerksamkeit auf diesen Vorgang zu richten. Ja die Geschichte des Films läßt sich in weiten Teilen lesen als die fortschreitende Vervollkommnung des Ansinnens, die Mittel des Kinos unbemerkt wirken zu lassen! Auf der anderen Seite bleibt man sich als Zuschauer letztlich doch der Tatsache bewußt, daß 'eigentlich' nichts passiert, real nichts geschieht. Nach Lotman lebt jedes Kunstwerk von der Ambivalenz, daß man sowohl vergißt wie sich bewußt bleibt, daß man ein Phantasiegebilde vor sich hat. Dieses fast und doch nie ganz vergessen gilt für den Leser und in verstärktem Maße für den Kinobesucher, denn es ist "[...] das Bestreben des Films, restlos mit dem Leben zu verschmelzen, und der Wunsch, das spezifisch Filmische, die Bedingtheit der filmischen Sprache herauszustellen, die Souveränität der Kunst in ihrem Bereich zu bestätigen, zwei Feinde, die ständig aufeinander angewiesen bleiben." 2 Welche Positionen beziehen nun diese 'Feinde' in den 'autothematischen Filmen'? Wird ihr üblicherweise stillschweigend ausgetragener Kampf hier coram publico ausgefochten? Und wenn ja - wie wird der Rezipient in die Schlacht mit einbezogen? Das Aufbrechen der Fronten deutet sich an in dem 'eigenwilligen' Umgehen mit dem Verhältnis Schauspieler-Rolle; es soll zunächst untersucht werden. Anschließend soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die Rezeption als Prozeß offengelegt wird und ob sich damit Einblicke in die Textkonstituierungsrelation eröffnen.

8.1 Das Verhältnis Schauspieler-Rolle In DER STAND DER DINGE verlieren sich die Schauspieler nie gänzlich in ihrer Rolle. Man spürt ihre 'Vorgeschichte', die sich mit der tatsächlichen

1 2

Kracauer. Theorie des Films. 216. Lotman. Kinoästhetik. 36.

212 Lebensgeschichte überschneidet. Statt auf Schauspielkunst setzt Wenders auf die Person. So besetzt er wichtige Rollen mit Schauspiel-Laien: - Paul Getty III als Dennis, - Sam Fuller als Joe und - Roger Corman als Rechtsanwalt. Der Schauspieler Hanns Zischler, der mit Wenders in IM L A U F D E R ZEIT zusammenarbeitete, zu dessen Schauspielerführung: "Man merkt dem Darsteller an [...], daß er nie vollständig in der Figur aufgeht, ein Rest >Selbst< da ist." 3 Wenders' Figuren bewahren ein 'Eigenleben', über das der Regisseur keine Kontrolle besitzt bzw. nicht besitzen möchte. Indem er die Menschen ihr So-Sein einbringen läßt, erweitert er die Vorgabe der Fiktion um eine dokumentarische Dimension, die den Filmfiguren eine eigenartige Authentizität verleiht. "Diese wahrhaftige (eigentlich aber: paradoxe) Art des Spiels schafft im Spiel selbst Distanz zum Spiel." 4 Die Geste des Zeigens bleibt spürbar. Wenders' Schauspielerführung kennzeichnet, daß die Wirklichkeit ins Spiel einfließen kann; der Regisseur: "I like the kind of acting where you feel that the actor is more than he seems to be, where you always consider him to be more than he shows." 5 So wird die aufgebaute Illusion sogleich untergraben, und in der Folge bleibt die Identifikation limitiert. Ganz ähnlich beschreibt Godard sein Vorgehen: "Ich habe immer versucht, Schauspieler als reale Menschen zu sehen, deren Realität man zeigen sollte in einem vorgegebenen Drehbuch, das sie zwingt, bestimmte Sachen zu machen, aber auch berücksichtigt, was sie wirklich sind." 6 Godard läßt seine Schauspieler so agieren, daß immer wieder deutlich wird: Hier hat ein Schauspieler seinen Auftritt. In LE MEPRIS wird dies besonders augenfällig bei Prokosch: Schon bei seinem ersten Erscheinen auf der Rampe eines 'Teatro' in Cinecittä wird er demonstrativ als Rollenträger eingeführt (E4) als der er auch später immer wieder fungiert; so tritt er mehrfach aus der Szene heraus, um Zitate zum Besten zu geben (z.B. E79). Godard nutzt diese Differenz zwischen der Rolle und der Persönlichkeit des Schauspielers, um sich selbst einzubringen. Er ergreift die Chance zur Intervention, um auf sich und sein Selbstverständnis als Regisseur zu verweisen: Er ist es, der die Fäden zieht. Dadurch, daß sein Spielen als Spiel kenntlich gemacht wird, reduziert sich das Identifikationsangebot, das die Figur bietet. Auf der anderen Seite gewinnt der Film eine verstärkte Authentizität, beläßt er den Figuren doch einen Teil ihrer Identität. Spürbar bleibt der vor der Kamera stehende Mensch - und der davon losgelöste Mythos, den das Kino ihm zuschreibt.

3 4 5 4

Zischler in Müller-Scherz/Wenders: Im Lauf der Zeit. 10. Grob. Wenders. 10. Dawson. Wenders. 13. Godard. Wahre Geschichte des Kinos. 94.

213 LE MfiPRIS: E79

Im Mythos lebt die Sehnsucht nach einer geordneten und letztlich beherrschbaren Welt fort. Der Mythos eines Schauspielers kann im Film mächtiger sein als seine Rolle. Der Filmschauspieler ist Darsteller einer bestimmten Rolle und Kinomythos zugleich. Der Film LE MEPRIS ist auch eine Auseinandersetzung mit den Mythen, die das Kino und sein Umfeld kreiert. Zu Godards Schauspielern zählen der Star des etablierten französischen Kinos: Brigitte Bardot, und der Star der Rebellen des französischen Kinos: Fritz Lang. Mit dem Slogan "BB means Big Business" 7 versuchte der britische Verleih Kinobetreiber zu animieren, LE MEPRIS ins Programm zu nehmen. Der Marktwert der Bardot war unbestritten; de Beauvoir: "BB now deserves to be considered an export product as important as Renault automobiles." 8 Aber wer von Godard einen 'BB'-Film in gewohnter Manier erwartete, mußte bitter enttäuscht werden. 9 Womit hatte sich Godard auseinanderzusetzen, als er die Bardot für die Rolle der Camille engagierte? Die Markenzeichen von ' B B ' waren: lasziver Gang, roter Schmollmund, verwilderte blonde Haare, verwaschene Jeans und ein kindlich-naiver Gesichtsausdruck. 'BB' galt als Star neuen Typs: amoralisch und unangepasst, forsch auftretend und doch kindlich unschuldig wirkend. Widersprüche, die provozieren; so schrieb Cocteau: "Ihre Schönheit, ihr Talent ist unbestreitbar, doch sie besitzt etwas Unbekanntes, das die Götzenanbeter einer gottlosen Zeit herbeilockt." 10 In dieser gottlosen Zeit personifizierte eine Frau plötzlich sexuelles Selbstbewußtsein. Sie ist - de Beauvoir zufolge - Jäger und Beute zugleich, der Mann ist ihr ebenso Objekt, wie sie dem Mann Objekt ist. Es waren nicht allein ihre Filme, sondern 7 8 9

10

AVCO. Contempt. O.S. de Beauvoir. Bardot. 6. In einer Kritik hieß es beispielsweise, die Bardot würde von dem "unbarmherzigen Godard gleichsam seziert". Kom. "Anne B.B.". Weniger blutrünstig klingt eine andere Beurteilung: "Godard demoliert ihren Mythos, ohne ihn zu denunzieren [...}." Heinzelmeier. Die Unsterblichen des Kinos. 135. Betrachtet man die Werbung, bleibt festzuhalten: Ein Etikettenschwindel war es allemal. Cocteau, Jean zit. und übers, in Tast. Kulleraugen. 30.

