Figurationen des Bösen im barocken Trauerspiel: Eine Studie zu Andreas Gryphius und Daniel Casper von Lohenstein 9783110726022, 9783110725674

The study deepens the understanding of 17th century literary and cultural production by reassessing the dramatic writing

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German Pages 369 [370] Year 2022

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Figurationen des Bösen im barocken Trauerspiel: Eine Studie zu Andreas Gryphius und Daniel Casper von Lohenstein
 9783110726022, 9783110725674

Table of contents :
Dank
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung: Figurationen des Bösen im barocken Trauerspiel
2 Ambivalenz als Spielraum des Bösen: Gryphius’ Leo Armenius oder Fürsten-Mord (1650)
3 Unterwelt und Welttheater: Gryphius’ Catharina von Georgien oder Bewehrte Beständigkeit (1657)
4 Die Ruptur des Bösen: Gryphius’ Ermordete Majestät oder Carolus Stuardus (1663)
5 „Unser Teutscher Seneca“ und das Böse im Prätext der Geschichte: Lohensteins Agrippina (1665)
6 Die Schauseite des Bösen: Lohensteins Ibrahim Sultan (1673)
7 Figurationen des Teufels – Figurationen des Bösen: Abschließende Bemerkungen unter Einbezug von Hallmanns Sophia (1671)
Zitatverzeichnis Kapitelüberschriften
Literaturverzeichnis
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Isabel von Holt Figurationen des Bösen im barocken Trauerspiel

Frühe Neuzeit

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext

Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Joachim Hamm, Wilhelm Kühlmann, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Band 245

Isabel von Holt

Figurationen des Bösen im barocken Trauerspiel Eine Studie zu Andreas Gryphius und Daniel Casper von Lohenstein

Gedruckt mit Unterstützung der FONTE Stiftung zur Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses sowie der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V.

D188

ISBN 978-3-11-072567-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-072602-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-072609-1 ISSN 0934-5531 Library of Congress Control Number: 2021946996 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Diese Trance bedeutet den umgekehrten Moralweg: Nicht Imitation des Guten, also Naturalismus, Klassik, sondern Entaeusserung des Boesen, Concepts, Asianismus. – Hubert Fichte: Anmerkungen zu Daniel Casper von Lohensteins Agrippina

Dank Die vorliegende Studie basiert auf meiner Dissertationsschrift, die im September 2019 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin im Fach Neuere deutsche Literatur angenommen wurde. Ohne die vielfältige Unterstützung aus meinem akademischen und privaten Umfeld wäre die Entstehung dieses Buches nicht möglich gewesen. Mein Dank gebührt zunächst Prof. Dr. Peter-André Alt und Prof. Dr. Hans Richard Brittnacher für ihre wertvolle Betreuung meines Promotionsprojekts. Für wichtige Impulse und kluge Hinweise danke ich Prof. Dr. Gesa Dane, Prof. Dr. Jane O. Newman und Prof. Dr. Nicole Sütterlin. Als gute Geister haben Dr. Jost Eickmeyer und Dr. Simon Zeisberg diese Arbeit begleitet. Ihnen gilt mein Dank. In dieser Reihe sei auch Dr. Catarina von Wedemeyer genannt. Ihr bin ich ebenfalls zu Dank verpflichtet, wie ein Fisch. Beatrice Fallert als engagierter erster Leserin sei gedankt sowie den Herausgebern der Frühen Neuzeit für die Aufnahme des Bandes in ihre Reihe. Der Europäischen Kommission und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) danke ich für ihre Förderung meines Gastaufenthaltes an der University of California, Irvine. Der FONTE Stiftung zur Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses und der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freien Universität Berlin gebührt mein besonderer Dank für die vollumfängliche Finanzierung dieser Publikation durch ihre großzügigen Druckkostenzuschüsse. Meinen Freundinnen und Freunden danke ich für den moralischen Beistand, der gerade bei einer Arbeit über das Böse unentbehrlich ist. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Berlin, im August 2021

https://doi.org/10.1515/9783110726022-202

Inhaltsverzeichnis Dank

VII

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Einleitung: Figurationen des Bösen im barocken Trauerspiel

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Ambivalenz als Spielraum des Bösen: Gryphius’ Leo Armenius oder Fürsten-Mord (1650) 17 Michael Balbus I: superbia und die Lästerung der Majestät 21 Michael Balbus II: invidia und die gerechte Feuerstrafe 34 Aus „ein Wort“ mach’ „zwey Wort“: Verdoppelung und die inventio des Bösen 38 Spektakel der Vermaledeiung: Die Teufelsbeschwörung 43 An der Schwelle zur „Werckstatt toller Luegen“ 44 „Etliche frembde Zeichen“: Das Theater der Schwarzkunst 51 Blutige Weihnacht: Der Fürstenmord als Entweihung 62 Consolatio Theodosiae: Der Fürstenmord als imitatio Christi 71

2.1 2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.5 2.6

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4 4.1 4.2 4.3 4.4

Unterwelt und Welttheater: Gryphius’ Catharina von Georgien oder Bewehrte Beständigkeit (1657) 78 „Unter dem Schau-Platz die Helle“: Das (Unter-)Welttheater im Prolog 80 „Die hell’sche Welt“ unter dem Regiment des Chach Abas 85 Die „bitter Helle“ der adfectus mali 95 Malträtieren: Catharinas Marter 100 Die Hölle des bösen Gewissens: Das Ende 110 Die Ruptur des Bösen: Gryphius’ Ermordete Majestät oder Carolus Stuardus (1663) 116 „Perversus semper“: Das Cromwell-Epitaph 124 Larven und Entlarven des Bösen: Zur „Independentischen Rotte“ 129 Straftheater des Majestätsmordes: Die Poleh-Szene 137 Die enthauptete Majestät als Werk des Bösen 146

1

X

4.4.1 4.4.2

5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4 5.5 6 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3

6.3

Inhaltsverzeichnis

Decapitatio und die Kappung der dialogisch-dramatischen Handlung 146 „Greuel-Zeichen“ auf dem theatrum mundi: Das Enthauptungsszenario 151 „Unser Teutscher Seneca“ und das Böse im Prätext der Geschichte: Lohensteins Agrippina (1665) 164 Wie die Mutter, so der Sohn: Neros und Agrippinas Selbstinszenierungen im Machtgefälle 172 „SO ist’s“: Neros Eröffnungsmonolog als apotheotisches Theater 172 Agrippinas Selbstdarstellung als „Gefaellte“ 184 Von voluntas und voluptas: Die Inzesthandlung 190 Vorspiel: Agrippinas „Magnet der Laster“ und Neros schwelende Wollust 190 Wi(e)der die Natur: Die Inzestszene 202 Blutschuld und Blutschau: Der Muttermord 214 Simulatio und Schiffbruch: Der Muttermord als Provokation der Natur 215 Erdolchung – Sektion – damnatio memoriae: Die (Ver-)Tilgung der Mutter 224 „Brandmal aergster Suende“: Auftritt von Agrippinens Geist 240 Schwarzkunst als Sprachkunst: Zoroasters Beschwörung 243 „Der Abgrund schling’t mich ein!“: Neros Verdammnis 253 Die Schauseite des Bösen: Lohensteins Ibrahim Sultan (1673) 258 Ibrahims Bosheit und der Rückzug der Natur: Der Prolog des Thrakischen Bosporus 263 Expositio immoralis et politica: Die erste Abhandlung 274 In medias res: Die versuchte Entweihung der Sisigambis 274 Die Prädisposition des Bluthunds: Pathologie und Anamnese von Ibrahims böser Lust 282 Beratung vor dem leeren Thron: „des Ibrahims boese Regierung“ und der Untergang des Osmanischen Reiches 290 „Verteufelt-boeser Schluß! verdammte Missethat!“: Der Kindsmord 298

Inhaltsverzeichnis

Das Schauspiel der „boesen Sache“: Die Vergewaltigung der Ambre 307 Die Hinrichtung Achmets als „offnes Schauspiel“ 317 Das Ende des Ibrahim Sultan als „rechtes Trauer-Spiel“ 320

6.4 6.5 6.6 7

Figurationen des Teufels – Figurationen des Bösen: Abschließende Bemerkungen unter Einbezug von Hallmanns Sophia (1671) 330

Zitatverzeichnis Kapitelüberschriften Literaturverzeichnis Register

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339

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XI

1 Einleitung: Figurationen des Bösen im barocken Trauerspiel Auf den letzten Seiten von Ursprung des deutschen Trauerspiels ging es Walter Benjamin um das Böse. Das Wissen „um das Böse“1, so schrieb er dort, gehe im Barock jeder künstlerischen Anstrengung voraus. Nun ist das gespannte Verhältnis, in dem die germanistische Frühneuzeitforschung zu Walter Benjamins abgelehnter Habilitationsschrift steht, bekannt. Repräsentativ dafür ist der Ende der 1980er Jahre entfachte Disput zwischen Klaus Garber und Hans Jürgen Schings. Während Garber Benjamins Trauerspielbuch als das „bedeutendste Werk“ der „internationale[n] Barockforschung“ bezeichnete,2 kritisierte Schings gerade, dass es sich dabei „im emphatischen Sinne des Worts“ um ein „Werk“ handele, das aufgrund ebendieses „Werk-, ja Kunstcharakter[s]“ einer „anderen Dimension“ angehöre, nicht aber der Forschungsliteratur.3 Schings hebt ab auf den Zwiespalt zwischen „Idee“ und „Phänomen“4, der sich im Trauerspielbuch eröffne, d. h. zwischen Benjamins Modell des Trauerspiels und seinem eigentlichen Gegenstand, nämlich den Theaterstücken des 17. Jahrhunderts.5 Gleichwohl 1 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1978, S. 207–430, hier S. 402. 2 Klaus Garber: Rezeption und Rettung. Drei Studien zu Walter Benjamin. Tübingen 1987 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 22), S. 59. Garber reagierte damit auf das Dilemma, dass die Barockforschung ein „Desinteresse“ an Benjamin zeigte und die Benjaminexegese ihrerseits keinen Materialbezug zu den Trauerspielen des 17. Jahrhunderts herstellte. Siehe dazu auch Uwe Steiner: Allegorie und Allergie. Bemerkungen zur Diskussion um Benjamins Trauerspielbuch in der Barockforschung. In: Daphnis 18 (1989), S. 662–679. 3 Hans-Jürgen Schings: Walter Benjamin, das barocke Trauerspiel und die Barockforschung. In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki. Hg. von Norbert Honsza, Hans-Gert Roloff. Amsterdam 1988 (Chloe 7), S. 662 − 676, hier S. 675. 4 Schings: Walter Benjamin, das barocke Trauerspiel und die Barockforschung, S. 666. 5 Benjamin selbst hatte in einem Brief vom 10.1.1924 – die Arbeit entstand zwischen 1916 und 1925 – an den protestantischen Theologen Florens Christian Rang geschrieben: „Mein Fundament ist merkwürdig, – ja, unheimlich – schmal: die Kenntnis einiger weniger Dramen; längst nicht aller, die in Frage kommen. Eine enzyklopädische Lektüre der Werke in dem winzigen Zeitraum, der mir zur Verfügung steht, hätte unfehlbar einen unüberwindlichen dégout in mir erzeugt.“ (Walter Benjamin: Briefe. Hg. und mit Anm. versehen von Gershom Scholem, Theodor W. Adorno. Bd. 1. Frankfurt am Main 1978, S. 327) Die philologischen Defizite seiner Studie gesteht er außerdem in einem vielzitierten Brief an Gershom Scholem vom 22.12.1924 ein: „[D]ie Unkenntnis des lateinischen Mittelalters wird mich an einigen Stellen zu einem Tiefsinn genötigt haben, den exakteste Quellenkenntnis erübrigt hätte.“ (Benjamin: Briefe, S. 366) Dies gilt sowohl für die mittelalterlichen Traditionsbestände der Allegorie (vgl. Peter-André Alt: https://doi.org/10.1515/9783110726022-001

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1 Einleitung: Figurationen des Bösen im barocken Trauerspiel

hat Schings in seinem polemischen Beitrag die „Anregungskraft“6 nicht geleugnet, die von Benjamins Trauerspielbuch auch für die historisch-philologische Forschung ausgehe, und Garber bestand seinerseits in einer Replik auf Schings’ Kritik auf die fruchtbaren „Impulse“7, die Benjamins Studie biete. Auch wenn dieser Disput bereits 35 Jahre her ist, besteht die Kluft zwischen der Benjamin-Forschung und der Frühneuzeitforschung weiterhin. Allein wissenschaftsgeschichtlich ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass die Rezeption der Trauerspiele des 17. Jahrhunderts „als ästhetisches Konstrukt sui generis“8 einhergeht mit der verspäteten Rezeption von Benjamins Trauerspielbuch. Auch sind die in der Frühneuzeitforschung etablierten Diskurse um das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz, von Märtyrer und Tyrann als den vielzitierten „Janushäupter[n] des Gekrönten“9, sowie die Diskussionen um Allegorie und Emblematik im Trauerspiel, wenn auch in modifizierter Weise, auf Benjamins Einsichten zurückzuführen.10 Benjamin fungiert als Stichwortgeber, dessen Detailbeobachtungen auch unter historisch-philologischen Paradigmen anregend wirken, werden sie „trotz

Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller. Tübingen 1995 [Studien zur deutschen Literatur 131], S. 146) als auch den Bezug zur Rhetorik, was zum Anachronismus einer „Romantisierung der Barockrhetorik aus der Warte der romantischen Subjektivitätsphilosophie und Poetik“ (Reinhart Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von ‚Agrippina‘. Göttingen 1986 [Palaestra 279], S. 31) geführt habe. Dass Benjamin hingegen die historischen Umstände des postwestfälischen Protestantismus und dessen Implikationen im politischen Bereich verstanden hat, weist Jane O. Newman: Tragödie und Trauerspiel für ein (post-)westfälisches Zeitalter. In: Benjamins Trauerspiel: Theorie – Lektüren – Nachleben. Hg. von Claude Haas, Daniel Weidner. Berlin 2014 (LiteraturForschung 21), S. 109–122 nach. 6 Schings: Walter Benjamin, das barocke Trauerspiel und die Barockforschung, S. 676. Als „Erfolg“ einer Frühneuzeitforschung im Anschluss an Benjamin wird dort Albrecht Schönes einflussreiche Studie „Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock“ (München 1964; 2. überarbeitete und ergänzte Aufl. München 1968) verbucht, die bis heute den Forschungsdiskurs um die Trauerspiele des 17. Jahrhunderts nachhaltig prägt. 7 Klaus Garber: Zum Bilde Walter Benjamins. Studien, Porträts, Kritiken. München 1992, S. 132. Die verstärkte Beschäftigung, auch internationaler Provenienz, mit dem Trauerspielbuch und seinem Potential für die Erforschung von Drama und Theater der Frühen Neuzeit dokumentieren Claude Haas, Daniel Weidner: Benjamins Trauerspiel. Einleitung. In: Benjamins Trauerspiel. Theorie – Lektüren – Nachleben. Hg. von Claude Haas, Daniel Weidner. Berlin 2014 (LiteraturForschung 21). S. 7–25, hier S. 7–8. 8 Gerhard Spellerberg: Barockdrama und Politik. In: Daphnis 12 (1983), S. 127–168, hier S. 127. 9 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 249. 10 Einen Forschungsüberblick zu diesen Aspekten liefern die Einträge im 2016 erschienenen Gryphius-Handbuch von Nicola Kaminski: Transzendenz/Immanenz. In: Gryphius-Handbuch. Hg. von Nicola Kaminski, Robert Schütze. Berlin 2016, S. 724–739, hier S. 724–726 und Heinz Drügh: Allegorie. In: Gryphius-Handbuch, S. 604–614, hier S. 607.

1 Einleitung: Figurationen des Bösen im barocken Trauerspiel

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seiner Esoterik“11 und „seine[s] kryptischen Nimbus“12 auf die Gegenstände bezogen. Seine Bemerkungen zum Bösen sind jedoch bislang unbeachtet geblieben, obwohl sie im Trauerspielbuch an einschlägiger Stelle, nämlich am Ende des ‚Werks‘, geradezu apriorisch gesetzt sind. Sie sollen der vorliegenden Studie als Ausgangspunkt dienen. Im Unterkapitel „Schrecken und Verheißungen des Satan“13 schreibt Benjamin von der „Daseinsform des Bösen“ im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts. Als „letzte[n] und genaue[n] Seinsgrund“ des Bösen gibt er die Illusion „eines Reiches der absoluten, das ist gottlosen, Geistigkeit“ an. Sie bedinge das „Materialische“ des Bösen, also seine physische und sinnliche Seite, die u. a. als Wollust konkret erfahrbar werde. Zur geistigen Verheißung führt Benjamin daraufhin weiter aus: „Was lockt, ist der Schein der Freiheit – im Ergründen des Verbotnen [sic!]; der Schein der Selbständigkeit – in der Sezession aus der Gemeinschaft der Frommen; der Schein der Unendlichkeit – in dem leeren Abgrund des Bösen.“14 Die Verheißung ist also diejenige einer ultimativen Entgrenzung, ja der Autonomie, die sich mit dem Übertritt in den „satanischen Bereich“15 einstelle. Dass diese Autonomie jedoch im Kontext des 17. Jahrhunderts bloßer „Schein“ ist, erklärt Benjamin sodann mit Verweis auf die theologische Fundierung.16 Denn das Böse, das aus dem Abfall vom Guten resultiert – Benjamin verweist hier auf den Sturz Lucifers –, ist in seiner Abgründigkeit „leer“. Dieses Wissen um das Böse gehe sodann dem ästhetischen Konstrukt des Trauerspiels voran: Das leere

11 Haas, Weidner: Benjamins Trauerspiel, S. 9. 12 Hans-Jürgen Schings: Gryphius, Lohenstein und das Trauerspiel des 17. Jahrhunderts. In: Handbuch des deutschen Dramas. Hg. von Walter Hinck. Mit Beiträgen von Peter Pütz. Düsseldorf 1980, S. 48–60, hier S. 48. 13 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 400–404, hier S. 403–404. 14 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 404. 15 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 404. 16 Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts bilden sich philosophische und ästhetische Modelle heraus, die eine Freiheit im Bösen imaginieren, das Böse in seiner eigenen Qualität und Autonomie betrachten und im Dienste der wissenschaftlichen Erkenntnis und der Kunst positivieren. Vgl. einführend Odo Marquard: Artikel „Malum“ (Einführung und Überblick). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Basel 1971–2007, hier Bd. 5, Sp. 652–656, bes. Sp. 654–655 (aus dieser Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle HWPh unter Angabe des Bandes und der Spaltenzahl zitiert). Zu einer Ästhetik des Bösen seit 1800 siehe Karl Heinz Bohrer: Das Böse – eine ästhetische Kategorie? In: Karl Heinz Bohrer: Nach der Natur. Über Politik und Ästhetik. München, Wien 1988 (Edition Akzente), S. 110–132; Bernd Witte: Sechs Sätze über die Literatur und das Böse. In: Elf Reden über das Böse. Ringvorlesung der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen im Wintersemester 1990/ 91. Hg. von Helmut Siepmann und Kaspar Spinner. Bonn 1992 (Abhandlungen zur Sprache und Literatur 55), S. 91–105; Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen. München 2010.

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1 Einleitung: Figurationen des Bösen im barocken Trauerspiel

Versprechen, das die satanische – oder eher luciferische – Verheißung damit bedeutet, ist im Trauerspiel „[i]n der Gestalt bald des Tyrannen, bald des Intriganten […] immerfort […] wirksam“17 und so bemerkt Benjamin entsprechend an einer früheren Stelle im Trauerspielbuch: „Den ‚gar bösen‘ gilt das Tyrannendrama und die Furcht, den ‚gar guten‘ das Märtyrerdrama und das Mitleid“18. Wie sind diese Ausführungen Benjamins zum Bösen einzuordnen? „Leere“ und „Schein“ deuten auf den defizitären Charakter des Bösen hin, den Aurelius Augustinus in seinem Werk De civitate Dei, auf das Benjamin in diesem Abschnitt verweist, als privatio boni, als Mangel an Gutem, beschreibt.19 Das Böse ist aufgrund seiner Abkehr vom Guten und dem damit einhergehenden Verlust des summum bonum unzureichend. Diese Festlegung auf das Merkmal des Mangelhaften ist auf Plotin zurückzuführen, der in seinen Enneades20 die ontologische These der Privation erstmals systematisiert und dabei gleichermaßen den sinnlichleiblichen Aspekt des Bösen als konkrete Erscheinungsform profiliert.21 Mangel und das „Materialische“, wie Benjamin es nennt, kennzeichnen folglich seit Plotin den Begriff des Bösen. Gerade weil das Böse auch in der Frühen Neuzeit privationistisch gedacht wird,22 ist auf diese Bestimmung des Bösen kurz näher einzugehen. Bei Augustinus verbindet sich Plotins Begriffsbildung zum ontologischen Status des malum 17 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 404. 18 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 249–250. 19 So heißt es u. a. in De civitate Dei: „cum omnino natura nulla sit malum nomenque hoc non sit nisi privationis boni“. Es wird zitiert nach Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). Lateinisch – Deutsch. Hg. und übersetzt von Carl Perl. 2 Bde. Paderborn 1979, lib. XI, cap. 22, Bd. 1, S. 746. 20 Plotin: Enneades. In: Plotin: Schriften. Übersetzt von Richard Harder. Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anm. fortgeführt von Rudolf Beutler und Willy Theiler. 6 Bde. Hamburg 1956–1971, hier Bd. 5a. 21 Zur Einführung sei auf Rudolf Schottlaender: Artikel „Malum“ (Altertum), Sp. 656–665, hier Sp. 664–665. sowie Klaus Riesenhuber: Artikel „Malum“ (Patristik und Mittelalter), Sp. 669–674, hier Sp. 671–673, beide in: HWPh, Bd. 5 verwiesen. Zum „Defizit-Modell“ bei Plotin und Augustinus sei des Weiteren das gleichnamige Kapitel bei Alt: Ästhetik des Bösen, S. 51–63 angeführt, der herausstellt, dass die These vom Bösen als Prinzip des Mangels „für die abendländische Philosophie (und die ihr verpflichtete Literatur) eine besonders prominente Bedeutung“ (ebd., S. 55) besitzt. 22 Vgl. u. a. Alt: Ästhetik des Bösen, S. 60, der als Beispiele u. a. den Malleus Maleficarum (1487) von den Dominikanern Heinrich Kramer und Jakob Sprenger, Jean Bodins De la Démonomanie des socières (1580; Latein 1581 De Magorum Daemonomania; Deutsch 1591 von Johann Fischart Vom ausgelasnen wuetigen Teufelsheer), die anonym veröffentlichte Historia von D. Johann Fausten (1587) und Jakob Böhmes Quaestiones theosophicae (1624) anführt und damit illustriert, dass sich diese Auslegung des Bösen über die Konfessionen hinweg bewahrte. Oliver Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz. Politische

1 Einleitung: Figurationen des Bösen im barocken Trauerspiel

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mit der biblischen Vorstellung des malum morale, wie es sich u. a. in Ungehorsam und Unglauben äußert. Daran knüpft Augustinus das Problem der Willensfreiheit. So ist die Abkehr vom Guten in der Abkehr des Willens vom ewig Guten und damit von Gott begründet. Und diese Art der Willensentscheidung ist den himmlischen und irdischen Geschöpfen überhaupt erst durch das göttliche Zugeständnis des freien Willens möglich. Auch das Böse lässt Gott innerhalb dieses Freiheitsgeschehens zu, die Entscheidung dazu aber bestraft er. Im Sturz Lucifers findet sich dies exemplifiziert.23 Als Engel war Lucifer Teil der göttlichen Schöpfung und hat somit seinen Ursprung im Guten. Durch seinen eigenen Willen also, der sich vom Guten abwendet, wird er böse. Diesen bösen Willen („voluntas mala“24) deutet Augustinus als mangelnde Willensbeherrschung und damit als Indiz der privatio boni, womit nicht zuletzt das Böse selbst wiederum als Mangelzustand zu verstehen sei.25 Die Erläuterungen zum bösen Willen ziehen schließlich Überlegungen zur Motivation nach sich, der sich Augustinus am Beispiel des Sündenfalls, der zweiten Urszene einer Genealogie des Bösen, zuwendet. Den Anfang nehme der böse Wille nämlich im Hochmut, in der superbia, in der sich die Sünde der ersten Menschen und die des einstigen Engels verwandt sind.26 Die superbia wiederum stelle sich ein, wenn der Geist („animus“) sich selbst zu sehr gefalle, sich daher allein auf sich selbst begründen wolle und sich so von seinem Schöpfer und damit seinem Urgrund im ewig Guten abkehre. Die Frage des Unde malum? ist damit nicht restlos geklärt, denn es besteht weiterhin das Problem, wie das Böse sich in einer vollkommenen, nur guten Ordnung – sei es im Himmel oder im Paradies – einstellen kann, ohne dass es vorher schon existiert hätte. Auch wenn die Bestimmung des Bösen als privatio

Theologie in den Trauerspielen des Andreas Gryphius. Berlin 2014 (Frühe Neuzeit 188), bes. S. 282–298, verhandelt im Anschluss an Melanchthon die privatio-These als „Ort und Status des Bösen“ in Gryphius’ lateinischen Epen Herodis Furiae & Rahelis lachrymae (1634), Dei Vindicis Impetus et Herodis Interitus (1635) und Olivetum libri tres (1648). 23 Vgl. Augustinus: De civitate Dei, lib. XI, cap. 17, Bd. 1, S. 738. Dieses Erklärungsmuster ist auch gerade deshalb entscheidend, weil damit gegen den manichäischen Dualismus und die Gnosisphilosophie argumentiert wird, der das Böse als einen unabhängigen und gleichstarken Widerpart zum Guten bestimmt. Das privationistische Modell stellt diese Autonomie des Bösen grundsätzlich in Frage. Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass auch Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 404 bemerkt, dass die „Theologie des Bösen“ dem „Sturze Satans“ zu entnehmen sei. 24 Augustinus: De civitate Dei, lib. XI, cap. 17, Bd. 1, S. 738. 25 Vgl. Augustinus: De civitate Dei, lib. XII, cap. 9, Bd. 1, S. 796: „Cum ergo malae voluntatis efficiens naturalis vel, si dici potest, essentialis nulla sit causa “. 26 Vgl. Augustinus: De civitate Dei, lib. XIV, cap. 13, Bd. 1, S. 950–954, bes. S. 950–951.

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1 Einleitung: Figurationen des Bösen im barocken Trauerspiel

boni daher innere Widersprüche aufweist, so verfügt sie doch, wie bereits weiter oben erwähnt, im 17. Jahrhundert über andauernde Geltung. Martin Luther, „eine zweite wichtige Schnittstelle, die ein allgemeines Nachdenken über das Böse in […] der frühen Neuzeit begleitet“27, denkt davon ausgehend das Böse zweifach, als Schuld und als Strafe, wobei das Böse postlapsarisch in Eigenwillen und Eigengerechtigkeit des Menschen stets zu bekämpfen sei.28 Benjamin scheint dies verstanden zu haben, wenn die Illusion „der absoluten, das ist gottlosen, Geistigkeit“ die hochmütige Selbstbegründung des Geistes aufruft und sie für das barocke Trauerspiel zum „letzte[n] und genaue[n] Seinsgrund“ eines Bösen erklärt, das aufgrund seiner Privation nur „Schein“ und „leer“ ist. Dieses Wissen um das Böse, das Wissen um seine Mangelhaftigkeit und Intentionalität, um superbia und Selbstbegründung, aber auch die daran gekoppelte sinnlich-körperliche Materialität, geht also nach Benjamin der künstlerischen Anstrengung, die das barocke Trauerspiel ist, voraus. Daran anschließend formuliert die vorliegende Arbeit die These, dass das Wissen vom Bösen gerade durch die spezifisch ästhetische Konstruktion eine besondere, ja eigene Struktur entfaltet und so unter den Voraussetzungen frühneuzeitlicher Episteme als eine Vorstufe, wenn nicht sogar als eine frühe Ästhetik des Bösen lesbar wird.29 27 Romy Brüggemann: Die Angst vor dem Bösen: Codierungen des malum in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Narren-, Teufel- und Teufelsbündnerliteratur. Würzburg 2010 (Epistemata 695), S. 17. 28 Die Ausgabe Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). 120 Bde. Weimar, Graz 1883–2009 wird im Folgenden, entsprechend der gängigen Zitierweise, unter der Sigle WA und Angabe der Band, Seiten- und Zeilenzahl vermerkt, hier WA T 3, 595, 5–6. Die Bosheit („malicia“) bezeichnet Luther an anderer Stelle entsprechend als „böse Gefühlsausrichtung des Geistes, durch die der Mensch geneigt ist, das Böse zu tun“, siehe WA 56, 187, 3–5. 29 Auf den Forschungsdiskurs zur Herausbildung einer eigenständigen, ‚modernen‘ Ästhetik des Bösen ab 1800 wurde bereits weiter oben (siehe Fußnote 16) eingegangen. Dem ist hinzuzufügen, dass das 17. Jahrhundert bzw. der Barock auch in Hinblick auf eine so zu nennende Literaturgeschichte des Bösen vor 1800 ausgespart wird. So schließt Brüggemanns Arbeit zum malum in der Narren-, Teufel- und Teufelsbündnerliteratur geradezu nahtlos an Birgit Spreitzer: „Wie bist du vom Himmel gefallen …“ Einschlagstellen des Diabolischen in der Literatur des späteren Mittelalters. Wien 1995 (Fazit 1) an. Des Weiteren sei die Arbeit von Jost Keller: Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben. Die Säkularisierung des Teufels in der Literatur um 1800. Duisburg 2009 (Ess-Kultur 1) genannt, die sich ebenfalls mit den Codierungen des malum beschäftigt. Als Beispiel einer problemorientierten Darstellung einer frühneuzeitlichen Ästhetik des Bösen ist die Studie von Ernst Osterkamp: Lucifer. Stationen eines Motivs. Berlin 1979 (Komparatistische Studien 9), bes. S. 49–85; 87–130 anzuführen, der diese Arbeit wichtige Anstöße verdankt. Das schlesische Trauerspiel wurde jedoch auch hier nur am Rande gestreift, sodass sich die vorliegende Untersuchung einem Desiderat widmet. Zur Verarbeitung von Wissen durch Selektion und neue Kombination in literarischen Texten siehe Wolfgang Iser:

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Das Böse wird dafür auf der Handlungs- und der Darstellungsebene ausgewählter Trauerspiele von Andreas Gryphius (1616–1664) und Daniel Casper von Lohenstein (1635–1683) sowie abschließend Johann Christian Hallmann (1640–1716) auf seine Konzeption und Präsenz hin untersucht, wobei die beiden Fragen leitend sind, wie das Böse 1) inhaltlich bzw. thematisch und 2) strukturell, also in der literarischen Form, gefasst wird. Gryphius und Lohenstein gelten gemeinhin als „Exponenten“30 und „Kernbezirk der deutschen Barockdramatik“31 mit Hallmann als ihrem Epigonen. Sie haben „den wohl bedeutendsten Beitrag zur Geschichte des ‚deutschen‘ Trauerspiels des 17. Jahrhunderts geleistet“32. Während das Attribut ‚barock‘33 eine nachträgliche Zuschreibung ist, handelt es sich bei dem Begriff „Trauerspiel“ um eine Selbstbezeichnung, mit der die betreffenden Dramen durch ihre Autoren ausgewiesen sind. Er ist außerdem auf die Vorstellung vom menschlichen Leben als Trauerspiel zu beziehen, die auf den kreatürlich-postlapsarischen Zustand des Menschen abhebt. Der Idee vom theatrum mundi zufolge, die für die Kultur des Barock umfassend anzusetzen ist, gleicht das Leben einem Schauspiel, das der Mensch vor Gott als dem Autor, Spielleiter und Zuschauer gibt und das von Gott gerecht beurteilt wird.34 Dem Theater kommt die Aufgabe zu,

Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main 1991, S. 24–59; 377–411 sowie Peter-André Alt: Der fragile Leib. Körperbilder in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. In: Peter-André Alt: Von der Schönheit zerbrechender Ordnungen. Körper, Politik und Geschlecht in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Göttingen 2007, S. 31–58, hier S. 33–34, der Isers Ausführungen auf die Literatur der Frühen Neuzeit anwendet. 30 Peter-André Alt: Barock. In: Tragödientheorie. Texte und Kommentare vom Barock bis zur Gegenwart. Hg. von Ulrich Profitlich. Hamburg 1999, S. 25–44, hier S. 26. 31 Schings: Gryphius, Lohenstein und das Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, S. 48. 32 Gerhard Spellerberg: Das Bild des Hofes in den Trauerspielen Gryphius’, Lohensteins und Hallmanns. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Hg. von August Buck, Georg Kauffmann. Bd. 3. Hamburg 1981 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 10), S. 569–578, hier S. 569. 33 Auf das Problem, dass sich der Begriff ‚barock‘/‚Barock‘ nicht auf der „Semantik der geschichtlichen Selbstverständigung der Epoche ableiten läßt“, hat Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 3), S. 2 aufmerksam gemacht. Zur Genese des Barockbegriffs und seine literaturwissenschaftliche Verwendung sei zur Einführung Dirk Niefanger: Barock. Lehrbuch Germanistik. 2., überarbeitete und erweiterte Aufl. Stuttgart 2006, S. 10–11 genannt, der darauf hinweist, dass sich ‚Barock‘ mittlerweile „als Verständigungs- und Arbeitsbegriff für die Literatur des 17. Jahrhunderts“ (ebd., S. 13) etabliert hat. 34 Die Forschungsbeiträge, die sich mit den inneren und äußeren Beziehungen des theatrum mundi beschäftigen, sind Legion, vor allem seit Richard Alewyns Beitrag „Das große Welttheater“ (in: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung.

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dies zu veranschaulichen und es erhält dadurch zugleich seine Legitimation. Entsprechend reflektiert der Schauplatz des barocken Trauerspiels das Welttheater, wie ein Auszug aus Sigmund von Birkens einflussreicher Teutsche[n] Rede-bind und Dicht-Kunst aus dem Jahr 1679 verdeutlicht: „Dann wann / in Schauspielen / die Nachahmung als Gleichnishaftigkeit / die Tugend nicht belohnt / und die Laster nicht gestrafft erscheinen / so ist solches ärgerlich und eine Gotteslästerung / weil es der Göttlichen Regirung zuwider lauffet.“35 In der sittlichen und gerechten Ordnung des Welttheaters, die für das Trauerspiel damit vorausgesetzt ist, schwingt nicht zuletzt Luthers Konzeption des zweifachen Bösen in Schuld und Strafe mit, die für die protestantischen Autoren Gryphius und Lohenstein virulent ist. Die dramatischen Werke der von Schings so genannten „literarische[n] Reihe“36 Gryphius, Lohenstein und Hallmann sind zwischen 1650 und 1673, also in einem Zeitraum von knapp 25 Jahren, in der schlesischen Metropole Breslau entstanden, weshalb dieser dramatische Formtypus auch ‚schlesisches Trauerspiel‘ genannt wird. Gerhard Spellerberg hat dies als „geradezu einzigartige literarhistorische Chance“ begriffen, innerhalb von nur einer einzigen Generation und in der äußersten Konzentration auf nur einen Ort […] die Entwicklung eines dramatischen Formtyps und vor allem einer dramatischen Gattung, des Trauerspiels, verfolgen und zugleich […] die Formulierung grundver-

Hg. von Richard Alewyn, Karl Sälzle. Hamburg 1959 [rde 92], S. 9–70.). Deshalb sei hier nur auf eine Auswahl verwiesen, die sich ebenfalls mit der deutschen Barockdramatik beschäftigt: Wilfried Barner: Barockrhetorik. 2. unveränd. Aufl. Tübingen 2002, bes. S. 86–131; Peter Rusterholz: Theatrum vitae humanae. Funktion und Bedeutungswandel eines poetischen Bildes. Studien zu den Dichtungen von Andreas Gryphius, Christian Hofmann von Hofmannswaldau und Daniel Casper von Lohenstein. Berlin 1970 (Philologische Studien und Quellen 51). Einen komparatistischen Ansatz verfolgt der von Björn Quiring herausgegebene Sammelband „Theatrum Mundi. Die Metapher des Welttheaters von Shakespeare bis Beckett“ (Berlin 2013), aus dem vor allem die Aufsätze von Jane O. Newman (Die Aporie der Allegorie: Das ‚Theatrum Mundi‘ des deutschen Trauerspiels, S. 137–166) und Christopher Wild („They have their exits and their entrances“. Überlegungen zu zwei Grundoperationen im Theatrum Mundi, S. 89–136) für unseren Gegenstand relevant sind. Für einen einführenden ideengeschichtlichen Überblick: Bernhard Greiner: Artikel „Welttheater“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Georg Braungart u. a. 3 Bde. 3. Aufl. Berlin, New York 2010, hier Bd. 3, S. 827–830. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle RLW unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 35 Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst […]. Nachdruck der Ausg. Nürnberg 1679. Hildesheim 1973, Kap. XII, § 226, S. 331. 36 Schings: Gryphius, Lohenstein und das Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, S. 48.

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schiedener Positionen in der so heiß geführten Debatte um das rechte Verhältnis von Ethik und Politik beobachten zu können.37

Diese Chance nimmt auch die vorliegende Studie ganz bewusst wahr, um das Böse auf diesem dramatischen und theatralen Experimentierfeld inhaltlich und strukturell zu erforschen. Als „Hervorbringung des Breslauer Schultheaters“38 entstammen die Texte einer konfessionellen Bühnenkultur, die ihr zeitgenössisches Vorbild im lateinischen Jesuitentheater hatte und damit gleichzeitig, noch dazu als deutschsprachige Dramatik, konkurrierte. Innerhalb des Curriculums der protestantischen Gymnasien war das Schultheater Teil der Rhetorikausbildung für die zukünftigen politischen Eliten, da die ausschließlich männlichen Schüler, nachdem sie ihre akademische Laufbahn abgeschlossen hatten, gemeinhin in den Staatsdienst eintraten. Das Schultheater hatte damit sowohl einen konfessionellen als auch einen politischen Bildungsauftrag. Neben den Schulaufführungen wurden die Stücke bei gleichbleibender Besetzung auch an den Höfen oder in den Privathäusern ansässiger politischer Funktionäre gegeben. Wie sehr die literarische Tradition der barocken Trauerspiele mit dieser Spieltradition verkoppelt war, zeigt sich allein darin, dass auch die dichterische Produktion abreißt, als die „glänzende[]“39 Breslauer Theatertradition 1671 abrupt zum Erliegen kommt. Dies deutet wiederum darauf hin, dass im barocken Trauerspiel sowohl die eigenen poetischen als auch die performativen und theaterpraktischen Möglichkeiten ausgelotet werden, was bei der folgenden Untersuchung des Bösen gerade auf der Darstellungsebene stets mitzudenken ist. Aufgrund der darin dargestellten Staatsaktionen fungiert das Trauerspiel, nach einem vielzitierten Diktum Georg Philipp Harsdörffers, als „Schul der Koenige“40. Als „sprachlich hochartifizielle[] Gebilde[]“41 präsentieren und erörtern diese Texte rigorose religiöse, moraltheologische und -philosophische, aber auch staatstheoretische und rechtliche Konzepte, wobei der Hof als Ort

37 Gerhard Spellerberg: Schlesisches Kunstdrama. Fragen und Probleme der Edition der Dramen Lohensteins und Hallmanns. In: Editio 3 (1989), S. 76–89, hier S. 84–85. 38 Thomas Borgstedt: Andreas Gryphius: „Catharina von Georgien“. Poetische Sakralisierung und Horror des Politischen. In: Dramen vom Barock bis zur Aufklärung. Stuttgart 2000 (RUB 17512), S. 37–66, S. 38. 39 Spellerberg: Schlesisches Kunstdrama, S. 86. Weiterführend zu den Umständen dieses plötzlichen Endes siehe ebenfalls Spellerberg: Das schlesische Barockdrama und das Breslauer Schultheater. In: Die Welt des Daniel Casper von Lohenstein. Hg. von Peter Kleinschmidt, Hanns-Dietrich Schmidt, Gerhard Spellerberg. Köln 1978, S. 58–68. 40 Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Bd. 2. Nürnberg 1648, S. 80. 41 Schings: Gryphius, Lohenstein und das Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, S. 48.

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einer geschichtswirksamen politischen actio zum Schauplatz wird. Das Böse wird unter diesen Prämissen verhandelt, der Teufel jedoch, der das böse Prinzip gerade in seiner schöpfungstheologischen Auslegung verkörpert, wird auf dieser Bühne von den „gar bösen“ Menschen verdrängt. In ihnen ist das Böse und nicht etwa der Böse „wirksam“. Darin manifestiert sich ein Unterschied zum zeitgenössischen neulateinischen Ordensdrama, in dem durchaus Engel und Dämonen die Bühne bevölkern, was wiederum auf die Tradition der Moralitäten, der Jedermann-Stücke und Osterspiele zurückzuführen ist.42 Das protestantische Schultheater hingegen unterscheidet sich in diesem Aspekt deutlich von der jesuitischen Tradition. Die Handlung ist hier den menschlichen Protagonisten vorbehalten, sodass auch das Böse eine andere Gestalt annimmt. Dies zeugt von einer epochentypischen Depotenzierung des Teufels, die – und so lautet eine weitere leitende These dieser Arbeit – mit einer Verinnerlichung, ja Psychologisierung des Bösen einhergeht. Und eine solche Verlagerung des Bösen in die Psychologie bereitet wiederum potentiell einer Ästhetik des Bösen den Boden.43 Diese Verinnerlichungstendenz lässt sich zuerst religionshistorisch herleiten. Der Begriff der Religion durchläuft in der Frühen Neuzeit einen fundamentalen Wandel, indem sich mit der Reformation und den daran anschließenden Reformbewegungen des 17. Jahrhunderts eine zunehmende Internalisierung des Glaubens vollzieht. Dies gilt nicht nur für die Entwicklung individueller Glaubensformen wie einer neuen mystischen, gelebten Frömmigkeit,44 sondern auch für die konfessionelle Orthodoxie, die sich als Teil ihrer Theorie des Glaubens ebenfalls der Entwicklung und Normierung des inneren Menschen gewidmet hat und damit einen Prozess der Subjektivierung und Individualisierung des Glaubens in Gang setzt.45 Dieser Prozess manifestiert sich auch moraltheo-

42 Dass sich das neulateinische Drama an äußerst diversen Quellen bedient hat, sowohl klassisch-lateinischer als auch vernakularsprachlicher Provenienz, zeigen Jan Bloemendal, Howard B. Norland: Neo-Latin Drama. Contexts, Contents, and Currents. In: Neo-Latin Drama and Theater in Early Modern Europe. Hg. von Jan Bloemendal, Howard Norland. Leiden 2013 (Drama and Theatre in Early Modern Europe 3), S. 1–24, hier S. 7. 43 Vgl. Alt: Ästhetik des Bösen, S. 12. 44 Zur Vermittlung der Frömmigkeit eines erlebten, verinnerlichten Glaubens durch die Erbauungsliteratur, siehe Volkhard Wels: Manifestationen des Geistes. Frömmigkeit, Spiritualismus und Dichtung in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2014 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 17), S. 56. 45 Johann Anselm Steiger: Seelsorge, Dogmatik und Mystik bei Johann Gerhard. Ein Beitrag zu Theologie und Frömmigkeit der lutherischen Orthodoxie. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 106 (1995), S. 329–344, hier S. 336 fasst diesbezüglich zusammen: „Mit der Verinnerlichung von Theologie und Frömmigkeit geht auch eine gewisse religiöse Individualisierung

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logisch und wird über die Instanz des Gewissens vermittelt, das durch einen inneren Richter zu einer inneren Verrechtlichung geschult werden soll.46 Dies ist vice-versa auch auf den Komplex des Bösen bezogen zu beobachten, da die Illusion einer strikt äußeren Macht des Bösen, gebündelt und gebannt im Teufel, mit dieser zunehmenden Reflexion der menschlichen Innerlichkeit nicht mehr zu vereinbaren ist. Anstelle eines außermenschlichen Dämonischen wird eine im Menschen verborgene Bösartigkeit profiliert. Dies ist ebenso in einer „aus der Konventionalität der Darstellungsformen geborenen Harmlosigkeit“47 des Teufels begründet, die die zunehmend komplexen innerweltlichen Verhältnisse zu simplifizieren scheint. Vor dem Hintergrund dieser ideengeschichtlichen Entwicklung verschwinden Teufel und Dämonen als Figuren des Bösen auch von der Bühne. So hatte wiederum Birken in seiner Poetik gar explizit davor gewarnt, „Teufel und deren Qwalgenossen“48 nunmehr in der dramatischen Dichtung und auf dem theatralen Schauplatz auftreten zu lassen. Die „Figurationen des Teufels“49 (des malus) sind also abgeschrieben und die Figurationen des Bösen (im Sinne von malum) treten an ihre Stelle – doch in welcher Form? Eine erste Antwort dafür hatte bereits Benjamin geliefert, der das Böse als wirkendes Prinzip in der Gestalt des Tyrannen und des Intriganten erkannte. An dieser Beobachtung orientiert sich die vorliegende Studie und verortet die Einschlagstellen des Bösen damit zuerst auf der Figurenebene. Im theatrum mundi, das die Trauerspiele präsentieren, sind jeweils einzelne Figuren – ob Herrscher oder Untertan, Mann oder Frau – Träger bzw. Agenten des Bösen. Dabei ist jedoch entscheidend – und das ist die Prämisse für die folgende Auseinandersetzung mit den dramatischen Texten –, dass diesen Figuren ihr Wille zum Bösen nicht von einer externen Macht, also dem Teufel und seinen Dämonen, eingeflüstert wird, sondern dass ihr böses Handeln einer komplexen (und als solche komplex verhandelten) inneren, psychischen Gemengelage entspringt. Ebendiese ablaufende Internalisierung des Bösen wird dichterisch und theatralisch verarbeitet. Deshalb werden Figurationen des Bösen hier nicht nur als dramatis persoeinher.“ Steiger ergänzt ebenda, dass davon nicht nur das deutsche Luthertum, sondern auch andere Konfessionskulturen in Europa erfasst wurden wie der englische Puritanismus, die niederländische nadere reformatie sowie im katholischen Lager der französische Jansenismus und der spanische und französische Quietismus als „mehr oder weniger verwandte Tendenzen“. 46 Franz Fromholzer: Gefangen im Gewissen. Evidenz und Polyphonie der Gewissensentscheidung auf dem deutschsprachigen Theater der Frühen Neuzeit. Paderborn 2013 (Ethik – Text – Kultur 8), S. 21 konstatiert dies vor allem für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts. 47 Osterkamp: Lucifer, S. 78. 48 Birken: Dicht-Kunst, Kap. XII, § 225, S. 330. 49 Alt: Ästhetik des Bösen, S. 79.

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nae, also als negative Figuren mit bösem Verhalten, verstanden, sondern auch als Formen einer Darstellung des Bösen. Der Figurationsbegriff bietet sich gerade deshalb für diese Erwägungen an, weil er sowohl Figuren als auch Konstellationen einschließt. Norbert Elias versteht die Figuration als ein „sich wandelndes Muster“50, das von verschiedenen Menschen gebildet wird. Nun sind die Trauerspiele von Menschen für Menschen geschrieben, weshalb sich hier bereits vom Trauerspiel als Figuration sprechen ließe. Gleichzeitig wird auch in diesen dramatischen Texten ein sich wandelndes Muster präsentiert, das von verschiedenen Figuren, also dramatis personae, gebildet wird. In dieserart „Spannungsgefüge“ der Figuration gibt es Elias zufolge sodann ein „Hin und Her einer Machtbalance, die sich bald mehr der einen, bald mehr der anderen Seite zuneigt“51. Und entlang dieser Spannungen und Fluktuationen im Gefüge der Macht lassen sich auch die Figurationen des Bösen im barocken Trauerspiel beobachten. An der Schnittstelle von Inhalt und Darstellung befindet sich so z. B. die atrocitas als poetisches Gesetz, dem das Trauerspiel des 17. Jahrhunderts als „Theater der Grausamkeit“52 unterstellt ist. Allgemein ist zu bemerken, dass die Romanund Dramendichtungen im zweiten Drittel des 17. Jahrhundert Grausamkeiten offen thematisieren, die zuvor der Norm von Mäßigung und Anstand entsprechend verpönt waren. Achim Aurnhammer und Nicolas Detering nähern sich diesem Umstand sozialhistorisch an und vermuten, dass die „Radikalisierung mit den Leidenserfahrungen des Dreißigjährigen Krieges zusammen[hängt]“53, da dieser „[d]ie für Deutschland folgenreichste Konfliktkette [war], in dessen Folge rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung in Schlachten und Plünderungen, dann vor allem durch Hungersnöte und Seuchen starb.“54 Die Kriegsschrecken erschütterten die Zeitgenossen zutiefst und prägten die deutsche Literatur ganz entscheidend. So seien auch die Vorstellung von der Welt als Jammertal und vom Leben als Bewährungsprobe sowie die Erwartung des ewigen Lebens im Jenseits u. a. auf den dauernden Kriegszustand zurückzuführen.55 Von den hier

50 Norbert Elias: Was ist Soziologie? In: Elias: Gesammelte Schriften. Hg. im Auftrag der Norbert Elias Stichting Amsterdam von Reinhard Blomert u. a. Bd. 5, bearbeitet von Annette Treibel. Frankfurt am Main 2006, S. 173. 51 Elias: Was ist Soziologie?, S. 173. 52 Hans-Jürgen Schings: Consolatio Tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels. In: Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. Hg. von Reinhold Grimm. Bd. 1. Wiesbaden 1971, S. 1–44, hier S. 28, führt neben der atrocitas außerdem gravitas und dignitas als solche Gesetze an. 53 Achim Aurnhammer, Nicolas Detering: Deutsche Literatur der Frühen Neuzeit. Humanismus, Barock, Frühaufklärung. Tübingen 2019, S. 181. 54 Ebd., S. 142. 55 Ebd.

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im Folgenden untersuchten Trauerspielen lässt sich diese spezifische Prägung vor allem an den von Gryphius verfassten Texten beobachten.56 So rechtfertigt der Autor in den ersten Zeilen der Vorrede zu seinem ersten Trauerspiel Leo Armenius sein dramatisches Werk ausdrücklich mit dem Krieg: „Jndem unser gantzes Vaterland sich nuhmehr in seine eigene Aschen verscharret / und in einen Schauplatz der Eitelkeit verwandelt; bin ich geflissen dir die Vergaengligkeit Menschlicher Sachen in gegenwertigem / und etlich folgenden Trauerspilen vorzustellen.“57 Damit macht er die vanitas-Didaxe in den von Leid und Grauen bestimmten Zeiten des Dreißigjährigen Krieges zur Voraussetzung seiner eigenen dramatischen Dichtung. Vanitas und atrocitas sind somit in Gryphius’ Schaffen miteinander verquickt und werden zu einem Ausdruck jener „Trauer und Ostentation“, der für Benjamin die „Sprachbildungen des Barock“ bestimmt.58 Die atrocitas markiert im barocken Trauerspiel Gryphius’ sowie Lohensteins und auch Hallmanns den Punkt, an dem die maiestas zur Tyrannei entarten kann – ebendann, wenn die fürstliche Gewalt (potestas) in nicht legitimierte und nicht legitimierbare violentia umschlägt – und an dem sich folglich das Böse im menschlichen Handeln manifestiert.59 Da Schings zufolge „tragisch“ mit Blick

56 Auch wenn Gryphius nie unmittelbar an den Schlachten beteiligt war, waren Not und Schrecken des Dreißigjährigen Krieges nicht nur in seiner Kindheit und Jugend eine Konstante der eigenen Erfahrungs- und Lebenswelt, sodass er als einer der „Kronzeugen“ (Michael Kaiser: Dreißigjähriger Krieg. In: Gryphius-Handbuch, S. 34–44, hier S. 34) für diese Phase der deutschen Geschichte gelten kann. Da Habsburg in Schlesien mit Gewalt gegenreformatorische Maßnahmen implementierte, hatte die Bevölkerung ganz besonders unter dem Dreißigjährigen Krieg zu leiden. Siehe hierzu weiterführend Arno Herzig: Konfessionalisierung in Schlesien. In: Gryphius-Handbuch, S. 45–52; Arno Herzig: Schlesiens Sonderrolle im Reich. In: Gryphius-Handbuch, S. 53–58. 57 Es wird zitiert aus Andreas Gryphius: Leo Armenius. In: Andreas Gryphius: Dramen. Hg. von Eberhard Mannack. Frankfurt am Main 1991, S. 9–116. Der Leo Armenius wird mit der Sigle LA gekennzeichnet. Die Vorrede wird in den Fußnoten mit der Sigle, der Seitenzahl und der Zeilenangabe vermerkt, hier LA, S. 11, Z. 2–6 (Vorrede). Zu Gryphius’ Leseradresse im Leo Armenius siehe auch Achim Aurnhammer: Ein Hausspruch als poetische Devise. Zum Nachleben von Ariosts Hausinschrift bei Gryphius, Goethe, Nietzsche und George. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 39 (1989), S. 90–99. 58 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 319. 59 Zum Unterschied von potestas und violentia führt Michaela Hohkamp: Im Gestrüpp der Kategorien. Zum Gebrauch von „Geschlecht“ in der Frühen Neuzeit. In: Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit. 2 (2002) 2, S. 6–17, hier S. 14 weiter aus, dieser bestehe „nicht etwa darin, dass potestas sich gewaltlos vollzog, während violentia und gewalttätiges Handeln synonym zu verstehen sind. Potestas und violentia lassen sich vielmehr deshalb unterscheiden, weil potestas gewalttätiges Handeln legitimiert und violentia nicht. Gewaltsames Handeln war also nicht per se unrechtmäßig. Allein gesellschaftliche Institutionen entschieden darüber, ob eine Gewalthandlung als rechtmäßig oder unrechtmäßig anzusehen war: Wer begangene Ge-

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auf das barocke Trauerspiel nichts anderes bedeute als „schrecklich, erschütternd, atrox“60, rücken durch die atrocitas zentrale Fragen nach der literarischen Konstruktion des barocken Trauerspiels in den Fokus. Dies ist ebenfalls auf inhaltlicher Ebene für die im Folgenden zu eruierende dominante Kombination des Politischen und Bösen relevant, wenn es zum Beispiel um die Inszenierung von physischer und psychischer Gewalt im Grenzbereich von potestas und violentia geht, um rechtliche, gesellschaftliche, sittliche und körperliche Grenzüberschreitungen oder auch um die eskalative Logik der violentia, die als atrocitas ihren Ausdruck findet. Dies wiederum wird, wie die Studie zeigt, in der literarischen Konstruktion durch die Grundfiguren der Transgression und der Verkehrung, der Gradation und Wucherung, der Wiederholung und des Exzesses mit den Mitteln der Dichtung zur Darstellung gebracht.61 Davon leitet sich die für die vorliegende Studie ebenfalls zentrale These ab, dass durch diese Darstellungen des Bösen schließlich auf die eigene Machart und die Möglichkeiten der Dichtung selbst Bezug genommen wird. Auf der Grundlage dieser Vorüberlegungen hat sich eine Textauswahl angeboten, in der Dramen von Gryphius und Lohenstein gleichberechtigt vertreten sind. So wie die tragische Dichtung beider Autoren einen jeweils eigenen (Werk-) Komplex bildet,62 stellt jeder einzelne dieser Texte eine spezifische Realisation

walttätigkeiten als legitime Handlung rechtfertigen konnte, hatte also zugleich sein Anrecht auf Partizipation an Gewalt, an politischer Herrschaft formuliert und durchgesetzt.“ Ist diese Legitimierung nicht gegeben, handelt es sich bei der politischen Herrschaft um Tyrannei. 60 Schings: Consolatio Tragoediae, S. 28. 61 Alt: Ästhetik des Bösen, S. 26, der in seiner Untersuchung bereits solche „Grundfiguren“ angesetzt hatte und mit denen sich die hier angeführten überschneiden, bemerkt in einer Vorarbeit zu jener Untersuchung: „Auch die Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit kennt bereits die intrikaten Verlockungen des Bösen; schon der philosophische Diskurs des 17. Jahrhunderts illuminiert Formationen einer bösen Trieblust, die sich permanent selbst fortzeugt und gerade in ihren wuchernden Energien dämonisch wirkt.“ (Peter-André Alt: Wiederholung, Paradoxie, Transgression. Versuch über die literarische Imagination des Bösen und ihr Verhältnis zur ästhetischen Erfahrung [de Sade, Goethe, Poe]. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 79 [2005], S. 531–567, hier S. 534). 62 Dass allein zwischen Gryphius und Lohenstein anerkanntermaßen ein „Funktionswandel“ von consolatio zu prudentia stattfindet, wurde dargelegt von Hans-Jürgen Schings: Constantia und Prudentia. Zum Funktionswandel des barocken Trauerspiels. In: Studien zum Werk Daniel Caspers von Lohenstein. Hg. von Gerald Gillespie. Amsterdam 1983 (Daphnis 12,2/3), S. 187–223. Auch Spellerberg: Das Bild des Hofes, S. 569 bemerkt: „Trotz dieser großen zeitlichen Nähe zueinander, trotz der sehr festen Fügung gerade dieses Gattungsbereiches und trotz der relativ hohen Homogenität in den Zielen und Möglichkeiten der auf Breslau konzentrierten szenischen Repräsentation, die für die Textkonstitution vielfach mit bestimmend war, bieten sich die Trauerspiele der drei Schlesier als je voneinander deutlich abgesetzte Komplexe dar.“

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des barocken Trauerspiels dar und wird in dieser Studie als künstlerische Anstrengung profiliert. Das erste in den folgenden Kapiteln behandelte Trauerspiel, Gryphius’ Leo Armenius Oder Fürsten-Mord, und das letzte, Lohensteins Ibrahim Sultan, koinzidieren in ihrer Veröffentlichung mit den Daten, die die Blütezeit sowohl der Dichtungs- als auch der Theaterproduktion des schlesischen Trauerspiels und des Breslauer Schultheaters eingrenzen: Der Leo Armenius wurde erstmals, wenn auch ohne Gryphius’ Autorisierung, 1650 veröffentlicht und der Ibrahim Sultan 1673. Sie stecken somit auch für die Untersuchung den Rahmen ab, in dem die Manifestationen und Artikulationen des Bösen betrachtet werden. Der Leo Armenius (Kapitel 2) trägt mit dem Fürstenmord die böse Tat bereits im Titel. Das Trauerspiel zeigt den byzantinischen Staat unter dem grausamen Gesetz der Usurpation. Der Widersacher des Kaisers folgt mit seinen Komplizen allein der ‚luciferischen‘ Verheißung. Das crimen laesae maiestatis wird hier, effektiv unter Einbezug vorrangig jesuitischer Text- und Theatertraditionen, im crimen laesae maiestatis divinae der Schwarzkunst gespiegelt. Beiden Verbrechen liegt dabei, wie die Analyse erarbeiten wird, die maledictio als Lästerung bzw. böses Sprechen zugrunde. Der Fürstenmord zur Heiligen Nacht in der Palastkirche wird schließlich zum allumfassenden Sakrileg gesteigert. Böses Sagen wird in die böse Tat umgesetzt. Die Vermaledeiung kulminiert in der Entweihung, wobei das Böse in der atrocitas des Fürstenmordes zur Darstellung kommt. In Catharina von Georgien (Kapitel 3) verarbeitet Gryphius die Ereignisse um den grausamen Tod der christlichen Königin in der Gefangenschaft des persichen Schahs. Auf dem Höhepunkt des Trauerspiels kommt das Böse als Malträtieren von Catharinas Leib in der Marter zur Anschauung. Darin manifestiert sich das erratische Begehren des Chachs, also die nach Benjamin „materialische“ Seite des Bösen. Im gesamten Text fungiert die Hölle als Leitmotiv, mit dem das Böse im Text, im Welttheater, aber auch in Chach Abas verortet wird. Die Hölle findet sich so zum Topos einer Psychologisierung des Bösen und seiner Strafen entwickelt. Gryphius’ letztes Trauerspiel, die überarbeitete Fassung des Carolus Stuardus (Kapitel 4) aus dem Jahr 1663, bietet eine extensive Verschränkung von Thema und Darstellung: Inhaltlich wird die Zerschlagung der göttlich gebotenen politischen und rechtlichen Ordnung der Majestät im Zuge der englischen Revolution verhandelt. Die Kappung der dialogisch-dramatischen Handlung reflektiert dies auf formaler Ebene. Inbegriff dieser Dekompositionen wird schließlich die decapitatio des Königs, die als widergöttliche Tat sowohl Werk als auch Ausdruck des Bösen ist. In Lohensteins Agrippina (Kapitel 5) formuliert sich das Böse als eine Genealogie aus Schuld und Verbrechen, die sich auf dem Schauplatz des Geschichtsdramas perpetuieren und übertreffen. Die lasterhafte Aberration, die im Kaiser

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Nero ihre Krönung findet, pflanzt sich in der Form eines circulus vitiosus auf dem Schauplatz des römischen Hofs immer weiter fort. Der Inzest zwischen Nero und seiner Mutter Agrippina in der Mitte des Dramas ist geradezu der Inbegriff dieser widernatürlichen Kreisbewegung. Die Blutschande bringt schließlich den Muttermord hervor, durch den sich diese pervertierte Schöpfung im Zirkelschluss selbst zu verschlingen verspricht. Lohensteins historische Dichtung vom Bösen schreibt sich dabei selbst eine entscheidende Rolle zu, da sie das unvergessliche Böse, das Nero mit dem Matrizid verübt hat, der ewigen Verdammnis zuführt. Und diese Verdammnis wiederholt sich performativ mit jeder Aufführung bzw. Lektüre des Trauerspiels im virtuellen Geschichtsraum des barocken Theaters. Im Ibrahim Sultan (Kapitel 6) wird der Schau-Aspekt des Bösen verhandelt. Das Drama stellt einen Staat im Verfall vor, in dem die luxuria und die Tyrannei des Sultans als Schauseite des Bösen ausgestellt werden. Das Zentrum des Texts bildet die Notzucht des Mädchens Ambre, der Tochter des Mufti. Das Verbrechen kulminiert in der öffentlichen Zur-Schau-Stellung der Vergewaltigten in Form eines sadistischen Spektakels. Durch die Darstellung des Bösen reflektiert der Text schließlich seinen eigenen Status als Schauspiel: Der Ibrahim Sultan ist ein Schauspiel des Bösen und vice versa wird das Böse selbst hier zum Schauspiel. Vor diesem Spektrum der Figurationen des Bösen bei Gryphius und Lohenstein wird sich abschließend in einem Ausblick Hallmanns Sophia (Kapitel 7) zugewendet. Denn in diesem Trauerspiel holt der Dichter, entgegen den zeitgenössischen poetischen Konventionen, den Teufel noch einmal auf die Bühne – jedoch in für immer veränderter Gestalt.

2 Ambivalenz als Spielraum des Bösen: Gryphius’ Leo Armenius oder Fürsten-Mord (1650) Der 1646 abgeschlossene Leo Armenius Oder Fürsten-Mord ist Andreas Gryphius’ erstes Trauerspiel.1 Das dramatische Geschehen ist schnell zusammengefasst: Es handelt davon, wie der byzantinische Kaiser Leo V. durch eine Verschwörung, angeführt von seinem ehemaligen Weggefährten und Heerführer Michael Balbus, gestürzt und in der Heiligen Nacht des Jahres 820 in der Palastkirche gemeuchelt wird. Das „Oder“, das den Titel zweiteilt, bedeutet „als Beispiel“ für einen Fürstenmord. Dieser letztere Teil des Doppeltitels, der Fürstenmord, liefert nicht nur eine Auskunft oder Zusammenfassung über das im Trauerspiel Dargestellte, sondern enthält bereits seine Deutung auf höherer Ebene. Denn das Verbrechen des Fürstenmordes bedeutet bei Gryphius nichts weniger als den gewaltsamen Angriff auf die gottgewollte Ordnung, die durch die fürstliche repräsentiert wird. Das historische Material dient dazu, dies zu exemplifizieren. Auch das exemplum bedeutet deshalb zweierlei. Es bezieht sich sowohl auf das historische Beispiel als Einzelfall mit didaktischem Wert als auch auf das metaphysische Bedeutungspotential dieses Beispiels, das noch über die eigene Historizität hinausweist. Es ersteht hier also „eine im Zeigen und Deuten gedoppelte Welt“2, die sich im Drama im gedoppelten Verhältnis von Abhandlung und Reyen, von his-

1 Das Trauerspiel erschien erstmals 1650 in einer nachträglich von Gryphius deautorisierten Ausgabe in Frankfurt, die 1652 im Nachdruck publiziert wurde. Die von Gryphius eigenhändig besorgte Edition liegt in der Sammelausgabe von 1657 vor. Vgl. dazu den von Mannack bestellten Kommentar zum Leo Armenius, in Gryphius: Dramen, S. 881–920, hier S. 882. Im Folgenden wird auf den Kommentar unter der verkürzten Angabe Mannack: Kommentar Leo Armenius und der Seitenangabe verwiesen. Aus dieser Ausgabe werden Abhandlungen und Reyen mit der Sigle LA inkl. Akt- und Verszahl im Text zitiert. Wie die Vorrede werden auch Inhalt und Bühnenanweisungen in den Fußnoten mit der Sigle, der Seitenzahl und ggf. der Zeilenangabe vermerkt. Gryphius’ Anmerkungen werden ebenfalls in den Fußnoten zitiert, als „[Sigle] Anm. Gryphius“ mit Angabe der Seiten- und Verszahl. 2 Schings: Gryphius, Lohenstein und das Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, S. 59. Christopher Wild: „Weder worte noch rutten“. Hypotypose. Zur Evidenz korporealer Inskription bei Andreas Gryphius. In: Stigmata. Poetiken der Körperinschrift. Hg. von Bettine Menke, Barbara Vinken. München 2004, S. 215–239, hier bes. 215 bearbeitet die Exemplarität, wiederum mit Blick auf Gryphius’ Catharina von Georgien, als epistemologische und rhetorische Figuration, die „gleichbedeutend mit theatralischer Darstellung als solcher“ sei und bezeichnet dies als Ausdruck einer „Kultur des Exemplarischen“ (ebd., S. 216). https://doi.org/10.1515/9783110726022-002

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torischem exemplum und seiner moralischen und metaphysischen Auslegung veranschaulicht findet. Vor diesem systematischen Entwurf, den das Trauerspiel zur Sicherung von Deutung anbietet, scheint im Chaos der Weltgeschichte das Versprechen der Heilsgeschichte auf. Darin macht sich ein Ordnungsdenken bemerkbar, das über das Mittelalter noch bis in die Patristik zurückreicht.3 Der Fürst ist in diesem Arrangement Vertreter der gottgewollten Ordnung auf Erden und zugleich einzig dieser Ordnung unterstellt.4 Bei Gryphius ist der Souverän deshalb dem menschlichen Zugriff enthoben und in seiner irdischen Macht unantastbar. Das Skandalon des Bösen besteht im Leo Armenius also darin, dass der Fürst aus dieser herausragenden Position durch seinen Widersacher in den Tod gestürzt wird und dieser sich anschließend selbst zum Kaiser erhebt. Und das wiederum gelingt dem Widersacher nur – und dies ist die leitende These des folgenden Kapitels – indem er sich der Ambivalenz menschlicher Sprache und Handlung bemächtigt und damit den ambigen Zwischenraum zwischen Zeigen und Deuten für seine maliziösen Zwecke ausschöpft. Im ersten Teil der Analyse (Kapitel 2.1 und 2.2) werden vor diesem Hintergrund die moraltheologischen sowie rechtlichen Voraussetzungen dieses Verbrechens gegen die souveräne und göttliche Ordnung beleuchtet. So wird gezeigt, dass das crimen laesae maiestatis, aus dem der Fürstenmord hervorgehen wird, einerseits in der superbia und andererseits in der invidia des Insurgenten Michael Balbus begründet ist. Aufgrund dieses lästerlichen inneren Antriebs übt Michael Balbus Hochverrat. Er verrät sich damit jedoch gleichzeitig selbst und wird daraufhin in Gewahrsam genommen. Der Verrat als Majestätsverletzung basiert auf der maledictio („Böses sagen“), wodurch der Konnex von Lastern und Lästern zum Ausdruck kommt. Wenn Michael anschließend in einer Gerichtsverhandlung zur gerechten Feuerstrafe verurteilt wird, könnte das Drama des Insurgenten hier vorüber sein, jedoch schöpft Michael in letzter Minute erfolgreich aus den Möglichkeiten der Ambivalenz: Indem er die höfische Kunst der Verstellung 3 Vgl. Schings: Gryphius, Lohenstein und das Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, S. 59. 4 Mit Spellerberg: Bild des Hofes, S. 571 ist zusammenzufassen: „Die Fürsten als Quelle allen positiven Rechts, als irdische Götter, als Statthalter des Prinzen aller Prinzen sind und bleiben unabdingbar gebunden an die durch Gott und sein Wollen gesetzten Normen; jegliche Ausübung ihres göttlichen Herrschaftsauftrages findet schlechthin und ohne Einschränkung an diesen ihre Grenze.“ Vor diesem Hintergrund einer politischen Theologie ist mit Blick auf die Dynamik des Trauerspiels mit Albrecht Schöne: Postfigurale Gestaltung. Andreas Gryphius. In: Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. 2. Aufl. Göttingen 1968 (Palestra 226), S. 37–91, hier S. 51 zu ergänzen: „[S]ein [des Fürsten] Sturz ist beispielhaft, weil er vom Gipfel des Daseins erfolgt, weil er tiefer führt und darum schrecklicher, erschütternder ist als der jedes anderen.“

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sowie die Redekunst operationalisiert, gelingt es ihm, einen Aufschub seiner Strafe zu erwirken (Kapitel 2.3). Daraus wiederum eröffnet sich für Michael ein Spielraum, aus dem heraus er das Geschehen zu seinen Gunsten wendet, da er seine Komplizen durch eine geheime Botschaft zum tödlichen Überfall auf Leo in der Palastkirche mobilisiert. Mit der Beherrschung des Doppelsinns erringt Michael schrittweise die politische Herrschaft, wodurch die Majestätsverletzung schließlich im Fürstenmord kulminieren wird. Während das Trauerspiel, Albrecht Schönes vielzitierten emblematischen Doppelstruktur zufolge,5 darum bemüht ist, Deutung abzusichern, problematisiert Gryphius, wie im Weiteren gezeigt wird, auf inhaltlicher Ebene genau dies: Der Kampf um die Hoheit wird hier zum Kampf um die Deutungshoheit. Derjenige ist bzw. wird Kaiser, der als letzter diese Deutungshoheit für sich beanspruchen kann. Um das Potential des Doppelsinns im Ringen um die Macht auszuloten, werden in Gryphius’ Trauerspiel ambivalentes Sprechen und Handeln in den Fokus gerückt. Dabei geht es jedoch weniger um die Unzuverlässigkeit der Zeichen als um die Unzuverlässigkeit des Menschen. Denn die Ambivalenz der Sprache ist in der „pessimistische[n] Anthropologie“6 des Barock ein Problem des Sündenfalls: Sie wird als solches zum Teil der postlapsarischen conditio humana und zeugt von der Hinfälligkeit des Menschen.7 Derjenige aber, der den 5 Zur Relevanz des emblematischen Denkens und Deutens in der Frühen Neuzeit sowie zur dreigliedrigen Struktur des Emblems, das sich aus den Elementen inscriptio, pictura und subscriptio zusammensetzt, siehe Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. 2., überarbeitete und ergänzte Aufl. München 1968. S. 21–29. Der dreiteiligen Bauform ist dabei die bereits weiter oben erwähnte Doppelfunktion aus Abbilden und Auslegen, aus Darstellen und Deuten eingeschrieben, die im jeweiligen Zusammenspiel der drei Elemente variieren kann. 6 Thomas Borgstedt: Scharfsinnige Figuration. Zur Semantik des Herrscherlobs bei Lohenstein. In: Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik. Hg. von Volker Bohn. Frankfurt am Main 1988 (Poetik 2), S. 207–235, hier S. 206. 7 So hatte sich die Schlange im Paradies der Ambivalenz bedient, um zum Bösen zu reizen: Als Eva ihr das Verbot Gottes wiederholt – „Esset nicht da von [von dem Baum in der Mitte des Gartens] / rürets auch nicht an / Das jr nicht sterbet.“ (1 Mose 3,3) –, erwidert die Schlange: „Jr werdet mit nicht des tods sterben“ (1 Mose 3,4) Diese Aussage ist in ihrem Gehalt ambivalent, sie ist wahr und falsch zugleich, „denn er [der Hinweis] lässt sich sowohl auf das unmittelbare Ereignis beziehen (dann wäre er zutreffend) als auch auf die Zukunft übertragen (dann wäre er falsch)“ (Alt: Ästhetik des Bösen, S. 47). Diese Ungenauigkeit der Aussage verleitet schließlich zur Verletzung des göttlichen Gebots. Sprachphilosophische Überlegungen, die religiös begründet sind, sind für die Betrachtung der ‚allzu menschlichen‘ Ambivalenzen im 17. Jahrhundert selbstverständlich nicht unerheblich. Hinsichtlich der Aktualität dieses sprachphilosophischen und theologischen Diskurses um diese sprachliche Ambivalenz sei verwiesen auf Claudia Brinker-von der Heyde: Freundschafft und grimmer Haß Oder: Die Macht des Wortes im „Leo Armenius“ von Andreas Gryphius. In: Ars et amicitia. Beiträge zum Thema Freund-

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Doppelsinn für seine unlauteren Zwecke missbraucht, ist für Gryphius ein „falscher, böser Mensch“8. Nicht etwa „[d]ie Sprache ist der Täter“9, wie es etwa in der neueren Forschung zum Leo Armenius heißt, sondern sie wird stattdessen zum Instrument dieses bösen Menschen und seiner bösen Tat. Denn es ist der Mensch, der durch die Sprache seine widrige Agenda ins Werk setzt. Zwischen Zeigen und Deuten, d. h. in der Diskrepanz zwischen Gesagtem und Gemeintem sowie in derjenigen zwischen Sein und Schein und deren Interpretationen eröffnet sich ebenjener rhetorische und theatrale Spielraum, in dem der Einfall des Bösen – sowohl seine inventio als auch sein Einbruch (in die Palastkirche und damit stellvertretend in die geordnete Welt) – möglich wird. Die Teufelsbeschwörung zu Beginn der vierten Abhandlung liefert gleichsam eine Engführung dieser Aspekte (Kapitel 2.4). Um das Gelingen des Fürstensturzes auch durch das Dämonische zu garantieren, konsultieren Michaels Komplizen ihrerseits einen Schwarzkünstler und durch ihn einen Höllischen Geist. Die Transgression als Grundfigur des Bösen wird hier performativ an der Schwelle zur Wohnstatt des Zauberers ausagiert (Kapitel 2.4.1). Durch den Übertritt in den Raum der magia daemoniaca werden die Verschwörer zu Beschwörern und das crimen laesae maiestatis wird zum crimen laesae maiestatis

schaft in Geschichte, Kunst und Literatur. Festschrift für Martin Bircher zum 60. Geburtstag am 3. Juni. Hg. von Ferdinand van Ingen, Christian Juraek. Amsterdam 1998 (Chloe 28), S. 253–269 sowie Claudia Benthien: Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert. München 2006, S. 267, die dazu ausführt: „An die Arbitrarität der Zeichen gebunden zu sein, wird zur conditio humana und kennzeichnet den gefallenen Menschen. Gryphius’ Menschenbild betont diese Mangelhaftigkeit, Schwäche und Inkompetenz ganz besonders. Seine ‚negative Anthropologie‘ bestimmt die nachbabylonische Sprachenvielfalt der Menschen als Teil ihres Sündenfalls.“ Zu dieser Entwicklung, die sich angesichts der Reformation und der daraus entstehenden Glaubenskriege entwickelt, bemerkt Borgstedt: Scharfsinnige Figuration, S. 206: „Die Konjunktur der Rhetorik reflektiert den Verlust der Einen Wahrheit. Der Bezug der Sprache auf die Welt erscheint nicht mehr eindeutig, er wird zum rhetorischen Problem der Angemessenheit des Ausdrucks.“ 8 So in Gryphius’ Sonett An einen falschen Zwey-zuengler. In: Sonette. Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. von Marian Szyrocki. 8 Bde. Tübingen 1963, hier Bd. 1, S. 21, V. 1. 9 Brinker-von der Heyde: Freundschafft und grimmer Haß, S. 301. Die gängige Auffassung vom Leo Armenius als „Drama von der Ambivalenz der menschlichen Schrift bzw. Rede“ (so stellvertretend Heinz Drügh: „Was mag wol klärer seyn?“ Zur Ambivalenz des Allegorischen in Andreas Gryphius’ Trauerspiel „Leo Armenius“. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hg. von Hartmut Laufhütte. Unter Mitwirkung von Barbara Becker-Cantarino. Bd. 2. Wiesbaden 2000 [Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 35], S. 1019–1031, hier S. 1023, der sich darin auf Wilfried Barner: Gryphius und die Macht der Rede. Zum ersten Reyen des Trauerspiels „Leo Armenius“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 42 [1968], S. 325–358 beruft) verschiebt sich in der vorliegenden Analyse also hin zum Menschen, der diese Ambivalenz ausnutzt und dadurch erst die böse Tat verübt.