214

ebenso ihr vermarktetes Privatleben, durch das die Figur ' B B ' allmählich Gestalt annahm, die gekennzeichnet war durch "die Übernahme eines bis dahin den Männern vorbehaltenen Verhaltens des erotischen Konsumierens, der Promiskuität als ständige Flucht vor dem Gefängnis der Liebe" 11 . Welche Entrüstung diese Rolle seinerzeit hervorrief, mag eine Stellungnahme des Katholischen Filmdienstes zu ET DIEU CREA LA FEMME 1 2 verdeutlichen: "Zur Hauptsache die Schaustellung eines tierhaft ungebundenen Mädchens, dem es auch in der Ehe nicht gelingt, seine verführerische Wirkung auf die Männer einzudämmen. Überaus geschmacklos und vor allem deshalb abzulehnen, weil der Film von einer materialistischen Auffassung der Liebe und albem-ordinären Spekulationen durchtränkt ist." 13 Während hier Brigitte Bardot als Verführerin der Gemeinschaft gebrandmarkt wird, setzte Malle in VIE PRIVEE 14 einen völlig anderen Akzent: Er zeigt sie als Opfer einer Gesellschaft, die sich ihrer bemächtigt hat. In den Filmen, die Brigitte Bardot zu Έ Β ' werden ließen, hatte ihr Aufbegehren allemal seine Grenzen: Schließlich unterwirft sie sich doch. Ihre Aufmüpfigkeit - eine Rolle, die Männer ihr zugedacht haben - wurde von dem Wunsch überlagert, letztlich doch domestiziert zu werden. "BB is a lost, pathetic child who needs a guide and protector." 15 Godard zeigt sie in diesem Zwiespalt. Er präsentiert sie selbstbewußt auf dem Flokati in PinUp-Manier, aber er zeigt sie auch als eine Frau, die in Paul ihren Führer und Beschützer sucht. Als Paul dieser Aufgabe nicht gerecht werden kann, bleibt ihr nur Verachtung. Während Godard den Mythos 'BB' eher aus ironischem Abstand betrachtet, scheint ihn die Person und der Mythos Fritz Lang mehr zu tangieren. Ja, er mimt sogar den unterwürfigen Helfer des verehrten Meisters: Auf dem Filmschiff tritt er als Regieassistent in Langs Team auf. 16 Godards Cutterin Guillemont zum Verhältnis der beiden Regisseure: "Er spielt im Film ja auch den Assistenten von Fritz Lang. Das war auch seine Einstellung zu ihm. Man spürt eine Bewunderung für Fritz Lang und gleichzeitig auch die Distanz." 17 Bei aller Bewunderung - in LE MEPRIS ist der Schauspieler Lang derjenige, der den Direktiven Godards Folge zu leisten hat. Hier ist es Lang, der gehorcht. Godard zur Rolle, die er ihm in LE MEPRIS zugedacht hat: "Ich wollte, daß er den Klassizismus repräsentiert." 18 Lang ist in seinen Augen "das Gewissen des Films, seine Ehrlichkeit" 19 . Lang genießt bei Godard und seinen Mitstreitern hohe Achtung, er gilt als exemplarische Figur der Regisseure der 'Nouvelle Vague'. So spielt Lang hier auch weniger sich selbst als vielmehr jene mythische Vaterfigur, zu der ihn Godard und seine Kollegen der 11 12 13 14 15 16

17 18 19

Seeßlen. Lexikon zur populären Kultur. 2. 263. (UND IMMER LOCKT DAS WEIB), Regie: Roger Vadim, Frankreich 1956. Kath. Filmdienst zit. in Tast. Kulleraugen. 17. (PRIVATLEBEN), Frankreich/Italien 1961. de Beauvoir. Bardot. 14. Godard: "[...] if I played the role of his assistant, it was out of respect [...]". In Baby. "Shipwrecked People" 39. Guillemont in Reichart. "Interviews". 74 f. Godard. "Die Verachtung". Godard in Jung. Die Verachtung. O.S.

215

'Nouvelle Vague' stilisiert haben. Godard: "[...] he is the old Indian chief observing his anxious warriors." 20 Konsequente Folge dieser Verehrung ist, daß Lang in L E MEPRIS der eigentliche Gewinner ist: Er wird O D Y S S E U S beenden - nach seinen Vorstellungen. Mit Langs Sieg über Prokosch siegt auch der kreative Künstler über den Produzenten, der im Film alleine das Geschäft sieht. Ein Kampf, den Lang zeitlebens geführt hat... Produktionsmethoden, die alleine das Einspielergebnis im Auge hatten, konnte Lang nie akzeptieren. So hatte er - trotz seines in Deutschland erworbenen Ruhmes in Hollywood immer längere Zeiten der Arbeitslosigkeit zu überstehen. Auf der anderen Seite war Lang von den Möglichkeiten dieser Produktionsstätte fasziniert. Sein Ziel war die Verschmelzung von "amerikanisch-schwungvoller Erzählkunst [mit] europäisch-subtile[r] Andeutungskunst" 2 1 . Lang galt dank seiner Gratwanderung als "Hollywoodindianer" 22 . In Langs Konzept so will es diese Sichtweise - war kein Platz für ein von einem anderen Autor verfaßtes Drehbuch, das seine Macht bloß beschneiden konnte. Seine Unbeugsamkeit ist ein Grund für die Sympathien, die Lang von Regisseuren wie Godard entgegengebracht wird. Lang: "Das Elend mit dem, was man die >Industrie< nennt, ist, daß es gar nicht darum geht, ein Publikum zu überzeugen. Ich liebe das Publikum, aber ehe ich es überzeugen kann, habe ich die Zwischenträger zu überzeugen, die von nichts eine Ahnung haben." 2 3 Dieses Statement könnte ebensogut von Godard stammen! Bei Fellini treten gleich eine Reihe von Schauspielern unter ihren tatsächlichen Vor- oder Nachnamen auf: - Claudia Cardinale als Claudia, - Rosella Falk als Rosella, - Mario Conochia als Conochia, - Mario Pisu als Mario Mezzabotta und - Bruno Agostini als Agostini. In dieser Überlappung von Filmnamen und tatsächlichen Namen steckt der Hinweis, daß hinter den Rollenträgern ihre wirkliche Existenz spürbar bleiben soll. Ein für Fellini charakteristisches Verfahren: "Selbst Menschen, die sich zur Typisierung geradezu anbieten [...] behalten einen physiognomischen Rest, der in ihrer Funktion nicht aufgeht und auf ein Individuelles, Persönliches verweist." 24 Natürlich ist es in erster Linie Marcello Mastroianni, der mehr als einen 'physiognomischen Rest' behält. Durch das Überschreiten der Rolle wird sie als solche bloßgelegt: die Darsteller sind mehr als Spieler in Fellinis Schau, sie bleiben immer auch Menschen mit ihrer individuellen Geschichte. Diese Geschichte offenbart sich besonders in dem Gesicht. 8V2 und andere Filme Fellinis bauen weitgehend auf die Mikrodramatik des Gesichts. Gleichgültig ob Hauptdarsteller oder Komparse, Fellini begreift und benutzt Gesichter als Ausdruck einer einmaligen und einzigartigen Lebensgeschichte.

20 21 22 23 24

Godard in Baby. "Shipwrecked People". 39. Taylor. Fremde im Paradies. 83. Ebd. 314. Gräfe. "Fritz Lang". 11. Schultheiß. "Fellini und die Männer". 9.

216 Sein

Vertrauen

in die Authentizität

des Gesichts

bedeutet

zugleich,

die tatsächliche Person in der R o l l e , die sie in dem j e w e i l i g e n n o m m e n hat, immer anwesend bleibt. Fellinis V o r g e h e n - w i e einziges der

System 2 5

Person

- muß konsequenterweise

anzupassen

-

nicht

die

darauf

Person

der

"Ich

über-

er sagt, sein

hinauslaufen,

Rolle.

daß

Film die

Rolle

zwinge

einen

Schauspieler nie dazu, in eine f r e m d e Haut zu schlüpfen, ich lasse ihn lieber das ausdrücken, w a s er ist und kann. [...] V i e l m e h r könnte ich allen Schauspielern in meinen Filmen zurufen: Seid ihr selbst, macht euch keine Sorgen. D a s Ergebnis ist immer positiv. Jeder hat das Gesicht, das zu ihm paßt, er kann gar kein anderes haben. D i e Gesichter stimmen immer, das L e b e n

irrt

sich nicht." 2 6 D i e A u s w a h l der Schauspieler, die Entscheidung für Gesichter, markiert in Fellinis Arbeitsweise eine wichtige Etappe, sie ist für ihn des

schöpferischen

Prozesses,

Konturen, die sich wiederum

Teil

des

'Schreibens'" 2 7 .

Der

auf die weitere Entwicklung

Film

"Teil

bekommt

des S t o f f e s aus-

wirken. D i e s e Arbeitsphase w i r d in 8V2 durch Casting-Aufnahmen und durch Fotos v o n potentiellen Mitspielern angesprochen: -

Im

Kinosaal

werden

Muster

von

Castings

mit

'Saraghina',

'Claudia',

' L u i s a ' und dem 'Kardinal' vorgeführt ( E 6 0 1 f f . ) . -

In

Guidos

Hotelzimmer

bedecken

Fotografien

von

Schauspielern

und

Darstellern sein Bett (E32, E313 f f . ) ; er läßt sich auf die Bilder fallen, als w o l l e er so in ihre W e l t eintauchen. D i e A u s w a h l der Schauspieler, eine den eigentlichen Dreharbeiten hende

Produktionsphase,

bleibt

halten, er sieht lediglich 8V2

wird

diese

sonst

dem

Kinozuschauer

vorausge-

üblicherweise

vorent-

die Ergebnisse der getroffenen Entscheidungen. allenfalls

theoretisch

beschreibbare

In

paradigmatische

D i m e n s i o n zu einem T h e m a des Films. Die

untersuchten

'autothematischen

Filme'

gestalten

außergewöhnliche

lationen zwischen Schauspieler und R o l l e . In allen Filmen gehen die spieler mehr

(bzw. wird

einige eine

von

ihnen) nicht vollständig

Differenz

aufrechterhalten,

die

Re-

Schau-

in ihrer R o l l e

auf.