2.1 Michael Balbus I: superbia und die Lästerung der Majestät

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divinae gesteigert. Beiden Verbrechen liegt dabei das maledicere – lästern bzw. Böses sagen – zugrunde. Die Beschwörung wird zu einem sinisteren Spektakel, das wie keine andere Szene im Leo Armenius die Möglichkeiten des Theaters sowie seine vorrangig jesuitische Text- und Aufführungstradition reflektiert (Kapitel 2.4.2). Das Böse findet seine Form nicht etwa im angerufenen Höllischen Geist, sondern in der sich perpetuierenden, ritualisierten Monotonie der Schwarzkunst, die jedoch nur darüber hinwegtäuscht, dass hier menschliche Willkür am Werk ist. Es zeigt sich einmal mehr, dass das Innere des Menschen der eigentliche Ort des Bösen ist. Denn die Verschwörer sitzen einem Betrug auf, da ihnen der Schwarzkünstler als Spielleiter des Spektakels die volle Bedeutung der teuflischen Wahrsagung vorenthält und somit – wie auch Michael Balbus – die Deutungshoheit allein für sich beansprucht. Die Katstrophe des Fürstenmordes ereignet sich schließlich als eine Art Fortsetzung der Beschwörung mit weltlichen Mitteln (Kapitel 2.5). Sie ist als allumfassendes Sakrileg zur Heiligen Nacht in der Palastkirche konstruiert und verfügt dabei ebenfalls über theatrale Züge. Die als Priester verkleideten Verschwörer dringen in die weltliche und spirituelle Mitte vor. Böses Sagen wird letztlich als böse Tat umgesetzt. Die Vermaledeiung wird zur Entweihung gesteigert, wobei das Böse in der atrocitas des Fürstenmordes seinen Ausdruck findet. Was folgt ist ein Deutungskampf, in dem die Auslegungen des Fürstenmordes als Gräuel der Entweihung einerseits und als imitatio Christi andererseits miteinander konkurrieren. Eine Auflösung – oder Erlösung – aus diesem Deutungskampf verspricht am Ende die trauernde Kaisergattin Theodosia (2.6). Sie entdeckt durch eine Vision von Leos Wiederauferstehung im Leid des Fürstenmordes die Freude der imitatio Christi, durch die das Böse überwunden wird. Theodosia wird, gemäß der Moraldidaxe des Trauerspiels, als Vermittlerin der konsolatorischen Botschaft zur Fürsprecherin der göttlichen Gerechtigkeit.

2.1 Michael Balbus I: superbia und die Lästerung der Majestät Bereits in der ersten Szene des Trauerspiels wird eine Situation der Ambivalenz geschaffen. Sie zeigt den Insurgenten Michael Balbus, wie er bei einem konspirativen Treffen seine Gefolgsleute gegen den Kaiser aufwiegelt. Es schaltet sich der namenlose zweite Verschwörer ein, der davon berichtet, „Ein unbekandtes Werck voll Malerey“ (LA I, 98) konsultiert zu haben, das die Abfolge aller vergangenen und künftigen Herrscher des byzantinischen Reichs enthalte. Es handelt sich dabei eben nicht nur um eine Chronik, sondern um ein sibyllinisches

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Buch und damit ein Werk der magia naturalis.10 Dort findet sich auch „ein Ebenbild des Loeuen“ (LA I, 106), auf den Jagd gemacht wird. In seiner sprachlichen Vermittlung als Ekphrasis erhält die Abbildung die Eigenschaften eines Emblems. Während das „Ebenbild“ die pictura darstellt, fehlt jedoch die Festschreibung der Bedeutung durch die subscriptio.11 Aufgrund dieser Leerstelle eröffnet sich für die Verschwörer die Möglichkeit, eigenmächtig ihre eigene Deutung einzusetzen und damit ihr Vorgehen gegen Leo, den buchstäblichen Löwen, durch die Vorsehung abzusichern und zu legitimieren: Es ist ihnen vorgezeichnet, Leo zu jagen und niederzustrecken. Die Verschwörer maßen sich hier an, über das geheime Wissen der providentia zu verfügen. Indem sie sich dazu erheben, die Vorsehung zu erfüllen, lassen sie ihr Vorhaben als notwendig erscheinen.12 Es zeigt sich, dass nicht nur der Fürstenmord ein Verbrechen gegen die gottgewollte Ordnung ist, das sündhaft motiviert ist, sondern auch die Mittel, mit denen er begründet und schließlich herbeigeführt wird, sind lästerlich. Schließlich erlaubt das Löwenemblem per se konkurrierende Auslegungen. Diese könnten nicht divergenter sein, da der Löwe in seiner christlichen Motivtradition sowohl Teufels- als auch Christussymbol ist.13 Was für das Löwenemb-

10 Mit Rückgriff auf Bodins Daemonomania weist Hans-Georg Kemper: „Die Macht der Zunge“ und die Ohnmacht des Wissens. Poesie als „Artzney“ einer bezauberten Welt. Andreas Gryphius’ „Reyen der Höfflinge“. In: Zeitschrift für Germanistik 19 (2009), S. 51–62, hier S. 54 darauf hin, dass auch die magia naturalis in Verruf stand, die „Ursünde des ‚eritis sic Deus‘ (Gen 3,5)“ zu wiederholen. Das Verhältnis von natürlicher und schwarzer Magie im Leo Armenius wird in Kapitel 2.4.1 näher betrachtet. 11 Siehe dazu das den Leo Armenius betreffenden Kapitel von Nicola Kaminski: Andreas Gryphius. Stuttgart 1998, S. 81–97, bes. S. 84–91, die sich ausführlich mit der Ambivalenz des kupierten Löwenemblems auseinandersetzt. Dass diese Ambiguität des Löwenemblems jedoch nicht „mit einer gesamt-semiotischen Verunmöglichung des Verstehens aller Zeichen“ gleichbedeutend ist, stellt Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 73 heraus. Eine ähnliche Position vertritt auch Alt: Begriffsbilder, S. 253–254, der ebenfalls gegen „eine Art Vorschein moderner Sprachskepsis“ argumentiert. In diese Interpretationslinie ordnet sich auch die vorliegende Analyse ein, der es ja auch nicht um die Unzuverlässigkeit der Zeichen, sondern um die des Menschen geht. 12 Dies explizieren die Verschwörer schließlich in der fünften Abhandlung: „Der Hoechste fuehrt sein Recht / durch Menschen-Armen aus“ (LA V, 289) Dazu fasst auch Lothar Bornscheuer: Diskurs-Synkretismus im Zerfall der politischen Theologie. Zur Tragödienpoetik der Gryphschen Trauerspiele. In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Gedenkschrift für Gerhard Spellerberg (1937–1996). Hg. von Hans Feger. Amsterdam 1997 (Chloe 27), S. 489–529, hier S. 500 zusammen: „Mit solcher Argumentation wird die traditionelle politische Theologie von Leos Gegnern keineswegs schlicht pervertiert, sondern als ‚Widerstandsrecht gegen den Tyrannen‘ für die eigene Sache in Anspruch genommen.“ 13 Darauf wurde seit Gerhard Kaiser: „Leo Armenius“. Das Weihnachtsdrama des Andreas Gryphius. In: Poetica 1 (1967), S. 333–359, hier S. 352, der das Drama ganz aus der lutherischen

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lem gilt, lässt sich wiederum auf den Kaiser Leo übertragen, der ebenfalls vom Gegensatz zwischen Tyrann und Märtyrer geprägt ist, aber auch auf das Trauerspiel Leo Armenius, das diese Ambivalenzen auf dem Feld des Poltischen verhandelt, um sich letztlich unzweideutig auf einen höheren, geistlichen Sinn auszurichten. Während die Verschwörer den Löwen Leo also verteufeln, ist die einzige Wahrheit, die die Abbildung selbst transportiert, ihre Mehrdeutigkeit. Die Interpretation des doppelsinnigen Orakels leistet jeweils der Mensch und folgt dabei seiner eigenen Agenda. Ebendieser Deutungswille, der nicht zuletzt auf den Willen zur bösen Tat zurückzuführen ist, artikuliert sich sodann auch in Michaels Eifer, mit dem er im Anschluss an die Deutung der pictura spricht: „Jch wil der Jäger [des Löwen] seyn“ (LA I, 121; Hervorhebung IvH) Daraufhin wird die Verschwörung mit einem Schwur auf Fürstensturz und Fürstenmord bekräftigt. Es ist Exabolius, „des Kaisers Geheimester“14, der den Fürsten in der folgenden Szene über die Konspiration in Kenntnis setzt. Allein der Umstand, dass er über das geheime Wissen von der Verschwörung verfügt, lässt darauf schließen, dass er das höfische Ideal der prudentia in ihrer Ausformung als Heimlichkeit und Verschwiegenheit beherrscht sowie auch die Redekunst der eloquentia.15 Als eloquentia in tacendo nämlich bedeutet letztere nicht nur das wohlüberlegte und beherrschte Reden, sondern schließt auch das genaue Zuhören, ja Aushören ein.16

Theologie heraus gedeutet hat, wiederholt hingewiesen, so u. a. bei Gerhard Strasser: Andreas Gryphius’ “Leo Armenius”. An Emblematic Interpretation. In: The Germanic Review 5 (1976), S. 5–12; Alt: Begriffsbilder, S. 261–262; Kaminski: Andreas Gryphius, S. 88. Drügh: Ambivalenz des Allegorischen, S. 1025 sowie Daniel Weidner: „Schau in dem Tempel, an dem ganz zerstückten Leib, der auf dem Kreuze lieget!“ Sakramentale Repräsentation in Gryphius’ „Leo Armenius“. In: Daphnis 39 (2010), S. 287–312, hier S. 301 weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass diese Mehrdeutigkeit des Löwensymbols bereits in Augustinus hermeneutischen Werk De doctrina christiana (lib. II, cap. 25) wie folgt thematisiert wird: „Jedes Ding kann nämlich Gegenteiliges oder Verschiedenes bezeichnen. Ersteres etwa, wenn es in einem Vergleich etwas Gutes oder etwas Schlechtes bedeutet. Dies ist etwa der Fall, wenn der Löwe einmal Christus bezeichnet, wenn gesagt wird: ‚Der Löwe aus dem Stamm Juda hat gesiegt‘ (Offb 5,5) und ein anderes Mal der Teufel, wenn es heißt: ‚Euer Feind, der Teufel, schleicht umher wie ein brüllender Löwe‘ (1 Petr 5,8).” (Übersetzung nach Aurelius Augustinus: Die christliche Bildung (De doctrina christiana). Übersetzung, Anm. und Nachwort von Karla Pollmann. Stuttgart 2002, S. 127). 14 LA, S. 15 (Personenverzeichnis). 15 Zum Konnex von Verschwiegenheit und Macht als Topos der politischen Klugheitslehren des 17. Jahrhundert siehe Benthien: Barockes Schweigen, S. 158–195. 16 Vgl. Adalbert Wichert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert. Daniel Casper von Lohenstein und sein Werk. Eine exemplarische Studie. Tübingen 1991 (Studien und

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Leo befiehlt seinem Geheimrat, das Gespräch mit Michael Balbus zu suchen und ihn möglichst zum Einlenken zu bewegen, ganz im Sinne des rhetorischen movere: „red’ ihm noch einmal ein“ (LA I, 202). Unter einem Vorwand soll Michael in den Palast berufen werden. Zeigt er sich gegenüber Exabolius reuig, will Leo Milde im Urteil walten lassen,17 beharrt er auf seinem unlauteren Plan, soll er sogleich in Gewahrsam genommen werden. Der Vorschlag zur List ist freilich von Exabolius ausgegangen: „Wo keine Staercke gilt; muß man der List was goennen.“ (LA I, 192) Exabolius liefert als Meister der höfischen Redekunst ein exemplum der nach Justus Lipsius sogenannten prudentia mixta. Sie ist die Schule der List und des vertretbaren, weil gemäßigten Betrugs in Krisenzeiten.18 In einem solchen Ausnahmezustand befindet sich die Herrschaft Leos unter der Bedrohung der Verschwörer. Die List, die Exabolius als Mittel vorschlägt, ist also gerade insofern notwendig und legitimiert, als sie im Dienste der Machtsicherung des Kaisers und damit des Guten, der Majestät steht. Unter Preisgabe der Wahrheit soll die bestehende, gute, gottgewollte Ordnung gewahrt werden – der Zweck heiligt die Mittel, d. h. er macht ihren Gebrauch bzw. das Mittel selbst erst gut oder böse. Es zeigt sich eine Parallele zwischen dem Politischen und dem poetologischen Programm, das Gryphius in seiner Vorrede äußert. Er geht dort auf die dichterische Freiheit ein, die er selbst sich im Leo Armenius erlaubt hat, da er in seiner dramatischen Dichtung wissentlich das historische Kreuz, an dem Leo V. gestorben ist, durch das Kreuz Christi ersetzt, und somit explizit von seinen historiographischen Quellen „Cedrenus und Zonoras“19 abweicht:

Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 32), S. 255: „Nicht um Nachahmung von Mustern geht es ihr [der eloquentia in tacendo], sondern um die Analyse des Gegenüber, um Sensibilisierung für Andeutungen, Untertöne und Hintergründe im diplomatischen Gespräch und bei der Auslegung des Schriftverkehrs.“ 17 Die Milde in Leos Vorgehen wird im Anschluss von Nicander bemängelt: „Doch vil zu spaeter Ernst! Verzeih’ es mir; ich muß / Entdecken was mich druckt. Der Kaeyser ist zu linde; / Vnd schertzt mit seinem Heil.“ (LA I, 210–212). Nicander wird mit dieser Aussage im weiteren Verlauf des Trauerspiels recht behalten. Dass die clementia in Zeiten politischen Aufruhres unangebracht ist und gar fatale Auswirkungen auf den Herrscher haben kann, wird in Kapitel 2.3 dargelegt. 18 So in Justus Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex. Qui ad Principatum maxime spectant. Additae Notae auctiores, tum & De una Religione liber. Omnia postremo Auctor recensuit. Antwerpen 1604, lib. IV, cap. 13. 19 LA, S. 11, Z. 24–25 (Vorrede). Gemeint sind byzantinischen Geschichtsschreiber aus dem 12. Jahrhundert Georgios Cedrenus, Verfasser des Compendium historiarum, und Joannes Zonaras, Autor von Epitomē historiōn.

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Daß der sterbende Kaeyser / bey vor Augen schwebender Todes Gefahr ein Creutz ergriffen / ist unlaugbar: daß es aber eben dasselbe gewesen / an welchem unser Erloeser sich geopffert / saget der Geschichtschreiber [gemeint sind Zonoras und Cedrenus] nicht / ja vielmehr wenn man seine Wort ansihet / das Widerspiel; gleichwol aber / weil damals die uebrigen Stuecker des grossen Soehn-Altares / oder (wie die Griechen reden) die heiligen Hoeltzer / zu Constantinopel verwahret worden: haben wir der Dichtkunst / an selbige sich zu machen / nachgegeben / die sonsten auff diesem Schauplatz ihr wenig Freyheit nehmen duerffen.20

Die dichterische Freiheit steht im Dienste eines übergeordneten Wahren und Guten: Die Verquickung von Leos Tod mit dem Tod Christi und damit der providentielle Gehalt seines Werkes sollen weiter in ihrer Deutung gesichert und betont werden. Gryphius radikalisiert Luthers Kreuzestheologie, indem er sie verdichtet: Menschwerdung Gottes und seine Opfertierwerdung, Weihnachtsgeschichte (Leo wird ja bei der Christmette ermordet) und Passionsgeschichte fallen zusammen.21 Mit Leos Fall auf das Kreuz von Golgatha kommt eine der in der lutherisch-orthodoxen Theologie zentralen Paradoxien des christlichen Glaubens zur Anschauung, da nichts wahrer und gleichzeitig schwerer zu begreifen ist als das Erlösungswerk Christi.22 Mit seiner Vergegenwärtigung der theologia crucis gehorcht Gryphius sodann auch den poetologischen Konventionen, wie sie u. a. in Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächsspiele (1644–57) formuliert sind. Demnach sei in „solcher Gestalt den Wahrheits-Schein der Wahrheit selbst vor[zu]ziehen / wann sie sonderlich schwer zu glauben ist.“23 Gryphius profiliert sich durch seinen Kunstgriff also in seiner dichterischen Meisterschaft und beweist, dass er seine (dichterische) eloquentia richtig und gut einzusetzen weiß. Schließlich ist es ebendiese eloquentia, durch die Redner und Poeten miteinander verbunden sind.24 Folglich gilt für den

20 LA, S. 13, Z. 20–31 (Vorrede). 21 Johann Anselm Steiger: Die poetische Christologie des Andreas Gryphius als Zugang zur lutherisch-orthodoxen Theologie. In: Daphnis 26 (1997), S. 85–112, hier S. 93 weist dies als poetisches Verfahren für Gryphius’ geistliche Dichtung nach, wo „seine weihnachtlichen Hymnen stets passionsmeditative Züge tragen“. 22 Vgl. Steiger: Poetische Christologie, S. 100. 23 Georg Philipp Harsdörffer: Die Dichtkunst (Nr. 204). In: Frauenzimmer Gesprächsspiele. Nachdruck der Ausg. Nürnberg 1644–1657. Hg. von Irmgard Böttcher. Bd. 5. Tübingen 1969, S. 128–171, hier S. 141 [29]. Vgl. dazu auch Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. Berlin 2009 (Historia Hermeneutica 8), bes. S. 97–110. 24 Zum „Miteinander von Rhetorik und Poesie“, die sich in der eloquentia treffen, siehe Hans Jürgen Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen. Köln 1966 (Kölner germanistische Studien 2), S. 7, der sich in seinen Ausführungen vornehmlich auf Gerhard Johannes Voss’ De Artibus Poeticae Natura ac Constitutione Liber (1647) stützt.

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Leo Armenius sowohl auf dem Feld des Politischen als auch des Poetischen vorbildlich der (wohlgemerkt jesuitische) Grundsatz: Der Zweck heiligt die Mittel. Das Zwiegespräch zwischen Exabolius und Michael setzt in der vierten Szene damit ein, dass der Feldherr Herrscherkritik übt und sich damit der Majestätsbeleidigung, d. h. des Tatbestandes des crimen laesae maiestatis schuldig macht.25 Er greift das zentrale Argument auf, das er bereits gegenüber seinen Komplizen während des konspirativen Treffens angebracht hatte, nämlich den Verdruss über die mangelnde Würdigung der militärischen Verdienste, was darin kulminiert, dass Leo überhaupt unverdient herrsche. Noch dazu herrsche er schlecht, da er „Ohrenbläser ehrt“ (LA I, 294), und gar tyrannisch, weil er „stets die Klaw’n im Blutt der Bizantiner faerbt“ (LA I, 298). Michael hatte dieses Verbrechen der Majestätsbeleidigung bereits in der ersten Szene des Trauerspiels im Beisein seiner Komplizen begangen – der Wortlaut ist geradezu der gleiche –, jedoch war dort, abseits der kaiserlichen Burg, das geschützte Umfeld des Einverständnisses gegeben, in dem Michael nichts zu befürchten hatte. Nun aber befindet er sich im Palast als der sprichwörtlichen Höhle des Löwen (Leos), in der ebenjene Ordnung der Majestät und des Rechts vorherrscht, gegen die er sich in seiner Schmährede vergeht. Indem Michael die Majestät lästert, greift er sie an und verletzt sie. Die Majestätsverletzung vollzieht sich hier – vorerst – einzig durch Worte. Sie kommt dabei, dem frühneuzeitlichen Strafrecht entsprechend, der Aberkennung der vom Gesetz und Gott gegebenen Ordnung gleich. Als Tatbestand knüpft das crimen laesae maiestatis an das Römische Recht an, im Besonderen an die Konstitution des Kaisers Theodosius I. „Si quis imperatori maledixerit“.26 Das böse Reden oder Böses sagen – die maledictio – liefert hier die Grundlage, sodass der Hochverrat seinen Ausgangspunkt in der Lästerung der Majestät hat. Da der Herrscher von Gottes Gnaden eingesetzt ist, steht dieses Verbrechen recht-

25 Einen historischen Überblick zum Tatbestand des crimen laesae maiestatis bietet Rolf Lieberwirth: Majestätsverbrechen. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg. von Albrecht Cordes u. a. Bd. 2. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Aufl. Berlin 2008–2017, Sp. 1994–1201. Spezifisch zum Tatbestand in der Frühen Neuzeit siehe Helga Schnabel-Schüle: Das Majestätsverbrechen als Herrschaftsschutz und Herrschaftskritik. In: Aufklärung 7 (1994), S. 29–47. Auf dieser rechtshistorischen Grundlage des crimen laesae maiestatis, die dem Juristen Gryphius höchst vertraut gewesen sein dürfte, wurde Michaels Verbrechen meiner Kenntnis nach von der Forschung noch nicht betrachtet – zu Unrecht, wie die vorliegende Analyse offenlegt, da sich vor diesem Hintergrund erst das volle Ausmaß seines Frevels entfalten lässt. 26 Ich beziehe mich darin auf die Ausführungen von Schnabel-Schüle: Majestätsverbrechen, S. 32, die aus den Constitutionen (hier 9,7,1) zitiert.

2.1 Michael Balbus I: superbia und die Lästerung der Majestät

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lich in engem Zusammenhang mit dem Verbrechen der Gotteslästerung.27 Das Verhältnis von Gottes- und Landesvater, das sich auf der metaphysischen und politischen Ordnung abbildet, wird hier vordergründig. Entsprechend definiert Gryphius’ Zeitgenosse (und Lohensteins späterer Lehrer an der Universität Leipzig) Benedikt Carpzov, der als Begründer der deutschen Strafrechtswissenschaft gilt, in seiner Practica nova imperialis Saxonica rerum criminalium (1635) das crimen laesae maiestatis als „omnium delictorum gravissimum“28, als schwerstes aller Verbrechen, da es allumfassend Gotteslästerung, Vatermord (der Herrscher in seiner Funktion als pater patriae) sowie ein Verbrechen wider die natürliche und die göttliche Ordnung bedeutet. Schließlich sind auch die Rechtsnormen in der Frühen Neuzeit religiös begründet und ergeben sich aus dem Dekalog, in dem der unbedingte Gehorsam gegenüber Gott als Gebot festgeschrieben ist. Vor diesem religiös vermittelten strafrechtlichen Hintergrund wird das crimen laesae maiestatis zum Inbegriff der bösen Tat. Exabolius versucht in diesem Zusammenhang, Michael zur Räson zu rufen, indem er einwirft: „Mein Freund! der freye Mund bringt dich in hoechste Noth.“ (LA I, 281) Damit ist Michaels Vergehen im Kern angesprochen: Indem er sich von jeglichen rechtlichen Normen freispricht und Leos Herrschaft be- und verurteilt, tritt sein Überlegenheitsgefühl als superbia deutlich hervor – sein Hochmut bringt ihn „in hoechste Not“.29 Um die Gefahren von Michaels Selbstüberhebung und seiner Selbstermächtigung zu illustrieren, greift Exabolius auf die mythologischen Figuren Ikarus und Phaeton zurück: Mit Fluegeln / die ihm Wahn und Hochmutt angebunden / Jst / eh als er das Zil nach dem er rang gefunden / Ertruncken in der See. Zwar Phaeton ergriff Die Zuegel: Aber als der strenge Wagen liff / [...] Verflucht er / doch zu spaett / die hochgewuendschte Macht. (LA I 4, 407–413)

Beide Figuren stehen als Gleichnisse für die Gefahren der sündigen superbia und fungieren als Warnbilder einer fatalen Hybris. Schließlich scheint hinter den antiken Figuren der christliche Horizont auf, da sowohl Phaeton als auch

27 Siehe dazu sowohl Benedikt Carpzov: Practica nova imperialis Saxonicae rerum criminalium, Wittenberg 1670. Pars 1, quaestio 41 De poena criminis laesae majestatis, S. 245 ff. als auch die bereits zuvor festgesetzten territorialen Landesrechte des 16. Jahrhunderts, siehe Schnabel-Schüle: Majestätsverbrechen, S. 33. 28 Carpzov: Practica nova, pars 1, quaestio 41, S. 245. 29 Auf diesen Zusammenhang von Verdienstdenken und superbia geht auch Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 349 ein und stellt Gryphius dabei in eine Traditionslinie mit Thomas von Aquin.

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Ikarus Vorbilder des christlichen Lucifers darstellen.30 Sie zeichnen seinen Sturz nach, bei dem es sich um nichts geringeres handelt als die apokryphe Urszene einer Genealogie des Bösen.31 Durch Lucifers superbia und Sturz kommt ein musterhafter Konflikt zu Anschauung, aus dem das Böse hervorgeht: Mit Hochmut und Selbstüberhebung wird nach Höherem getrachtet und damit die göttliche Ordnung angezweifelt und verletzt. Für Gryphius’ zeitgenössisches Publikum ist diese Bedeutungsdimension, die hier durch antik-mythologische Figuren vermittelt wird, sogleich zu entschlüsseln: In Michael konzentriert sich die verderbliche superbia, die sich vermessen aufschwingt, um schließlich selbst verurteilt und gestürzt zu werden. Diese moraltheologischen Implikationen lassen sich übertragen auf die politische Ebene, in deren Kontext Michael den Typus des lasterhaften und lästerlichen Höflings repräsentiert, der das „höfische Fallprinzip“32 verkörpert. Harsdörffer erklärt dazu wiederum in seinen Frauenzimmer Gesprächsspielen: Kein Wassersüchtiger ist so durstig / als er [der Höfling] nach Ehren: zu der Schwindsucht seiner Hofnung gebrauchet er die Rache für die letzte Artzney. Er glimmet hohe und gefährliche Stiege hinauf / denket aber nicht / daß er wieder herabkommen müsse / sihet auch nicht zurukke / als in dem Fall.33

Gerade in seiner Funktion als „Oberster Feldhauptmann“34, als höchster Stellvertreter jener Gewalt, die der Sicherung der kaiserlichen Macht verpflichtet ist,

30 Jeremias Drexels Traktat von 1629 über die sogenannten Zungensünden sei dafür als prominentes Beispiel angeführt, das Hochmut und hochfliegende Reden mit der Figur des Phaeton verknüpft und als Orbis Phaeton: hoc est de universis vitiis linguae im Titel trägt. Drexels Schriften waren im 17. Jahrhundert überaus populär und auch über die konfessionellen und regionalen Grenzen hinaus verbreitet, vgl. Jeremias Drexel: Iulianus Apostata Tragoedia. Edition, Übersetzung und Kommentar von Andreas Abele. Berlin 2018 (Frühe Neuzeit 219), S. 32 f; Ralf Georg Bogner: Die Bezähmung der Zunge. Literatur und Disziplinierung der Alltagskommunikation in der frühen Neuzeit. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 31), S. 41. Auch in Lohensteins Sophonisbe (S III, 5–6) und in Gryphius’ Catharina von Gorgien (CG I, 45) wird das Bild von Ikarus herangezogen, um den Hochmut zu illustrieren. Osterkamp: Lucifer, S. 90 bemerkt, dass die frühneuzeitlichen Autoren gar die antiken Vorbilder in ihren Darstellungen bevorzugten und führt dies auf den Gestus der barocken Gelehrsamkeit zurück. Diese Funktionalisierung der antiken Mythologie entspricht dabei ganz umfassend einer barocken Strategie wie Alt: Begriffsbilder, S. 187 herausarbeitet. 31 Alt: Ästhetik des Bösen, S. 34 betont, dass der Mythos von Lucifers Sturz eine solche Grundkonstellation vorstellt, dabei jedoch keine Erklärung für das Böse liefert. 32 Vgl. Helmuth Kiesel: Bei Hof, bei Höll’. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979 (Studien zur deutschen Literatur 60), S. 136. 33 Georg Philipp Harsdörffer: Der Hofmann (Nr. 242). In: Frauenzimmer Gesprächsspiele. Bd. 6, S. 366 [234]. 34 LA, S. 15 (Personenverzeichnis).

2.1 Michael Balbus I: superbia und die Lästerung der Majestät

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stellt sich Michael noch über Leo – „Sein Leben / seine Cron steht unter meiner Macht.“ (LA I 4, 454; Hervorhebung IvH) –, wodurch seine Selbstüberhebung noch einmal rhetorisch auf die Spitze getrieben wird.35 Zwar gemahnt ihn Exabolius an dieser Stelle ein letztes Mal: „Jch bitte nicht zu hoch“ (LA I 4, 455), doch Michael lässt sich nicht mehr einholen und ruft: „Noch hoeher! solt ich schweigen?“ (LA I 4, 455) In dieser Aussage Michaels liegt eine prononcierte Infamie. In der Formulierung der rhetorischen Frage reflektiert er noch einmal über die Möglichkeit des Schweigens und der Mäßigung bzw. über das Ideal der höfischen Verschwiegenheit, nur um dieses ganz entschieden, ja willentlich zu verwerfen.36 Da er sich der Erwägung verwehrt, verweigert er sich gegen das moralische und politische Gebot der Selbstbeherrschung und folgt allein seinem erratischen Eigenwillen. Wird die fehlende Willensbeherrschung, die Michael damit an den Tag legt, auf einer weiteren interpretatorischen Ebene, nämlich moraltheologisch, ausgedeutet, so ist sie als Symptom der privatio boni zu verstehen. Dies wiederum rückt Michael weiter in die Nähe Lucifers. Michaels Hoffart bedingt die perturbationes seiner Affekte. Affektanthropologisch nämlich ist die Vernunft, die die Selbstbeherrschung bedingt, aufgrund seiner Lasterhaftigkeit depraviert, kurz: Michael ist durch seine superbia verblendet. Eine solche Verderbnis der Vernunft ist dann auch nach Lipsius’ neostoizistischer Lehre, die Gryphius in seiner Dichtung reflektiert, die „ursach alles ubels“37. Selbstbeherrschung in Affekt, Handlung und Sprache sind in

35 Osterkamp: Lucifer, S. 98 führt zu diesem Komplex des „luciferisch Bösen“ in seiner Analyse von Joost van den Vondels Lucifer-Trauerspiel (1654) aus, dieses sei „[…] dergestalt bestimmt als die Durchbrechung der inneren Ordnung gesetzlich geregelter Gemeinwesen auf dem Weg eines eigenmächtigen Aufstiegs gegen den ausdrücklichen Willen des gesetzlich legitimierten Machtträgers, der allein ihren Bestand zu garantieren vermag; die Turbation des Ganzen folgt demnach nicht aus der Ablehnung von dessen innerer Struktur, sondern aus der widerrechtlichen Anmaßung von Entscheidungskompetenzen, die zu verwalten nach gesetzlicher Regelung anderen vorbehalten bleibt.“ Dies lässt sich ebenfalls auf Michael Balbus’ Fall anwenden, womit das „luciferisch Böse“ eine durchaus zeitgenössisch virulente Konzeption darstellt. 36 Zur höfischen Schweigsamkeit als Prinzip der Hofkultur siehe Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 249 sowie Benthien: Barockes Schweigen, S. 158–195. 37 Justus Lipsius: Von der Bestendigkeit. Zwey Bücher. Darinnen das höchste Stück Menschlicher weisheit gehandelt wird. Jetzt außm Latein ins Teutsche bracht / Durch Andream Viritium. Leipzig 1601, lib. I, cap. 5, Bl. 14. Im lateinischen Original bezeichnet Lipsius diese „ursach alles ubels“ als „malorum mater“, vgl. Justus Lipsius: De constantia libri dvo. Qui alloquium præciperuè continent in publicis malis. Apud Christophorum Plantinum. Antwerpen 1584, lib. I, cap. 5, Bl. 14. Auch Schings: Die patristische und stoische Tradition, S. 257 bezieht sich auf diese Stelle in seiner Auseinandersetzung mit der „Weltangst“ der Märtyrer Catharina von Georgien und Carolus Stuardus. Einen Forschungsüberblick zum frühneuzeitlichen Neo-

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diesem ethischen und gleichzeitig politischen Diskurs gerade die Voraussetzung eines guten Menschen, eines guten Höflings und schließlich eines guten Herrschers. Seit Aristoteles wird die Herrschaft der Leidenschaften über den Körper mit der eines Despoten bzw. eines Herren über seine Sklaven verglichen, während die Herrschaft der Vernunft der eines Königs über seine Bürger entspricht. Dieses Ideal der herrschenden Vernunft findet sich in Gryphius’ Leo Armenius am Beispiel der Figur Michael jedoch konterkariert, sodass in ihm bereits hier auf unheilvolle Weise die Neigung zur Tyrannei aufscheint. An Michael wird folglich ein Anti-Exemplum statuiert, gerade im Kontrast zu Exabolius, der ja das Ideal der höfischen prudentia (mixta) und eloquentia verkörpert. Derjenige, der sich nicht selbst beherrschen kann (und will), ist also auch nicht dazu fähig, über Andere zu herrschen. So kann auch Herrschaft nur durch Selbstherrschaft erlangt werden. Während der höfischen Ethik gemäß das Schweigen Begrenzung bedeutet, so vollzieht sich Michaels willentlicher Übertritt durch das Sprechen, das Aussprechen, das stets die Gefahr der Transgression in sich trägt.38 In seiner Verwerfung des Schweigens demonstriert sich seine Verworfenheit, die mit Luther schließlich auch moraltheologisch begründet ist: „Ubi cor est malum, ibi verbum est malum“39 Im an die erste Abhandlung anschließenden „Reyen der Höfflinge“, der sprachliche (und menschliche) Ambivalenz sowie ihre notwendige Beherrschung durch prudentia und eloquentia thematisiert, findet sich dies beschrieben als „Der Tugend Vntergang / der grimmen Laster Sig“ (LA I, 536): Wenn nämlich „der Zungen Macht“ (LA I, 537) ungehemmt die Vorherrschaft gewinnt, regieren

stoizismus und seiner Rezeption bei Gryphius liefert Stefanie Arend: Neostoizismus. In: Gryphius-Handbuch, S. 682–691. 38 Dies findet sich u. a. im Epigramm „Außtrit der Zunge“ (1654) von Gryphius’ Zeitgenossen Friedrich von Logau formuliert: „DJe Zunge wohnt mit Fleiß im weissen Bein-Gehaege / Dann diß ist jhre Graentz / in der sie sich bewege: / Waechst aber wo die Zung vnd steiget ueber Zaun / Derselbten traue du / ich wil jhr nimmer kraun.“ Die Zunge, in der Frühen Neuzeit Metonymie für das Sprechen überhaupt, soll auch hier von der Transgression abgehalten werden, durch ihre natürliche „Graentz“ und ihren „Zaun“ (im Sinnbild die Zähne, die jedoch im übertragenen Sinne mit der Vernunft gleichgesetzt werden können). Es wurde zitiert aus Friedrich von Logau: Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend. Breslau 1654, S. 160. Benthien: Barockes Schweigen, S. 161 erklärt mit Bezug auf den neutestamentarischen Jakobusbrief (Jak 3,3–11), den sie als zentralen Referenzpunkt für die frühneuzeitliche Sprachkritik herausstellt, dass „der Übertritt über die Schwelle – des Anstandes, des Maßes, der sozialen Normen – als vernichtend verstanden“ werde. 39 WA 38, 551, 19–20.

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auch die Laster.40 Die Verwandtschaft von Lastern und Lästern wird hier augenfällig und konterkariert die „wesenhafte[] Zuordnung“41 von ratio und oratio. Infolgedessen erwächst Michaels superbia zur offenen Rebellion, die ihn wiederum nur weiter in die Nähe Lucifers rückt.42 Er richtet sich gegen das Gehorsamsgebot und probt einen Aufruhr, der sich letztlich gegen Gottes Ordnung selbst richtet. Michael denunziert Leo nun als „Tyrann“ (LA I, 469) und spricht schließlich seine Absicht des Fürstenmords aus: Michaels Degen soll „Jhm [Leo] durch den grimmen Brunn der Adern dringen“ (LA I, 470). Hier kulminiert das crimen laesae maiestatis, da Michael verspricht, es vom bloßen Wort in die Tat umzusetzen. Die Majestätsbeleidigung soll zur tätlichen Majestätsverletzung werden. Michael verübt Hochverrat, durch den er sich schließlich zugleich selbst verrät. Aufgrund seiner Verblendung, seines Mangels an Vernunft, der in seiner Lasterhaftigkeit begründet ist, überführt er sich selbst. Michael wird daraufhin umgehend von Leos Leibwache in Gewahrsam genommen. Dabei fragt er einen der Trabanten nach dem Grund und dieser nennt ihm: „Dein ungerechte Pracht! / Dein eigen Mund.“43 (LA I, 485–486) Während die „ungerechte Pracht“ Michaels lästerliche Anmaßung bezeichnet, bestätigt sich hier, dass sich durch seinen Mund die widerrechtliche Transgression vollzogen hat, in der Michael nicht nur Leo, sondern vor allem sich selbst als Verbrecher denunziert hat. Im Rahmen seiner Verhaftung versucht Michael das Blatt noch einmal zu wenden und präsentiert sich nun in der Rolle des Opfers. Da Michael vorgibt, nicht aus sich selbst heraus schuldig geworden zu sein, will er seine Schuld

40 Peter Schäublin: Andreas Gryphius’ erstes Trauerspiel „Leo Armenius“ und die Bibel. In: Daphnis 3 (1974), S. 1–40, hier S. 6 koppelt dies an die Figur Luzifers: „In der Nachfolge Luzifers und unter seiner Herrschaft wird die menschliche Zunge zur Schöpferin einer ‚Anti-Schöpfung‘ im genauen Sinn des Wortes“. 41 Barner: Gryphius und die Macht der Rede, S. 334. 42 So bemerkt Alt: Ästhetik des Bösen, S. 37: „Die Eitelkeit, genährt vom Selbstbewußtsein des erstgeschaffenen Engels, führt Lucifer von der Gehorsamsverweigerung bis in die offene Rebellion. Aus der Negation im Zeichen des ‚non serviam‘, die Gott gegenüber die Verpflichtung zur Dienstbarkeit verneint, wird so die direkte Erhebung in der Konfrontation mit der spirituellen Autorität.“ 43 Mit Blick auf Textgenese und Editionsgeschichte des Leo Armenius war Schöne: Emblematik und Drama, S. 165 bereits zu einer ähnlichen Konklusion gekommen: „In der ersten Auflage des Trauerspiels lautet die Antwort, die einer der Trabanten gibt: dein vngerechte pracht! Dein Fürstenmordt. Vngerecht pracht meint die widerrechtliche Selbstüberhebung, den Hochverrat Michaels; Dein Fuerstenmordt bezeichnet den Inhalt seiner unbedachten Worte. Von der zweiten Auflage des Leo Armenius an hat Gryphius dafür eine andere Fassung vorgezogen: Dein vngerechte Pracht! Dein eigen Mund. Der Inhalt dessen, was Michael sagte, tritt damit zurück hinter dem Vorgang an sich: der Selbstvernichtung durch das eigene Wort.“

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mindern und potentiell seine Strafe mildern. Er klagt Exabolius als Urheber der List an, der er zum Opfer gefallen sei, und beschimpft den Geheimrat mit „Hoffheuchler! Doppelsinn! Mordstiffter! Luegenschmid!“ (LA I, 489) Michael beschuldigt Exabolius damit nicht nur, er verteufelt ihn auch, denn Heuchelei, Lügen und Doppelsinn sind gemeinhin die Domänen des Teufels sowie auch der Tod, der neben dem Bösen durch ihn erst in die Welt gekommen sind („Mordstiffter“). Seine Schuldzuweisung rundet er sodann auch mit einer an Exabolius gerichteten Drohung ab: „Was hindert mich daß ich nicht rasend Glid von Glid / Dir Basiliske zih und eyl in Staub zu tretten / Den schlauen Natterkopff!“ (LA I, 490–492) Der Basilisk gilt gemeinhin als Symbol des Teufels. Auch wird Christus häufig dabei dargestellt, wie er eine Schlange (diejenige aus dem Paradies, „Den schlauen Natterkopff“, der sich der sprachlichen Ambivalenz bediente, um die ersten Menschen zum Übertritt verführen) oder eben einen Basilisken zertritt und somit das Böse, das mit dem Sündenfall in die Welt gekommen ist, vernichtet. Michael eignet sich also dieses Bildnis der christlichen Ikonographie an und nutzt es für seinen eigenen Zweck, nämlich dafür, sein eigenes Verbrechen zu verstellen. Hatte Michael soeben noch Exabolius den Doppelsinn zugeschrieben, so zeigt sich an diesen Versen, dass Michael vielmehr selbst den Doppelsinn instrumentalisiert. Noch mehr: Da er Exabolius die Position des Basilisken zuschreibt, setzt er sich selbst in vermessener Weise an die Stelle Christi und stilisiert sich damit implizit als Erlöser von dem Bösen. Das Wort „Basilisk“ deriviert etymologisch von basilískos (griechisch: kleiner König) bzw. basileús (griechisch: König) und verweist darin wiederum auf den Fürsten Leo. Auch wenn Michael in seiner rhetorischen Operation also alles daran setzt, Exabolius und qua Exabolius auch Leo zu diskreditieren, ist die Assonanz von basileús und Leo nicht zu überhören. Diese lautliche Harmonie ließe sodann auch auf die Rechtmäßigkeit von Leos Herrschaft schließen, da das Amt des Königs seinem Namen bereits durch den Gleichklang eingeschrieben scheint. Die Ambivalenz, die in der ersten Szene des Trauerspiels noch dem Löwensymbol inhärent war, ist hier getilgt und es wird deutlich, dass die Verteufelung Leos allein Michaels (sprachliches) Werk ist. Mit dem Symbol des Basilisken (Basilisk – basileús – König/Leo) wird dann auch Michaels Wille zur Usurpation weiter akzentuiert, nicht aber die Rache am Tyrannen, wie er es versucht darzustellen. Michael spricht hier – wohlgemerkt in vermittelter Weise – seinen Vorsatz zum Fürstenmord einmal mehr aus: Er will den (diabolisierten) König Leo töten („in Staub tretten“). Weil er sich anmaßt, über Leben und Tod des weltlichen Herrschers entscheiden zu können, erhebt er sich über den Kaiser Leo und zum Nachfolger Christi als dem König aller Könige. Da er Exabolius und Leo in diesem Vexierspiel verteufelt, vergöttlicht er sich

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selbst. Seine superbia gewinnt dadurch eine zusätzliche Dimension, auch wenn die Aussage seinen Opferstatus fundieren und sein eigenes Verbrechen, das aus seiner inneren Bösartigkeit hervorgegangen ist, verbergen soll. Schließlich spiegelt das Bild des Basilisken jedoch nur Michael selbst. Er ist der Basilisk, der sich zum basileús von Byzanz machen will. Wenn der Basilisk aber in den Spiegel blickt, tötet er sich selbst, wie die pictura des Emblems Noxa nocenti illustriert. Anders als das Löwenemblem vom Anfang des Trauerspiels verfügt dieses Basiliskenemblem über eine inscriptio, die keinen Zweifel an der Bedeutung lässt: „Improbitas solet esse sibi justißima merces, / Auctor es interitus sic Basilisce tibi.“44 Dieses Wissen um den Basilisken deutet darauf hin, dass Michaels Bosheit letztlich in Einklang mit der natürlichen, gerechten Ordnung der Welt auf ihn zurückgeworfen und zu seinem eigenen Untergang wird. So fällt auch Michaels Anschuldigung gegen Exabolius auf ihn selbst zurück. Er ist der eigentliche Hofheuchler, Lügenschmied und Mordstifter, der sich nun anstelle des Dolches am Doppelsinn bedient. Der integre Exabolius entgegnet auf die Anschuldigungen, dass er Michael zu nichts überredet und ihm auch nichts eingeredet habe, sondern ihm stattdessen noch die Fallstricke seines Hochmuts aufgezeigt hat: „Jch warnte / doch umsonst! Jch schreckte mit der Noht.“ (LA I, 494) Michael aber wird auch in seinem Gerichtsverhör seiner Opferrolle treu bleiben und darauf beharren, in einer allzu menschlichen Verfehlung zum Majestätsverbrechen gereizt worden zu sein. Was in der zweiten Abhandlung durch Michaels Konfrontation mit Leo und den Richtern zur Anwendung kommt, ist seine Herrschaft über Doppelsinn und Verstellung. Seine Verteidigungsrede eröffnet Michael, indem er erklärt, nie rhetorisch geschult worden zu sein: „Wahr ists / daß Michael wol reden nie gelehrt“ (LA II, 98) Diese Selbstauskunft scheint nicht zuletzt durch seinen Beinamen „Balbus“ verbürgt, was „Stotterer“ bedeutet und damit für eine stammelnde, unkultivierte Sprechweise steht. Michael macht sich ebendiese Zuschreibung zu eigen und verwendet sie als Deckmantel. Die Aussage von seiner vermeintlichen Unkenntnis der Redekunst demonstriert gerade seine Beherrschung der Kunst der Verstellung, da seine Reden durchaus rhetorisch aufwändig gestaltet sind.45

44 Siehe Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hg. von Arthur Henkel, Albrecht Schöne. Stuttgart 1996, Sp. 627. Die Übersetzung lautet dort: „Die Bosheit pflegt sich selbst den durchaus rechten Lohn zu schaffen. / So veursachst du deinen eigenen Untergang, Basilisk.“ Das Emblem ist dem vierten Band des Emblembuchs von Joachim Camerarius entnommen, das in der Gesamtausgabe von dessen Sohn Ludwig Camerarius 1605 in Nürnberg herausgegeben wurde. 45 Vgl. hierzu auch Andreas Solbach: Politische Theologie und Rhetorik in Andreas Gryphius’ Trauerspiel „Leo Armenius“. In: Wahrheit und Wort. Festschrift für Rolf Tarot zum 65. Geburts-

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2 Ambivalenz als Spielraum des Bösen

Michael macht in diesem Zuge die Diskrepanz zwischen Bezeichnendem und Bezeichneten, zwischen Gesagtem und Gemeintem, Sein und Schein für sein infames Vorgehen produktiv, indem er aus den Möglichkeiten der menschlichen und sprachlichen Ambivalenz schöpft. Er wird sich vor dem wissenden Lese- und Theaterpublikum sukzessive als „falsche[r] Zwey-zuengler“ profilieren, der in Gryphius’ gleichnamigem Sonett als „ein falscher böser Mensch“ apostrophiert ist, „aus dessen krummen Rachen / Die schwarzen Schlangen sehn / in dessen schlimmen Mund / Das natterzischen pfeifft“.46 Michael ist dieser böse Mensch, der sich mit seiner Dopplezüngigkeit schließlich der kaiserlichen Hoheit bemächtigen wird.

2.2 Michael Balbus II: invidia und die gerechte Feuerstrafe Die zweite Abhandlung stellt das Gerichtsverfahren Michaels nach seiner Überführung und Festnahme vor sowie die anschließende Urteilsverkündigung. Sie setzt ein mit einem Monolog Leos, der sowohl Klage über das Leid des Fürsten als auch Michaels Anklage ist.47 „Von erster Jugend an!“ (LA II, 9) musste Leo erfahren: Sowie er sich um Ruhm und Sieg verdient gemacht hat, „[d]a funden wir auch Neyd.“ (LA II, 13) Diesen beschreibt er wie folgt: So wird die erste Flamm’ / eh’r sie sich kan erheben; Mit dunckel vollem Dunst und schwartzen Rauch umbgeben. [...] so hat der strenge Wind Der Mißgunst / uns so fern; (trotz dem es leid) getriben / (LA II, 19–26)

Mit dieser Beobachtung spricht Leo das verschwörerische Unternehmen im Kern an, das neben der Hybris seines Anführers ebenso von Neid ganz buchstäblich befeuert wird.48 Noch vor Leos Klage hatte bereits Nicander, Hauptmann der Leibwache, diese Metaphorik genutzt, um die verräterische Absicht

tag. Hg. von Gabriele Scherer, Beatrice Wehrli. Bern 1996, S. 409–425, hier S. 409–410 sowie Manfred Beetz: Disputation und Argumentation in Andreas Gryphius’ Trauerspiel „Leo Armenius“. In: Zeitschrift für Literatur und Linguistik 10 (1980) 38, S. 178–203, hier S. 192. 46 Gryphius: An einen falschen Zwey-zuengler, V. 1–2. 47 Dass es sich bei dem klagenden Fürsten um einen frühneuzeitlichen Topos handelt, der auch bei William Shakespeare wiederholt auftaucht, zeigt Dieter Baacke: And tell sad stories of the death of kings. Das Schicksal der Könige bei Gryphius und Shakespeare. In: Text + Kritik 7/8: Andreas Gryphius. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. 2., revidierte und erweiterte Aufl. München 1980, S. 46–57. 48 Hier sei auch auf Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 350–351 verwiesen, der ebenfalls im Neid die Hauptmotivation des Verschworenen erkannt hat.

2.2 Michael Balbus II: invidia und die gerechte Feuerstrafe

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zu beschreiben als einen Moment, „wenn die rauen Winde / Sich laegern umb die Glutt“ (LA I, 212–213). Allein die Lästerung der Majestät bzw. „beruehmter Gemuether“ ist auf den Neid zurückzuführen, wie Gryphius in einer der Leichabdankungen erläutert, die 1666 posthum unter dem Titel Dissertationes funebres von einem anonymen Herausgeber veröffentlicht wurden. So heißt es in der Trauerrede Winter-Tag Menschlichen Lebens, die im Jahr 1653 (und damit nach dem Leo Armenius) entstanden ist: „Neidische Geister erkennen ja die Tugenden beruehmter Gemuether; stellen aber selbe andern (wie unsaubere Spiegel) gantz verkehrt und schrecklich vor.“49 In diesem Kontext greift Gryphius sodann auch die Metapher vom Rauch der Missgunst auf, die er bereits im Leo Armenius angewendet hatte. Es sind doch auch selbige [die Flammen der Tugend] mit dem hefftigsten und beissenden Rauch des Neydes umgeben: welcher / wie Augustinus gar arthig dartut / eigentlich des Teufels Laster / welches ihn in Verdammung gebracht: weil er nicht derowegen verworffen / daß er in Unreinigkeit gelebet […] sondern weil er die Gleuckseligkeit des Menschen beneydet.50

Der Neid ist für Gryphius folglich ein moraltheologischer Topos. Als Laster des Teufels ist er, wie Gryphius betont, patristisch begründet („wie Augustinus gar arthig dartut“) und verfügt über eine besondere Schwere.51 Diese moraltheologischen Implikationen gilt es kurz näher zu erläutern: Die Missgunst ist auf die Vernichtung des Tugendhaften ausgerichtet sowie auf die Verderbnis und Tötung des Menschen im Allgemeinen. Schließlich sind die Ersteltern unter dem Einfluss des Teufels nicht nur schuldig geworden, auch ist dadurch neben dem Bösen ebenfalls der Tod in die Welt gekommen, sodass Neid, Befleckung der menschlichen Natur und Tötung/Tod einen eigenen Motivkomplex bilden.52 Dies wird von Gryphius wiederum in der Abdankung 49 Andreas Gryphius: Winter-Tag Menschlichen Lebens. In: Andreas Gryphius: Dissertationes funebres oder Leichabdankungen. Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. von Johann Anselm Steiger. Bd. 9. Tübingen 2007 (Neudrucke Deutscher Literaturwerke, Neue Folge 51), S. 94–121, hier S. 114. 50 Gryphius: Winter-Tag Menschlichen Lebens, S. 113–114. 51 Zum Neid als „eine[r] der Motivkonstanten des Gryphschen Gesamtwerks“ siehe Schings: Die patristische und stoische Tradition, S. 163, der in diesem Zusammenhang die Missgunst auch als eine der „antimoralischen Mächte, in denen sich das Wesen ‚dieser Welt‘ zusammenfaßt“, kennzeichnet. 52 Ebd. subsumiert Schings dies unter dem Begriff der „Verfolgung“, denn „ihre Aggressivität betreibt den ‚Fall‘“. Auch wenn Schings sich in seiner Argumentation auf den Fall des „Gerechten oder [der] Tugend schlechthin, deren Verkörperung der Gerechte darstellt“, so ist dies doch auf den Menschen überhaupt auszuweiten, da die Bedrohung durch den Neid Gryphius’ Ausführungen zufolge eine conditio humana darstellt.

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Abend menschlichen Lebens (verfasst 1663) thematisiert, denn dort kommt die Rede auf den „hoechst vergifftete[n] und Meuchelmörderische[n] Neid“53, wobei die Vergiftung auf die Befleckung der menschlichen Natur verweist und der Meuchelmord auf Tötung und Tod. Diese Auseinandersetzungen aus den Leichabdankungen korrespondieren mit dem, was im Leo Armenius zum Neid zu lesen ist. So wird der Bote, der in der fünften Abhandlung der Kaiserin Theodosia von Leos Ermordung berichten wird, erklären: „Vil hat des Fuersten Ruhm / Mit tollem Neyd befleckt“ (LA V, 126–127) Das Sakrileg, das die Befleckung von Kaiser, Kirche und Kreuz durch den Fürstenmord bedeutet, ist also in der Befleckung durch den Neid vorbereitet. Nicht zuletzt gilt der Neid auch in der frühneuzeitlichen politischen Kultur als eines der Hauptlaster am Hofe,54 das mithin moraltheologisch begründet ist. Geradezu analog zu den Ausführungen im Winter-Tag Menschlichen Lebens, wo der Neid historisch verbürgt „vill der Maechtigsten“ sowie „gantze Regimenter und Laender“55 gestürzt hat, greift im Leo Armenius Michael – als mächtiger Regimentsführer wohlgemerkt – diese Klage über den Neid in seiner Verteidigungsrede auf und appliziert sie auf seinen eigenen „Fall“: Man klagt mich gleichwol an! Warumb? umb daß ich offt ein Wort nicht haemmen kan / Wenn ein Verraether mich so huendisch reitz’t und locket. Wem hat Verleumbdung nicht ein Mordstueck eingebrocket? Kan jemand ohne Fall auff glattem Eyß bestehn? Wenn ihn der Neid anstoest? Wer muß nicht untergehn / Wenn die ergrimmten Wind’ erhitzter Luegen blasen? Wenn die erzuernten Stuerm’ untreuer Zungen rasen? (LA II, 133–140)

Um sich in seiner vorgeblichen Opferrolle zu profilieren, verwendet er dieselben Argumente und rhetorische Strategie wie bei seiner Überführung, jedoch setzt er hier den Neid in deren Zentrum. Michael appelliert damit an Leos Mitgefühl (das gemeinsame Leid der Großen: an der Spitze wird man zwangsläufig zur Zielscheibe neidischer Anfeindungen), um ihn heuchlerisch dazu zu bewegen – im Sinne des rhetorischen movere –, ihm günstig zu sein.56 Er wendet

53 Andreas Gryphius: Abend menschlichen Lebens. In: Gryphius: Dissertationes funebres, S. 194–229, hier S. 220. 54 Vgl. dazu die Ausführungen von Kiesel: Bei Hof, bei Höll’, S. 82. 55 Gryphius: Winter-Tag Menschlichen Lebens, S. 114. 56 Damit ist Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 388 zu widersprechen, der ausgehend von den Redundanzen in Michaels Verteidigungsrede konstatiert: „Er scheint [] Leos vorangegangene Rede weder richtig angehört noch verstanden zu haben.“

2.2 Michael Balbus II: invidia und die gerechte Feuerstrafe

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damit nicht zuletzt die Strategie der eloquentia in tacendo an, die der Geheimrat Exabolius ihm gegenüber zuallererst erfolgreich eingesetzt hatte. Michaels Aussage über den Anstoß durch den Neid, der zu Fall bringt, ist in sich höchst ambivalent, denn sie ist wahr und falsch zugleich. So wurde er eben nicht durch Exabolius zu Fall gebracht, der hier rhetorisch gar als Personifikation des Neides konstruiert ist, wohl aber durch seinen eigenen Neid. Michael unterstellt seine eigene Lasterhaftigkeit Exabolius und inszeniert sich dadurch – wie bereits im Rahmen seiner Überführung – in einem Vexierspiel selbst als armen Betrogenen, um seine eigene, innere Bosheit zu verstellen. Dies äußert sich ebenfalls darin, dass er seine vorgebliche Verfehlung, in die Falle des neidischen Exabolius getappt zu sein, als immanenten Teil der conditio humana ausstellt: „Wer lebt / der irrt und faellt.“ (LA II, 179) Die darin enthaltene Allusion auf den Sündenfall verfolgt letztlich die Strategie, das eigene Vergehen als bloßen Lapsus erscheinen zu lassen. So wenig wie Gryphius’ wissendes Publikum kann Michael damit jedoch die Richter überzeugen, die entgegnen: „Wir koennen Laster wol von Jrrthum unterscheiden.“ (LA II, 180) Anstatt den allzu menschlichen Fehltritt als solchen anzuerkennen, setzen sie ihm sentenzenhaft entgegen: „Wer sich zu hoch erheben wil / der falle.“ (LA II, 328; Hervorhebung IvH) Es ist der Wille zur Übertretung, ja zur Überhebung, der hier die Schwere der Strafe diktiert. Darin befinden sich sodann auch Judikative und Leibwache in Übereinstimmung, denn die Richter führen an, was schon der Trabant bei Michaels Festnahme als „ungerechte Pracht“ verurteilt hatte. Durch die Antilabe entsteht gar der Eindruck, dass alle Parteien hier in unisono sprechen: I. [Richter] Er brenn’ und seine Pracht / der Lastervolle Mutt Vergeh’ in Asch. II. Er brenn’. III. Er brenn’. IV. Er brenn’ und schwinde! V. Vnd werd ein Dampff der Lufft und Gauckelspill der Winde! (LA II, 330–332)

Wie bei Carpzov nachzulesen ist, gibt es in der frühneuzeitlichen Strafrechtspraxis einen Ermessenspielraum hinsichtlich der Ahndung des crimen laesae maiestatis. Dieses werde „hodiè qvandoqve gladio, qvandoqve igne, qvandoqve dissectione in qvatuor partes […] puniantur, & qvandoqve etiam severiori adhuc mortis genere“57. Die Strafe des Verbrennens, die hier von den Richtern einstimmig beschlossen und auf eindringliche Weise wiederholt wird, stellt damit ein gerechtes und geregeltes Strafmaß der Majestätsverletzung dar. Darüber hinaus war der Tod durch Feuer die gängige Strafe für Häresie, sodass in dieser Art der Bestrafung einmal mehr die Verwandtschaft zwischen der verbrecherischen Läs-

57 Carpzov: Practica nova, pars 1, quaestio 41, S. 254, Hervorhebung IvH.

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terung der Majestät und der Gotteslästerung aufscheint, auf die der Leo Armenius abzielt. Die abschließende Urteilsformulierung des fünften Richters „Vnd werd ein Dampff der Lufft und Gauckelspill der Winde“ verweist ihrerseits zurück auf den als Rauch (bzw. hier synonym als „Dampf“) metaphorisierten Neid. Im übertragenen Sinne soll Michael also zum Opfer seines eigenen Neids werden, sodass er mit der Feuerstrafe symbolisch den Flammen der Hölle und folglich dem Teufel als dem allerersten Neider überantwortet würde. Michael aber weist sowohl die Anschuldigungen weiterhin von sich als auch das Urteil selbst. Er dreht es sogar um und wendet es damit zurück auf die Ankläger, allen voran Exabolius, da er darauf beharrt, „daß Haß und toller Neyd / Den Holtzstoß auffgesetz’t“ (LA II, 373–374). Nicht einmal im Angesicht der drohenden (und wohlgemerkt gerechten) Todesstrafe fällt Michael aus seiner (Opfer-)Rolle, wodurch sein Trotz gegen die gerechte Ordnung nur noch weiter hervortritt.

2.3 Aus „ein Wort“ mach’ „zwey Wort“: Verdoppelung und die inventio des Bösen Mahnt der erste Reyen noch, jedes Wort zu erwägen, da von ihm Leben oder Tod abhängen können – „Dein Leben / Mensch / und Tod! haelt staets auf deiner Zungen.“ (LA I, 554) – so findet sich dies im Anschluss an die Urteilsverkündigung auf der Handlungsebene ausagiert. Michaels mangelnde Selbstbeherrschung, „daß ich offt ein Wort nicht haemmen kann“ (LA II, 134; Hervorhebung IvH) bzw. will, hat ihn erst in diese tödliche Situation gebracht, wie die vorangegangene Auseinandersetzung gezeigt hat. Nun erbittet er sich fast schon flehend in eindringlicher Wiederholung „Ach noch ein Wort. […] Ein Wort mein’ Fuerst; / Ein Wort!“ (LA II, 377–378) und wird dadurch das komplette Geschehen wenden. Michael ersucht den Kaiser um einen Aufschub seiner Hinrichtung, indem er ein weiteres Mal an dessen Mitgefühl appelliert: Michael bittet ihn darum, sich noch von seinen Kindern verabschieden zu dürfen. Der zweite Richter erkennt sofort, dass es sich dabei um einen perfiden Vorwand handelt: „Jn einem Augenblick schafft offt die Boßheit Raht.“ (LA II, 394) Denn dieser eine Augenblick eröffnet den Raum für das eine Wort, um das Michael noch kurz zuvor gebeten hatte. Diese Sentenz ist leitend für den weiteren Verlauf der Handlung, da sie vor ebenjenem plötzlichen Einfall von gar „zwey Wort“ (LA III, 361) in der dritten Abhandlung warnt, durch den Michael den Überfall auf den Kaiser vorbereiten und sich den Weg auf den Thron bahnen wird. All dies ist zurückzuführen auf die rhetorische Kunstfertigkeit der inventio als Auffinden (hier: Erfinden oder eben der Einfall) wahrer oder – und das ist hier entscheidend – wahrhaftiger Argumente. Michael stellt unter Beweis, dass Not erfinderisch macht und

2.3 Aus „ein Wort“ mach’ „zwey Wort“: Verdoppelung und die inventio des Bösen

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ebendiese Erfindung als inventio liefert die Vorlage für den verheerenden Einbruch des Bösen in die geordnete Welt, nämlich als Fürstenmord in der Palastkirche.58 Die Verdopplung seines einen Wortes in zwei Worte schafft diesen kontingenten Raum menschlichen (Sprach-)Handelns, in dem der Einfall des Bösen als Invention und als Intervention möglich wird. Leo gibt Michaels Gesuch statt. Der Kaiser verfügt, anstatt ihn umgehend zu exekutieren, ihn vorerst einkerkern zu lassen. Leo leistet sich damit einen Fehltritt, der ihn nunmehr zu Fall bringen wird. Gerade im Gegensatz zur hohlen Konstruktion Michaels, der die menschliche Hinfälligkeit als Mittel zur eigenen Schuldminderung missbraucht und damit profaniert, unterläuft Leo – angestoßen vom Wort des „falschen Zwey-zuengler[s]“ – hier ein fataler Fehltritt, dem Züge des adamitischen Lapsus eingeprägt sind. Leo, in seiner exemplarischen Position als Kaiser, ist derjenige, „der irrt und faellt“ (LA II, 179). Poetologisch ist dies als error tragicus einzustufen, der als barocke Auslegung der aristotelischen Hamartia an eine christliche Vorstellung von Schuld und Sünde rückgebunden ist und eine solche Verfehlung oder eben einen Fehltritt des tragischen Helden beschreibt.59 Vordergründiges Motiv für Leos Entscheidung ist es, der üblen Nachrede entgegenzuwirken (und damit auch dem potentiellen Aufruhr): „Dennoch / damit kein Mund mit Warheit sagen koenne: Als ob man dir aus Haß so kurtze Frist mißgoenne“ (LA II, 407–408) Er hat die Macht der Rede erkannt, stellt diese jedoch über seine eigene Verfügungsgewalt und zeigt sich dadurch als

58 Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 388 attestiert Michael für seine Verteidigungsrede rhetorisches Ungeschick und erratisches Verhalten, da er eben keine „bessere[n] Argumente als die bisherigen vorzubringen (inventio)“ scheine. Der Umstand, dass Michael gerade aufgrund einer Invention im letzten, entscheidenden Moment sein Urteil wenden wird, scheint Bach jedoch zu entgehen. 59 Diese Transferbewegung veranschaulicht die christliche Interpretation der aristotelischen Kategorien in den Poetiken des 17. Jahrhunderts. Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles, Horaz, „Longin“. Eine Einführung. 2. Aufl. Darmstadt 1992, S. 44 bestimmt die Hamartia als eine „Kategorie ‚fahrlässigen‘ Verhaltens“, in dessen Kontext „die ethisch-dianoetischen Handlungen des Helden und die von außen eindringenden Ereignisse“ in ein eigentümliches Wechselverhältnis treten: „Held und Handlungsgefüge sind an einer Stelle miteinander verknüpft, und zwar nicht durch eine schlechtweg dem Charakter entspringende Unzulänglichkeit, sondern durch ein untypisches Versagen in einer ungewöhnlichen Situation.“ Auch Leos Verhalten ist als eine solche Fahrlässigkeit einzustufen. Als dramatische Kategorie findet sich der error tragicus in Jacob Masens Palestra Eloquientiae Ligatae (1654–57) systematisiert. Sowohl Masens systematische Behandlung des error tragicus als auch Aristoteles’ Hamartia-Begriff werden später in Albrecht Christian Rotths Vollständige Deutsche Poetik in drey Theilen (1688) zu einem zentralen Gegenstand.

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schwacher Fürst, der seine eigene, rechtmäßige Souveränität nicht vollständig assumiert. Er selbst schafft damit gar eine „Blockade der Souveränität“60, da er verhindert, dass das Recht hier in Kraft treten kann. Zusätzlich ist sein Handeln höchst inkonsequent, denn während er die aufwiegelnde, üble Nachrede als mögliche Bedrohung seiner Souveränität anerkennt, scheint er geradezu die Schwere des bereits verurteilten crimen laesae maiestatis zu verkennen. Damit handelt Leo nicht zuletzt wider die von Lipsius proklamierte ure-seca-Formel, nach der im Ernstfall des politischen und religiösen Aufruhrs – crimen laesae maiestatis und crimen laesae maiestatis divina – Strafe vor Milde walten muss: „Clementiae non hic locus.,Ure, seca, ut membrorum potius aliquod, quam totum corpus intereat‘“61 In der medizinischen Körpermetaphorik, die Lipsius hier durch das Cicero-Zitat in Anschlag bringt, wird ebenfalls das Verbrennen bzw. Ausbrennen als notwendige Maßnahme angeführt. Genau diese angemessene Strafe des Verbrennens mindert Leo hier und gibt damit dem in diesem Kontext falschen Gut der Milde den Vorzug. Schließlich führt dann auch ein Fehltritt zum nächsten, sodass das Publikum mit einer unheilvollen Verkettung von tragischen errores konfrontiert wird.62 So appelliert auch Theodosia im Folgenden an Leos Milde und Pietät – die Heilige Nacht dürfe nicht durch Blutvergießen entweiht werden – und ersucht ihn um weiteren Aufschub.63 Seine Verfehlung findet sich hier ebenfalls

60 Armin Schäfer: Versuch über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel. In: Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte. Hg. von Maximilian Bergengruen, Ronald Borgards. Göttingen 2009, S. 387–431, hier S. 412–413. 61 Justus Lipsius: Politicorum sive civilis doctrinae libri sex, lib. IV, cap. 3, S. 185. Lipsius zitiert in dieser Passage Ciceros Philippica. 62 Jakob Masen: Palestra eloquentiae ligatae. Bd. 3. Köln 1657, S. 81 verhandelt eine solche „plurium errorum connexio“ im neunten Kapitel „De productione et implicatione reperti erroris“. 63 Dass es sich bei diesem Dialog um eine „Schlüsselszene für das gesamte Drama“ (Albrecht Koschorke: Leo Armneius. In: Gryphius-Handbuch, S. 185–202, hier S. 196) handelt, wurde in der Forschung immer wieder betont. Während Peter Rusterholz: Andreas Gryphius’ „Leo Armenius“. Ist christliche Politik möglich oder ein Widerspruch in sich selbst? In: Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1928–1992). Hg. von Mirosława Czarnecka. Wrocław 2003 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2504), S. 117–126, hier S. 120 in Theodosia eine christliche Politikerin erkennt, die als Gegenbild zu Michaels skrupelloser Machtpolitik fungiert, diskutiert Stefanie Arend: Rastlose Weltgestaltung. Senecaische Kulturkritik in den Tragödien Gryphius’ und Lohensteins. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 81), S. 255–257 umfassend, dass Theodosia eine Herrschaftsethik nach dem Ideal der senecaischen clementia vertritt, indem sie die Stufen der persuasiven Rede der Kaiserin analysiert.

2.3 Aus „ein Wort“ mach’ „zwey Wort“: Verdoppelung und die inventio des Bösen

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verdoppelt, da Leo nun zum zweiten Mal die Verzögerung der Hinrichtung beschließt.64 Von Nicander erfahren wir an späterer Stelle, dass Theodosia gar nicht die eigentliche Urheberin der Initiative zum Aufschub war, sondern dass sie wiederum selbst „durch die Lehren / Der Prister: die sie pflegt als Goetter anzuhoeren“ (LA III, 195–196) dazu bewegt wurde: „Ja die Princessin bat / ein ander trieb sie an!“ (LA III, 198) Er führt weiter aus, dass „die Schaar die dem Altar geschworen“ (LA II, 199) auch im politischen Bereich Einfluss nehme und darüber ihr geistliches Amt vernachlässige: „sie [die Schar] kuemmert sich umb Feld / Vmb Laeger / Reich’ und See: ja umb die grosse Welt; / Nur umb die Kirche nicht!“ (LA II, 201–203) Es zeigt sich, dass im Ringen um die Macht die Übel Lüge, Heuchelei und Doppelsinn nicht nur den Bereich der politica, sondern auch den der ecclesia durchwirken, womit die Ordnung ganz grundsätzlich gestört ist.65 Dass Leos Entscheidung zur Milde fahrlässig ist, liegt auch in dem spezifischen Tatbestand begründet, mit dem Leo durch Michaels crimen laesae maiestatis konfrontiert ist. Denn während die Majestätsbeleidigung durch einfache Untertanen dem Fürsten gemeinhin durchaus die Möglichkeit bot, seine landesväterliche clementia sowie seine magnanimitas unter Beweis zu stellen, ist der Hochverrat bei öffentlichen Personen (wie Michael als hochrangigem Militär) mit Strenge zu bestrafen, da deren ungeahndetes widerrechtliches Verhalten weitere Auswirkungen nach sich ziehen könnte und – im Falle Michaels – nach sich ziehen wird.66 Diese Verkettung der errores, oder eben der hamartia, die

64 Was den Kaiser jedoch letztlich genau zum Umschwung bringt, bleibt dem (Lese-)Publikum verborgen, wie bereits Kaiser: Leo Armenius, S. 27 herausgearbeitet hat: „Zur Hinrichtung entschlossen geht er ab; mit dem Befehl zum Aufschub erscheint er in der folgenden Szene wieder.“ Leos Entscheidungsfindung bleibt also eine Leerstelle zwischen den Szenen. Dieses Mittel des Wandels im Verborgenen setzt Gryphius zwischen der dritten und vierten Abhandlung noch einmal ein, wo Leo seine eigene Hinfälligkeit erkennen wird (siehe Kapitel 2.5). 65 Darin ist eine Anspielung auf die von Luther entwickelte Vorstellung von der „Unrechtsherrschaft der Papstkirche in weiten Bereichen des weltlichen, aber auch geistlichen Lebens“ (Johannes Klaus Kipf: Tyrann(ei). Der Weg eines politischen Diskurses in die deutsche Sprache und Literatur [14.–17. Jahrhundert]. In: Wort – Begriff – Diskurs. Deutscher Wortschatz und europäische Semantik. Hg. von Heidrun Kämper, Jörg Kilian. Bremen 2012 [Sprache – Politik – Gesellschaft 7], S. 31–48, hier S. 40) zu entdecken. Eine solche unterschwellige Polemik wird sich auch an späterer Stelle im Leo Armenius nachverfolgen lassen, da sich in der Teufelsbeschwörung eine subtile Kritik an Reliquienglauben und Sakramentaltheologie der katholischen Kirche aufdecken lässt (siehe Kapitel 2.4.2). 66 Zu dieser unterschiedlichen Strafvollstreckung bei „einfachen Untertanen“ und „öffentlichen Personen“ als Tätern des crimen laesae maiestatis, siehe Schnabel-Schüle: Majestätsverbrechen, S. 37–47.

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sich in der zweiten Abhandlung des Trauerspiels entwickelt findet, gestaltet als dramatische retardatio das sich ausdehnende politische Machtvakuum aus, das den Widersachern Leos weiteren Handlungsspielraum eröffnet. Durch den Fehltritt des Kaisers, der den Aufschub gewährt, wird der Einfall des Bösen – inventio und Intervention in der Kirche – erst möglich. So kann Michael Balbus in der ihm verbleibenden Zeit vom Kerker aus operieren. Er nutzt die Verzögerung und das entstandene Machtvakuum schafft – der zweite Richter wusste es genau – seiner Bosheit Rat: „Der unversehne Fall ermuntert meine Seel. / Vnd schlaegt mir Mittel vor!“ (LA III, 358–359) Aus dem einen Wort heraus, mit dem er sich den Aufschub bei Leo erbat, erfindet er nun „zwey Wort“ (LA III, 361), welche sowohl seine eigene Befreiung als auch die Hinrichtung des Kaisers herbeiführen sollen. So setzt Michael einen kurzen Brief auf, in dem er seinen Komplizen ein Ultimatum stellt: Entweder sie machen sich für den Angriff auf Leo bereit oder er selbst wird sie noch vor Sonnenaufgang verraten und sie werden mit ihm untergehen. Diesen Brief bedeckt er mit Wachs, denn „So kan es / der es traegt in seinen Mund verstecken.“ (LA III, 372) Mit ihrer Niederschrift ist die Botschaft verbrieft und fixiert und damit der Flüchtigkeit der mündlichen Rede entzogen. Als „falscher, böser Mensch“, der die Möglichkeiten rhetorischer Täuschung und sprachlicher Manipulation kennt und anzuwenden weiß, ist ihm auch die Gefahr der inhaltlichen Verfälschung durch die mündliche Weitergabe bewusst, die sich seiner eigenen Kontrolle entzieht. Durch das Wachs als einer Art Schutzfolie wird die Botschaft noch zusätzlich vor diesen eventuellen Angriffen der Mündlichkeit, die zu ihrer Auflösung (physisch durch den Speichel sowie im übertragenen bzw. übertragenden Sinne der verbalen Wiedergabe) führen könnten, bewahrt, sodass die Nachricht unverfälscht bei ihren Adressaten ankommt.67 Dem Träger wird hier eine tödliche Botschaft wort-wörtlich in den Mund gelegt. Mund und Worte werden zum unheilvollen Mittel eines bösen Zwecks und damit findet sich einmal mehr die übergeordnete Lehre des ersten Reyens beim Wort ge-

67 In einer der wenigen Analysen dieser Szene fragt auch Benthien: Barockes Schweigen, S. 400– 401: „Warum überbringt der Bote die zwei Zeilen nicht verbal? Geht es wirklich darum, die Nachricht durch Michaels Siegel (‚Pettschaft‘) zu authentifizieren? Artikuliert sich so ein zeitgenössisches Misstrauen gegenüber der mündlichen Rede, insofern sie unaufrichtig, täuschend und intrigant sein kann?“ Sie interpretiert die Szene als Abbildung eines „historischen Medienwechsel [s]“, in dessen Kontext „das Reden von Schriften durchdrungen ist, etwa den Lehrbüchern der Rhetorik, der Heiligen Schrift oder antiken Werken“. In diesem Zusammenhang verweist Benthien darauf, dass das in-den-Mund-Legen der tödlichen Botschaft auch die Bildlichkeit vom Verschlingen, von der Einverleibung der Heiligen Schrift als dem Wort Gottes aufruft.

2.4 Spektakel der Vermaledeiung: Die Teufelsbeschwörung

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nommen und vergegenständlicht: Leben oder Tod – Leos oder der Verschwörer – liegt auf der Zunge des Menschen, in diesem Fall des Boten. Um den Boten auf den Weg zu bringen, greift Michael einmal mehr zu einer Lüge: Unter dem Vorwand, die Beichte ablegen zu wollen, lässt er nach einem Priester schicken. In diesem Zuge soll es Michaels Boten ermöglicht werden, bei Öffnung der Tore aus dem Palast zu gelangen. Michael höhlt den Gnadenakt – d. h. sowohl den Aufschub durch Leo als auch die Beichte – aus und instrumentalisiert ihn für sein sinisteres Vorhaben. Er profaniert damit die Gnade und vergeht sich vor und in den Augen des von Gryphius intendierten protestantischen Publikums gegen das Kernstück der lutherischen Rechtfertigungslehre. Dadurch ist Michael restlos als böser Mensch zu identifizieren. Während heilstheologisch nämlich gerade durch die Gnade das Böse im Menschen überwunden werden soll, ebnet er durch die Aushöhlung des Gnadenaktes dem Bösen den Weg. Gleichzeitig vergeht er sich damit auch gegen den Nukleus der politischen Herrschaft, nach der er trachtet, denn auch sie stammt von Gottes Gnaden, dei gratia, sodass sich hier einmal mehr Michaels Selbstüberhebung und Selbstermächtigung demonstrieren, die der göttlichen Ordnung (und Gnade) trotzen. Indem Michael sich in seiner inventio von Argumenten und Strategemen profiliert, tritt seine Bosheit schließlich umso deutlicher hervor.

2.4 Spektakel der Vermaledeiung: Die Teufelsbeschwörung Während Michael Balbus noch gefangen im Kerker die „zwey Wort“ an seine Komplizen aussendet, wird zu Beginn der vierten Abhandlung auf einem abseitigen Schauplatz, weit entfernt vom höfischen Zentrum – der Schauplatz des Leo Armenius ist „vornaehmblich die Keyserliche Burg“68 –, von seinen Komplizen mithilfe eines Schwarzmagiers der sogenannte „Hoellische Geist“69 angerufen. Die Verschwörer werden hier zu Beschwörern. Die metaphysischen Kräfte des Bösen und deren Präsenz sind auf einen abseitigen Schauplatz, nämlich des „Jamblichus Hauß“ (LA IV, 24), ausgelagert. Dies lässt sich auch auf die Stellung dieser Episode in ihrem Verhältnis zum gesamten Trauerspieltext übertragen. Ähnlich einem Intermezzo scheinen die beiden Szenen, die die Beschwörung umfasst, eigenartig isoliert vom Gesamtverband des Textes zu ste-

68 LA, S. 15 (Inhalt). 69 LA, S. 79 (Bühnenanweisung).

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hen: Es wird weder davor noch danach ein Wort darüber verloren.70 Was hat es also mit dieser Sequenz auf sich? Stand in den ersten drei Abhandlungen der Konflikt zwischen Michael und Leo im Mittelpunkt, so widmet sich die vierte Abhandlung ausschließlich der Partei der Verschwörer. Dass die Beschwörung des Höllischen Geistes an ihrem Anfang steht, perspektiviert die Verschwörung gegen den Kaiser ganz entschieden als böses Werk. Jedes Mittel, sogar schwarze Magie, ist recht, um den Fürstensturz zu erwirken. Dass es sich beim Aufstand gegen die irdische Hoheit ebenfalls um einen Aufstand gegen die göttliche Hoheit handelt, wird hier verdeutlicht. In dieser Verknüpfung des Hochverrats als crimen laesae majestatis mit der Häresie als crimen laesae majestatis divinae greift Gryphius einen Topos der Hexenverfolgung auf.71 Entsprechend ist die Hexe, bzw. hier der Zauberer, der Inbegriff des Insurgenten. Da die Verschwörer mit der schwarzen Magie im Bunde stehen, wird ihr Verbrechen auf eine Stufe mit dem des Zauberers gestellt. Die Beschwörung bedeutet damit nicht nur eine Verlängerung der politischen Verschwörung ins Metaphysische, sondern veranschaulicht, dass es sich beim Fürstensturz zweifellos um ein Verbrechen gegen Gott handelt. Nicht zuletzt demonstriert sich hier die eskalative Logik des Bösen, da sich auf das Verbrechen der Verschwörung und der Rebellion nun das der Schwarzkunst häuft.

2.4.1 An der Schwelle zur „Werckstatt toller Luegen“ Der eigentlichen Beschwörungsszene ist ein Dialog zwischen zwei Verschwörern vorgelagert. Sie befinden sich auf dem Weg zu Jamblichus’ Haus. Das Böse kommt auch hier als Transgression, als eine Übertretung und Grenzverletzung, zum Ausdruck, die sich mit der Annäherung an die Wohnstatt des Magiers performativ Schritt für Schritt vorbereitet und schließlich mit dem Eintritt in den

70 Dies lässt sich auch auf die Forschung zum Leo Armenius übertragen, die weitestgehend zu dieser Episode schweigt, bzw. sie nur am Rande erwähnt. Allein die Aussage des Höllengeistes „dir wird / was Leo traegt“ (LA IV, 138) wird wiederholt als repräsentatives Zitat bzgl. der im Leo Armenius zentralen Ambivalenz herangezogen (so z. B. bei Solbach: Politische Theologie und Rhetorik, S. 423). Meiner Kenntnis nach hat sich bisher nur Maximilian Bergengruen: „Betriegliche Apparentzen“. Techniken der Imaginationssteuerung in Andreas Gryphius’ „Leo Armenius“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 89 (2015), S. 182–196 dieser Szene ausgiebiger gewidmet und rückt dabei ihre technische Umsetzung in den Fokus seiner Analyse. 71 Vgl. dazu Sarah Colvin: Daniel Casper von Lohenstein and the Notion of Witchcraft. In: Daphnis 28 (1999), S. 265–286, hier S. 278, die diesen Konnex für ihre Analyse von Lohensteins Trauerspielen erarbeitet.

2.4 Spektakel der Vermaledeiung: Die Teufelsbeschwörung

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Raum der Schwarzmagie als Dunkelzone endgültig vollzieht. „Der II. und III. Zusammen-geschworne“72 stehen dabei in ihrer Namenlosigkeit stellvertretend für die gesamte Gruppe der Verschwörer. Der zweite will hier den dritten Verschwörer von der Konsultation des Zauberers und des Dämons abhalten. Der dritte Verschwörer aber weiß: „Diß Spill geht so verkehrt / Daß uns kein rechter Weg mehr wird zu Ende fuehren.“ (LA IV, 7) Dass die Schwarzmagie „kein rechter Weg“ ist, ist ihm also durchaus bewusst. Aufgrund der scheinbaren Ausweglosigkeit der Situation jedoch – schließlich ist mit Michaels Einkerkerung das verschwörerische Unternehmen vorübergehend stagniert – ist er wissentlich und willentlich bereit, diesen unlauteren Weg zu beschreiten. Sein Gefährte gibt zu bedenken, dass der Ratschlag des bösen Geistes sich nur fatal auf den Fragenden auswirken könne. Er verweist dabei auf den grundsätzlich widrigen – „wider Ehr’ und Recht“ (LA IV, 2) – und lästerlichen Charakter des Zauberwerks, das „Gott und Mensch verflucht“ (LA IV, 1). Er nennt das Haus des Zauberers „Die Werckstatt toller Luegen“ (LA IV, 24) und zeigt damit an, dass hier Teufelswerk hergestellt wird. Während der Teufel mythologisch der Vater der Lügen ist,73 nimmt der Zauberer hier die Position des fabricator mali, des „Luegenschmid[s]“ ein. Als solcher hatte sich in den drei ersten Abhandlungen des Leo Armenius ja bereits Michael Balbus hervorgetan, sodass er und der Zauberer dasselbe böse Handwerk beherrschen. Auch hier zeigt sich also, dass Verschwörung und Beschwörung in einem Analogieverhältnis stehen. Das Böse als Lüge ist hier jedoch nicht nur ein Mangel an Wahrheit, sondern auch an Wirklichkeit. Es ist damit nichtig, was wiederum ontologisch auf die ‚wesentliche‘ Bestimmung des Bösen als privatio boni schließen lässt. Die infernalischen Prophezeiungen eines bösen Geistes seien immer solche, „[d]ie den / die jenen Sinn / nach jedes Kopff empfangen“ (LA IV, 12). Sie sind also per se ambivalent. Nicht nur ist die Befragung des bösen Geistes demnach ein ohnehin zweifelhaftes und unheilvolles Unterfangen, auch wird sich hier voraussichtlich nicht einmal der eigentliche Zweck erfüllen. Denn ob das Verdikt des bösen Geistes tatsächlich zur Wahrsagung gereicht, steht ganz grundsätzlich in Frage. Die Absicht, einen solchen „Betrueger“ (LA IV, 3) – es ist hier erst einmal nicht ersichtlich, ob mit dieser Bezeichnung der Geist oder der Zauberer gemeint ist – darum zu bitten, die Wahrheit zu sprechen, erscheint

72 LA, S. 79 (Personenverzeichnis). 73 Vgl. Joh. 8,44: „JR seid von dem Vater dem Teufel / vnd nach ewers Vaters lust wolt jr thun. Derselbige ist ein Mörder von anfang / vnd ist nicht bestanden in der Warheit / Denn die warheit ist nicht in jm. Wenn er die Lügen redet / so redet er von seinem eigen / Denn er ist ein Lügener vnd ein Vater derselbigen.“

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äußerst heikel und geradezu paradox.74 Damit ist nicht zuletzt eine gängige moralisierende Interpretation des Teufelspakts aufgerufen (gemeinhin gründen alle Bemühungen der schwarzen Magie auf einem Pakt mit dem Teufel oder einem Dämon), wie sie u. a. die populäre Historia von D. Johann Fausten (1587) erzählt: Im Austausch für das Seelenheil des Menschen bietet ein Teufel eine besondere Leistung an. Doch diese erbringt er nie wirklich, sondern bedient sich lediglich falscher Vorspiegelungen, und der Mensch ist immer schon betrogen. Der Verschwörer, der Rat beim Schwarzkünstler sucht, repräsentiert den Prototyp des schlechten, schwachen, wankenden Menschen, der sich in einer Zeit der politischen Verwirrungen – „Diß Spill geht so verkehrt“ – und der Ungewissheit den Mächten des Bösen zuwendet. So erklärt er: „Jch kan nicht zwischen Furcht und Zweyfel laenger stehn.“ (LA IV, 21, Hervorhebung IvH) Mit dieser Aussage konterkariert er das Ideal der constantia. Es wird an ihm ein anti-exemplum statuiert, welches das Ideal der Beständigkeit konterkariert, in Zeiten der Sorge und des Leidens – gerade im Leiden bewährt sich wiederum die christliche Demut – seine Kraft aus dem Glauben an Gott und dessen Heilsversprechen zu schöpfen. Für den Verschwörer ist dabei gesetzt, dass er den Angriff auf den Kaiser wagen will. Erfahren will er vom Höllischen Geist lediglich, ob der Anschlag von Erfolg gekrönt sein wird.75 Vordergründig wird hier die heikle curiositas des Verschwörers, die einen Topos zeitgenössischer Teufelsbündner-Erzählungen darstellt und dabei von der Ausrichtung des Verschwörers auf das Diesseits zeugt, nämlich auf seinen „Stand und Gut / und Leben“ (LA IV, V. 8).76 Mittels Zukunftsschau will sich der Verschwörer ein Wissen aneignen, das dem Menschen nicht zusteht, und widersetzt sich mit seiner curiositas dem verborgenen Wirken der göttlichen providentia. Genau davor will ihn der zweite

74 Diese Paradoxalität thematisiert auch Bergengruen: Betriegliche Apparentzen, S. 183. 75 Vgl. LA III, V. 15–18: „Hab ich den Halß verschertz’t / so darff ich mich entschlissen; / Den vorgesetzten Tod durch Rache zu versuessen. / Faellt denn der Außspruch gut: so bleib ich unverzagt / Weil man sich nicht umbsonst in solchen Anschlag wagt.“ 76 So bemerkt Jochen Schmidt: Die Opposition von contemplatio und curiositas. Ein unbekanntes Denkmuster, seine Tradition und seine poetische Gestaltung durch Andreas Gryphius im Sonett „An die Sternen“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 77 (2003), S. 61–76, hier S. 65:,,Die Neugier, die den Sinn des Menschen nach außen, auf die Welt richtet, zieht ihn von Gott und von seinem Seelenheil ab, das den Blick nach Innen fordert.“ Zur curiositas in zeitgenössischen Faust-Erzählungen, dazu siehe einführend Hans Joachim Kreutzer: Nachwort. In: Anonymus: Historia des D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Kritische Ausgabe. Hg. von Stephan Füssel, Hans Joachim Kreutzer. Ergänzte und bibliographisch aktualisierte Ausg. Stuttgart 2006, S. 330–348.

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Verschwörer bewahren, wenn er seine Argumentation mit den Worten schließt: „Vil besser sonder Schuld / dafern es fehlt: gestorben / Vnd sonder Schuld / den Sig / dafern es glueckt / erworben.“ (LA IV, 19–20; Hervorhebung IvH) Doch so betont unschuldig wird keiner der Verschwörer aus Fürstensturz und -mord hervorgehen, die in sich ja ohnehin ein Verbrechen gegen die göttliche Ordnung darstellen. Überhaupt fällt die Doppelmoral des zweiten Verschwörers ins Auge. Eine Art unlautere Zukunftsschau hatte nämlich auch er bereits betrieben, wenn auch ohne diabolische Beihilfe.77 Er war es, der gleich zu Beginn des Dramas seinen Komplizen in einer geheimen Zusammenkunft von dem sibyllinischen Buch berichtete, in dem die vergangene und zukünftige Geschichte des byzantinischen Reichs abgebildet sei. Wie die Analyse des „Ebenbild des Loeuen“ gezeigt hat, trifft die Aussage über die Weissagung des Höllischen Geistes „jenen Sinn / nach jedes Kopff [zu] empfangen“ ebenso auf seine Interpretation des Löwenemblems zu, das ebenfalls abhängig vom Deutungswillen konkurrierende Auslegungen zulässt. Während er seinen Mitverschwörer also dem Dritten Buch Mose entsprechend davon abhalten will, sich „den Warsagern vnd Zeichendeuter [n]“78 zuzuwenden, so scheint er zu ignorieren, dass er selbst sich mit seiner Auslegung des Löwenemblems als solch ein Zeichendeuter profiliert hat. Allein die Neugier als prinzipieller Wille zur Zukunftsschau ist verwerflich und so ist auch das verschwörerische Unternehmen von Beginn an als eines ausgewiesen, das die göttliche Ordnung herausfordert und übertreten will. Und in ebendiesem Moment der Transgression manifestiert sich das Böse. Die curiositas, als der Versuch in den Bereich des Göttlichen vorzudringen, ist geradezu sympomatisch für ihre superbia.79 Die Transgression ist es auch, die nun im Vorfeld der Teufelsbeschwörung zwischen den beiden Verschwörern sowohl inhaltlich als auch performativ verhandelt wird. An dieser Stelle – oder eher Schwelle – im Text, am Übergang von der ersten in die zweite Szene der vierten Abhandlung, die zugleich den Eintritt in die Hütte des Zauberers markiert, wird auch der Name des Zauberers zum ersten Mal genannt: „Diß ist Jamblichus Hauß.“ (LA IV, 24) Der historische Iamblichos von Chalkis, der für Gryphius’ Zauberer Namenspate stand, war ein antiker Philosoph und Schüler des Porphyrios, welcher seinerzeit mit einer bi-

77 Auch Kemper: Die Macht der Zunge, S. 55 macht darauf aufmerksam, dass sich die Verschwörer sowohl der magia naturalis als auch der magia daemoniaca bedienen, interpretiert sie jedoch als „Gegen-Gewichte[]“, mit denen Gryphius „‚Theater‘ […] spiele“. 78 „WEnn eine Seele sich zu den Warsagern vnd Zeichendeuter wenden wird / das sie jnen nachhuret / So wil ich mein Andlitz wider dieselben Seele setzen / vnd wil sie aus jrem Volck rotten.“ (Lev 20,6). 79 Ausgehend von der patristischen Tradition findet sich dieser Konnex von curiositas und superbia rekonstruiert bei Schmidt: Die Opposition von contemplatio und curiositas.

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belkritischen Polemik gegen die zentralen christlichen Glaubensgrundsätze von der göttlichen Schöpfung und Christus als Gottessohn anging.80 Allein mit dieser spezifischen Namensgebung bzw. dem Bedeutungshorizont, der dadurch aufgerufen wird, verschärft Gryphius die Position seines Magiers: Er ist ausgewiesen als Feind der göttlichen Offenbarung. Außerdem verortet Gryphius den Zauberer (und seinen Zauber) durch die Namensgebung in der Antike. Gryphius rezipiert dadurch nicht zuletzt die gängige Wiederbelebung des antiken Wissens für den magischen Diskurs in der Frühen Neuzeit, wo gerade der historische Iamblichos als Advokat der Magie galt.81 Bei Gryphius wird dieses zeitgenössische Bild des historischen Iamblichos verkürzt: Von jemandem, der als Philosoph über Magie schreibt, wird er zu jemandem, der Magie betreibt. Durch die Antikisierung wird indes ein weiterer Sicherheitsabstand zur magischen Handlung hergestellt. Sie wird alteriert, d. h. auf der zeitlich-historischen und der räumlichen (da sie sich weit ab vom höfischen Zentrum vollzieht) Achse aus dem Eigenen ausgelagert. Schließlich ist der Magier ohnehin „immer der Andere“82. Diese Alterisierung des Magiers sowie der Magie kommt gar in den zwei Szenen der Zauberhandlung explizit zum Ausdruck, da das Zauberwerk wiederholt als „fremd“ ausgewiesen wird. Sowohl der Verschwörer bezeichnet die Magie als „frembde Mittel“ (LA IV, 9) als auch Jamblichus selbst, da er „die verborgne Krafft der frembden Wort und Zeichen“ (LA IV, 125) anruft. Ergänzt wird dies durch eine ganz Reihe sowohl historisch als auch kulturell ‚fremder‘ Gestal-

80 Vgl. Mannack: Kommentar Leo Armenius, S. 909–910. 81 Vgl. Bernd-Christian Otto: Magie. Rezeptions- und diskursgeschichtliche Analysen von der Antike bis zur Neuzeit. Berlin 2011 (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 57), S. 417–420. Es liegt nahe, Gryphius’ Jamblichus auf den Sapor admonitus des französischen Jesuitendramatikers Louis Cellot (Cellotius) zurückzuführen. In Cellots Magierszene, die wohlgemerkt die dreizehnte Szene des vierten Aktes ist, werden in den Marginalien unterschiedliche antike Quellen angegeben, denen die einzelnen Elemente der magischen Praxis entnommen sind. Dort beginnt der Magier seine Beschwörung mit der asyndetischen Aufzählung fremder Götternamen und die betreffende Marginalie weist dies als gängige Praxis aus, die so nämlich bei „Iamblich I. Myste. C. Porphyrius quaerit“ verzeichnet sei. Es ist davon auszugehen, dass Gryphius seinen Zauberer (auch) aufgrund dieser Stelle bei Cellot Jamblichus genannt hat. Die Schrift, die Cellot hier anführt, ist Jamblichs De Mysteriis, die als Replik auf die Epistula ad Anebo des Porphyrios konzipiert ist („Porphyrius quaerit“). Zu den Implikationen des dort von Iamblichos verhandelten Magiebegriffs vgl. wiederum Otto: Magie, S. 356–361. Zu Cellots Tragödie als Vorbild für den Leo Armenius wird im weiteren Verlauf detaillierter eingegangen. – Die Wiederentdeckung der spätantiken Magiertexte wird durch die italienische Renaissance, allen voran Giovanni Pico della Mirandola, vorangetrieben. Für den deutschsprachigen Raum sei Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim angeführt. 82 Dies konstatiert Otto ebd., S. 361 für die Rezeption des Magierbildes bei Jamblichus, der darin nicht zuletzt die Polemik des Augustinus aufnehme.

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ten, auf die sich der Magier beruft.83 Mit diesem Kunstgriff schafft Gryphius Distanz zur Zauberhandlung, was er noch zusätzlich in den Anmerkungen expliziert. So ordnet er an gegebener Stelle die schwarzmagische Praxis des Menschenopfers „vor Zeiten“84 ein, also in die Vergangenheit, und kennzeichnet sie als archaisch. In diesem Zuge verweist er dann auch auf seinen eigenen Beitrag zur Magie-Diskussion: „was von derogleichen Erscheinungen und Weissagungen zu halten / haben sich vil zu erklaeren bemuehet: Vnsere Meynung fuehren wir weitlaeufftiger aus in unserm Bedencken von den Geistern: welche wir mit ehestem / da GOtt wil / hervor zu geben gesonnen.“85 Gryphius weiß, dass er sich hier metaphysisch auf unsicheres Terrain begibt, indem er eine Teufelsbeschwörung – „derogleichen Erscheinung und Weissagung“ – auf die Bühne bringt. Schließlich macht er keinen Unterschied zwischen den unterschiedlichen Formen der Magie, sei es nun magia naturalis (sibyllinisches Buch) oder magia daemoniaca (Teufelsbeschwörung). Beide sind darauf ausgerichtet, ein verborgenes und damit verbotenes providentielles Wissen zu akquirieren, das sich jedoch dem menschlichen Wissen-Können aufgrund seiner Mehrdeutigkeit entzieht. Der Szene der Teufelsbeschwörung ist, wie jeder anderen Szene auch, ein Register der im Folgenden auftretenden dramatis personae vorangestellt. Als Paratext bildet das Figurenverzeichnis hier eine ganz eigene Schwelle, sowohl zur folgenden Szene als auch zum Haus des Zauberers und damit zur Geisterbeschwörung. An dieser Stelle findet sich – im Schriftbild bedeutungsschwer durch eine Virgel abgetrennt vom restlichen Personal – „/ der Höllische Geist“ angekündigt. Die Bezeichnung „Höllische[r] Geist“ steht gemeinhin für den Teufel, denkt man u. a. an Paracelsus’ Spiritus-Lehre, in der der spiritus infernalis eine eigene Gattung bildet.86 Die Wesenheit als Geist verweist dabei zum einen gezielt auf die teuflischen Wirkweisen der Vorspiegelung und Täuschung. Zum anderen ist damit die Qualität des Geistes als einem Botenwesen zwischen Diesseits und Jenseits, hier zwischen der Welt und der Hölle, aufgerufen. Schließlich scheint im Höllischen Geist eine verkehrte, eine pervertierte Variante des Heiligen Geistes auf. Beim Pfingstereignis, gemäß dem zweiten Teil der biblischen Apostelgeschichte (Apg 2), hatte der Heilige Geist die Apostel und ihre Hörer gleichermaßen erfüllt und durch Xenoglossie Einverständnis geschaffen, um auf

83 Vgl. LA IV, 75–83. 84 LA Anm. Gryphius, S. 115, V. 13. 85 Ebd., V. 14–18. Gryphius’ Abhandlung De Spectris, auf die er sich hier bezieht, gilt jedoch als verschollen. 86 Vgl. dazu Wolfgang Neuber: Die Theologie der Geister in der Frühen Neuzeit. In: Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien. Hg. von Moritz Baßler, Bettina Gruber, Martina Wagner-Engelhaaf. Würzburg 2005, S. 25–37, hier S. 29.

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diese Weise die Botschaft Christi verkünden zu lassen. Es liegt nah, dass in Gryphius’ Konzeption des Höllischen Geists als Gegenbild zum Heiligen Geist sowohl theologische als auch sprachphilosophische Implikationen eine Rolle spielen.87 Schließlich ist Gryphius’ Höllischer Geist als Geist der ambivalenten Botschaft entwickelt, dem sein eigener Ruf vorauseilt, wie der vorangegangene Dialog der zwei Verschwörer abgesteckt hat. Gryphius’ Höllischer Geist verspricht, Doppelsinn und Zwietracht zu bringen, womit der Heilige Geist des Pfingstwunders ins Negative verkehrt ist. Als der Verschwörer an der Türschwelle von „Jamblichus Hauß“ erscheint, fragt der Magier drei Mal, wer dort sei, und bereitet auf geradezu rituelle Weise den Übergang des Verschwörers in die Zone des Bösen vor. Die Schwelle markiert diese irreversible Transgression, die in sich selbst bereits rituell geordnet ist und somit die Beschwörung als magischen Ritus antizipiert.88 Auch wird hier die Geisterstunde aufgerufen – „Ey wie so spaeth! es ist fern ueber Mitternacht?“ (LA IV, 26) –, die selbst eine Zwischenzeit oder Gegenzeit darstellt. Sie folgt nicht der gottgewollten Ordnung der Welt, sondern einer eigenen, gegenläufigen Organisation: „In ihr regiert der Böse“89.

87 Pfingsten hat in figuraler Deutung seine Vorgeschichte im Turmbau zu Babel. Die böse Tat der Babylonier bestand gerade in ihrer Selbstbegründung und ihrem Hochmut, da sie mit ihrem Turm Gott gleichkommen wollten. Luther sieht in der Zerteilung der Sprachen die Ursache aller Übel, da die Verwirrung für Uneinigkeit und Unordnung sorgt. Sie ist damit Teil des Sündenfalls des Menschen. Schließlich wird die Sprachverwirrung von Luther auf die Ausgießung des Heiligen Geistes bezogen, so sowohl in seiner Genesis-Vorlesung als auch in seiner Auslegung der Pfingstgeschichte. Die (vorübergehende) Eintracht ist das Werk des Geistes und diese ist an Jesus Christus gebunden. Der Glaube an den Mediator Christus und sein Wort helfen, dort Einigkeit zu schaffen, wo Diskordanz herrscht. Zu diesem figuralen Bezug der babylonischen Sprachverwirrung auf das Pfingstwunder bei Luther, siehe Albrecht Beutel: In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis. Tübingen 1991 (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 27), bes. S. 178–180, 401–403. Steiger: Poetische Christologie, S. 87 geht davon aus, dass „die poetische Umsetzung des dritten Glaubensartikels und insbesondere dessen Forcierung bei Gryphius auch verstanden werden müssen als eine Reaktion auf den in Polen florierenden Sozinianismus und dessen Leugnung der Trinitätslehre“. Die Referenz auf den Heiligen Geist hätte damit auch kontroverstheologische Implikationen.. 88 Zur Schwelle als Raum des Liminalen, als Transitorium, Grenzraum und Intermediäres, das nicht der Ordnung dieser Welt folgt, sondern eine eigene geheime Organisation darstellt sowie zur Passage dieses Schwellenraums, siehe Victor Turner: Das Liminale und das Liminoide in Spiel, „Fluß“ und Ritual. Ein Essay zur vergleichenden Symbologie. In: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Aus dem Englischen von Sylvia SchomburgScherff. Mit einer aktuellen Einleitung von Erika Fischer-Lichte. Frankfurt am Main 2009, S. 28–94, bes. S. 34–40. 89 Art. Geisterstunde, -zeit. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. von Eduard Hoffmann-Krayer und Hanns Bächtold-Stäubli. Unveränderter photomechanischer Nach-

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2.4.2 „Etliche frembde Zeichen“: Das Theater der Schwarzkunst Die Anrufung des Höllischen Geistes ist die wohl bühnenwirksamste Szene des gesamten Dramas. Es werden alle effektvollen Theaterregister gezogen, von der Teufelsbeschwörung durch einen umfassenden Zauberspruch über das von Spezialeffekten begleitete Erscheinen des Dämons bis hin zur Verkündung seiner zweifelhaften Botschaft. Damit orientiert sich Gryphius deutlich an der Tradition des neulateinischen Jesuitentheaters, dessen Ziel es war, ein multimediales Theaterereignis zu erschaffen.90 Durch das Erscheinen von Engeln, Teufeln, Geistern und Dämonen sowie allegorischen Darstellungen von Tugenden und Lastern, die wiederum auf die Tradition der Moralitäten und der Jedermann-Spiele zurückzuführen sind, sollen die Affekte erregt werden, wobei das jesuitische Theater einer strengen christlichen Moraldidaxe verpflichtet ist. Hier sind die Grenzen des Schauplatzes zum Metaphysischen nach unten und oben hin offen und durchlässig, d. h. das Eintreten der Repräsentanten aus Himmel und Hölle in das Bühnengeschehen ist jederzeit möglich, weil sich das weltimmanente Geschehen in jedem Moment in Heilsgeschichte transformieren kann.91 Das schlesische Schultheater hingegen unterscheidet sich in diesem Aspekt deutlich von der jesuitischen Tradition: Die Handlung ist hier den menschlichen Protagonisten vorbehalten, die Allegorien beschränken sich auf die Reyen. Dies betrifft vor allem den Teufel und seine Verbündeten: Sie, die im Jesuitentheater noch fest zum dramatischen Figureninventar gehören, werden im protestantischen Drama durch den lasterhaften, ja bösen Menschen verdrängt.92 Auch wenn der Leo Armenius erst den Anfang dieser Tradition markiert, so stellt sich doch vor diesem

druck der Ausg. 1930/1931. Bd. 3. Berlin 2011, Sp. 555–556, hier Sp. 555. Im Folgenden wird diese Ausgabe mit der Sigle HdA unter Angabe der Band- und Spaltenzahl zitiert. 90 Vgl. Fidel Rädle: Jesuit Theatre in Germany, Austria and Switzerland. In: Neo-Latin Drama and Theater in Early Modern Europe. Hg. von Jan Bloemendal, Howard Norland. Leiden 2013 (Drama and Theatre in Early Modern Europe 3), S. 185–292, hier S. 185. Da gerade der Aufführungsmoment für dieses Genre zentral ist, titelt Rädle „Jesuitentheater“ und nicht „Jesuitendrama“ (ebd.). Grundlegend sei hier auch verwiesen auf Ruprecht Wimmer: Jesuitentheater. Didaktik und Fest. Das Exemplum des ägyptischen Joseph auf den deutschen Bühnen der Gesellschaft Jesu. Frankfurt am Main 1982 (Das Abendland 13), bes. S. 12–22. sowie Jean-Marie Valentin: Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande (1554–1680). Salut des âmes et ordre des cités. Bern 1978 (Publications universitaires européennes 255). Speziell zu Gryphius und dem Jesuitentheater: Andreas Harring: Andreas Gryphius und das Drama der Jesuiten. Unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. Halle a.d.S. 1907. Walluf 1972. 91 Vgl. dazu Alewyn: Das große Welttheater, S. 55. 92 Siehe dazu auch Alt: Begriffsbilder, S. 242, der dem schlesischen Kunstdrama „subtilere Personifizierungen verwerflicher Affekte, des Lasters und der Schuld“ attestiert.

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Hintergrund die Frage, welche Funktion der Höllische Geist innehat, der hier auf der Ebene der Abhandlung auftritt und zur Sprache kommt. Gryphius’ Erstlingswerk weist strukturelle und inhaltliche Gemeinsamkeiten mit dem Leo Armenius Seu Impietas Punita (1645 verfasst, 1656 erstmals gedruckt) des englischen Jesuiten Joseph Simon auf, bildet in der Interpretation des historischen Geschehens jedoch einen Gegenentwurf zu Simons Text, der die Seite der Insurgenten favorisiert. Dieses Anschreiben gegen die Vorlage hat durchaus konfessionelle und damit zusammenhängende politische Implikationen, in deren Zentrum die Rechtfertigung des Tyrannenmordes steht.93 Doch auch poetologisch bildet Simons Drama einen Referenzrahmen für Gryphius’ Trauerspiel, an dem es sich unter der Fragestellung abarbeitet, wie das jesuitische Drama und seine Theatermaschinerie für den protestantischen Zweck umfunktioniert werden kann.94 Dies ist ebenfalls spezifisch für die Szene der Teufelsbeschwörung nachweisbar, in der Gryphius Elemente aus einem anderen jesuitischen Drama inkorporiert, nämlich Louis Cellots Sapor admonitus (1630).95 Dieser stellt eine Tragödie der Irrungen und

93 Zu den Parallelen zu Simons Drama siehe Mannack: Kommentar Leo Armenius, S. 881–882. Es kann nur spekuliert werden, ob Gryphius einer Aufführung in Rom beigewohnt hat oder ob er zumindest Zugriff auf eine Perioche der Inszenierung hatte. Zu Gryphius’ Leo-Drama als Gegenentwurf zu Simons Text vor dem Hintergrund protestantischer und jesuitischer Tendenzen, siehe Kaiser: Leo Armenius, S. 5–8. Während Gryphius den Tyrannenmord entschieden ablehne, sei Simon in einer jesuitischen Linie zu verorten, die „am Anfang des Jahrhunderts zu einer Rechtfertigung des Tyrannenmordes aus theokratischen Gedankengängen von der Suprematie der kirchlichen Autorität neigte[]“. Koschorke: Leo Armenius, S. 186 fasst in diesem Sinne zusammen: „Neben der politisch-rechtlichen Dimension, die vor allem die im Zeitalter des Absolutismus heftig umstrittene Frage nach der Legitimität des Tyrannenmordes betrifft, verleihen also auch die konfessionellen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts dem Stoff des Dramas Aktualität und Brisanz.” 94 Vgl. dazu auch Mannack: Der Dramatiker Andreas Gryphius. In: Gryphius: Dramen, S. 853–871, hier S. 857. 95 Ludovicus Cellotius: Sapor admonitus. In: Opera poetica. Augsburg 1630, S. 108–237. Von Mannack: Kommentar Leo Armenius, S. 888 wird außerdem auf Senecas Medea als literarischem Prototext zur Magierezeption sowie auf Vondels Gysbrecht van Amestel (1637) und Jakob Bidermanns Belisarius (1607) als möglichen Prätexten hingewiesen. Unlängst argumentierte Bergengruen: Betriegliche Apparentzen, S. 184, dass Gryphius für die Szene, wenn überhaupt ein Vorbild ausgemacht werden könne, auf Simons Zeno von 1648 zurückgreift. Jedoch ist diese Annahme fragwürdig, da Gryphius’ Arbeit am Leo Armenius der Widmung an seinen Reisebegleiter Wilhelm Schlegel entsprechend vor dem 31. Oktober 1646 stattgefunden hat, siehe dazu Mannack: Kommentar Leo Armenius, S. 881. Neben den literarischen Vorgängern, die die Szene rezipiert, hat Mannack auch auf die Ausführungen im 41. Diskurs „Von Zauberern, Beschwerern, Hexenmeistern und Hexern“ aus Tommaso Garzonis Piazza Universale (1585, erste deutsche Übersetzung 1619) verwiesen. Der Gehalt der Szene ist damit nicht nur an eine literarische Tradition angeschlossen, sondern speist sich auch aus einem enzyklopädischen Wissenssystem über Magie, das einen wichtigen Bezugspunkt für die Autoren des 17. Jahrhunderts bildete. Gerade die frühneuzeitliche

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Verwechslungen um den persischen Herrscher Sapor und dessen Sohn infolge eines erfolgreichen Eroberungsfeldzuges in Ägypten vor. Als die Verwirrungen für den Thronfolger im vierten Akt unüberschaubar zu werden drohen, sucht dieser einen Zauberer auf, der ihm durch die Befragung eines Geisterorakels Klärung verschaffen soll. Gryphius übernimmt aus dieser Szene bei Cellot, neben der gewünschten Klarheit als Movens des Klienten, die strukturelle Anlage: Beide Zauberszenen lassen sich jeweils grob einteilen in die Unterredung zwischen Magier und Fragendem, Beschwörung des Geistes, Auftritt des Geistes und Verkündigung der Botschaft. Abgeschlossen wird mit der Erläuterung zum zweifelhaften Sinngehalt des Orakels durch den Zauberer.96 Gryphius ahmt auch hier das jesuitische Drama nach und arbeitet sich auf diese Weise an seinem Vorbild ab, um mit seiner eigenen Dichtung auf die jesuitische Tradition zu reflektieren und sich schließlich von ihr abzuheben. Dies gilt vor allem für die Darstellung des Bösen selbst: Zwar wird es in so zu nennender jesuitischer Manier in der dämonischen Gestalt des Höllischen Geistes auf dem Schauplatz präsent, jedoch wird es, wie die noch zu leistende Analyse zeigen wird, anschließend von der Bosheit des Menschen selbst überboten. Auch im Anschluss an den willentlichen und wissentlichen Schritt des zweiten Verschwörers in die Sphäre des Bösen, der hier eben nicht metaphorisch bleibt, sondern in der Handlung ausagiert wurde, stehen die performativen Aspekte der magischen Handlung weiter im Vordergrund. Dadurch werden sowohl die überaus bühnenwirksame Szene bei Cellot als auch Grundmotive der magischen Literatur rezipiert.97 Nachdem der Zauberer den Verschwörer auf Position gebracht hat, legt Jamblichus sich sein schwarzmagisches Arsenal bereit. In ihrer Qualität gehorchen die Utensilien einer Logik der Verkehrung und Profanierung. So gehören zum obligatorischen Inventar neben allerlei Kräutern, die bei Nacht und eben nicht bei Tag geerntet wurden,98 u. a. „ein Tuch mit Schweiß / Der Sterbenden genetzt“ (LA IV,

Enzyklopädiekultur nämlich fungierte als Multiplikator für die so zu nennende Renaissance des Magiediskurses. 96 Einen detaillierten Vergleich der beiden Szenen liefert Harring: Gryphius und das Drama der Jesuiten, S. 42–48. Dem sei hinzugefügt, dass das doppeldeutige Orakel einen Topos bedient, der neben dem Leo Armenius und dem Sapor admonitus u. a. auch in Pieter Corneliszoon Hoofts Geeraerd van Veelzen (1613) zu finden ist. 97 Das Schweigegebot (LA IV, 36), der entblößte linke Fuß des Fragenden (LA IV, 38) sowie der Zirkel, in den der Verschwörer treten soll (LA IV, 37), finden sich so auch Magierszene im Sapor admnitus (vgl. dort S. 194–198). Die durchweg antiken Quellen der magischen Literatur, der diese Details entnommen sind (darunter, wie oben angeführt, auch Iamblichos), sind bei Cellot in den parallel zum Haupttext arrangierten Marginalien verbürgt, um sich vom möglichen Vorwurf freizusprechen, hier ein Wissen aus erster Hand zu präsentieren. 98 Vgl. dazu Colvin: Lohenstein and the Notion of Witchcraft, S. 277, deren Analyse des „arsenal of the witch“ in Lohensteins Agrippina sich durchaus auf den Leo Armenius anwenden lässt. Dass

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54–55). Dieses alludiert auf das Schweißtuch der Veronika als heiligster Reliquie der katholischen Kirche, nur ist sie hier eben auf allzu niedere Weise gewendet: Der einzigartigen Natur des Gottessohnes wird eine ausdrückliche Beliebigkeit „der Sterbenden“ entgegengestellt. Es steht nämlich nicht einmal fest, ob der Schweiß eigentlich von einer Frau oder einer ganzen Gruppe Sterbender stammt, der Genetivzusatz jedenfalls lässt beide Interpretationen zu und verweist damit nicht zuletzt auf die mögliche Arbitrarität sprachlicher Zeichen und der Zeichenhaftigkeit überhaupt. Die vermeintliche Reliquie verkommt hier deshalb nicht zuletzt zur Requisite und noch dazu zu einer unter vielen.99 Nachdem das zauberische Inventar bereitgelegt ist, vergewissert sich Jamblichus anschließend bei seinem Gehilfen, „ob ich recht die Zeichen auffgeschriben? / Ob nichts was noehtig ist sey unter wegen bliben“ (LA IV, 59–60) Die Bedeutung dieser Zeichen sowie Bedeutung und Nutzen der verwendeten Zauberutensilien bleiben der Zuschauerschaft (sowohl derjenigen auf der Bühne, d. h. dem Verschwörer, als auch dem Publikum) jedoch verborgen. Dieser Aspekt wird noch einmal am Ende der Anrufung des Höllischen Geistes in der wohlgemerkt einzigen Bühnenanweisung des gesamten Dramas aufgegriffen: „Nach diesem [dem letzten Satz der Beschwörung] macht er etliche frembde Zeichen / und murmelt eine zimliche Weile.“ (LA IV, 128) Was sich hier abspielt, soll sich der Kenntnis und dem Verständnis der Außenstehenden – Verschwörer und Theaterpublikum – entziehen, sodass sich unweigerlich der Verdacht der gewitzten Illusion und Täuschung aufdrängt. Und dafür wird wiederum ausgiebig zurückgegriffen auf die materiellen (Requisiten) und performativen (Zeichen machen, murmeln) Möglichkeiten des Theaters. Dies trägt nicht nur zur Bühnenwirksamkeit der Szene bei, die darauf angelegt ist, zum Spektakel zu geraten. Vielmehr gelingt es dadurch, das Teufelswerk der Beschwörung potentiell als ebenjene Täuschung auszustellen und zu entlarven, die es Gryphius’ anti-magischer Agenda nach essentiell immer schon ist. Denn der Schwarzkünstler ist hier per se Betrüger, ob er seinem Klienten ‚wirklich‘ etwas vorgaukelt oder nicht, denn er beruft sich auf den Teufel als Erzbetrüger.100 Lohensteins Zauberszene eine aemulatio derjenigen bei Gryphius darstellt, wird in Kapitel 5.4 herausgearbeitet. Ein solcher Hinweis findet sich bei Colvin nicht. 99 Es ließe sich darin gar eine glaubenskritische Polemik erkennen, in deren Zuge auf der einen Seite implizit die Authentizität auch der eigentlichen Reliquie infrage gestellt wäre und auf der anderen Seite der Katholizismus mit seinem Reliquienkult eine latente Ähnlichkeit mit der Magie unterstellt wäre. Dass im Leo Armenius die „Problematik der Echtheit von Reliquien an dramatisch zentraler Stelle wiederkehrt“, bespricht Kaminski: Andreas Gryphius, S. 93–97, hier S. 94, die sich dabei auf den Einbezug des echten Kreuzes Christi beschränkt. 100 Bergengruen: Betriegliche Apparentzen, S. 190 argumentiert, dass alles darauf hindeute, dass die ganze Teufelsbeschwörung Hokuspokus sei, eine technische Täuschung, die Jamblich

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Gryphius spiegelt hier auf intrikate Weise „die Illusion der Schwarzen Magie auf der Illusionsmaschine des Theaters“101 und entdeckt seinem Publikum das Teufelswerk als (Be-)Trug. Nicht zuletzt die Zauberutensilien wären damit endgültig allesamt als bloße Requisiten enttarnt und entzaubert. Schließlich identifiziert Gryphius damit das Theater selbst als einen Schwellenraum zwischen Sein und Schein, Illusion und Wirklichkeit.102 Die Vehemenz, mit der Gryphius dabei verfährt, kann jedoch wiederum selbst nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier auch eine gewisse Lust am Spuk zum Ausdruck kommt sowie eine Lust am Spektakel. In der imitatio wird die Bewunderung für das Jesuitendrama deutlich, das bereits konzeptionell auf seine praktisch-performative Umsetzung als multimediales Theaterereignis abhebt. Dies lässt sich sodann auch auf den Gegenstand der Szene übertragen: Auch das Böse erscheint hier als ein ambivalentes Phänomen, das hinsichtlich seiner theatralen Repräsentationsmöglichkeiten einen ästhetischen Reiz ausübt, auch wenn es moralische Aversion erzeugt. Doch nicht nur die materielle und performative Exuberanz der Magie eröffnet theatrale Spielräume. Ähnliches lässt sich auch für die sprachliche Verfasstheit der Beschwörung beobachten. Sie stellt einen der längsten Monologe des gesamten Trauerspiels, wodurch dem Zauberer ein in sich geschlossener Rederaum zugestanden wird. Zusätzlich setzt sie sich gerade als Monolog von den meisten anderen Szenen des Dramas ab, die zum größten Teil in stichomythischen Dialogen gehalten sind. Diesen „Sentenzenreihen“103 steht die Beschwörung gegenüber als eine scheinbar unerschöpfliche Aneinanderreihung von Utensilien, die in ihrer Gleichförmigkeit über eine geradezu hypnotische Wirkung verfügt. Die Form lässt hier den Inhalt gar hinter sich, denn das Böse wird

und der Gehilfe ins Werk setzen. So darf der Verschwörer sich z. B. nicht bewegen oder umdrehen, es ist dunkel im Raum und dieser wird zusätzlich eingeräuchert. Er kommt zu dem Ergebnis: „Auf der Bühne soll eine nicht näher bestimmte Medientechnik (man könnte sagen: eine Technikfantasie) gezeigt werden, die ein vielleicht scharfes, vielleicht auch verzerrtes Bild eines Geistes erzeugt.“ 101 Ebd., S. 191. 102 Zu einem solchen Befund war bereits Alewyn: Das große Welttheater, S. 63–64 hinsichtlich der allgemeinen Beschaffenheit des Theaters, speziell des „Barock-Theaters“ gekommen: „Dies ist also der Stoff, aus dem die Welt der Bühne aufgebaut ist: ein Gemisch aus Wirklichkeit und Schein. Und dies ist der Ort, an dem das Spiel abläuft: die Stelle des ungewissen Übergangs zwischen Wirklichkeit und Schein. In einem eigentümlichen Zwischenreich also siedelt sich das Theater an, und dieses Zwischenreich ist es, dem das Barock bis zum Delirium verfallen war. Wir sehen nun schon: Wenn auf einem so zweideutigen Boden mit so fragwürdigen Mitteln eine so sinnenbetörende Phantasmagorie aufgebaut wird […] ist diese Schöpfung nicht zu gebrauchen.“ 103 Schöne: Emblematik und Drama, S. 90.

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gerade durch die ritualisierte Monotonie einer immergleichen Logik der Verkehrung vorgeführt, sodass schließlich nicht die Verkehrung, sondern die unendliche Repetition als Strukturmuster des Bösen vordergründig wird.104 Der Aufzählung, die mit der Überprüfung der Richtigkeit und Vollständigkeit der „Zeichen“ endet, folgt die Anrufung des Höllischen Geistes. Dieser ungleich längere Abschnitt des Monologs preist die Gegenordnung des „Herrscher [s] der immerdar-finsteren Naechte“ (LA IV, 62), die dem göttlichen Licht, aber auch auf verdächtige Weise der Klarheit, die der Verschwörer sucht, opponiert. Hier löst sich sodann auch die Ordnung des Alexandriners auf. Als einziger Teil des gesamten Dramas ist dieser Abschnitt in eine Variation aus daktylischen und jambischen Tetrametern gesetzt. Damit ist allein metrisch eine Gegenordnung entworfen, die in sich chaotisch ist, da die Abfolge willkürlich erscheint. Die metrische Ordnung bzw. Unordnung reflektiert damit in sich die Gegenordnung des Bösen, die Chaos provoziert. Strenggenommen steht dem Magier der sogenannte „Heldenvers“ kaum zu, sodass Gryphius hier den poetologischen Konventionen gehorcht. Er profiliert sich in seiner dichterischen Meisterschaft, da er das Versmaß kunstvoll seinem Gegenstand anpasst. Dies lässt sich jedoch im Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit noch pointierter formulieren, ist es doch gerade das Böse als Sujet der Dichtung, der hier Gryphius zu künstlerischer Meisterschaft anspornt und dadurch wiederum das Böse geradezu meisterlich hervorbringt. Nicht zuletzt konterkariert Jamblichus’ Monolog die Liturgie des protestantischen Gottesdienstes, der sich ausschließlich dem Wort Gottes widmet. Dafür ist wiederum das zeitliche Setting bedeutsam, schließlich spielt sich die Szene in der Heiligen Nacht ab. Jedoch ist diese nicht nur die Hochzeit der christlichen Freude, sondern auch bevorzugte „Geisterzeit“105. Hier droht das Dilemma der Deutungen auf die Spitze getrieben zu werden, da nicht mehr nur das Löwensymbol zwischen Christus und Teufel changiert, sondern auch Weihnachten als Fest der Geburt Christi einerseits und als Geisterzeit andererseits. Dass die Anrufung des Höllischen Geistes in der Christnacht geschieht, stellt die Teufelsbeschwörung pointiert als Blasphemie sowie Umkehrung der christlichen Sakramente und damit der christlichen Ordnung aus, scheint jedoch gleichzeitig mit ihr um die Vormacht zu kämpfen.

104 Alt: Wiederholung, Paradoxie, Transgression, hier S. 555 kommt in seiner Analyse der schwarzen Messe in Goethes Faust zu einem ganz ähnlichen Schluss. Denn auch dort bilde sich die „Technik der rituellen Repetition ab, in der das Böse seine eigenständige Form gefunden hat“. 105 Siehe Art. Geisterstunde, -zeit, Sp. 555.

2.4 Spektakel der Vermaledeiung: Die Teufelsbeschwörung

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Die Beschwörung vollzieht sich ähnlich einer satanischen Messe, die der bevorstehenden Christmette diametral gegenübersteht. Das Primat des Christentums bleibt dabei stets offenkundig und so behält die schwarze Messe, angeleitet von Jamblichus, die Verlaufsform der christlichen Liturgie bei, pervertiert diese jedoch konsequent.106 Jamblichus ist für Satan das, was die christlichen Priester für Gott sind und weist sich gegenüber dem Geist mithin als „ich dein Gewey’ter“ (LA IV, 67) und „dein Prister“ (LA IV, 117) aus.107 Schließlich fasst Jamblichus sein Wirken zusammen als eines, das im Dienst des Bösen dem Gesetz der Invertierung, des Sakrilegs und der Blasphemie gehorcht: „Wo ich was heilig / stets entweyet: / Vnd was gesegnet ist / vermaledeyet“ (LA IV, 121–122) Während eine Entweihung nur durch eine tätliche Handlung vollzogen werden kann, bezieht sich die Vermaledeiung als Synonym für Verfluchung und Lästerung auf eine sprachliche Handlung. In diesem Begriff ist das Böse, wie in Kapitel 2.1 erarbeitet wurde, bereits etymologisch verankert, da es von maledicere deriviert. Eine solche Vermaledeiung ist schließlich die Anrufung des Höllischen Geistes selbst. Hier zeigt sich außerdem einmal mehr, die Verwandtschaft des crimen laesae maiestatis und des crimen laesae maiestatis divinae, da beide auf diesen gemeinsamen Nenner des maledicere zurückzuführen sind. Das böse Reden markiert den Moment, durch den das Böse in die Welt kommt, sowohl auf weltlicher, d. h. rechtlicher und politischer, als auch auf metaphysischer Ebene. Auch inhaltlich gehorcht die Anrufung des Höllischen Geistes der Profanierungsstrategie der satanischen Messe: Ist der christliche Gottesdienst dem Lob und Preis des Schöpfers verpflichtet, so lobt und preist Jamblichus in typischer Analogie die Verdienste des Verderbers der natürlich-sittlich geordneten Schöpfung und zitiert ihn damit auf die Bühne. Wenn auch unter dem Paradigma der Vermaledeiung, so gilt auch hier das Primat des Wortes, wie es bereits im ersten Reyen ausgesprochen wurde: „Die schwartze Zauberkunst / […] Ist durch der Zungen Macht gebohren“ (LA I, 531–537) Jamblichus reiht in seiner sinisteren Predigt eine teuflische Perversion an die nächste, und wiederholt damit die ritualisierte, sich perpetuierende Monotonie, die auch bei der Aufzählung der Zauberutensilien als Strukturprinzip und sprachliche Figur des Bösen maßgebend war. Jedoch demonstriert sich in dieser Sequenz auf der Ebene des Inhalts zusätzlich die eskalative Logik des Bösen, da sich Elternmord, Brudermord, Kindsmord steigern, um letztlich im

106 Zur Struktur der satanischen Messe siehe Brittnacher: Satanismus. In: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. von Hans Richard Brittnacher, Markus May. Stuttgart 2013, S. 472–482, hier S. 476–477. 107 Ebd., S. 476 bringt Brittnacher dies auf den Begriff des „Repräsentanten einer höheren Macht in irdischer Gestalt“.

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ultimativen Skandalon der sich selbst verschlingenden Anthropophagie zu kulminieren: „Wo eine Mutter selbst was sie gebahr verzehrt / Als du dich guenstig hast zu ihr gekehrt“ (LA IV, 115–116) An diesem Höhepunkt, an dem sich die Schöpfung unter Einfluss des Bösen schließlich selbst (ver-)tilgt, ist wiederum eine Anspielungen auf die Christnacht zu entdecken, in der ja die Geburt des Gottessohnes gefeiert wird. Diese ist im Verspeisen des Neugeborenen durch die Mutter aufs entschiedenste pervertiert und damit auch die Liebe, speziell die Mutterliebe als höchstes Gut, in der sich als höchstem Gut die Liebe des Vatergottes als in der Natur wirksame Kraft widerspiegelt.108 Indem der Teufel den Menschen zum Vergehen, zum Übertritt, d. h. in seiner Konkupiszenz reizt – „Wo du mit toller Brunst die Sinnen kanst entzuenden“ (LA IV, 97) –, verzehrt und vernichtet der Mensch sich selbst: Er verkehrt sich wörtlich in nichts.109 Diese Annihilation gelangt im Moment der Anthropophagie zur unmittelbaren Anschauung, da sich Gottes Schöpfung, am Beispiel der gebärenden Mutter, im Moment der Kreation selbst verschlingt.110 Die Essenz der Anthropophagie, an der sich der Satan auf perfide Weise erfreut, ist das Blut und so weiß Jamblichus zu berichten: „Wo nichts das dich ergetze / Geht ueber Menschen Blutt“ (LA IV, 96–97) Mit der Aussicht auf das Blutopfer lockt er den Höllischen Geist letztlich auch auf den Schauplatz. Er stützt sich dabei auf die Logik des Tauschhandels, auf die auch der Teufelspakt fußt: „Sol unbeflecktes Blut ich morgen dir vergissen; / So laß mich klaerlich Antwort wissen.“ (LA IV, 123–124) Jungfräuliches, also „unbeflecktes“, Blut

108 Arnd Beise: Der Ausnahmefall. Anthropophagie in deutschen Trauerspielen des 17. Jahrhunderts. In: Das Andere Essen: Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur. Hg. von Daniel Fulda, Walter Pape. Freiburg im Breisgau 2001 (Litterae 70), S. 113–146, hier S. 132 erklärt, dass aus diesem Grund das „Verspeisen des Kinds durch die eigene Mutter […] in der christlichen Tradition die rhetorische Klimax von Endokannibalismusdarstellungen“ war. Wie die obenstehende Analyse zeigt, schreibt sich Gryphius mit seinem rhetorischen Arrangement in diese Tradition ein. 109 Die Formulierung „in nichts verkehrt“ benutzt Gryphius später im Prolog des CatharinaDramas, um die Eitelkeit und Vergänglichkeit der Welt darzustellen (vgl. CG P, 4). Inbegriff dieser vanitas ist die Wollust als Verheißung des Diesseits, die jedoch in ihrer Brunst immer schon die Flammen der Hölle in sich trägt. Dies wird in der Auseinandersetzung mit Gryphius’ Catharina (Kapitel 3) eine entscheidende Rolle spielen und sich anschließend bei Lohenstein (Kapitel 5 und 6) weiter entfalten. 110 Zum Bedeutungshorizont der Anthropophagie in der Frühen Neuzeit sei hier auf Beise: Anthropophagie in deutschen Trauerspielen des 17. Jahrhunderts, S. 116 verwiesen. Überhaupt gilt die Anthropophagie in der Frühen Neuzeit als Signum schwarzmagischer Praktiken und ist unverkennbar als anti-kulturelle, anti-christliche Handlung gekennzeichnet. Speziell zur Anthropophagie und magischer Praxis, siehe ebd., S. 122–123, zur Anthropophagie als Ausdruck der Gottlosigkeit, ebd., S. 126.

2.4 Spektakel der Vermaledeiung: Die Teufelsbeschwörung

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wurde laut dämonologischer Tradition vom Teufel bevorzugt,111 gerade weil in der Jungfrau potentiell die Heilige Muttergottes als die eine Jungfrau enthalten ist. In der satanischen Opferung und Einverleibung einer Jungfrau scheint damit symbolisch die Möglichkeit auf, das christologische Heilsversprechen nachträglich an seinem Ursprung anzugreifen. Die Anthropophagie als schwarzmagische Praxis ruft schließlich implizit auch die Eucharistie als Sakrament der katholischen Kirche auf. Wie das Schweißtuch, das vom der Reliquie zum Requisit profaniert ist, wird hier das Sakrament geschmäht, wenn die Anthropophagie in der satanischen Messe zum Analogon der Eucharistie wird.112 Dieser Ritus der vernichtenden Einverleibung, des Verschlingens der reinen Schöpfung, lässt den Teufel sodann als Leibhaftigen erscheinen, der vornehmlich durch die kreatürliche Seite des Menschen, ergo seinen Leib, wirkt, um die göttliche Schöpfung anzufechten. Schließlich verfügt er selbst über keine eigene Schöpferkraft. Die Anrufung des Bösen ist erfolgreich und der Höllische Geist betritt höchstpersönlich, effektvoll unter vollem Einsatz der Theatermaschinerie,113 begleitet von Blitzen, Feuer und Erdbeben, den Schauplatz und verkündet das verbotene Wissen von der Zukunft: Des Kaeysers Thron zubricht / doch mehr durch List / als Staercke. Wo man kein Blut vergeust / geht man mit Mord zu Wercke. Der Kercker wird erhoeht wo euch nicht Zwytracht schlaegt. Du: suche keinen Lohn / dir wird / was Leo traegt. (LA IV, 135–138)

So wie es von jemandem zu erwarten ist, dem ein infernalischer Geist erscheint, steht der Verschwörer unter Schock und ist im wahrsten Sinne außer sich: „Mir zittern alle Glider! / Jch weiß nicht von mir selbst.“ (LA IV, 143–144) Der Teufel und sein Spuk wirken verschreckend und verstörend auf die menschliche Natur, „[d]enn durch das Öffnen des Selbst hin zu einer magischen Weltwahrnehmung sind die Grenzen zwischen Ich und Welt, Vergangenheit und Gegenwart [und hier: Zukunft], Innen und Außen nicht mehr zu ziehen, eine fundamentale Des111 Vgl. Mannack: Kommentar Leo Armenius, S. 912. 112 Implizit ließe sich auch hier eine Schmähung der katholischen Sakramentaltheologie entdecken, womit die Zauberszene zum Nebenschauplätze für das konfliktive, komplexe Verhältnis zwischen Protestantismus und Katholizismus wird, das sich hier auf dem Theater verhandelt findet. 113 Bergengruen: Betriegliche Apparentzen, S. 188 macht hier die Verwendung der Camera obscura durch den Zauberer als Technik zum „Betrug der Augen“ aus. Er kommt dabei übergreifend jedoch zum gleichen Befund, nämlich dass teuflische Magie, Illusion und Theater hier in einem engen Zusammenhang stehen, und weitet diesen auf Gryphius’ Zeitgenossenschaft überhaupt aus.

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orientierung greift Raum.“114 Gleichzeitig ist diese Verwirrung auch auf das monoton Repetitive des Rituals zurückzuführen, das ja selbst eine Figur des Bösen beschreibt und, wie bereits oben auseinandergesetzt wurde, in seiner scheinbar endlosen, immer gleichen Aneinanderreihung von Pervertierungen und Profanierungen über eine hypnotische Wirkung verfügt. Auch dadurch wird ebenjene Desorientierung provoziert, die wiederum erneut Trug und Täuschung Vorschub leistet, wie die weitere Analyse zeigen wird. Im verwirrten Zustand erschließt sich dem Verschwörer die Wahrsagung des Geistes nicht. So wie ihm das Wissen von sich selbst abhandengekommen ist, weiß der Verschwörer auch den Sinn der Offenbarung nicht zu entschlüsseln, obwohl er die Botschaft des Höllischen Geists wortgenau wiederholen kann: „Nein Warlich / ob er zwar in etwas dunckel scheint! / Jch bitt’ erklaere mir was er vor Oerter meynt / Da man kein Blutt vergeust:“ (LA IV, 145–147) Mit „scheint“, „dunkel“, „Erklärung“ wird eine Licht-Dunkel-Metaphorik aufgerufen, die wiederum auf die Klarheit zurückweist, nach der der Verschwörer bei Zauberer und Teufel eigentlich sucht, die er aber offenbar nicht findet. Denn gerade das Verwischen der Klarheit des Wortes und die daraus folgende Verfinsterung der Welt sind Satanswerk.115 Das, was die Aussage des Höllischen Geistes entbehrt, ist ebenjene claritas, die ja auch der Magier selbst vom Höllischen Geist eingefordert hatte: „So laß mich klaerlich Antwort wissen.“ Die enigmatische Ortsangabe – der Ort „Da man kein Blutt vergeust“ – entdeckt Jamblichus ihm eindeutig „als Kirchen“ (LA IV, 148) in ihrer Funktion als heilige Stätte und Zufluchtsort. Dadurch tritt nicht zuletzt noch einmal der Höllische Geist in seiner Gegenbildlichkeit zum Heiligen Geist hervor: Hatte der Heilige Geist durch das Pfingstwunder die Kirche ins Leben gerufen, so prophezeit hier der Höllische Geist deren Entweihung. Ist die christliche Glaubensgemeinde durch Christi Blut geeint, so wird die Kirche durch Menschenblut entweiht. Der Höllische Geist antizipiert also nicht nur durch seine Botschaft, sondern auch sein Wesen, nämlich als Inversion des Heiligen Geistes, das düstere Sakrileg des Fürstenmordes in der Kirche.

114 Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 219. Es gilt hier, was Fromholzer mit Blick auf Nero in Lohensteins Agrippina konstatiert, der angesichts der Zauberhandlung gar in Ohnmacht fällt. Ein weiteres Indiz dafür, dass die Zauberszene in der Agrippina als aemulatio der Teufelsbeschwörung im Leo Armenius entwickelt ist (siehe Kapitel 5.4). 115 Bergengruen: Betriegliche Apparentzen, S. 196 beschreibt in diesem Zusammenhang den „Weg“, den das Wort des Höllischen Geist zurückgelegt hat: Es hat „auf dem Weg aus dem Mund Gottes hin zu seinen teuflisch-wahnhaften Manifestationen […] seine, mit Luther zu sprechen, ‚claritas‘, seine Eindeutigkeit verloren“.

2.4 Spektakel der Vermaledeiung: Die Teufelsbeschwörung

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Auch die letzte Anweisung des Teufels, der sich mit dem „Du“ direkt an den Verschwörer gewendet hatte, kann der Adressat sich nicht herleiten: „Doch wie versteh ich diß? du suche keinen Lohn: Dir wird was Leo traegt“ (LA IV, 149–150) Er bedarf einer weiteren Auslegung durch den Zauberer, der nun jedoch unzuverlässig wird und damit seine Deutungshoheit ausspielt. So antwortet Jamblichus suggestiv: „was traegt er als die Cron?“ (LA IV, 150) Genug Anlass zur Skepsis ist allein gegeben, weil Jamblichus seine Interpretation der „klaerlich[en] Antwort“ als Frage formuliert, auch wenn diese auf den ersten Blick rein rhetorisch zu sein scheint. Es deutet sich an, dass die Aussicht auf die Krone nur die halbe Wahrheit sein könnte und im Grunde mehr bedeutet als der Endreim von „Lohn“ und „Cron“ verspricht. Für diese Feinheiten hat der Verschwörer jedoch keinen Sinn und kein Verständnis. Er geht als zufriedener Kunde mit Blick auf „die Cron“ ab. Erst jetzt offenbart der Zauberer, dass seine Erklärung genauso zweideutig war wie das Orakel selbst und gibt zu, einen Teil der Weissagung „vorsetzlich […] verborgen“ (LA IV, 159) zu haben: Was uns der Geist erklaeret; Siht doppelsinnig aus. dir wird zu Lohn bescheret / Was Leo traegt / Ja wol. was traegt er? Cron und Tod! (LA IV, 155–157)

Es überrascht kaum, dass die Aussage des Höllischen Geistes doppeldeutig ist, denn der Doppelsinn ist modus operandi des Teufels: Was die Schlange den ersten Menschen über den Baum der Erkenntnis sagte, war wahr und falsch zugleich und so hat sie den Sündenfall ins Werk gesetzt.116 Gerade deshalb ist die doppelsinnige Weissagung „für das wissende Publikum eindeutig“117. Wie bereits die Analyse von Michael Balbus doppelsinnigen Reden gezeigt hat, eröffnet die Ambivalenz dem Bösen einen Spielraum, in dem es agieren und sich entfalten kann. Auch der Zauberer als Adept des Teufels weiß diese Ambivalenz zu erkennen, und diese Erkenntnis ermöglicht es ihm wiederum, selbst über das Wissen des Bösen zu bestimmen. Auch hier trifft also die geradezu programmatische Aussage des Richters zu: „In einem Augenblick schafft offt die Boßheit Raht.“ (LA II, 394) Dass die Botschaft des Höllischen Geistes noch einmal durch einen weiteren Mittler übersetzt werden muss, betont dessen Status als Gegenbild zum Heiligen Geist, der durch seine Ausgießung bloßes Einverständnis geschaffen hat. Gleichzeitig spielt dieser Umstand das Potential der Mehrdeutigkeit nur noch weiter

116 Es sei hier noch einmal auf die Ausführungen in Fußnote 7 dieses Kapitels verwiesen. 117 Brinker-von der Heyde: Freundschaft und grimmer Haß, S. 299.

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aus und entfesselt so durch die Multiplikation der Bedeutungsmöglichkeiten das Potential der Manipulation und damit den Einfall des Bösen. Denn schließlich ist es doch Jamblichus, der den vollen Bedeutungsgehalt der Prophezeiung vorenthält. Er beharrt damit gleichsam auf seiner Vormachtstellung, allein über das unlautere Wissen von Leben und Tod zu verfügen, sodass sich das Böse in letzter Konsequenz gerade in der Willkür menschlichen Handelns äußert. Der Böse, der hier regiert, ist der Zauberer und damit der Mensch, nicht der (mehr) Teufel. Das Böse ist in der verborgenen Innerlichkeit des Menschen angesiedelt. Die Moral der Teufelsbeschwörung ist geradezu einfach und eindeutig: Den Mächten des Bösen und seinen (irdischen) Vertretern ist nicht über den Weg zu trauen. Wer sich mit ihnen einlässt, ist immer schon betrogen. Doch erfolgt der Betrug hier nicht durch den Teufel. War es anfangs nicht ganz eindeutig, vor welchem „Betrueger“ (LA IV, 3), Geist oder Zauberer, eigentlich gewarnt wird, so klärt sich nun auf: Der Mensch ist der eigentliche Betrüger, denn der Zauberer hat seinen Klienten um die Wahrheit des Orakels betrogen. Er hat das Spektakel des Bösen ins Werk gesetzt und ist darin der Hauptakteur und Spielleiter. Der Teufel hingegen ist zum bloßen Nebendarsteller geworden, ja er verblasst gar neben dem bösen Menschen. Der Verschwörer ist also tatsächlich einer Illusion aufgesessen, nämlich jener, dass der Teufel noch über irgendeine Autorität verfüge. Stattdessen aber zeigt sich, dass der böse Mensch das letzte Wort behält.

2.5 Blutige Weihnacht: Der Fürstenmord als Entweihung Der Fürstenmord ist bis ins Detail als ein die Gottesordnung verkehrendes Verbrechen durchkomponiert: Die Verschwörer führen „das Teufelswerk als Teufelspriester“118 aus, sodass einmal mehr die strukturell angelegte Verwandtschaft von Verschwörung und Beschwörung augenfällig wird. Die Verschwörer setzen gleichsam die Beschwörung mit eigenen Mitteln fort und betreiben mit dem Fürstenmord ihrerseits eine Art blasphemisches und entweihendes Theater. So entscheiden sie sich für die Verstellung als Mittel, um den Kaiser zu überwältigen und erfüllen damit die Wahrsagung des Höllischen Geistes: „Des Kaeysers Thron zubricht / doch mehr durch List / als Staercke.“ (LA IV, 135) Mit der List führen sie sodann auch Michaels Strategie weiter. Analog zu ihm als dem „Haupt der Auffruhr“ (LA I, 240), der die Buße zum Vorwand genommen hatte, um den Komplizen seinen Boten zu schicken, entscheiden sich die Verschwörer dazu,

118 Kaiser: Leo Armenius, S. 10.

2.5 Blutige Weihnacht: Der Fürstenmord als Entweihung

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sich die Insignien des Gottesdienstes anzueignen, um Leo in der Palastkirche hinzurichten: Auff denn! und legt euch an / Als Prister! werfft den Helm / und was uns hindern kan / Nur hin; das Schwerdt verbergt in ausgehoel’te Kertzen: Vnd nehmt den Tempel ein (LA IV, 305–308)

In der Verkleidung als Priester enthüllt sich vollends die Schwere des unlauteren verschwörerischen Unternehmens. Die liturgischen Geräte werden wortwörtlich ausgehöhlt und für den eigenen, widrigen Zweck instrumentalisiert. Sie verüben – Lipsius’ Kategorisierung der unterschiedlichen Grade des Betrugs gemäß – die lästerliche fraus magna, die als umfassende Bosheit bestimmt ist: „Quae non virtute solum sed legibus etiam recedit, malitiae iam robustae et perfectate“119. Das Skandalon des maliziösen Betrugs gepaart mit politischer Insubordination kulminiert bei Gryphius im Sakrileg. Das Priesterkleid wird zur Verkleidung profaniert und dient dem verbrecherischen Anschlag buchstäblich als Deckmantel.120 Doch die Priester haben im Leo Armenius ohnehin einen fragwürdigen Ruf. Amt und geistliche Autorität werden von den Priestern selbst als Deckmantel für den weltlichen Zweck ausgenutzt, da sie, wie weiter oben dargelegt wurde, die Kaiserin für ihre geheimen Absichten manipuliert haben. Die falschen Priester ahmen die echten Priester also in mehr als einer Hinsicht nach, auch wenn sie die Geistlichen schließlich mit dem Sakrileg des Fürstenmordes in ihrer Bosheit übertreffen.121 Die ausgehöhlten Kerzen, in denen das Schwert der Angreifer versteckt werden soll, stehen ihrerseits pars pro toto für die Aushöhlung des christlichen Glaubens zum Zweck des unlauteren Machtstrebens.122 Die Verschwörer ma-

119 Lipsius: Politicorum sive civilis doctrinae libri sex., lib. IV, cap. 14, S. 133. 120 Dieser hier ganz gegenständliche Deckmantel wird im Carolus Stuardus in den vierten Reyen transponiert, wo sich die Allegorie der Religion vom Schauplatz verabschiedet, da die Ketzer ihr Gewand als Deckmantel für ihre Verbrechen an der göttlichen Ordnung missbrauchen (siehe Kapitel 4.2). 121 Im Carolus Stuardus wird dies am Beispiel des Geistlichen Hugo Peter, der eine entscheidende Rolle in der Ermordung der Majestät spielt, eskalieren. Peter erwächst dort im Lutherschen Sinne zum Repräsentanten eines „radikalen Bösen“ (Kurt Victor Selge: Luther und die Macht des Bösen. In: Das Böse. Eine historische Phänomenologie des Unerklärlichen. Hg. von Carsten Colpe, Wilhelm Schmidt-Biggemann. Frankfurt am Main 1993 [stw 1078], S. 187–203, hier S. 172.), da er das Christentum dazu nutzt, um das Königtum, das in sich die göttliche Ordnung widerspiegelt, auszuhebeln (siehe ebenfalls Kapitel 4.2). 122 Diese Bild tritt auch bei Lohenstein auf, nämlich im vierten Reyen der Agrippina. Dort spricht die Allegorie der Ehrsucht: „Mein Rach-Schwerdt steck’t in deiner [der Liebe] An-

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chen sich mit der Kerze gerade einen Symbolwert zu eigen, der auf das ewige Licht Gottes und den Sieg Christi über die Mächte der Finsternis verweist. Dieser verkommt durch den Gebrauch der Kerze als Requisite jedoch zu bloßem Schein. Mit der Kerze wird auch das Weihnachtsversprechen ausgehöhlt, das hier eben nicht Erlösung bringt, sondern dem Kaiser den Tod. Dies akzentuiert nur die Infamie und Blasphemie des verschwörerischen Unternehmens, dem buchstäblich nichts heilig ist. Hier manifestiert sich einmal mehr die Analogie zwischen dem Sakrileg der Verschwörer und jenem des Teufelsbeschwörers Jamblichus, der ja von Haus aus „was heilig / stets entweyet: / Vnd was gesegnet ist / vermaledeyet“ (LA IV, 121–122) Nur findet die Entweihung nicht mehr auf einem abseitigen Schauplatz statt, sondern die Verschwörer dringen in den heiligen Ort selbst vor. So wird auch der Bote später die Ermordung Leos zusammenfassen: „Die Kirchen ist entwey’t.“ (LA V, 117) Die Palastkirche repräsentiert räumlich das Zentrum der politischen Theologie, auf der das Kaisertum aufbaut. Auch wenn über die Szene der Teufelsbeschwörung vorher und nachher kein Wort mehr verloren wird, so zeigt sich doch gerade hier, dass das Verbrechen des Fürstenmords als eine Verlängerung von Jamblichus’ satanischer Messe entworfen ist. Der Unterschied besteht allein darin, dass die Verschwörer für ihr Sakrileg eben keines bösen Geistes und keiner satanischen Priesterweihe bedürfen, um Entweihung und Vermaledeiung ins Werk zu setzen. Die Verstellung bzw. Verhüllung, welche als Strategie von Michael appliziert wurde, findet sich im Vorgehen der Verschwörer materialisiert und dadurch konkretisiert. Mit seiner in Wachs eingeschlagenen Botschaft zeichnet er geradezu den Einfall seiner Komplizen – „das Schwert verbergt in ausgehöhl’te Kerzen“ – vor: So wie er seine Botschaft durch das Wachs aus dem Palast herausschmuggeln konnte, können die Verschwörer ihre Mordwaffen im Wachs der Kerze versteckt in den Palast hineintragen. Die Botschaft verfügt damit also selbst über eine „performative Dimension“123, die durch eine bloße mündliche Übermittlung der Botschaft verlorengegangen wäre. Schrift und Schwert, Wort und Waffe sind hier parallelisiert: Beide werden von Wachs umhüllt zum Zweck

muths-Kertzen“ (A IV, 441) Der christologische Symbolwert der Kerze tritt bei Lohenstein hinter dem „Gut der Liebe“ zurück, das zugunsten des unlauteren Machtstrebens (in diesem Fall: Poppeas) als Deckmantel missbraucht wird. 123 Benthien: Barockes Schweigen, S. 399–403. hat sich eingängig mit dieser Sequenz des Leo Armenius beschäftigt und war bereits zu der Konklusion gekommen: „So ist es eigentlich der Akt der Verhüllung selbst, der auf diese Weise als signifikant gekennzeichnet wird […].“ Weiter: „Diese Macht von Michaels Zunge ist es, die in die Wachsbotschaft inseriert wird und die, in einer konsequent durchgeführten Analogie, in die kaiserliche Burg als Schwert zurückkehrt.“

2.5 Blutige Weihnacht: Der Fürstenmord als Entweihung

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des Fürstenmordes. Das Schwert erstreitet ihm die Macht, die er sich noch im Kerker bereits durch den Gebrauch des „Wortes“ angeeignet hatte: Das „ein[e] Wort“ (LA II, 377), das Michael sich von Leo erbeten hatte, um den Aufschub seiner Hinrichtung zu erwirken, verdoppelte sich im Kerker in „zwey Wort“ (LA III, 361), die er an seine Komplizen aussendet. Sie kehren als Schwert der abtrünnigen Exekutive ins Innere des Palasts und der Macht zurück, um dort mit der Exekution des Kaisers dem sinisteren Zweck der Verschwörer zu dienen. Was Michael vorgibt, wird von seinen Komplizen in die Tat umgesetzt. Als Verfasser der Botschaft ist er oberster Wortführer, auctor und Urheber dieses verbrecherischen Geschehens. Darüber hinaus bewährt sich Michael in seinem Handwerk als „Luegenschmid“: Mit seinen Lügen schmiedet er das Schwert der Verschwörer, durch das sie den Fürsten hinrichten werden. Das Sakrileg der Verschwörer wird jedoch abgefangen durch das Aufscheinen des göttlichen Heilswirkens, wobei das Prinzip der Gegenbildlichkeit leitend ist: Durch den Einfall des Bösen kann das göttliche Erlösungswerk umso deutlicher hervortreten. Die falschen Priester bringen Leo durch den Tod das Heil, in der imitatio Christi aufzugehen. Der Erkenntnisprozess ist jedoch auch hier von einem Deutungskampf begleitet, in dem um Befleckung des Kreuzes einerseits und imitatio Christi andererseits gerungen wird. Um dies zu erfassen, ist es entscheidend, den Blick noch einmal auf die Figur des Kaisers unmittelbar vor ihrer Ermordung zu richten. Durch Michaels Machtanspruch ist Leo auf den „Grund oder vielmehr Ungrund seiner eigenen Macht“124 in der Usurpation zurückgeführt. Dass der von Leo gestürzte Herrscher ebenfalls Michael hieß,125 akzentuiert dieses zyklische Muster von Aufstieg und Fall, das in sich die Dynamik der Fortuna repräsen-

124 Albrecht Koschorke: Das Problem der souveränen Entscheidung im barocken Trauerspiel. In: Urteilen/Entscheiden. Hg. von Cornelia Vismann, Thomas Weitin. München 2006 (Literatur und Recht 3), S. 175–195, hier S. 185–186. 125 Ebd., S. 186 macht Koschorke darin ein „spekuläres Verhältnis“ zwischen Michael Balbus und Leo aus und leitet davon Leos Status als Usurpator ab; ähnlich auch Kaminski: Andreas Gryphius, S. 84. Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 352 jedoch begründet historisch, dass Leo die Macht von seinem Vorgänger Michael Rhangabe bzw. Michael I. (byzantinischer Kaiser 811–813) übertragen wurde. Während Leos Machtkampf also letztlich legitimiert wurde, ist bei Michael der lasterhafte, unverbesserliche Wille, die Macht zu ergreifen, vordergründig. Eine solche Graduierung zwischen Leos Vorgehen und Michaels Vergehen ist ja auch für die konsolatorische Wirkungsabsicht des Trauerspiels entscheidend. Leo soll als fehlerhaft/fehlerbehaftet erscheinen, jedoch nicht wie Michael als Usurpator, der die Gottesordnung verachtet. Leo und Michael sind Antagonisten, die über genug Ähnlichkeiten verfügen, jedoch auch über genügend Differenzen, die letztlich wenig Zweifel an ihrer Interpretation als Tyrann und potentiellem Märtyrer lassen.