die

Lebensge-

wirkliche

Viel-

schichte oder auch ihren K i n o m y t h o s mitschwingen läßt. Hier ist das Schauspielen ein Spiel

- die Figuren haben ein L e b e n auch außerhalb des

Spiel-

raums F i l m : in der Realität und in unseren K ö p f e n . Während W e n d e r s

und

Fellini

Go-

den

dokumentarischen

Aspekt

dieses

Vorgehens

betonen,

nutzt

dard diese Lücke, um zu intervenieren, um auf sich, den Regisseur, zu verweisen, der letztlich die Fäden in der Hand hält. D i e Regisseure gestalten mit ihren 'autothematischen Freunden, K o l l e g e n Ansinnen

und Vorbildern

'kleine D e n k m a l e '

insoweit. Selbst wenn dies v o m

Rezipient

Filmen'

auch

- ein fast

in allen

ihren

familiäres

Verästelungen

nicht n a c h v o l l z o g e n werden kann, so bleibt doch für seinen Part in

diesem

Spiel festzuhalten, daß auch er nicht in der gewohnten R o l l e aufgehen kann! So wenig wie nos beugen, d e m F i l m zu

25 26 27

die Schauspieler sich den illusionsstiftenden K r ä f t e n des

so

wenig

bekommt

der

Rezipient

Gelegenheit,

sich

'vergessen'. Es erscheint paradox: Dadurch, daß die

Fellini. "Beruf Regisseur". 76. Fellini. "Fellini's Faces". O.S. Fellini in Bachmann. "Interview mit Fellini". 69.

selbst

Kiin

'autothe-

217

matischen Filme' klar stellen: 'Dies ist ein Spiel, das Leben (der Figuren, des Regisseurs und des Rezipienten) existiert auch außerhalb dieses Spiels' dadurch erlangen diese Filme einen außergewöhnlichen Grad an Authentizität.

8.2 Die Rezeption als Prozeß Schon die graphische Gestaltung des Titels von DER STAND DER DINGE signalisiert, daß der Film eine Art Protokoll ist bzw. zu sein vorgibt: Schreibmaschinenlettern springen wie getippt ein, das Bild wirkt betont sachlich; auch Musik, die gewöhnlich den Titel eines Films begleitet, fehlt an dieser Stelle. (E66) Die Formulierung 'Der Stand der Dinge' unterstützt den Eindruck, daß dem Zuschauer eine Zwischenbilanz vorgeführt werden soll. Viele Passagen des Films verweisen auf den Arbeitsprozeß, der bereits vor Einsetzen der Filmhandlung begonnen hat. Darauf deutet z.B. Dennis hin, wenn er zu Friedrich sagt: Weißt du, mit dem ersten Drehbuch warst du auf einer guten Spur... (E326) Die Auseinandersetzungen Friedrichs mit Dennis über Fragen der filmischen Gestaltung, Friedrichs Suche nach Gordon und sein Versuch, finanzielle Machenschaften aufzudecken, vermitteln Einblicke in Abhängigkeiten und Ziele ambitionierter Filmarbeit. Angesichts von Wenders' Zweifel an den Möglichkeiten, unter den gegebenen Umständen mit dem Medium Film zu erzählen, zieht er die Konsequenz, beim Erzählen zugleich von den Schwierigkeiten des Erzählens mitzuerzählen. Dieses Miterzählen und die so initiierte Reflexion finden weitgehend auf der sprachlichen Ebene statt: Sie wirkt distanziert und konfrontiert den Zuschauer nur selten unvermittelt mit seinem Rezeptionsprozeß. Eine Ausnahme stellt insoweit die Einstellungsfolge E49 - E52 dar: der Übergang von SURVIVORS zu den Dreharbeiten an diesem 'Film'. Zunächst irritiert die Berglandschaft, die nicht sofort als gemalter Hintergrund erkennbar ist, erst im Schwenk wird sie als Teil der Dekoration erkennbar - die Überlebenden kommen ins Bild (E49).28 Endgültig gebrochen wird die SURVIVORSIllusion dann in E52: Julia blickt den Möven nach, die man zuvor aus ihrer Subjektiven gesehen hat, Friedrichs Hände kommen ins Bild, dann auch sein Kopf; die plötzlich sehr laute Brandung und das Abbrechen der Musik sorgen auch akustisch für eine Zäsur. Diese Passage konfrontiert den Zuschauer sehr massiv mit dem Rezeptionsprozeß, den der Film bis zu diesem Zeitpunkt in ihm ausgelöst hat. Sein Verstehen des Gezeigten bedarf einer grundsätzlichen Neuorientierung. Godards Filme zeigen, was es bedeutet, im Kino zu sitzen. Schon in der Eröffnung (E2) demonstriert er sein Verständnis von Realität im Kino. "Der Realitätsanspruch seiner Kunst gründet sich nicht auf eine möglichst getreue

28

Dieses verunsichernde Spiel mit Hintergründen wiederholt sich in dem Film noch zweimal (E80, E92).

218

Nachahmung der Wirklichkeit, sondern manifestiert sich im Eingeständnis ihres fiktiven Charakters." 29 Darstellen heißt für ihn immer auch, den Darstellungsprozeß mit darstellen, heißt für ihn offenlegen: Nichts von dem, was zu sehen ist, geschah je 'wirklich' - es ist zu sehen, weil ich es zeigen will. Jeder Film ist ihm ein neuer 'Testfall', ein weiterer Versuch. Teil seiner Versuchsanordnung ist die Erprobung der illusionsstiftenden Kräfte des Mediums. Diese 'Tests' gestaltet er auf vielfältige Weise - sie durchziehen LE MEPRIS und die Analyse wie ein roter Faden. In Erinnerung gerufen seien: - das Untergraben der Raum-Zeit-Einheit; - die Verletzung der Konventionen des Point of View der Kamera; - das Verändern von Stimmung und Tageszeit durch Wechsel von Belichtung und Farbtemperatur innerhalb einer Einstellung; - die Zerstörung von Identifikationsprozessen durch das Heraustretenlassen eines Schauspielers aus einer Szene und die direkte Ansprache des Publikums; - das Einbeziehen und Reflektieren des Kinomythos des Schauspielers; - das Einbringen autobiographischer Elemente. "Es gab zu viele Gesetze" 30 , sagte Godard, als er 1959 A BOUT DE SOUFFLE drehte. An dieser Einschätzung scheint sich für ihn nichts geändert zu haben - bis heute. Ziel all dieser Verstöße gegen die Regeln des Kinos ist, sie als Vereinbarungen, als Resultate eines Lernprozesses zu entlarven. Das, woran man sich gewöhnt hat - so will er in Erinnerung rufen -, ist noch lange nicht 'natürlich'. Godard: "Leute, die noch nie einen Film gesehen haben, vergessen nicht, daß sie im Kino sind. Das ist eine Frage der Gewohnheit." 31 Seine Unkonventionalität lenkt die Aufmerksamkeit auf die Konvention. Der Rezeptionsprozeß verliert so seine Selbstverständlichkeit - er wird zum Thema. Fellinis 8V2 ist für den Zuschauer eine permanente Quelle der Irritation. Immer wieder wird er zu einer Neubewertung des bereits abschließend Gedeuteten gezwungen. Einige Beispiele: - 'Realitäten' erweisen sich im nachhinein als Traum. - Kritik an persönlichen Visionen wird in den Film integriert. - Orte werden zur mehrfach genutzten Bühne für Ereignisse aus verschiedenen Lebensabschnitten. - Szenen aus dem geplanten 'Film' werden zur 'Wirklichkeit', um ebenso schnell wieder zu entschwinden. - Mord und Selbstmord werden verübt, ohne daß jemand zu Schaden kommt. - Personen lösen sich aus Lebenszusammenhängen, um zu 'Mitspielern' zu werden. Diese Beispiele machen deutlich, welchen Lernprozeß der Film 8V2 dem Zuschauer abverlangt. Und dieser Lernprozeß erfolgt nicht linear, sondern er bezieht sich immer wieder auch auf bereits als abgeschlossen erachtete Kom29 30 31

Gräfe. "Vivre sa vie". 9 f. Godard in Reichart. "Interviews". 41. Ebd. 43.