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tiert. Leo ist zurückgeworfen auf seine eigene Schuld, aus der sich das Übel der Usurpation weiter fortzupflanzen droht. Die Vergegenwärtigung seiner eigenen Schuld, die ihm als Traumgesicht in Gestalt des von ihm ermordeten Patriarchen Tarasius gegenübertritt,126 verleitet Leo dazu, in den Kerker hinabzusteigen und seinen Gefangenen zu besuchen. Hinter den Kulissen der Trauerspielbühne – der Gang in den Kerker wird nicht gezeigt und findet zwischen der dritten und vierten Szene der vierten Abhandlung statt – erkennt sich Leo in seiner Position als nunmehr gefallener und gestürzter Herrscher, wobei sein politischer Sturz durch Michael Balbus aufs engste verknüpft ist mit seiner eigenen „Hoechste[n] Schuld“ (LA IV, 224) als Usurpator, durch die er seinen eigenen Fall, seine Hinfälligkeit, selbst vorbereitet hat. Der Abstieg in den Kerker zeichnet damit räumlich seinen Fall nach. Hier, im gar „mathematisch bestimmbaren Zentrum“127 des Dramas, vollzieht sich im Sinne der aristotelischen Anagnórisis ein Umschwung von Verkennen in Erkennen, der zu einem Wechsel im Selbstbewusstsein des Helden führt. Dieser Erkenntnisprozess jedoch läuft im Verborgenen ab, sodass dieser tragische Wendepunkt des Trauerspiels gewissermaßen eine Leerstelle bezeichnet. Wechsel und Erkenntnisprozess treten hinter die Erkenntnis selbst zurück, nämlich die Erkenntnis der vanitas als Hinfälligkeit menschlich-weltlicher Dinge überhaupt. Sie verschafft Leo schließlich die Deutungshoheit. Erst nachträglich, in der vierten Szene, berichtet Leo von seinem Gang in den Kerker. Dabei zeichnet er ein Tableau – oder im emblematischen Sinne eine pictura –, in dem Michael in seiner Gefängniszelle als (zukünftiger) Herrscher erscheint. Seine Zelle ist mit royalem Luxus ausgestattet, der alle Maßen übersteigt: „sein Kercker ist mehr denn ein Fuerstlich Zimmer.“ (LA IV, 243; Hervorhebung IvH) Michael selbst ist gekleidet in Purpur und trägt damit bereits die Kaiserwürde. Zu Füßen liegt ihm, stellvertretend für die Gesamtheit seiner Untergebenen, „des Kaeysers Hoheit“ (LA III, 252) verehrend der Palastwächter Papias. Leos Zuhörern Nicander und Exabolius kommt dieser Bericht äußerst „seltzam vor“ (LA III, 246). De facto kann nicht restlos geklärt werden,

126 Vgl. LA III, 65–108. Zu dieser Szene siehe Peter-André Alt: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. München 2002, S. 94 ff, der aufzeigt, dass der Traum, „[o]bgleich seine Botschaft unzweideutig ist“ (S. 95), wiederum Anlass zum Deutungskonflikt gibt. Eine solche „Ambivalenz einander ergänzender Auslegungen“ zeigt Alt sodann auch für die Deutung von Theodosias Traum zu Beginn der fünften Abhandlung auf. Im Sinne der vorliegenden Studie also zwei weitere Beispiel dafür, dass in der Welt, die der Leo Armenius präsentiert, Deutungen umkämpft und Auslegungen unsicher sind. 127 Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit 1495–1773. Tübingen 2005 (Studien zur deutschen Literatur 174), S. 188.

2.5 Blutige Weihnacht: Der Fürstenmord als Entweihung

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ob „das schreckliche Gesicht“ (LA III, 293) ein Tatsachenbericht ist oder etwas, „[w]as Zorn und Argwohn dicht“ (LA III, 271). Die Ambivalenz gegenüber dem Status dieser Episode wird jedoch durch ihren Offenbarungscharakter überwunden. Durch den Blick in die Zelle wird die Illusion von der (durch die Verwahrung Michaels) gesicherten Macht ein für alle Mal enttäuscht. Die Verhältnisse sind verkehrt: Im eigenen Palast erkennt sich Leo als Gefangener und zum Tode Verurteilter, während er in Michael den Kaiser von morgen entdeckt, der in der Enge des Kerkers schon „in den ketten herrscht“ (LA III, 211).128 Der Fall des einen bedingt den Aufstieg des anderen und umgekehrt, womit das Gesetz der Fortuna vordergründig wird. Leo und Michael befinden sich an gegenüberliegenden Polen derselben Achse auf dem Rad der Fortuna, die damit die wahre Regentin des Spiels zu sein scheint. Von Leo wird nach dieser Szene, in der er seinen Beratern den Gang in den Kerker schildert, erst wieder in der Kirche beim Gebet berichtet. Das politische Handeln kommt auf Seiten des Fürsten zum Erliegen, so wie zuvor schon einmal bei Michaels verschobener Exekution. Und genauso wie sich Leos Umschwung zum Aufschub von Michaels Hinrichtung im Verborgenen vollzogen hatte, so bleibt auch hier verborgen, was mit Leo genau hinter den Kulissen vorgeht. Sicher ist am Ende nur, dass er den Raum der politischen actio verlässt und sich in die Kirche als dem Schutzraum der göttlichen Offenbarung begibt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Leo den Verschwörern nichts entgegensetzt. Vielmehr verlagert sich der Kampfplatz, denn Leo agiert jetzt nicht mehr politisch, sondern spirituell: Der Selbstüberhebung und Selbstermächtigung, also der superbia der Verschwörer – allen voran Michael – setzt er den christlichen Glauben entgegen, indem er Demut vor Gott, humilitas, zeigt.129 Während Michael im Kerker seinen Willen zur Buße nur vorgetäuscht hatte, ändert sich Leos Haltung hier wahrlich in Demut. Wer sich so „demütigt“ im Glauben an Gott, nähert sich dem gekreuzigten Christus an. Leo scheint hier geradezu der Aufforderung Christi zur imitatio Christi nachzukommen: „Will mir jemand 128 Kaiser: Leo Armenius, S. 13 bemerkt dazu: „Aber Michael, der Kaiser von morgen, wird übermorgen schon der Gefangene derselben Sorge sein, die Leo jetzt empfindet, und wenn Michael am Ende, nach Ermordung Leos, stolz in den Ketten seiner Gefangenschaft den kaiserlichen Thron einnimmt trägt er, noch ahnungslos, mit den alten Ketten schon die Ketten einer Knechtschaft, der Knechtschaft der Macht.“ 129 In der Tradition seit Augustinus stehen sich humilitas und superbia in den Tugend- und Lasterkatalogen gegenüber. Selge: Luther und die Macht des Bösen, S. 174 identifiziert in Luthers Verständnis die Demut als „den Sprengsatz zur gesamten […] reformatorischen Entwicklung“, denn „Demut besteht für Luther zunächst und bleibend in dem Glauben, der dem Wort Gottes, das den Sünder richtet, recht gibt.“ Dieser Grundsatz lässt sich durchaus auf Leos Entwicklung übertragen.

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2 Ambivalenz als Spielraum des Bösen

nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.“ (Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23). Nicht erst im unmittelbaren Kampf gegen seine Mörder, gegen die er sich mit dem Kreuz von Golgatha verteidigt, sondern bereits hier ‚nimmt er sein Kreuz auf sich‘.130 Indem er nicht politisch handelt, verleugnet sich Leo also in seiner Herrscherposition und überantwortet sich dem Regiment Gottes. Seine Erkenntnis der Fortuna führt ihn dazu, sich der providentia unterzuordnen. Das ist es, wozu ihn die neuerlangte Deutungshoheit letztlich befähigt, nämlich sich demütig der göttlichen Hoheit zu unterstellen. Dies ist die subscriptio zu ebenjener pictura, der er im Kerker ansichtig wurde. Die Anschauung dieses Beispiels, das Leo hier Gryphius’ Publikum vorstellt, gereicht moraldidaktisch dazu, sich in Besinnung auf die providentia gegen Zufall und Fortuna zu verwahren.131 Es kündigt sich an, dass Leo bereits durch sein Offenbarungserlebnis im Kerker und seine Erkenntnis zu einem „Postfiguranten Christi“132 wird und schon hier beginnt, „das christologische Paradox von Hoheit und Niedrigkeit, von Allmacht und Ohnmacht“133 zu repräsentieren: Hatte er durch seinen Fehltritt (der doppelte Aufschub von Michaels Hinrichtung) seinen politischen Abstieg in Gang gesetzt, so bringt seine neuerlangte metaphysische Deutungshoheit, die er gerade durch die Erkenntnis seiner eigenen Hinfälligkeit erlangt hat, nun seinen Aufstieg in die imitatio Christi mit sich. Hier ist die Zirkularität der Fortuna durch die eschatologisch ausgerichtete Progression der Heilsgeschichte überwunden.134 Dies ist wiederum entscheidend für die Einordnung der bösen Tat der Verschwörer: Sie ermorden nicht ‚nur‘ einen Fürsten, sondern einen Fürsten, der die imitatio Christi einübt und sich in dieser Haltung zu Herrschaft und Gerechtigkeit Gottes bekennt. Dies bedeutet zweierlei: Zum einen wird hier die Infamie ihres Sakrilegs um ein weiteres potenziert, da sie Leo in seiner Haltung der Demut überfallen und damit – wie zuvor Michael – der Verheißung der göttlichen Gnade und

130 Dass Leos Bekennen zum Regiment Gottes bereits hier einsetzt, wurde bisher nicht von der Forschung erwogen. Zu Leos „Weihe des frommen und bekehrten Sünders“ in der „Kreuzaufnahme“ kurz vor seiner Ermordung, siehe Bornscheuer: Diskurs-Synkretismus, S. 502; Kaiser: Leo Armenius, S. 349–350. Zur komplementären „Kreuzabnahme“, da die Verschwörer Leo nachträglich den Arm abschlagen, mit dem er das Kreuz umklammert, siehe Barbara Natalie Nagel: Der Skandal des Literalen. Barocke Literalisierungen bei Gryphius, Kleist und Büchner. München 2012, S. 45. 131 Weiterführend zur Fortuna als Filiale der göttlichen Providenz bei Gryphius siehe Schings: Stoische und patristische Tradition, S. 191. 132 Drügh: Ambivalenz des Allegorischen, S. 1026. 133 Steiger: Poetische Christologie, S. 92. 134 Vgl. zum zyklischen Geschichtsverlauf und dem Fortschreiten der Heilsgeschichte im Leo Armenius auch Beetz: Disputation und Argumentation, S. 196.

2.5 Blutige Weihnacht: Der Fürstenmord als Entweihung

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Gerechtigkeit trotzen. Zum anderen werden sie im spirituellen Sinn zum Werkzeug des Guten, da sie durch seine Hinrichtung Leos imitatio Christi vollenden. Dies wiederum erlaubt einen Rückschluss auf die Verortung des Bösen innerhalb der göttlichen Ordnung: Im äußersten Moment der Entweihung ist das Böse immer noch dem göttlichen, providentiellen Gesetz nachgeordnet. Der Überfall der Verschwörer auf die Palastkirche und den darin betenden Kaiser geschieht, während die Priester und Jungfrauen in ihrem Loblied die Geburt Christi in dieser Heiligen Nacht besingen. Geschichtlicher Verlauf und spiritueller Gehalt des Trauerspiels sind hier zunehmend ineinander verwoben, was sich im Verhältnis zwischen Abhandlung und Zwischenspielen widerspiegelt. Der weihnachtliche Chor ist als vierter Reyen ausgewiesen und dabei gleichzeitig Teil der dramatischen Handlung in der Kirche.135 Das Chorlied setzt damit buchstäblich den Ton für die Deutung der blutigen Geschehnisse in der fünften Abhandlung, da innerhalb der Ordnung des Trauerspiels der Reyen ebenjene Instanz ist, durch die der spirituelle Gehalt der Abhandlungen festgestellt und gesichert wird. Schon in dem Moment, in dem sich das Verbrechen zuträgt, tritt das mörderische Geschehen also zurück hinter die durch den Chor vermittelte Heilsbotschaft, wo die weihnachtliche Freude der Singenden die Versöhnung mit Gott durch den Kreuzestod Christi antizipiert. Durch diesen Kunstgriff wird die atrocitas des Fürstenmordes nicht auf der Bühne dargestellt, sondern anschließend per Botenbericht vermittelt, sodass der grausame Frevel zunächst nur sprachlich vergegenwärtigt wird. Gryphius folgt hier dem im 17. Jahrhundert geltenden Medea-Paradigma aus der Ars poetica des Horaz, nach dem bei der Darstellung von Grausamkeiten die vermittelte Form durch Berichte vorzuziehen sei.136 Wenig später aber wird Leos „gantz zustueckte[r] Leib“ (LA V, 279) auf den Schauplatz getragen. Durch diese sukzessive Vergegenwärtigung des Fürstenmordes wird die atrocitas graduell auf dem Schauplatz präsent und damit graduell gesteigert. Ein namenloser „Bothe“137 erzählt in seinem Bericht vom Überfall der verkleideten Verschwörer auf den betenden Leo: Nachdem der Kaiser noch erfolglos ver135 Auch Alt: Begriffsbilder, S. 258 identifiziert den Chor „nicht eigentlich [als] Zwischenspiel, sondern integrales Element der dramatischen Handlung“ und fährt fort, dass hier „der Gegensatz zwischen Faktizität und Spiritualität auf verbindliche Weise überwunden wird“ (ebd., S. 262). Auf den Sonderstatus des Reyens hat auch Kaiser: Leo Armenius, S. 19–20 verwiesen, der ihn als „Weihnachtsoffenbarung“ interpretiert und neben ihm Schöne: Emblematik und Drama, S. 171, der ihn dramaturgisch als Ausnahmefall identifiziert, da er als „einzige[r] Reyen einfach […] eine Fortsetzung des dramatischen Geschehens“ sei. 136 Vgl. hierzu Carsten Zelle: Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert. Hamburg 1987 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert), S. 1–16. 137 LA, S. 95 (Personenregister).

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2 Ambivalenz als Spielraum des Bösen

sucht, sich mit dem Kirchenkreuz zu verteidigen, fällt er auf dieses nieder und küsst es sterbend. Die Szene ist unübersehbar mit sakraler Bedeutung aufgeladen. Die imitatio Christi findet sich hier gleichsam buchstäblich umgesetzt, da das Tableau vom sterbenden Kaiser dem Kreuzestod Christi nachgeahmt ist, ihn imitiert. Diese martyrologische Deutung wird jedoch im Bericht selbst durch den horror der Befleckung der Reliquie mit dem Blut des sterbenden Kaisers und die daraus resultierende Vermischung seines Blutes mit dem Christi sprichwörtlich durchkreuzt: „JEsus letzte Gaben / Sein theures Fleisch und Blut / […] Mit Keyserlichem Blut / (O Greuel!) sind vermischt.“ (LA 5 I, V. 167–170) Die Parallele zwischen dem Blut des Gottessohnes und dem Blut des irdischen Regenten besiegelt die Ungeheuerlichkeit („O Greuel!“) der Blutsvermengung, die von der Blasphemie der Verschwörer und der daraus resultierenden allumfassenden Entweihung von Kaiser, Kirche, Kreuz und Heiliger Nacht durch den Fürstenmord zeugt. So berichtet der Bote außerdem, dass Leo selbst seine Mörder noch vergeblich vor diesem Sakrileg gewarnt habe mit den Worten: „Befleckt des HErren Blut / daß diesen Stamm gefaerbt; / Mit Suender Blut doch nicht!“ (LA V, 149–150) Der Bote tritt hier als Augenzeuge – „Jch hab es selbst gesehn“ (LA V, 164) – des blutigen Frevels auf und erzeugt mit seinem Bericht vom verborgenen Geschehen in der Palastkirche evidentia, ohne das Ereignis martyrologisch im Sinne des Blutzeugnisses zu transzendieren. Seine Darstellung ist vollkommen auf die atrocitas des Fürstenmordes fokussiert, die schließlich im Schrecken Blutsbefleckung kulminiert. Der Bote redet damit Leos Verteidigungsrede das Wort und klagt stellvertretend den „Greuel“ der Verschwörer an. Während die Grausamkeit der Verschwörer eindeutig ist, lässt gerade die Blutsvermengung noch eine weitere Deutung zu. Hier wird die Ambivalenz vordergründig, die entweder auf die Entweihung des Kreuzes oder Leos Erhöhung zum Märtyrer hindeuten kann. Die Blutsvermischung lässt sich nämlich ebenso auf die lutherische Versöhnungslehre beziehen, in der sich die Vereinigung mit Christus ausdrückt.138 Durch das Blut Christi ist alle Schuld getilgt, sodass auch Leos im Grunde kein „Suender Blut“ mehr ist, erst recht nicht, wenn er in der imitatio Christi stirbt. Schließlich wird das Blut der Blutzeugen in der christlichen Hagiographie immer wieder mit dem Sakrament verglichen. Dies wird von Theodosia offengelegt, die angesichts des Fürstenmordes einen „schmerzhaften Erkenntnisprozeß“139 durchläuft, an dessen Ende sie im Sakrileg des Fürstenmords den Trost der Heilsbotschaft entdeckt. 138 Diese Lesart vertritt z. B. Ferdinand van Ingen: Andreas Gryphius „Catharina von Georgien“. Märtyrertheologie und Luthertum. In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Gedenkschrift für Gerhard Spellerberg (1937–1996). Hg. von Hans Feger. Amsterdam 1997, S. 45–71, hier S. 64–65. 139 Alt: Begriffsbilder, S. 263.

2.6 Consolatio Theodosiae: Der Fürstenmord als imitatio Christi

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2.6 Consolatio Theodosiae: Der Fürstenmord als imitatio Christi Als Theodosia den Mördern ihres Gatten zum ersten Mal gegenübersteht, kreist ihre Anklage um die Grausamkeit dieses Verbrechens und verurteilt den tödlichen Angriff auf den Kaiser als Angriff auf die göttliche Ordnung. Das horrificum malum kulminiert auch hier im Skandal der Blutsvermengung und wird zum Inbegriff der atrocitas: [...] mag diser Grausamkeit Was zu vergleichen seyn? Jhr habt die grosse Zeit Jn der sich Gott uns gab / Mit Fuersten Mord’ entweyet; Vnd in den heilgen Orth / der schuldige befreyet / Vnschuldig Blutt gespruetzt: wer itzund zweifeln kann Ob ihr noch Christen seyd [...] Des HErren wahres Fleisch / das ihr mit Blutt besprengt / Sein Blutt / das ihr mit Blutt des Kaeysers habt vermengt. (LA V, 273–282)

Zeit und Raum sind komprimiert, beide, „die grosse Zeit“ und der „heilge[] Orth“, sind durch das blutige Verbrechen gleichermaßen entweiht, wodurch der Gräuel der bösen Tat noch einmal intensiviert wird. Die wiederholte Aufrufung der atrocitas steigert den Eindruck der Uneinholbarkeit des Verbrechens. Der Grund dafür liegt jedoch nicht etwa in Leos „Suender Blut“. Dieses nämlich ist bei Theodosia als „Vnschuldig Blutt“ korrigiert. Allein der Fürstenmord zeugt von der mangelnden Christlichkeit der Verschwörer, die damit als Feinde der göttlichen Ordnung in ihrer Bosheit denunziert sind. Dies findet sich einmal mehr veranschaulicht, als Michael in der letzten Szene des Dramas von seinen Komplizen aus dem Kerker auf den Schauplatz begleitet wird und seine Befreiung nach dem Vorbild von Christi Auferstehung inszeniert:140 Jhr geb’t denn mir an itzt Licht / Freyheit / Seel und Leben! Jhr gebt denn mir mich selbst: was werd ich wider geben; Jch / der auß Tod und Grufft und angestecktem Brand / Vnd was mehr schrecklich ist / aus des Tyrannen Hand Durch eure Treu erloeß’t den grossen Thron besteige (LA V, 333–335)

Michael präsentiert sich – Christus gleich – als aus dem Tod auf den „grossen Thron“ erhoben, doch geschieht dies eben nicht durch Gott bzw. dei gratia, sondern durch seine Mitverschwörer, also durch Menschenhand. Der anaphori-

140 Darauf verweist schon Mannack: Kommentar Leo Armenius, S. 917.

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2 Ambivalenz als Spielraum des Bösen

schen Konstruktion seiner Ansprache zufolge kann aus dem wiederholt apostrophierten „Jhr“ das „Jch“ aufsteigen, wodurch superbia und Selbsterhebung pointiert zum Ausdruck kommen. In seiner weiteren Ansprache, die einer Predigt gleicht, fordert Michael seine Gefolgsleute zum unbedingten Credo an sich und an sie selbst auf: Vier Mal hebt der Vers mit der Aufforderung „Glaubt /“141 an, im Druck durch die Virgel sinnstiftend abgegrenzt. Es wird eine Weltgeltung in Aussicht gestellt, die selbst die Vergänglichkeit zu übervorteilen verspricht: Glaubt / daß wer nach uns sol ans Licht gebohren werden / Euch / Helden / ruehmen wird. Ja wenn der Kreiß der Erden Jn Flammen nun vergeht; Wird eure Trefflikeit / Bekroent mit stetter Ehr verlachen Tod und Zeit. (LA V, 351–354)

Michael treibt seine Anhänger weiter zur Ehrsucht an. Sogar Tod und Weltende werden durch den versprochenen Ruhm überkommen. Das christliche Heilsversprechen wird somit in Eitelkeit verhöhnt, verraten und profaniert. Michaels Selbstüberhebung und Selbstermächtigung finden sich also zuletzt noch einmal ultimativ gesteigert. Er hat den Fürsten in den Tod gestürzt und erhöht sich nun endlich als neuer Kaiser noch weiter in den Stand des Gottessohns. Was mit der Lästerung der Majestät begann, ist hier vollends zur Blasphemie geworden. Theodosia muss angesichts dieses Schauspiels der perfiden Machtbekundung einsehen: „Der ist / es ist nicht ohn / der Grausamst auff der Erden / Der durch Mitleiden muß sein eig’ner Hencker werden.“ (LA V, 367–368) Sie erkennt die Milde, zu der sie Leo überredet hatte, als Fehler und offenbart Michael daraufhin, dass sie sich für die Aufhebung seines Todesurteils eingesetzt habe, indem sie ausruft: diß ist noch unerhoert! Daß einer [Michael] / der so hoch erhaben und geehrt / Daß einer / dem so offt so hohe Schuld vergeben / Den wir zu unserm Tod’ erhalten bey dem Leben; Vns grausam schelten sol! (LA V, 357–361)

Als sie ihn daraufhin anfleht, auch sie zu töten, sodass sie sich mit ihrem Gemahl im Tod vereinen kann, schlägt er ihr Anliegen aus mit der Erklärung: „Geh hin! ich bin nicht der / der Die zu toedten denckt: Die mir (so wie sie ruehmt) das Leben hat geschenckt.“ (LA V, 405–406) Michaels Verspottung stellt dabei eine verbale Form der Gewalt dar. Auf grausame Weise ironisiert er Theodosias traurigen Verdienst. Er appliziert mit der Ironie eine der lügnerischen Verstellung verwandte Strategie, nur dass er nun, da er in die Macht ge141 Vgl. LA V, 345–352.

2.6 Consolatio Theodosiae: Der Fürstenmord als imitatio Christi

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hoben wurde, unantastbar ist. Er kann seine wahre Absicht bedenkenlos durchblicken lassen und sich über die höfische Verhaltenslehre hinwegsetzen. Seine ironische Transparenz ist damit ein Machtgestus und gilt hier, gegenüber Theodosia, einzig der sadistischen Provokation, sodass Theodosia hier zum Opfer psychischer Gewalt wird. Mokant imitiert er Theodosias Milde und wendet sie auf grausam zynische Weise gegen die verzweifelte Kaiserin, frei nach seinem Ausspruch: „So faellt / wer Gruben macht / vor ander selbst hinein.“ (LA V, 369) Noch im Angesicht tiefster menschlicher Erniedrigung bleibt seine Bosheit vorherrschend, die sich nunmehr als Ironie und Zynismus formuliert und damit „moderne[] Reflexionsmuster“142 in der Darstellung des Bösen einübt. Als daraufhin Leos Leichnam auf den Schauplatz getragen wird, wird schließlich die atrocitas des Fürstenmordes, der ja bisher nur indirekt durch den Botenbericht vermittelt wurde, auf der Bühne präsent. Im Angesicht des „gantz zustueckten Leib[es]“ (LA V, 279), der auf die Zerschlagung der Ordnung hinweist, die Leo verkörperte, werden Grausamkeit und Perfidie des Verbrechens nachträglich vergegenwärtigt. Auf dramaturgischer Ebene ist diese vehemente Präsentation der atrocitas, die durch den Botenbericht und Theodosias Klagerede eindringlich vorbereitet wurde, der konsolatorischen Wirkabsicht verpflichtet.143 Die gesamte Präsentation des Leichnams ist dabei auf die buchstäbliche Blutzeugenschaft des Toten ausgerichtet. So legen die Wunden und das Blut des toten Leibes vor Theodosia vom Verbrechen Zeugnis ab: schaut / sein nicht schuldig Blutt Gereitzt durch unser Angst / spruetzt eine neue Flutt Durch alle Wunden vor! sein Blutt rufft embsig Rache! Ob seine Lippen stum. Sein Blutt thut eu’rer Sache Mordgirig Vnrecht dar! (LA V, 429–433)

Blut und Wunden erzeugen hier aus sich selbst heraus evidentia, wie das deiktische „schaut“ indiziert. Dies wird gar als Replik auf den Beginn des Dramas lesbar: Dort sprach Michael von Blut und Wunden der Militärfunktionäre – „Das Blut / das ihr umbsonst fuer Thron und Cron gewagt / Die Wunden / die ihr schier auff allen Glidern tragt“ (LA I, 1–2) –, um zum Fürstenmord aufzurufen, hier sprechen am Ende Leos Leichnam, sein Blut und seine Wunden, für sich. Während der Mund als Medium der möglichen Ambivalenz mit der Zunge als zweischneidigem

142 Als solche identifiziert Alt: Wiederholung, Paradoxie, Transgression, S. 558 Ironie und Zynismus mit Blick auf Goethes Faust. 143 Vgl. Hans-Jürgen Schings: Consolatio Tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels. In: Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. Hg. von Reinhold Grimm. Bd. 1. Wiesbaden 1971, S. 1–44, hier S. 28.

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2 Ambivalenz als Spielraum des Bösen

Schwert verstummt ist, sprechen die Wunden eine eindeutige Sprache. Die eloquentia corporis wird hier vordergründig. Das erneut hervorströmende Blut rinnt in einem eigenen Redefluss und wird so zur letzten Äußerung des Toten, die jegliche mündliche Rede über die grausame Bluttat hinter sich lässt.144 Juristisch galt im 17. Jahrhundert die cruentatio cadaverum – auch Baar- oder eben Blut-Beweis genannt, der das Aufbrechen und abermalige Bluten von Wunden Getöteter in Anwesenheit der Verdächtigen meint – als gerichtsverwertbar zur Überführung des Mörders.145 Leos wieder aufbrechende Wunden weisen jedoch noch über diese strafrechtlichen Implikationen hinaus. Der Blutbeweis wird zum Blutzeugnis hin transzendiert, dem allein etymologisch als martyrion im Sinne von „Ablegen eines Zeugnisses“ und „Bezeugen vor Gericht“ das Sprechen in einer Gerichtssituation implizit ist.146 So rufen auch Leos Wunden nicht nur als juristischer Blutbeweis nach Rache im Sinne einer vergeltenden, weltlichen Ahndung. Sie versprechen auch Rache im Sinne einer ausgleichenden göttlichen Gerechtigkeit, die das Böse straft. Das erneut fließende Blut wird damit neben einer juristischen zu einer spirituellen Quelle. Die Wunden sagen das Unsagbare, da sie (auch) die providentia offenbaren. Es handelt sich dabei gerade nicht um eine ambivalente Konstruktion, in der die irdische mit der metaphysischen Deutung konkurriert. Im Gegenteil: Weil das weltliche Recht religiös begründet ist, befindet es sich in Übereinstimmung mit der göttlichen Gerechtigkeit. Nicht zuletzt deutet die Präsenz des sprechenden Leichnams hin auf die Anordnung des Martyriums. Auch dort wird die menschliche Sprache an ihre Grenzen getrieben, denn der Märtyrer zeugt mit seinem verwundeten Körper von der „Korpo-Realität des fleischgewordenen WORTES [sic!]“147. Die menschliche Sprache mit ihrer Zweideutigkeit versagt und die göttliche Sprache kommt zu Wort. Was durch die Konstellation zwischen Theodosia und Leos Leichnam zum Ausdruck sowie zur Anschauung kommt („schaut“), ist also nichts geringeres als die innere Logik des Martyriums, da „der Zeuge-als-Märtyrer eines zweiten Augen-Zeugen [bedarf], der seinen Tod wahrnimmt, ihn als Opfer (‚sacrificium‘) anerkennt und als sinnhaftes Zeugnis weiter tradiert“148. War der Bote der Augenzeuge für das Ge144 Siehe zur flüssigen Rede des Blutes, am Beispiel von Lohensteins Trauerspieldichtung Thomas Rahn: „Schaut: wie das Blutt schon spritzt!“ Die Rhetorik der Körperflüsse in Lohensteins Theater. In: Rhetorik 27 (2008), S. 18–29, hier S. 23. 145 Vgl. Esther Fischer-Homberger: Medizin vor Gericht. Gerichtsmedizin von der Renaissance bis zur Aufklärung. Bern 1983, S. 306–311. 146 Vgl. dazu Wild: Theater der Keuschheit, S. 124–125, der dies als etymologische Hinführung auf das Martyrium in Catharina von Georgien erarbeitet. 147 Ebd., S. 129. 148 Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 87–88.

2.6 Consolatio Theodosiae: Der Fürstenmord als imitatio Christi

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waltverbrechen am Kaiser, so ist Theodosia die Augenzeugin für Leos Marytrium. Sie wiederum vermittelt diese sowohl juristische als auch metaphysische evidentia an die Umstehenden, wobei in der visuellen Konstellation des Theaters schließlich auch Gryphius’ Zuschauer im Moment der Aufführung zu Augen-Zeugen werden, die wiederum Leos Blutzeugnis beglaubigen und tradieren. Das Publikum wird in diesen Erkenntnisprozess unmittelbar einbezogen und zum potentiellen Multiplikator der martyrologischen und konsolatorischen Botschaft. Weil ihr durch Michael selbst (psychologische) Gewalt widerfahren ist und sie das Blutzeugnis als solches erkennt, verfügt Theodosia schließlich selbst über das „Wissen der Märtyrerin“149 und wird zu ihrer Vision befähigt. Diese ist nicht Wahn, sondern Erkenntnis des sich hier manifestierenden metaphysischen Prinzips, das den Augenschein des Weltgeschehens transzendiert. Das Publikum hat teil an ihrem Erkenntnisprozess, der hier offen auf der Bühne ausgetragen wird und nicht wie noch bei Leo hinter den Kulissen verläuft. Theodosia sieht, dass ihr Gatte den Tod überwindet, wodurch Leos transzendente Auferstehung Michaels inszenierte Auferstehung durchkreuzt: „O Freud! er lebt! er lebt! Nun ist diß Leid gewichen!“ (LA V, 431) Theodosias visio erzeugt metaphysische evidentia. Durch das Leiden, die passio, wird das Böse überwunden, und damit auch der Tod. Gryphius radikalisiert Luthers theologia crucis, indem er sie verdichtet: Menschwerdung Gottes und seine Opfertierwerdung, Weihnachtsgeschichte und Passionsgeschichte fallen zusammen.150 Diese Radikalisierung der Kreuzestheologie manifestiert sich nicht zuletzt gerade darin, dass es sich bei dem Kreuz in der byzantinischen Palastkirche um das authentische Kreuz vom Berge Golgatha handeln soll. Und die Bedeutung des Golgathageschehens ist gerade für die Überwindung des Bösen entscheidend.151 Schließlich stellt Theodosias Vision auch die Vergeltung an den Fürstenmördern im Sinne einer göttlichen (und irdischen) Gerechtigkeit in Aussicht: „Hir steht er! er ergrimm’t und schuettert Schwerdt und Brand / Auff der Verraehter Haeupt.“ (LA V, 442–443) Sie vermittelt damit Trost inmitten des grausamen Geschehens. Diese trostspendende Funktion ist Theodosia, deren sprechender Name „Gottesgeschenk“ bedeutet, von ihrem ersten Auftritt an eingeschrieben. Dort apostrophiert Leo sie schon im ersten Vers als „Mein

149 Alt: Begriffsbilder, S. 263. 150 Steiger: Poetische Christologie, S. 93 stellt dies als poetisches Verfahren für Gryphius’ geistliche Dichtung vor, demzufolge „seine weihnachtlichen Hymnen stets passionsmeditative Züge tragen“. Dass dies auch auf den Leo Armenius zutrifft, wäre zu ergänzen. 151 Vgl. Johan Hygen: Art. Böse, Das. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Müller u. a. Bd. 7. Berlin, New York 1981, S. 7–18, hier S. 16. Im Weiteren wird die Theologische Realenzyklopädie unter der Sigle TRE und mit Angabe der Band- und Seitenzahl zitiert.

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2 Ambivalenz als Spielraum des Bösen

Trost!“ (LA II, 445) und stellt sie als Trägerin der konsolatorischen Botschaft vor. Die consolatio tragoediae ist gestaltet als consolatio Theodosiae und der Trost wird zum Geschenk Gottes.152 Theodosia repräsentiert die Übereinstimmung, die concordia von Sein und Schein, Gezeigtem und tatsächlicher Bedeutung, Bezeichnung und Bezeichnetem, die Michael Balbus, der vorgebliche Stotterer, nunmehr als Kaiser der Ambivalenz unterminiert, ja ausgehöhlt hat. Hier, am Ende des Leo Armenius, stehen sich Theodosia und Michael als Antagonisten gegenüber, wobei Theodosia schließlich jegliche Herausforderung der Ambivalenz – und damit eben nicht zuletzt Michael und seinen zynischen Sadismus als Reflexionsmuster des Bösen – überwindet. Im Rückgriff auf die innere Logik der christlichen Metaphysik, die durch Theodosias Vision zur Anschauung kommt, kann die Ambivalenz des Fürstenmordes zwischen grauenvoller und freudenreicher Nacht, Gräuel- und Frohbotschaft, Sakrileg und Martyrium bezwungen werden. Alle Entweihungen und Vermaledeiungen, Pervertierungen und Profanierungen werden durch das Versprechen der göttlichen Gerechtigkeit aufgefangen. Schließlich wird gerade zur Weihnacht auch der luziferische Hochmut des Michael Balbus durch den Hochmut der Gläubigen über die Menschwerdung Gottes und die Demut angesichts der Gnade und Gerechtigkeit Gottes besiegt.153 Das Böse, auch wenn es bis in die weltliche und spirituelle Mitte vordringt und dort grausam waltet, ist schließlich dem göttlichen Prinzip unter- und nachgeordnet. Die consolatio wiederum ist hier als Wirkungsabsicht dem historischen Geschehen übergeordnet. Sie ist der neostoizistische Trost über den Zustand der Welt. Dabei

152 Koschorke: Leo Armneius, S. 202 ist also zu widersprechen, wenn er konstatiert: „Indessen kann nicht einmal die Frage, ob die Kaiserin gleichsam die Rolle einer intendierten Leserin des Trauerspieltextes einnimmt, unzweideutig beantwortet werden“. Als Argument führt er die Position der Verschwörer an, die Theodosia für wahnsinnig erklären, und stellt diese als genauso valide dar wie die Theodosias. Dass die Fürstenmörder gerade nicht erkennen, was Theodosia erkennt, zeugt vielmehr von deren Unempfänglichkeit gegenüber der göttlichen Offenbarung. Wie sie mit dem Fürstenmord bewiesen haben, sind sie schlechte Untertanen und (deshalb auch) schlechte Christen. Darüber hinaus ist jegliche Aussage der Verschwörer kompromittiert und mit Vorsicht zu genießen, da sie sich nicht nur konsequent in Lüge und Betrug geübt haben, sondern auch stets ihrem eigenen Deutungswillen gefolgt sind. Ihnen ist also ohnehin kein Wort mehr zu glauben. Die Verschwörer sind deshalb per se nicht vertrauenswürdig, um die Schlussszene angemessen zu perspektivieren. 153 Auch diese Wendung der superbia ist lutherischer Provenienz, vgl. WA 29, 651. Dazu ausführlich Johann Anselm Steiger: „Gott und Engel steigen nieder: schwache Menschen fahren auf“. Das Paradox der Weihnacht bei Martin Luther, Andreas Gryphius und Catharina Regina von Greiffenberg. In: Das Motiv der Weihnacht. Untersuchungen zur religiösen Dichtung aus dem Umfeld des Pegnesischen Blumenordens im 17. Jahrhundert. Hg. von Matthias Clemens Hänselmann, Ralf Schuster. Passau 2013, S. 1–17, hier S. 2.

2.6 Consolatio Theodosiae: Der Fürstenmord als imitatio Christi

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macht es sich Gryphius, seiner Vorrede zum Leo Armenius entsprechend, zur Aufgabe „menschliche Gemüter von allerhand unartigen und schaedlichen Neigungen saeubern“154. In dieser poetologischen Anordnung, in der Trost und Reinigung zusammenfallen, ist Katharsis gleichbedeutend mit consolatio.155 Der Fürst ist der Spiegel der Welt und im Trauerspiel wird der Ernstfall er- und geprobt, wobei das Heilsversprechen (mehr oder weniger unmissverständlich) doch immer das letzte Wort behält.156 Die consolatio nimmt schließlich die Form einer Theodizee an.157

154 LA, S. 11, Z. 11–12 (Vorrede). 155 Diese Formel findet sich bereits bei Schings: Consolatio Tragoediae, S. 22. Vertiefend bemerkt Schings weiter, Gryphius’ Generalthema sei „– wie in den Konsolationstraktaten von Seneca und Cyprian, von Böethius und Lipsius – die Vergewisserung providentiellen Heils in allen Katastrophen. Es ist der in die dramatisch-rhetorische Präsenz übersetzte Prozeß einer consolatio in adversis.“ (Ebd., S. 38). 156 Ich schließe mich hier Schings an, der den Typus der „Vanitas- und Fortuna-Tragödie, d [er] Greuel-, Laster- und Leidenschaftstragödie, d[er] Tragödie des Tyrannen und des Fürstensturzes“, dem der Leo Armenius zuzurechnen ist, zu solchen „Tragödien also [zählt], die für den modernen Betrachter in einem gewissen Zwielicht stehen, da sie nicht immer mit einer eindeutigen Kundgabe des Sinns aufwarten“ (ebd., S. 26). Zu solchen ‚modernen‘ Betrachtungen gesellt sich sodann eine postmoderne Lesart. Symptomatisch dafür ist die Tendenz vor allem der neueren Forschung (siehe z. B. Kaminski, Drügh, Weidner, Nagel), die im Leo Armenius durchaus strukturell angelegte Ambivalenz als unauflösbar zu verabsolutieren. Bornscheuer: Diskurs-Synkretismus, S. 498 attestiert Gryphius’ Trauerspielen überhaupt „eine diskursive Doppelstruktur, deren Ambivalenz sich auch nicht im Tode auflöst“ und will darin eine „besondere und moderne poetische Qualität der Gryphschen Trauerspiele“ (ebd., S. 525– 526) ausmachen. Erkennen wir in der Ambivalenz jedoch eine Herausforderung, vor die der Mensch postlapsarisch gestellt ist und vor die Gryphius sowohl seine Figuren als auch sein Publikum im Leo Armenius stellt, so geht es viel eher um jenen exemplarischen, didaktischen Erkenntnisprozess, an dessen Ende die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, Gemeintem und Gesagtem, Sein und Schein steht. 157 Dies hatte Schings: Gryphius, Lohenstein und das Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, S. 56– 57 für das gesamte Genre des barocken Märtyrerdramas konstatiert.

3 Unterwelt und Welttheater: Gryphius’ Catharina von Georgien oder Bewehrte Beständigkeit (1657) Bereits in seiner Vorrede zum Leo Armenius aus dem Jahr 1646 verweist Gryphius auf sein Projekt der Catharina von Georgien: „Doch umb daß wird derselben [der Leserschaft] Gunst nicht gantz verlieren; versichern wir sie hiermit / daß auffs eheste unser Chach Abas in der bewehrten Bestaendigkeit der Catherine von Georgien reichlich einbringen sol / was dem Leo nicht anstehen koennen.“1 Was dem Leo Armenius nämlich fehle, sei das Element von „Liebe und Bulerey“2, das nach Gryphius zum entscheidenden Distinktionsmoment zwischen den beiden Dramen wird. Das 1657 erstmals erschienene Trauerspiel Catharina von Georgien oder Bewehrete Bestaendikeit bringt die Ereignisse um den grausamen Tod der georgischen Königin Ketewan im Jahre 1624 zur Aufführung. Das Drama spielt am letzten Tag ihres Lebens.3 Acht Jahre zuvor hatte der Schah (bei Gryphius: Chach) Abas I. sie im Zuge einer militärischen Invasion in Georgien in seine Gewalt gebracht und mit sich an den Hof von Isfahan genommen, wo er sie bis zu ihrem Martertod gefangen hielt. Die historischen Abläufe aus der unmittelbaren Vergangenheit hatte Gryphius den Histoires tragiques de nostre temps von Claude Malingre (Rouen 1641, zuerst 1635) entnommen und bleibt diesen in seiner dramatischen Dichtung zum größten Teil treu.4 Die „Liebe und Bulerey“ aber, die den Chach in Gryphius’ Bearbeitung des Stoffs antreibt, erscheint bei Malingre als simulatio.5

1 LA, S. 13 (Vorrede). 2 Ebd., S. 12. 3 Da die Vorrede zum Leo Armenius ihrer Datierung entsprechend im November 1646 entstanden ist, ist davon auszugehen, dass sich die Catharina zu jener Zeit zumindest in der Konzeption befunden hat. Mannack datiert ihre Fertigstellung in seinem Kommentar zur Catharina von Georgien auf „1647 oder spätestens 1648 in einer Fassung […], die Gryphius später noch überarbeitete“, siehe Gryphius: Dramen, S. 921–962, hier S. 923. Im Folgenden wird auf den Kommentar unter der verkürzten Angabe Mannack: Kommentar Catharina und der Seitenangabe verwiesen. 4 Dies rekonstruiert Gerald Gillespie: Andreas Gryphius’ „Catharina von Georgien“ als Geschichtsdrama. In: Geschichtsdrama. Hg. von Elfriede Neubuhr. Darmstadt 1980 (Wege der Forschung 485), S. 85–107. 5 Zu den Abweichungen in Gryphius’ Text siehe Joachim Harst: Catharina von Georgien. In: Gryphius-Handbuch, S. 203–220, hier S. 205. https://doi.org/10.1515/9783110726022-003

3 Unterwelt und Welttheater

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Hatte der Chach in der Vorgeschichte des Trauerspiels eine gnadenlose Politik der Expansion betrieben, um die Grenzen seines Reichs zu erweitern und in diesem Zuge das georgische Reich zu erobern, wird, als er das erste Mal den Schauplatz betritt, schnell deutlich, dass er sich nicht mehr nur Georgien zu eigen machen will, sondern auch dessen Königin. Er ist in Begierde zu Catharina entbrannt und will sie heiraten, was nicht zuletzt ihren Übertritt zum Islam zur Konsequenz hätte. Catharina jedoch verweigert sich dagegen und lehnt seinen Antrag beständig ab. Sein unerfülltes Begehren treibt den Chach schließlich zum Äußersten. Im dritten Akt, dem dramatischen Wendepunkt des Trauerspiels, konfrontiert er Catharina mit einem Ultimatum: „Ehbett oder Tod“ (CG III, 408). Catharina schlägt seinen Antrag ein letztes Mal aus und wird infolgedessen auf sein Geheiß hin brutal hingerichtet. Während für die Auseinandersetzung mit dem Bösen im Leo Armenius Vermaledeiung und maledictio, der Konnex von Lastern und Lästern und das Kalkül der Deutungshoheit im Mittelpunkt standen, kommt das Böse hier auf dem Höhepunkt des Trauerspiels als Malträtieren „in ihrem [Catharinas] Leib’ und Leiden“6 zur Darstellung und ist Ausdruck der erratischen „Liebe und Bulerey“ des Chachs, also des Sinnlichen und verderblich Affektischen, das Benjamin das „Materialische“ genannt hat. Dabei wird die Hölle, wie die vorliegende Analyse zeigen wird, zum Leitmotiv, mit dem das Böse im Text, im Welttheater, aber auch in Chach Abas verortet wird und somit zum Topos einer Psychologisierung des Bösen und seiner Strafen wird. Das Trauerspiel wird vom Prolog der Ewigkeit eröffnet, der Himmel und Hölle als Koordinaten zur Vermessung des theatrum mundi bestimmt (Kapitel 3.1). Doch auch in der immanenten Handlung des Trauerspiels wird die Hölle immer wieder „bewußt gehalten“7. Dies betrifft zum einen ihre Ausprägung als Hölle auf Erden in der Vorgeschichte, da unter Anleitung des Chachs wiederholt Böses ins Werk gesetzt wurde, um Georgien zu unterwerfen (Kapitel 3.2). Zum anderen formuliert sich dies in der Gegenwart des Trauerspiels als 6 Es wird zitiert nach Andreas Gryphius: Catharina von Georgien. In: Gryphius: Dramen, S. 117–226. Im Folgenden wird Catharina von Georgien mit der Sigle CG gekennzeichnet. Abhandlungen und Reyen werden inkl. Akt- und Verszahl im Text zitiert. Der Prolog wird anstelle einer Aktzahl mit „P“ ausgewiesen. Die Vorrede an den Großgünstigen Leser, Inhalt und Regieanweisungen werden in den Fußnoten mit der Sigle und der Seitenzahl vermerkt, hier CG, S. 119 (Vorrede). 7 Ähnlich bemerkt auch Inge Schleier: Die Vollendung des Schauspielers zum Emblem. Zu den ästhetischen Grundlagen der Theatersemiotik in der Gryphius-Zeit. In: Daphnis 28 (1999), S. 529–545, hier S. 543: „Kontinuierlich bis zum Ende der Tragödie halten die ‚Redenden‘ mit Verweisen das Oben/Himmel und das Unten/Hölle bewußt. So wird die Bühne zum theatrum mundi.“

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3 Unterwelt und Welttheater

Metapher für die innere Qual seiner „Liebe und Bulerey“ im Sinne einer Hölle, die der Böse mit sich trägt (Kapitel 3.3). Nachdem Catharinas Hinrichtung gleichsam als infernalische Marterqual erscheint (Kapitel 3.4), bricht in der letzten Szene des Trauerspiels die höllische Gewissensqual über den Chach hinein (Kapitel 3.5) und er wird, der Moraldidaxe des Trauerspiels entsprechend, der Hölle als physischem und psychologischem Strafraum überantwortet.

3.1 „Unter dem Schau-Platz die Helle“: Das (Unter-) Welttheater im Prolog Noch bevor die eigentliche Handlung des Trauerspiels einsetzt, wird, wenn die Ewigkeit den Schauplatz betritt, deren übergeordneter Sinn im Prolog allegorisch präsentiert. Ist Gryphius’ Catharina von Georgien als ein Drama der Transgression zu lesen, in dem territoriale und physische Grenzen gewaltsam durchbrochen werden, so wird dies vorweg durch die Vorrede auf geistiger Ebene transzendiert.8 Der Prolog verleiht dem dramatischen Geschehen im Voraus einen spirituellen Charakter, überschreitet damit dessen handlungsimmanente Grenzen und konterkariert auf diese Weise die grausamen innerweltlichen Transgressionen des Chachs, die anschließend zur Anschauung gebracht werden, ja dämmt sie geradezu ein. Die Vorrede der Ewigkeit wird von der „wohl berühmteste[n] Bühnenanweisung des deutschen Barockdramas“9 eingeleitet, die Auskunft über die Beschaffenheit des Bühnenschauplatzes und damit über die Ordnung und Verortung der Welt erteilt: Der Schauplatz liget voll Leichen / Bilder / Cronen / Zepter / Schwerdter etc. Vber dem Schau-Platz oeffnet sich der Himmel / unter dem Schau-Platz die Helle. Die Ewikeit kommet von dem Himmel / und bleibet auff dem Schau-Platz stehen.10

8 Vgl. Alt: Begriffsbilder, S. 250. Auch Armin Schäfer: Nachrichten aus dem Off. Zum Auftritt im barocken Trauerspiel. In: Auftreten. Wege auf die Bühne. Hg. von Juliane Vogel, Christopher Wild. Berlin 2014 (Recherchen 15), S. 216–232, hier S. 231 bemerkt: „Im Auftritt der allegorischen Figur bricht die Transzendenz in den Schauplatz ein.“ 9 Alt: Begriffsbilder, S. 247, der an dieser Stelle weiter ausführt, dass Gryphius den Einschub des Prologs als expositorische Instanz dem jesuitischen Schultheater entnommen habe, wobei es sich dabei mit der Catharina um eine Ausnahme nicht nur in Gryphius’ Trauerspieldichtung handele, sondern in der zeitgenössischen protestantischen Tradition überhaupt. Einen Sonderfall bilden außerdem Lohensteins Ibrahim Bassa und Ibrahim Sultan, siehe Kapitel 6.1 dieser Studie. 10 CG, S. 125 (Bühnenanweisung).

3.1 „Unter dem Schau-Platz die Helle“: Das (Unter-)Welttheater im Prolog

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Analog zum Prolog, der einen exponierten Ort im Textgefüge darstellt, ist der Schauplatz ebenfalls ein erhobener und gar erhabener Ort.11 Er ist hier persischer Hof und die ganze Welt, lokal und universal, und damit Theaterbühne und theatrum mundi zugleich.12 Und dieses Welttheater ist nur mithilfe der eschatologischen Koordinaten von oben/Himmel und unten/Hölle zu vermessen bzw. zu ermessen, wobei sich diese geographische Gliederung über eine Gradation von Gottesnähe zur Gottesferne definiert. Die Bühnenanweisung beschreibt den Schauplatz als übersät von toten Leibern sowie daniederliegenden Insignien herrschaftlicher Gewalt und verweist damit auf das zerbrochene und verfallene Regiment der Diesseitigkeit in Erwartung der Ewigkeit. Dass diese nunmehr bloßen Requisiten des Welttheaters asyndetisch gereiht sind und von einem „etc.“ fortgesetzt werden, spricht dabei nur für deren Beliebigkeit angesichts ihrer vanitas. In diesem Bühnenbild manifestiert sich ebenjenes Weltbild, das den Wert- und Bedeutungshorizont „sub specie aeternitates“13 für das Trauerspiel eröffnet. Diese Zurichtung des Schauplatzes wird sodann von der Ewigkeit selbst noch einmal kommentiert, wenn sie als Ausdruck der christlichen Weltverachtung das senecaische Ideal eines calcare mundum performativ – und rhetorisch gesehen polysyndetisch – umsetzt: „Vor mir ligt Printz vnd Crone / Jch trett’ auff Zepter vnd auff Stab vnd steh auff Vater vnd dem Sohne.“14 (CG I, 67–68) Während das weltliche Regiment also sprichwörtlich mit Füßen getreten wird, fußt die Ewigkeit beständig, also ganz im Sinne der constantia, auf dem Fundament des christlichen Glaubens, nämlich dem allmächtigen „Vater und dem Sohne“. Daran anschließend führt die Ewigkeit in deiktischem Gestus die in der Bühnenanweisung abgesteckte symmetrische Anordnung der heilsgeschichtli-

11 Vgl. Rusterholz: Theatrum vitae humanae, S. 15; Barner: Barockrhetorik, S. 118. 12 Vgl. Wild: Überlegungen zu zwei Grundoperationen im theatrum mundi, S. 102. Hans-Jürgen Schings: Catharina von Georgien oder Bewehrete Beständigkeit. In: Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen. Hg. von Gerhard Kaiser. Stuttgart 1968, S. 35–72, hier S. 41–42 spitzt diese Anordnung weiter auf das Genre des Märtyrerdramas zu: „So hat zwar auch die Gryphsche Bühne noch die Maße und die Beziehungsweite eines theatrum mundi, […] angesichts einer von Grund auf verstörten Schöpfung, einer von einem zornigen, ja ‚grausamen‘ Gott verfluchten Welt aber, unter der unerbittlichen Gleichung Leben-Trauerspiel, verkürzt sich dieses theatrum mundi notwendig zur arena martyrum.“ Da hier Persien zum theatrum mundi wird, wird auch der orientalistische Blick auf das „Andere“ aufgeweicht, da das vermeintlich Andere einen Ort in der eigenen Weltordnung hat. 13 Schings: Catharina von Georgien, S. 44. 14 Siehe zum Motiv des calcare mundum ebd., S. 37.

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3 Unterwelt und Welttheater

chen Räume weiter aus, was von einer rhetorischen Komposition aus Antithesen, Parallelismen und Anaphern komplementiert wird: Hir ueber euch / ist diß was ewig lacht; Hir unter euch / was ewig brennt und kracht. Diß ist mein Reich. [...] Schaut des Himmels Wollust an! hir ist nichts denn Trost und Wonne Schaut den Kercker des Verderbens / hir ist nichts denn Ach und Klage! Schaut das Erbschloß hoechster Lust; hir ist nichts denn Freud und Sonne Schaut den Pful der schwartzen Geister; hir ist nichts denn Nacht und Plage. Was steht euch an? Diß ist was Ewig euch ergetzen und verletzen kan. (CG I, 71–80)

Die ersten beiden Verse dieses Abschnitts erscheinen als Paraphrasierung der Bühnenanweisung. Doch mehr noch als eine Verortung von Himmel und Hölle vorzunehmen, wird deren unmittelbare Gegenwart herausgestellt, indem das Publikum dabei angesprochen und einbezogen wird: „Hir ueber euch“ und „Hir unter euch“. Und genau hier, an ebendieser Stelle in ihrem Monolog, offenbart die Ewigkeit sich selbst, denn „diß was ewig lacht“ und „was ewig brennt und kracht […] ist mein Reich“. Nicht nur kontrastiert ihr Regiment das der weltlichen Vergänglichkeit, auch regiert sie als Vertreterin der Unendlichkeit und Omnipotenz Gottes beiderorts. In diesem Sinne hatte sie bereits zuvor verkündet: „Die Throne krachen ja wenn diser [Gott] sie nicht haelt / Der durch ein Wort beweget Hoell und Welt.“ (CG I, 15–16) Die Allmacht Gottes manifestiert sich also in seinem Wort und dieses Wort wiederum ist, der lutherischen Orthodoxie entsprechend, die Ewigkeit selbst als verbum aeternum.15 Da bei Gryphius die Ewigkeit von Gottes Wirkmacht durch sein Wort spricht, wird dieser Glaubenssatz mittels Allegorie performativ manifest und dem Prolog ist damit allerhöchste Autorität verliehen. Dadurch wiederum präsentiert der Prolog ebenfalls eine Bestimmung des Bösen: Da Gott mit seinem ewigen Wort, personifiziert durch die Ewigkeit selbst, nicht nur im und über den Himmel herrscht, sondern gleichermaßen über Welt und Unterwelt, zeigt sich, dass er auch über den Raum des Bösen verfügt. Vor diesem Hintergrund wird in der erweiterten Bestimmung von Himmel und Hölle, die der Prolog präsentiert, eine Hierarchie der Räume abgebildet. So fällt zuallererst auf, dass die Hölle als Raum des Bösen gleich dem Bösen selbst, entsprechend der patristischen Lehre 15 Unter Berufung auf das Johannes-Evangelium und das erste Kapitel der Genesis entwickelt Luther seine Auffassung vom verbum aeternum, das „von Ewigkeit her“ das Wesen Gottes gewesen sei. Siehe dazu Albrecht Beutel: Wort Gottes. In: Luther Handbuch. Hg. von Albrecht Beutel. 2. Aufl. Tübingen 2010, S. 362–371, hier S. 362.

3.1 „Unter dem Schau-Platz die Helle“: Das (Unter-)Welttheater im Prolog

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vom malum als privatio boni, stets dem Guten nachgeordnet ist. Die Hölle ist dabei ex negativo zum ihr vorgebildeten Himmel arrangiert,16 was sich nicht zuletzt in der rhetorischen Konstruktion aus Antithesen und Parallelismen widerspiegelt. Mit der Beschreibung als „Kercker des Verderbens“ wird die Hölle als ewiger Strafort bestimmt. Wenn es dabei heißt „hir ist nichts denn Ach und Klage!“ (CG I, 76), dann deutet dieser Ausdruck des Leides auf die doppelte Bestimmung der Höllenstrafe: Sie ist körperliche Qual als poena sensus oder „Marterqwaal“ einerseits und endgültiger Entzug der Gottesschau als poena damni oder „Angstqwaal“ andererseits.17 Ist der Inbegriff der himmlischen Trias „Wollust“, „Trost“ und „Wonne“ (CG I, 75) das Bei-Gott-Sein und die unverstellte, unverhüllte Gottesschau, so ist ihr die Gottesferne der Hölle diametral entgegengesetzt, die der lutherisch-orthodoxe Theologe und Gryphius’ Zeitgenosse Johann Gerhard zusammenfasst als „At Deum non videre, est omni bono privatum esse“18. Mit der Vorstellung der Gottesferne ist die Hölle als Ort der privatio boni bestimmt bzw. ist sie als Privation selbst zu denken. Und durch ebendiesen Gedanken der Privation wird eine so zu nennende Neuverortung der Hölle vorbereitet, die ihre Bosheit und ihre Qual in den seelischen Innenraum des Menschen verlegt. Gryphius folgt darin nicht zuletzt der lutherischen „Aktualisierung“19 der Höllenvorstellung, nach der sich die Hölle bereits im Gewissen des Sünders ereignet und die längerfristig mit jener Entwicklung verknüpft ist,

16 Ähnlich auch Erhard Kunz: Protestantische Eschatologie von der Reformation bis zur Aufklärung. Handbuch der Dogmengeschichte. Bd. 4: Sakramente, Eschatologie. Freiburg im Breisgau 1980, S. 66 über die ewige Verdammnis in der altprotestantischen Orthodoxie. 17 Die dogmatische Bestimmung der Höllenstrafen, d. h. ihre Unterscheidung in poena damni und poena sensus, geht zurück auf Papst Innozenz III. (1198–1216). Die angeführte Übersetzung der lateinischen Termini ist dem Werk von Gryphius’ Zeitgenossen Justus Georg Schottel: Grausame Beschreibung und Vorstellung Der Hölle Und der höllischen Qwal, Oder des andern und ewigen Todes. Wolfenbüttel 1676, S. 291 entnommen, womit sich zeigt, dass diese Ausdifferenzierung auch im 17. Jahrhundert noch wirksam war. Dabei ist die Übersetzung dem 89. Kapitel zu entnehmen, das sich bemerkenswerterweise gerade der Ewigkeit als Merkmal „der Hoelle und [des] Hoellischen Zustands“ widmet unter dem Motto: „Nimstu hundert tausend Jahr / tausend Million noch drueber / Erst weg von der Ewigkeit / Ewigkeit bleibt gaenzlich ueber“. 18 Johann Gerhard: Loci theologici. Hg. von Eduard Preuss. Bd. 9. Berlin 1875, locus XXVIII, cap. V, S. 59. 19 Kunz: Protestantische Eschatologie, S. 8. Siehe dazu ebenfalls sowohl Osterkamp: Lucifer, S. 79–83, hier bes. S. 80 als auch Reinhard Paczesny: What the Hell Became of Hell? Zum Schicksal literarischer Höllenvorstellungen seit der Renaissance. In: Sprache im technischen Zeitalter 83 (1982), S. 174–180, hier bes. S. 176, die ebendiesen epistemologischen und anthropologischen Wandel für das 16. und 17. Jahrhundert skizzieren.

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3 Unterwelt und Welttheater

die rückblickend als „Abschaffung der Hölle“20 oder als „Niedergang der Hölle“21 bezeichnet wird. Der Gottferne trägt in jedem Fall die Hölle in sich und diese Hölle äußert sich bereits im Diesseits als Gewissensqual. Dies korrespondiert sodann auch mit der Beschreibung „hir ist nichts denn Nacht und Plage“: In der Hölle ist der Entzug von Gottes Licht gesetzt. Dabei herrschen Strafe und Pein – poenae – vor, die die Verdammten sowohl sinnlich als auch innerlich, d. h. im Gewissen, plagen und „Ewig […] verletzen“. Gleichzeitig wird die Hölle in ihrer physischen Qualität präsentiert, da sie im Prolog zuallererst durch das Höllenfeuer („was ewig brennt und kracht“) evoziert wird. Dies korrespondiert mit ihrer Bezeichnung als „Pful der schwartzen Geister“. Der biblische Höllenpfuhl als schwefelbrennender See, Tümpel oder etymologisch Pfütze weist seinerseits zurück auf den Beginn des Prologs, wenn der dort apostrophierte verblendete Mensch „[…] bey den Pfuetzen euch an stat der Quell’ erfrischt! / Ein Jrrlicht ists was Euch O Sterbliche! verfuehret“ (CG I, 8–9).22 Es zeigt sich, dass die Hölle nicht nur ein Strafort ist, sondern sie ist auch dort, wo Böses geschieht, also wo sich vom Guten, hier metaphorisiert als frischer Quell, abgewendet wird. Dies ist es auch, was der Gottferne tut, und so findet sich durch seine Bosheit die Hölle als Strafort bereits im Diesseits vorgezeichnet: Die Pfütze vollendet sich im feurigen Pfuhl und das Irrlicht als Geist, der dem Volksglauben nach in ebensolchen sumpfigen und moorigen Gebieten in die Irre führt,23 also (wie der Teufel) ein Geist der Ver-Führung ist, erscheint als Vorbote der „schwartzen Geister“, die als Dämonen die Hölle bevölkern. Die Strafe wird damit, ganz im lutherischen Sinne, zu einer Seite des Bösen, denn „Malum est duplex: culpae et poenae; malum culpae est ipsum peccatum, malum 20 Vgl. Heinz Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt am Main 1991, S. 101. 21 Vgl. Daniel Pickering Walker: The Decline of Hell. Seventeenth-Century Discussions of Eternal Torment. London 1964. 22 So heißt es in der Offenbarung: „Vnd das Thier ward gegriffen / vnd mit jm der falsche Prophet / der die Zeichen thet fur jm / durch welche er verfüret / die das Malzeichen des Thiers namen / vnd die das bilde des Thiers anbeten. Lebendig wurden diese beide in den feurigen Pful geworffen / der mit Schwefel brandte“ (Offb 19,20); „Den verzagten aber / vnd vngleubigen / vnd greulichen / vnd Todschlegern / vnd Hurern / vnd Zeuberern / vnd Abgöttischen / vnd allen Lügenern / der teil wird sein in dem Pful / der mit fewr vnd schwefel brennet / welches ist der ander Tod.“ (Offb 21,8) Zur Etymologie des Pfuhls als „im eigentlichen sinne eine gröszere tiefere pfütze“ siehe Art. Pfuhl. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Stuttgart, Leipzig 1983–2013, Bd. 13, Sp. 1804–1807, hier Sp. 1804. Aus dieser Ausgabe des Deutschen Wörterbuches wird im Folgenden mit der Sigle DWb unter Angabe des Bandes und der Spaltenzahl zitiert. 23 Vgl. Art. Irrlicht. In: HdA, Bd. 4, Sp. 779–785, hier Sp. 783.

3.2 „Die hell’sche Welt“ unter dem Regiment des Chach Abas

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poenae sunt ipsae afflictiones.“24 Mit den afflictiones sind die bereits im Diesseits erfahrbaren Gewissensqualen aufgerufen, die auf die Gefahr der Gottesferne vorausweisen und in sich den infernalischen Quälgeistern vorgreifen. So präsentiert auch das Trauerspiel, wie im Folgenden gezeigt wird, das Böse von beiden Seiten, nämlich als Schuldverstrickung und als Strafe.

3.2 „Die hell’sche Welt“ unter dem Regiment des Chach Abas Wird die Hölle als ein Ort verstanden, an dem Böses geschieht, so ist die georgische Geschichte ein solcher Ort. Dies zeigt sich in zwei Episoden, die Spellerberg als „Narratio im Drama“25 bezeichnet hat und die als eine Art historische Nacherzählung über die wiederholten Angriffe Persiens auf Georgien Auskunft erteilen. In der ersten Abhandlung berichten die georgischen Gesandten ihrer Königin durch die sogenannte Meurab-Geschichte von den Ereignissen seit ihrer Gefangennahme durch Chach Abas. In der dritten Abhandlung erzählt Catharina dem russischen Gesandten von den Geschehnissen, die zu ihrer Geiselnahme geführt haben.26 Auf diese Weise erfährt das Publikum, dass der Chach seit Jahrzehnten eine ebenso durchtriebene wie grausame Expansionspolitik betreibt, um die Grenzen seines Imperiums zu erweitern und sich dabei das georgische Reich einzuverleiben. Wie im Folgenden gezeigt wird, formuliert sich dies als eine Geschichte der Transgression und Unterminierung von politischen, physischen und sittlichen Grenzen, die nicht zuletzt Catharinas Folter antizipiert bzw. darin kulminieren wird. Damit entwirft die Vorgeschichte ein Gräuelgemälde, das dem teuflischen Kalkül des Chachs nachgebildet ist und gerade wegen der Vermittlung durch Erzählung „sagenhafte Züge“27 annimmt. Da sich in heilloser Verwirrung Ränke auf Ränke und Gräuel auf Gräuel häufen,28 demonstriert sich hier die eskalative und expansive Dynamik des

24 WA T 3, 595, 5–6. 25 Gerhard Spellerberg: Narratio im Drama oder: Der politische Gehalt eines Märtyrerstückes. Zur „Catharina von Georgien“ des Andreas Gryphius. In: Wahrheit und Wort. Festschrift für Rolf Tarot zum 65. Geburtstag. Hg. von Gabriele Scherer, Beatrice Wehrli. Bern 1996, S. 437–461. 26 Zur Catharina von Georgien als „Gesandtschaftsdrama“, siehe Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 408–409. 27 Albrecht Koschorke: Das Begehren des Souveräns. Gryphius’ „Catharina von Georgien“. In: Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven. Hg. von Daniel Weidner. München 2006, S. 149–162, hier S. 150. 28 Spellerberg: Narratio im Drama, S. 452 entdeckt darin einen „Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, von List und Gegenlist“. Schings: Catharina von Georgien, S. 45 beschreibt dies als „ein gleichmäßig auf- und abwogende[s] Chaos“. Zu diesem Effekt erklärt Peter Brenner:

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Bösen, die weite Kreise zieht und sich nicht zuletzt auch auf die dramatische Struktur auswirkt. Denn ebenso wie der Chach immer wieder durch seine manipulativen und gewaltsamen Manöver die georgische Herrschaft angreift und gar zerstören will, so scheint durch die extensiven historischen Berichte über ebendiese Machenschaften die dramatische Struktur selbst gestört und unterlaufen.29 Dadurch wird der gnadenlose Expansionstrieb des Chachs dramaturgisch reflektiert und bringt das Böse in seiner Expansivität und Transgressivität formal zur Darstellung. Gerade im sich perpetuierenden Widerspiel von chaotischer Gewalt und skrupelloser Berechnung, von geschichtlicher Verwirrung und erzählerischer Genauigkeit manifestiert sich das Schreckbild einer „hell’sche[n] Welt“, da sich auch die zeitgenössische Imagination der Hölle durch das geradezu paradoxale Changieren zwischen höllischem Chaos und buchhalterischer Akribie auszeichnet.30 Catharinas erster Auftritt überhaupt ist in der dritten Szene des Trauerspiels als Monolog konzipiert. Die Königin befindet sich allein in ihrem Gemach, womit ein intimer Einblick sowohl in ihren persönlichen Raum als auch ihre persönliche Geschichte, die aufs engste mit derjenigen Georgiens verknüpft ist, gewährt wird. Diese dramaturgische Geste konterkariert die äußere Bedrängnis, die ihren gerafften Bericht prägt und die durchweg auf das Wirken des Chachs zurückzuführen ist. Er ist der Urheber jener „Plagen“, die „mein Gemuett verletzen“ (CG I, 258), und begründet damit ihre innerweltliche und innere Hölle, die als „immerstetes Ach“ (CG I, 231) und „tausendfaches Leid durch

Macht und Moral in den Trauerspielen von Andreas Gryphius. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), S. 246–265, hier S. 257: „[Gryphius] folgt in der Darstellung der Vorgeschichte der Quelle zwar genau; aber er verwirrt sie […] – ein Umstand, vor dem auch die germanistische Forschung oft kapituliert hat.“ 29 Dass es sich bei diesem wiederholten Stocken der Handlung nicht etwa um „Kunstfehler“ handelt, bemerkt auch Schings: Catharina von Georgien, S. 46–47, der dahinter die „Demonstration“ als „Grundthese“ und „Grundgestus des Trauerspiels“ ausmacht. Borgstedt: Poetische Sakralisierung, S. 53 sieht darin „den wesentlich deklamatorischen Charakter des Trauerspiels“ verwirklicht, der das „Dramengeschehen innergeschichtlich beglaubigt“. Würden die Geschichtsberichte als ‚undramatisch‘ thematisiert, so sei dies einem „modernen Sinn“ der Forschung geschuldet, die eine ahistorisches Konzept von ‚Handlung‘ auf den Text appliziere. Dass aber gerade diese Störung der Handlung durch die Berichte, wie die vorliegende Analyse zeigt, immanenter Teil von Gryphius’ dramatischer Komposition ist, bezieht Borgstedt nicht als Möglichkeit ein. 30 Vgl. zu diesem „Muster der Imagination“ bzgl. zeitgenössischer Höllenvorstellungen Friedrich Vollhardt: Endzeiten. Jenseitsvorstellungen im 17. Jahrhundert. In: Gebundene Zeit. Zeitlichkeit in Literatur, Philologie und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Wolfgang Adam. Hg. von Jan Standke. Unter Mitwirkung von Holger Dainat. Heidelberg 2014 (Euphorion 85), S. 467–479, hier S. 472.

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lange Qual verzehrt“ (CG I, 232). Hier, in Catharinas erster Rückblende, wird Chach Abas dann auch zum ersten Mal im gesamten Trauerspiel explizit als „Tyranne“ (CG I, 279) bezeichnet. Um das volle Ausmaß dieser Übel zu erfassen, wird im Folgenden Catharinas Monolog aus der ersten Abhandlung gemeinsam mit ihrem ungleich ausführlicheren Bericht aus der dritten Abhandlung gelesen, wo sie dem russischen Gesandten von der prekären Geschichte Georgiens erzählt. Während ihr Klagemonolog die politischen Ereignisse im Lichte ihrer leidvoll geplagten Innerlichkeit vorstellt – die Mitte dieser Szene bildet der Rekurs auf ihr „Gemuett“ (CG I, 258), ihre „Seele“ (CG I, 259) und ihr „getroffen Hertz“ (CG I, 260) –, stehen im Dialog mit dem russischen Gesandten die strategisch unterminierenden Angriffe des Chachs auf das georgischen Reich im Fokus und werden durch die Linse der Außenpolitik zu Welttheater. Dass diese Angriffe von einer ununterbrochenen Abfolge entsetzlicher, ja unaussprechlicher Gräuel begleitet sind, reflektiert sodann auch die rhetorische Konstruktion von Catharinas Bericht, der mit einer solchen asyndetischen Reihung der Verbrechen einsetzt und durch das klagende „Weh“ und „Ach“ gerade deren Unsäglichkeit zum Ausdruck bringt:31 Diß Auge stelt euch vor / ob schon die Lippen schweig’t Daß nichts als lauter Weh / als Ach und grimme Schmertzen Als Mord / Verlaeumbdung / Haß / Verraether-tolles Schertzen / Vnd eine Flut von Blut / und hoechster Tyranney / Vnd Hencker / Brand und Pfahl euch vorzustellen sey! (CG III, 56–60)

Dieses Oszillieren zwischen Überfülle einerseits und Unsagbarkeit andererseits koinzidiert dabei mit einem Topos traditioneller Höllenbeschreibungen, in dem sich ebenfalls „suggestive Ausmalung [der Grausamkeiten] und deren Unterbrechung durch Leerstellen“32 abwechseln und bedingen, und wird somit in Hinblick auf die Darstellung und den Ausdruck des Bösen als Strukturprinzip lesbar. Die Unaussprechlichkeit dieser Gräuel – „ob schon die Lippen schweig’t“ – wird sich später auch im Bericht von Catharinas Marter manifestieren und scheint hier geradezu die Voraussetzung dafür zu sein, dass Catharina, wie Gryphius in seiner Vorrede an den „großgünstigen Leser“ ankündigt, „stellet dir dar in ihrem Leib’ und Leiden ein in diser Zeit kaum erhoeretes Beyspill unaussprechlicher

31 Schings: Catharina von Georgien, S. 46 entdeckt in den „immer wieder summierende[n] Reihungen und Häufungen, […] in ihrer zumeist asyndetischen Fügung und in ihrer pathetischen Ballung“ ein kompositorisches Verfahren in den Geschichtsberichten, die, so wäre zu ergänzen, ja gerade die Bosheit des Chachs zum Gegenstand hat. 32 Vollhardt: Endzeiten, hier S. 472.

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Bestaendigkeit“33. Da die diskursive Sprachlichkeit „versagt“34, bereitet die Darstellung („stellt dir dar“) der Grausamkeiten „in ihrem Leib’ und Leiden“ schließlich der constantia den Schauplatz. Und dies wiederum wird vorbereitet durch die Vorgeschichte. Catharinas Bericht entfaltet sich als eine Geschichte der permanenten, sich perpetuierenden Grenzverletzungen.35 Dies begründet sie mit der Instabilität der Landesgrenzen, also der heiklen Situation Georgiens, das von zwei aggressiven Imperien, nämlich dem Persischen Reich einerseits und dem Osmanischen Reich andererseits, bedrängt wird. In dieser Position Georgiens „recht zwischen Thuer und Angel“ (CG III, 89), wie der russische Gesandte empathisch kommentiert, trug Chach Abas einst dem georgischen König Alexander, Catharinas Schwiegervater (sie wurde mit seinem jüngeren Sohn David verheiratet), ein Bündnis zur Protektion seines Landes an.36 Während die äußeren Grenzen dadurch vorerst gesichert scheinen, versucht der Chach auf perfide Weise das georgische Reich sowohl politisch als auch religiös zu unterminieren und somit aus seinem Inneren heraus einzunehmen. Als „ein naeher Pfand“ (CG III, 90) vom Chach eingefordert, übergibt König Alexander den „Printzen Constantin sein erstgeboren Kind“ (CG III, 93) in persische Obhut, woraufhin der Chach den Thronfolger unter Verheißungen von Ruhm, Reichtum und Herrschaft dazu bewegt, „Gott / Tauff und Creutz“ (CG III, 91) abzuschwören. Aufgrund seiner Verblendung „durch Haly Wahn“ (CG III, 94), der dem ‚wahren‘ christlichen Glauben entgegengesetzt ist,37 ist Cons-

33 CG, S. 119 (Vorrede), Hervorhebung IvH. 34 Wild: Zur Evidenz korporealer Inskription, S. 215, der Catharinas Beständigkeit auf den Aspekt ihrer Unaussprechlichkeit hin untersucht, wobei gerade das Versagen der linguistischen Artikulation durch die Korporealität von Catharinas Leib kompensiert werde und so der Unaussprechlichkeit Gestalt verleihe. 35 Siehe dazu auch Tschachtli: Körper- und Sinngrenzen, S. 85. 36 Allein die Namensgebung der Figuren auf persischer bzw. georgischer Seite fällt dabei ins Auge. Dazu führt Sarah Colvin: The Rhetorical Feminine. Gender and Orient on The German Stage 1647–1742. Oxford 1999 (Oxford Modern Languages and Literature Monographs), S. 26 aus: „The names of those in the Georgian/ Christian camp are romanized (Catharina, Serena, Cassandra, Procopius, Demetrius, Ambrosius) and therefore connote the occidental, cultured, civilized world. The Persians, on the other hand, have unfamiliar names and titles (Chach Abas, Seinal Can, Iman Culi); they evoke the fascination of the exotic, but also suggest unintelligibility and therefore, in an etymological and wider sense, barbarity.“ 37 „Haly“ ist die latinisierte Version von Ali, also Ali ibn Abi Talib, dem Schwiegersohn und Cousin des Propheten Mohammed, der für die Schiiten, zu denen Chach Abas zählt, der erste Iman war. Siehe dazu weiterführend Bethany Wiggin: Staging Shi’ites in Silesia. Andreas Gryphius’s “Catharina von Georgien.” In: The German Quarterly 83 (2010), S. 1–18. Dies wird nicht der einzige Beleg für eine solche Glaubenspolemik bleiben, die in Gryphius’ Trauerspiel ange-

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tantin „blind“ (CG III, 112; 128) und wird damit zum „Ebenbild / der Laster“ (CG III, 112–113). Constantins Abfall bedeutet eine Abwendung vom Guten hin zum Bösen, das Laster, Verblendung und Wahn, also bloßer Schein eines falschen Guts, ist, und zeugt damit von seiner getrübten Vernunft.38 Diese Anordnung erinnert an den Prolog: Dort sind ebenfalls die „Blinden“ (CG P, 5) ebenjene, die „vor Wahrheit nichts als falsche Traeum’ erwischt“ (CG P, 7) und die sich, wie bereits in weiter oben ausgeführt, vom Guten, nämlich dem frischen Quell, abwenden, um sich von der Vergänglichkeit einer bald austrocknenden Pfütze oder eben den falschen Verheißungen irdischer Macht „verfuehret“ (CG P, 9) zu finden und sich auf diese Weise dem Bösen zuzuwenden. An die Stelle des „Irrlicht[s]“ und des Teufels als Geist der Verführung tritt hier Chach Abas, der das Böse aus sich selbst heraus ersinnt und auf dem Feld des Politischen als Vertreter der „Welt“ ins Werk setzt.39 Das Teuflische ist nur mehr Metapher und so agiert und regiert der Chach als Intrigant mit „infernalischen Zügen“40 im Weltthea-

legt ist. Wie Fawzy Guirguis: Bild und Funktion des Orients in Werken der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 1972, S. 209 argumentiert, wird hier ‚das Orientalische‘ als „Gestaltungsmittel zur Typisierung des Tyrannischen“ herangezogen. Colvin: The Rhetorical Feminine, S. 28 stimmt darin mit Guirguis überein: „The Orient is the Islamic world and carries associations of danger and evil.“ Gleichzeitig scheint im georgisch-persischen Konflikt die angespannte Lage im protestantischen Schlesien auf, das den katholischen Habsburgern unterstand und deshalb mit deren gegenreformatorischer Agenda konfrontiert war, vgl. Mannack: Kommentar Catharina, S. 933. Christopher Wild: Anatomy and Theology, Vanity and Redemption. In: A New History of German Literature. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht, Judith Ryan, David E. Wellbery. Cambridge, London 2004 (Harvard University Press Reference Library), S. 292–297, hier S. 296 erklärt komplementär Catharinas sexuelle und spirituelle Integrität zum „emblem for the political inviolability of Silesia itself“. Gerade weil die aggressive imperialistische und religiöse Politik des Chachs in sich also auch auf das Heilige Römische Reich verweist, kann der orientalisierte Orient „sich unter dem Gesetz des allegorischen Bildes nicht als ein Bild sui generis entfalten“ (Guirguis: Bild und Funktion des Orients, S. 209). 38 Auf eine solche Verarbeitung neostoizistischen Gedankenguts in Gryphius’ Dichtung wurde bereits in Kapitel 2.1 näher eingegangen. An dieser Stelle sei trotzdem noch einmal auf Schings: Die patristische und stoische Tradition, S. 257 verwiesen, der ausführt: „Denn Vernunft erreicht die Reduktion der eingebildeten Güter und Übel auf ihre unlautere Quelle, entlarvt sie als nurmehr ‚falsches Gut‘ und ‚falsches Böses‘ – wozu sämtliche Gebrechen des Daseins, der Tod nicht ausgenommen zählen – und erledigt damit jede ‚Realität‘ des Übels als bloßem Schein.“ 39 Mit Blick auf Catharina in ihrer Rolle als Märtyrerin kennzeichnet auch Schings: Catharina von Georgien, S. 52 den Chach als den „im vollen Glanz weltlicher Macht erscheinende[n] Versucher, [der] unter solchen Vorzeichen der Inbegriff von ‚Welt‘“ ist. 40 Benjamin: Ursprung des deutschen deutschen Trauerspiels, S. 274–277 hat den Intriganten im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts als „dritte[n] Typus […] neben den Despoten und den Mär-

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ter. Constantins Konversion ist ein solches Werk des Bösen, das hier als Übertritt in den muslimischen Glauben zum Inbegriff der Transgression wird und damit allen weiteren Überschreitungen bzw. Verletzungen moralischer, natürlicher und eben politischer Grenzen Bahn bricht. Entsprechend kommentiert der russische Gesandte: „Wer schon des Himmels Recht gelassen aus der acht; / Hat Voelcker Sitt’ und Schlueß der Menschen nie bedacht.“ (CG III, 115–116) Dies wiederum gilt sowohl für Constantin als auch für Chach Abas. Constantins forcierter Abfall vom christlichen Glauben ist tatsächlich nur die Voraussetzung dafür, ihn weiter zum Vater- und Brudermord und damit zu einem Verbrechen wider die Natur und wider die naturrechtliche Ordnung der Dynastie anzustiften, womit die serielle und eskalative Logik des Bösen zur Entfaltung gebracht wird. Constantin lädt seinen Vater, König Alexander, und seinen Bruder David, Catharinas Gatten und Vater des gemeinsamen Sohnes Tamaras, unter einem Vorwand an den Hof von Isfahan und richtet beide auf grausame Weise bei einem Bankett hin. Diese böse Tat, mit der sich die georgische Herrschaft unter der Regie des Chachs geradezu selbst auszulöschen droht, steht im Dienste der persischen Expansionspolitik, die ja auf die Inkorporation des georgischen Reichs abzielt. Und ebendiese Einverleibung wird auf geradezu makabre Weise durch das mörderische Festmahl vorbereitet, dem damit fast schon anthropophagische Züge anhaften.41 An diesem grenzenlosen Expansionstrieb demonstriert sich sodann auch der verschlingende Charakter des Bösen, unter dessen Einfluss sich die Dynastie als gekrönte Schöpfung von dei gratia selbst zu vernichten droht. Dass die gute, gerechte Ordnung im „Mord-Palast“ (CG III, 139) von Chach Abas suspendiert ist und der persische Hof somit zum infernalischen mundus perversus wird, zeigt sich auch darin, dass Constantins Verbrechen eben nicht gestraft wird, sondern der Chach „loben“ will, „Was man nach seinem Wundsch so meisterlich vollbracht“ (CG III, 142–143). Das so zu nennende Gräuelgemälde

tyrer“ gestellt und diese Rolle dem Höfling zugeschrieben. In Chach Abas aber fallen der Typus des Despoten und des Intriganten – zumindest in den Geschichtsberichten – zusammen. Dort erfüllt er die von Benjamin aufgestellten Charakteristika des Intriganten, da er „[d] ie menschlichen Affekte als Triebwerk der Kreatur“ operationalisiert und dabei „ganz Verstand und Wille“ ist, ja in ihm gar „Macht, Wissen und Wollen ins Dämonische gesteigert[]“ sind. Er ist der Despot und „der böse Geist [des] Despoten“ in Personalunion. Dass ihm diese Attribute in der dramenimmanenten Handlung jedoch abhandengekommen sind, wird in Kapitel 3.3 beleuchtet. 41 Dass sich der Familienmord potentiell zur Anthropophagie steigern kann, da darin das Naturgesetz bereits überschritten bzw. gar invertiert ist, kehrt als zentrales Motiv in der Agrippina wieder (siehe Kapitel 5.3.2), findet sich aber schon in Zoroasters Teufelsbeschwörung (siehe Kapitel 2.4.2).

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des Familienmordes, der mit „umgespruetztem Blut befleckte Wirtt und Gast“ (CG III, 140), wird ihm zum Meisterwerk. Der maliziösen Planung des Chachs entsprechend soll nun der strategisch von ihm aufgebaute Prinz Constantin den georgischen Thron besteigen. Er soll den einstigen Platz seines Bruders an Catharinas Seite einnehmen, sowohl „auff dem Hoff und Throne“ (CG III, 178) als auch in „Bett’ und Eh’“ (CG I, 273). In dieser Parallelisierung findet sich eine Sexualisierung der Politik und eine Politisierung der Sexualität formuliert, die sich später in der eigenen Werbung des Chachs um Catharina weiter manifestieren wird.42 Da Constantin in Georgien jedoch seine Strafe erfährt, ist die strategische Hochzeitspolitik des Chachs zum Scheitern verurteilt. Als sich Constantin im Geleit der persischen Truppen dem georgischen Hof nähert, lockt Catharina ihn in einen Hinterhalt. Sie lässt ihn ganz buchstäblich hinterrücks töten „als er durch den Glimpf [Schein] des eitlen Dunsts verblendet / […] uns den Ruecken wendet“ (CG III, 202). Obwohl sie sich wie der Chach listiger Mittel bedient,43 übt sie damit doch vor allem die gerechte Rache an „der tollen Boßheit Frucht“ (CG III, 200), die der Chach ursprünglich gesät hatte. Dies weist ihre Rolle als Verkünderin der göttlichen Rache am Ende des Trauerspiels voraus. Catharinas weiterer Bericht ist durch eine Antithetik geprägt, die an den Thronfolgern Constantin und Tamaras, ihrem eigenen Sohn, entwickelt ist und dabei an die antithetische Struktur des Prologs erinnert, in der gut und böse, Himmel und Hölle gegeneinander geführt werden. So musste auch Catharina, wie zuvor König Alexander, ihren Sohn Tamaras als diplomatischen Pfand an den persischen Hof schicken. Während sich jedoch Constantin als „Ebenbild der Laster“ gegen seinen Glauben sowie die naturrechtliche, politische Ordnung vergangen hat, fruchten bei Tamaras – wie auch später bei seiner Mutter – die kalkulierten Versuche der religiösen, aber auch der politischen „Vereinnahmung“44 nicht. So profiliert sich Tamaras ebenso beispielhaft in seiner bewährten Beständigkeit, denn er bleibt „frey und fest / Bey seinem Christus stehn“ (CG III, 107–108; Hervorhebung IvH). Da der ‚rechte‘ Glaube der Richtwert für gutes 42 Koschorke: Das Begehren des Souveräns, S. 155 bemerkt: „Machtpolitik ist in einer Welt der dynastischen Allianzen immer auch Liebespolitik.“ Auch Wild: Anatomy and Theology, Vanity and Redemption, S. 296 führt dieses Moment der politisierten Sexualität und der sexualisierten Politik für die Konzeption von Gryphius’ Catharina von Georgien an, bezieht sich dabei jedoch auf Catharinas spirituelle und sexuelle Integrität. 43 Ralf Georg Bogner: Die Not der Lüge. Konfessionelle Differenzen in der Bewertung der unwahren Rede am Beispiel von Andreas Gryphius’ Trauerspiel „Catharina von Georgien“. In: Daphnis 28 (1999), S. 595–611ordnet dies nach lutherischer Auffassung als gerechtfertigte Notlüge zur Rettung von Volk und Glauben ein. 44 Tschachtli: Körper- und Sinngrenzen, S. 85.

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Handeln ist, scheitert auch die von Chach Abas betriebene „Politik des dynastischen Genozids“45, die er ja noch im Falle Constantins erfolgreich implementiert hatte. Durch eine korrumpierte Hochzeitspolitik gelingt es dem Chach zwar vorerst, die georgischen Prinzen Tamaras und Alovas gegeneinander auszuspielen, jedoch sind sie „durch treuer Freundschafft Band / Verknuepfft fuer Gott und Reich […] / Da[] Christus ihren Bund durch mildes Heil gesegnet“ (CG III, 256–258). Weil sie sich auf dieses christlich geprägte Gut der Freundschaft besinnen, lösen sie den angestifteten Konflikt „durch Guett’“ (CG III, 252) und widerstehen damit den Irritationen der Leidenschaften, die der Chach in ihnen provozieren wollte.46 Anstatt sich also gegenseitig auszulöschen, klären sie die Intrige ganz buchstäblich auf – „So brach diß Stueck ins Licht“ (CG III, 276) – und durchkreuzen damit die Verdunkelungsstrategie des Chachs. Als „zu gutt / Zu solchem Meuchel-Mord“ (CG III, 184–285) konterkarieren sie nicht nur den lästerlich-lasterhaften Constantin, sondern die vom Chach mittels List und Gewalt konstruierte „hell’sche Welt“ (CG III, 280). Sie setzen ihre Gesetzmäßigkeiten außer Kraft, da sie Licht in ihr Dunkel bringen.47 Damit ist ein Punkt erreicht, an dem der Chach seine Strategie ändert. Seine subtile Kriegsführung, durch die er bisher stets in Vertretung agiert und Georgien so von innen angegriffen hat, schlägt nun um in einen militärischen Feldzug. Da der Chach mit seinen Truppen in Georgien einfällt, verletzt er in nunmehr offener Transgression die Landesgrenzen und attackiert in diesem Zuge die Integrität des georgischen Staatskörpers. Als Catharina den Chach daraufhin in seinem Lager aufsucht, um mit ihm zu verhandeln, nimmt er sie – ebenfalls unter dem Vorwand eines „Gast-Pancket[s]“ (CG III, 362) – gefangen „Vnd haelt uns noch bis heut’“ (CG III, 370). Auch ihre Entführung wird zur Voraussetzung der versuchten Verführung, dem christlichen Glauben abzuschwören und dem Heiratsantrag bzw. der Heiratspolitik des Chachs nachzugeben. Ihr Raub aus der Heimat wird zur Vorwegnahme des bevorstehenden Ehren-

45 Koschorke: Das Begehren des Souveräns, S. 155. 46 In der christlichen Tradition ist die Freundschaft im wahrsten Sinne ein Gut, das nicht nur die Freunde miteinander, sondern sie auch mit Gott verbindet. Angesichts der eigenen Unvollkommenheit wird die Nähe zu Gott angestrebt und damit die freundschaftliche und liebevolle Verbundenheit zu allem von Gott Geschaffenen, wobei keusche Liebe und Freundschaft zusammengedacht werden. Vgl. Nitschke, August: Art. Freundschaft. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Bd. 2. Basel 1972, Sp. 1107–1108. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle HWPh unter Angabe des Bandes und der Spaltenzahl zitiert. 47 Dass die Abstufung zwischen Himmel und Hölle im Mittelalter von einer „Vorstellung nachlassender Lichtintensität“ begleitet ist, bemerkt Osterkamp: Lucifer, S. 65. Sie ist somit der Diskrepanz von Gottesnähe und Gottesferne zugeordnet.

3.2 „Die hell’sche Welt“ unter dem Regiment des Chach Abas

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raubs durch Marter und Hinrichtung. Das sich ununterbrochen perpetuierende Eindringen des Chachs auf Catharina und ihr Land in Form von „immersteten“ und immer gleichen Plagen wird dadurch einmal mehr akzentuiert und stellt mithin die Wiederholung als Modus des Bösen und damit des Infernalischen vor. Den Moment der Gefangennahme, der den Umschlagpunkt ihrer eigenen Geschichte markiert, bezeichnet Catharina folglich auch als „Hellen-schwartze Nacht! Die aus dem Abgrund flog! / Und stette Finsternis in dieser Brust erweckte!“ (CG III, 364–365) Somit wird die Entgrenzung der Hölle ins Diesseits zur Metapher für den Übergriff des Chachs sowie für sein finsteres und sinisteres Walten in der Welt, das wiederum Catharinas Innerlichkeit ergreift. An dieser Stelle beginnt nicht nur Catharinas Geschichte als Gefangene, sondern hier setzt auch die in der ersten Abhandlung erzählte Meurab-Geschichte ein. Nachdem Tamaras und seine Braut aufgrund des persischen Überfalls aus Georgien geflohen sind und Prinz Alovas vom Chach vergiftet wurde, wird Meurab, „des Fuersten rechte Hand“ (CG I, 479), nach einem Überfall dazu gezwungen, die Vergewaltigung seiner Frau und seiner Kinder durch den Chach mitanzusehen. Darin findet sich die Grausamkeit des Chachs weiter perpetuiert und äußert sich als sexuelle Gewalt. Dabei wird gerade der Schau-Aspekt als eine sadistische Potenzierung der bösen Tat betont, wie die Rahmung der Szene durch die Formulierungen „in Meurabs angesicht“ und „Meurab schaut es an“ anzeigt: Da Meurabs Frau von Chach in Meurabs Angesicht So freventlich entehrt! O blitzt der Himmel nicht! Da Meurabs zarter Sohn und Tochter diß erlitten Was angeborne Recht’ auch stummen Vih verbitten! Vnd Meurab schaut es an! […] (CG I, 483–487)

Meurab, der allein rechtlich gesehen das mittelbare Opfer dieses Verbrechens ist, wird hier ganz unmittelbar und auf ebenfalls übergriffige Weise zum Augenzeugen gemacht.48 Diese Ostentation exzessiver Gewalt verweist wiederum auf die Transgression und Expansion des Bösen, das sich damit auch quälend auf die Zuschauer des Verbrechens auswirkt. Dies lässt sich von den dramatis per-

48 Vgl. zum Verhältnis von unmittelbarem und mittelbarem Opfer der Notzucht in rechtlichen Codices des 17. Jahrhunderts Gesa Dane: Zeter und Mordio. Vergewaltigung in Literatur und Recht. Göttingen 2005, bes. S. 168. Ausführlicher wird darauf in den Kapiteln 6.2.1 und 6.4 eingegangen, da in Lohensteins Ibrahim Sultan eine Vergewaltigung die „böse Sache“ im Zentrum des Dramas darstellt.

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sonae auch auf das Theaterpublikum übertragen, dem dies durch die Erzählung vor Augen geführt wird.49 Da die von Meurab erfahrene Ehrverletzung außerdem durchaus mit körperlichen Schmerzen vergleichbar ist, wird die Notzucht seiner Familie zu seiner eigenen Marter.50 Meurab selbst beschreibt dies wiederum als „Den Greuel damit er sein Weib und Kind betruebt; / Als er ins Vatern Aug’ unmenschlich hat veruebt / Was man nicht nennen darff.“ (CG I, 683–685). Nicht nur bezieht er sich hier selbst auf das Skandalon, in die Rolle des Zuschauers dieses schrecklichen Schauspiels gezwungen zu sein. Auch ruft er damit – wie Catharina zu Beginn ihres Berichts – die Unaussprechlichkeit der leidvollen bösen Tat auf. Anders jedoch als Catharina, die aus ihrem unsäglichen Leiden zu einem Beispiel der „unaussprechlichen Bestaendigkeit“ erwächst, wendet sich der vom Chach gebrochene Meurab daraufhin gegen seinen Glauben, „[d]a Meurab hat den Wahn der Persen angenommen“ (CG I, 482). Einerseits findet sich hier das strategische Kalkül des Chachs, das auf religiöse und politische Vereinnahmung abzielt, wiederholt und durchgesetzt, denn wie Constantin wendet sich Meurab daraufhin gegen „sein Vaterland“ und die „gelibten Brueder“ (CG I, 626). Andererseits entfaltet sich hier einmal mehr die strukturelle Antithetik der dramatischen Konstellation. Nicht nur Meurab wird dabei zum anti-exemplum der von Catharina verkörperten constantia. Auch der Chach wird durch den unaussprechlichen Gräuel der Notzucht als Gegenbild von Catharinas Keuschheit vorgestellt. Die Meurab-Geschichte ist nicht zuletzt deshalb aufschlussreich, weil der Chach in seinem Verbrechen auf grausame Weise das natürlich-sittliche Gesetz der „angeborne[n] Recht’“ als ultimative Grenze überschreitet und dadurch in seiner lasterhaften Depravation als „unmenschlich“ (CG I, 684) ausgestellt wird.51 Ihm wird jedoch nicht nur sein Menschsein aberkannt, sondern die von

49 Vgl. Wild: Theater der Keuschheit, S. 110, der dies treffend als Gryphius’ „Berechnung“ seines theatralischen Tableaus bezeichnet. Wie die noch zu leistende Analyse zeigen wird, wird sich dies schließlich in der Marter der Königin verlängern, bei der gerade die Vermittlung durch das Mitansehen einen zentralen Aspekt darstellt, der wiederum die sadistische crudelitas des Chach inszeniert. 50 Zur Begriffsgeschichte und den rechtlichen, sozialen und affektiven Implikationen der Notzucht sowie zur Notzucht als Ehrenraub im frühneuzeitlichen Kontext, vgl. Dane: Zeter und Mordio, bes. S. 35 ff; 69–74; 119–129. 51 Colvin: The Rhetorical Feminine, S. 27–28 erklärt, dass auch darin ein anti-orientalischer Topos bedient werde, da ‚der Orientale‘ „takes a lower position in the perceived hierarchy of men and animals“ in der zeitgenössischen westlichen Vorstellung. Dem wäre hinzuzufügen, dass Chach Abas durch sein schändliches Verbrechen auch diese niedere Position noch unterbietet und sich damit geradezu jenseits dieser Hierarchie befindet. Eindrücklich findet sich dieser Topos am Beispiel des Sultans Ibrahim bei Lohenstein ausgestaltet, siehe Kapitel 6.2.2.

3.3 Die „bitter Helle“ der adfectus mali

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Gott geschaffene Kreatürlichkeit überhaupt, da sein Verbrechen auch „stummen Vih“ untersagt ist. Die Gräuel stehen hier also, deutlicher als in Catharinas Bericht, für Abas’ Laster in Gestalt einer perversen und sadistischen Lust, die widernatürlich und somit widergöttlich ist. Dies wird im späteren Widerspiel zwischen dem Chach und Catharina auf dem Schafott zur Darstellung gebracht. Da die Sexualität als militärische Strategie vom Chach bereits in der Vorgeschichte des Dramas grausam missbraucht wurde, bereitet sich damit die Überführung des Expansionskriegs auf das Feld des Erotischen vor.52

3.3 Die „bitter Helle“ der adfectus mali Hatte Chach Abas in der Vorgeschichte politisch kalkuliert und kühl agiert und dadurch die „Statur eines Bösewichts“53, so zeichnet die dramenimmanente Handlung ein anderes Bild, denn er ist hier von „boese[n] Lueste[n]“ (CG I, 828) und Lastern angesteckt und von ihnen beherrscht.54 Die Figur des Chachs Abas wird damit „zu einer ‚komplexeren‘ Persönlichkeit auf der Ebene des dramatischen Präsens und der geschichtlichen Gegenwart im Stück“55, was auf ihre „starke Präsenz“56 auf dem Schauplatz der Geschichte und des Theaters – also zwischen skrupellosem Kalkül einerseits und affektiver Getriebenheit andererseits – zurückzuführen ist. Als Chach Abas die Bühne am Ende der ersten Abhandlung zum ersten Mal betritt, wird das Trauerspiel zum „Leidenschaftsdrama“57. Es steht nicht mehr nur Georgiens Einverleibung, sondern die Catharinas im Vordergrund. Da sie jedoch den Heiratsantrag des Chachs beständig ablehnt, kann sich sein leidenschaftlicher Einverleibungswunsch nicht verwirklichen. Seine politische potestas ist gegenüber Catharina auf dem Feld der Liebespolitik ‚impotent‘. Dieses unbefriedigte Begehren, das in einem Zustand der zunehmenden verderblichen Affizierung resultiert und seine Souveränität bedroht, beklagt der Chach selbst mit dem Ausruf „O bitter Helle!“ (CG II, 122). Diese innere Hölle der bösen Lust 52 Vgl. dazu Koschorke: Das Begehren des Souveräns, S. 155–156; Wild: Theater der Keuschheit, S. 94 sowie Tschachtli: Körper- und Sinngrenzen, S. 85. 53 Borgstedt: Poetische Sakralisierung, S. 56. 54 Entsprechend bemerkt auch Gerhard Spellerberg: Verhängnis und Geschichte. Untersuchungen zu den Trauerspielen und dem „Arminius“-Roman Daniel Caspers von Lohenstein. Bad Homburg v.d. H. u. a. 1970, S. 82: „[D]anach ist der Tyrann exemplum vitii, ohne doch Bösewicht an sich zu sein, indem er aus Verblendung der affektiven perturbatio heraus handelt“. 55 Gillespie: „Catharina von Georgien“ als Geschichtsdrama, S. 92. 56 Koschorke: Das Begehren des Souveräns, S. 154. 57 Schings: Catharina von Georgien, S. 55.

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kommt im Verlauf des Trauerspiels, wie im Folgenden dargelegt wird, durch eine Feuer- und Brandmetaphorik zum Ausdruck, wobei der Chach von seiner Begehrlichkeit innerlich gleichsam bis zum Selbstverlust aufgezehrt wird. Auch wenn das metaphorische Korrelat von Begehren, Feuer und Hölle in der Forschung bereits wiederholt behandelt wurde,58 soll hier doch in Kürze darauf eingegangen werden, um den im Drama entwickelten Komplex der Hölle weiter auszuleuchten. So war der Chach Catharinas Bericht entsprechend schon bei ihrer ersten Begegnung im Lager der persischen Truppen „Erhitzt in geiler Brunst“ (CG III, 344). Dies korrespondiert mit dem ersten Auftritt des Chachs innerhalb des Trauerspiels, der am Ende der ersten Abhandlung platziert ist. Sein Ruf als grausamer, ja perverser Kriegsherr eilt ihm hier durch die zuvor erzählte Meurab-Geschichte, die ja den größten Teil der ersten Abhandlung einnimmt, voraus. Diese Szene stellt – abgesehen von der Schlusssequenz – den einzigen Dialog zwischen dem Chach und Catharina innerhalb der Trauerspielhandlung vor. Ist die Werbungsrede des Chachs in der ersten Hälfte der Szene noch von petrarkistischem Stil geprägt, so wird deren Umschlag in die Androhung des Notzwangs – „Sie weiß; wir koennen zwingen“ (CG I, 800) – gerahmt durch die Aufrufung der Feuermetaphorik. Sie setzt ein mit der Feststellung „Die Libe steckt diß Hertz mit heissen Flammen an“ (CG I, 789) und schließt ab mit der „entbrandte[n] Glut“ (CG I, 802), die die (Feuers-)Brunst der verderblichen Affekte anzündet und ebenfalls darauf anspielt, wie der Chach innerlich „entbrand als Glut der Hellen“ (CG II, 394) seine Gegner traktiert. Die neostoizistische Anthropologie, in deren Denktradition Gryphius einzuordnen ist, pflegt, auch wenn sie die vollkommene Apathie der Stoiker abmildert, eine pessimistische Sichtweise auf die Affekte.59 Die Affizierung des Chachs ist gerade deshalb besonders verwerflich, weil hier sowohl der Grund (erotische Begierde) als auch das Ziel (Catharinas Unterwerfung um jeden Preis) seines Affekts moraltheologisch als böse bestimmt sind. Dies wird noch weiter dadurch pointiert, dass sich im Chach und Catharina konkurrierende Liebeskonzepte – wiederum antithetisch – gegenüberstehen: Die Königin richtet sich auf die reinste

58 So in Erika Geisenhof: Die Darstellung der Leidenschaften in den Trauerspielen des Andreas Gryphius. Heidelberg 1957., S. 154; Schings: Catharina von Georgien, S. 59–60; Barbara Thums: Theologie und Politik der Reinheit in Andreas Gryphius’ „Catharina von Georgien“. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 52 (2011), S. 193–211, hier S. 203. 59 Ich berufe mich darin auf die Vorarbeiten von Schings: Die patristische und stoische Tradition, S. 259 sowie Erwin Rotermund: Der Affekt als literarischer Gegenstand. Zur Theorie und Darstellung der Passiones im 17. Jahrhundert. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hg. von Hans Robert Jauß. München 1968 (Poetik und Hermeneutik 3), S. 238–269, hier S. 244–245.

3.3 Die „bitter Helle“ der adfectus mali

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Form der Gottesliebe aus, während der Liebesaffekt im Chach als amor carnalis verdorben ist.60 Dass der Chach durch die begehrliche Leidenschaft vom Bösen affiziert ist, wird sodann auch von Catharina als „boese Lueste“ identifiziert und auf den Begriff gebracht. Das erotische Begehren nämlich ist ein Erbteil des Bösen, das durch die Übertretung des göttlichen Gesetzes, also durch Transgression, in die Welt gekommen ist. Es geht allen anderen Lastern voraus und zeugt sich in Form der concupiscentia als widernatürliche Degeneration der himmlischen Liebe fort. Weil diese Verderbnis der menschlichen Natur durch Leidenschaften und Laster – im Affekt nämlich ist jede menschliche Handlung eine Handlung des Lasters61 – ursprünglich Teil des Zerstörungswerks des Teufels und damit verdammt ist, lodert im Brand des Begehrens stets die Feuersbrunst der Hölle auf. So wird der Chach durch die Feuermetaphorik mit den höllischen Mächten in Verbindung gebracht,62 vielmehr wird jedoch seine Verstrickung in die böse Lust gar zu seiner eigenen, inneren Hölle. So haben sich nicht zuletzt die Rollen aus der Perspektive des Chachs mittlerweile vertauscht: War er in der Vorgeschichte noch der Urheber von Catharinas „immersteten“ Pein in einer Hölle auf Erden, so macht er sie nun zur „Tyrannin unser Seel“ (CG II, 185), die seine innerlichen Höllenqualen orchestriert: „Wir haben zwar dein [Catharinas] Land; / Doch hast du unser Hertz (Rach ueber Rach!) verbran’t!“ (CG II, 55–56) Tatsächlich ist er jedoch der Tyrannei seiner Affekte unterworfen. Dass der böse Affekt in der menschlichen Natur vor allem die gottgegebene Vernunft verdirbt bzw. verblendet, und diese Verblendung einen Mangel an Vernunft zeitigt, diagnostiziert der Chach an sich selbst: „Es mangelt’ uns Verstand / Es fehlt uns an Vernunfft / noch fehlt es uns an Kraefften;“ (CG II, 60– 61) Ebendieser Mangel an Verstand, Vernunft und Kräften reflektiert in sich die Privation an Gutem und Rechtem, die das Böse bestimmt. Da die Hölle ihrerseits der Ort der Privation ist, ist wiederum die Innerlichkeit des Chachs affektpsychologisch als „bitter Helle“ auszudeuten. Der Mangel an Vernunft wird gleichzeitig zur Voraussetzung dafür, dass sich das Böse im Verlauf seines Leidenschaftsdramas weiter entfalten, ja expandieren kann. Schließlich ist diese

60 Dass die Wollust dadurch „zur absoluten Widernatur, zur Verkehrung aller von der Natur gesetzten Schuldigkeiten“ wird, erklärt Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 216. 61 Vgl. dazu Geisenhof: Die Darstellung der Leidenschaften, S. 28. Auch Spellerberg: Das Bild des Hofes, S. 574 sieht in Chach Abas das „Muster exemplarisch falschen, lasterhaften Verhaltens“. 62 So Geisenhof: Die Darstellung der Leidenschaften, S. 154 und darauf aufbauend Schings: Catharina von Georgien, S. 59. Dass „die Hingabe an das erotische Feuer der irdischen Liebe zugleich als innerweltliche Hölle [des Chachs] erscheint“, bemerkt auch Thums: Theologie und Politik der Reinheit, S. 203.

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Verderbnis der Vernunft auch nach Lipsius’ neostoizistischer Lehre, wie bereits weiter oben ausgeführt wurde, die Ursache aller Übel. So kommt seine Affizierung wie bisher als „innerlicher Brand [der] unser Marck verzehret“ (CG II, 38) und eben „verbran’t[es]“ Herz zum Ausdruck, jedoch provozieren die adfectus mali einen Zustand seelischer Erregung bzw. Verwirrung, der perturbatio animi, der sich in zunehmender Zerrissenheit und Unbeständigkeit des Chachs äußert und damit die zerstörerische Wirkung der bösen Lust zur Anschauung bringt. Das zerstörerisch-zerreißende Potential des Affekts zeigt sich auch auf politischer Ebene. Die in der ansteigenden Gemütsbewegung begründete Unstetigkeit des Chachs bildet sich in den exekutiven Entscheidungen hinsichtlich der diplomatischen Händel über Catharinas Freigabe an Russland ab. So versichert er dem russischen Gesandten zuerst: „Was unserm Bruder Czar ohn alles Falsch versprochen; / Sind wir fuer unser Theil / steiff / fest und unverbrochen / Zu halten stets gemeint.“ (CG II, 173–175; Hervorhebung IvH) Die unüberbrückbare Diskrepanz zwischen einerseits dem Ideal der Beständigkeit, das hier wohlmerklich als politische Tugend thematisiert ist, und andererseits seiner affizierten Unbeständigkeit zeigt sich in der anschließenden Szene, da der Chach das Abkommen brechen und den Frieden beider Imperien „Reich um Reich“ (CG II, 200) priesgibt, nur um Catharina bei sich zu behalten. Wegen seiner mangelnden Affektbeherrschung missachtet der lasterhafte Chach das moralische und politische Gebot der Selbstbeherrschung und ist folglich als Tyrann exponiert, denn wer sich nicht selbst beherrschen kann, kann auch nicht gut und gerecht über andere herrschen.63 Zwar scheint er luzide Momente zu haben, in denen er seinen Wahn und seine Verblendung erkennt – „Wie rasen wir so blind; Wenn wir die hoechste Schuld an unserm Vnheil sind!“ (CG II, 203–204) –, jedoch zeugen diese letztlich auch nur von seiner Dissoziation durch die adfectus mali. Entsprechend bezeichnet der Chach den Zerfall seiner selbst zwischen Willen und Tun, wenn er von sich außerdem in der dritten Person spricht: „er thut nicht was er will; vnd will nicht was er muß“ (CG II, 272). Er bezieht sich dabei auf das Ultimatum von „Ehbett oder Tod“ (CG III, 408), vor das er schließlich

63 Dieser Grundsatz wurde bereits in Kapitel 2.1 erläutert. Vgl. zu dieser Sachlage in der Catharina von Georgien u. a. Tschachtli: Körper- und Sinngrenzen, S. 83; Koschorke: Begehren des Souveräns, S. 153. Jean-Louis Raffy:Leidenschaft und Gnade in Gryphius’ Trauerspielen. In: Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Jean-Daniel Krebs. Bern 1996 (Jahrbuch für internationale Germanistik 42), S. 189–206, hier S. 191 formuliert dies ganz allgemein: „Gerade weil der schlechte Monarch ein schwacher Affektmensch ist, ist er vor Gryphius’ Augen nicht nur auf moralischer Ebene ein Exempel aller Laster, sondern auch auf politischer Ebene ein Tyrann.“

3.3 Die „bitter Helle“ der adfectus mali

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Catharina stellt und mit dem er seiner innerlichen Qual ein Ende bereiten möchte. Seine Uneinigkeit mit sich selbst ist dabei jedoch so groß, dass sie sich als wort-wörtliches Hin und Her artikuliert: Ach was beklaemmt vor Grauen / Die abgekraenckte Brust! verzeuch! geh hin! Ach nein! / Halt in! kom her! ja geh! es muß doch endlich seyn. (CG III, 458–460)

In seiner Affiziertheit, die hier, in der Mitte des Trauerspiels, ihren Höhepunkt erreicht hat, befindet er sich in Zwietracht mit sich selbst. Seine Dissoziation zum Dividuum, als zwiegespaltenes und zerrissenes Wesen, artikuliert sich hier auch in der rhetorischen Komposition. Denn wie sich an diesen letzten beiden Versen der dritten Abhandlung (V. 459–460) ablesen lässt, ist zwar die metrische Einheit des Alexandriners intakt, jedoch wird hier die bereits rein formal vorhandene Zäsur als Zwiespalt prononciert. Die Verse werden in ihre zwei Hälften zerlegt, woraufhin der Fluss des Alexandriners nach der Zäsur (V. 459) bzw. davor (V. 460) durch die Dissonanz der Gemütsbewegung gestört ist und geradezu in der perturbatio animi zu zerfallen scheint. Die beiden miteinander konkurrierenden Gemütskräfte – „verzeuch! geh hin! Ach nein! / Halt in! kom her! ja geh!“ – sind, wiederum in jeweils zwei Silben formuliert, gleich stark und bringen so die innerliche Entzweiung des Chachs als Selbstverlust zum Ausdruck. Nicht nur wird der Chach also innerlich von seiner infernalischen Brunst verzehrt, auch zerreißt seine Person im und durch den Affekt. Das Begehren ist in jedem Fall unersättlich: Da es sich das Liebesobjekt nicht einverleiben kann, zehrt es den Chach innerlich auf.64 Die böse Lust drängt als destruktive Kraft zur unbedingten Entfaltung, sei es an einem äußeren Objekt (Catharina) oder in der Innerlichkeit des Affizierten. Darin manifestiert sich das verderbliche Wirken des Bösen überhaupt. Dies wiederum wirkt sich nicht nur auf die in der Dramenhandlung dargestellte Bündnispolitik des Chachs aus („es gelte Blut und Brand! […] last uns mit frischer Hand / Zureissen was man schrieb“ [CG II, 199–201; Hervorhebung IvH]). Gryphius bringt dies ebenso durch die rhetorische Konstruktion zum Ausdruck und wendet dies kunstvoll auf die metrische Einheit an, die, wie oben dargelegt, gleichermaßen von innen zu zerreißen droht. Schließlich wird dies an der Titelfigur des Trauerspiels zur Darstellung kommen. Da der Chach aufgrund seiner bösen Lust innerlich immer weiter aufgezehrt wird und zerreißt, wird die Dekomposition und darauffolgende Auslöschung seines Liebesobjekts zur erratischen Realisierung seines Begehrens.

64 Es sei hier auf Kapitel 6.2.2 verwiesen, da diese Unersättlichkeit der Wollust in Lohensteins Ibrahim Sultan eine zentrale Funktion einnehmen wird.

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3.4 Malträtieren: Catharinas Marter „Brauch Flamme / Pfahl und Stahl“ (CG I, 830) – so lauten Catharinas letzte Worte in der ersten Abhandlung und damit die letzten Worte, die sie an Chach Abas richtet. Dieser Aufforderung (oder Herausforderung) kommt der Chach nach, da er Catharina unter der von ihm befohlenen Marter hinrichten lässt. Der Chach verfolgt hier den Selbstzweck, sich seines widerständigen Liebesobjekts zu bemächtigen und es durch sein lästerlich brennendes Begehren zu verzehren, das hier auch Zorn (CG II, 218), Rachgier (CG III, 399–400) und „heisse [] Eyversucht“ (CG V, 152) ansteckt.65 Die Martern sind jedoch nicht nur der zerreißend-zerstörerischen Logik der bösen Lust nachgebildet, auch fungieren sie als Strafe für Catharinas ‚Majestätsverletzung‘ durch ihren keuschen, beständigen Widerstand.66 Was Catharina nämlich mit ihrer Verweigerung offenlegt, ist die Verletzlichkeit der durch die böse Lust kompromittierten Majestät und Macht des Chachs, die in ihrem politischen und erotischen Expansions- und Einverleibungstrieb gerade nicht unumschränkt, also absolut, oder grenzenlos ist. Catharinas Tugend, ihre Beständigkeit und Keuschheit, zeigt ihm damit gerade die Grenze seiner Macht auf.67 Auch um die Integrität seiner Souveränität wiederherzustellen, muss also Catharinas physische Integrität zerstört werden. Weil sie sich ihm verweigert, muss sie vernichtet werden. Die Marter wird somit auch zum Machtkampf des Tyrannen, der seine politische und erotische potestas behaupten will. Kampfschauplatz wird Catharinas Leib, an dem der Chach seine böse Lust und seine böse Macht als grausame, absolute Transgression ausagiert. Gryphius’ Vorrede an den großgünstigen Leser kündigt dies an als „die schreckliche Marter / die Gewalt der Parthen / die Art des Todes / so grauser als

65 Dass sich die Feuermetaphorik der begehrlichen Brunst hier auf diese weiteren Leidenschaften erstreckt bemerkte bereits Schings: Catharina von Georgien, S. 59. 66 Zum Tatbestand der Majestätsverletzung sei auf Kapitel 2.1 verwiesen. 67 Was Wild: Theater der Keuschheit, S. 91 in Hinblick auf Lohensteins Ibrahim Sultan formuliert hat, lässt sich auch auf Catharina von Georgien anwenden: „Einer Kastration bzw. Entmännlichung gleichkommend verletzt Keuschheit eine Majestät, die sich selbst in einem expansiven ‚Liebes-trieb‘, oder mit anderen Worten in einer Politik des geilen Selbst zu konstituieren versucht. Die unumschränkte Macht des ‚geilen Souveräns‘ findet somit ihre Grenze in der Jungfräulichkeit seiner Gegenspielerinnen, deren Macht zum Widerstand daraus entspringt.“ Ihm ist, wie Peter-André Alt: Der Tod der Königin. Frauenopfer und politische Souveränität im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts. Berlin 2004 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 30 [264]), S. 68 betont, „Catharinas Tugend als Chiffre für die Unverletzlichkeit des Königtums, das sie als Witwe des Herrschers verteidigt“, entgegengestellt.

3.4 Malträtieren: Catharinas Marter

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der Tod selbst“68. Gerade weil diese Martern keine gerechten Strafen sind, sondern einzig der begehrlichen Willkür des Chachs gehorchen, sind sie grausam und stellen damit eine Pervertierung des Rechts dar, das ja dem göttlichen Recht nachgebildet ist.69 Das legitime Strafverfahren wird hier missbraucht und zum Verbrechen gewendet, womit die (souveräne, rechtliche) Gewalt vor den Augen des Publikums zur Grausamkeit entartet, die in sich sogar noch das postlapsarische Todesgrauen übertrifft. Diese atrocitas wird hier zum Sujet des Bösen. Catharinas Marter ist ein buchstäbliches Malträtieren, denn „in ihrem Leib’ und Leiden“ wird sie nicht nur böse behandelt – etymologisch mal traiter bzw. male tractare –, sie wird gleichsam durch das Böse misshandelt.70 Als der Chach in der dritten Abhandlung seinen Geheimrat Imanculi zum Überbringer des Ultimatums von „Ehbett oder Tod“ macht, erklärt er ihm: „Taug jhr der Vorschlag nicht! / So wird’ (vnd bey Verlust deß Kopffs) in eil verricht / Was diß Papir dich heist.“ (CG III, 455–457) Noch an dieser Stelle wird also die Hinrichtung der Widerständigen durch Enthauptung angedroht – später vollzieht sie sich jedoch als Entleibung. Die Enthauptung als ehrliche Strafe wird ersetzt durch eine so zu nennende absolute Devestitur, die in einer leidvollen Abfolge von Entkleidung, Entleibung und Verbrennung die grausame Kulmination und Akkumulation der peinlichen Marter bedeutet.71 Sie steht so der Enthauptung diametral gegenüber, die, wie Foucault formuliert, „alle Schmerzen auf eine einzige Geste und einen einzigen Augenblick reduziert und damit den Nullpunkt der Marter bildet“72. Gerade dieses Wanken zwi-

68 CG, S. 119 (Vorrede). 69 So auch Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 454: „Warum die geschilderten Martern grausam sind, mithin warum sie unrecht sind, hat seinen Grund […] im schon vorangenommenen Recht Gottes.“ 70 Während „traktieren“ als Synonym für quälen und plagen seit dem 15. Jahrhundert geläufig ist, ist „malträtieren“ als Lehnwort aus dem Französischen erst seit dem 18. Jahrhundert registriert. Vgl. dazu Art. malträtieren, bzw. traktieren. In: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Begründet von Friedrich Kluge. Bearbeitet von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin, Boston 2011, S. 596. Auch wenn „malträtieren“ im Kontext der Catharina von Georgien also einen ahistorischen Begriff darstellt, so wird diesem hier Vorzug gegeben, da er den Aspekt des Bösen, welcher Catharinas Marter immanent ist, mittransportiert. 71 Zur Enthauptung als ehrlicher Strafe im Vergleich zu unehrlichen und peinlichen Strafen im frühneuzeitlichen Rechtssystem siehe Richard van Dülmen: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der Frühen Neuzeit. München, 4., durchges. Ausgabe 1995 (Beck’sche Reihe 349), S. 138; Wolfgang Schild: Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung. München 1980, S. 198–200. 72 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt am Main 1994, S. 46. Auf diese Implikationen

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3 Unterwelt und Welttheater

schen dem „Nullpunkt“ und der extensiv gesteigerten Form der Marter reflektiert einmal mehr auf geradezu symptomatische Weise die Unbeständigkeit und Zerrissenheit des Chachs, die sich schließlich auf die Zerreißung seines Opfers projiziert. In der wohl „eindruckvollsten Passage des Dramas“73 wird die Marterung in der ersten Szene der fünften Abhandlung durch einen Bericht von Catharinas Staatsjungfrau Serena vermittelt. Sie war bei der Folter ihrer Herrin in Ohnmacht gefallen und erzählt nun, in Gegenwart von Catharinas restlichem Frauenzimmer, vom Gesehenen. Die Anordnung ist parallel zum Leo Armenius entwickelt, wo der grausame Frevel des Fürstenmordes zunächst ebenfalls nur sprachlich vermittelt wurde. Während Serena die Rolle des im Leo Armenius namenlosen Boten erfüllt, repräsentieren die „Jungfrauen“74 die „ideale Hörerperspektive“75 und nehmen dabei, im Vergleich mit Gryphius’ Erstling, Theodosias Position ein. Serena, ihrem sprechenden Namen nach „die Fröhliche“, erzeugt durch ihren Bericht evidentia, woraufhin das schreckliche Geschehen von den Jungfrauen zur martyrologischen Frohbotschaft transzendiert wird. Wie die Kaisergattin also, die im Leo Armenius den Fürstenmord als imitatio Christi ausgedeutet hatte, wird hier Catharinas Folter durch die Einschübe der Jungfrauen (in denen sich außerdem die „gefangenen Jungfrauen“ aus dem ersten Reyen zu wiederholen

der Enthauptung wird in Kapitel 4.4 ausführlich eingegangen. Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1095 bemerkt zum Verhältnis von Catharina und Carolus Stuardus: „Der Autor, der 1649 vom Martyrium Karls I. erfährt, kann auf das 1647 oder 1648 fertiggestellte CatharinaDrama zurückgreifen, weil die Vorgänge um Karl I. in vieler Hinsicht denen in der ‚Catharina‘ entsprechen. Dies bestätigt zudem die verbreitete Überzeugung, wonach die reale Historie selbst ein Theatrum darstellt mit einer Wiederkehr von Grundstrukturen.“ Im Tod des Titelhelden bzw. der Titelheldin und deren Inszenierungen ist die wohl eindeutigste Parallele zwischen den beiden Trauerspielen zu erkennen. Zwar erklärt Niefanger: Geschichtsdrama, S. 171: „Daß es sich bei den historiographischen Stilisierungen um geschlechtsspezifische und in der Barockzeit jeweils durchaus übliche handelt, braucht kaum erwähnt zu werden.“ Trotzdem lohnt es sich, den Blick darauf zu richten, wie diese „historiographischen Stilisierungen“ angelegt und inszeniert sind. Auch ist die Forschung meines Wissens nach bisher nicht auf den Umstand eingegangen, dass der Chach zuerst einen Enthauptung Catharinas plant, dann jedoch zur Marter umschwingt. 73 Alt: Tod der Königin, S. 70. 74 Während sie im Personenverzeichnis zu dieser Szene als „Frauen-Zimmer“ angeführt sind, vgl. CG, S. 206 (Personenverzeichnis), wird ihre Rede innerhalb der Szene mit „Jungfrauen“ angekündigt. Dass die Begriffe von Gryphius synonym verwendet werden, zeigt sich auch daran, dass der ersten Reyen als „Reyen […] des Frauen-Zimmers“ (CG, S. 124 [Personenverzeichnis]) und „Reye der gefangenen Jungfrauen“ (CG, S. 154) bezeichnet wird. 75 Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 214.

3.4 Malträtieren: Catharinas Marter

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scheinen) fortwährend mit der Passion Christi parallelisiert, wodurch die höhere Bedeutung des Geschehens vergegenwärtigt wird.76 Mit der Vermittlung durch den Botenbericht folgt Gryphius auch in der Catharina dem horazischen Medea-Paradigma und greift dabei der von Harsdörffer im Poetischen Trichter formulierten Forderung vor: Grausame Marter und Pein so die Henkerbuben verueben / werden auf den Schauplaetzen nicht gesehen / sondern von den Botten / oder auch der Geplagte[n] Angehoerigen und Freunde[n] erzehlet. […] Die Wort / und des Erzehlers Geberden sollen die Marter so erbaermlich ausbilden koennen77

Gerade weil die Tortur vom Publikum „nicht gesehen“ wird bzw. nicht unmittelbar gesehen werden darf, muss der Botenbericht sie umso „erbärmlicher“ vor Augen führen. Dadurch eröffnet sich die dichterische Möglichkeit, durch die Nacherzählung die atrocitas im Detail darzustellen.78 Vor diesem poetologischen Hintergrund kann also festgehalten werden, dass Gryphius in der Catharina überhaupt aus den Möglichkeiten der Erzählung schöpft – sowohl in den wiederholten Narrationen der Vorgeschichte als auch hier im Botenbericht –, um das Böse auszustellen. Serena beginnt ihren Bericht wie folgt: Man riß die Kleider hin. Die unbefleckten Glider Sind oeffentlich entbloest / sie schlug die Wangen nider Die Schamroeth’ ueberzog; und hilt fuer hoechste Pein Vnkeuscher AugenZweck’ und FrevelSpil zu seyn. (CG V, 61–64)

76 Diese im Leo Armenius und in der Catharina parallele Konstruktion wurde von der Forschung bisher nicht thematisiert. Gerade für die Gesamtkonzeption von Gryphius’ Trauerspielzyklus kann dies jedoch aufschlussreich sein, da Gryphius hier deutlich mit den spezifisch dramaturgischen Vermittlungs- und Repräsentationsmöglichkeiten der Märtyrerwerdung von Leo über Catharina bis Carolus (Papinian wäre entsprechend einzuordnen) experimentiert. Rückwirkend auf den Leo Armenius bezogen bestätigt sich aufgrund dieser parallelen Anordnung, dass Theodosia die Position der idealen Hörerin und Interpretatorin von Leos Schicksal einnimmt und seine Bedeutung richtig zu entschlüsseln weiß. 77 Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Bd. 2, S. 82–83. 78 Auch Tschachtli: Körper- und Sinngrenzen, S. 92 bemerkt zu dieser Szene in der Catharina, ohne jedoch die poetologischen Voraussetzungen dieses dramaturgischen Arrangements in den Blick zu nehmen: „Doch die Beschreibung der Gewalt, das machen die Passagen deutlich, ermöglicht es, sie in grausamerem Detail wiederzugeben, als eine tatsächliche Inszenierung dies könnte.“

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3 Unterwelt und Welttheater

Catharinas Marter setzt bereits mit ihrer Entkleidung ein, die als Devestitur eine „programmatische Entwürdigung“79 bedeutet. Als politischer Akt bezieht sich die Devestitur auf die Insignien der Herrscherwürde, mit denen der König bzw. die Königin ihr Amt bekleiden und von denen sie in diesem rituellen Moment entkleidet werden.80 Dies lässt sich hier jedoch im übertragenen Sinne auch auf Catharinas Status als „Tyrannin unser Seel“ anwenden, den ihr der Chach zugeschrieben hatte. Überhaupt fungierte im Kontext der frühneuzeitlichen Anthropologie die Kleidung als eine Art zweiter Haut, die ebenso die leibliche Integrität der Person garantierte.81 Verlust oder Beschädigung der Kleidung kamen deshalb einem Ehrverlust bzw. einer Ehrverletzung gleich, Enthüllung und Entblößung bedeuteten eine „Bloßstellung“82 und waren als solche Teil der zeitgenössischen Strafpraxis. Catharinas Entkleidung bedeutet hier also einen Angriff auf ihre Ehre und Keuschheit, da ihre Leiblichkeit und insbesondere ihre Geschlechtlichkeit gegenüber der (und dies wird im Bericht betont) öffentlichen Schaulust als dem „unkeuschen Augenzweck“ preisgegeben werden. Im Spektakel der Marter ist sie in ihrer „verwundbare[n] Physis“83 ausgestellt und wird

79 Alt: Tod der Königin, S. 71. 80 Hier sei zum Konnex von Macht und Kleid sowohl auf Thomas Frank: Investitur, Devestitur. In: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren. Hg. von Thomas Frank u. a. Unter Mitw. von Andreas Kraß. Frankfurt am Main 2002 (Forum Wissenschaft. Kultur & Medien 15448), S. 118–232 als auch auf Alt: Tod der Königin, S. 70–71 verwiesen, der betont, dass Catharina hier in ihrer Physis nicht das Reich repräsentiert, sondern eine „Stellvertretung der Macht“ (ebd, S. 69). 81 Vgl. Claudia Benthien: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse. Reinbek 1999 (Rowohlts Enzyklopädie 55626), S. 76–110. 82 Dane: Zeter und Mordio, S. 173. Wie Dülmen: Theater des Schreckens, S. 32 ausführt, wirkte „die Nacktheit allein […] oft demoralisierend. Viele Delinquenten gaben in dieser Situation bereits ihren Widerstand auf“. Wild: Theater der Keuschheit, S. 111 bemerkt dazu: „Der Umstand, daß bloße Entkleidung eine Folter- und Strafpraktik darstellte, macht deutlich, daß im Strafritual allein die Entblößung und die Zurschaustellung der Blöße einen entehrenden und verletzenden Effekt hatten. Öffentliche Zurschaustellung als solche gefährdet die Ehre und die weibliche Ehre im besonderen.“ Davon ausgehend liefert Wild eine instruktive Analyse von Catharinas Zurschaustellung, die er mit Berichten von frühchristlichen Märtyrerinnen vergleicht, und beleuchtet dabei die angewandten theatralen Mittel und „evidentiellen Praktiken der Rhetorik“ (S. 120). Während ich mich in meinen folgenden Ausführungen auf Wild stütze, lege ich meinen Fokus jedoch darauf, wie das Böse durch diese Zurichtung Catharinas zur Darstellung kommt. Auf den Schauaspekt des Bösen wird in Kapitel 6.4 hinsichtlich der Notzucht der Ambre in Lohensteins Ibrahim Sultan ebenfalls detailliert eingegangen. 83 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 265–266. Nach Benjamin muss der frühneuzeitliche Ehrbegriff ganz physisch verstanden werden: „Diese abstrakte Unverletzlich-

3.4 Malträtieren: Catharinas Marter

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zum Schauobjekt. Die Ostentation ihrer Geschlechtlichkeit bereitet Catharina „höchste Pein“, gerade weil Sehen selbst ein (An-)Tasten ist.84 In dem Moment, in dem der öffentliche „unkeusche“ Blick auf ihre „unbefleckte[]“ Blöße gelegt wird, wird ihre Reinheit angetastet und dies kommt an sich bereits einer Schändung gleich. Die Entkleidung bedeutet damit ein transgressives Moment, in dem die Gewalt des Chachs auf ihren Körper einwirkt, den nun „[d]ie Schamroeth’ ueberzog“. Dieses Zeichen der verletzten Scham weist auch aufgrund seiner Färbung („Schamroeth’“) voraus auf ihre blutige Folter mit „glueend-rothen Zangen“ (CG V, 73) und ihre anschließende Hinrichtung durch die (roten) Flammen. Da die Übergänge zwischen Kleid und Leib geradezu nahtlos sind, macht auch die Devestitur „oft nicht beim Herunterreißen der Kleider halt, sondern steigert[] sich zur Verstümmelung, zur Zerstörung des Körpers bis hin zu seiner vollständigen Vernichtung durch Anthropophagie“85. So findet sich auch bei Gryphius die Entkleidung in der darauffolgenden Entleibung verlängert und gesteigert, die sich in äußerster Brutalität ebenfalls Schicht für Schicht zu vollziehen scheint. Hatte Serena in ihrem Bericht zuvor Catharinas Körper petrarkistisch komponiert,86 so wird er nun durch die Folter wirkmächtig dekomponiert. Damit werden hier nicht zuletzt die Möglichkeiten der dichterischen Komposition reflektiert. Gryphius’ „Demonstrationswille“87, vor allem aber auch sein dichterisches Können profilieren sich gerade in der „erbärmlichen“ Darstellung des Malträtierens, sodass durch das Erzählen die Marter vor den Augen des Publikums (auf der Bühne und im Zuschauerraum) ersteht:

keit ist aber doch nur die allerstrengste Unverletzlichkeit der physischen Person, in welcher als der Unbescholtenheit von Fleisch und Blut auch die abgezogensten Forderungen des Ehrenkodex ihren Urgrund haben.“ 84 Vgl. dazu Thomas Rahn: Anmerkungen zur Physiologie der Liebesblicke in Lohensteins „Agrippina“. In: Simpliciana 14 (1992), S. 163–176, hier S. 164. 85 Frank: Investitur, Devestitur, S. 220. 86 Vgl. CG V, 40–42: „Der Stirnen Alabast / die Rosenweisse Wangen / Des reinen Halses Schnee“. Für eine detaillierte Analyse dieser Stelle unter dem Aspekt des Frauenpreises nach dem Stile Petrarcas sei verwiesen auf Tschachtli: Körper- und Sinngrenzen, S. 93–94. Wild: Theater der Keuschheit, S. 120 stellt dazu fest: „[D]as idealisierte Bild, das der Frauenpreis entwirft, ist genauso sehr eine Form der Zurschaustellung wie die körperliche Züchtigung.“ Catharinas „Bereitung zum Bild“ (ebd., S. 118) hat sich außerdem in einer Reihe von Kupferstichen Gregor Biebers und Johann Usings niedergeschlagen, die für eine auf dem Schloss Wohlau geplante Theateraufführung angefertigt wurden. Dass in der betreffenden Szene im Trauerspieltext auf einer Metaebene die Möglichkeiten der dichterischen Komposition/Dekomposition ausgelotet werden, wurde bislang nicht thematisiert. 87 Schings: Catharina von Georgien, S. 47.

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3 Unterwelt und Welttheater

Der Hencker setzt in sie mit glueend-rothen Zangen / [...] Vnd griff die Schultern an / der Dampff stig in die Hoeh. Der Stahl zischt in dem Blutt / das Fleisch verschwand als Schnee [...] sie / [die] man zwickte Vnd von der Armen Roehr die flachen Mausen rueckte [...] Die Stuecker hingen nu von beyden Schenckeln ab; Als man ihr auff die Brust zwey grimme Zuege gab. Das Blutt spruetzt umb und umb und leschte Brand und Eisen / Die Lunge ward entdeckt. […] (CG V, 73–94)

Der Henker als Vollstrecker der pervertieren exekutiven Gewalt des Fürsten wird hier in der Exekution der Königin zum Stellvertreter des Chachs. Die physische Konfrontation zwischen ihm und Catharina bedeutet einen Nahkampf, in dem sich am Körper der Gemarterten sowohl die Rache des Chachs über seine verletzte Ehre und Majestät als auch sein erratisches Begehren endlich ausleben und artikulieren. Die glühenden Zangen, Brand und Eisen figurieren das despotische Gewaltgesetz des Chachs, das sich in Catharinas Körper auf grausame Weise einschreibt und damit die perverse, zerstörerische Kraft des Bösen durch das Malträtieren zur Anschauung bringt. Darin spiegelt sich auch die zeitgenössische Imagination der infernalischen poena sensus als Pein und Strafe, in der sich Vorstellungen vom Höllenfeuer mit einer Affinität zu peinlichen Folterpraktiken mischen. Der Chach bereitet Catharina im übertragenen Sinne Höllenqualen. Im Leidenschaftsdrama des Chachs wird die Folter zur Ersatzhandlung für den Sexualakt,88 der sich hier, entsprechend der Androhung aus der ersten Abhandlung („wir koennen zwingen“), gleichsam als Notzwang verwirklicht. Durch das Abtragen der körperlichen Schichten wird in Catharinas Innerstes ein- und vorgedrungen. Das transgressive Moment der Entkleidung wird damit zum transgressiven Exzess der Entleibung gesteigert, der Catharinas gesamten Körper einnimmt. Während die Entdeckung der Lunge der Moment ist, in dem sowohl Catharina als auch Serena das Bewusstsein verlieren, manifestiert sich in ebendieser Entdeckung, in diesem antastenden Sehen, wiederum der „unkeusche Augenzweck“, der in der Öffnung der Brust seine äußerste Steigerung findet. Bewusstsein und Sprache versagen hier. Catharinas Marter ist nicht mehr mitanzusehen und wird deshalb unsagbar.

88 So bemerkt auch Wild: Theater der Keuschheit, S. 96, dass Catharinas Marter „die strukturelle Position des Sexualaktes“ einnehme. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 214 betont, dass die Folter hier „im Grunde nichts anderes als eine Vergewaltigung“ darstelle.

3.4 Malträtieren: Catharinas Marter

107

Das Schauspiel der Marter ist trotz seiner Abwesenheit auf den Chach ausgerichtet, der gerade an dieser visuellen Zurichtung eine sadistische Lust empfindet.89 Dies findet sich nicht nur durch die Meurab-Geschichte vermittelt (siehe Kapitel 3.2), sondern ist auch formuliert im „Reye der von Chach Abas erwuergeten Fuersten“. Das expansive und perpetuierende Moment, das der Grausamkeit und Bosheit des Chachs inhärent ist, findet sich hier also noch auf die Ebene der Zwischenspiele ausgeweitet. Und auch in dieser Darstellung des Leidens nimmt die „entdeckte Lung’“ die zentrale Position ein, sodass die exzessive Gewalt des Chachs einem Muster zu folgen scheint: Sein Grimm entbrand als Glut der Hellen. Pfahl / Moersel / Spiß / Bley / Beil und Stangen / Rohr / Saege / Flamm / zuschlitzte Wangen / Entdeckte Lung’ / entbloeste Hertzen / Das lange zappeln in den Schmertzen / Wenn man uns Darm und Zung entrueckte; Das war was Abas Aug’ erquickte. (CG II, 394–400)

Es zeigt sich, dass sein Malträtieren einzig mit der „Marterqwaal“ der Hölle vergleichbar ist. Doch dieser Vergleich ist nur mehr Vehikel, um die adfectus mali (Grimm) und die daraus hervorgehende crudelitas, aber auch Chach Abas’ Bosheit zu beschreiben, die sonst geradezu unvergleichlich sind. Gleichzeitig findet sich in Abas’ (Schau-)Lust an der atrocitas, also dem Punkt, in dem die Marter kulminiert, das theatrale Abschreckungskalkül (sowohl des Schultheaters als auch des Straftheaters, aber auch der Hölle als Strafraum) pervertiert. Das von ihm selbst inszenierte, grausame Schauspiel des Todes wirkt auf ihn belebend – und ist damit „grauser als der Tod selbst“ –, da durch das Malträtieren der feindlichen Körper bis zu ihrer leidvollen, tödlichen Dekomposition die Integrität seiner despotischen Macht und Rechtlichkeit vor seinen Augen wiederhergestellt wird. Der Gewaltexzess zeigt eine eigene Entgrenzung, eine Expansion auf dem Feld der Körperlichkeit an, die durch die Entdeckung der Lunge als visuelle Antastung und Aneignung besiegelt wird.90 Gerade dies ist jedoch während Catharinas Marter der Moment – und darin unterscheidet sie sich von den erwürgten Fürsten – in dem sich ihr Innerstes diesem Zugriff des Chachs versagt. Denn die Lunge ist nicht etwa ohne Bedeu-

89 Wild: Theater der Keuschheit, S. 120 bezeichnet dies treffend als „voyeuristische Ideologie“ des Folterschauspiels, die Gryphius’ Inszenierung an dieser Stelle „entlarvt“. 90 Dass bei Gryphius Blut, Lunge, Herz und Fleisch als Motive „Entgrenzungen des Körpers figurieren“ findet sich auch bei Tschachtli: Körper- und Sinngrenzen, S. 38.

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3 Unterwelt und Welttheater

tung,91 denn sie ist als Atmungsorgan von Luft (griechisch: pneuma) durchströmt und ist deshalb nach antiker medizinischer Vorstellung gleichzeitig der Sitz des Pneumas, der Seele bzw. des Geistes. Dieser entzieht sich während der Marter jedoch, denn „[d]er Geist fing an zu reisen“ (CG V, 94). Catharinas Ohnmacht provoziert damit die Ohnmacht des Chachs, diesen innersten, göttlichen Anteil zu entdecken und ihn sich anzueignen, sodass sich hier die spirituelle Macht der Märtyrerin ankündigt. Wie bereits weiter oben bemerkt wurde, verliert mit Catharina auch Serena das Bewusstsein. Da Serena die Folter nicht mehr mitansehen konnte, endet hier auch ihr Augenzeuginnenbericht und damit diese Szene des Trauerspiels. Daraufhin „verändert sich [der Schauplatz] in den Vorhoff des Palasts“92. Unter Anwesenheit von Catharinas Staatsjungfrau Salome, die der gesamten Marter ihrer Herrin beigewohnt hat, und des Priesters, aber auch unter Anwesenheit des Theaterpublikums wird die gemarterte und noch lebende Catharina über den Schauplatz geführt.93 Auch darin ist eine parallele Konstruktion zum Leo Armenius auszumachen, da hier ebenfalls der malträtierte Leib das Verbrechen in seiner Grausamkeit präsentiert und durch diese Vergegenwärtigung um ein weiteres steigert. Dies ist der in der Widmungsvorrede antizipierte Moment der Darstellung „in ihrem Leib’ und Leiden“. Während der Scheiterhaufen von den Henkern unter Anleitung des Blutrichters aufgetürmt wird, ruft Salomé im unmittelbaren Anblick von Catharinas gefoltertem Leib aus: „Was hat der Zangen Brand dem Feuer ueberlassen? / Als halb verzehrte Bein?“ (CG V, 110–111) Das „verzehren“ deutet dabei nicht nur auf die Zerstörung des Körpers, sondern es klingt zugleich die anthropophagische Einverleibung an, die den grausamen Kulminationspunkt der atrocitas bildet und damit, wie weiter oben bemerkt wurde, den Extremfall der Devestitur beschreibt. Der transgressive Exzess der Entleibung eskaliert hier zur alles verzehrenden Annihilation. Entsprechend ist die Hinrichtung durch Verbrennen in der frühneuzeitlichen Strafpraxis eine Vernichtungsstrafe. Auf figurativer Ebene ist Catharina damit der Feuersbrunst der adfectus mali preisgegeben, die sie nun endgültig verzehrt. Dies soll wiederum in einem erratischen affekttherapeutischen Ansatz sozusagen stellvertretend die bösen Lüste des Chachs purgieren:

91 So meint etwa Tschachtli ebd., S. 95: „Anders als die schneeweiße Haut und das Blut ist die Lunge nicht metaphorisch besetzt“ und bezieht sich dabei auf Brenner: Der Tod des Märtyrers, S. 250. 92 CG, S. 210 (Bühnenanweisung). 93 Dass sich auch hier der „auf äußerste Konkretion erpichte[] Demonstrationswillen“ manifestiert, dem die dramatische Darstellung folgt, bemerkt Schings: Catharina von Georgien, S. 47.

3.4 Malträtieren: Catharinas Marter

109

Die reinigende Wirkung des Feuers soll seinen inneren Brand – durch Auslöschung des Liebesobjekts – löschen. In der visuellen Anordnung des Theaters ist das Publikum, neben Salome und dem Priester, der despotischen Macht des Chachs unterworfen, indem es dazu gezwungen ist, diese letzten Gräuel mit eigenen Augen mitanzusehen. Doch noch bevor Catharina den Flammen übergeben wird, wendet sie mit eigenen Worten das Spektakel der atrocitas zum Erlösungsschauspiel, da sie sich als sponsa Christi Gott überantwortet: „Wir haben ueberwunden. / Wir haben durch den Tod das Leben selbst gefunden. / Ach JEsu komm!“ (CG V, 121–123) Catharina bestätigt hier die Deutung der Jungfrauen und spricht, anders als Leo, dessen Blutzeugnis durch Theodosia zur Sprache gebracht werden musste, als Märtyrerin für sich. Da sich Catharina vollkommen ihrem Jesus Christus hingibt, wird schließlich auch die absolute Aneignung durch den Chach durchkreuzt. So misslingt auch die vollkommene Auslöschung der Königin durch das Feuer, da in der vorletzten Szene des Trauerspiels das verbleibende „verbrandte[] Haubt der Koenigin“94 als stummes Zeugnis auf die Bühne getragen wird. Das Haupt der ermordeten Königin bedeutet als Requisite auf dem Schauplatz – wie Benjamin formuliert hat, ist im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts „die Leiche oberstes emblematisches Requisit schlechthin“95 – zweierlei: Es zeugt zum einen von Willkürherrschaft und Grausamkeit des Chachs, wie der anwesende russische Gesandte expliziert: „Helfft eurer Koenigin erschrecklich End’ anmelden / Vnd zeugt im Angesicht der Voelcker stets und frey: / Daß weder Redlikeit noch Trew in Persen sey.“ (CG V, 230–231) Zum anderen zeugt das Relikt ihres gemarterten Körpers von ihrem Martyrium: Sie hat die sprichwörtliche Feuerprobe an ihrer beständigen Christlichkeit überstanden und sich bewährt. Auch wenn die Integrität ihres Leibes durch die Marter zerstört ist, bleibt ihre Tugend davon letztlich unangetastet. Sie ist nunmehr das exemplum der bewährten Beständigkeit, die dem Trauerspiel auf der Ebene der subscriptio den Untertitel gibt. Dies wird wiederum sogleich vom in der Szene anwesenden Priester bezeugt, der die dem Martyrium eigene Körpersprache zu entschlüsseln weiß und gleichzeitig an das Publikum in seiner Augenzeugenschaft appelliert (und damit die Wirkabsicht des Trauerspiels formuliert): Zeugt liber; mit was Mutt die Koenigin gesiget Die sterbend / von Qual / Angst und Lust und Tod bekriget; Doch herrlich ueberwand. Zeugt daß sie alle Pracht / Vnd die gehaeufften Pein der Parthen hat verlacht. (CG V, 233–236)

94 CG, S. 213 (Bühnenanweisung) . 95 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 392.

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3 Unterwelt und Welttheater

Beide Aussagen, die des russischen Diplomaten und die des Priesters, treffen sich darin, dass sie Zeugnis ablegen und das Publikum auf der Bühne und im Zuschauersaal dazu auffordern, selbst weiter Zeugnis abzulegen, jeweils expliziert durch den Imperativ „Zeugt!“. Catharinas Kopf ist das materielle Zeugnis von Tyrannei und Martyrium gleichermaßen und wird so von Relikt und Requisite zur Reliquie. Schließlich wird Catharinas Haupt „mit einem weissen seidenen Tuche verdecket“96 (CG V, 255). So lautet eine der wenigen Bühnenanweisungen in diesem Drama, was auf die Relevanz dieser Handlung hindeutet. Das weiße Seidentuch weist sodann auch voraus auf die letzte Szene des Trauerspiels, in der ähnlich einer spirituellen Investitur nicht nur Catharinas Schönheit wiederhergestellt wird, sondern sie erscheint „in Kleidern / darfuer Schnee kein Schnee“ (CG V, 399) und verkündet dem Chach die gerechte, göttliche Strafe für seine Gräueltaten.97

3.5 Die Hölle des bösen Gewissens: Das Ende Während die Hölle den Hintergrund für die verderbliche Affizierung des Chachs durch die bösen Lüste bildet, wird sie in der letzten Szene des Trauerspiels als Hölle im Gewissen bzw. als Hölle, die das böse Gewissen selbst ist, im Chach gleichsam präsent.98 Hölle und Gewissen fallen hier zusammen, wodurch die gerechte Bestrafung seiner Verbrechen bereits im Diesseits als Gewissensqual erfahrbar wird. Gryphius folgt darin Luthers Konzeption des bösen Gewissens, denn dieses „ist die Helle selbs, und ein gut gewissen ist das Paradis und himelreich“99. Das Leidenschaftsdrama wird zum Gewissensdrama, womit auf poetologischer Ebene der Moraldidaxe des Trauerspiels Folge geleistet wird, nach der Tugend belohnt und Laster bestraft werden. Die Verinnerlichung oder eben Psychologisierung des Bösen ist hier begleitet von einer Psychologisierung der infernalischen poenae (Pein und Strafe) als inneren Qualen, sodass sich an der Figur des Chach geradezu exemplarisch ein historischer und an-

96 CG, S. 216 (Bühnenanweisung). 97 Ähnlich stellt auch Alt: Tod der Königin, S. 71–72 fest: „Der Akt der Investitur macht jetzt die Entkleidungsszene rückgängig und stattet Catharina symbolisch mit der Würde einer spirituellen virtus triumphans aus, die durch ihre christliche Keuschheit alle diesseitigen Anfechtungen bezwingt.“ 98 So hat auch Schings: Catharina von Georgien, S. 60 bemerkt, das Höllenmotiv komme „hier endgültig und beherrschend zum Vorschein“. 99 WA 39, 112.

3.5 Die Hölle des bösen Gewissens: Das Ende

111

thropologischer Wandel hinsichtlich der Verortung des Bösen nachvollziehen lässt.100 Gerade weil die Strafe, wie bereits weiter oben ausgeführt wurde, neben der Schuld die andere Seite des Bösen ist, sind am Beispiel des Chachs Bosheit und Strafe metaphorisch kaum zu unterschieden, da sie sich beide als Feuer und Brand äußern und beide in seiner Psyche ihren Ort haben. Nach Catharinas Hinrichtung hat der Chach seinem Geheimrat Seinelcan die diplomatische Schadensbegrenzung mit der russischen Gesandtschaft überlassen. Daraufhin ist er allein im „Koeniglichen Saal“101 zurückgeblieben, wo er Catharinas Tod beklagt. Der Chach bestätigt hier selbst, dass das Feuer, dem er Catharina preisgegeben hat, in sich den inneren Brand der Affekte reflektiert, der seine Vernunft verblendet hat: Ward dein freundlich Angesichte Jn der heissen Glut zu nichte! Verging im Rauch die schoene Libligkeit? Princessin / nicht die grimme Glutt / Hat deiner Glider Schnee so ungeheuer auffgezehret; Nur dise Flamme die den Mutt Mit ewig-heisser Rew beschweret. (CG V, 362–368)

Seine böse Lust, die Catharina ausgelöscht und „zu nichte“ gemacht hat, spiegelt sich nun in dem inneren Feuer seines erhitzten Gewissens wider. Und dieser Gewissensbrand ist „ewig-heiß“ wie die Hölle, die ja – dem Prolog entsprechend – dem Regiment der Ewigkeit untersteht. Die innere Qual des Chachs ist Catharinas Marterqual nachgebildet, als eine Pein, die sinnlich,102 ja physisch erfahren wird, und damit auch seine Leiblichkeit – oder eher Leibhaftigkeit – ergreift. Sein „Hertz“ ist „zurissen“ (CG V, 350), so wie Catharinas Körper durch seine Gewalt zerrissen wurde, wiederum als Reaktion auf seine eigene Zerrissenheit durch die Affekte. Das Verbrechen, das er aufgrund seiner bösen Lust verübt hat, kehrt

100 Dass dies einhergeht mit einer Tendenz der Orthodoxie und Orthopraxie, die intensiv mit ihrer eigenen Verräumlichung im Sinne einer „Entwicklung und Normierung des inneren Menschen“ beschäftigt war und dabei wechselwirkend eine Subjektivierung und Individualisierung in Prozess setzte, aus der die Instanz und Institution des modernen Gewissens hervorging, bemerken Andreas Holzem, Beate Kümin: Sakrale und profane Räume im Spannungsverhältnis. In: Die Erschließung des Raumes. Konstruktion, Imagination und Darstellung von Räumen und Grenzen im Barockzeitalter. Hg von Karin Friedrich. Bd. 1. Wiesbaden 2014 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 51), S. 89–96, hier S. 95. 101 CG, S. 219 (Bühnenanweisung). 102 So hat Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 26 allgemein zu den frühneuzeitlichen Evokationen des Gewissens konstatiert: „Das Gewissen straft, indem es bereits im Diesseits intrapersonal physische Höllenstrafen implementiert.“

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3 Unterwelt und Welttheater

nun als Strafe zu ihm zurück und folgt damit der Logik der spiegelnden Strafen, die sowohl die zeitgenössische Rechtspraxis bestimmt als auch das Wesen der Hölle, da dort die Sünde auf ewig durch die Strafe reflektiert und vergegenwärtigt wird. Damit wiederum ist nicht zuletzt die religiöse Begründung des frühneuzeitlichen Strafrechts aufgerufen.103 Und doch: Obwohl der Chach, wie er wiederholt betont, „Rew“ (CG V, 354; 368; 430) empfindet, werden darin letztlich nur Catharinas Worte der wahren Zerknirschung konterkariert, die sie noch inmitten ihrer Folter an Gott gerichtet hatte: „Jch / die mit offnen Suenden / Die Flammen / die dein Zorn unendlich heist entzuenden / Durch meine Schuld erwarb / bin nicht der Gnade werth“ (CG V, 81–83) Hatte sich Catharina als Opfer der Lasterhaftigkeit und exzessiven Grausamkeit des Chachs noch zu ihrer kreatürlichen Sündhaftigkeit und Schuld aufgrund ihres Menschendaseins bekannt, stellt der Chach sich selbst als Opfer dar: Die Rach in ihrem Schein hat uns verfuehret! Auch Rache nicht / die Scharen aus der Hellen Gehaeret mit Schlangen / geruestet mit Plagen; Die haben Holtz zu diser Glutt getragen / (CG V, 370–373)

Er, der Verführer schlechthin, der in der Vorgeschichte seine christlichen Gegner gar zum Abfall vom Glauben bewegt hat, sei verführt worden. Zuerst nennt er als Urheberin dieser Verführung die Rache, die jedoch als adfectus malus in seinem Inneren anzusiedeln und damit wiederum auf seine mangelnde Selbstbeherrschung zurückzuführen wäre. Deshalb korrigiert er sich umgehend („Auch Rache nicht“) und lagert stattdessen die Schuld komplett aus: Er bannt sie bequem im dämonischen Außen der unheimlichen „Scharen aus der Hellen“. Nach eigener Aussage ist er also in letzter Konsequenz genauso zum Opfer der infernalischen Mächte geworden wie Catharina. Das informierte Publikum, das Zeuge seines Leidenschaftsdramas geworden ist, weiß dies jedoch als Lüge zu identifizieren. Auch pervertiert er das Konzept der christlichen Reue, der contritio, ganz entschieden, schließlich bekennt er sich nicht zu seiner Schuld, sondern entschuldigt sich vielmehr und wird dadurch als Heuchler entlarvt. Es ist dieser Frevel, der den Geist der verstorbenen Catharina sodann auf den Schauplatz zitiert.104

103 Zum Prinzip der frühneuzeitlichen Spiegelstrafen, siehe Schild: Alte Gerichtsbarkeit, S. 197. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 73–74 bemerkt dazu: „In der Marter lodert die Gräßlichkeit des Verbrechens auf […]. Darum spielt die Grausamkeit der Marter eine doppelte Rolle: einerseits Spiegelbild des Verbrechens, andererseits seine Übermächtigung.“ 104 Wenn Borgstedt: Poetische Sakralisierung, S. 50 Chach Abas seine Selbstdarstellung als „reuigen Sünder“ abnimmt und seine „verzweifelte Reue“ nicht hinterfragt, dann verkennt er

3.5 Die Hölle des bösen Gewissens: Das Ende

113

War Catharina als Märtyrerin in den Himmel aufgefahren, steigt sie nun von dort auf den Schauplatz hinab wie zu Beginn des Trauerspiels die Ewigkeit. Dies vollzieht sich analog zur Bühnenanweisung, die dem Prolog vorangestellt war, jedoch „oeffnet sich der Himmel“105 hier nicht einfach, sondern er birst und reißt, wie der Chach berichtet. So ist einmal mehr auf die Logik von Schuld und Strafe verwiesen, da Catharina nun auf ebenso aggressive Weise Grenzen überschreitet (hier zwischen Dies- und Jenseits) wie zuvor der Chach durch seine grausamen ethischen, rechtlichen und physischen Transgressionen: „Schauet! schaut! der Himmel bricht! / Die Wolckenfeste reist entzwey“ (CG V, 385–386) Da der Chach als Zuschauer das Schauspiel kommentiert und als solches bestätigt, wird der deiktische Gestus des Prologs hier in evidentia überführt.106 Damit zeigt sich nicht zuletzt die zirkuläre Struktur der Catharina von Georgien: Die Ewigkeit gab das Vorspiel zum irdischen Trauerspiel als theatrum mundi, das hier selbst wiederum zum Vorspiel der Ewigkeit geworden ist.107 Aufgrund der Wiederholung des „Schauet! schaut!“ sowie mit „Gesichte“ (CG V, 275) und „wir sehen“ (CG V, 389) wird der Sehsinn beharrlich angesprochen und es zeigt sich, dass auch hier über das Schauen die Machtverhältnisse geregelt werden. Damit ist dann nicht nur auf die visuelle Anordnung des Prologs, sondern ebenfalls auf Catharinas Marter verwiesen. Die Rollen sind hingegen vertauscht: Der Chach ist nunmehr Catharina bzw. der Allmacht, die sie vertritt, untergeordnet und sie hält nun über ihn Gericht. Das parallel zum „Schauet“ (CG V, 383) geordnete „Hoeret“ (CG V, 384) spricht wiederum das Gewissen als auditives Phänomen an, durch das der Mensch von Gott an seine Sünden erinnert wird.108 Der Chach wird im Folgenden vom bloßen Zuschauer zum Zeugen von Catharinas Transformation bzw. ihrer Transfiguration, sieht er sie doch zuerst noch mit „abgezwickte[r] Brust“ (CG V, 377) und „versengte[m] Hare“ (CG V, 380), dann aber ist sie „mit schoenerm Fleisch umbgeben“ (CG V, 395) und

die darin angelegte Heuchelei und Lüge, die die wahre Unverbesserlichkeit des Chachs preisgibt. 105 CG, S. 125 (Bühnenanweisung). 106 Vgl. dazu auch Wild: Zur Evidenz korporealer Inskription, S. 238 sowie Alt: Begriffsbilder, S. 251. 107 Der Abgang der Allegorie der Ewigkeit inszeniert also gerade nicht die Verabschiedung von Transzendenz und „das Ausbleiben himmlischer Antwort“, wie Nicola Kaminski: Martyrogenese als theatrales Ereignis. Des „Leo Armenius“ theaterhermeneutischer Kommentar zu Gryphius’ Märtyrerdramen. In: Daphnis 28 (1999), S. 613–630, hier S. 625 vermutet. 108 Zu Gottes Grollen, das den Sünder durch das Gehör anspricht, siehe Kittsteiner: Entstehung des modernen Gewissens, S. 32.