219

plexe. Zudem muß der Zuschauer erkennen, daß der Film ihm weder eine chronologische, noch eine räumliche Orientierung mit auf den Weg gibt: Die Verknüpfungen beruhen auf semantischen Kriterien, die das assoziative Geflecht zusammenhalten. Wo die raum-zeitliche Logik zu verschwinden scheint, wird das anders geartete Konstruktionsprinzip betont: "Indeed, for him, everything is imagined, in the sense that his imagination is the constitutive power that creates his world." 32 Die Summe dieser Faktoren beläßt den Zuschauer in einem verunsicherten und in der Folge auch 'offenen' Zustand: Alles scheint möglich. Unstrittig ist allein die Gewißheit, soeben einen Film zu sehen. Der Zuschauer ist in diesen Momenten nicht mehr 'Opfer' einer Illusion von Realität, er wird stattdessen mit der Realität des Textes konfrontiert mit der Tatsache als solcher und mit den Bedingungen und Prinzipien seiner Kreation und Organisation. Die 'autothematischen Filme' beschreiten unterschiedliche Strategien, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: den Zuschauer mit seinem Rezeptionsprozeß zu konfrontieren. Wenders thematisiert zum einen expressis verbis, wie der Text Film konstituiert wird bzw. werden könnte oder sollte. Zum anderen kombiniert er verschieden gestaltete Passagen so, daß deutlich wird, in welchen Kino-Kulturen wir uns bewegen, daß der (kenntnisreiche) Zuschauer über ein beachtliches Potential an Film-Erfahrung verfügt. Darin besteht eine Lektion von DER STAND DER DINGE. Godard revoltiert - vorwiegend auf der Ebene der filmischen Präsentation - gegen Sehgewohnheiten, die sich als quasi-natürliche eingenistet haben. Auch hier ist der Hinweis auf Konventionen enthalten, die wir mit ins Kino tragen. Fellini schließlich führt vor Augen, daß der Rezeptionsprozeß notwendigerweise eine permanente Neuorientierung des Gesehenen verlangt. Indem er wiederholt ein Revidieren der vom Rezipienten kreierten Organisation des Filmtextes einfordert, verweist er ihn auf seine Tätigkeit. Für ein Werk wie 8V2 scheint denn auch Lotmans Aussage wie maßgeschneidert: "Die Rezeption eines künstlerischen Textes ist immer ein Kampf zwischen dem Zuhörer und dem Autor [...]." 33 Zu diesem Kampf gehört, daß der Rezipient auf Grund der ihm zum jeweiligen Zeitpunkt vorliegenden Informationen sich ein Ganzes schafft, das angesichts neuer, vom Autor gelieferter Informationen gefestigt oder zerstört werden kann. Durch diese 'Irritationen' wird der Informationsgehalt des künstlerischen Textes gesteigert - die 'autothematischen Filme' belegen diese These auf eindrucksvolle Weise. Wo sich wie hier die Sprache aus ihrer dienenden Funktion befreit, scheint Pasolinis Forderung nach einem 'Kino der Poesie' Wirklichkeit geworden: "[...] aus Überdruß an Regeln [...], aus einem Bedürfnis nach irregulärer und provokatorischer Freiheit, aus einem auf eigene Art authentischen und köstlichen Geschmack an der Anarchie." 34 Die 'auto-

32 33 34

Perry. Filmguide to 8'/2. 57. Lotman. Struktur literarischer Texte. 407. Pasolini. "Kino der Poesie". 75.

220 thematischen Filme' verstören und irritieren den Zuschauer, sie konfrontieren ihn mit der Gemachtheit dessen, was er sieht - und damit, was 'es' mit ihm macht. Real ist alleine die Vermittlung. Diese Filme lösen Paechs Forderung ein: "Gegen die 'Illusion der Realität' ist die 'Realität der Illusion' zu setzen." 35

35

Paech. "Realismus und Dokumentarismus". 191.

9. Der 'autothematische Film' als Beitrag zu einer Theorie des Films

Die 'autothematischen Filme' ermöglichen aufschlußreiche 'Blicke hinter die Kulissen' filmkünstlerischer Arbeit. Sie zeugen vom Bemühen ambitionierter Regisseure, sich in einer industriellen Medienbranche kreativ zu äußern - gar selbst zu verwirklichen. Sie belegen aber auch, wie schwer es dem schöpferischen Individuum in dem Filmmetier gemacht wird, individuelle Bilanzen zu ziehen und persönliche Visionen zu gestalten. Weniger weil der Regisseur als Kopf eines Teams auf die Kooperationsbereitschaft von Stab und Schauspielern angewiesen ist - die scheint in den vorliegenden Fällen mehr oder weniger gewährleistet -, sondern vielmehr weil Interventionen der Geldgeber die Projekte bis zur Unkenntlichkeit zu verändern drohen oder gar zum Scheitern bringen. Fortwährend reibt sich das Streben nach künstlerischer Autonomie an den ökonomischen Abhängigkeiten. Innerhalb eines industriell strukturierten Umfeldes müssen die Regisseure sich permanent zur Wehr setzen: gegen die Zwänge eines Drehbuchs, mit dessen Hilfe jedwede Improvisation unterbunden werden kann, gegen die Machtposition von Stars, mit deren Namen für das Produkt Film geworben werden soll, gegen ein Bild vom Publikum, das angeblich nur schlicht gebaute und einfach nachzuvollziehende Stoffe akzeptiert, etc. Die 'autothematischen Filme' dokumentieren den alltäglichen Kampf um künstlerische Freiräume in einer Zeit, in der der genau kalkulierte Kassenerfolg das non plus ultra der Filmproduktion zu sein scheint. Der Konflikt zwischen den herrschenden Produktionsbedingungen und den kreativen Intentionen findet zumeist in der Auseinandersetzung zwischen Produzent und Regisseur seine Protagonisten. Lediglich in 8V 2 begegnet der Produzent seinem Regisseur in einer Art väterlicher Solidarität - zumindest lange Zeit. Als er aber befürchten muß, daß sein Regisseur trotz oder wegen der ihm gewährten Freiräume seine schöpferische Krise nicht überwinden kann, schlägt seine Haltung in offene Aggression um. In LE MEPRIS dagegen bestimmt Feindseligkeit von Anfang an das Verhältnis zwischen Regisseur und Produzent. Hier trifft Fritz Lang als Vertreter des europäischen Autorenkinos auf einen amerikanischen Geldgeber, den allein die Sorge umtreibt, ob das - für ziemlich unbedarft gehaltene - Publikum den Film zu einem Kassenerfolg machen wird. In diesem Konflikt gibt es keine Versöhnung, da bleibt allein der Kino-Tod als Ausweg. Noch einmal triumphiert bei Godard die Kunst über den Kommerz, aber es bleibt als Sieg einer aussterbenden Regisseur-Generation ein durchaus fragwürdiger Triumph. An dem Film DER STAND DER DINGE zeigt sich, daß eine Betrachtungsweise, die Regisseur und Produzent zwangsläufig als Gegner sieht, der Komplexität der Machtverhältnisse nicht gerecht wird. Trotz aller Indizien erweist sich letztlich die Freundschaft, die hier die beiden Männer verbindet, als tragfähig: sie haben einen gemeinsamen Gegner - dubiose Geldgeber, die im Dunkeln bleiben. Dieser Aspekt jedoch, die Verstrickung cineastisch ambi-

222 tionierter Regisseure bzw. Produzenten in eine Geschäftswelt, die auch vor Mord nicht zurückschreckt, wird lediglich angedeutet. Wie auch immer sich der Konflikt zwischen den Vertretern der Filmkunst und denen des Filmgeschäfts im Einzelfall darstellt - künstlerische Vorstellungen, die den Film als Abenteuer begreifen, stehen in einem offenbar unauflöslichen Spannungsverhältnis zu den Interessen derer, die mit Film Geld verdienen wollen. Eine Theorie des Films, die diese Abhängigkeiten und daraus erwachsende Zwänge nicht berücksichtigt, muß sich Realitätsferne vorwerfen lassen - auch das ist eine Botschaft der 'autothematischen Filme'. Zur Behandlung dieses Themas greifen die Regisseure auf Erfahrungen zurück, die sie in diesem Fall bzw. vorausgegangenen Filmprojekten machen mußten. Dadurch ergibt sich ein - qualitativ und quantitativ unterschiedlicher - autobiographischer Charakter. Obwohl Godard in LE MEPRIS sogar selbst vor die Kamera tritt, bringt er in den Film wenig Aspekte seines eigenen Lebens ein. Es gibt kein manifestes Alter ego, allenfalls wird deutlich, daß Fritz Lang seine Sympathie und Verehrung gilt. So sind es mehr die filmsprachlichen Mittel, die LE MEPRIS zu einem persönlichen Werk Godards machen. In der filmischen Präsentation hat der Film ein unverwechselbares Gesicht. Eine Sichtweise, die Wenders* DER STAND DER DINGE als direkten autobiographischen Reflex auf seine enttäuschenden Erlebnisse mit dem HAMMETT-Projekt reduzieren will, das zeigte die Analyse, greift zu kurz. Trotz vielfältiger autobiographischer Bezüge: Wenn Wenders das Schicksal eines ambitionierten Filmemachers in einer kommerziellen Gesetzen folgenden Branche zeigt, dann fließen seine Erfahrungen mit HAMMETT und anderen Projekten gefiltert, selektiert und reflektiert ein. Einen Filter haben auch Fellinis autobiographische Erfahrungen durchlaufen, bevor sie Eingang in 8V2 finden konnten. Eine Vielzahl von Verweisen auf Fellinis Kindheit, auf seine Arbeitsweise und sein Erscheinungsbild, vor allem aber auf seine Persönlichkeit sind dennoch erhalten geblieben und nachweisbar. Mehr denn je fungiert hier Marcello Mastroianni als Fellinis Alter ego. Als Kondensat durchlebter Erfahrungen erhellen die 'autothematischen Filme' im Rückblick auch die bisherige Arbeit der Regisseure. Mehr als andere Filme offenbaren sie zentrale Anliegen, die das (Euvre der Regisseure durchziehen. So kommt diesen Filmen eine exponierte Stellung im Werk der Filmemacher zu, sie sind Abrechnung und Neuorientierung zugleich. Wenders, der als Angehöriger der Nachkriegsgeneration eine besondere Affinität zur amerikanischen Kultur, speziell zum US-Kino, empfand, kehrte nach dem 'Realitätsschock' HAMMETT mit DER STAND DER DINGE zurück zurück nach Europa, zurück auch zu einem europäisch geprägten Rollenverständnis als Regisseur. Während Wenders mit seinem 'autothematischen Film' von fremden Gelände heimkehrte, begab sich Godard mit LE MEPRIS auf unbekanntes Terrain. Es war sein Test, inwieweit die Intentionen der 'Nouvelle Vague' in einem Werk realisiert werden können, das auf Grund seines Etats und der internationalen Starbesetzung breites Publikumsinteresse finden muß, um sich an der Kinokasse zu behaupten. Schon während der Produktionsgeschichte von LE MEPRIS zeichnete sich das Scheitern dieses Anspruchs ab, Godard hat - dem Geist der 'Nouvelle Vague', wie er ihn verstand, folgend - die Interventionen seiner Produzenten zum Gegenstand von LE MEPRIS gemacht. Fellinis 8V2 markiert seinen endgültigen Abschied