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3 Unterwelt und Welttheater

„prangt in Kleidern / darfuer Schnee kein Schnee!“109 (CG V, 399). Der Chach bezeugt ihre metaphysische Investitur, die ihre vorangegangene absolute Devestitur rückgängig macht. Ihre neuen Kleider entdecken – im Gegensatz zur Entdeckung der Lunge in der Marter – das himmlische Wesen der Märtyrerin. Nicht nur erkennt der Chach in ihrem Angesicht, dass sie auf diese Weise als Instanz der göttlichen Gerechtigkeit installiert wird („Das Recht ists selbst das uns das endlich’ Vrtheil spricht.“ [CG V, 388]), auch bekennt er sich dazu, „Daß wir unrechtmaessig dich betruebet / Daß wir ein Stueck an dir veruebet“ (CG V, 412–413). Dieses Geständnis seines Unrechts erfolgt „Entzeptert! auff dem Kny und mit gewundnen Haenden“ (CG V, 411), womit an ihm selbst gleichsam eine Devestitur vorgenommen wird, die ihn mit dem Zepter nicht nur seine politische Macht zu entziehen scheint, sondern, nicht zuletzt aufgrund der phallischen Gestalt des Zepters, auch seine erotische.110 Es zeigt sich, dass jegliche Machtform der ewigen Gerechtigkeit untergeordnet ist. Waren ehemals das Begehren des Chach sowie sein Blick darauf ausgerichtet, Catharina zu verzehren, so wird er nun von Catharinas „erhitzt[em]“ (CG V, 404) Grimm, der sowohl seine einst „entbrandte Glut“ (CG I, 802) als auch sein gegenwärtig erhitztes Gewissen widerspiegelt, sowie von ihren „lichten Flammen“ (CG V, 405) verzehrt.111 Seine Reueklage wird daraufhin zum Ausdruck seiner „Höllenfahrt“112, die ihren Höhepunkt darin findet, dass er ausruft: „Ach wir brennen! / Feuer! Feuer! Feuer! Feuer! Feuer kracht in disem Hertzen! / Wir verlodern / wir verschmeltzen angesteckt durch Schwefel-Kertzen!“ (CG V,

109 Tschachtli: Körper- und Sinngrenzen, S. 97 fasst für diese Textstelle zusammen: „Anders als das Fleisch, das in der Folterszene ‚als Schnee‘ (V, 76) verschwand, sind diese Kleider uneingeschränkt in Schönheit und Zeit. Der Schnee, der zuvor Zeichen der Auflösung war, wird auch hier wieder aufgerufen, jedoch in einem erhöhten Zustand der Unvergleichbarkeit (‚darfuer Schnee kein Schnee‘ – V, 399).“ Zum Zusammenspiel von Gewandmetaphorik und Gewissen bemerkt Kittsteiner: Entstehung des modernen Gewissens, S. 436 mit Rückgriff auf Schottels Ethica (1669): „Da durch Kleiderwechsel ein Standeswechsel ausgedrückt werden kann, eignet sie sich zugleich für die Darstellung eines moralischen Auf- und Abstiegs. Im engen Verbund von Seele und Gewissen deutet Schottelius dieses Gewand eindeutig ‚ethisch‘. Ihm kommt es darauf an, die Unsterblichkeit und damit auch die Strafbarkeit des Gewissens zu betonen.“ 110 Zur Parallele von Entzepterung und Entmannung, siehe auch Wild: Theater der Keuschheit, S. 94; 138–139. 111 Ebd. wendet Wild dies seinerseits auf die „verzehrende Sichtbarkeit Catharinas“ an, die „dabei genauso sehr in der Helligkeit wie in den Strahlen des Blickes, den sie aussendet“ bestehe. 112 Schings: Catharina von Georgien, S. 60. Dass diese Höllenfahrt, im Gegensatz zur jesuitischen Theatertradition nicht „bühnenreal[]“ ist, betont Borgstedt: Poetische Sakralisierung, S. 46.

3.5 Die Hölle des bösen Gewissens: Das Ende

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407–409) Dieses innerliche Verzehren durch das (höllische) Feuer korrespondiert mit Catharinas Prophezeiung: „der Tod streckt schon die Haende / Nach dem verdamten Kopff. Doch eh’r du wirst vergehn; / Must du dein Persen sehn in Kriges Flammen stehn“ (CG V, 434–436) Während er „verdamt[]“113 ist, und damit sowohl von der weltlichen als auch der jenseitigen Gerichtsbarkeit verurteilt und rechtmäßig der Hölle überantwortet ist, wird schließlich auch sein Reich, das in der Vorgeschichte Georgien einverleiben sollte und dieser Einverleibungswunsch wohlgemerkt den Grund für die Bosheiten des Chachs bildete, von den „Kriges Flammen“ verzehrt. Abschließend wird auch die letzte Aussicht auf eine Läuterung des Chachs angesichts seiner Strafe vollkommen enttäuscht, wenn er als „verdamte[r] Kopff“ das infernalische Leid der Gottesferne, die poena damni, ganz zum Schluss, nach der Offenbarung durch Catharinas Geist, noch einmal profaniert. In den letzten Versen des Trauerspiels bietet er sich nicht etwa Gott, sondern Catharina zum gerechten Opfer: Laß auff dem Brand Altar / dem Schauplatz deiner Pein / Zu lindern deinen Grimm uns selbst ein Opffer seyn. Doch ist wol herber Rach’ und die mehr kan betrueben; / Als daß Wir / Feindin / dich auch Todt stets muessen liben. (CG V, 445–448; Hervorhebung IvH)

Er gibt eben nicht das Getrenntsein von Gott, sondern das Getrenntsein von Catharina als den Grund der absoluten Verzweiflung an. Er bleibt ihr, vor allem aber dem verderblichen „liben“, beständig treu.114 In dieser Verfehlung formuliert sich die Pointe, dass der Unverbesserliche nicht einmal aus diesem äußersten Szenario im Angesicht der göttlichen Rache geläutert hervorgeht. Das Getrenntsein von Catharina ist gerade deshalb schlimmer als die Aussicht auf seine gerechte (Höllen-) Strafe, weil hier der geradezu wesenhafte (erotische, politische) Expansionstrieb des Chachs, in dem sich seine grenzenlose Bosheit manifestiert, eine endgültige, ewige Einengung erfährt. Gerade weil sich seine Abgründigkeit hier abschließend noch einmal auftut, bleibt für das wissende zeitgenössische Publikum kein Zweifel über die endgültige und ewige Verdammnis des Chachs im Jenseits des Todes und des Texts. 113 So bedeutet „verdammen“ ursprünglich „für strafwürdig erklären“, entweder vor einem weltlichen oder geistlichen Gericht bzw. vor Gott und Christus als Richter, also durch „irgend eine höhere zwingende gewalt“, siehe Art. verdammen. In: DWb, Bd. 25, Sp. 190–195, bes. Sp. 190–192. 114 Auch Koschorke: Begehren des Souveräns, S. 159 bemerkt: „Im Zerrspiegel erfährt auch Chach Abas etwas von der Beständigkeit, die Catharina auszeichnet. Er wird ein ewig Verdammter und zugleich ewig Liebender sein.“

4 Die Ruptur des Bösen: Gryphius’ Ermordete Majestät oder Carolus Stuardus (1663) Die überarbeitete Fassung von Ermordete Majestaet oder Carolus Stuardus, König von Groß Brittannien aus dem Jahr 1663 ist Gryphius’ letztes Trauerspiel. Die erste Version wurde 1649/50 nach Gryphius’ eigener Aussage in unmittelbarer Reaktion auf die politischen Ereignisse in England verfasst und 1657 erstmals veröffentlicht.1 Es zeigt sich, dass der Stoff des Carolus Stuardus damit nicht historisch, sondern aktuellste Politik ist, geht es doch um die Hinrichtung Karls I. („Carolus“) von England durch Oliver Cromwell und die Independenten am 30. Januar 1649, in deren Folge England zur Republik erklärt wurde. Die zweite Fassung des Trauerspiels, der sich dieses Kapitel widmet, arbeitete Gryphius unter Hinzuziehung neuer historiographischer Quellen aus. Diese behandeln u. a. Cromwells Tod (1658), die Restauration der Stuart-Monarchie (1660) und die Krönung Karls II. (1661).2 Sie liefern damit nunmehr historische Gewissheit, dass nach dem ungeheuerlichen Ereignis der Ermordung der Majestät die monarchische Ordnung wiederhergestellt wurde. Die dramatische Zeit von Gryphius’ letztem Trauerspiel umfasst etwas mehr als einen halben Tag vor der Hinrichtung des Königs. Von seinen politischen Gegnern zum Tode verurteilt, erwartet Carolus seine Exekution und wird dabei

1 Siehe Gryphius’ Widmungsvorrede zur zweiten Fassung des Carolus Stuardus in Andreas Gryphius: Carolus Stuardus. In: Gryphius: Dramen, S. 443–575. Im Folgenden wird der Carolus Stuardus mit der Sigle CS gekennzeichnet. Abhandlungen und Reyen werden inkl. Akt- und Verszahl im Text zitiert. Widmungsvorrede, Epitaph, Inhalt, Personenverzeichnis und Regieanweisungen werden in den Fußnoten mit der Sigle und der Seitenzahl vermerkt, hier CS, S. 445–446 (Widmungsvorrede). Gryphius’ Anmerkungen werden ebenfalls in den Fußnoten zitiert, als „[Sigle] Anm. Gryphius“ mit Angabe der Seiten- und Verszahl. Vgl. zur Vorrede auch den von Mannack besorgten Kommentar zum Carolus Stuardus, siehe Gryphius: Dramen, S. 1072–1137, hier S. 1072. Im Folgenden wird auf den Kommentar unter der verkürzten Angabe Mannack: Kommentar Carolus Stuardus und der Seitenangabe verwiesen. 2 Zu den von Gryphius konsultierten Quellentexten siehe Günter Berghaus: Die Quellen zu Andreas Gryphius’ „Carolus Stuardus“. Studien zur Entstehung eines historisch-politischen Märtyrerdramas der Barockzeit. Tübingen 1984 (Studien zur deutschen Literatur 79), der diesen Korpus nicht nur systematisch erfasst, sondern auch in seiner Bedeutung für das Trauerspiel auswertet. Einen Überblick über Berghaus’ Erkenntnisse liefert Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1082–1084, aus dem hervorgeht, dass Gryphius in seinen Anmerkungen ausschließlich Standardwerke anführt, die sich mit der englischen Revolution beschäftigen. Besonders hervorzuheben ist als Hauptquelle Philipp von Zesens Die verschmähete, doch wieder erhöhete Majestäht: das ist, Karls des Zweiten Königs von Engelland, Schotland uam. Wunder-geschichte von 1661. https://doi.org/10.1515/9783110726022-004

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als frommer Christ und liebender Vater dargestellt. Während sich die Parlamentarier unter Cromwell über den historischen Status ihres revolutionären Unternehmens ergehen, wird auf Seiten der Royalisten eine letzte Intrige zur Rettung des Königs ersonnen. Diese scheitert jedoch in der Mitte der dritten Abhandlung, was Gryphius in seiner zweiten Fassung zusätzlich akzentuiert. Dieser Neubearbeitung fügt er außerdem den Monolog des Parlamentariers Poleh hinzu, der von Cromwell als Richter eingesetzt wurde, um das Todesurteil über Carolus zu verhängen. Auf diese neue Szene folgt sodann unmittelbar der Kulminations- und Endpunkt des Dramas, nämlich die Enthauptung des Königs.3 Gerade diese in der zweiten Fassung vorgenommenen Modifikationen geben der Darstellung des Bösen gegenüber der ersten Version einen bemerkenswerten Vorschub, weshalb sich dieses Kapitel auf die Umarbeitung von 1663 und vornehmlich auf die hier angeführten Änderungen konzentriert. Es ist anzunehmen, dass eben weil mittlerweile historische Gewissheit über die Restauration der Stuart-Monarchie herrscht und die Schrecken der Revolution und der Majestätsermordung durch dieses Faktum aufgefangen werden, die böse Tat nun umso drastischer in der Dichtung hervorgebracht werden kann. Vor allem die ältere Forschung hat der zweiten Fassung des Carolus Stuardus wiederholt eine Schwäche in der dramatischen Komposition vorgeworfen. Willi Flemming monierte das „nunmehr unförmig gewordene“4 Stück. Wenig später spricht Friedrich Gundolf, der bei seiner Betrachtung des Trauerspiels klassische Maßstäbe anlegt, von einem „unrechtmäßigen Reiz“, der von dieser Version des Carolus Stuardus ausgehe und „mit Kunst nichts zu tun“5 habe. Noch dreißig Jahre später schloss sich der künftige Mitherausgeber von Gryphius’ Gesamtwerk, Hugh Powell, dieser kritischen Linie an, da er beanstandete, die Fassung von 1663 unterminiere die Gesamtstruktur und zerstöre die innere Einheit des Dramas.6 Albrecht Schöne argumentierte in seiner wirkungsmächtigen Deutung gegen eine solche Kritik, indem er gerade den Kunstcharakter des Trauerspiels in den Vordergrund stellte und in diesem Zuge Carolus zur „dichterischen Post-Figuration“7 Christi erklärte. Obgleich heute dem Carolus Stuardus keine komposi3 Eine detaillierte Übersicht der Änderungen, die Gryphius in der zweiten Fassung des Carolus Stuardus vorgenommen hat, findet sich bei Dirk Niefanger: Carolus Stuardus (B-Fassung). In: Gryphius-Handbuch, S. 260–271. 4 Willi Flemming: Andreas Gryphius und die Bühne. Halle 1921, S. 241. 5 Friedrich Gundolf: Andreas Gryphius. Heidelberg 1927, S. 41. 6 Hugh Powell: Carolus Stuardus. Leicester 1955, S. lxxxv: „[T]he whole structure of the drama was seriously undermined and the inner unity destroyed.“ 7 Schöne: Postfigurale Gestaltung S. 74. Dass sich in Carolus’ Stilisierung zum Märtyrer jedoch theologische mit politischen Implikationen verbinden und damit den zeitgenössischen Diskurs um die Hinrichtung des englischen Königs rezipieren, ergänzt kritisch Karl-Heinz Habersetzer:

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torische Schwäche mehr unterstellt wird, so wird doch auch in der jüngeren Forschung immer wieder und immer noch die Andersartigkeit in der Dramaturgie dieses Trauerspiels thematisiert. So optiert Dirk Niefanger dafür, es handle sich um eine „Tragödie der Sprache“8, und auch Rüdiger Campe stellt seinerseits „die dialogisch-dramatische Spannung dieses enormen monologischen Redetheaters“9 heraus. Was hat es also mit dem Carolus Stuardus auf sich? Und in welchem Verhältnis steht diese eigenwillige dramatische Komposition zum Bösen? Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass die frühe Kritik von Flemming und Powell, nach der in der zweiten Fassung des Carolus Stuardus die innere Einheit des Dramas zerstört sei und eine Unterminierung der dramatischen Gesamtstruktur vorliege, für eine Auseinandersetzung mit der poetischen Strategie des Textes produktiv gemacht werden kann: Inhalt und Form des Dramas korrespondieren, da beide jeweils eine Zergliederung darstellen, nämlich die der göttlich gebotenen politischen und rechtlichen Ordnung einerseits und die der dialogisch-dramatischen Ordnung andererseits. Diese Dekomposition, deren Inbegriff die decapitatio des Königs wird, ist als widergöttliche Tat sowohl Werk als auch Ausdruck des Bösen. Um diese These zu fundieren, ist vorerst näher auf die politischen und theologischen Implikationen von Carolus’ Hinrichtung einzugehen, deren zeitgenössische Bedeutung nicht zu überschätzen ist. Es handelt sich im europäischen Kontext um das buchstäblich wohl einschneidenste politische Ereignis des 17. Jahrhunderts.10 Das exemplum Carolus Staurdus bedeutet nicht ‚nur‘ ein Moment der unlauteren Machtnahme mittels Fürsten-Mord, wie der Leo Armenius ihn im Titel führt. Dort war die Wiederholung des Prinzips der Usurpation

Politische Typologie und dramatisches Exemplum. Studien zum historisch-ästhetischen Horizont des barocken Trauerspiels am Beispiel von Andreas Gryphius’ „Carolus Stuardus“ und „Papinianus“. Stuttgart 1985 (Germanistische Abhandlungen 55). Als weitere grundlegende Kritik an Schönes Ansatz sei hier verwiesen auf Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 98–117, der in Carolus auf überzeigende Weise eine Figuration des David poenitens ausmacht. 8 Niefanger: Geschichtsdrama, S. 180. 9 Rüdiger Campe: Theater der Institution. Gryphius’ Trauerspiele „Leo Armenius“, „Catharina von Georgien“, „Carolus Stuardus“ und „Papinianus“. In: Konfigurationen der Macht in der frühen Neuzeit. Hg. von Roland Galle. Heidelberg 2000 (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 6), S. 257–287, hier S. 283. 10 Zur historischen Bedeutung der Hinrichtung Karls I. sei verwiesen auf die diskursanalytische Aufarbeitung von Nancy Klein Maguire: The Theatrical Mask/Masque of Politics. The Case of Charles I. In: Journal of British Studies, Vol. 28 (1989), S. 1–22. Dass im 17. Jahrhundert „der Körper als diskursive Schnittstelle funktioniert, als Schnittstelle von politischen, theologischen und poetologischen Diskursen, von Immanenz, Transzendenz und Evidenz“ setzt auch Tschachtli: Körper- und Sinngrenzen, S. 34 voraus. Umso verwunderlicher ist es, dass sie in ihrer Studie eben nicht auf den Carolus Stuardus eingeht, der ja ein einschneidendes politi-

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zur Anschauung gekommen, wobei die fürstliche Macht selbst – auch unter Suspendierung der dynastischen Kontinuität – stets unantastbar blieb. Die Majestätsverletzung, die dort vorgestellt wird, ist hier, im Carolus Stuardus, ultimativ zur Ermordeten Majestaet gesteigert. Der Titel nämlich impliziert, dass beide, der König und die Institution der königlichen Herrschaft, auf verbrecherische Weise hingerichtet werden. Dabei deriviert die „Majestät“ nicht nur etymologisch von der Glorie Gottes,11 sondern ist auch als politisches und geistliches Supremat von Gottes Gnade hergeleitet. Im Großbritannien der Frühen Neuzeit artikuliert sich dies im Divine Right of Kings, dem Herrschaftsrecht der Könige, das im göttlichen und natürlichen sowie im kanonischen anglikanischen Recht begründet ist.12 Die Konzeptualisierung der Majestät ist verschränkt mit der des corpus politicum. In seiner Studie Die zwei Körper des Königs hat Ernst Kantorowicz diese mittelalterliche und frühneuzeitliche Vorstellung von der Koexistenz des body politic und des body natural in der Person des Königs nachvollzogen.13 Gemäß der Formel „eine Person, zwei Körper“ inkorporiert der König in seinem sterblichen, menschlichen Leib den symbolischen Körper der royalen Institution als ewiger Korporation. Kantorowicz bezeichnet dies als politische Christologie, da dieses Konzept auf dem Mysterium der zwei Körper Jesu Christi basiert. Während der body natural des Königs dem vergänglichen, menschlichen Leib Christi ähnelt, korrespondiert der body politic mit seinem göttlichen, ewigen Wesen, sodass der Regent als Schnittpunkt von weltlicher und göttlicher Sphäre selbst sakrale Züge erhält.14 Die Vorstellung des body politic ist dabei an derjenigen vom corpus Christianum entwickelt.15 In seiner Freiheitsschrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung von 1520 erklärt Luther ent-

sche Ereignis zur Anschauung bringt, in dem Immanenz, Transzendenz und Evidenz – wie in vielleicht keinem anderen von Gryphius’ Trauerspielen – miteinander konvergieren. 11 Vgl. dazu Art. Majestät. In: DWb, Bd. 12, Sp. 1485–1488, bes. Sp. 1485–1486. 12 So nachzulesen in: The canons of 1640. In: The Anglican Canons 1529–1947. Hg. von Gerald Bray. Woodbridge 1998, S. 553–578, hier S. 558: „The most high and sacred order of kings is of divine right, being the ordinance of God himself, founded in the prime laws of nature, and clearly established by express texts both of the Old and New Testaments.“ 13 Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Übersetzt von Walter Theimer nach der zweiten, korrigierten Aufl. Princeton 1966. München 1990 (dtv Wissenschaft 4465). 14 Vgl. dazu Albrecht Koschorke u. a.: Der fiktive Staat: Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt am Main 2007, hier bes. S. 114. 15 Zur Genese dieser Vorstellung ist mit Dietmar Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. München 1983 (Münstersche Mittelalter-Schriften 50), S. 302 f zusammenzufassen: „Wichtiger als die seit

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sprechend, „das wir alle ein corper sein des heubts Jesu Christi, ein yglicher des andern glidmasz. Christus hat nit zwey noch zweyerley art corper, einen weltlich, den andern geistlich. Ein heubt ist und einen corper hat er.“16 Analog dazu verkörpert der Souverän die politische Korporation und ist gleichzeitig das buchstäbliche Staatsoberhaupt. Wie der Doppeltitel des Trauerspiels bereits verrät, geht es nicht in erster Linie um den individuellen Leib des Carolus Stuardus, sondern um die gesamte politische Korporation, um die göttlich gebotene Majestät, die hingerichtet werden soll, wenn das Staatsoberhaupt – und in diesem Zuge der corpus politicum – unrechtmäßig ermordet wird. Die Enthauptung, die eigentlich ein legitimes Strafinstrument ist, wird zur bösen Tat gewendet, weil sie sich gegen göttliches Recht, nämlich das Divine Right of Kings, vergeht, das der König inkorporiert. Die Republik, die aus diesem kopflosen Staatskörper hervorgehen soll, und die Revolution, die sie zu allererst herbeiführt, sind hier als Entweihungen der göttlichen Macht und Ordnung in der Majestät arrangiert, sodass im Regizid gar der Deizid aufscheint.17 Auch Franco Moretti konstatiert in einem Aufsatz zur frühneuzeitlichen „Tragödie der Souveränität“ in England, dass eine solche Entweihung des Königs seine Enthauptung – und in diesem Punkt bezieht er sich konkret auf den Fall Karls I. – überhaupt erst ermögliche.18 Das gültige Weltbild werde in diesem Zusammenhang – wenn auch nur vorübergehend – zerstört und dabei handle es sich um nichts geringeres als die Zerstörung fundamentaler kultureller Paradigma. Gryphius wendet sich dieser Ruptur zu, indem er sein gesamtes Drama auf den bevorstehenden Moment dieser Zerschlagung des Königtums in der Enthauptung des Königs ausrichtet. Denn als das Drama einsetzt, ist das Urteil über Carolus bereits gesprochen. Die Handlung ist auf ein Minimum reduziert, da eben nicht verhandelt wird, ob die Ordnung des Königtums zerschlagen wird, sondern dass und wie dies geschieht. Diese Situation entfaltet sich in der

dem ersten vorchristlichen Jahrhundert bekannte Metapher vom corpus rei publicae, die später durch das corpus imperii ersetzt wird, und bedeutender als der von römischen Juristen entwickelte Begriff des corpus dürfte die für die Geschichte der organologischen Metaphorik das von Paulus konzipierte Bild von der Gemeinschaft der Gläubigen als corpus Christi gewesen sein, das von der Patristik auch auf die Kirche als Institution übertragen und im Mittelalter weiterentwickelt wurde […].“ 16 WA 6, 409, 32–35. 17 Dass diese Interpretation des Mordes an Karl I. als Gottesmord durchaus im zeitgenössischen Diskurs verankert ist, dazu siehe Maguire: The Theatrical Mask/Masque of Politics, S. 3–4. 18 Vgl. Franco Moretti: “A Huge Eclipse.” Tragic Form and Deconsecration of Sovereignty. In: The Power of Forms in The English Renaissance. Hg. von Stephen Greenblatt. Norman 1982, S. 7–40.

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dramatischen Anordnung als eine Polyphonie, ein Nebeneinander der Stimmen, die selbst die einzig noch mögliche Handlung – die Intrige gegen die Independenten und für Rettung des Königs – zur „Implosion“19 bringt. Angesichts der unausweichlichen Katastrophe scheitert also jede Art des Dialogs. Da der Dialog wiederum ein Grundelement der dramatischen Form bildet, entsteht schließlich auch der Eindruck, dass die dramatische Struktur selbst – sie konstituiert sich ja aus Dialog und Handlung und auch die Handlung ist hier zum Erliegen gekommen – zusammenbricht. Das Drama scheint sich geradezu aufzulösen in seiner konstruierten Unstimmigkeit, durch die auch der corpus politicum bereits im Vorfeld der katastrophischen Hinrichtung zergliedert erscheint. Der dramatische Text steht deshalb symptomatisch für das spezifische politische, theologische und ontologische Krisenmoment, das er repräsentiert. Damit weist er nicht zuletzt hinaus auf die universelle Krise des europäischen Absolutismus sowie der politischen Theologie, auf der er basiert.20 Mit seiner poetischen Strategie exponiert das Drama also die zergliederte, gebrochene politische Anatomie des souveränen Staates, die unter dem gewaltsamen Eingriff des Bösen still gestellt ist. Der Text reflektiert dies als politische sowie theologische Anatomie des Leidens, da nicht zuletzt dem zum Tode verurteilten König die Züge der christologischen passio eingeschrieben sind. Das dialogische Scheitern nimmt dabei ebenjene Sprachlosigkeit vorweg, die die Enthauptung hervorbringt. In dieser Zerschlagung auch der sprachlichen Ordnung manifestiert sich die Störung, die beabsichtigte Zerstörung der göttlich gebotenen Weltordnung. Diese Umwälzung, die in sich eine vorübergehende Verkehrung und Pervertierung der universellen Ordnung vorstellt, nimmt das Konzept der Revolu-

19 Campe: Theater der Institution, S. 271. 20 Diese zeitpolitischen, gesamteuropäischen Umstände, auf die Gryphius’ Trauerspiel reagiert, finden sich auch bei René Sternke: Andreas Gryphius’ Tragödie „Carolus Stuardus“ und die Geburt des Imaginaire der Revolution. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 52 (2011), S. 175–191 und Michael Gamper: Dramatische Zeit-Form der Revolution in Gryphius’ „Carolus Stuardus“. In: Zeiten der Form – Formen der Zeit. Hg. von Michael Gamper, Eva Geulen, Johannes Grave. Hannover 2016 (Ästhetische Eigenzeiten 2), S. 275–298 angesprochen. Gamper, der sich in seinem Aufsatz der Zeitstruktur im Carolus Stuardus widmet, kommt dabei zu einer der vorliegenden Analyse ganz ähnlichen Konklusion im Hinblick auf die Andersartigkeit der dramatischen Komposition: „Gryphius hingegen wandte sich den Konsequenzen zu, die sich durch das Wegbrechen der kontinuitätsstiftenden Qualitäten der traditionalen Ordnung ergaben, was zu einer vollständig anderen temporalen Strukturierung des Dramas führen musste.“ (ebd., S. 294).

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tion in seiner Etymologie des revolvere (umdrehen) vorweg, sodass die revolutio hier selbst zu einer Figuration des Bösen wird.21 Ausgehend von diesen Vorbemerkungen wird sich in der folgenden Analyse zuerst den Akteuren des Bösen im Trauerspiel zugewendet. Cromwell ist als Haupt der Independenten Carolus’ direkter Widersacher. Als Abriss seiner üblen Machenschaften ist dem Trauerspiel ein fiktives Epitaph vorangestellt (Kapitel 4.1). In diesem zum Drama hinführenden Schwellentext werden Cromwells lebenslangen Transgressionen rekapituliert und es zeigt sich, dass auch hier wiederum die Schwelle der textuelle Ort ist, an dem das Böse als willentlicher und wissentlicher Übertritt verhandelt wird. Im Epitaph wird Cromwell als teuflischer Mensch dargestellt, wobei diese Verteufelungen nur mehr rhetorische Wendungen sind, um die verborgene, innere Bosheit einzufangen und zu entlarven. An Cromwell lässt sich damit eine spezifisch neuzeitliche Entwicklung des Bösen in seiner Ablösung vom Teufel erfassen, denn „an die Stelle des Teufels treten alsbald die Verteufelungen”22. Cromwells Bösartigkeit manifestiert sich dabei im Sujet der Pervertierung. Durch den Missbrauch des Rechts gelingt es Cromwell, Carolus und mit ihm die Monarchie durch einen Justizmord auszuschalten und sich schließlich selbst als Schreckensherrscher zu installieren. Als Rechtsverdreher und -verkehrer bemächtigt er sich auf unlautere Weise der Rechtlichkeit und ihrer Instrumente, höhlt sie aus und benutzt sie lediglich als Larve. Diese Vermummung oder Bemäntelung des Unrechts durch das Recht stellt den modus operandi des Bösen vor, der gerade dadurch besonders bedrohlich, aber auch effizient ist, da er die etablierte, religiös begründete Ordnung imitiert, um das Böse ins Werk zu setzen. Die Ausführungen zu Cromwell lassen sich auf die Gesamtheit der Königsgegner applizieren (Kapitel 4.2). Neben Cromwell als Independentenführer ist der Geistliche Hugo Peter ein weiterer Hauptakteur des Bösen. Er ist falscher Prophet, Verführer der Massen und böser Geist der Revolution und tritt damit ebenfalls an die Stelle des Teufels. Während Cromwell sich des Rechts bemächtigt, um das Divine Right of Kings aufzuheben, operiert Peter aus dem geistlichen Zentrum heraus. Gemeinsam zerstören sie die Ordnung von innen, indem

21 Zur Begriffsgeschichte der Revolution im 17. Jahrhundert siehe auch Sternke: Geburt des Imaginaire der Revolution, S. 175–176. Ohne das Böse im Carolus Stuardus systematisch zu betrachten, wird auch ebd., S. 187 konkludiert: „Resümieren wir Gryphius’ implizite Thesen zur Revolution. Die Revolution ist die Bewegung, die Veränderung, das revolvere, die Verkehrung, die Inversion von Oben und Unten, der Wandel der Ordnung und das Aufkommen einer neuen Ordnung. […] Sie ist die Krankheit, das Unwetter und die Hölle; sie ist das Böse und das Monströse, das die Notwendigkeit der Ordnung aufscheinen lässt.“ 22 Odo Marquard: Art. Malum. In: HWPh, Bd. 5, Sp. 652–656, hier Sp. 654.

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sie mit Recht und Religion ebenjene Instanzen besetzen und außer Kraft setzen, die eigentlich das Böse wehren. Darin liegt die besondere Perfidie des independentischen Unternehmens, dessen Anführer allesamt dem Militär entstammen und damit ursprünglich eingeschworen waren, Angriffe auf die Majestät abzuwenden. Ihr Eidesbruch gegenüber der Majestät weist voraus auf die grausame Ruptur, die die Enthauptung des Königs als Bruch mit der traditionalen Ordnung bedeutet. Aus den Reihen der Independenten tritt in der letzten Abhandlung der falsche Richter Poleh hervor (Kapitel 4.3). In der moraldidaktischen Ausrichtung des Trauerspiels wird an ihm die Dialektik aus gotteswidrigem Verbrechen und gerechter Strafe veranschaulicht. Mit außerordentlicher Bühnenwirksamkeit stellt die erste Hälfte der Szene Polehs Raserei und Zerrissenheit vor, die in sich sowohl die Zerreißung des corpus politicum als auch die Zerreißung seiner personalen Identität, ausgelöst durch die Verführung zum Bösen und dessen Verrichtung, zur Anschauung bringt. In der zweiten Hälfte der Szene wird, ebenso theaterwirksam, der Schauplatz durch die Öffnung einer Hinterbühne vertieft. Dort wird, zur prospektiven Vision Polehs stilisiert, ein gerechtes Straftheater vergegenwärtigt, in dem nicht nur die Majestätsmörder gerichtet werden, auch Carolus’ Sohn wird als Karl II. inthronisiert, wodurch schließlich die Ordnung der Majestät wiederhergestellt wird. Abschließend wendet sich die Analyse der Enthauptung der Majestät zu (Kapitel 4.4). Hier wird genauer auf das Scheitern der Gegenintrige zur Rettung des Königs eingegangen, das zurückzuführen ist auf den grundsätzlichen Zweifel, den der infame modus operandi der Independenten provoziert und implementiert hat (Kapitel 4.4.1). Wahrhaftigkeit und Larve, Sein und Schein sind gemeinhin nicht mehr zu unterscheiden. Ein offener Dialog zwischen den aspirierenden Königsrettern ist unmöglich geworden und die Rettungshandlung kommt zum Erliegen, sodass die eigentliche, physische decapitatio durch den gekappten Dialog und die gekappte Handlung antizipiert wird. So wird schließlich auch die Enthauptung der Majestät als öffentliches Hinrichtungsschauspiel dargestellt, in dem die Dimensionen von Recht, Religion und Theater aufs engste miteinander verschränkt sind (Kapitel 4.4.2). In der letzten Szene des Trauerspiels stehen sich der König und sein Henker, der zum Symbol des Bösen erwächst, auf dem Schafott gegenüber. Carolus behauptet in diesem Moment der absoluten Ohnmacht seine Souveränität, indem er dem Henker befiehlt und damit seine eigene Exekution dirigiert. Das Böse ist in dieser letzten Konfrontation der Macht von Gottes Gnaden nachgeordnet und wird schließlich in Carolus’ imitatio Christi überwunden. Dass die Zerstörung der Majestät nur eine Störung, wenn auch eine einschneidende, ist, wird durch Polehs Zukunftsvision gleichsam als poetische Gerechtigkeit der historia eingeholt.

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4.1 „Perversus semper“: Das Cromwell-Epitaph Eine der Veränderungen, die Gryphius in der zweiten Fassung von 1663 vorgenommen hat, ist der Einschub des Cromwell-Epitaphs, das er dem dramatischen Text voranstellt. Die Initialen, die darunter gesetzt sind, entschlüsselt Hermann Palm als diejenigen „C[hristian] H[offmann] a[b, lat. „von“] H[offmannswaldau] S[uae] Caes[areae] Maj[estatis]“23 und schreibt ihm als Erster das Epitaph zu. Die fiktive Grabschrift ist im Geiste der englischen Restauration verfasst, wobei sich seine royalistische Haltung nicht zuletzt aus Hofmannswaldaus Stellung als Kaiserlicher Rat erklärt, in die er 1657 berufen worden war. Seine peregrinatio academica hatte ihn bereits 1639 nach England geführt, wo die tiefe Krise des englischen Absolutismus, ein Jahr vor dem Bürgeraufstand, spürbar war.24 Hoffmannswaldaus umfangreiche Epitaph-Produktion – allein bis 1643 hatte er gut 100 Poetische Grab-Schriften verfasst, die in Form privater Abschriften in Breslau kursierten – ist dabei keinesfalls eine Einzelerscheinung.25 Im 17. Jahrhundert war die Grabschrift als ein Sub-Genre der epigrammatischen Gelegenheitsdichtung en vogue, ermöglichte sie doch die Verhandlung zentraler Themen, denn in der Epitaph-Dichtung kann gerade das vanitas-Moment aufgefangen und beglaubigt werden. Die barocke Grabschrift bezeugt folglich – ähnlich der dramatischen Dichtung des Carolus Stuardus, dem sie vorangestellt ist – ebenfalls mit ihrer Form den Inhalt. Paratexte dienen stets der Perspektivierung des Textes, auf den sie sich beziehen und von dem sie ausgehen. Sie verfügen über einen Schwellencharakter und fungieren als ein Element, das den Kerntext an seinen Rändern umgibt,

23 So zu sehen als Fußnote des Herausgebers in: Andreas Gryphius: Werke in drei Bänden mit Ergänzungsband. Hg. von Hermann Palm, Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert. Mit einem Vorwort zur Neuausgabe von Eberhard Mannack. Unveränderter photomechanischer Nachdruck der Ausg. Tübingen 1882. Hildesheim 1961, Bd. 2, S. 358. Zum Abgleich der Initialen siehe CS, S. 449, V. 12 (Epitaph). Noch auf Palm stützt sich Rotermund, Erwin: Christian Hofmann von Hoffmannswaldau. Stuttgart 1963, S. 23. Verbürgt ist die Autorschaft Hoffmannswaldaus später in Lothar Noack: Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616–1679). Leben und Werk. Berlin 1999 (Frühe Neuzeit 51), S. 1106. Auch Herbert Jaumann: Andreas Gryphius. „Carolus Stuardus“. In: Dramen vom Barock bis zur Aufklärung. Stuttgart 2000 (RUB 17512), S. 67–91 setzt Hoffmannswaldau als Autor voraus. Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 532–538, widmet als einziger Forschungsbeitrag dem Cromwell-Epitaph ein eigenes Unterkapitel, geht jedoch fälschlicherweise davon aus, dass Gryphius der Verfasser ist (siehe ebd., S. 535). 24 Vgl. Noack: Hoffmannswaldau, S. 108. 25 Vgl. zur Datierung ebd., S. 139.

4.1 „Perversus semper“: Das Cromwell-Epitaph

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ihn also rahmt und präsentiert.26 Auch wenn das Cromwell-Epitaph bei einer Inszenierung des Trauerspiels nicht zur Aufführung kommt, so prägt es an der Schwelle zum Dramentext entschieden die Leserlenkung. Korrespondierend mit dieser lenkenden Funktion, die den Weg in den dramatischen Text weist, folgt Hoffmannswaldau in seinem Cromwell-Epitaph der traditionellen Anordnung der frühneuzeitlichen Grabschrift, nach der der Lesende als Wanderer durch das irdische Dasein adressiert wird („Sta viator“27) und auf diese Weise mit der Vergänglichkeit der menschlichen Existenz im postlapsarischen status viatoris konfrontiert wird.28 Die innere Organisation des Epitaphs findet sich demzufolge in seiner Stellung als Paratext am Eingang des Carolus Stuardus verdoppelt: Der Leser wird an der Schwelle zum dramatischen Texts dazu angehalten („Sta“), sich selbst als Wanderer („viator“), als Vorübergehender auf dem Weg in den Text hinein wahrzunehmen und auf diesem Weg (in den Text, entlang des Lebenslaufs) Cromwells Transgressionen, seine Übertretungen und Grenzverletzungen, die in sich ja eine Figur des Bösen beschreiben, nachzuvollziehen. Nicht zuletzt bestätigt sich in diesem textuellen Arrangement, was sich auch in den Kapiteln 2.4 und 3 gezeigt hat, nämlich dass für Gryphius Schwellen und die Transgressionen, die sie markieren, maßgebend sind, um das Böse zu situieren und zu verhandeln. Noch bevor also die eigentliche dramatische Handlung am Vorabend der Ermordung der Majestät beginnt, wird mit dem Epitaph, das als Grabschrift vorgibt, in Stein gemeißelt zu sein, sichergestellt, dass der Königsmörder Cromwell mittlerweile gestorben ist. Es wird suggeriert, dass die Ordnung, die durch ihn zerstört wurde, wiederhergestellt ist. Die Lenkung des Lesers bringt demnach eine notwendige historische Kontextualisierung des dramatischen Kerntexts mit sich. Die Inversion oder Perversion der Ordnung, verkörpert in und durch Cromwell als Haupt der Revolution, war vorübergehend und dies wirkt – den zeitgenössischen poetologischen Konventionen gehorchend – bereits im Vorfeld des Trauerspiels konsolatorisch. Die durch Cromwell initiierte und instal26 Als Grundlage der Paratext-Debatte siehe Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt am Main 1989. Auch Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 533 identifiziert das Cromwell-Epitaph als einen Schwellentext. Überhaupt kann für das Cromwell-Epitaph gleichsam das, was Niefanger: Geschichtsdrama, S. 160 für den Anmerkungsapparat und dessen paratextuellen Status konstatiert hat, in Anschlag gebracht werden: Diese Texte „stützen […] die Illusion des dramatischen Plots, steuern ein bestimmtes Leseverhalten und antizipieren – wie Bühnenanweisungen – bestimmte Aufführungsdetails.“ 27 CS, S. 447, V. 1 (Epitaph). [„Bleib stehen, Wanderer“ (Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1103–1105, hier S. 1103)]. 28 Vgl. Hermann Wiegand: Art. Epitaph. In: RLW, Bd. I, S. 475–476, hier S. 475.

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lierte Gegenordnung ist der Vergänglichkeit preisgegeben. Trotzdem wird der Adressat sogleich gewarnt – „si stare sustines“29 –, mit der Lektüre des Grabmals noch einmal durch diese Episode der Verkehrung hindurchzugehen. Das „stare“ wirkt dabei gleichsam als Allusion auf die constantia des Adressaten und gibt damit eine Anleitung zum Lesen, die noch über das Epitaph hinaus auf den dramatischen Text und seine Handlung anzuwenden ist. Denn was sich hier präsentiere, so heißt es in der zweiten Strophe vorbereitend, sei ein „Vastum […] Frontispicium“30, eine „wüstes Angesicht“, das schließlich – in vorausweisender, paratextueller Geste – auch das Trauerspiel selbst ist. Während die dritte Strophe daraufhin noch einmal in Majuskeln betont, dass Cromwell hier wahrhaftig begraben liege – „HIC EST, AUT FUIT“31 –, so setzt die vierte umgehend damit ein, den Toten vorzustellen als „Perversus semper, ad omne motuum genus procax“32. Mannack übersetzt das Adjektiv „perversus“ als „bösartig“. Was Cromwell jedoch in seiner Bösartigkeit definiert, ist seine Strategie, über die ebenjenes „perversus“ Auskunft erteilt: Er verkehrt die Ordnung, er pervertiert sie, und ist damit ein notorischer Unruhestifter. Erst diese Identifikation bricht Cromwells erstmaliger namentlichen Nennung im folgenden Vers Bahn. Moraltheologisch ist Cromwell durch diese Zuschreibung in die Nähe des Teufels gerückt. So bemerkt Augustinus in De civitate Dei, am Teufel sei nicht seine Natur per se böse, sondern seine Perversität mache sie böse: „Proinde nec ipsus diaboli natura, in quantum natura est, malum est; sed perversitas eam malam facit.“33 Ebendiese Perversität zieht sich im Folgenden geradezu leitmotivisch durch den Lebenslauf Cromwells als dem paradigmatisch „durch Verbrechen geadelten Engländer“34. Die Mitte des Epitaphs und damit das Kernstück des Lebensabrisses bildet das Skandalon der Anklage: „Sons Insontem accusavit / Reus REGEM damnavit / Et subjectus SERVUS Securi DOMINUM subjecit.“35 Neben der teuflischen perver-

29 CS, S. 447, V. 9 (Epitaph) ]„Wenn Du es erträgst, / Am Grabmal des Tyrannen zu stehen“ (Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1103)]. 30 CS, S. 447, V. 9 (Epitaph). 31 CS, S. 447, V. 14 (Epitaph) [„Hier ist er – oder war er“ (Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1103)]. 32 CS, S. 447, V. 18 (Epitaph) [„Bösartig immer, und immer begierig auf jede Art von Unruhe“ (Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1103)]. 33 Augustinus: De civitate dei, lib. XIX, cap. 13, Bd. 2, S. 474. 34 Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1103 [„nobilis sceleribus Anglus“ (CS, S. 447, V. 20 [Epitaph])]. 35 CS, S. 448, V. 8–10 (Epitaph) [„Klagte der Schuldige den Unschuldigen an, / Verurteilte der Angeklagte den König. / Und der unterworfene Sklave unterwarf seinen Herrn dem Schwert“ (Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1104)].

4.1 „Perversus semper“: Das Cromwell-Epitaph

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sitas scheint hier die alttestamentarische Tradition des Satan/shaitan auf, der als Widersacher und Ankläger vor dem göttlichen Richter fungiert. Im Zuge dieser umfassenden Verteufelung, die in sich den zeitgenössischen restauratorischen Diskurs rezipiert,36 tritt auch Cromwells Hybris als luciferisches Attribut deutlich hervor. Indem er den König als denjenigen angeklagt und verurteilt hat, der dem irdischen Recht eigentlich enthoben ist und einzig dem göttlichen Richtspruch untersteht,37 hat er sich hochmütig und unbefugt des Rechts bemächtigt, das ja selbst wiederum göttlich begründet ist, und es verdreht, also pervertiert. In der Wortwahl „damnavit“ schwingt dabei ebenso das Verdammen mit, das jedoch allein dem göttlichen Richter vorbehalten ist, mit dem sich Cromwell schließlich auf eine Stufe setzt. Dass die superbia schließlich ganz grundsätzlich darauf ausgerichtet ist, eine Verwüstung und Verkehrung der Ordnung zu provozieren, stellt das Epitaph bereits ganz zu Anfang fest: „Fastus Vasta amat.“38 Neben der Verkehrung und unlauteren Bemächtigung der judikativen Ordnung ist hier auch die der Exekutive angesprochen. Cromwell war ursprünglich Regimentsführer der königlichen Armee und so dem bewaffneten Schutze der Majestät vereidigt, richtet diese jedoch durch das Beil („Securi“) in der Enthauptung hin. Vor diesem Hintergrund offenbart sich nachträglich auch der Titel Cromwells – Lordprotektor – als bloße Ironie: „Deinde PROTECTOR Reipublicæ proclamatus / Aut seipsum potius subornato ore proclamans“39 Schließlich ist auch die Ironie ein Reflexionsmuster, in dem das Böse seine Darstellung findet.40 Diese Selbstverleihung des Titels verweist einmal mehr auf Cromwells unlautere Selbstermächtigung und darauf, dass er die Majestät, d. h. die Macht von Gottes Gnaden und damit die göttliche Ordnung selbst, nicht anerkennt, außer Kraft setzt und an ihrer Stelle eigenmächtig eine Gegenordnung installiert.

36 So reichen Bezeichnungen für Cromwell vom „Schelm Satans“, über „großer Beelzebub“ bis zum „Vertreter und Groß-Visier des Teufels auf Erden“, vgl. Roger Howell: “That Imp of Satan.” The Restoration Image of Oliver Cromwell. In: Images of Oliver Cromwell. Essays for and by Roger Howell. Hg. von Roger Richardson. Manchester 1993, S. 33–47, hier S. 43. 37 Eine ähnliche Konstellation liegt im Leo Armenius vor, siehe Kapitel 2.1 und 2.5. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass im Falle Cromwells die Institution der Majestät angegriffen und beseitigt wird, während Michael Balbus zwar den Kaiser Leo hinrichtet, dabei aber die politische Ordnung des Kaisertums nicht antastet. 38 CS, S. 447, V. 10 (Epitaph). 39 CS, S. 448, V. 11–12 (Epitaph) [„Darauf wurde er Protektor des Staates genannt / Oder besser nannte er sich unter einer Maske verborgen selbst so“ (Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1104)]. 40 Damit stütze ich mich auf die Ausführungen in Kapitel 2.6.

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Maskierung und Bemäntelung sind folglich die Mittel der Wahl, um diese Herrschaft, die pure Tyrannei ist, zu implementieren: Religionem Impietati, Venenis Remediorum titulos, Olivam gladio Et Æqvitatem Tyrannidi prætexens41

An dieser Stelle lässt sich zusammenfassen, dass im Epitaph Linien angelegt sind, die für die weitere Auseinandersetzung mit dem Trauerspiel, d. h. für die Konstitution und Darstellung des Bösen darin, wegweisend sind. Inversion und Perversität, widerrechtliche Bemächtigung der weltlichen und geistlichen Institutionen des Rechts sowie taktische Verlarvung und Bemäntelung kennzeichnen die Bösartigkeit Cromwells, sein lästerliches Verbrechen an der Majestät und letztlich auch, wie Kapitel 4.2 offenlegen wird, die widrige Sache der „Independentische[n] Rotte“42, deren Haupt er ist. Das Epitaph endet damit, Cromwells Tod zu rekapitulieren. Trotz seiner fundamentalen Verbrechen an der politischen und metaphysischen Ordnung erhält Cromwell nicht die Todesstrafe. Nicht nur, dass er keiner äußeren richtenden und rächenden Strafinstanz preisgegeben wird, auch erfährt er keine innere Strafe nach Art der Gewissensstrafe. Er stirbt stattdessen „tranquilia mente“, d. h. ruhigen Gewissens.43 Auf widersinnige Weise haucht der notorische Unruhestifter seine unruhige Seele („turbulentum spiritum“) ruhig („placidè“44) aus. Die paradoxe Spannung, die in diesem Vers angelegt ist, will Empörung angesichts der (vorerst) ausbleibenden Strafe provozieren. Sogleich wird der lesende Wanderer noch einmal adressiert: Er wird aufgefordert, seine Reise wieder aufzunehmen – „Abi viator“45 – und wird in diesem Zuge geradezu auf die „tragica […] ludibria“, hingeführt, also das Trauerspiel seines Lebens einerseits und das Trauerspiel, das der Carolus Stuardus ist, andererseits. Dem Lesenden werden abschließend zwei Lektionen mit auf den Weg gegeben, die ihn und seine Lektüre lenken sollen: Erstens soll er das Herrschafts-

41 CS, S. 448, V. 13–16 (Epitaph) [„Verwob die Frömmigkeit mit Frevel, / Gab Gift die Bezeichnung Heilmittel, / Verwob den Ölzweig mit dem Schwert / Und die Gerechtigkeit mit Gewaltherrschaft“ (Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1104)]. 42 CS Anm. Gryphius, S. 551, Z. 16–17. 43 CS, S. 448, V. 35 (Epitaph); Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1105. Zur „Gewissenslosigkeit“ der Independenten, siehe Fromholzer: Gefangen im Gewissen, bes. S. 120–127. 44 Beides CS, S. 449, V. 2 (Epitaph). 45 CS, S. 449, V. 3 (Epitaph) [„Geh, Wanderer“ (Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1105)].

4.2 Larven und Entlarven des Bösen: Zur „Independentischen Rotte“

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recht der Majestät als göttliches Recht unbedingt achten. Zweitens soll er sich – ganz im Sinne des lutherischen Theologumenons des deus absconditus – darauf besinnen, dass sich Wille und Handeln Gottes, abgesehen von seinem geoffenbarten Wort in der Heiligen Schrift, der menschlichen Erkenntnis entziehen. Sie entdecken und entschlüsseln zu wollen, würde jener Vermessenheit Cromwells gleichkommen, die die göttliche Ordnung – repräsentiert durch das heilige Recht der Majestät – herausfordert. Solcherart hochmütige Transgression, die einen Übertritt ins Böse bedeutet, geschieht in nur einem Schritt auf dem Weg des Menschen, der, in der poetologischen Anordnung des Epitaphs entsprechend, ja immer Wanderer ist.46 Stattdessen soll er beständig – und das ist der Lehr- und Leitsatz, der dem lesenden Wanderer an dieser textuellen Schwelle den rechten Weg in das Trauerspiel des Lebens und des Carolus Staurdus ebnet – darauf vertrauen, dass Gott im Rahmen des menschlichen Freiheitsgeschehens Verbrechen zwar zulässt, sie aber trotzdem verurteilt.47 Die göttliche Ordnung soll folglich geehrt und unbedingt gewahrt werden, auch wenn ihr sinnhaftes Wirken dem Menschen (vorerst) verborgen bleibt.

4.2 Larven und Entlarven des Bösen: Zur „Independentischen Rotte“ Anders noch als das Epitaph, das sich ausschließlich auf Cromwell als Leitfigur der Majestätsermordung konzentriert, entwirft das Drama ein komplexeres Bild der Independenten. Neben Cromwell ist der Geistliche Hugo Peter Carolus’ schärfster Widersacher. Da Peter „zugleich Krigs-Obrister“48 ist, zeigt sich auch hier, dass sich, der politischen Anatomie des souveränen Staates entsprechend, der Arm, der eigentlich eingeschworen ist, die Majestät zu beschützen, gegen ebendiese wendet. Während Cromwell als Rechtsverdreher gekennzeichnet ist, hat Hugo Peter sich der Religion bemächtigt und treibt unter ihrem Deckmantel mit satanischem Eifer die Ermordung der Majestät voran. Unter dieser Vermummung durch Recht und Religion ist der corpus politicum bereits zergliedert. Geistlichkeit und Rechtlichkeit werden in der Frühen Neuzeit zusammengedacht als Bereiche, die jeweils eine klare Regulierung und Eindeutigkeit im Umgang mit dem Bösen vorgeben, gerade weil sie göttlich begründet sind. Diese

46 Ganz ähnlich formuliert Osterkamp: Lucifer, S. 51: „Dergestalt also, dass es eben nicht Näherungen ans Böse gibt, es etwa mindere oder höhere Qualitäten in superbia gäbe, sondern der Übertritt ins Böse sich immer als klare Grenzüberschreitung vollzieht.“ 47 So auch Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 536. 48 CS, S. 450 (Personenverzeichnis).

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Ordnung wird mit dem Missbrauch von Gesetz und Evangelium durch Cromwell und Peter aus dem Inneren heraus unterminiert, um die Majestätsermordung ins Werk zu setzen. Sie eignen sich Recht und Religion auf unlautere Weise an, höhlen sie aus und benutzen sie lediglich als Larven. Dieses Verbrechen an der grundständigen Ordnung ist wiederum theologisch fundiert, da nach Luther eine derartige Verlarvung des Teufels der Verkehrung des Gottesbildes und der Verdrehung des Gotteswortes Bahn bricht.49 Wie Gryphius in seiner Widmungsvorrede herausstellt, ist die Larve („Larvarumq“50) jedoch auch ein Mittel des Theaters, von dem der Dichter – anders als der Historiograph – Gebrauch machen kann, um die Diskrepanz von Sein und Schein, Maske und wahrer Identität zu eruieren. Gryphius schließt die Entlarvung der Independenten, durch die sich der Missbrauch von Gesetz und Evangelium enthüllt, in seiner dramatischen Dichtung zusammen mit der aristotelischen Anagnórisis als dem Umschwung von Verkennen in Erkennen. Die Unabwendbarkeit der Verkehrung und Pervertierung der Ordnung wird unmittelbar, da hier die eigentliche dramatische Handlung zum Erliegen kommt. Die geplante Gegenintrige zur Rettung des Königs, die unter Führung des Generals Fairfax hätte stattfinden sollen, scheitert. Stattdessen hat das Publikum an Fairfax’ Erkenntnisprozess teil, dem sich nun die verborgene und perfide Agenda des independentischen Unternehmens offenbart. Dies geschieht, als er einer geheimen Beratung der Königsgegner beiwohnt, über die er allein in einem anschließenden Monolog reflektiert. Dort bemerkt er über Hugo Peter: „Er der des HErren Wort und Friden solt’ ankuenden; / Eilt mit den Rotten sich boßhafftig zu verbinden“ (CS III, 393–394) Der Begriff „Rotte“, der „ohne üblen nebensinn“ für das Militär allgemein verwendet werden kann, da es sich aus verschiedenen Divisionen – Rotten – zusammensetzt, steht hier mit einer „wendung […] ins üble“51 synonym für Aufrührer und Verschwörer. Bereits auf dieser sprachpragmatischen Ebene macht sich die revolutio als ebenjene Wendung ins „boßhafftig[e]“ bemerkbar. In seinen Anmerkungen zum Carolus Stuardus nennt Gryphius Hugo Peter gar den „vornehmste[n] 49 „Sed ubi Teufel kam, der zöge unserm herr Gott ein larven an, ideo kerts verbum umb, malet unsern herr Gott so für: putas eum patrem et tarn amicum, ut se stelt, Si esset pater, lies dich ex arbore essen, timet, dw werst zw klug […] Ibi amittit bild, quod deus ei creavit, und bildet sich jnn bild diaboli.“ WA 37, 454, 5–10 (Predigten des Jahres 1534 [18.6.]). Vgl. hierzu Johann Anselm Steiger: Superbia fidei. Hochmut des Glaubens und Aufrichtigkeit des Menschen in der Theologie Martin Luthers und des barocken Luthertums. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hg. von Claudia Benthien, Steffen Martus. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 114), S. 19–43, hier S. 20; Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 137. 50 CS, S. 446 (Widmungsvorrede). 51 Vgl. dazu Art. Rotte. In: DWb, Bd. 14, Sp. 1315–1320, hier Sp. 1317–1318.

4.2 Larven und Entlarven des Bösen: Zur „Independentischen Rotte“

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Stiffter der Independentischen Rotte“52, was folglich mit der Bezeichnung als „Vhrheber der ungebundenen oder freyen Geister Independenten“53 aus dem Personenverzeichnis korrespondiert. Aufgrund dieser paratextuellen Rahmung wird Hugo Peters Bedeutung innerhalb des verschwörerischen (und textuellen) Gefüges noch einmal verschärft,54 denn die hier vermittelte Lehre oder eher Warnung ist Folgende: Ausgehend vom geistigen Zentrum kann eine Ordnung potentiell begründet oder zerstört werden. Peter erscheint somit als böser Geist der Revolution, da er als geistiger Urheber, als auctor dieser Gegenordnung oder gar Gegenschöpfung vorgestellt wird, die durch die Ermordung der Majestät ins Werk gesetzt werden soll. Peters pervertierte Autorschaft steht in einem ebenso spannungsreichen Verhältnis mit seiner Berufung als Prediger („Er der des HErren Wort und Friden solt’ ankuenden“). Gleich zu Beginn des Trauerspiels operationalisiert er seine geistliche Autorität und, damit einhergehend, die Bibel als höchste Autorität, um den Oberst Hewlett dazu zu bewegen, das Richtbeil bei Carolus’ Hinrichtung zu führen: „Du wirst den langen Zanck durch Gottes Richt-Axt schlichten / Du wirst der Samuel auff unsern Agag seyn. / Du rettest Christus Kirch’ und schuetzest die Gemein.“ (CS I, 254–256) Er stellt hier die Ermordung der Majestät als göttlichen Willen dar und erscheint so als falscher Prophet, der das in der Heiligen Schrift geoffenbarte Wort für seinen sinisteren Zweck verdreht. Er missbraucht das Evangelium also gerade dazu, die göttliche Ordnung der Majestät gleichsam von innen, d. h. aus ihrem geistigen Zentrum heraus, zu zerstören. Während in jedem Aufrührer im Grunde ein Ketzer steckt, wird Hugo Peter hier zum Ketzerpriester. Da er unter dem Namen des Christentums das Christentum selbst pervertiert, verkörpert Peter im lutherischen Sinne das „radikale Böse“55. Schließlich ist es wiederum Fairfax, der in seinem so zu nennenden Erkenntnis-Monolog Verkleidung und Bemäntelung als Strategien des Bösen am Beispiel Hugo Peters entlarvt: „Scheinheilger Bub’. Jch beb’ / ich starr’ / ich schau mit schrecken; / Wie sich die Boßheit koenn’ ins Kirchen-kleid verstecken“ (CS III, 385–386)

52 CS Anm. Gryphius, S. 551, Z. 16–17. 53 CS, S. 450 (Personenverzeichnis). 54 Was für den paratextuellen Status des Epitaphs in Kapitel 4.1 festgestellt wurde, lässt sich hier auch für das Personenverzeichnis ergänzen.“ 55 Selge: Luther und die Macht des Bösen, S. 172. In seiner Analyse der Figur Peters bei Gryphius konkludiert auch Reinhold Grimm: Hugo Peter, der Ketzerchor und die Religion. Zur Deutung des „Carolus Stuardus“ von Gryphius. In: Versuche zur europäischen Literatur. Hg. von Reinhold Grimm. Bern 1994 (New York University Ottendorfer Series 43), S. 137–153, hier S. 148: „Peter ist die Verkörperung des Bösen, nicht einfach nur Hetzer und Heuchler; ja, er ist der Verleumder des Wortes in ursprünglichster Bedeutung.“

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Diese Vermummung der Bosheit durch die Religion, pars pro toto das „Kirchen-kleid“, wird im vierten Reyen wirkungsvoll allegorisiert.56 Dort wird ersichtlich, dass die wahre böse Tat ebenjene ist, die an der Religion als geistiger Ordnung verübt wurde, und dass die Hinrichtung des Königs folglich weit über sich selbst hinaus verweist. Es zeigt sich, dass der Zusammenhang zwischen der Zerstörung der liturgischen Ordnung und der politischen Ordnung für Gryphius zweifelsohne maßgeblich ist. Anders noch als im Leo Armenius, wo das Priesterkleid dem mörderischen Anschlag auf den Kaiser als Deckmantel dient und damit auf der Ebene des exemplum angesiedelt ist, verhandelt dieses Arrangement im Carolus Stuardus, auf die Deutungsebene des Reyens gehoben, den krisenhaften Zustand der Welt. Das Böse operiert mit Verlarvung, Vermummung und Verleumdung, um die universelle Verkehrung und Pervertierung wirkungsvoll herbeizuführen. Vorbild dafür ist auch kein Teufelspriester mehr, sondern stattdessen ein teuflischer Priester, der als „Urheber“ das Böse aus seinem verborgenen Inneren schöpft. Im Reyen verlässt die Religion den Schauplatz, die ohnehin „verdammte Welt“ (CS IV, 304), und überlässt diese den Ketzern, die nun ihr einzig verbleibendes „leres Kleidt“ (CS IV, 335) unter sich zerreißen.57 Sie nutzen die einzelnen Fetzen – „meines Mantel stuecken“ (CS IV, 341) –, um so ihre „Boßheit“ (CS IV, 312) zu bemänteln, sodass zumindest vorübergehend die wahre Religion und ihre Larven auf der Ebene des Scheins nicht mehr unterschieden werden können.58 Potenziert findet sich dies schließlich durch die Illusion des Theaters, wo als Hugo Peter, Ketzer und Religion verkleidete Schauspieler diese

56 Siehe ebd., S. 145. 57 Als Konsequenz der absenten Religion liefert Gryphius (ebenfalls 1663!) in seiner Einleitung zu den von ihm übersetzten Erbauungsschriften Sir Richard Bakers ein eindrückliches Beispiel: „[Ein abscheulicher Schwarm, vom Teufel erweckt] [w]elcher dises Denckmal und richtigste Vorschrifft des HErren JEsu gaentzlich aus dem Hertzen und Gedaechtnis der Menschen / zu reissen / und so vil an Ihm / aus der Welt zu bannen sich unterstanden. Massen es dann / (wie vornehme Geschichts-schreiber einhellig bezeugen) schon so weit kommen / daß man in der Haubtstadt des Koenigreichs selbst / wenig Kirchenbedinete finden / oder mit Muehe erforschen koennen / welche bey der Tauffe oder andern Geistlichen Verrichtungen gewillet gewesen / das Gebett des Herren zugebrauchen / oder oeffentlich vorzubringen.“ (Andreas Gryphius: Frag-Stück und Betrachtungen über das Gebett des Herren [1663]. In: Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. von Marian Szyrocki. Ergänzungsbd. 3/1, Die Übersetzungen der Erbauungsschriften Sir Richard Bakers. Tübingen 1983, S. 8.) Im republikanischen England ist, Gryphius redet hier wiederum der restauratorischen Polemik das Wort, die Liturgie des Wort Gottes abwesend und damit wird der Schauplatz – vorübergehend – dem Teufel und seinen Schelmen überlassen. 58 Dies problematisiert auch Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 137, der darin, im Erkenntnisinteresse seiner Studie, ein „gewissensverleugnende[s] Rollenspiel“ ausmacht.

4.2 Larven und Entlarven des Bösen: Zur „Independentischen Rotte“

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grundsätzliche Irritation zur Darstellung bringen, indem sie das Dilamma durch die theatrale Repräsentationslogik multiplizieren und damit nicht zuletzt auf das theatrum mundi reflektieren. Als einen „Vermomden Lucifer“59 bezeichnet Gryphius’ Zeitgenosse, der niederländische Dichter Joost van den Vondel, Oliver Cromwell in seinem Trauerspiel Op den Vadermoord in Groot Britannie (1649), das wie Gryphius’ Erstfassung des Carolus Stuardus ebenfalls als unmittelbare Reaktion auf die Hinrichtung Karls I. entstanden ist. Damit greift Vondel die Rhetorik und Polemik der Royalisten – und später der Restauration, wie Hofmannswaldaus Epitaph veranschaulicht hat – auf, durch die Cromwell verteufelt wird. Als Lucifer-Figuration wird Cromwell nicht nur als Anführer der Rebellion exponiert, sondern als Feind, der aus den eigenen Reihen stammt und somit die Zerstörung der Ordnung von innen provozieren will.60 Diese zeitgenössisch durchaus virulente Wahrnehmung von Cromwell, die Vondel präsentiert, lässt sich ebenfalls im Carolus Stuardus nachvollziehen. Hier gilt Cromwell das Recht als Deckmantel, als strategischer und legitimierender Vorwand, um die Hinrichtung Karls I. und sein daran anschließendes Regiment als Lordprotektor buchstäblich zu rechtfertigen. Dass es sich bei dieser 59 Joost van den Vondel: Op den Vadermoord in Groot Britannie. In: De werken van Vondel. Hg. von Cornelia Catharina van de Graft u. a. 10 Bde. Amsterdam 1927–1940, hier Bd. 5, S. 476. Zu Gryphius’ Vondel-Rezeption sei verwiesen auf Willi Flemming: Vondels Einfluß auf die Trauerspiele des Andreas Gryphius, zugleich eine methodologische Besinnung. In: Neophilologus 13 (1928), S. 266–280 und 14 (1929), S. 107–120, 184–196; Edward Verhofstadt: Vondel und Gryphius. Versuch einer literarischen Topographie. In: Neophilologus 53 (1969), S. 290–299; Ferdinand van Ingen: Die Übersetzung als Rezeptionsdokument. Vondel in Deutschland – Gryphius in Holland. In: Michigan Germanic Studies 4 (1978), S. 131–164. 60 Dieses Thema scheint Vondel über einen längeren Zeitraum hinweg zu beschäftigen, wie die Veröffentlichung und Uraufführung seines Dramas Lucifer 1654 zeigt. Osterkamp: Lucifer, S. 97 bemerkt in seiner Analyse von Vondels Trauerspiel: „Die Aktualität des Lucifer-Mythos [ …] liegt [im 17. Jahrhundert] dann darin, dass in ihm die Drohung einer gewaltsamen Auflösung der politischen Ordnung von innen ihr Urbild hat […].“ Es hätten um 1649 eine Reihe kultureller und politischer Ereignisse zu einer allgemeineren Verunsicherung beigetragen: „die Verbannung der Maria von Medici aus Brüssel auf Betreiben Richelieus (1638); die Ermordung Sultan Ibrahims auf Anordnung seiner Mutter; der Angriff Willems II. von Oranien auf Amsterdam (1650); […] die Nachlässigkeit der christlichen Fürsten, die Kreta den Türken überließen (bis 1645 konnten die Venezianer die Insel behaupten); überhaupt die aggressive Politik des türkischen Reiches.“ (ebd., S. 94) Dieses Nebeneinander der politischen Katastrophen von Königsmord und osmanischer Bedrohung schlägt sich auch in der zeitgenössischen Trauerspielproduktion nieder. Steht Carolus’ Hinrichtung für eine Zergliederung der Ordnung von innen heraus, so liefert Lohensteins Ibrahim Sultan eine Pathologie und Anamnese des äußeren Feindes (siehe Kapitel 6.2.2), dem bei solcherart innenpolitischer Turbulenz potentiell die Grenzen geöffnet werden.

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angestrebten Herrschaft um ein Regime handeln soll, das mit Gewalt und Schrecken waltet, offenbart sich wiederum in der zentralen dritten Abhandlung, wenn Cromwell zum ersten Mal auftritt. Die Anordnung gleicht dabei derjenigen, die zur Entlarvung Hugo Peters geführt hat. Auch hier ist es Fairfax (und mit ihm auch der Leser/Zuschauer), der in einer geheimen Beratungssituation die sinistere Agenda des Independentenführers ent-deckt. Es ist der Wille zu Zerstörung und Gewaltherrschaft, die „nackte Gewalt“61, die sich unter dem Deckmantel der Rechtlichkeit und Gerechtigkeit verbirgt. Der Dialog von Cromwell und Fairfax ist als Stichomythie organisiert, sodass sich Cromwell in Rede und Gegenrede, in der dramatischen Synchronität des Aufeinanderprallens, als Widersacher profiliert. Cromwell inszeniert sich eingangs als rächender und richtender Arm Gottes, der mit Waffengewalt gegen Carolus vorgeht: „[w]ider den ich Gottes Schwerdt gezueckt.“ (CS III, 172) Diese Argumentation, nach der die Hinrichtung des Königs also auf göttlichem Willen und Auftrag fuße, nutzt Cromwell später in der Abhandlung noch einmal auf außenpolitischem Parkett gegenüber einem schottischen Gesandten. Dieser wirft Cromwell vor, er wende sich gegen seinen Treueschwur, den er dem König geleistet hat, und habe damit auch seinen Schwur vor und gegen Gott gebrochen. Cromwell entgegnet daraufhin, dass er seinem Herrscher unbedingt Treue und Gehorsam halten wollte, Gott höchstpersönlich habe ihn jedoch zum Widerstand angehalten: „Weil Gottes Geist in mir dem Betten widersprochen.“62 (CS III, 678) Er stützt sich damit auf die Überlegung, dass Gott sich im Diesseits des Unrechts bedienen kann, um Verbrechen, auch einer tyrannischen Obrigkeit, abzustrafen und erhebt sich auf diese Weise zum Instrument göttlichen Rechts.63 Er präsentiert sich als frommer Christ, denn auch wenn er den Gehorsam gegenüber seinem König breche, so wahre er doch gerade dadurch den Gehorsam gegen Gott. Mit dieser Rechtfertigung, die ihm von höchster Autorität eingegeben sei, er-

61 Vgl. dazu Gamper: Dramatische Zeit-Form der Revolution, S. 284 sowie Koschorke: Der fiktive Staat, S. 148–150, die in dieser Enthüllung der „nackten Gewalt“ die wesentliche Pointe des Stücks ausmachen. 62 Dies verbürgt Gryphius außerdem in der betreffenden Anmerkung, was nur auf die entscheidende Bedeutung dieser Aussage verweist: „Es erzehlen unterschidene / das Cromwel / wenn er befragt worden / ob er sich nicht erinnerte daß er so offt versprochen den Koenig weder an seinem Leibe / Stande noch Cron anzugreiffen / geantwortet; daß dises alles wahr. Ja er truege selbst GOTT des Koeniges Heil und Leben in seinem Gebete vor / befinde aber durchauß das der innere Geist in Jhm durch Goettliche Krafft darwider stritte.“ (CS Anm. Gryphius, S. 568, Z. 3–10). 63 Dass dies als Möglichkeit auch im ersten Reyen des Trauerspiels unter den ermordeten englischen Königen verhandelt und letztlich verworfen wird, erörtert Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 547.

4.2 Larven und Entlarven des Bösen: Zur „Independentischen Rotte“

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scheint das Vorgehen gegen den Souverän folglich als grausame Notwendigkeit im Dienste der göttlichen Gerechtigkeit. Diese Argumentation wird jedoch zuletzt dadurch ausgehebelt, dass er sich in der Ermordung der Majestät auch und vor allem gegen Gott vergeht. In Wahrheit bemäntelt Cromwell also sein Verbrechen mit dem angeblichen Wort Gottes und steht damit dem „Gott der Wahrheit“ (CS IV, 343), der von der Religion im vierten Reyen apostrophiert wird, als Widersacher gegenüber. Als Fairfax im Gespräch mit Cromwell anführt, dass gerade die Priester (der falsche Prophet Peter scheint von dieser Aussage ausgeschlossen) als Verkünder von Gottes Wort das Vorgehen der Independenten nicht sanktionieren, entgegnet Cromwell, dass Waffengewalt auch sie und damit ebenfalls das Volk, das sie mit ihren Ansprachen bewegen, mundtot machen würde: „Er [der Priester] hat die Zunge nur / wir fuehren Stahl und Degen. […] Der Degen zaeume den, der sich nicht zaeumen kann.“ (CS III, 186; 188) Mit der Anspielung auf das Gleichnis von der Macht der Zunge aus dem biblischen Jakobusbrief setzt Cromwell auf lästerliche Weise an die Stelle der gottgegebenen Vernunft, die die Zunge lenken soll, sein eigenes Gewalt- und Herrschaftskalkül.64 Daraufhin bemerkt Fairfax, dass ferner weder das englische Recht noch das Völkerrecht den Regizid zulassen würden, wodurch die durchaus begründete Gefahr bestehe, belangt zu werden. Doch Cromwell entgegnet nur salopp: „Man hoert die Rechte nicht / bey Drommeln und Trompeten.“ (CS III, 206) Es wird klar, dass es Cromwell bei seinem Vorgehen gegen den König nicht um Recht und Gerechtigkeit geht, sondern dass er diese einzig als Vorwand, als Larve missbraucht. Der Krieg wird hier, metonymisch aufgerufen durch die ihn begleitenden Instrumente, selbst zum Instrument, das durch Unstimmigkeit das eigentliche Unrecht übertönen soll. Sowohl die außenpolitischen Feinde der Majestätsmörder – es werden Schottland, die Pfalz und Holland genannt – als auch die innenpolitischen Instanzen, die hier durch ihre Schriftgelehrten repräsentiert werden, sind durch (inneren) Streit zu schwächen: „Man muß die Schrifftling’ itzt hart an einander hetzen; / So schwaecht ihr Sturm sich selbst ohn unser Widersetzen.“ (CS III, 377–378) Auch wenn damit vorrangig die Juristen als Vertreter des weltlichen Rechts gemeint sind, so lässt sich diese Aussage auch auf

64 Vgl. zum Jakobus-Brief als zentralem Referenzpunkt der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Sprachkritik Benthien: Barockes Schweigen, S. 159–195. Es handelt sich bei diesem Sinnbild um eine seit der Antike beliebte Metapher, die auf Platons Gleichnis von der Seele als Wagen mit zwei ungleichen Pferden, die vom logistikón gebändigt werden müssen, zurückgeht, siehe Platon: Phaidros 253c–254. In der Frühen Neuzeit wird es von den zeitgenössischen Klugheitslehren adaptiert, findet seinen Eingang in die Sinnbildkunst, siehe Emblemata, hier Sp. 1069–1072 und ist eine beliebte Metapher in der Trauerspieldichtung, siehe Kapitel 2.1 und 5.2.3.

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die Priester rückbeziehen als den Gelehrten der Heiligen Schrift. Es zeigt sich, dass Cromwell durch die innere Aufwiegelung sowohl die Geistlichkeit als auch die Rechtlichkeit außer Kraft setzen will. Der innere Zwist als ultimative Technik, um die staatliche Korporation – bzw. ebenjene Instanzen (Recht und Religion), die das Böse wehren – von innen heraus zu zergliedern und zu zersetzen, wird schließlich ergänzt durch das Prinzip der blanken Gewalt, womit vollends die Mechanismen einer buchstäblichen Schreckensherrschaft erkennbar werden: „Man schreckt / was schrecken wil mit Schwerdt und strenger Pein.“ (CS III, 244) Cromwell ist mithin als zukünftiger Tyrann und Unruhestifter entlarvt, was sich nicht zuletzt formal in die Komposition der Abhandlung übersetzt findet. So ist die vorrangig von Cromwell bespielte dritte Abhandlung aufgrund des wiederholten Wechsels des gesamten Bühnenpersonals sowie der Schauplätze besonders von Unruhe geprägt.65 Die innere Unruhe der Abhandlung verweist dabei auf die innere Unruhe des Staates sowohl unter Cromwells Einfluss als Independentenführer als auch unter seinem zukünftigen Regiment als Lordprotektor. In seiner Darstellung Cromwells folgt Gryphius dem zeitgenössischen royalistischen Diskurs, der Cromwell mit William Shakespeares Iago und Christopher Marlowes Tamburlaine vergleicht – um das Böse in der Welt zu begreifen, benötigt es die Dichtung.66 Zu Tamburlaine the Great bemerkt Ernst Osterkamp: „Der Mensch verdrängt den Teufel aus den Dramen; schon Marlowes Menschenschlächter Tamburlaine (1587/88) braucht sich moralische Skrupel nicht mehr von einem Teufel nehmen zu lassen.“67 Ausgehend von diesem Befund lässt sich für den Carolus Stuardus konstatieren, dass es auch hier – anders als noch im Leo Armenius – keiner Garantie mehr durch das Dämonische braucht. Die Verteufelungen dienen selbst nur mehr als rhetorische Wendungen, um Cromwells innere, verborgene Bosheit einzufangen und zu entlarven. Zum Aufruhr der Independenten bleibt zusammenfassend zu sagen, dass er einem Bereich abseits des heiligen Rechts, auf dem die Majestät begründet ist, zugeordnet ist. Er ist „die Zone der Rechtsferne.“68 Da wiederum die Hölle der Ort der Gottesferne ist, herrscht hier jeweils eine verkehrte Ordnung vor, nämlich die Gegenordnung des Bösen.69 Dies findet sich auf der Ebene der Reyen metaphysisch ausgedeutet, womit das Drama von Evokationen der Hölle

65 Vgl. Gamper: Dramatische Zeit-Form der Revolution, S. 292. 66 Zu diesem zeitgenössischen royalistischen Diskurs siehe Maguire: The Theatrical Mask/ Masque of Politics, S. 14. 67 Osterkamp: Lucifer, S. 75. 68 Ebd., S. 117. 69 Es sei erinnert an die Ausführungen zur Hölle als dem Raum der Privation im Kapitel 3.1.

4.3 Straftheater des Majestätsmordes: Die Poleh-Szene

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gerahmt ist. So leitet der Chor der ermordeten englischen Fürsten den ersten Reyen des Carolus-Dramas mit einem solchen Analogieschluss ein: „Auffruehr / das Ebenbild der Hellen“ (CS I, 307) Dies wird schließlich noch einmal von der Rache im letzten Reyen aufgegriffen, die prophezeit: „Aus Engelland wird helle werden“ (CS V, 523) unter dem Regiment der (einstigen) Aufrührer. Deren Herrschaft – sowie die republikanische Herrschaftsform, die sie installieren – ist nicht rechtmäßig, da sie auf keinem divine right gründet. Dies öffnet zum einen dem „Buerger-krig“ (CS V, 525) von Neuem Tür und Tor, der für das Chaos im (politischen) Inneren, und, dem Imaginarium der politischen Anatomie entsprechend, für eine gewaltsame Zergliederung, eine Auflösung des Staatskörpers steht. Zum anderen wird „Britten Vogelfrey“ (CS V, 528), d. h. es fällt in einen Zustand vollkommener Rechtslosigkeit, da es kein Gesetz außerhalb dem göttlichen Recht der Majestät gibt.70 Dass England zur „helle“ wird und eine „verdammte Welt“ (CS IV, 304) ist, verweist jedoch gleichzeitig auf die Hölle als Strafraum, sodass in der Rechtlosigkeit des Bürgerkriegs und der Vogelfreiheit die Absenz der (göttlichen) Gerechtigkeit selbst schon die eigentliche Strafe aufscheint. In der verkehrten Welt der revolutio ist auch die Hölle nicht nur der jenseitige Ort des Bösen, sondern auch ein Ort der Strafe im Diesseits.

4.3 Straftheater des Majestätsmordes: Die Poleh-Szene In die Dialektik von gotteswidrigem Verbrechen und gerechter Strafe ist auch die Szene um den Richter Poleh in der fünften Abhandlung einzuordnen, die Gryphius erst der zweiten Fassung des Carolus-Dramas beigefügt hat. Wie bereits im vorherigen Kapitel auseinandergesetzt wurde, werden Geistliche, Rechtsgelehrte und eben Richter wie Poleh zusammengedacht, da sie als Vertreter der Ordnung und damit einer guten, gerechten, gottgewollten Macht angesehen werden. Im Zuge der Konspiration gegen Carolus hatte sich Cromwell bereits unlauterer Weise dieses Rechts bzw. seiner Institutionen bemächtigt. Gerade weil es kein Gesetz außerhalb des göttlichen Rechts der Majestät gibt, Cromwell sein Vorhaben, d. h. die Exekution des Königs und die Suspendierung der Monarchie, aber trotzdem legitimieren und garantieren will, hat er frühzeitig seine Verbündeten ins Amt gesetzt. Damit hat er kurzerhand die Jurisdiktion durch die Exekutive besetzt und so die Ordnung entstellt. Da die Richter eigentlich im Namen 70 Ähnlich erklärt auch Osterkamp: Lucifer, S. 117: „Der Aufrührer steht zum göttlichen Willen exterritorial und verwirkt damit die Rechtlichkeit, die ihr Fundament in der Identität des Herrscherwillens mit dem gültigen Gesetz hat. Es gibt kein Recht außerhalb des bis in die letzten Verästelungen der staatlichen Struktur wirkenden Herrscherwillens […].“

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Gottes beauftragt sind,71 hat er sich auf diese Weise wiederum selbstüberheblich auf eine Stufe mit dem Schöpfer gesetzt, denn „Wer Koenige verdammt / wil mehr denn Koenig seyn.“ (CS III, 500) Auch hier wird seine Verkehrungs- bzw. die Pervertierungsstrategie wirksam, wie der schottische Gesandte im Dialog mit Cromwell bemerkt: GESA. O Recht! verkehrtes Recht! wer hat hie recht gesprochen? CROM. Gantz Britten hat den Stab auff Stuards Hals gebrochen. [...] GESA. Wer richtet? der nicht vor gewaffnet bey euch stundt. (CS IV, 693–694; 699)

Zuvor hatte bereits Maria Stuarts Geist erklärt: „Sie rasen mit Vernunfft / sie setzen Richter ein / Es muß ihr Doppelmord [von König und Monarchie] durch Recht beschoenet seyn.“ (CS II, 231–232) Der Wahnsinn des revolutionären Unternehmens hat System, denn er imitiert das etablierte System, höhlt es gerade dadurch aus und ist deshalb sowohl besonders effizient als auch besonders bedrohlich für die bestehende Ordnung. Die Independenten pflegen wohlweislich den Schein der Rechtlichkeit mittels Beschönigung oder eben Bemäntelung des Unrechts durch das Recht, und darin manifestiert sich wiederum der modus operandi des Bösen. Vor diesem Hintergrund ist die Poleh-Szene zu verstehen, die dem Publikum am und durch die Figur des falschen Richters die gerechte Strafe vorführt. Sie verfügt dabei über größte Bühnenwirksamkeit und „gehört zu den experimentellsten Dramenpassagen, die Gryphius je geschrieben hat“72. Um dieses Widerspiel von böser, widergöttlicher Handlung und gerechter Strafe angemessen darzustellen, wird aus den Möglichkeiten des Theaters geschöpft. Während die erste Hälfte der Szene Polehs Raserei und Zerrissenheit, ausgelöst durch sein Verbrechen an der Majestät, mittels verstärktem Gebrauch von Requisiten und ausgiebiger körperliche Performanz zur Darstellung bringt, wird die Bühne in der zweiten Hälfte um einen inneren Schauplatz erweitert, auf dem in einer Zukunftsvision das Walten der (göttlichen) Gerechtigkeit als Straftheater vergegenwärtigt wird. Das Trauerspiel präsentiert damit, im Vergleich zu seinen Vorgängern, eine ganz eigene sowohl zeitliche und als auch theatrale Anordnung, da hier die Strafe vorweggenommen wird, noch bevor sich die böse Handlung endgültig vollzogen hat. Gerade weil die Wiederherstellung des ordo durch die

71 Siehe dazu Schild: Alte Gerichtsbarkeit, S. 136. 72 Niefanger: Carolus Stuardus (B-Fassung), S. 266. Siehe auch Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1098.

4.3 Straftheater des Majestätsmordes: Die Poleh-Szene

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prospektive Vision hier dem Verbrechen vorausgeht, kann dieses anschließend umso eindrücklicher zur Darstellung gebracht werden. In der fünften Abhandlung betritt Poleh als „einer aus des Königs Richtern“73 die Bühne, wobei davon auszugehen ist, dass mit dieser Figurenbeschreibung nicht nur das Amt des Richters gemeint ist, sondern auch der Umstand, dass er den König durch sein judikatorisches Sprachhandeln hinrichtet. Sein Richtspruch ist damit ebenso Teil dieses disruptiven Akts des Regizids. Poleh läuft „rasend“74 auf die Bühne. Der Richter erscheint im Angesicht der anstehenden Enthauptung des Königs selbst wie kopflos, was im Sinne der frühneuzeitlichen politischen Anatomie nur konsequent ist, denn „[n]icht umsonst wurden die[] höchsten Richter pars corporis prinicips, ein Teil des fürstlichen Körpers, genannt“75. Dem Fürstenspiegel Policraticus (1159) des Johannes von Salisbury zufolge, der eine Systematik des corpus rei publicae vorlegt, ist der Richter das Auge und die Zunge der staatlichen Korporation.76 Mit klarem und scharfem Blick, mit Weitsicht und Einsicht gelange er zur Rechtsprechung. Dazu liefert Poleh das Gegenbild. Er gesteht: „ich mich liß verfuehren!“ (CS V, 189) und hat deswegen falsches Urteil gesprochen. Poleh erkennt das Unrecht, das er an der Majestät verübt hat, und wünscht sich die Auslöschung seiner Stimme, um das Verbrechen an der Majestät rückwirkend ungeschehen zu machen: „ach! ach das ein rasend Schwerdt / Die Lufft-Roehr mir zu schlitzt / eh ihr mich angehoeret! / […] Eh ich / Verraether / mich zu euren Rotten gab!“ (CS V, 184–187) Dieses Durchschneiden der Kehle, das die Sprachfähigkeit vernichtet und damit den Richtspruch unmöglich macht, verweist in sich auf die Enthauptung des Königs, die mit der stellvertretenden Ermordung des falschen Richters hätte verhindert werden können. Gryphius’ Anmerkungen ist zu entnehmen, dass Poleh schließlich nach der dargestellten Zeit des Trauerspiels Suizid begangen habe: „Er hat bereits sich selbst abgestrafft / und seinen Richter erlitten.“77 Mit dem Selbstmord als seiner letzten exekutiven Handlung hat er sich der göttlichen Gerechtigkeit zur Strafe des Majestätsmords überantwortet. Auch wenn der Freitod ein Verbrechen gegen die christliche Moral bedeutet, so ist er hier ebenfalls eine selbststrafende Handlung, mit der sich Poleh wieder in die gute, gerechte Ordnung eingliedern will. Später fleht er gar im letzten Teil seiner Vision, in der er von Rachegeistern heim-

73 CS, S. 450 (Personenverzeichnis). 74 CS, S. 535 (Bühnenanweisung). 75 Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 412. 76 Vgl. Johannes von Salisbury: Policraticus. De nugis curialium et vestigiis philosophorum. 2 Bde. Hg. v. Clement Webb. London 1965, lib. V, cap. 2, Bd. 1, S. 283. 77 CS Anm. Gryphius, S. 574, V. 9–10.

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gesucht wird: „Last! last mich offnen Weg zu eurer Rache finden; / Last […] Mittel mich zu meiner Straff ergruenden.“78 Es ist davon auszugehen, dass der „offne[] Weg zu eurer Rache“ und das „Mittel […] zu meiner Straff“ der Selbstmord ist. Polehs Selbstbezeichnung als „Verraether“ (CS V, 187) sowie sein Suizid lassen ihn, wie Schöne argumentiert, als Judas-Figuration erscheinen, sodass der Justizmord an Jesus zur heilsgeschichtlichen Folie für den Justizmord an Carolus wird.79 Als alttestamentarische Präfiguration führt Karl-Heinz Habersetzer Ahitophel, Rat des Königs David, ins Feld, der sich nach dem Scheitern seines Verrats wie Judas erhängte.80 Gryphius habe die Endsilbe -ophel anagrammatisch verändert, woraus sich der Name „Poleh“ ergebe, der für das zeitgenössische Publikum auf diese Weise problemlos zu entschlüsseln gewesen sei. In diesem figurativen Horizont steht der Verrat als Verbrechen von heimtückischer Bosheit im Fokus, das gleichsam talionisch dadurch abgestraft wird, dass alle drei Verräter sich selbst die Luft und damit auch das Wort abschnüren oder -schneiden. Neben dieser heilsgeschichtlichen Deutung wurde über die historische Identität der Poleh-Figur, die Gryphius nicht preisgibt, viel spekuliert.81 Habersetzer schlägt eine allegorische Deutung der Figur ins Politische vor und nennt Schottland sowie das Parlament als Karls Verräter, die durch Poleh repräsentiert würden.82 Liest man das Drama jedoch als eine Untersuchung der politischen Anatomie, die ja, wie in der Einleitung dargelegt wurde, die theologische Dimension einschließt, wird Poleh als Allegorie Britanniens deutbar (also den von Carolus regierten Verbund der Königreiche England, Schottland und Irland), aber auch totum pro parte als Allegorie Englands. Dafür ist die außenpolitische Perspektive, wie sie im Drama präsentiert wird, aufschlussreich. So erklärt der Hofmeister des pfälzischen Kurfürsten: „So ists. Der herbe Grimm

78 CS V, 253–254. 79 Vgl. Schöne: Postfigurale Gestaltung, S. 69. In Gryphius’ Olivetum-Epos (1646/48) ist Judas ebenfalls eine zentrale Figur, die als Werkzeug der Hölle fungiert, siehe dazu den Überblick bei Hans Georg Czapla: Lateinische Werke. In: Gryphius-Handbuch, S. 68–89 sowie weiterführend Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 282–321. Einen Überblick zur theologischen und literarischen Rezeption der Judas-Figur liefert Hans Richard Brittnacher: Judas, der Archetyp des Verräters. In: Sprachen des Unsagbaren. Zum Verhältnis von Theologie und Gegenwartsliteratur. Hg. von Dörte Klinke, Florian Priesemuth, Rosa Schinagl. Wiesbaden 2017 (Kulturelle Figurationen. Artefakte, Praktiken, Fiktionen), S. 181–198. 80 Vgl. Habersetzer: Politische Typologie, S. 39. Zu Carolus als Figuration des König David siehe Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 87. 81 Vgl. CS Anm. Gryphius, S. 574, V. 8.9: „Wer diser sey / ist vilen unverborgen. Jch schone noch des eigenen Namens.“ Es sei hier auf den Forschungsüberblick von Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 128 verwiesen. 82 Habersetzer: Politische Typologie, S. 39.

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der ungeheuren Britten / Hat disen Schluß gefast auffs Koenigs Hals zu wuetten.“ (CS III, 445–446) Der holländische Gesandte weiß seinerseits: Es ist „Britten / das verstockt diß Vrtheil liß verfassen!“ (CS III, 458) Britannien selbst hat sich also zum Richter über sein Staatsoberhaupt aufgeschwungen. Schließlich gibt auch Cromwell vor: „Gantz Britten hat den Stab auff Stuards Hals gebrochen“ (CS III, 694). Mit einem solchen gebrochenen Stab betritt Poleh den Schauplatz: „rasend, mit halb zurissenen Kleidern und einem Stock in der Hand“83. Kostüm und Requisite stellen jeweils profanierte Insignien der richterlichen Würde dar. Der Stock erscheint dabei sowohl als Bruchstück ebenjenes Stabs, der bei Todesurteilen über dem Haupt des Angeklagten gebrochen wird, als auch des Richtstabs, dem Symbol der richterlichen Kompetenz und der Gerichtshoheit.84 Im Urteil über Carolus ist auch die Rechtlichkeit selbst mit und durch den Stab zerbrochen und nimmt so die Zerschlagung der Majestät durch die Enthauptung des Königs vorweg. Der Richtstab wird so nach seiner Bedeutung verkehrt in ein Zeichen von Verrat und Justizmord und wird im Theater der Revolution sodann zur bloßen Requisite. Poleh gebraucht diese wie folgt: „Er stellet sich als hoeret er etwas von fern. / […] Er geberdet sich mit dem Stock als einer Trompeten. / […] Als mit einem Feur-Rohr.“85 In dieser Entfremdung des „Stocks“ als musikalisches und bewaffnetes Kriegsinstrument kündigt sich die Gesetzlosigkeit an, welche über England – als Bürgerkrieg und Vogelfreiheit – hineinbrechen wird. Polehs auffällige „Körperperformanz“86 verweist dabei auf seine Verbindung zur politischen Korporation, die sich unter dem Einfluss der Independenten ebenfalls nur noch als souveräner Staat „geberdet“, d. h. so tut als ob, und in der Raserei ihre Kopflosigkeit veranschaulicht. Die „halb zurissenen Kleider[]“, in denen Poleh den Schauplatz betritt, zeugen ihrerseits nicht nur von seinem „gerechten Verfall“87. Sie verweisen auch auf die einstmalige Robe des Richters, mit der und durch die der Richter sein

83 CS, S. 535 (Bühnenanweisung). 84 Dass das Wort „Stock“ auch in diesem Sinne gebraucht wurde, ist nachzulesen in: Art. Stock. In: DWb, Bd. 19, Sp. 10–45, hier Sp. 26: „selten auch an stelle des stabes als gerichtliches symbol“. Dort weiter: „ursprünglich anzugehören einen über den stock stoszen ihn überlisten, in nachtheil bringen; eigentlich ‚durch proceszränke über den gegner ein obsiegendes urtheil erringen‘ [Genau dies ist es ja, was im Prozess gegen den König geschieht!]. auch hier ist der stock in der hand des richters gemeint, und als entsprechend sind wendungen wie einen über die klinge springen lassen […].“ 85 Jeweils CS, S. 535 (Bühnenanweisung). 86 Niefanger: Carolus Stuardus (B-Version), S. 266, der diese als „für das 17. Jahrhundert aber eher überraschend[]“ einstuft. 87 Niefanger: Carolus Stuardus (B-Version), S. 267.

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Amt bekleidet und so Würde und Integrität des Amtes sowie der Institution zur Anschauung bringt. Dass dieses Kleid zerrissen ist, verweist wiederum auf die Zersetzung und Zerstörung der Ordnung, die durch den Richter eigentlich gesichert werden sollte. Auch wird hier ein Bogen zum Reyen der Ketzer und der Religion gespannt, welcher der fünften Abhandlung vorangeht: Das Gewand des Rechts sowie jenes der Religion sind beide durch fälschliche Aneignung, durch Missbrauch und Bemäntelung, zerrissen. Polehs äußere Zerrissenheit korrespondiert mit der inneren, die sich zu allererst sprachlich im unterbrochenen Fluss des Alexandriner artikuliert. So bemerkt Poleh z. B. mit seinem „Gewehr“ im Anschlag: „Last / last uns (stehn wir noch?) erhitzten Mutts nachjagen! / Wo steckt / wo kommt er hin? was schau ich? er verschwind.“ (CS V, 178–179) Als „dem psychophysischen Vermittlungsort der Affekte“88 nimmt diese perturbatio animi ihren Ausgang im Herzen, das Poleh „lebend noch in dieser Brust zurissen“ (CS V, 182) fühlt und darin sowohl metrisch als auch metaphorisch mit seinem „verletzt Gewissen“89 (CS V, 181) korrespondiert, mit dem es im Endreim verschränkt ist. Während das verletzte Gewissen die Verletzung des Majestätsrechts reflektiert, verweist Polehs Zerrissenheit als pars corporis prinicips auf ebenjene des corpus rei publicae. Raserei und perturbatio, die hier symptomatisch für die Zerreißung seiner Identität sind,90 sind sowohl auf den horror, also den Schrecken, des widergöttlichen Verbrechens, als auch die Störung und Zerstörung der personalen Identität und Integrität durch die Verführung zum Bösen zurückzuführen.

88 Thomas Rahn: Affektpathologische Aspekte und therapeutische Handlungszitate in Lohensteins „Agrippina“. In: Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Hg. von Udo Benzenhöfer, Wilhelm Kühlmann. Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit 10), S. 201–227, hier S. 207. 89 Vgl. Rotermund: Der Affekt als literarischer Gegenstand, S. 257: „Poleh, in dem Albrecht Schöne eine Figuration des Judas sieht, bricht, vom verletzt Gewissen getrieben, in Verzweiflung aus. Angst und Schrecken steigern sich zu Wahnvorstellungen und Visionen vom grauenvollen Untergang der Königsmörder: in der Darstellung der Perturbatio vollzieht sich die poetische Gerechtigkeit. An der Pathographie hat die relative Chaotik der Rede großen Anteil: Interjektionen und Ausrufe häufen sich, der Alexandriner ist in kleinste, syntaktisch unvollständige Teile zerstückelt, allerdings metrisch intakt.“ Eine instruktive Analyse des „verletzt Gewissen“ hat Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 128–134 vorgelegt. Dass das Herz im frühneuzeitlichen Diskurs für das Gewissen steht, dazu siehe Lutz Danneberg: Aufrichtigkeit und Verstellung im 17. Jahrhundert. Dissimulatio, simulatio und Lügen als debitum morale und sociale. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hg. von Claudia Benthien, Steffen Martus. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 114), S. 45–92, hier S. 60. 90 Auch Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 128 bemerkt zu Polehs Selbstverlust, der in seiner Selbstauslöschung im Suizid kulminiert, dass diese so schwerwiegend ist, sodass auch seine historische Identität nicht mehr rekonstruiert werden kann.

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Gerade weil Polehs Gewissen also verletzt ist, ist in ihm die Gewissensinstanz intakt.91 Dadurch ist die Gewissenlosigkeit der Independenten – allen voran ihr Oberhaupt Cromwell, der ja nachweislich ruhigen Gewissens („tranquila mente“) sein Leben aushaucht – kontrastiv hervorgehoben. Diese Mangelhaftigkeit, die die Gewissenlosen auszeichnet, reflektiert in sich die Privation an Gutem und Rechtem, die das Böse bestimmt, und ist dabei Teil ihrer verborgenen Innerlichkeit. Da Poleh hingegen die Ermordung der Majestät als widergöttliches Verbrechen erkennt, befindet er sich nachträglich in Übereinstimmung mit der guten, gerechten, göttlichen Ordnung. Dies befähigt ihn sodann auch zu seiner Vision, in der er das Walten der göttlichen Gerechtigkeit ansieht und zugleich vermittelt. Das Publikum selbst wird zu Augen-Zeugen dieses höchst dramatischen, historischen und theologischen Geschehens, wenn sich, wie die Bühnenanweisungen erklären, auf der Hinterbühne ein innerer Schauplatz als forum internum der visionären Innerlichkeit öffnet, der die Hinrichtungen der Königsmörder jeweils als schreckliches Tableau präsentiert.92 Was hier durch den Kunstgriff der theatralen Vergegenwärtigung als Zukunft geschaut wird, ist für den Dichter und sein Publikum bereits historisches Faktum. Dem didaktischen Auftrag und dem Abschreckungskalkül des Geschichtsdramas folgend wird Poleh zum Verkünder und „Lehrer“93 dieser gerechten Geschichte. Dem „Schluß der Rach’“ (CS V, 220) entsprechend werden die Independentenführer hingerichtet und abschließend wird Karl II. zum König gekrönt, denn mit der Bestrafung der Delinquenten wird die Integrität der Macht, der Majestät und der Monarchie schließlich wiederhergestellt. Vor dem Hintergrund dieses Straf- und Schreckenstheaters sollen im Folgenden die Hinrichtungsszenen von Hugo Peter und Cromwell näher in den Blick genommen werden, die in ihrer spezifischen Zeichensprache das Verbrechen an der Majestät vergelten. Der frühneuzeitlichen Logik der Spiegelstrafen

91 Vgl. dazu auch Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 575, der Poleh ebenfalls das „unter den Independenten einzig noch funktionstüchtige Gewissen“ attestiert. 92 Zum Verhältnis von forum externum und forum internum, durch das die äußerliche Strafe visuell mittels visionärer Innerlichkeit vermittelt wird, siehe Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 575. 93 Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 132. Jedoch hat dieser Wechsel von Raserei zu Vision bei Poleh eben nicht,,aus dem Zusammenhang gerissen“ (Benthien: Barockes Schweigen, S. 99; Fromholzer, ebd.) stattgefunden, sondern Poleh ist, wie ich oben auseinandergesetzt habe, durch die Übereinstimmung mit der Verhängnisordnung zu dieser Transzendenz qualifiziert. Dass es sich dabei keineswegs um einen Einzelfall handelt, sondern um eine durchaus gebräuchliche Anordnung im zeitgenössischen Drama handelt, zeige ich anhand der consolatio Theodosiae (Kapitel 2.6), aber auch in Lohensteins Dramen (Kapitel 5.3.2; 6.1).

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entsprechend wird die ursprüngliche Gewalttat hier eingeholt. Michel Foucault bemerkt zu dieser Strafrechtspraxis: In jedem Verbrechen steckt ein crimen majestatis, und noch im geringsten Verbrecher ein kleiner potentieller Königsmörder. Der Königsmord seinerseits ist nicht mehr und nicht weniger als das totale und absolute Verbrechen, weil er nicht, wie irgendein Übeltäter eine besondere Entscheidung der souveränen Macht angreift, sondern deren Prinzip in der physischen Person des Fürsten.94

Deshalb müsse die Bestrafung der Majestätsmörder die Summe aller möglichen Strafen in sich einschließen, um die Schrankenlosigkeit der gerechten Rache nachdrücklich zur Anschauung zu bringen. Dabei handele es sich dennoch um eine asymmetrische Ökonomie von Verbrechen und Strafe, da die Strafe im Dienste der Abschreckung stets das Verbrechen überbieten muss, denn nur dadurch komme das „Mehr an Macht“95, das der Obrigkeit eignet, zur Darstellung. Dies kommt im Carolus Stuardus geradezu exemplarisch zur Anschauung. Die „zeremonielle Umkehrung“96 des Verbrechens durch die gerechte Vergeltungsstrafe revidiert die Verkehrung der göttlich begründeten, politischen Ordnung durch das Böse. In Polehs erster Vision wird gezeigt, wie Hugo Peter (und neben ihm Carolus’ Henker William Hewlett, auf den in Kapitel 4.4.2 näher eingegangen wird) unter Abschlagung des Kopfes gevierteilt wird: „Wie Hugo? […] / Wo wird man deinen Kopff / wo die vir Stueck hinsenden? / Jn die man dich vertheilt.“ (CS V, 196–199) Während seine Enthauptung diejenige des Königs widerspiegelt, wird sie durch Zerstückelung und Ausweiden seines Körpers („Hir brennt dein Eingeweid“ [CS V, 199]) in Schrecklichkeit bei Weitem übertroffen. Da die Vierteilung eine unehrenhafte Strafe ist, aber auch aufgrund der anschließenden Verteilung der vier Teile, kann Peters Integrität – im Gegensatz zur souveränen Ordnung – weder symbolisch noch physisch wiederhergestellt werden. Polehs zweite Vision „stellet Cromwels / Irretons und Bradshaws Leichen an dem Galgen vor“97. Cromwell stirbt zwar im Jahr 1658 eines natürlichen Todes, jedoch wird als Konsequenz der Restauration die gerechte Strafe noch nachträglich am Leichnam des Königsmörders vollstreckt: „So heist das strenge Recht die festen Saerg entschlissen! / Worzu mit Specerey die Glider eingehuelt? / Wuerd’ anders nicht an euch [Cromwell, Ireton und Bradshaw] der Schluß

94 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 71. 95 Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974–1975). Aus dem Französischen von Michaela Ott. Frankfurt am Main 2003, S. 111. 96 Ebd., S. 110. 97 CS, S. 537 (Bühnenanweisung). Weder der General Henry Ireton noch der Richter John Bradshaw treten im Drama auf.

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der Rach’ erfuellt?“ (CS V, 218–220) Cromwells Leiche wird exhumiert, gehängt und schließlich enthauptet.98 Gerade das Hängen als ebenfalls ehrenrühriger Strafe, in der Cromwell auf dem forum internum des Straftheaters exponiert ist, verweist symbolisch zurück auf die Selbstmorde der biblischen Verräter Judas und Ahitophel durch Erhängen und stellt damit auch Cromwell in eine Reihe mit diesen Verbrechern von heimtückischer Bosheit. Während das göttliche Geschichtshandeln in Hofmannswaldaus CromwellEpitaph noch verborgen scheint und der wandernde Leser zum Glauben daran wortwörtlich angehalten („Sta viator“) wird, kommt es in der Vision Polehs auf der hinteren Bühne zur Beglaubigung. Epitaph und Monolog zusammengenommen spannen auf diese Weise einen Bogen, der über den aktualen Rahmen des Trauerspiels hinausweist und alles in eine rechte theologische bzw. eine rechtstheologische Perspektive rückt. Durch die Transzendenz von Polehs Visionen wird ein Gegenbild zu Cromwells Transgressionen etabliert bzw. werden sie dadurch gar überwunden. Die letzte Vision Polehs von der Krönung Karls II. offenbart demnach, dass die im Drama bevorstehende Ermordung der Majestät vorübergehend ist und weist darin zurück auf das Epitaph, das seinerseits dem Wanderer (durch den Text, durch das Leben Cromwells und durch das eigene, durch die Geschichte) Cromwells Tyrannei als vorübergehend zeigt. Gleichzeitig ist in der Verkündung der Krönung Karls II. die Zerrissenheit Polehs und der Königsmörder eindrücklich konterkariert, da für den Seher Vater und Sohn nicht unterscheidbar sind:,,seh ich recht? Erwuergter frommer Fuerst! dich oder dein Geschlecht?“ (CS V, 235–236) Hier manifestiert sich – vermittelt durch das Medium des Gewissens – die Gewissheit, dass die dynastische Kontinuität des Königtums in der Einheit von Vater und Sohn (die auch ein christlicher Grundsatz ist) unverbrüchlich ist.99

98 Zu dieser Art des postumen Strafvollzugs erklärt Dülmen: Theater des Schreckens, S. 144: „Jedenfalls, so unterschiedlich der tote Körper mit ins Hinrichtungsritual einbezogen wurde, eine klare Grenze zwischen lebendig und tot wurde lange nicht gezogen. Die Vorstellung, dass man eine Person und ihr verbrecherisches Tun auch noch durch eine Marter an ihrem Leichnam strafen könne, reicht bis ins 19. Jahrhundert.“ 99 Vgl. dazu sowohl Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 133 als auch Alt: Tod der Königin, S. 77–78, der in seiner Analyse der Catharina von Georgien mit Bezug auf das Modell der dynastischen Kontinuität auf die christologische Interpretation des Phönix als Symbol der Auferstehung Christi und des Christentums verweist, nämlich dass „sich durch den Leib des mythischen Vogels Verfall und Auferstehung, Zeitlichkeit und Ewigkeit gleichermaßen bezeichnet finden“ (ebd., S. 78) Dies wiederum lässt sich direkt auf die Stuart-Dynastie ummünzen. So ist bei Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 409 zu lesen, dass die Anhänger Karls I. nach dessen Hinrichtung 1649 Münzen prägen ließen, die auf der einen Seite den ermordeten König abbildeten und auf der anderen Seite den aus seinem brennenden Nest auf-

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4.4 Die enthauptete Majestät als Werk des Bösen Direkt im Anschluss an das Straftheater der Poleh-Szene folgt das „Hinrichtungsschauspiel“100 von der Ermordung der Majestät. Bevor darauf eingegangen werden soll, schlägt das vorliegende Kapitel einen Bogen zurück zur ersten Hälfte des Dramas, um die intrikate und geradezu symptomatische Beziehung zwischen der dramatischen Struktur und der Katastrophe des Trauerspiels herauszuarbeiten. Die vorangegangenen Kapitel haben sich damit beschäftigt, wie durch die „Boßheit“ der Independenten die revolutio als Figur des Bösen, als Umwälzung und Verkehrung der göttlich gebotenen, ordentlichen Verhältnisse ins Werk gesetzt wird. Nun wird sich der Frage zugewandt, wie sich dies auf alles weitere politische Handeln sowie die dramatische Handlung auswirkt, um sich abschließend der Enthauptung der Majestät zu widmen, die das Werk des Bösen ist. Im Folgenden wird dargelegt, dass im Carolus Stuardus die Sprach- und Wortabschneidung durch die decapitatio als Kappung des Dialogs, der (Sprach-)Handlung und damit als Dekomposition der dramatischen Form arrangiert ist (4.4.1). Dies korrespondiert mit der forcierten Entmündigung des Königs durch die Enthauptung. Sie ist die Ruptur der guten, gerechten, gottgewollten Ordnung der Majestät, die durch den corpus politicum repräsentiert ist, und bedeutet in sich eine vorübergehende zeitpolitische Unterbrechung der traditionalen Monarchie (4.4.2).

4.4.1 Decapitatio und die Kappung der dialogisch-dramatischen Handlung Ausgehend von den Beobachtungen zur „independentischen Rotte“ (Kapitel 4.2) sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass deren unlautere Bemächtigung der rechtlichen und geistlichen Institutionen der dramatischen Handlung des Carolus Stuardus vorgelagert ist. Sie stellt somit nicht den dramatischen Konflikt dar, der die Handlung bestimmt, sondern ihren Kontext. Das ultimative Ziel der Independenten ist bei Beginn der ersten Abhandlung bereits erreicht: Carolus’ Exekution ist beschlossene Sache und die Handlung, die sich auf der Bühne zeigt, stellt die letzten Stunden vor der Hinrichtung vor. Es steht damit

steigenden Phönix, wobei die Umschrift auf „Carolus II“ verweist: „Über den Sinn dieser Goldmünzen kann kein Zweifel bestehen; sie war in der klaren Intention geschlagen, gegenüber dem Lordprotektor und dem Commonwealth die Fortdauer der Erbmonarchie und der Königswürde als solcher zu demonstrieren. Des Königs [Karls I.] Sohn entsteigt hier (ex cineribus) der Asche seines Vaters, vielleicht auch, obwohl weniger wahrscheinlich, den Trümmern der Monarchie.“ 100 Niefanger: Carolus Stuardus (B-Version), S. 268.

4.4 Die enthauptete Majestät als Werk des Bösen

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nicht unmittelbar die Entwicklung der independentischen Selbstüberhebung, die die Ordnung von Recht und Evangelium pervertiert hat, im Fokus, sondern ihre Auswirkungen auf das politische, soziale und schließlich dramatische Gefüge. Das Trauerspiel zeigt in seinem Handlungsbogen, der sich über die erste Hälfte des Dramas spannt, dass eine dieser Auswirkungen eine grundsätzliche Störung in der Verständigung zwischen den Figuren ist, die eine Zersetzung der dialogischen Struktur des Dramas mit sich bringt. Während es Lady Fairfax zu Beginn der ersten Abhandlung gelingt, ihren Gemahl, den General Fairfax, zur Rettung des Königs zu überreden, so scheitert dieses Vorhaben in der dritten Abhandlung gerade dadurch, dass die Obristen und Fairfax darin versagen, sich untereinander abzustimmen.101 Eine Unterscheidung zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge, Unverstelltheit und Bemäntelung, Sein und Schein, ist durch den Zweifel, den die Independenten aufgrund ihres perfiden modus operandi gesät haben, unmöglich geworden. Dies findet sich in der dramatischen Form reflektiert, da dialogische Struktur und Handlung vollkommen gestört, ja geradezu zerstört sind und schließlich gleichsam zum Erliegen kommen. Die Kommunikation zwischen den Königsrettern scheint gekappt und nimmt dadurch die decapitatio des Königs vorweg. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass die Motivation der Lady Fairfax, den König zu retten, alles andere als edel ist. Sie folgt einer eigenen, verborgenen Agenda, die sich dem Zuschauer bereits in ihrem Eingangsmonolog offenbart: So geht der Anschlag fort / so ist der Koenig frey. So hab ich unser Heil und Brittens Ehr erhalten. So wird mein eigen Ruhm durch keine Zeit veralten. (CS I, 32–34)

101 Vgl. Niefanger: Geschichtsdrama, S. 179, der in der „Sprachlosigkeit der Männer“ den Grund für das Scheitern der Gegenintrige entdeckt: „In der entsprechenden Schlüsselszene im dritten Akt fehlen den Obristen und Fairfax die Worte, sich zu offenbaren.“ Pasquale Memmolo: Strategen der Subjektivität. Intriganten in Dramen der Neuzeit. Würzburg 1995 (Epistemata 141), S. 105 macht darin die Strategie der Intriganten bei Gryphius im Allgemeinen aus, eine Beobachtung, die sich auf das Vorgehen der Independenten im Speziellen durchaus anwenden lässt: „Bei Gryphius beschleunigt der Intrigant den Zerfall der gegebenen, im souveränen Fürsten begründeten Ordnung dadurch, dass er den Boden jeglicher Gewissheit durch den Zweifel entzieht [… ].“

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Ihre Idee und ihr Aktionismus sind also lediglich begründet in der Spekulation auf den „eigen Ruhm“102, mit dem sie sich in Geschichtsschreibung und Dichtung verewigen und auf diese Weise der vanitas entgehen will. Das Trauerspiel wird folglich durch diesen verborgenen, eitlen und damit lasterhaften Eigensinn eröffnet, der als böse Neigung mit dem verborgenen Kalkül sowie der heimtückischen Bosheit der Independentenführer verwandt ist. Gryphius’ moralische Geschichtsdichtung widersetzt sich infolgedessen konsequenterweise Lady Fairfax’ heimlichem Sinnen auf Lob und Nachruhm. Stattdessen zeigt sie bereits zu Anfang, dass auch der unverstellte, aufrichtige Dialog zwischen den Eheleuten unmöglich geworden ist. So formuliert Lady Fairfax im Vorfeld des Gesprächs mit ihrem Gatten die Bitte an Gott: „gib Wort auff meine Lippen“ (CS I, 25). Beschönigung und Bemäntelung durch die Kunst der eloquentia sollen auch hier, zwischen den Eheleuten, zur Anwendung kommen. Die Ehe als „Lebensordnung“103, die gleichzeitig die kleinste Einheit des Haushalts (oeconomia) ist, ist ebenso gestört wie die Ordnung des Staates (politica). Durch die politische Exegese wird das hierarchische Modell der christlichen Ehe gar auf das zwischen res publica und Fürst im matrimonium angewendet: „Denn der Man ist des Weibes heubt / Gleich wie auch Christus das Heubt ist der Gemeine / vnd er ist seines leibes Heiland. Aber wie nu die Gemeine ist Christo vnterthan / Also auch die Weiber jren Mennern in allen dingen.“ (Eph 5,23–24) Mit der sich daraus ergebenden Naturalisierung und Korporalisierung dieses hierarchisierten Verhältnisses wird der Souverän zum Haupt des weiblich kodierten corpus politicum.104 Die Störung und Verkehrung der politischen (und religiösen) Ordnung, die der Carolus Stuardus vorführt, bilden sich folglich in den

102 Dazu erläutert Gamper: Dramatische Zeit-Form der Revolution, S. 286: „Sie bezieht sich damit auf ein im 17. Jahrhundert bestens etabliertes Gratifikationssystem, das ‚Ruhm‘ als kommunizierte Anerkennung für als außerordentlich und verdienstvoll eingestufte Leistungen vergibt und dadurch der Vergänglichkeit allen irdischen Daseins zu entkommen verspricht. Bezogen ist,Ruhm‘ auf eine höhere, göttlich gewollte und legitimierte Ordnung der Verdienste, irdisches Medium seiner Behauptung und Tradierung aber ist traditionellerweise die Dichtung, von der erwartet wird, dass sie durch ihre Ausdruckskraft die Zeit zu überdauern vermag.“ 103 Diesen Begriff verwendet Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, S. 541 als Übersetzung der Definition „state of life“, durch die der Ehe in den anglikanischen Thirty-nine Articles of Religion (1526) der Status als Sakrament abgesprochen wird und die Gryphius als Lutheraner teilen musste (ebd., S. 542). 104 In diesen Ausführungen stütze ich mich auf Wild: Theater der Keuschheit, S. 70–71, der dies vor dem Hintergrund von Lohensteins Nero-Dramen elaboriert. Wie sich zeigt, spielt diese Anordnung jedoch auch hier, in Gryphius’ Trauerspiel der politischen Anatomie, eine zentrale Rolle.

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ersten Szenen des Trauerspiel bereits am häuslichen Verhältnis der Eheleute Fairfax ab, wenn auch hier der „Körper“ über sein „Haupt“ bestimmen will. Obschon Fairfax den lasterhaften Antrieb seiner Gattin als solchen erkennt – „so reitzt der Vberfluß / Von Ehrendurst sie fort zu unbedachtem Schluß /“ (CS I, 103–104) –, gelingt es ihr dennoch, ihn zur Rettungsaktion zu überreden. Lady Fairfax führt ihren Gatten mit zwei anonymen Obristen – ihre Namen scheinen dem Geschichtsdrama aufgrund des Scheiterns ihres Anschlages ruhmlos verloren gegangen zu sein – in der Intrige zusammen.105 In der zweiten Szene der dritten Abhandlung treffen die beiden Parteien aufeinander, um ihr Vorhaben, die Majestät zu retten, in die Tat umzusetzen. Jedoch verharren sie dabei, sich gegenseitig auf ihre Intentionen hin abzuklopfen, ohne aber die eigene jemals zu offenbaren. Die Aussage des zweiten Obristen ist dafür leitend: „Halt unsern Schluß verholen / Biß er sich selbst zu erst erklaehre.“ (CS III, 137–138) Die Intrige scheitert hier „eklatant auf der Metaebene“106, noch bevor sie ihren eigentlichen Anfang genommen hat. Mit der Intrige implodiert auch die dramatische Ökonomie des Trauerspiels, denn bis zu diesem Punkt steht die vermeintliche Rettungsaktion als einzige (potentielle) Handlung im Vordergrund.107 Die Szene, so kurz (sie umfasst gerade einmal 17 Verse) und ‚unspektakulär‘ sie ist, markiert gerade deshalb eine tragische Schlüsselszene des Trauerspiels, da sich die Parteien hier aufgrund ihres Zweifelns und ihrer grundlegenden Verunsicherung verkennen.108 Im Zweifel nämlich kollidieren das politische Kalkül und das moraltheologische Gebot der Aufrichtigkeit, was zur Implosion der Intrige führt. Das einzige, das sich zeigt, als sich Fairfax und die Obristen einander nicht zeigen, ist, dass ein Erkennen unmöglich geworden ist. Eine aufrichtige Verständigung und Abstimmung ist vom Zweifel, von der Vorannahme der Vermummung, Verstellung und Verleumdung, die durch die Independenten zur Regel geworden sind, verdorben. An diesem tragischen Scheitelpunkt des Dramas tritt sodann auch Cromwell zum ersten Mal überhaupt im Drama auf. Mit ihm wird die Rettungshandlung endgültig durch die Hinrichtungshandlung abgelöst. An die Präsenz Cromwells ist schließlich auch Fairfax’ schmerzlicher Erkenntnisprozess gekoppelt, in dem er als Schlüsselfigur die Independenten in ihrer „Boßheit“ (CS III, 386) entlarvt.

105 Campe: Theater der Institution, S. 272 bezeichnet dies als „Intrigen-Intrige“, da die Gegenintrige (Rettung des Königs) selbst durch eine Intrige (die der Lady Fairfax) angestoßen wird. 106 Ebd. 107 Vgl. Schöne: Postfigurale Gestaltung, S. 73 sowie Berghaus: Die Quellen zu Andreas Gryphius’ „Carolus Stuardus“, S. 247. 108 Vgl. Schöne: Postfigurale Gestaltung, S. 71.

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Sein Erkenntnismonolog ist sein letzter Auftritt, woraufhin er den Independenten den Schauplatz überlässt. Die dramatische Handlung gerinnt von diesem Moment an zu einem Tableau der Unstimmigkeit, in dem nicht zuletzt die politische Korporation in ihrer Anatomie gleichsam fragmentiert erscheint. Was auf dieses Widerspiel aus Verkennen und Erkennen in der dritten Abhandlung folgt, ist eine Aneinanderreihung disparater Äußerungen zum Geschehen unmittelbar vor Carolus’ Hinrichtung. Dieses retardierende Arrangement schließt Figuren aus der Bevölkerung wie „Die Jungfrauen an den Fenstern“109, aber auch solche von innen- und außenpolitischer Provenienz ein, so z. B. die Gesandten aus Schottland, Holland und zwei englische Grafen.110 Die Polyphonie der Stimmen sowie deren Unstimmigkeit verfügt über einen fast schon dokumentarischen Charakter bezüglich der zeitgenössischen Beurteilung der Hinrichtung.111 Durch die wiederholte Auswechslung der auf der Bühne präsenten Figuren sind die Szenen nicht miteinander verbunden.112 Diese durch die Anordnung der Szenen konstruierte Vielstimmigkeit reflektiert symptomatisch das, was zuvor zur Implosion der Intrige geführt hatte, nämlich das bloße Nebeneinander von Stimmen, die eben in keinen Dialog treten und somit sowohl die Rettungshandlung als auch die sprachliche Struktur des Dramas und damit die dramatische Form selbst unterminieren. Auch auf dieser Ebene antizipiert also der gekappte Dialog die decapitatio der Majestät. Sprachliche, dramatische Handlung und corpus politicum sind hier zerschlagen und zerstückelt, was Werk und Ausdruck des Bösen ist. Darüber hinaus bildet die Viel- und Unstimmigkeit auf der Ebene der rhetorischen Komposition des Dramas einen Kontrapunkt zu Carolus’ Monologen, in denen mit der Einübung der imitatio Christi gerade Einverständnis und Übereinstimmung mit Gott, seiner Gerechtigkeit und Gnade sowie der providentia proklamiert wird. In diesen monologischen Meditationen wird nicht zuletzt der Grund der Majestät bestätigt, sodass die jeweils als „Königsakt“113 bezeichnete zweite und vierte Abhandlung ein Gegengewicht zum Walten und Werk des Bösen in Form der Dekomposition schaffen. Weil Carolus schließlich als Einzi109 CS, S. 539 (Bühnenanweisung). 110 Vgl. Berghaus: Die Quellen zu Andreas Gryphius’ „Carolus Stuardus“, S. 247. 111 Vgl. zur Disparität der diskursiven Formation Maguire: The Theatrical Mask/Masque of Politics. 112 Gamper: Dramatische Zeit-Form der Revolution, S. 292 bemerkt dies für die dritte Abhandlung, die „durch den weitgehenden Verzicht auf eine liaison des scènes“ charakterisiert sei, jedoch lässt sich dieser Befund auf die vierte und fünfte Abhandlung erweitern. 113 Niefanger: Geschichtsdrama, S. 185. Auch Campe: Theater der Institution, S. 283–284 macht in der Einübung der Christus-Nachfolge in Karls Monologen „die Einholung des Grundsatzes der souveränen Institution“ aus.

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ger aufgrund seines beständigen christlichen Glaubens über diese Gewissheit verfügt, kann er erhobenen Hauptes in seine Hinrichtung gehen und damit seinen body natural opfern, da er weiß, dass der body politic diese gewaltsame Ruptur überlebt.

4.4.2 „Greuel-Zeichen“ auf dem theatrum mundi: Das Enthauptungsszenario Ist die Strafpraxis der Frühen Neuzeit als „ein Kapitel der politischen Anatomie“114 zu lesen, so kommt darin der Enthauptung als ehrlicher Todesstrafe eine besondere Bedeutung zu. Eloquenz, Präsenz und Macht fallen hier zusammen, da mit der gewaltsamen Durchtrennung der Kehle nicht nur der Mensch, sondern auch seine Sprachfähigkeit mit einem Schlag vernichtet wird.115 Diese Plötzlichkeit, mit der die Enthauptung „alle Schmerzen auf eine einzige Geste und einen einzigen Augenblick reduziert und damit den Nullpunkt der Marter bildet“116 und in der der Henker seine ‚Kunstfertigkeit‘117 beweisen kann, macht sie innerhalb des frühneuzeitlichen ‚Straftheaters‘118 besonders spektakulär. Darin besteht sodann auch der Reiz sowie die Herausforderung für die zeitgenössische Dramendichtung und Theaterkultur, die Enthauptung nach ihren eigenen Möglichkeiten zur Darstellung zu bringen. Neben Gryphius haben auch Hallmann und August Adolph von Haugwitz die Hauptfiguren ihrer Trauerspiele auf diese Weise hinrichten lassen.119 Gry-

114 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 46. 115 Siehe dazu auch Benthien: Barockes Schweigen, S. 120. 116 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 46. Dabei ist jedoch keinesfalls garantiert, dass es gelingt, die Enthauptung in nur einem Streich zu vollziehen. Der Henker Maria Stuarts benötigte drei Hiebe, um die Enthauptung zu vollziehen, in anderen dokumentierten Fällen ging die Zahl der Versuche gar in den zweistelligen Bereich. 117 Vgl. Schild: Alte Gerichtsbarkeit, S. 202, der die Enthauptung als „schwierigste Aufgabe und daher die erregendste Tätigkeit des Scharfrichters“ bezeichnet, die „als Bravourstücke des Scharfrichters gedacht waren und gelobt wurden“. 118 Dass es durch die Arbeiten von Foucault, van Dülmen u. a. geradezu zum Allgemeinplatz geworden ist, frühneuzeitliche Strafrituale als theatralische Inszenierungen zu sehen, findet sich bei Wild: Theater der Keuschheit, S. 108–109 mit einem Forschungsüberblick zusammengefasst, dem anschließend hinzufügt wird: „Öffentliche Strafrituale sind also im wahrsten Sinne des Wortes theatralisch (abgeleitet von dem griechischen Verb theorein ‚betrachten, zuschauen‘), da sie dem Blick des Zuschauers etwas darbieten und zu sehen geben.“ 119 Vgl. Benthien: Barockes Schweigen, S. 120. So in Gryphius’ Grossmuetiger Rechts-Gelehrter Oder Sterbender Aemilius Paulus Papinianus (1659), Hallmanns Die beleidigte Liebe Oder die großmuethige Mariamne (1666); Haugwitz’ Schuldige Unschuld Oder Maria Stuarda (1683). Enthauptungen von Nebenfiguren zeigen Johann Rists Perseus (1634), Lohensteins Epicharis

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phius verhandelt jedoch im Carolus Stuardus, anders noch als die Trauerspiele seiner Zeitgenossen, einen Moment fundamentaler Bedrohung – „Die Noth ist groß.“ (CS II, V. 564) –, der sich als gesamteuropäischer Krisenzustand äußert. Dessen Kulminationspunkt markiert, sowohl historisch als auch in Gryphius’ dramatischer Konzeption, Carolus’ Enthauptung. So zeichnet der zweite Reyen das Schreckbild, dass „Kaum in einem Sonn-umblauffen sind schir alle Thron entleert.“ (CS II, 549) Neben England sind aus unterschiedlichen Gründen auch die Monarchien Dänemarks („Cimbern“, V. 550), Polens („Sarmater“, V. 551), des Osmanischen Reichs („Bosphor[]“, V. 552), „Portugall[s]“ (V. 555), des Römischen Reichs Deutscher Nation („Adler“, V. 556) und „Franckreich[s]“ (V. 556) gefährdet. Mit der Ermordung der Majestät, durch die die monarchische Herrschaftsgewalt in ihrem Kern angegriffen wird, ist also gleichzeitig die kritische Situation des europäischen Absolutismus überhaupt angesprochen. Die Exekution des englischen Königs ist folglich symptomatisch für diese universelle Krise der Monarchie sowie der politischen Theologie.120 Dies wiederum steigert sich zur Wahrnehmung des Ereignisses als einer universellen Tragödie.121 Schließlich ist die Hinrichtung durch Enthaupten das ultimative Symbol für die Vernichtung absolutistischer Herrschaft, was sich 140 Jahre nach Karls I. Exekution in der Guillotine und ihrer zentralen Funktion in der Französischen Revolution vollenden wird. Der Befund, dass die Enthauptung keinen Einzelfall in der zeitgenössischen Dramendichtung darstellt, lässt sich ebenfalls auf die Geschichte der englischen Monarchie übertragen. So waren auch vor Carolus viele Souveräne ihres Amtes enthoben und gar exekutiert worden. Der erste und fünfte Reyen des Carolus Stuardus sind entsprechend den ermordeten englischen Königen zugeeignet, die das Trauerspiel um die „ermordete Majestät“ rahmen und somit versichern, dass das göttliche Recht, das sie vertreten, das letzte Wort behält. Gleichzeitig bezeugen sie (und auch Maria Stuarts Geist, der Carolus in der zweiten Abhandlung erscheint), dass die Hinrichtung der Regenten in England eine schreckliche Tradition hat, da sie dies allesamt einst am eigenen Leib erfahren haben. So heißt es im ersten Reyen: Ach! Jnsel rauher denn dein Meer! Die jederzeit der Moerder Heer

(1665), Hallmanns Sophia (1671) sowie Die Sterbende Unschuld / Oder Die Durchlauchigste Catharina Königin in Engelland (1684). 120 Auch Gamper: Dramatische Zeit-Form der Revolution, S. 283–284 macht dieses Skandalon „des revolutionären zeitpolitischen Bruchs“ stark, bringt dieses jedoch in seiner Analyse der Zeitstruktur des Dramas nicht mit der Enthauptung als Figuration dieser Ruptur zusammen. 121 Zu dieser zeitgenössischen Rezeption der Hinrichtung siehe Maguire: The Theatrical Mask/Masque of Politics, S. 5.

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Auff deine Printzen außgeschicket / Die du Meyneydig hast verstricket. Wer fil nicht hir nach herbem Hohn Durch Schwerdt / durch Pfeil / durch Gifft vom Thron. Nur diß ist new: mit tollen Haenden Der heil’gen Themis Richt-Axt schaenden. (CS I, 345–352)

In Carolus’ Hinrichtung findet schließlich eine grundlegende Pervertierung des Strafrechtssystems statt. Denn anstelle der Wiederherstellung der Souveränität des Königs, wird diese durch das Strafritual unter dem Deckmantel des Rechts im wahrsten Sinne zerschlagen. Dieses lästerliche Verbrechen am Divine Right of Kings sowie der Missbrauch („schaenden“) an der religiös begründeten Rechtlichkeit (personifiziert als „heil’ge[] Themis“) und der Exekution durch ihre „Richt-Axt“ sind genau die Gründe, die die Geister der ermordeten Könige für ihren Rachegesang im letzten Reyen nennen. Ihre eigene Ermordung wird folglich durch diejenige Karls übertroffen, womit auch Cromwells Bosheit über eine eskalative Kraft verfügt. Die Übereinstimmung der ermordeten Könige in diesem Punkt konterkariert dabei die das Drama bislang beherrschende Unstimmigkeit und so zitieren sie schließlich auch – damit endet das Trauerspiel – einstimmig die Rache als Instrument der göttlichen Gerechtigkeit auf den Schauplatz: „VII. [Geist] Rach ueber diß Gericht. ALLE. Rach ueber Carles Tod.“ (CS V, 512) Cromwell ist der Schänder und Rechtsverkehrer – „perversus semper“ –, wobei er durch den Aspekt der Öffentlichkeit die ihm vorangegangen Königsmorde noch um ein Weiteres übertrifft. So war es im Fall Karls I. das erste Mal, dass ein König nach einem öffentlichen Gerichtsverfahren öffentlich hingerichtet wurde. Dies wird schon im Cromwell-Epitaph entschieden betont, wenn es dort heißt: „Horrenti adhuc dum Publico / Pestem Publicam“122. Es ist davon auszugehen, dass Cromwell sich durchaus bewusst war über die theatrale Wirkkraft, die eine öffentliche Inszenierung von Verurteilung und Hinrichtung des Königs entfalten würde.123 Die Exekution Wentworths, 1st Earl of Strafford, der im Jahr 1641 bis zu 300.000 Menschen beigewohnt haben sollen, hatte dies bewiesen. Carolus war in diesem Zusammenhang vom Parlament dazu gedrängt worden,

122 CS, S. 447, V. 24–25 (Epitaph); Hervorhebung IvH; „Während er bislang der schaudernden Öffentlichkeit öffentliches Verderben brachte“, vgl. Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1104. Howell: Imp of Satan, S. 37 erklärt in seiner historiographischen Betrachtung zeitgenössischer Äußerungen zu Cromwell: “[P]erpetrators of such villainous acts had done their deeds in the dark, thus by the very manner of doing it confessing themselves ashamed of the act, whereas Cromwell had brazenly acted out his part ‚in the face of the sun’ and thus was beyond any possible excusing.” 123 Maguire: The Theatrical Mask/Masque of Politics, S. 16.

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Strafford und den Erzbischof von Canterbury, William Laud, sukzessive hinrichten zu lassen.124 Die öffentliche Vollstreckung der Strafe als Demonstration der Staatsgewalt war begleitet von der Urteilsbilligung durch die Untertanen.125 Zwar wurde üblicherweise jede Form von Bestrafung in der Öffentlichkeit vorgenommen, jedoch bildeten gerade der Adel und hohe Staatsfunktionäre die Ausnahme von solcherart Verfahren. Das Skandalon der öffentlichen Hinrichtung einer hohen Staatsperson liegt folglich in der damit einhergehenden Erniedrigung und Entehrung. Nicht nur wird diese Person in erniedrigter, weil kniender Pose auf dem Schafott vor der Öffentlichkeit ausgestellt, die sich zum größten Teil aus dem gemeinen Volk konstituiert. Auch sanktionieren die Untertanen durch ihre bloße Präsenz das Todesurteil. Sie partizipieren an dessen rechtmäßiger Vollstreckung und verfügen damit regelrecht über die ursprünglich höhergestellte Person. Die ordentliche Hierarchie ist damit grundsätzlich verkehrt und diese Verkehrung wiederum gerät der Öffentlichkeit zum Spektakel. Mit Blick auf den Carolus Stuardus wird vor diesem Hintergrund deutlich, warum Straffords Geist, der dem schlafenden Karl in der zweiten Abhandlung erscheint, im Bericht von seiner eigenen öffentlichen Hinrichtung auf seiner Handlungsmacht noch in diesem letzten Moment beharrt. Dies zeigt die Wiederholung des Ausrufs „ich hab!“ an, die seinen Rekurs einleitet: Jch hab! Ach HErr ich hab! als ich die Zeit beschlossen Mich auff dem Traurgeruest / dem rauen Mord-Altar Noch unter disem Beil geopffert fuer die Schar Des auff mein muedes Haubt aus Rach erhitzten Poevels / (CS II, 18–21; Hervorhebung IvH)

Nach eigener Aussage wurde Strafford also nicht zum Opfer von Richtspruch und Hinrichtung, die mit der öffentlichen Ausführung durch die Partizipation der Untertanen in ihrer Rechtmäßigkeit sanktioniert werden, sondern er habe sich stattdessen selbst dem aufgewühlten Volk geopfert. Implizit ist, dass er durch ebendiese Geste seine höhere Stellung auch im Moment der größten Erniedrigung behaupten konnte. Als Grund dafür, dass es überhaupt zur öffentlichen Hinrichtung kommen konnte, führt er die gegenwärtigen Umstände an, nämlich den sich formierenden politischen Aufruhr, als „[d]as Rasende verkeh-

124 Die Zusammenhänge sind erläutert bei Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1110. 125 Diese Ausführungen stützen sich auf Dülmen: Theater des Schreckens, S. 145. Ähnlich auch Zelle: Angenehmes Grauen, S. 59: „Die öffentliche Hinrichtung reiht sich […] in die übrigen Feuerwerke höfischer Repräsentationskünste ein.“

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ren / Der ungewissen Zeit“126 (CS II, V. 42–43). Diese wesentliche Verkehrung, die das böse Unternehmen Cromwells und der Independenten provoziert, findet sich in Straffords öffentlicher Hinrichtung als Pervertierung des Rechts erstmals ausagiert und ausgestellt. Straffords Hinrichtung weist also voraus auf diejenige Carolus’. Als Ermordung der Majestät bereitet diese der Republik den Weg, in der ja das Volk, bzw. dessen Repräsentanten regieren sollen. Das Volk sei jedoch, so erklärt Straffords Geist weiter, „allzeit-blind[]“ (CS II, 77) und deshalb nicht zur Regentschaft geeignet. Auch ist in dieser „anti-republikanische[n] Agitation“127 auf die Verblendung des durch die independentische Operation „hoch-verfuehrte[n] Volck[s]“ (CS IV, 8) angespielt. Das Vehikel zur Verführung ist die Geistlichkeit, die abermals als Deckmantel für das sinistere Unternehmen missbraucht wird, wie die Religion selbst im vierten Reyen beklagt: „Wie lange laest durch mich der Poevel sich verfuehren? / Vnd geht was Boßheit schleust in meinem Namen ein?“ (CS IV, 311–312) Hugo Peter, personifizierte „Boßheit“ und böser Geist der Revolution, ist somit, neben Cromwell als Independentenführer, der diabolische Verführer, der die die Massen mobilisiert. Dass diese Verblendung bei der Hinrichtung hoher Staatspersonen wiederum in sadistische Schaulust umschlägt, wird vom Geist des Erzbischofs Laud ergänzt, der als rechtmäßiger Vertreter der Geistlichkeit dem falschen Propheten Peter antithetisch gegenübersteht. Am Beispiel seiner eigenen erzwungenen Verurteilung führt Lauds Geist aus: „Wer Frembd / wer Buerger war frolockt ob meiner Pein / Damit er konte selbst Haubt / Hirt und Bischoff seyn.“ (CS II, 91–92) Es zeigt sich, dass die sadistische Lust an dieser ungerechten peinlichen Strafe, durch die auch „[d]er Kirchen Recht verletzt“ (CS II, 90) wird, einhergeht mit der Neigung zur sündigen superbia. Ausgehend von dieser Selbstüberhebung („Damit er konnte selbst“) ist es schließlich auch das Ziel der Independenten, „Lords, Levits, Lavvyers, daß ist die Herren / die Geistlichen / die Rechtsgelehrten“128 ihres Rechts zu beschneiden und dieses gar zu vernichten zugunsten einer militärischen Gewaltherrschaft. Dies wiederum offenbart Hugo Peter dem General Fairfax in der zentralen dritten Abhandlung:

126 Entgegen Mannack: Kommentar Carolus Stuardus, S. 1110, der hier den „rasche[n] Wechsel des von Fortuna beherrschten Geschehens“ ausmachen will, ist das „rasende Verkehren“ gerade nicht auf einen Zufall zurückzuführen, sondern auf die sinistere Agenda Cromwells und seiner Independenten, die eine Verkehrung der Verhältnisse – revolutio – herbeiführen wollen. 127 Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 97. 128 CS Anm. Gryphius, S. 566, V. 9–11.

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Denn wird die Pracht zutretten / Die von dem Poevel sich auff Himmlisch anliß betten / Denn herrscht wer Waffen fuehrt. Denn wird gantz Britten rein Von Adel / Graff und Printz / [...] seyn. (CS III, 342–344)

In diesem Sinne wurde an Strafford ein erstes, wirksames Exempel statuiert, in dem öffentlich die „Pracht zutretten“ wurde. Als Straffords Geist Carolus seine Exekution voraussagt, entschuldigt er in diesem Zuge den König, der Straffords Hinrichtung einst nicht verhindern konnte, mit der Erklärung: „Dich hatt die freche Rott / dich hat das tolle Toben / Vnd leichter Buben Schaum an Ehr und Macht verletzt / Eh’ als an meinen Hals das Richtbeil ward gesetzt.“ (CS II, 50–52) Bereits hier probte „die freche Rott“ luciferisch den Aufstand, sodass in der Majestätsverletzung, die sich in Straffords Hinrichtung manifestiert und in sich bereits blasphemisch und widergöttlich ist, die Majestätsermordung bereits vorbereitet liegt.129 So wird analog zu Straffords Exempel auch Carolus’ Prozess und Hinrichtung zu einer theatralen Extravaganz gesteigert, wenn Westminster und Whitehall dem Publikum geöffnet werden.130 Wie sehr die Bereiche von Recht, Religion und Theater ineinander verschränkt sind, zeigt sich mit Blick auf das Wort ‚Schafott‘, das ein „schau-, blutgerüst“131 bezeichnet und so dem semantischen Feld des Theaters entstammt. Auch die daran angrenzenden Begriffe ‚Schauplatz‘ und ‚Schaubühne‘ beschreiben sowohl die Theaterbühne als auch den öffentlichen Richtplatz.132 Die öffentliche Strafdemonstration war vor diesem Hintergrund ein didaktisches Theater, bei dem es neben Recht und Unrecht stets auch um Heil und Unheil ging, und stimmt allein darin mit der Wirkästhetik des Trauerspiels überein. Im Carolus Stuardus überlagern sich die Dimensionen von Religion, Recht und

129 Zum juristischen Tatbestand der Majestätsverletzung sei hier auf Kapitel 2.1 verwiesen. 130 Vgl. Maguire: The Theatrical Mask/Masque of Politics, S. 17. 131 Art. Schaffot [sic!]. In: DWb, Bd. 14, Sp. 2036–2037, hier Sp. 2036. Dies gilt, wie Maguire: The Theatrical Mask/Masque of Politics, S. 7 nachweist, ebenfalls für den englischen Begriff „scaffold“, der „a platform or stage on which theatrical performance or exhibition takes place“ bezeichne. 132 Vgl. Wild: Theater der Keuschheit, S. 109, der sich dabei auf Harsdörffers Schauplatz-Anthologien und Erasmus Franciscis Der hohe Trauersaal oder Steigen und Fallen großer Herren (1669–1681) beruft. Auch Jacob Döplers juristische Schrift Theatrum poenarum, Suppliciorum Et Executionum Criminalium Oder Schau-Platz Derer Leibes und Lebens-Straffen (1693) wäre dafür als Beispiel anzuführen. Zum einen reiht sich das Werk in die literarische Tradition der Theatrum-Literatur ein, zum anderen spielt der Titel jedoch auf der Grundlage seines Gegenstandes der exemplarischen Straf- und Hinrichtungspraktiken auch gezielt die Doppeldeutigkeit des Schauplatz-Begriffes als Hinrichtungs- und Theaterbühne aus.

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Theater vollends, als es auf Whitehall und damit auf die Hinrichtung des Königs zugeht. Dies lässt sich am Augenzeugenbericht von einem der englischen Grafen nachvollziehen, der in Form der Teichoskopie beschreibt: Man eilt nach Withall zu / da die bestuertzte Welt / Ob disem Vntergang sich umb den Schauplatz stelt. Da steht das Blutgeruest. Das ob es schwartz bezogen / Noch nicht so schwartz als die / die Printz und GOtt gelogen. Auff diser Buen’ erscheint das grause Schlacht-Altar Mit dem verfluchten Beil.133 (CS V, 127–132; Hervorhebung IvH)

Während in der Poleh-Szene das visionäre Straftheater auf die Hinterbühne ausgelagert war, geht nun in der letzten Szene des Trauerspiels, die ebenfalls als ein „Spiel im Spiel“134 konstruiert ist, der Schauplatz der Richtstätte auf im Schauplatz der Theaterbühne und verweist dabei auf die Krise der souveränen Ordnung im theatrum mundi. Dies korrespondiert mit den Bezeichnungen des ungeheuerlichen Geschehens als „Trauerspiel“ beziehungsweise „Jammerspiel“ oder „Schauspiel“, von denen der Text von der ersten bis zur fünften Abhandlung leitmotivisch durchzogen ist.135 Auf der „Enthauptungsbühne“136 ist der Henker gemeinhin der negative Mittelpunkt. Auch wenn er durch das Gericht stattgegeben die gerechte Strafe ausführt, so ist er doch durch die wirkmächtige christliche Ikonographie als Peiniger und Mörder des Märtyrers gezeichnet. Als ein solches „Symbol des Bösen“137 tritt der Henker auch im Carolus Stuardus auf und fungiert im Schauspiel der Hinrichtung als Widerpart des Königs. Bereits in der ersten Abhandlung tritt Wilhelm Hewlett, „Obrister und Moerder des Koenigs“138, auf, der sich dort unter dem Einfluss Hugo Peters

133 Ausgehend von den Begriffen „Schlacht-Altar“ oder auch später „Mord-Altar“ (CS V, 467) macht Rusterholz: Theatrum vitae humanae, S. 27 die martyrologische Lesart des Carolus Stuardus stark: „Dies ist der ‚kurtze‘ Schauplatz zwischen Zeit und Ewigkeit, der Ort der Verwandlung, der Transsubstantiation von Angst in Lust.“ 134 So auch Niefanger: Carolus Stuardus (B-Version), S. 268 sowie Bernhard Greiner: Metatheater / Spiel im Spiel. In: Gryphius-Handbuch, S. 668–681, der einen Überblick zu diesem Verfahren bei Gryphius gibt. 135 Bei Gamper: Dramatische Zeit-Form der Revolution, S. 298 findet sich eine Aufstellung der Textstellen I, 11; II, 143, 324; III, 141, 290, 373,427; V, 16. Dem ist hinzuzufügen, dass dies den Independenten antithetisch ein „Lust-Spiel“ (CS II, 176) sei und auf geradezu apokalyptische Weise wiederholt lediglich als „Vorspiel“ gedeutet wird (III, 487; III, 523; V, 82). 136 Schild: Alte Gerichtsbarkeit, S. 44. 137 Dülmen: Theater des Schreckens, S. 161. 138 CS, S. 450 (Personenverzeichnis).

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stolz dazu bereit erklärt, den König hinzurichten: „der Arm sol Britten raechen“ (CS I, 269). Das Motiv der „Henckers Hand“ (II, 120; V, 197; V, 264) wird daraufhin im Verlauf des Dramas wiederholt aufgerufen und steht dabei pars pro toto für das Skandalon, nach dem die Exekution des Königs durch ebenjenes Glied erfolgt, das eigentlich die Integrität der Majestät mittels peinlicher Strafe wiederherstellt. Die gerechte Ordnung des Strafrituals ist also auch auf dieser Ebene grundsätzlich verkehrt. Dies ist in Hewlett insofern noch potenziert, da auch er als Obrist – wie bereits in Hinblick auf Cromwell und Peter ausgeführt wurde – ursprünglich dazu vereidigt war, die Majestät zu schützen und zu verteidigen. Dieser Skandal in der Ordnung findet sich sodann auch von zwei englischen Grafen kommentiert: I. [Graf] Warumb hat nicht das Heer den theuren Eyd bedacht? II. [Graf] Es geht so gleich [gerecht] nicht ab wenn man den Statt wil aendern! (CS III, 608–609)

Sie legen damit den Blick auf die innere Logik des independentischen modus operandi frei: Um die böse Tat ins Werk zu setzen, gereichen nur unlautere Mittel. Dabei ist im Eidesbruch der Umbruch des Staates und seiner Form vorweggenommen. Der Eidesbruch gegenüber der Majestät nimmt deren Enthauptung als gewaltige, grausame Ruptur vorweg. Arm und Hand, durch die ja die Streitmacht in der politischen Anatomie repräsentiert ist, wenden sich gegen den eigenen (politischen) Körper: Vor war der Koenig tod Jtzt stirbt sein Koenigreich. [...] Auff heut / legt Engelland / An sich die mit dem Beil / (Ach! Ach!) bewehrte Hand.139 (CS III, 488–489; 491–492)

Die Enthauptung des Königs macht sein Reich kopflos, da die decapitatio des königlichen Leibes (body natural des Königs) eine Kappung politischer, religiöser und symbolischer Strukturen (body politic des Königreichs) repräsentiert. Die Ermordung der Majestät wird damit gleichsam zu Englands Selbstmord sti-

139 Damit gelange ich zu einer Konklusion, die Peter Michelsen: Der Zeit Gewalt. Andreas Gryphius: „Ermordete Majestät oder Carolus Stuardus“. In: Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Hg. von Walter Hinck. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2006, S. 48–66, hier S. 56 in seiner Analyse dieser Verse bereits ähnlich konstatiert hatte: „Die Hinrichtung des Königs ist erst der letzte Schritt auf [dem] Wege [der Einschränkung der absolutistischen Herrschaftsgewalt] und ist also noch etwas anderes als ein Bild christlicher Überwindung und Besiegung des Todes […]. Es ist das Geschick nicht der Person, sondern des Gemeinwesens, das hier beklagt wird […], da es [England] die göttlich gebotene, legitime Herrschaftsform des

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lisiert.140 England verletzt sich in einem widernatürlichen, widergöttlichen und damit bösen Akt der Selbstfragmentierung selbst. Durch die Selbstverstümmelung und Selbstverstummung, die die Enthauptung provoziert, ist der politische Körper still gestellt und gewaltsam in einen Zustand des rigor mortis versetzt, der auf die Herrschaft des Todes als Herrschaft des Bösen deutet. Die Funktion des Henkers, die Hewlett übernimmt, wird schließlich um eine figurative Ebene erweitert, wenn er sich selbst in seiner Rolle wort-wörtlich überhöht: „Jch schaetz’ es hoch / daß ich vor Reich / Kirch / und Gemein / Bey dem Schuld-Opfer sol der hohe Prister seyn.“ (CS I, 267–268, Hervorhebung IvH). Durch die Hervorhebung mittels figura etymologica ist sogleich der lästerliche Antrieb seines Verbrechens aufgerufen, nämlich der teuflische Hochmut, die superbia. Auch ist an dieser Stelle bereits ein Bogen zur fünften Abhandlung gespannt. Dort nämlich wird von einem Grafen berichtet, wie der Bischof Juxton, um Carolus vor seiner Hinrichtung aus der Heiligen Schrift vorzulesen, „zufällig“ die Passion Christi aufgeschlagen habe.141 Gryphius streicht zu dieser Stelle, durch die Carolus’ imitiatio Christi zur göttlichen providentia modelliert wird, in seinen Anmerkungen heraus: Es „laß der Bischoff von Londen / […] für die erste Lection das 27. Capittul des Evangelisten Matthæi, referirende die Historie von unsers Seligmachers Leiden unter Pontio Pilato / durch Antrib der Hohenprister / Schriftgelehrten / Phariseer und Eltisten des Juedischen Volckes.“142 Die Nennung der „Hohenprister“ an erster Stelle verweist auf die stolze Selbstbezeichnung Hewletts in der ersten Abhandlung und identifiziert ihn mit dem Hohepriester Kaiphas, der den Vorsitz im Verhör Jesu innehatte und deshalb im 17. Jahrhundert als „ein Paradigma des ‚teuflischen‘ Menschen“143 galt. Letztlich ist damit auch durch Hewlett als selbsternannter Kaiphas-Figuration die Parallele zwischen dem Justizmord an Jesus und dem an Carolus hergestellt. Hewletts Selbstbezeichnung als Hohepriester stimmt insofern mit seiner Funktion als Henker überein, als dass er gleichsam den Zeremonienmeister des

Absolutismus zerbricht.“ Darüber hinaus hat Michelsen herausgefunden, dass die christologischen Parallelen bereits in den von Gryphius herangezogenen Quellen vorgezeichnet sind. 140 Auch darin wäre eine weitere Fundierung für die These auszumachen, Poleh als eine Personifizierung Englands zu lesen, da er ja schließlich ebenfalls Selbstmord begehen wird. – Auch Maguire: The Theatrical Mask/Masque of Politics, S. 5 zeigt in ihrer Diskursanalyse: „The recurring and nightmarish image of an unnatural ‘Headless State’ underscores the horrified response to the public decapitation of a divine-right king (‘headless,’ of course, carries literal meaning – physical, political, and religious – as well as metaphorical)”. 141 Vgl. CS V, 103–111. 142 CS Anm. Gryphius, S. 572, Z. 32–34. S. 573, Z. 1–4, „Antrib der Hohenprister“, Hervorhebung IvH. 143 Osterkamp: Lucifer, S. 74.