223 von den Konventionen des Neorealismus. Sein konsequent fortgesetzter Weg führte in mit 8V2 zu einem Werk, das eine Vielzahl von Motiven zusammenbringt und weiterentwickelt, die in seinen früheren Arbeiten bereits angelegt waren. Die 'autothematischen Filme' sind Zwischenergebnisse der Selbsterforschung und Versuche der Selbstdeutung. Im Mittelpunkt der Filme - als Kunstwerke Zeugnisse einer gelungenen Selbstbehauptung - stehen Figuren, die eine schöpferische Krise durchleben. Diese Künstlerexistenzen müssen dem Druck von außen ebenso standhalten, wie Verunsicherungen, die in ihrem Innern Platz greifen. In dem Ansinnen, eine aus der Balance geratene Identität wieder ins Lot zu bringen, stellen die 'autothematischen Filme' einen Versuch dar, sich am 'eigenen Schöpf' aus der Krise zu ziehen. So dienen die 'autothematischen Filme' auch der Versicherung und Bestätigung der eigenen künstlerischen Kompetenz. Zur Unterstützung in diesen subjektiven Grenzsituationen wird in DER STAND DER DINGE und in LE MEPRIS die Anbindung an Weggefahrten und Vaterfiguren gesucht. Durch die Bezugnahme auf die Geschichte des Films - erinnert sei hier nur an die Rollen, die die Personen Fritz Lang und Nicolas Ray für beide Regisseure spielen - versuchen Wenders und Godard ihren gefährdeten Status zu stabilisieren. Hinter der Solidarisierung verbirgt sich der Wunsch nach Stärkung der eigenen Position. So sehr die Regisseure der 'autothematischen Filme' den Kontakt zur Tradition anstreben, so entschieden beschreiten sie zugleich neue Wege in der Darstellung ihres Anliegens. Sie begnügen sich nicht damit, eine Sprache, über die sie anerkanntermaßen verfügen, souverän anzuwenden. Sie hinterfragen vielmehr diese Sprache, erproben deren Angemessenheit - und entwickeln sie damit weiter. Die Regisseure nähern sich in diesen Filmen ihrem 'Werkzeug', den filmischen Artikulationsweisen, mit einem forschenden Interesse. Die 'autothematischen Filme' sind auch - über diese Filme hinausweisende - Dokumente der Auseinandersetzung mit den Regeln des Metiers, mit Regeln, die nach Ansicht des schöpferischen Individuums immer dazu tendieren, Lebendigkeit in Konvention zu ersticken. So wehrt sich Wenders dagegen, daß das Ungeordnete der Wirklichkeit einer Geschichte geopfert wird, Godard rebelliert gegen Regeln, die seiner Kreativität Fesseln anlegen, Fellini attackiert künstlerische und weltliche Ordnungsvorstellungen - und sehnt sie zugleich herbei: "Ich brauche keine Ordnung, denn ich bin ein Übertreter dieser Ordnung und halte mir das zugute; und um mich als Übertreter zu betätigen, benötige ich eine sehr strenge Ordnung mit vielen Tabus, drohenden Strafen auf Schritt und Tritt, Moralismen, Umzügen und Männerchören." 1 Mit der Ordnung ist die Norm angesprochen, denn dem Begriff der Norm liegt eine Vorstellung zugrunde, die Ordnung als Einheit in der Vielfalt auffaßt. Jede Norm ist eine historische Größe, d.h. sie unterliegt dem geschichtlichen Wandel. Daraus folgt, daß die Norm nie die Gültigkeit eines Naturgesetzes beanspruchen kann - und doch scheint es gerade zum Wesen der Norm zu gehören, mit diesem Anspruch aufzutreten. Mukarovsky beschreibt die Bandbreite und inhärente Dynamik der Norm: "Die Norm ist [...] gegründet Fellini. Liebesgeschichle. 145.

224

auf der fundamentalen dialektischen Antinomie von ausnahmsloser Gültigkeit und bloß regulativer, ja sogar nur orientierender Potenz, die auch die Möglichkeit eines Bruchs einschließt." 2 Das Konventionelle, das sich mit verfestigten Denkstrukturen befaßt, bildet den Hintergrund für das Neue. Und das Neue braucht das Alte, aus dem Widerstand gegen die Konvention zieht das Neue seine Energie, um die Norm zu hinterfragen und zu brechen; Fellinis Äußerung belegt dies. Gerade der Normbruch läßt die Norm prägnant werden - im Widerspruch jedoch bleibt die Norm enthalten und spürbar. Zwar birgt jedes Kunstwerk ein System relevanter Abweichungen vom bekannten Schema, aber, so Lotman: "Schaffen ist [...] außerhalb von Regeln, von strukturellen Relationen unmöglich." 3 Die 'autothematischen Filme' lenken die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt, die Regelhaftigkeit künstlerischer Werke wird durch die Regelverletzung thematisiert. Während Wenders Spielweisen kombiniert und Godard eingefahrene Spielregeln attackiert, kreiert Fellini neue Regeln. Dabei entwerfen diese Filme keineswegs ein Spiel ohne Regeln, "sondern eines, dessen Regeln im Verlauf des Spiels erst gefunden werden müssen" 4 . Teil dieser 'neuen Regeln' ist die eigentümliche Gestaltung des Verhältnisses Schauspieler-Rolle in den 'autothematischen Filmen'. Weniger die vielfältigen Reminiszenzen an Freunde und Kollegen, für die sich die 'autothematischen Filme' anzubieten scheinen, sind in diesem Zusammenhang bemerkenswert, sondern vielmehr der Eindruck, daß bedeutende Schauspieler nicht in ihrer Rolle 'aufgehen'. Die Filme operieren mit dieser Differenz zwischen Schauspieler und Rolle, in der die tatsächliche Lebensgeschichte des Schauspielers bzw. sein Kinomythos spürbar bleibt. Während Wenders und Fellini diese Differenz aufgreifen, um dokumentarische Elemente in den Spielfilm zu integrieren, nutzt Godard sie, um sich selbst einzubringen, um auf sich - und das heißt auch: die Instanz des Regisseurs - zu verweisen. Das spielerische Element des Lichtspiels bleibt erhalten. Durch das so vorgetragene Eingeständnis, mit einem Film ein Spiel zu kreieren, erreichen die 'autothematischen Filme' einen besonderes Maß an Authentizität: Real ist alleine die Vermittlung. Ein Spiel braucht Mitspieler - und dem Rezipienten weisen diese Filme einen besonderen Status zu. Nur selten bekommt er Gelegenheit, sich selbst zu vergessen, im Gegenteil, er wird immer wieder mit seiner Rolle als Zuschauer - und das heißt hier: als aktiver Mitschöpfer - konfrontiert. Er kann sich nicht länger mit einer konsumierenden Haltung begnügen, vielmehr kann und muß er erkennen, was eigentlich passiert, wenn er einen Film sieht und begreift. So haben sich die untersuchten 'autothematischen Filme' bei aller Unterschiedlichkeit als Werke erwiesen, die eine spezifische Beziehung zwischen Werk und Betrachter konstituieren. Sie gehören zu jenen Werken, die "unter dem Gesichtspunkt der Konsumtionsbeziehung strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen" 5 . Die 'autothematischen Filme' begnügen sich nicht damit, dem Zuschauer ein Thema vorzutragen, sie verlangen von ihm mehr das Überdenken seiner eigenen Rolle: Indem sie ihn durch Kombination von 2 3 4 5

Mukarovsky. Kapitel aus der Ästhetik. 38. Lotman. Struktur literarischer Texte. 413. Ebd. Eco. Das offene Kunstwerk. 13.

225

Erzählweisen mit seiner Kino-Erfahrung konfrontieren (Wenders), indem sie Sehgewohnheiten ihre Selbstverständlichkeit entreißen (Godard) oder indem sie von ihm eine permanente Korrektur und Neuorientierung seiner Verstehensmodelle abverlangen (Fellini). Gerade in der Aufdeckung der Textkonstituierungsrelation und des gegenläufigen Rezeptionsprozesses steckt das aufklärerische Moment der 'autothematischen Filme' - auch darin besteht ihr Beitrag zu einer Theorie des Films. Wenn das in dieser Arbeit entwickelte Schichtenmodell des narrativen Films ein 'Simulacrum' ist für das, was in 'herkömmlichen' Filmen als 'black box' funktioniert, dann kennzeichnet es die 'autothematischen Filme', daß sie aus einer schwarzen eine 'gläserne' Box machen wollen. Durch auf vielfache Weise herbeigeführte Kollisionen zwischen Bewegungen der Textkonstituierung und der Textrezeption als Rekonstruktion erhellt sich die Dynamik dieser wechselseitigen Prozesse. Die 'autothematischen Filme' lassen offenkundig werden, was jeder Film im Verborgenen in Bewegung setzt. Sie zeigen in dem, was sie erzählen und wie sie es erzählen, was Film ist, was Film sein kann. Inwieweit können nun die hier getroffenen Aussagen Anspruch auf universelle Gültigkeit erheben? Kritische Einwände dürften sich vor allem darauf beziehen, daß im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nur drei Filme berücksichtigt werden konnten. Dabei hat sich allerdings erwiesen, daß die Regisseure von deutlich zu unterscheidenden Positionen ausgehen, um auf individuellen Wegen ihren persönlichen Visionen Gestalt zu verleihen. Bei aller Unterschiedlichkeit ergänzen sich die Ansätze zugleich. Den untersuchten 'autothematischen Filmen' kommt eine Schlüsselposition zu; sie können als exemplarisch gelten - exemplarisch für die Auseinandersetzung der europäischen Regisseure in ihrer Zeit mit ihrem Status als Regisseur, ihrem Selbst und der von ihnen angelegten Rezeptionsbeziehung. Die 'autothematischen Filme' eröffnen privilegierte Zugangswege zu zentralen Konfliktfeldern: der fragilen Position des Filmemachers zwischen Kunst und Kommerz, seinem Bemühen in einem industrialisierten Sektor persönliche Motive individuell zu gestalten, und seinem Versuch, durch Hinwendung zu dem Zuschauer seine Vereinzelung zu überwinden, ohne der Publikumswirksamkeit seine Sensibilität und Zweifel zu opfern. Aus diesen Brüchen erwachsen die spannenden Widersprüche, von denen diese Filme leben. Die Untersuchung des 'autothematischen Films' erbrachte somit einerseits, daß der Künstler im Filmmetier mehr als in anderen künstlerischen Disziplinen Teil eines Teams ist und sich mitunter extremen ökonomischen Abhängigkeiten ausgeliefert sieht. Andererseits werden in den 'autothematischen Filmen' all jene Aspekte aufgegriffen, die auch in anderen künstlerischen Disziplinen im Zentrum der Reflexion stehen, wenn Künstler sich mit seelischen und äußeren Bedingungen, mit Begleiterscheinungen und Zielen ihrer Arbeit auseinandersetzen. So wird der Konflikt mit der Gesellschaft thematisiert, der den Künstler in Melancholie und Verzweiflung stürzt, ihn gar in die Rolle des Märtyrers drängt. In seinem Bemühen, den Angriffen zu begegnen, umgibt er sich mit einer schützenden Aura, oder er versichert sich der Solidarität der Freunde, Kollegen und Beschützer, um mit deren Unterstützung den Herausforderungen Widerstand entgegensetzen zu können. Im Bestreben, sich allen Anfeindungen zum Trotz zu behaupten und einen Weg

226 der Selbstverwirklichung zu beschreiten, sieht er sich dennoch immer wieder isoliert und auf sich selbst zurückgeworfen. Im Zwiegespräch mit dem Spiegel - Aug' in Aug' mit sich selbst - blickt er schließlich alleine dem Tod ins Angesicht. Was bleibt, ist die schöpferische Arbeit als Hinterlassen einer Spur.

Anhang

Grafiken Beziehungsfelder Die Grafiken zeigen mittels Linien die Beziehungen (ökonomische, kulturelle und persönliche) zwischen den Personen (soweit sie aus dem Film zu erschließen sind). Bestimmte Personengruppen sind durch ein graues Raster unterlegt; was die Gruppen definiert, wird jeweils im Text erläutert.

Strukturdiagramme Den Grafiken zu Zeit-, Raum- und Infraierungsstruktur ist gemeinsam, daß die waagerechten Balken den Film repräsentieren; Bereiche mit schrägem Linienraster = Titel, Credits. Unterhalb der Balken sind die lfd. Filmminuten eingetragen. Zeitstruktur·. Weiß = Tag, Schwarz = Nacht. Senkrechte Linien = Raffungen innerhalb der Chronologie. Kleine Rechtecke = Eingebettete Zeiträume. Wellenlinienraster = Zeiträume außerhalb der Chronologie (Träume etc.). Raumstruktur: Hauptschauplätze und eingebettete Nebenschauplätze (in den kleinen Rechtecken). Infraierungsstruktur: Punktraster = Dreharbeiten. Schwarz = Blick durch die 'Kamera' mit der der 'Film' gedreht wird.

Realisationsphasen Schwarz = Vorgänge, die erfolgen und im Film gezeigt werden. Punktraster = Vorgänge, die erfolgt sein müssen, im Film aber nicht gezeigt werden. Schraffurraster = Vorgänge, die noch nicht erfolgt sind, die aber - z.B. in Gesprächen - vorweggenommen werden. Linien zeigen Beziehungen zwischen Realisationsphasen an.

Montagediagramm Der Pfeil repräsentiert die Ereignisse vor, während und nach der Filmhandlung. Das weiße Feld steht für den im Film vergegenwärtigten Zeitabschnitt; die Einstellungen des Syntagmas sowie die vorausgegangene bzw. nachfolgende Einstellung sind darin eingetragen. Einfache Linien zeigen Bezugnahme zu anderen Zeiträumen, breite Linien markieren die Klammer des Syntagmas.

228

Einstellungsprofil

$

CS

I I £

B.

Kameraoperationen / Kameraneigungswinkel / Blenden

W ST irh(Λ 5< « < I f irh α-

I&i & I3 iI

η

η (η

η

Α

Μ

α α α S κ κ

ο

3

Q 3

ο

I

,ατ



ff I 1

Point of View der Kamera

O

m m

i Ά ϊ'

il

s a §"ff

S i O. 0,

α S

S. 2

3-

Β ff 3 Β

& 1 I C? Ä* Ö ρ §•" Κ S a 3 ~

& Κ Β. 5 & & δΕ ff er 3 1 Β Ι' Ο ** α ,cr

w

5Ο ηS » 3 Κ ff S

S3 Ο 3 Ρ — α 3 2 3 n -ι 3ri

η

3

CO in I

229

Filmographische Daten DER STAND DER DINGE Produktionsland: Bundesrepublik Deutschland Produktionsjahr: 1982 Regie: Wim Wenders Drehbuch: Wim Wenders, Robert Kramer Kamera: Henri Alekan, Martin Schäfer, Fred Murphy Schnitt: Barbara von Weitershausen, Peter Przygodda Musik: Jürgen Knieper Ton: Maryte Kavaliauskas, Martin Müller Kostüme: Maria Gonzaga Ausstattung: Ze Branco Regieassistenz: Carlos Santana, Greg Gears Produktionsfirma: Wim Wenders Produktion, Road Movies, Pro-jekt Filmproduktion im Filmverlag der Autoren, ZDF, Pari Film, Musidora, Film International, Artificial Eye Produzent: Chris Sievernich Produktionsleitung: Antonio Goncalo, Steve McMillan S/W, 35mm Originallänge 121 Min., Länge der deutschen Fassung 116 Min. Verleih: Filmverlag der Autoren Darsteller: Patrick Bauchau (Friedrich), Viva Auder (Kate), Isabelle Weingarten (Anna), Samuel Fuller (Joe), Rebecca Pauly (Joan), Jeffry Kime (Mark), Paul Getty III (Dennis), Allen Goorwitz (Gordon), Roger Corman (Anwalt), Robert Kramer (Kameraoperateur) u.a.

Filmographische Daten LE MEPRIS Deutscher Verleihtitel: DIE VERACHTUNG Produktionsland: Frankreich, Italien Produktionsjahr: 1963 Regie: Jean-Luc Godard Drehbuch: Jean-Luc Godard nach dem Roman Ί1 Disprezzo' von Alberto Moravia Kamera: Raoul Coutard Schnitt: Agnes Guillemont, Lila Lakshmaman Musik: Georges Delerue Ton: William Sivel Kostüme: Janine Autre Ausstattung: Regieassistenz: Charles Bitsch Produktionsfirma: Rome-Paris-Film; Les Films Concordia, Paris; Compagnia Cinematografica, Rom Produzent: Georges de Beauregard, Carlo Ponti, Joseph E. Levine Produktionsleitung: Philippe Dussart, Carlo Lastricati Farbe, 35mm, Franscope

230 Originallänge 105 Min., Länge der deutschen Fassung 95 Min. Verleih: Prokino (35mm), Atlas (16mm) Darsteller: Brigitte Bardot (Camille Javal), Michel Piccoli (Paul Javal), Jack Palance (Jeremy Prokosch), Fritz Lang (Fritz Lang), Georgia Moll (Francesca Vanini), Jean-Luc Godard (Regieassistent) u.a.

Filmographische Daten 8V2 Produktionsland: Italien Produktionsjahr: 1963 Regie: Federico Fellini Drehbuch: Federico Fellini, Tullio Pinelli, Ennio Flaiano, Brunello Rondi nach einer Idee von Federico Fellini und Ennio Flaiano Kamera: Gianni Di Venanzo Schnitt: Leo Latozzo Musik: Nino Rota Ton: Mario Faraoni, Alberto Bartolomei Kostüme und Bühnenbild: Piero Gherardi Ausstattung: Vito Anzalone Regieassistenz: Guidarino Guidi, Giulio Paradisi, Francesco Aluigi Produzent: Angelo Rizzoli Produktionsleitung: Nello Meniconi s/w, 35mm, Breitwand Originallänge 138 Min., Länge der deutschen Fassung 133 Min. Verleih: Warner Columbia Darsteller: Marcello Mastroianni (Guido Anselmi), Anouk Aimee (Luisa), Claudia Cardinale (Claudia), Jean Rougeul (Daumier-Fabrizio Carini), Sandra Milo (Carla), Mario Pisu (Mezzabotta), Rosella Falk (Rosella), Eddra Gale (Saraghina), Guido Alberti (Pace), Barbara Steele (Gloria Morin) u.a.

231

Literaturverzeichnis

Allgemein Anderson, Patrick Donald. In It's Own Image. The Cinematic Vision of Hollywood. New York 1978. Andrew, Dudley J. The Major Film Theories. London 1976. Arnheim, Rudolph. Film als Kunst. Neuausgabe. München 1974. Baläzs, Bela. Der Geist des Films. Frankfurt a. M. 1972. Barris, Alex. Hollywood According to Hollywood. London 1978. Barthes, Roland. Literatur oder Geschichte. Frankfurt 1969. — . "Die strukturalistische Tätigkeit". Der französische Strukturalismus: Mode - Methode - Ideologie. Hg. Günther Schiwy. Reinbek 1969. 153-158. Bauermeister, Thomas. "Erzählte und dargestellte Konversation". Erzählstrukturen - Filmstrukturen. Hg. Klaus Kanzog. Berlin 1981. 90-141. Bazin, Andre. Was ist Kino? Bausteine zu einer Theorie des Films. Köln 1975. Behlmer, Rudy und Tony Thomas. Hollywood's Hollywood: the Movies about the Movies. New York 1975. Bitomsky, Hartmut. "Einleitung". Der Geist des Films. Bela Baläzs. Frankfurt a. M. 1972. 7-52. —. Die Röte des Rots von Technicolor: Kinorealität und Produktionswirklichkeit. Neuwied 1972. Brandlmeier, Thomas. "Das Kino hält sich den Spiegel vor". Süddeutsche Zeitung (7. 7.1981). Branigan, Edward. "Formal Permutations of the Point-of-View Shot". Screen 16, 3 (1975): 54-64. —. Point of View in the Cinema. Berlin [u.a.] 1984.

Bremond, Claude. "Die Erzählnachricht". Literaturwissenschaft und Linguistik 3. Hg. Jens Ihwe. Frankfurt a. M. 1972. 177-217. Cohen-Seat, Gilbert. Film und Philosophie. Gütersloh 1962. Dadek, Walter. Das Filmmedium. München 1968. Eco, Umberto. "Die Gliederung des filmischen Code". Semiotik des Films. Hg. Friedrich Knilli. München 1971.70-93. —. Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M. 1977. Eisenstein, Serge. "Montage 1938". Gesammelte Aufsätze. Zürich 1961. 229-280. — . "Farbfilm" (1946). Zur Farbe im Film. Information Nr. 2/3. Hg. Hochschule für Film und Fernsehen der DDR. Potsdam-Babelsberg 1975. 135-148. Eisenstein, Serge und Wsewolod Pudowkin, Grigorij Alexandrow. "Manifest zum Tonfilm". Materialien zur Theorie des Films. Hg. Dieter Prokop. München 1971. 83-85. Erikson, Erik H. Identität und Lebenszyklus. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1976. Fietz, Lothar. Funktionaler Strukturalismus: Grundlegung eines Modells zur Beschreibung von Text und Textfunktion. Tübingen 1976. —. Strukturalismus. Eine Einführung. Tübingen 1982. Film Center of the School of Art Institute of Chicago. Movies about Movies Chicago '77. Chicago 1977. Franz, Marie-Louise von. "Der Individuationsprozeß". Der Mensch und seine Symbole. Hg. Carl Gustav Jung [u.a.]. 8. Aufl. Ölten 1985. 160-231. Gasser, Manuel. Selbstbildnis: Gemälde großer Meister. München 1979. Gaube, Uwe. Film und Traum: zum repräsentativen Symbolismus. München 1978. Goldmann, Lucien. Dialektische Untersuchungen. Neuwied 1966. Gregor, Ulrich. Geschichte des Films ab 1960. Bd. 3. Hamburg 1983. Halliwell's Filmguide. Hg. Leslie Halliwell. London 1979. Hamburger, Käthe. Logik der Dichtung. 3. Aufl. Frankfurt a. M. [u.a.] 1980.

233

Hauser, Arnold. Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. München 1973. Henderson, Joseph L. "Der moderne Mensch und die Mythen". Der Mensch und seine Symbole. Hg. Carl Gustav Jung [u.a.]. 8. Aufl. Ölten 1985. 106-159. Hickethier, Knut und Joachim Paech. "Zum gegenwärtigen Stand der Filmund Fernsehanalyse". Didaktik der Massenkommunikation 4. Hg. dies. Stuttgart 1979. 7-23. Hild, Michael und Wolfgang Längsfeld. "Materialien zu einer Propädeutik der Medienerziehung". Jugend, Film, Fernsehen. 3 (1972): 3-26; 4 (1972): 3-29. Hofstätter, Peter R. Psychologie. Frankfurt a. M. 1957. Holsten, Sigmar. Das Bild des Künstlers: Selbstdarstellungen. Hamburg 1978. Jacobi, Jolande. "Symbole auf dem Weg der Reifung". Der Mensch und seine Symbole. Hg. Carl Gustav Jung [u.a.]. 8. Aufl. Ölten 1985. 272-303. Jaffe, Aniela. "Bildende Kunst als Symbol". Der Mensch und seine Symbole. Hg. Carl Gustav Jung [u.a.], 8. Aufl. Ölten 1985. 232-273. Jung, Carl Gustav. "Zugang zum Unbewußten". Der Mensch und seine Symbole. Hg. ders. [u.a.]. 8. Aufl. Ölten 1985. 160-231. Kanzog, Klaus. Erzählstrategie. Heidelberg 1976 — . Hg. Erzählstrukturen - Filmstrukturen. Berlin 1982. Kellerkino Bern und Filmpodium der Stadt Zürich. Hollywood: Die Traumfabrik; Daten zur Produktion. Bern [u.a.] 1975. Knilli, Friedrich. Hg. Semiotik des Films. München 1971. Kotulla, Theodor. Hg. Der Film: Manifeste, Gespräche, Dokumente. Bd. 2: 1945 bis heute. München 1964. Kracauer, Siegfried. "Für eine qualitative Inhaltsanalyse". Ästhetik und Kommunikation. 7 (1972): 53-58. —. Theorie des Films. Frankfurt 1985 Krappmann, Lothar. Soziologische Dimensionen der Identität: strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. 6. unveränderte Aufl. Stuttgart 1982.

234

Lämmert, Eberhard. Bauformen des Erzählens. 7. unveränderte Aufl. Stuttgart 1980. Lexikon des Internationalen Films. Hg. Katholisches Institut für Medieninformation e. V. und Katholische Filmkomission für Deutschland. 10 Bde. Reinbek 1987. Lotman, Jurij M. Probleme der Kinoästhetik: Einßhrung in die Semiotik des Films. Frankfurt a. M. 1977 —. Die Struktur literarischer Texte. 2. Aufl. München 1981. MacCabe, Colin. "Theorie und Film: Prinzipien von Realismus und Vergnügen". Screen-Theory. Hg. Joachim Paech [u.a.]. Osnabrück 1985. 211-229. Metz, Christian. "Die Infraierungskonstruktion von 8V2"· Semiologie des Films. Hg. ders. München 1972. 289-296. —. Semiologie des Films. München 1972. —. Sprache und Film. Frankfurt a. M. 1973. Meyers, Richard. Movies on Movies. New York 1978. Mitta, Alesandr. Leuchte, mein Stern, leuchte: Reflexionen zur Regie. Berlin 1983. Monaco, James. Film verstehen. Reinbek 1980. Morin, Edgar. Der Mensch und das Kino: eine anthropologische Untersuchung. Stuttgart 1958. de la Motte-Haber, Helga und Hans Emons. Filmmusik; eine systhematische Beschreibung. München [u.a.] 1980. Mukarovsky, Jan. "Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten". Kapitel aus der Ästhetik. Hg. ders. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1982. 7-112. —. Kapitel aus der Ästhetik. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1982. — . "Der Strukturalismus in der Ästhetik und Literaturwissenschaft". Kapitel aus der Poetik. Hg. ders. Frankfurt a. M. 1967. 7-33. Paech, Joachim. "Einleitung in Realismus und Dokumentarismus". Screen-Theory. Hg. ders. [u.a.], Osnabrück 1985. 183-209.

235

— . "Einleitung in die Semiotik 1 & 2 - von der linguistischen zur psychoanalytischen Semiotik". Screen-Theory. Hg. ders. [u.a.]. Osnabrück 1985. 99-119. Panofsky, Erwin. "Style and Medium in the Motion Picture". Film: an Anthology. Hg. Daniel Talbot. Berkeley [u.a.] 1959. 15-32. Parish, James Robert und Michael R. Pitts mit Gregory W. Mank. Hollywood on Hollywood. London 1978. Pasolini, Pier Paolo. "Kino der Poesie". Pier Paolo Pasolini. Hg. Peter W. Jansen und Wolfram Schütte. München 1977. 49-77. Pawek, Karl. Das Bild aus der Maschine. Ölten 1968. Peters, Jan-Marie. "Zur Semiologie des Films". Semiotik des Films. Hg. Friedrich Knilli. München 1971. 56-69. — . "Die Struktur der Filmsprache". Theorie des Films. Hg. Karsten Witte. Frankfurt a. M. 1972.171-186. Pflaum, Hans Günther und Hans Helmut Prinzler. Film in der Bundesrepublik Deutschland. München 1979. Pötzl, Otto. "Vergleichspunkte zwischen Film und Traum". Der Film als Experiment und Heilmethode. Hg. Lhotsky, Jaromir. Wien 1950. 98-125. Rororo-Filmlexikon. Hg. Liz-Anne Bawden. Edition der deutschen Ausgabe Wolfram Tichy. 6 Bde. Reinbek 1978. Schäfer, Horst. Film im Film. Frankfurt a. M. 1985. Seeßlen, Georg. Kino der Gefühle. Reinbek 1980. — . "Kategorien der Filmanalyse: zu ihren Methoden und ihrer Geschichte". Medien praktisch 1 (1986): 4-9. Stanzel, Franz K. Typische Formen des Romans. 10. Aufl. Göttingen 1981. Stierle, Karlheinz. "Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte". Text als Handlung. Hg. ders. München 1975. 50-53. — . "Semiotik als Kulturwissenschaft". Zeitschrift für französische Sprache und Literatur. 83 (1973): 99-128. — . "Die Struktur narrativer Texte". Funkkolleg Literatur: Studienbegleitbrief 4. Tübingen 1976. 11-35.

Todorv, Tzvetan. "Poetik". Einßhrung in den Strukturalismus. Hg. Francos Wahl. Frankfurt 1981. 105-179. Truffaut, Frangois. "An Interview". Film Quarterly 1 (1963): 3-13. Tudor, Andrew. Film-Theorien. Frankfurt a. M. 1977. Weber, Wilhelm. Zur Geschichte des Selbstbildnisses: Kaiserslautern 1971.

Ausstellungskatalog.

Weimann, Robert. "Erzählsituation und Romantypus: Zu Theorie und Genesis realistischer Erzählformen". Zur Struktur des Romans. Wege der Forschung 488 WBG. Hg. Bruno Hillebrand. Darmstadt 1978. 316-346. Willemann, Paul. "Überlegungen zu Ejchenbaums Konzept der inneren Rede im Film". Screen-Theory. Hg. Joachim Paech [u.a.]. Osnabrück 1985. 79-98. Wollen, Peter. Signs and Meaning in the Cinema. 3. Aufl. London 1972. Wuss, Peter. Die Tiefenstruktur des Filmkunstwerks. Berlin (DDR) 1986. Zavattini, Cesare. "Einige Gedanken zum Film". Der Film: Manifeste, Gespräche, Dokumente. Bd. 2.1945 bis heute. Hg. Theodor Kotulla. München 1964.

Wim Wenders und DER STAND DER DINGE Adler, Walter. Das große Geld, die Angst und der Traum vom Geschichtenerzählen. TV-Feature (WDR). 1982. Baer, Volker. "Tödliches Hollywood". Tagesspiegel (30.10.1982). Baumeister, Willi. Das Unbekannte in der Kunst. Köln 1960. Bechthold, Gerhard. "Der 'Fall Wenders' oder die Kolonisierung der Gehirne?". Filmfaust 9 (1984): 32-39. Bloch, Ernst. Das Prinzip Hoffnung. In 5 Teilen. Frankfurt a. M. 1985. Blum, Heiko R. "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter: Gespräch mit Wim Wenders". Filmkritik 2 (1972): 69-77. Blumenberg, Hans-Christoph. "Die Lehrjahre der Zauberer". Die Zeit (10. 9. 1982). — . "Der Zuschauer als Entdecker". Kölner Stadtanzeiger o.D.

237

— . "Odysseus auf Umwegen". Die Zeit (29. 10. 1982). Boujout, Michel. Wim Wenders. Paris 1983. Buchka, Peter. Augen kann man nicht kaufen. München [u.a.] 1983. —."... in die leere Welt hinein". Süddeutsche Zeitung (13.12.1975). —. "Wenders' Triumph". Süddeutsche Zeitung (10. 9.1982). Bühler, Wolf-Eckart. "Alice in den Städten". Filmkritik 3 (1974): 131-135. Combs, Richard. "The State of Things". Monthly Film Bulletin (Jan. 1983): 7-8. — . "The long goodby...goodby...goodby". Monthly Film Bulletin (March 1983): 80. Conradt, Gerd. "Gespräch mit Wenders". Cut in 9. Freiburg i. Br. (Dez. 1982): 17-20. Daney, Serge. "Entretien avec Wim Wenders". Cahiers du Cinema 337 (June 1982): 12-15 und 17-21. Dawson, Jan. Wim Wenders. Toronto 1976. Donner, Wolf. "Zwei Träumer unterwegs". Die Zeit (5. 3. 1976). Ebert, Jürgen. "Der Stand der Dinge (Schiefer Horizont)". Filmkritik 27 (1983): 97-103. — . "Der Tod ist ein grausames Märchen (Lightning over water)". Filmkritik 10 (1981): 475-478. Filmbulletin (über Wim Wenders). 136 (Juni/Juli 1984). Filmverlag der Autoren. Der amerikanische Freund. Presseheft. München 1977. —. Der Stand der Dinge. Presseheft. o. O. [München] o. J. [1982] Fischer, Robert und Joe Hembus. Der Neue Deutsche Film. München 1981. Gallagher, John. "Wim Wenders". Films in Review. New York. 6 (June/July 1983): 355-361. Giger, Bernhard. "Unterwegs von Oberhausen zur Zugspitze: Entwicklungslinien im deutschen Film seit 1962". Cinema [Zürich] 3 (1976): 9-31.

Gregor, Ulrich. Geschichte des Films seit 1960, Bd. 3, Reinbek 1983. 143-146. Grob, Norbert. Wenders. Berlin 1984. — . "Sehen, was zu sehen ist. Wim Wenders und seine Filme". Filmbulletin 136 (Juni/Juli 1984): 24-31. Hopf, Florian und Kristine de Loup. "'Und wie machen Sie das?': Wim Wenders trifft Frangois Truffaut". Frankfurter Rundschau (16. 8. 1977). Hurst, H. "Mehr Lust am Kino: Impressionen aus Paris und Venedig". Frauen und Film 34 (Jan. 1983): 42-46. Jenny, Urs. "Tod in Hollywood". Der Spiegel (1.11.1982) Kime, Jeffrey und Geoffrey Carey. "To the ends of the earth". Monthly Film Bulletin (Jan. 1983): 9. Kleist, Heinrich von. Über das Marionettentheater. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1975. Knorr, Wolfram. "Therapien in eigener Sache". Weltwoche (17.11.1982). Knorr, Wolfram und Marcel Boucard. "'Die Amerikaner haben eine skrupellosere Art, Geschichten zu erzählen': Gespräch mit Wim Wenders". Filmbulletin 136 (Juni/Juli 1984): 19-21. Künzel, Uwe. Wim Wenders: ein Filmbuch. Freiburg 1981 Künzel, Uwe und Michael Lohmann. Wim Wenders. Sonderheft Filmjoumal. Freiburg i. Br. (März 1978) — . "Gespräch mit Wim Wenders". Filmjournal 11 (1977). Freiburg i. Br. Lohmeyer, Wulf. "Wim Wenders, ein Interview". Vivas Nachrichten 1 (Sept. 1976). Mayer, Alf. "Der Stand der Dinge". Medium 12 (1982): 37-39. Müller-Scherz, Fritz und Wim Wenders. Im Lauf der Zeit. München 1976. Pasolini, Pier Paolo. Ketzererfahrungen >Empirismo eretico