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Hinrichtungsrituals darstellt. Religionsgeschichtlich betrachtet ist er damit der designierte Gegenspieler des Märtyrers, wobei gerade die Enthauptung gemeinhin den Beginn des Martyriums markiert, da viele spätantike Heilige auf diese Weise hingerichtet wurden.144 In seiner imitatio Christi ruft wiederum Carolus noch auf dem Schafott den Heiligen Stephanus als den Erzmärtyrer um Beistand an und fügt sich damit in die martyrologische Tradition ein.145 Als Henker wird Hewlett vollends zum „unmittelbare[n] Anatom des Leidens“146 stilisiert, das hier eben auch als Passion modelliert ist. So führt der Bischof Juxton als rechtmäßiger Vertreter des christlichen Glaubens aus: Den Schau-Platz muß mein Fuerst zum letztenmal beschreiten. Den Schau-Platz herber Angst und rauher Bitterkeiten. Den Schau-Platz grimmer Pein! auff dem ein ider findt Daß alle Majestaet sey Schatten / Rauch und Wind Der Schau-Platz ist zwar kurtz! doch wird in wenig Zeitten / Auff kurtzer Bahn mein Printz das ferne Reich beschreitten / Den Schau-Platz hoechster Lust. Auff dem die Ewikeit Mit Friden schwangrer Ruh kroent unser Seelen Leid. (CS V, 429–436)

In der anaphorischen Wiederholung des Schauplatzes finden sich hier die metaphorischen Dimensionen des Rechts, der Religion, des Theaters und damit des theatrum mundi aufgerufen.147 Daran lässt sich eine Analogie zur Catharina von Georgien ausmachen, denn Juxton scheint hier geradezu den Prolog der Ewigkeit zu zitieren. „Die Jungfrauen an den Fenstern“ fungieren hier aufgrund ihrer Position an der Schwelle zwischen innen und außen als Vermittlerinnen zwischen dem Bühnen- und dem Publikumsraum. Als Augenzeuginnen und Zuschauerinnen gleichermaßen kommentieren sie das Hinrichtungsgeschehen und perspektivieren es: „Er gibt den Mantel weg.“ (CS V, 451) und „Er nimmt das Ritter-band

144 Vgl. Catrien Santing, Barbara Baert: Introduction. Disembodied heads in medieval and early modern culture. Hg. von Barbara Baert, Catrien Santing, Anita Traninger. Leiden 2013 (Intersections 28), S. 1–13, hier S. 3. 145 Der heilige Stephanus wird hier mit Bezug auf seinen Tod durch steinigen umschrieben als „Der unter rauhen Sturm der harten Stein’ entschliff“ (CS V, 340). 146 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 19. 147 Rusterholz: Theatrum vitae humanae, S. 27 macht hier vier Ebenen der Schauplatz-Metapher aus: „‚Schauplatz‘ bedeutet historisch Richtstätte, heißt heilsgeschichtlich Golgatha, eschatologisch Ort der letzten Dinge, als Bühne, auf der Agierende, Zuschauer und historische Vorbilder in der Erkenntnis vereinigt werden, ‚daß alle Majestät sey Schatten, Rauch und Wind’ realisiert der Schauplatz noch einen vierten, moralischen Sinn.“

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und Kleinot von dem Hertzen!“ (CS V, 452; Hervorhebung jeweils IvH). Diese Beschreibung der Devestitur ist durchaus als Gegenentwurf zu den rhetorisch gewandten Bemäntelungen und Verkehrungen der Independenten angelegt, deren sprachlicher ornatus ja gerade mit ihrer Verlarvung und Vermummung korrespondiert. Gleichzeitig bedeuten die sprachlichen Äußerungen und performativen Entäußerungen nicht etwa eine bloße Vorbereitung seiner Enthauptung, sondern vielmehr eine Behauptung seiner königlichen Macht und Würde auch im Moment der absoluten Ohnmacht.148 Die Parallele des indikativen „Er gibt“ und „Er hat“ zum wiederholten „ich hab’“ aus dem Geisterbericht von der Hinrichtung Straffords wird augenfällig. Was sich dort ankündigt, vollendet sich hier als bewahrte und bewährte Handlungsgewalt, die nur dem König eignet und die sich schließlich in der souveränen Anwendung des pluralis majestatis artikuliert, als Carolus spricht: „wir legen alles ab.“ (CS V, 456; Hervorhebung IvH). Letztlich ruft auch eine der Jungfrauen aus: „er entdeckt sich selbst!“ (CS V, 464) und verbürgt durch ihre Augenzeugenschaft die Souveränität und Autonomie, mit der Carolus über seinen Körper (body natural) verfügt. Indem er sich der Insignien und Roben eigenständig entkleidet (sich ent-deckt), demonstriert er seine unverbrüchliche dignitas. Die Bemäntelungsstrategie der Independenten ist also „in dem Anblick des Todes / da alle Schmincke und Gleißnerey ein Ende nimt“149, bedeutungsvoll konterkariert.150 Auf dem Höhepunkt dieses Schauspiels, unmittelbar vor der Hinrichtung, ist der Henker „Vermummt. Weil Boßheit nicht das Licht vertragen kan.“ (CS V, 412) Der Henker als Symbol des Bösen bringt damit vor allem die Opazität der Bosheit, die im Dunklen und Verborgenen – „vermummt“ – operiert, zur Anschauung. Im Gegensatz dazu stellt Carolus sowohl seine entblößte Äußerlichkeit und Kreatürlichkeit (body natural) als auch seine Innerlichkeit (,,es sey der Erden unverborgen: / Wie mein Gewissen steh“ [CS V, 405–406]) offen aus und macht sich gerade dadurch die peinliche Öffentlichkeit wieder untertan. Damit korrespondiert, dass dem König auf dem Schafott die Hände im wörtlichen wie im übertragenen Sinne nicht gebunden sind, sodass er zuletzt noch die Ausführung seiner Exekution dirigiert und seine uneinge-

148 Benthien: Barockes Schweigen, S. 123 sieht darin lediglich eine Vorbereitung der Enthauptung: „Ist die (tropenreiche) Sprache in der Rhetorik immer wieder dem ornatus, einem Kleid verglichen worden, so ist die Devestitur des Königs auch eine Form sprachlicher ‚Entblößung‘, die dem endgültigen Verstummen im Tod zuvor geht.“ 149 CS Anm. Gryphius, S. 574, Z. 32–33. 150 Auch Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 113 hebt dieses antithetische Verhältnis zwischen entblößtem König und der „Maske der unkenntlich bleibenden Mörder“ hervor.

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schränkte Handlungsmacht beweist. Noch in diesem äußersten Moment befiehlt der König demjenigen seiner Untertanen, der ihn vernichten wird. Der König ist hier gerade nicht entmündigt. Auch wenn er durch die Enthauptung verstummen soll, behält er doch die bestimmte Zeichenhaftigkeit der Souveränität bei. So lenkt er durch ein Handzeichen die „Henckers Hand“ und damit die letzte Handlung auf dem Schauplatz (als Theater- und der Hinrichtungsbühne und theatrum mundi). Als der Henker auftritt, leitet Carolus ihn umgehend an mit „Wenn wir die Haend’ außstrecken / Thu deinen Schlag getrost.“ (CS V, 418). Am Ende der Szene wiederholt Carolus diese Anleitung noch einmal: „Wenn ich die Haend’ außbreit / Verrichte deinen Streich!“ (CS V, 471–472) Seine Befehlsmacht gibt den Rahmen der Handlung auch dann noch vor, wenn der pluralis majestatis im äußersten Moment dem personalen „ich“ weicht.151 Es zeigt sich in diesem Arrangement, dass auch im Moment der ultimativen, tödlichen Konfrontation das Böse der guten, gerechten Macht untergeordnet ist. Durch die Pose der ausgebreiteten Arme geht der ermordete König schließlich in der Haltung des gekreuzigten Christi auf und die imitatio Christi kommt vollendet zur Anschauung. Hat Christus durch seinen Kreuzestod den Tod getötet, so wird in Aussicht gestellt, dass auch die Majestät ihre Ermordung ‚überlebt‘ und England den Zustand des rigor mortis, in den es gewaltsam versetzt wurde, überwindet. Die klaffende Wunde, die die Enthauptung am Ende der fünften Abhandlung öffnet, steht als stummes „Greuel-Zeichen“ (CS III, 486) für die titelgebende „ermordete Majestät“, deren Leichnam wiederum nach Benjamin „oberstes emblematisches Requisit schlechthin“152 ist. Wenn im letzten Reyen der ermordeten englischen Könige die Rache als Organ der göttlichen Gerechtigkeit verspricht, „der gesammten Straffen Hauff“ (CS V, 540) auf England zu schicken, behält sie damit das letzte Wort. Die Unstimmigkeit, die das Drama zuvor präsentiert hat, ist endgültig zum Schweigen gebracht. Dies ist auch durch Polehs prospektives (und geschichtlich verbrieftes) Straftheater garantiert. Waren Autor und Publi-

151 Mit Rückgriff auf die Zwei-Körper-Lehre konkludiert auch Alt: Tod der Königin, S. 76: „Karl demonstriert auf diese Weise, dass er auch auf dem Schafott seine Souveränität nicht preiszugeben bereit ist; er agiert als Vertreter der Institution der Krone, welcher noch im Moment absoluter Ohnmacht über das performative Repertoire der herrscherlichen Zeichensprache verfügt. Der König besitzt auch als entkleideter Monarch ohne Machtinsignien einen zweiten Körper, der ihn vom normalen Sterblichen trennt. Seine Hinrichtung ist bei Gryphius gerade keine Inversion des Inthronisationsrituals, sondern ein Akt der Bekräftigung des unzerstörbaren politischen Körpers, der so lange im gemordeten Leib des Königs fortdauern wird, bis ein Nachfolger sein Herrscheramt erbt […].“ 152 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 392.

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kum der ersten Fassung des Trauerspiels noch genauso ratlos zurückgeblieben angesichts der ungeheuerlichen Ereignisse um die „ermordete Majestät“ wie das Dramenpersonal, so verfügen sie mit der Umarbeitung von 1663 über ebenjene mittlerweile historische Gewissheit, die der Protagonist Carolus stets für sich beansprucht hat.

5 „Unser Teutscher Seneca“ und das Böse im Prätext der Geschichte: Lohensteins Agrippina (1665) Als „unser Teutscher Seneca“1 wird Lohenstein zum ersten Mal im Jahr 1679 lobend in Sigmund von Birkens Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst bezeichnet. Die Zuschreibung bewährt sich und so wird Birkens Diktum von Magnus Daniel Omeis in seiner Gründlichen Anleitung zur Teutschen accuraten Dichtkunst von 1704, welche die Tradition der barocken Trauerspielpoetik resümiert, zitiert.2 Während die spätbarocken Poetiken mit dieser Analogie also gerade die Mustergültigkeit Lohensteins (und Senecas) bekräftigen wollten, wird die Zuschreibung von der aufklärerischen Literaturkritik hingegen „[n]icht nur preisend“3 verwendet. So werden bei Johann Christoph Gottsched die Parallelen zu Seneca nunmehr genutzt, um das Urteil über Lohensteins ‚schwülstigen‘ Stil zu stützen.4 Wo zuvor die Linie von Seneca zu Lohenstein den Vorbildcharakter beider Dichter betonte, wird dieser nun in eine so zu nennende Tradition des Schwulstes eingereiht. Der ursprünglich von Birken geprägte Beiname schreibt sich in der Poetikgeschichte fort, wobei er jedoch für die jeweils eigenen poetologischen und kulturpolitischen Zwecke umgedeutet wird.

1 Birken: Dicht-Kunst, Kap. XII, § 227, S. 332. 2 Als besonders zu lobende deutsche Dramen führt Magnus Daniel Omeis: Gründliche Anleitung zur teutschen accuraten Reim- und Dichtkunst. Durch richtige Lehr-Art, deutliche Reguln und reine Exempel vorstellet […]. Nürnberg 1704, S. 247. u. a. „Daniel Caspars / des Teutschen Senecae, / herzliche Schau- und meistens Trauer-Spiele“ auf. 3 Paul Stachel: Seneca und das deutsche Renaissancdrama. Studien zur Literatur- und Stilgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. Berlin 1907 (Palaestra 46), S. 283. Stachel verfolgt hier nach, wie sich dieser Beiname Lohensteins fortschreibt und in diesem Zuge verändert, vgl. ebd., S. 281–283. 4 Vgl. allen voran Johann Christoph Gottsched: Critische Dichtkunst. 3. und verm. Aufl. Leipzig 1742. In: Gottsched: Ausgewählte Werke. Hg. von Brigitte Birke, Joachim Birke. Bd. 6. Berlin, New York 1973, S. 445–446. (Original: 368–369). Im § 24 des XI. Kapitels „Von der poetischen Schreibart“ liefert Gottsched ein Beispiel aus dem Hercules Oetaeus, um Senecas „schwuelstige Schreibart“ (S. 445) zu veranschaulichen. Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass Seneca dieser Text nur zugeschrieben wurde. Vor diesem Hintergrund wirkt der Umstand, dass Gottsched ausgerechnet diese Tragödie als Exempel für senecaischen Schwulst wählt, aus heutiger Sicht fast ironisch. Im § 25 bezieht sich Gottsched dann auf Lohenstein: „Im Deutschen kann uns Lohenstein die Muster einer so schwülstigen Schreibart geben. Seine Tragödien sind überall damit angefüllt, und er verdient deswegen der deutsche Seneca zu heißen.“ (S. 446, Hervorhebung IvH). https://doi.org/10.1515/9783110726022-005

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Der Seneca, der noch bei Birken Pate für Lohenstein stand, ist unter den antiken Tragödienautoren der Favorit der Dichtungstheoretiker des 17. Jahrhunderts und der „Ahnherr[] des barocken Trauerspiels“5. Der unmittelbare Kontext, in dem Lohenstein bei Birken mit diesem Titel geadelt wird, ist der § 227 des zwölften Kapitels seiner Dicht-Kunst, der sich mit der „gebundene[n] Rede“6 befasst. Wie bei Seneca, der seine Chöre als sapphische oder choriambische „LeirLieder“7, also lyrische Dichtung, gestaltete, sei in Lohensteins Dramen eine Variation an Versmaßen zu finden, womit die Möglichkeiten der metrischen Variation „fürtrefflich[]“8 ausgeschöpft seien. Abgesehen von der formalen Konstruktion sei Senecas Meisterschaft, so hatte Birken bereits zuvor bemerkt, auch inhaltlich an den Chören abzulesen, die in ihrer moraldidaktischen Ausrichtung Tugend loben und Laster schelten.9 Auch hier lässt sich eine Analogie zum „deutschen Seneca“ entdecken, da dies ebenfalls für Lohensteins Trauerspieldichtung maßgeblich ist und dort in den Reyen nach den Regeln der Moralisation verfahren wird. Überhaupt kreisen Birkens Ausführungen um den sittlichen Komplex von Tugendlohn und Sündenstrafe, weil gerade darin den Zuschauern die christliche Weltordnung gegenwärtig werde. Die Logik der Trauerspielhandlung formuliert sich also wie folgt: Ist die Hauptfigur, der „Held“, mit allen Tugenden ausgestattet, muss er am Ende belohnt werden. Sei er aber „ein Tyrann oder Böswicht / so soll ihm seine Straffe auf dem Fus nachfolgen“10.

5 Hans Jürgen Schings: Seneca-Rezeption und Theorie der Tragödie. Martin Opitz’ Vorrede zu den Trojanerinnen. In: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972. Hg. von Walter Müller-Seidel. München 1974, S. 521–537, hier S. 524. 6 Birken: Dicht-Kunst, Kap. XII, § 227, S. 332. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Vgl. ebd., S. 327: „Diese Lieder [Birken meint damit die Chöre] reden gemeinlich von den Tugenden oder Lastern / welche die vorhergehenden Spielpersonen an sich gehabt / da jene gelobet und diese gescholten werden: und hierinn ist der treffliche Seneca wol Meister gewesen.“ – Birken ist selbstverständlich nicht der Erste, der diesen moraldidaktischen Aspekt der senecaischen Tragödiendichtung herausstreicht, sondern ist damit vielmehr an die humanistische Tradition der Seneca-Philologie angeschlossen. So entdeckt auch der erste deutsche SenecaHerausgeber Conrad Celtis, der 1487 die Tragödien Hercules furens und Thyestes veröffentlicht hat, den Sinn der römischen Tragödien darin, zur Tugend anzuregen und vom Laster abzuschrecken. Vgl. Conrad Celtis: Briefwechsel Nr. 5. In: Celtis: Briefwechsel. Hg. von Hans Rupprich. München 1934, S. 10–13. Senecas Tragödien lagen den Autoren des 17. Jahrhunderts in den Editionen der humanistischen Philologen vor. Zur Editionsgeschichte des Seneca tragicus in der Frühen Neuzeit siehe Stachel: Seneca und das deutsche Renaissancedrama; Schings: Seneca-Rezeption, S. 524. 10 Birken: Dicht-Kunst, Kap. XII § 226, S. 331.

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Der Inbegriff der tragischen Gattung, die Birken im Zuge seines Engagements für die deutsche Sprache auch als „Heldenspiel“ bezeichnet, ist das Drama der Laster und Leidenschaften. So beruft sich Birken wiederum auf den Tragiker Seneca, wenn er elaboriert, dass die „Trauerspiele oder Tragoediae“ so hießen, „weil vorzeiten in der Heidenschaft meistteils Tyrannen das Regiment geführet / und darum gewöhnlich auch ein Ende genommen / […] dergleichen Aeschylus, Euripides, Sophocles, Aristophanes, Seneca, und mehr andere / viel geschrieben“11. Seneca bildet den End- und Höhepunkt dieser Traditionslinie. Voraus gehen ihm die griechischen Tragödiendichter der Klassik, auf deren Werke Seneca ja als Vorbilder zurückgegriffen hat. Auf ihn folgen nur noch namenlose, nicht weiter zu erwähnende „mehr andere“. In der frühneuzeitlichen Rezeption sind „Trauerspiele oder Tragoediae“ also senecaisch geprägt. Der Weg führt hier von den Barockpoetiken, wie eben derjenigen Birkens, zurück auf Martin Opitz und von dort zu Julius Caesar Scaliger, der dem Seneca tragicus in seiner Poetik noch über die griechischen Tragödien hinaus Würde verlieh.12 Begründet liegt dies im Zusammenspiel von atrocitas und maiestas, das in Senecas Dramen den Blick freigibt auf die Abgründe des Menschen und der Macht. Gerade die Versehrung und Vernichtung des menschlichen Körpers kehrt als Thema in allen Tragödien Senecas wieder.13 Als Exzesse der atrocitas werden die physischen Gewalttaten zum Ausdruck des Bösen. Nicht zuletzt unter diesem Aspekt ist der Beiname „unser Teutscher Seneca“ gerade für eine Auseinandersetzung mit dem Komplex des Bösen in den Trauerspielen Lohensteins richtungsweisend.14 Senecas Figuren sind getrieben von Affekten und die daraus hervorbrechenden Vergehen markieren die Emergenz eines Bösen, das geradezu beispiellos aus Mythos und Geschichte herausragt. In Senecas Tragödien findet sich eine ganze Reihe außerordentlicher Verbrechen, die moralische und rechtliche Grenzen ver-

11 Birken: Dicht-Kunst, Kap. XII, § 219, S. 323. 12 Vgl. hierzu Schings: Seneca-Rezeption, S. 524–525. 13 Vgl. Manfred Fuhrmann: Die Funktion grausiger und ekelhafter Motive in der lateinischen Dichtung. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hg. von Hans Robert Jauß. München 1968 (Poetik und Hermeneutik 3), S. 23–66, hier S. 49. 14 Diese zentrale Funktion, die Lohensteins Rezeption des Seneca tragicus für seine Trauerspielkonzeption zukommt, wurde meiner Kenntnis nach noch nicht erkannt. Auch Arend, die ihre Studie „Rastlose Weltgestaltung“ ja der Untersuchung der senecaischen Kulturkritik bei Gryphius und Lohenstein verpflichtet, richtet den Blick nicht auf die umfassenden ästhetischen Implikationen für Lohensteins Rezeption des Tragödiendichters Seneca. Abgesehen von vereinzelten Vergleichen mit Senecas Tragödien baut Arends Analyse grundsätzlich auf den ethischen und politischen Schriften Senecas auf und deren Spuren in Lohensteins (und Gryphius’) Werk.

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letzen, jedoch auch in ihrer exzessiven und eskalativen Darstellung die bisher dagewesene dramatische Tradition übertreffen.15 Anthony Boyle entdeckt darin „[a] rehearsal of the Senecan motif of ‘evil which cannot be forgotten’“16. Als Beispiele dafür nennt er Ödipus’ Verbrechen in Phoenissae sowie Atreus’ Rache an seinem Bruder Thyestes in der gleichnamigen Tragödie. Doch auch Neros Mord an seiner Mutter Agrippina, wie er in der Octavia dargestellt wird, reihe sich in diesen Reigen des unvergesslichen Bösen ein.17 Dabei wird neben dem Ausmaß der bösen Tat und der Bosheit des Täters die Überzeitlichkeit der Untaten herausgestellt: Mit Grauen werden noch zukünftige Generationen von diesen Verbrechen über alle Maßen berichten. So sagt Oedipus in den Phoenissae von seinem eigenen Vergehen: „facinus ignotum, efferum, / inusitatum effare quod populi horreant, / quod esse factum nulla non aetas neget, / quod parricidam pudeat.“18 Im Thyestes treibt Atreus sich mit der Aussicht auf den zweifelhaften Nachruhm selbst weiter zur Rache an seinem Bruder an: „age, anime, fac quod nulla poster-

15 In diesem Sinne beschreibt Kathrin Winter Senecas Tragödien als „artificia mali“ in: Kathrin Winter: Artificia mali. Das Böse als Kunstwerk in Senecas Rachetragödien. Heidelberg 2014 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften 145). 16 Vgl. Octavia. Attributed to Seneca. Mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar von Anthony Boyle. Oxford 2008, S. 166. 17 Zwar wird heute mit Sicherheit davon ausgegangen, dass die Octavia Seneca nur zugeschrieben wurde, jedoch wurde der Text in der Frühen Neuzeit noch gemeinsam mit den Dramen Senecas überliefert, der somit auch als der Verfasser galt. Vgl. Boyle: Introduction. In: Octavia, S. xi–lxxix, hier S. lxxvi. Boyle liefert in dem Unterkapitel „Octavia and Renaissance Drama“ einen Abriss der frühneuzeitlichen Editionsgeschichte der Octavia sowie eine Liste jener Dramentexte, die direkt oder indirekt von der Octavia beeinflusst sind. Boyle führt hier auch Lohensteins Agrippina (ebd., S. lxxix) auf. Dass Lohenstein die Octavia kannte, verraten seine Anmerkungen zur Epicharis, die zeitgleich mit der Agrippina entstanden ist. Siehe dazu Daniel Casper von Lohenstein: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Lothar Mundt. Abteilung 2: Dramen. Bd. 2: Agrippina, Epicharis. Teilbd. 1: Text. Berlin, New York 2008. Im Folgenden wird die Agrippina mit der Sigle A, Epicharis mit der Sigle E zitiert. Abhandlungen und Reyen werden inkl. Akt- und Verszahl im Text zitiert. Bühnenanweisungen werden in den Fußnoten mit der Sigle und der Seitenzahl vermerkt. Die Anmerkungen Lohensteins werden ebenfalls in den Fußnoten zitiert, als „[Sigle] Anm. Lohenstein“ mit Angabe der Seiten- und Zeilenzahl. Hier: E Anm. Lohenstein, S. 512, Z. 564. 18 Lucius Annaeus Seneca: Phoenissae. In: Seneca: Sämtliche Tragödien. Lateinisch – Deutsch. Übersetzt und erläutert von Theodor Thomann. Bd. 2. Zürich 1961, S. 394–439, hier S. 412, V. 264–267. [„[E]ine nie gekannte, wilde, nie zuvor vollführte Untat sprich aus, vor der die Völker schaudern – dass sie geschehen, jedes Zeitalter bestreitet, worüber selbst der Mörder seines Vaters Scham empfindet“ (ebd., S. 413)].

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itas probet, / sed nulla taceat.“19 Und schließlich ruft ein Bote angesichts der von Atreus verübten Untat aus: „o nullo scelus! credibile in aevo quodque posteritas neget!“20 Dass Ödipus, Atreus und der Bote im Thyestes die Wahrheit sprechen, davon legen die beiden Tragödien selbst Zeugnis ab. Die aus dem Mythos (und der griechischen Tragödie) herausragenden Verbrechen werden dem römischen Theaterpublikum als der wiederholt evozierten Posterität vergegenwärtigt. Die Frevel erstehen auf der römischen Bühne erneut und erzeugen auch hier ihren unvergleichlichen, zeitlosen Schrecken. In dem Moment, in dem die Überzeitlichkeit der Übeltaten von den Figuren aufgerufen wird, ist sie performativ bewiesen. Anders als in den beiden mythologischen Tragödien formuliert sich das unvergessliche Böse hingegen in der Octavia. Sie ist dem – ebenfalls tragischen – Genre der fabula praetexta zuzuordnen, das Ereignisse der neueren und neuesten römischen Geschichte zur Aufführung bringt. Die Octavia ist als einziger Dramentext dieser Art vollständig überliefert. Im Zentrum steht Neros Absicht, seine Geliebte Poppea zu heiraten und in diesem Zuge seine gegenwärtige Ehefrau Octavia zu verstoßen, wobei die tragische Titelheldin am Ende hingerichtet wird. Im Verlauf des Dramas wird auf die historische Beispiellosigkeit von Neros Verbrechen verwiesen. Jedoch formuliert sich diese nicht in Zusammenhang mit Octavias Verbannung und Tötung, sondern vor dem Hintergrund von Neros Mord an seiner Mutter Agrippina. Es ist der Chor der römischen Bürger, der Octavia und ihrer Amme (sowie den Zuschauern) den Hergang des Muttermordes noch einmal vor Augen führt. Als es darum geht, dass sich Agrippina vor dem ersten Mordanschlag durch ihren Sohn, einem fingierten Schiffbruch, noch retten konnte, wendet sich der Chor in einem Einschub an die (noch) überlebende Agrippina und prophezeit ihr: „ferro es nati moritura tui / cuius facinus uix posteritas, / tarde semper saecula credent.“21 Es wird der Ausblick darauf gegeben, dass Neros Untat in ihrer Bösartigkeit für immer aus dem Geschichtsverlauf herausragen wird. Entscheidend ist dabei, dass Nero nicht nur einen ‚einfachen‘ Muttermord begeht, der für sich genommen schon ungeheu-

19 Lucius Annaeus Seneca: Thyestes. In: Seneca: Sämtliche Tragödien. Bd. 2, S. 106–181, hier S. 118, V. 192–3 [„Wohlan, mein Mut, verübe, was keine Nachwelt billigen, keine indes verschweigen kann.“ (ebd., S. 119)]. 20 Seneca: Thyestes, S. 158, V. 753–4 [„O Frevel, zu keiner Zeit glaubhaft und derart, dass ihn die Nachwelt bestreitet!“ (ebd., S. 159)]. 21 Octavia. In: Seneca: Sämtliche Tragödien. Bd. 1, S. 405–471, hier S. 428, V. 358–60 [„Du wirst durch deines Sohnes Schwert sterben müssen, dessen Untat kaum die Nachwelt, stets nur mit Zögern die Jahrhunderte glauben werden.“ (ebd., S. 429)].

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erlich wäre und gegen Recht, Macht und Moral verstoßen hätte. Vielmehr verdoppelt Nero seine böse Tat noch – „ingens geminatque nefas“22 –, als er Agrippina nach dem gescheiterten Schiffbruch von seinen Schergen erdolchen lässt. Mit dieser Verdoppelung übertrifft er den Frevel des einfachen Muttermordes noch und setzt neue, bisher ungekannte Maßstäbe. Der zeitliche Abstand zwischen dem Dargestellten und dem potentiellen Moment der Darstellung ist in der Octavia als fabula praetexta anders bemessen als jener in Senecas mythologischen Dramen. Den Beweis für das Fortleben des Grauens auch in der Nachwelt kann das römische Theaterpublikum für dieses Sujet, das ja der eigenen Zeitgeschichte entlehnt ist, kaum antreten. Vielmehr wird dem intendierten Publikum der Octavia mit dem Chor der römischen Bürger ein Abbild seiner selbst vorgeführt.23 Die Aussicht auf das Entsetzen zukünftiger Jahrhunderte, provoziert durch Neros maßlosen Frevel, bleibt hier Prophezeiung. Die Richtigkeit dieser Prophezeiung der römischen Bürger bezeugt schließlich Lohenstein mit seiner Agrippina. Ähnlich wie Seneca, der die griechischen Tragödien auf ihre Abgründe hin untersucht und so das Motiv des unvergesslichen Bösen ausgestaltet, verfährt Lohenstein in seinem römischen Trauerspiel mit diesem historischen Stoff. Er setzt der Verworfenheit des Kaisers Nero in all ihrer Negativität und Perversion ein mahnendes Denkmal, indem er ein eigenes „Greuelgemälde“24 entwirft, das in seinem Trauerspiel zur Aufführung gelangt. Dementsprechend erklärt Lohenstein in der Einleitung zu seinem Anmerkungsapparat der Agrippina: „GEneigter Leser. Es wird in gegenwertigem TrauerSpiele vorgestellet ein Schauplatz grausamster Laster / und ein Gemaelde schrecklicher Straffen.“25 Die Laster bezeichnet Lohenstein dabei nachdrücklich als „boßhaffte[] Gemuetts-Regungen“26, die im Sinne der Affektpathologie als böses Triebwerk im Inneren des Menschen walten. Besonders „Unkeuschheit

22 Octavia, S. 428, V. 363 [„[E]r verdoppelt die ungeheure Freveltat“ (ebd., S. 429)]. Eine Analyse dieses Verses liefert Lisa Cordes: Kaiser und Tyrann. Die Kodierung und Umkodierung der Herrscherrepräsentation Neros und Domitians. Berlin, Boston 2017 (Philologus. Supplemente 8), S. 218–219. 23 Dies war zutreffend, als das Stück noch Seneca zugeschrieben wurde, gilt aber ebenso für die Datierung des Werks auf die Zeit unter den Kaisern Galba oder Vespasian. Vgl. Joseph Smith: Flavian Drama. Looking Back with Octavia. In: Flavian Rome. Culture, Image, Text. Hg. von Anthony Boyle, William Dominik. Leiden 2003, S. 391–430, hier S. 403. 24 So bezeichnet Fuhrmann: Die Funktion grausiger und ekelhafter Motive, S. 45 Senecas Tragödien. 25 A Anm. Lohenstein, S. 166, Z. 2–3. 26 Ebd., Z. 7.

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und Ehren-sucht“27 wirken in den Protagonisten und treiben den dramatischen Konflikt voran. Dies hat zur Konsequenz, dass „[a]lleine beyden muß endlich Kind und Helle zum Hencker […] werden“28. Ausgangspunkt der Handlung, die sich über 24 Stunden erstreckt, ist eine Intrige gegen die Kaisermutter Agrippina, durch die sie am Hof machtpolitisch weiter in die Ecke gedrängt wird. Aufgrund ihrer prekären Situation geht Agrippina zum Äußersten und will ihren Sohn zum Inzest verführen, um ihn an sich zu binden. Dieses Wagnis wird im letzten Moment unterbrochen, woraufhin Nero den Entschluss fasst, Agrippina ermorden zu lassen. Nachdem der fingierte Schiffbruch, dem Agrippina zum Opfer fallen soll, scheitert, wird sie schließlich von Neros Schergen erdolcht. Während Agrippina ihr eigener Sohn zum „Hencker“ wird, wird Nero am Ende des Trauerspiels der „Helle“ überantwortet, die sein böses Gewissen foltert und gleichzeitig sein böses Gewissen ist. Die moraldidaktische Konvention des Trauerspiels wird hier expliziert: Die Laster, die auf eindringliche Weise vorgeführt werden, werden am Ende aufs Entschiedenste bestraft. Das Böse formuliert sich in der Agrippina als eine Genealogie aus Schuld und Verbrechen, die sich auf dem Schauplatz des Geschichtsdramas perpetuieren und übertreffen und schließlich den Verfall eines Weltreichs heraufbeschwören. Da die Laster der poetologischen Konvention aber auch dem Auto-Kommentar Lohenstein zufolge die so zu nennende Wurzel des Bösen darstellen, werden im Folgenden die Protagonisten in einem ersten Analyseschritt auf ihre „Unkeuschheit und Ehren-sucht“ hin untersucht. Durch sie wird die Katastrophe aus Inzest und Muttermord, die das Drama vorstellt, erst ins Werk gesetzt (Kapitel 5.1). Die Laster sind in der Figur Neros akkumuliert und finden im Kaiser buchstäblich ihre Krönung. Diese Aberration pflanzt sich in der Form eines circulus vitiosus – dem sprichwörtlichen Teufelskreis – auf dem Schauplatz des römischen Kaiserhofs immer weiter fort. Der Inzest, der in einem zweiten Schritt analysiert wird, ist geradezu der Inbegriff dieser widernatürlichen Kreisbewegung und stellt zugleich einen Extremfall der sittlichen Herausforderung dar, die in der Agrippina verhandelt wird (Kapitel 5.2). Die Blutschande bringt schließlich den Muttermord hervor, durch den sich diese pervertierte Schöpfung im Zirkelschluss selbst zu verschlingen verspricht (Kapitel 5.3). Die Untersuchung soll zeigen, dass das pseudo-senecaische Skandalon des doppelten Matrizids hier noch überboten wird, da sich der Muttermord bei Lohenstein scheinbar unendlich vervielfacht und damit die Wiederholung als eine

27 Ebd., Z. 3. 28 Ebd., Z. 5.

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Figur des Bösen vorstellt.29 Die Agrippina wird somit als eine scharfsinnige aemulatio des Seneca tragicus lesbar. Mit seiner Interpretation des Dramas der Laster und Leidenschaften schreibt sich Lohenstein in die senecaische Tradition von „Trauerspiel und Tragoediae“ ein, indem er sie zu überbieten sucht und verdient sich damit den Titel „unser Teutscher Seneca“.30 Jedoch gibt es auf dem moralischen Theater der Frühen Neuzeit, anders als bei Seneca, kein Laster ohne Bestrafung. Auf diesem „Schauplatz grausamster Laster“ muss das „Gemaelde schrecklicher Straffen“ folgen. Dieser Strafökonomie und -psychologie widmen sich die letzten beiden Unterkapitel der Untersuchung. So wird Nero in der Agrippina als Muttermörder vom Geist seiner verstorbenen Mutter heimgesucht, die ihm ewige Höllenqualen prophezeit. Um den Muttergeist zu versöhnen, konsultiert Nero den Schwarzkünstler Zoroaster und häuft so noch weitere Schuld auf seine Verbrechen (Kapitel 5.4). Neros Frevel des Muttermordes ist jedoch so groß, dass sogar die angerufenen bösen Geister ihren Dienst versagen. Stattdessen brechen aus dem Abgrund Furien und andere Quälgeister hervor, um Nero heimzusuchen und letztlich in die Hölle heimzuholen (Kapitel 5.5). Die Rachegeister stellen ihm seine gerechte, ewige Strafe in Aussicht, die sich dabei – und das ist die wahre Pointe des Trauerspiels – performativ mit der Aufführung bzw. Lektüre des Trauerspiels vollzieht. Denn die angemessene Strafe für das unvergessliche Böse, das Nero mit dem wiederholten Muttermord verübt hat, ist, dass seine Bosheit in die Geschichte eingeht und von der Historiographie, zu der im weiteren Sinne auch Lohensteins Geschichtsdrama gehört, bis in alle Ewigkeit tradiert und gerade dadurch abgestraft wird. Im Schlusstableau des Trauerspiels werden sowohl Neros Gewissen als auch sein Andenken der ewigen Verdammnis im virtuellen Geschichtsraum des barocken Theaters preisgegeben. Dies ist dann auch die Position, die Lohensteins historische Dichtung vom Bösen im Verhältnis zu seinem Prätext einnimmt: Die Darstellung des unvergesslichen Bösen ist gleichzeitig seine Strafe in effectu.

29 Alt: Tod der Königin, S. 141–142 bestimmt die Wiederholung als eine „bestimmte Form der Darstellung des Bösen in der Literatur der Frühen Neuzeit“, die von der Idee des Bösen als einem Produkt aus seiner Differenz zum Guten abweicht. Stattdessen spiegelt diese „repetierende Figuration des Bösen“ (Alt: Ästhetik des Bösen, S. 258) dessen Reproduktionszwang wider. 30 Vgl. Ingo Stöckmann: Entäußerungen. Über Schrift und Körper im Barock. In: Text + Kritik 154: Barock. Hg. von Ingo Stöckmann. München 2002, S. 5–21, bes. S. 6–7, der darin ganz allgemein eine eigens ‚barocke‘ „Schreiboperation“ ausmacht, die zwischen imitatio und aemulatio der „klassischen“ antiken Autoren und ihrer Werke changiert.

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5.1 Wie die Mutter, so der Sohn: Neros und Agrippinas Selbstinszenierungen im Machtgefälle Die Szenen, in denen die beiden Protagonisten Nero und Agrippina jeweils zum ersten Mal auftreten, sind als Selbstinszenierungen arrangiert, mit denen sich die beiden Figuren im höfischen Machtgefälle verorten. Während Nero seine eigene Apotheose als Kaiser feiert, stellt sich Agrippina ihrerseits geradezu diametral entgegengesetzt als von der Fortuna Gefällte dar. In der Selbstdarstellung als einem Vexierspiel von Sein und Schein tritt die spezifische Lasterhaftigkeit der jeweiligen Figur deutlich hervor. So stellt sich Nero in seinem Monolog, der das Trauerspiel eröffnet, in seiner imperialen Glorie aus, erscheint dabei jedoch vielmehr im Lichte seiner depravierten Kreatürlichkeit – neben der superbia verfügt Nero über eine ausgeprägte Neigung zur luxuria – und ist von Anfang an als malus princeps und moralisch als böser Mensch exponiert. Agrippina tritt erstmalig in der vierten Szene des Dramas auf und beklagt gegenüber der Kaisergattin Octavia ihre Position im Abseits des Hofes und der Macht. Diese Selbstdarstellung als Marginalisierte und Degradierte steht ihrerseits im Dienste ihres politischen Kalküls, da sie Mitleid und Gunst der Kaiserin erwerben möchte, um sich selbst in ihrer prekären Lage abzusichern. Agrippina erscheint als unverbesserliche Meisterpolitikerin, der im Kampf um Macht und Selbstbehauptung nichts heilig ist. Die folgende Auseinandersetzung mit diesen Selbstinszenierungen soll zeigen, dass die Lasterhaftigkeit von Nero und Agrippina die notwendige Voraussetzung für die Katastrophe von Inzest und Muttermord ist und so zum dramaturgischen Triebwerk des Trauerspiels wird, in dem das Böse sich als eine Genealogie aus Verbrechen und Schuld entwickelt.

5.1.1 „SO ist’s“: Neros Eröffnungsmonolog als apotheotisches Theater Die Agrippina wird eröffnet von einem Monolog Neros, in dem der (Selbst-)Inszenierungshabitus des Kaisers zur Anschauung gebracht wird. Der Kaiser formuliert hier ein Lob auf sich selbst, in dem er ganz buchstäblich alles in den Schatten stellt. Nero beginnt seine „Tyrannenprahlrede“31 mit den Worten: „SO ists! Die Sonn’ erstar’t fuer unsers Hauptes Glantz / Die Welt fuer unser Macht.“ (A I, 1–2) In diesen ersten beiden Versen konvergiert die Bildsprache des barocken Absolutismus mit dem biblischen Schöpfungsakt, der sich durch göttli-

31 Bernhard Asmuth: Lohenstein und Tacitus. Eine quellenkritische Interpretation der Nero-Tragödien und des Arminius-Romans. Stuttgart 1971 (Germanistische Abhandlungen 36), S. 186.

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ches Sprachhandeln vollzieht: „VND Gott sprach / Es werde Liecht / Vnd es ward Liecht.“ (1 Mose 3)32 Nero wiederholt durch seine Selbstinszenierung im Mikrokosmos des Schauplatzes diesen Sprechakt selbst performativ, mit den Mitteln des Theaters: Während er diese ersten Worte spricht, wird die Bühne gleichsam zum ersten Mal erleuchtet. Als Lichtbringer stellt sich Nero eigenmächtig auf eine Stufe mit dem Gott der Schöpfung, wodurch seine sprachliche Geste luziferische Züge erhält. Auch ist der biblische Schöpfungsakt selbst hier gleichsam pervertiert: Während Gott in seinem absoluten Sprechakt die Welt überhaupt erst belebt, erstarrt sie vor Nero. Diese „Erstarrung des Todes“33 stellt ein weiteres diabolisches Motiv vor, da im Sündenfall mit dem Bösen auch der Tod erst in die Welt gekommen ist. Analog ist nach Neros Aussage die Welt in den Zustand des rigor mortis versetzt, der auf die Herrschaft des Todes als Herrschaft des Bösen deutet. Dies sind die Voraussetzungen, unter denen das Trauerspiel einsetzt und somit von Beginn an seinen Protagonisten inszenatorisch ins ‚rechte‘ Licht setzt. Lohenstein bedient sich hier jedoch nicht nur am Repertoire christlicher und absolutistischer Imaginationen universaler Herrschaft, sondern schöpft ebenso aus der neronischen Panegyrik sowie aus dem kritischen Diskurs um Neros Kaisertum, um die (Selbst-)Inszenierung zu fundieren. Die historiographischen Berichte von Tacitus, Sueton und später Cassius Dio, die Lohenstein allesamt als Quellen für die Agrippina anführt, weisen dem Skandalon um Neros Ambitionen als Theaterschauspieler eine zentrale Rolle zu. Der Status des Schauspielers und seines auf einer öffentlichen Bühne ausgeübten Berufs wurde in der römischen Gesellschaft als grenzwertig und schändlich angesehen. Schauspieler waren deshalb mit dem Stigma der infamia behaftet, wodurch ihnen der Status und die Rechte eines römischen Bürgers aberkannt wurden. Neros Entscheidung, über mehrere Jahre hinweg als Schauspieler und Sänger aufzutreten, wurde von der Elite als eine provokante Verkehrung der römischen Werte und Normen empfunden.34 Vor diesem Hintergrund bringt sich Lohensteins Nero allein durch seine Selbstinszenierung auf der Bühne des barocken Trauerspiels in Verruf und stellt sich als infam aus.

32 Diesen Zusammenhang hat bereits Christopher Wild: Neros Kaiserschnitt. Das Phantasma der Selbstgeburt absoluter Macht in Lohensteins „Agrippina“. In: Kunst – Zeugung – Geburt. Hg. von Christian Begemann. Freiburg im Breisgau 2002 (Litterae 82), S. 111–149, hier S. 111–116. erarbeitet. Auch er spricht den Inszenierungscharakter von Neros Selbstsetzung im Eröffnungsmonolog an, geht dabei jedoch nicht auf die spezifische Theatralität ein, die Neros Rede eingeschrieben ist. 33 Auch Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 112 erkennt darin eine „Äußerung des Todestriebs“. 34 Siehe hierzu Harriet Flower: The Art of Forgetting. Disgrace and Oblivion in Roman Political Culture. Chapel Hill 2011 (Studies in the History of Greece and Rome), S. 203.

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Auch der Vergleich des Herrschers mit dem Morgenstern Lucifer ist ein beliebter Topos der panegyrischen Dichtung. In seiner menippeischen Satire Apokolokyntosis, die den Tod des Kaisers Claudius, Neros Vorgänger, parodiert, vergleicht Seneca Neros Inthronisation mit dem Aufstieg des Morgensterns, der die Sterne der Nacht (hier als Metapher für Claudius und seine Schergen) verjagt: „qualis discutiens fugientia Lucifer astra“35. Selbstverständlich ist Senecas Lucifer nicht derjenige der christlichen Mythologie, wo der Morgenstern seine positive Konnotation einbüßt und zur Repräsentationsfigur des Bösen erwächst.36 Und doch lässt sich, wie im Folgenden gezeigt wird, an diesem Beispiel die Ambivalenz nachvollziehen, die solchen Topoi inhärent ist. Dass Lohenstein gerade diese Ambivalenz für die Konzeption seiner Nero-Figur produktiv macht, soll die weitere Auseinandersetzung mit der zweifelhaften Selbstdarstellung veranschaulichen.37 Durch die Ambivalenz nämlich vermisst Lohenstein die Distanz zwischen Herrscherlob und kaiserlicher superbia und kann so die Figur Nero gerade in ihrer Abgründigkeit – ihrer Vermessenheit – ausleuchten. In der lateinischen Antike gilt Lucifer als der Vorreiter des Sonnengotts Sol (griechisch Helios). Senecas Herrscherlob in der Apokolokyntosis kulminiert sodann auch im Vergleich Neros mit dem Lenker des Sonnenwagens: „qualis […] Sol aspicit orbem lucidus et primos a carcere concitat axes“38 Nero wird zu Sols „alter ego”39 auf der Welt. Die (Selbst-)Darstellung des Kaisers als Sol verfügt

35 Lucius Annaeus Seneca: Apokolokyntosis. Lateinisch – Deutsch. Hg. und übersetzt von Gerhard Binder. Berlin 1999, 4.25, hier: S. 14; [„Gleich wie Lucifer, wenn er die fliehenden Sterne verscheucht“ (ebd., S. 15)]. 36 Vgl. zur Lucifer-Figur von der römischen Antike bis ins Mittelalter den Abriss bei Lukas Kundert: Art. Lucifer. In: Enzyklopädie der Antike. Hg. von Hubert Cancik, Helmuth Schneider, Manfred Landfester. Stuttgart, Weimar 1999. Bd. 7, Sp. 461. Im Folgenden wird diese Ausgabe unter der Sigle DNP mit Band- und Spaltenangabe zitiert. Zur christlichen Motivgeschichte Lucifers in der Literatur der Neuzeit siehe Osterkamp: Lucifer. 37 Dass die Ambivalenz maßgeblich für Lohensteins Menschenbild ist (sowie für die Vorstellung der geistigen Ordnung, die seine Dramen vermitteln, und sein allegorisches Verfahren), darauf verweist Alt: Begriffsbilder, S. 272. Agrippina ist nach Cleopatra das zweite Trauerspiel, das diese Ambivalenz der tragenden Figuren in den Vordergrund stellt, während Lohensteins Erstling Ibrahim Bassa noch eine strikt antagonistisch geordnete Figurenkonstellation präsentiert und damit eher am Vorbild Gryphius orientiert ist. 38 Seneca: Apokolokyntosis, 4.28–29, S. 14 [„gleichwie Sol den Erdkreis erblickt strahlend und das frische Gespann aus den Schranken hervorjagt“ (ebd., S. 15)]. 39 Sigrid Mratschek: Nero the Imperial Misfit. Philhellenism in a Rich Man’s World. In: A Companion to the Neronian Age. Hg. von Emma Buckley, Martin Dinter. Malden 2013, S. 45–62, hier S. 50. Der Hinweis, dass Seneca zudem bei Neros Inthronisierung die theatrale Inszenierung des neuen Kaisers als Sol in den Ablauf der Feierlichkeiten integriert haben soll, findet sich ebenfalls dort.

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über eine lange Tradition. Schon Augustus, als Ideal des bonus princeps, bediente sich der solaren Symbolik, um seine Nähe zum Sonnengott als dem Beobachter der Menschenwelt und Erhalter der kosmischen Ordnung auszustellen. Diese Verwandtschaft des Herrscherkults zum Sonnenkult hat hellenistische Wurzeln, sodass eine Berufung der römischen Kaiser auf Helios/Sol die eigene Herrschaft als Nachfolge der griechischen Welt-Herrschaft legitimieren sollte. Alexander der Große soll schließlich selbst die Rolle des „Neuen Helios“ auf dem Theater gespielt haben.40 Bei Lohenstein rühmt sich Nero in seinem Eröffnungsmonolog direkt im Anschluss an sein Machtwort „SO ists“ im rhetorischen Überbietungsgestus auch die Herrschaft der Griechen, d. h. die Alexanders, noch zu übertreffen: Des Ninus Sieges-Krantz Verwelck’t fuer unserm Ruhm: Cyaxarens Geluecke Muß fur des Kayesers Sieg den Krebsgang gehn zuruecke / Und Nerons Blitzen faeng’t der Grichen Lorbern weg. (A I, 2–5)

Mit der Abfolge aus Ninus, Kyaxeres und den Griechen ist hier die biblische Vorstellung der vier Weltreiche, d. h. die translatio imperii, aufgerufen, die im Buch Daniel entwickelt ist: Auf das babylonisch-assyrische, hier repräsentiert durch Ninus, folgt das persisch-medische, vertreten durch Kyaxares, und darauf das griechische und schließlich das Römische Reich. Hatte Alexander Medien erobert, so übertrifft Nero noch die (Welt-)Herrschaft der Griechen und deren universalistischen Ansprüche. Die Erweiterung seines Machtbereichs nimmt kosmische Dimensionen an, indem Rom sich als „zu tief“ (A I, 6) und die Welt sich als „zu klein zum Schauplatz uns’rer Wercke“ (A I, 7) erweist. Nero stellt sich außerdem auf eine Stufe mit Jupiter, der als Einziger dazu fähig ist, Blitze auf die Erde zu werfen. Vielmehr übertrifft Nero sogar noch Jupiter, da es ihm ja gerade gelingt, „der Grichen Lorber“ zu versengen. Schließlich galt in der Antike die Überzeugung, dass der Lorbeerbaum geschützt vor Blitzeinschlägen sei und vice versa vor Blitzen schütze. Indem Nero den Lorbeer anzündet, präsentiert er sich als noch mächtiger als der Göttervater, den er mit seinen eigenen Waffen, den Blitzen, schlägt. Nero verletzt damit ein Naturgesetz (Lorbeer schützt vor Blitz) und greift gleichzeitig den Göttervater in seiner Immunität an. Neben Jupiter war der Lorbeer auch Apoll zugeordnet.41 Dieser wiederum wird mit dem Beinamen „Phoebus“, „der Leuchtende“, als Lichtgott mit Helios gle40 Diesem Beispiel ist bereits Neros Onkel Caligula gefolgt, siehe Mratschek: Nero the Imperial Misfit, S. 49. 41 Zu Lorbeer und Blitz als beliebtem Sinnbild bei Lohenstein und dessen antike Quellen wie etwa Plutarchs Quaestiones convivales, siehe Schöne: Emblematik und Drama, S. 90–101.

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ichgesetzt. So wie Nero Jupiter lästert, überbietet und gar angreift, so erhöht er sich auch über die Sonne. Dass er den (Sonnen-)Gott mit der Selbstsetzung seiner Macht überstrahlt, ist schon mit seinem Machtwort gesetzt: „SO ists! Die Sonn’ erstar’t fuer unsers Hauptes Glantz / Die Welt fuer unser Macht.“ Nero setzt sich hier selbst noch höher als die Sonne. Diese Unterwerfung der Sonne ist als ein Verstoß sowohl gegen das Naturgesetz – schließlich ignoriert er damit nicht zuletzt die kopernikanische Wende – als auch gegen das ihm zugrunde liegende transzendente Ordnungsprinzip zu verstehen. Hier formuliert sich der universalistische Machtanspruch Neros auf eindringliche Weise, da er verspricht, weder Gott noch Natur als Bedingungen und Grenzen seiner Macht anzuerkennen. Physik und Metaphysik sind unter seiner Herrschaft gleichsam suspendiert. Das Kaisertum ist zur Tyrannei entartet und Nero ist ihr malus princeps, der sich den gesamten Kosmos unterwerfen will.42 Deshalb ist in der Agrippina auch nicht, wie Rüdiger Campe nahelegt, an der Figur Nero ein „Übergang vom guten Herrscher zum bösen, vom pater patriae zum Tyrannen, vom geleiteten zum selbstherrschenden Imperator/ Souverän“43 dargestellt. Stattdessen ist schon im Eröffnungsmonolog Neros entschiedene Neigung zum Bösen exponiert. Lohensteins Nero erscheint vor diesem Hintergrund geradezu wie ein zynischer Kommentar auf Senecas Nero aus der Satire. Deren titelgebender Neologismus Apokolokyntosis, die allgemein als „Verkürbissung“ übersetzt wird, fungierte als boshaftes Wortspiel, das an die Tendenz des Kaisers (Claudius) zur Apotheose, zur Vergottung gemahnt.44 Der neue Kaiser Nero wurde vor diesem Hintergrund zum sprichwörtlichen Silberstreif am Horizont stilisiert, der als Lenker des Sonnenwagens endlich Licht ins Dunkle der Tyrannei bringt. Dass Nero diese Erwartungen jedoch enttäuscht, weil auch er nach der unlauteren Apotheose strebt und sich zu Lebzeiten mehr als gottgleich inszeniert, weiß später die nero-kritische Geschichtsschreibung zu berichten. In diese kritische Traditionslinie – zu der auch die pseudo-senecaische Octavia als fabula praetexta zu zählen ist – schreibt sich Lohenstein mit seiner Agrippina ein. Durch sie ist sein Trauerspiel gerahmt. So stellt Lohenstein dem Text ein Motto aus 42 Zum Terminus des malus princeps, der als Synoynm für tyrannus in der römischen Literatur zunehmend Verwendung fand, siehe Ruurd Nauta: Mali principes. Domitian, Nero und die Geschichte eines Begriffes. In: Nero und Domitian. Mediale Diskurse der Herrscherrepräsentation im Vergleich. Hg. von Sophia Bönisch-Meyer, Lisa Cordes, Verena Schulz. Tübingen 2014 (Classica Monacensia 46), S. 25–38. 43 Rüdiger Campe: Der Befehl und die Rede des Souveräns im Schauspiel des 17. Jahrhunderts. Nero bei Busenello, Racine und Lohenstein. In: Übertragung und Gesetz: Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechniken von Institutionen. Hg von Armin Adam. Berlin 1995, S. 55–71, hier S. 61. 44 Vgl. Seneca: Apokolokyntosis, S. 93.

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Tacitus’ Annales voran und in seinem Anmerkungsapparat dominieren, neben den Büchern 13 und 14 der Annalen, Suetons Nero-Biographie und Cassius Dios Rhōmaïkē historia als Bezüge. Da Lohensteins Nero selbst die ihm gewidmeten Lobreden zitiert und ostentativ als Eigenlob überformt, ist er von Anfang an in seiner Hybris entblößt. Der einstige Morgenstern ist als hochmütiger Lucifer entlarvt, während hinter dem Sonnengott Helios/Sol der anmaßende Phaeton hervorscheint, der wiederum eine antike Figuration des christlichen Teufels ist.45 Nero, der malus princeps, ist damit dämonisiert. In diese Reihe der diabolischen Figuren fügt sich auch die Vorstellung von Nero als Antichrist ein. Nicht nur wegen seines Drangs zur inszenierten Apotheose, die der Idee des Nero redivivus zugrunde liegt, sondern auch als erster Christenverfolger war Nero prädestiniert, zur prominentesten Figuration des Antichristen zu werden.46 Da auch Lohensteins Nero verweigert, nur Stellvertreter von Gottes Gnaden auf Erden zu sein, findet sich in ihm auch der Grundsatz der politischen Theologie pervertiert: Der Kaiser als figura et imago Christi et Dei ist in Nero zur figura et imago Antichristi geworden.47 Antike und frühneuzeitliche Vorstellungen sind hier miteinander korreliert, um Nero deutlich in seiner superbia auszustellen, die über mythologische Größe verfügt. Der Umstand, dass einer Figur ihre eigene literarische Tradition präsent ist so wie Lohensteins Nero die ihm gewidmete Panegyrik, ist auch ein besonderes Merkmal der senecaischen Tragödien. Senecas lasterhafte mythologische Helden schöpfen ebenfalls aus ihrer eigenen Kultur- und Literaturgeschichte und wollen diese gar übertreffen.48 Lohenstein scheint dieses poetische Verfahren des Seneca tragicus zu adaptieren und stellt seinen Nero damit in eine literarhistorische Ahnenreihe mit Senecas bösen Protagonisten. Das unvergessliche Böse, dessen auch Lohensteins Nero sich im Muttermord schuldig machen

45 Darauf wurde bereits im Kapitel zum Leo Armenius verwiesen. Siehe auch Osterkamp: Lucifer, S. 90. 46 Die Vorstellung vom Antichristen als Nero redivivus geht auf Sueton: Nero, 57 zurück und steht in der Offenbarung des Johannes (Offb 17,8–10) gerade für die götzenhafte Verehrung des römischen Kaisers, die dem christlichen Monismus deutlich entgegengesetzt ist. Als Christenverfolger ist Nero sowohl bei Tacitus: Annalen, 15, 38–44 als auch bei Sueton: Nero 16, 2 ausgewiesen. 47 Auf diese Inversion in der kulturellen Imagination der Frühen Neuzeit hat bereits Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 142 hingewiesen. Dass die Bezeichnung des Souveräns als „Nero“ in der Frühen Neuzeit den Herrscher nicht nur als moralisch verwerflich, sondern sogleich als unchristlich verurteilte, bemerkt Campe: Der Befehl und die Rede des Souveräns, S. 61–62. 48 Einen Überblick dazu liefert Meike Rühl: Art. Seneca. Tragoediae. In: Kindlers Literatur Lexikon. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. Bd. 14. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart u. a. 2009, S. 761–762, hier S. 762.

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wird, kündigt sich damit schon hier leise an. Neros Eröffnungsmonolog ist dementsprechend als vielverheißende expositio komponiert, in der seine Bosheit – nicht seine fürstliche Glorie – ihre Schatten vorauswirft. Ebenfalls in dieses Spektrum einzuordnen ist Neros Aussage „Saturnus gueld’ne Zeit ist gegen dieser eysern.“ (A I, 11) Er glorifiziert damit seine eigene Herrschaft als ein hyperbolisch alles übertreffendes, durch ihn neuerstandenes goldenes Zeitalter. Mit der im antiken Fürstenlob durchaus gängigen Evokation der aurea aetas wird ein Gegenmodell zum Schema der Dekadenz entwickelt, auf dem der griechisch-römische Mythos der Weltzeitalter basiert.49 Im Überbietungsvergleich mit Saturn, dem eigentlichen Schöpfer des paradiesischen goldenen Zeitalters, stellt sich Lohensteins Nero wiederum als mehr denn göttlich dar. Hatte Nero zuvor seine Potenz im kosmischen Raum vermessen, so tut er dies nun temporal, indem er sich an Saturn als dem Gott der Zeit misst und ihn in seiner Schöpfungsgewalt übertreffen will. Damit setzt Nero auch innerweltlich neue Maßstäbe und überflügelt wiederum seine imperialen Vorgänger: „Sieg / Friede / Wolstand hat bey allen andern Kaeysern / Nie / wie bey uns geblueh’t“ (A I, 12–13) Der frühneuzeitliche Rezipient als Kenner der (Welt-)Geschichte kann Neros Behauptung jedoch als Falschaussage entlarven. Dass das Römische Reich unter Kaiser Augustus zu seinem Höhepunkt geführt, unter Nero jedoch dem Verfall preisgegeben wurde, erwähnt nicht zuletzt Diego de Saavedra Fajardo, um gerade Aufstieg und Fall der Weltreiche zu illustrieren: Griechenland war vor diesen in voller bluet / so wol an waffen als an kuensten / und hatte Roem genug zu lernen / geschweige zu erdencken / nun aber ligt es in der groesten unwissenheit und verachtung. Zurzeit Augusti, der verstandt aller sambt vnnd betraf menschen hoffnung / von Neronis zeiten aber fieng alles zufallen50

49 Der Mythos der Weltzeitalter als Entwicklung von einer paradiesischen, goldenen Zeit ohne Krankheit und Arbeit hin zu dem von Verbrechen und moralischer Depravation gekennzeichneten eisernen Zeitalter, das in der römisch-griechischen Antike den aktuellen Zustand beschreibt, geht zurück auf Hesiod und findet in der römischen Literatur seine wohl prominenteste Ausformulierung bei Ovid. Vgl. Hartwig Heckel: Art. Zeitalter. In: DNP, Bd. 12/2, Sp. 706–710. 50 Diego de Saavedra Fajardo: Ein Abriss eines Christlich-Politischen Printzen in 101 Sinn-Bildern und mercklichen Symbolischen Spruechen. Zuvor auss dem Spanischen ins Lateinisch: nun ins Deutsche versetzt von Johan Janssonio, dem Jüngern. Amsterdam 1655, Sinnspruch 87, S. 827 [„Floreciò Grecia en las armas, y las artes, diò à Roma, que aprender, no que inventar, y oi yaze en profunda ignorancia, y vileza. En tiempo de Augusto colmaron sus esperanzas los ingenios, y desde Neron comenzaron à caer” (Diego de Saavedra Fajardo: Idea de un Príncipe Político Christiano representada en cien empresas. München 1640, S. 343)]. Die Bedeutung des Moralisten Saavedra Fajardo und seiner Interpretation der translatio imperii für Lohensteins Geschichtskonstruktion hat grundlegend Karl-Heinz Mulagk: Phänomene des po-

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Lohenstein scheint Saavedra Fajardo geradezu zu zitieren, da er ja Nero das Wort von der Blüte der Weltreiche in den Mund legt: „Nie / wie bey uns geblueh’t“. Die Diskrepanz zwischen historischer „Wahrheit“ und Selbsterhebung wird nur noch weiter ausgebaut. Auch die Referenz auf den mythologischen Saturn ist in ihrem Gehalt höchst ambivalent, da dieser sowohl für das goldene Zeitalter als auch für eine von Inzest, Familienmord und Kannibalismus gekennzeichnete Welt steht. Das goldene Zeitalter, die Herrschaft von Kronos/Saturn, war gerade auf Familienmord begründet und verweist damit auf eine Schöpfung, die sich gegenseitig abtötet und gar selbst verschlingt.51 Schließlich wird der mythologische Saturn, wie auch Lucifer und Phaeton, ebenfalls von der christlichen Tradition einverleibt. Dabei ist nur die Namens- und Wesensverwandtschaft von Saturn und Satan zu bedenken, die beide als gestürzte Dämonen die Unterwelt bewohnen. Wenn Nero also behauptet, er würde noch „Saturnus gueld’ne Zeit“ übertreffen, schreibt er sich damit einen mehr als zweifelhaften Ruhm zu. Das Trauerspiel wird im weiteren Verlauf zeigen, dass Nero viel eher geneigt ist, die kosmischen Verbrechen Kronos-Saturns auf dieser Welt zu wiederholen durch Blutschande, Matrizid und quasi-anthropophage Tilgung des mütterlichen Leichnams und Andenkens. Neros Herrschaft wendet damit das Bild vom goldenen Zeitalter ins Negative, gibt es der Herrschaft des Bösen preis und leitet damit schließlich den (Ver-)Fall des Römischen Reichs ein. Die Dekadenzbewegung geht mit moralischem Niedergang einher, der sich am deutlichsten an der Ostentation der materiellen Prosperität manifestiert, mit

litischen Menschen im 17. Jahrhundert. Propädeutische Studien zum Werk Lohensteins unter besonderer Berücksichtigung Diego de Saavedra Fajardos und Baltasar Graciáns. Berlin 1973 (Philologische Studien und Quellen 66), S. 184–190; 324–332 erarbeitet. Zu Lohensteins Verwendung der translatio-Vorstellung im Dienste seiner habsburgischen Panegyrik, siehe Wichert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz, S. 135–139. Das glorreiche Beispiel des Augustus ist erwiesenermaßen niemals einzuholen, da es auch in Lohensteins Gegenwart nicht an Strahlkraft verloren hat: Auch der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation trägt schließlich noch den Titel „Dei gratia imperator Augustus“, wodurch der Status des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als rechtmäßige Nachfolgerin des Römischen Reiches legitimiert ist. Da Augustus als Präfiguration und Verkünder Jesu gedeutet wurde, konnte das Deutsche Reich das augusteische Erbe als heilige Monarchie antreten. Der Kontrast zwischen Augustus und Nero verschärft sich auch auf dieser eschatologischen Ebene, da Nero ja den Antichristen figuriert. Da es sich beim Antichristen letztlich um eine apokalyptische Figur handelt, ist wiederum auf die Vorstellung der Weltzeitalter verwiesen, da seine Präsenz auf der Welt die Erwartung der Endzeit beschwört. 51 Kronos-Saturn hat seinen eigenen Vater Uranos getötet, um an die Macht zu gelangen, und später seine eigenen Kinder verzehrt, die er mit seiner Schwester Rheia gezeugt hatte. Vgl. Gerhard Baudy: Art. Kronos. In: DNP, Bd. 6, Sp. 864–870.

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der Nero wiederum sein eigenes angeblich mehr als goldenes Zeitalter illustriert. Darin nämlich findet sich sein Überbietungsgestus pointiert: In seiner Selbstdarstellung verwirklicht er nicht nur die Utopie des vermeintlichen goldenen Zeitalters, sondern erweitert sie noch um den materiellen „Wolstand“ (A I, 12). Dieser beschreibt eine weitere Kippfigur des panegyrischen und kritischen Diskurses um Neros Herrschaft, die sich entlang der dichotomischen Begriffe magnificentia und luxuria formuliert.52 Nero rühmt sich der Zurschaustellung des Wohlstandes im Sinne der magnificentia, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie dem allgemeinen Wohl dienlich und als Allgemeingut allen zugänglich ist. Öffentliche Spenden und Steuersenkungen bringen „Den Buergern Lufft / uns Gunst“ (A I, 23) und auch „Der neue Schauplatz gib’t dem Volck Erlustigung“ (A I, 21). Dieser „neue Schauplatz“ korrespondiert mit dem Beginn des Monologs, wo „Die Erde sich zu klein zum Schauplatz uns’rer Wercke“ erwiesen hatte. Mit dem Amphitheater schafft sich Nero also sein eigenes Welttheater und feiert dort seine unlautere Apotheose. Diese ist durch den Eröffnungsmonolog, der ja mit dem performativen Sprechakt der Lichtwerdung einsetzt, ins Trauerspiel transponiert und gelangt auf dem nunmehr frühneuzeitlichen Schauplatz des Breslauer Schultheaters zur Aufführung. Es zeigt sich, dass sich in Neros Eröffnungsmonolog gleichsam mit den Mitteln des Theaters, also durch den gezielten Gebrauch des Lichteffekts und der Meta-Referenz des Schauplatzes, eine Theaterkritik bzw. eine Dialektik des Theatralen formuliert, die eine Inszenierungspraxis um ihrer selbst willen, wie sie sich in Neros Drang zur verwerflichen Selbstdarstellung manifestiert, von vornherein disqualifiziert. Doch auch hinter den Kulissen sieht es anders aus als Nero sein Publikum glauben machen will. Dies verrät das Kaiserlob Othos, das sich in der zweiten Szene des Trauerspiels unmittelbar an Neros Eröffnungsmonolog anschließt. Hier möchte Otho, „[e]in edler Roemer“53, dem Kaiser seine Gattin Sabina Poppea schmackhaft machen, wodurch er sich Vorteile am Hof verspricht.54 Otho greift dafür Neros vermessenes Eigenlob auf, indem er die fürstliche Heliozentrik evoziert und diese mit der luxuria, die ja sowohl Luxussucht als auch Wollust bezeichnet, kurzschließt. So affirmiert Otho zuerst schmeichelnd Neros Position als

52 Diese konkurrierenden Diskursformationen finden sich bei Cordes: Kaiser und Tyrann, S. 19–34, bes. S. 29 für die römische Literatur aufbereitet. 53 A, S. 13 (Personenverzeichnis). 54 Otho zeigt sich hier als politischer Opportunist, der bereit ist, alles, auch seine Gattin, zu veräußern, um in eine Machtposition zu gelangen. Otho verspricht sich, durch die Verkuppelung von Nero mit seiner Frau über Poppea Einfluss auf den Kaiser zu erlangen. Dies gibt er später im Dialog mit Agrippina und Octavia zu: „Wer arm von eignem Ruhm / Such’t aus des Weibes Werth nur frembdes Eigenthum.“ (A II, 373–374).

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„die Sonne /die ihr Licht uns schenket“ (A I, 42–43). Er stellt somit sicher, dass der Kaiser ihm wohlgesonnen ist, wenn er anschließend seine taktischen Zweifel an seiner kosmischen Strahlkraft hervorbringt: „Allein ich zweiffle fast: / […] Dem Kaeyser nicht entgeh / was nicht mit sueßem Blicke / Manch Buerger schauen kan.“ (A I, 45–48) Otho lenkt Neros Blick auf Poppea, indem er suggeriert, dass dem Kaiser als imperialer Sonne, die alles überstrahlt, gerade etwas verborgen ist, was seine Untertanen jederzeit schauen und genießen können.55 Damit provoziert Otho den Kaiser in seinem universalen Machtanspruch, aber auch in seiner luxuria. Denn zum einen stellt er Nero seine Frau gerade als ein Allgemeingut vor, das ausgerechnet dem Kaiser nicht zugänglich ist, zum anderen reizt er ihn gerade zur Schaulust, die moraltheologisch als concupiscentia oculorum sowohl mit der Wollust als concupiscentia carnis als auch der superbia verwandt ist.56 Der Ausgangspunkt von Othos so zu nennender Verführungsrede ist nach dem Motto „Liebe geht durch den Magen“ der Verweis auf die opulenten kaiserlichen Bankette. Diese zeugen gerade von Neros ausschweifender Lebensart, von Luxussucht und Hybris, und entblößen so die moralische Verwerflichkeit und Verkommenheit seiner Herrschaft. Die vermeintliche fürstliche magnificentia ist hier zweifellos zur luxuria entartet. Nero unterscheidet sich gerade von seinen Untertanen, von „Volck“ und „Buergern“, da er der exklusiven „Kaeyserlichen Lust“ (A I, 67) frönt, die jegliches sittliche Maß übersteigt. Nach der Aufzählung der Lustbarkeiten und Luxusgüter – von „Phaenicopter Zungen“ (AI, 51) bis zu „wolrichend Ambra“ (A I, 69) – mit denen für das leibliche Wohl

55 Dass Otho Nero hier auch in seinem absoluten Machtanspruch reizt, indem er die politische „Heliozentrik auf das Feld der Erotik“ überträgt, erarbeitet Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 115. 56 Ausgehend von 1. Joh. 2,16 („Denn alles was in der Welt ist / (nemlich des Fleisches lust ist Hurerey. Augenlust ist Geitz vnd reichthum. Hoffertig leben / ist ehrgirigkeit / gewalt / lob / vnd oben aus faren. / vnd der Augen lust / vnd hoffertiges Leben / ist nicht vom Vater / sondern von der welt.“) formuliert sich im Kontext der augustinischen Sündenlehre (vgl. Aurelius Augustinus: Bekenntnisse [Confessiones]. Lateinisch – Deutsch. Übersetzt von Wilhelm Thimme. Mit einer Einführung von Norbert Fischer. Berlin 2004, lib. X, cap. 41, S. 484) die Trias aus concupiscentia carnis, concupiscentia oculorum und ambitio saeculi (als Synonym der superbia), die für die Versuchungen des weltlichen Lebens steht. Die concupiscentia oculorum wurde seither sowohl mit der curiositas gleichgesetzt als auch mit der avaritia, die sich beide als ein Haben-Wollen, entweder von Wissen oder von anderen Gütern, manifestiert. Diese moraltheologischen Implikationen sind für die Konzeption von Lohensteins Nero durchaus von Bedeutung, der sich ja aller drei Formen der Begierde schuldig macht. – Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 116 entgeht dieser Aspekt in seiner Analyse der Szene scheinbar, obwohl er explizit auf Neros „okulare[s] Begehren“ verweist und damit fast wörtlich die concupiscentia oculorum anspricht.

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des Kaisers gesorgt wird, überführt Otho die luxuria in das erotische Register, indem er Nero Poppea als ein weiteres (Luxus-)Gut anpreist, das es sexuell zu besitzen gilt. Im Kaiser gedeiht der Luxus erfolgreich zur Wollust, sodass Nero neugierig fragt: „Und wer geh’t der Wollust-Libgen Bahn Vergnuegter / als der Fuerst?“ (A I, 82–83) Der vermeintliche „Wolstand“, der für mehr als goldene Zeiten stand, ist als Wollust entlarvt. Durch die kaiserliche luxuria wird die Handlung des Trauerspiels überhaupt erst ins Werk gesetzt. Das Laster ist das dramaturgische Triebwerk des Trauerspiels. So sind sich auch die allegorisierten Laster im ersten Reyen ihrer katalytischen Wirkung auf dem Welttheater als Schauplatz der Geschichte durchaus bewusst, wenn sie provokativ fragen: „Sind ihrer [der Mächtigen] viel durch dich [die Gerechtigkeit] zum Zepter kommen? / Bekroentestu das itz’ge Haupt der Welt?“57 (A I, 639–640) In der luxuria des Kaisers – seiner Luxussucht und Wollust – sind römisch-antike und christlich-frühneuzeitliche Vorstellungen miteinander verquickt. Dies zeugt wiederum vom universellen Anspruch, den die Ausstellung dieses moralischen Übels erhebt, da es in der christlichen Morallehre über eine dreifache Lasterhaftigkeit verfügt: Sie verweist zurück auf den Sündenfall, setzt sich in der concupiscentia als Versuchung des Fleisches fort und ist eine der sieben Todsünden. Sie ist Anfangs- und Kulminationspunkt der Sündhaftigkeit. Die verwerfliche „Erotisierung und sogar Sexualisierung des fürstlichen Charismas durch den Hof“58, die durch Othos Manöver veranschaulicht wird, ist nicht nur für das römische Kaisertum, sondern auch für den spätbarocken Absolutismus kennzeichnend. In der sittlichen Polemik, die an Neros luxuria entwickelt wird, ist jedoch auch eine politische Lehre enthalten. Neros exponierte Stellung als mehr denn göttlicher Kaiser, sein Drang zur Selbstinszenierung und zur Präsentation von Prunk und Pracht machen ihn angreifbar. Allein derjenige nämlich, der alles im Blick hat, verfügt auf dem Spielfeld der höfischen Politik über die Vormachtstellung. Ganz grundsätzlich „ist der Kaiser schon deswegen im

57 So bemerkt Rosemarie Zeller: Tragödientheorie, Tragödienpraxis und Leidenschaften. In: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. Hg. von Johann Anselm Steiger. Bd. 2. Wiesbaden 2005 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 43), S. 691–705, hier S. 701 ganz allgemein mit Blick auf die frühneuzeitlichen Tyrannendramen, „dass die[] Laster, die zugleich bestimmten Affekten zugeordnet werden können, die eigentlichen Handlungsantriebe am Hofe sind. Das heißt, es geht darum, den Hof unter moralischer Perspektive darzustellen, wobei das affektbetonte Handeln der negativen Figuren mit Lasterhaftigkeit gleichgesetzt wird“. 58 Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 269.

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Nachteil, weil er sich zu sehen gibt“59. Lohensteins Nero überbietet dieses Prinzip der imperialen Sichtbarkeit noch dadurch, dass er sich selbst exponiert und zur Schau stellt und in dieser Ostentation aufgeht. Darin liegt dann auch die augenfällige Diskrepanz zwischen ihm, der sich auf vermessene Weise als mehr denn göttlich inszeniert, und Gott: „[A]ls absolutes Subjekt des Blicks ist er [der Kaiser] – anders als der allsehende Gott, dessen irdisches Pendant er zu sein wähnt – zugleich das absolute Objekt der Blicke aller“60. Der Kaiser ist folglich auf dem Zenit seiner Macht als Mensch entblößt. Ebendiese Menschlichkeit ist in Nero verdorben. Mit seinem Drang zur luxuria als sexueller und materieller Genusssucht und deren Ostentation stellt er das allzu Menschliche, seine Leibhaftigkeit – seine geradezu diabolische Neigung zum Leiblichen im Lustgewinn – aus. Mittels dieser Ambivalenz zwischen seiner Selbstinszenierung als mehr denn göttlich und seiner lüsternen Kreatürlichkeit ist Nero endgültig in seiner Vermessenheit bloßgestellt. Gerade weil Nero sich exhibitioniert, kann Otho den Kaiser beobachten, studieren und schließlich zu seinen eigenen Gunsten manipulieren und lenken. Dies ist in der Lenkung von Neros Blick auf Poppea vorweggenommen. In letzter Konsequenz ist Kaiser „nur noch der, dem es gelingt, sich als Letzter in der Kette der Beobachter zu positionieren.“61 Für Otho bezeugt dies die Geschichtsschreibung, schließlich wird er später selbst Kaiser.62 Sein Manöver ist also letztlich von Erfolg gekrönt und führt dabei Neros mangelnde Staatsräson vor, die ihn zu Fall bringen wird. Damit ist wiederum auf Neros Mangel an Vernunft – an politischer prudentia und menschlicher ratio – verwiesen, welcher der Präponderanz seiner superbia und seiner luxuria geschuldet ist und eine Pervertierung der menschlichen Natur bedeutet. Hier herrscht das Laster und mit ihm das Böse, das sich hier nach augustinischer Definition als ein Mangel an Gutem, nämlich an Tugend, Vernunft und Klugheit, präsentiert. Das Trauerspiel wird zeigen, dass diese Neigung zum Bösen, die sich in Neros notorischer Lasterhaftigkeit niederschlägt, ihm schließlich zum Verhängnis wird.

59 Susanne Lüdemann: Beobachtungsverhältnisse. In: Des Kaisers neue Kleider, S. 85–94, hier S. 87. Unter Rückgriff auf Luhmanns systemische Theorie der Beobachtungsordnungen, die in „Die Kunst der Gesellschaft“ (1997) darlegt sind, führt Lüdemann hier eine Analyse der Beobachtungsverhältnisse im Absolutismus durch. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Im Jahre 69 n. Chr., dem sogenannten Vierkaiserjahr, war Otho für ganze drei Monate Kaiser. Dies spielt zwar für die unmittelbare Handlung der Agrippina keine Rolle, steht jedoch für den fortschreitenden Niedergang des Römischen Reichs, das sich seit Neros Regentschaft in politischem Tumult befindet.

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Doch weder Neros Bosheit noch seine Macht, die er als grenzenlos und mehr als göttlich zu inszenieren sucht, sind in ihm allein begründet, sondern weisen vielmehr zurück auf seinen kreatürlichen Ursprung: seine Mutter Agrippina. Durch ihre bloße Existenz ist Nero immer schon auf seine Menschlichkeit zurückgeworfen, wodurch seine selbstinszenierte Apotheose als Farce entlarvt ist. Gleiches gilt für sein Kaisertum, da er ja überhaupt erst durch Agrippina, bzw. ihre Verbrechen, auf den Thron gesetzt wurde. Sie markiert die eigentliche Grenze seiner Macht, die er durch seine Selbstinszenierung zu tilgen sucht.

5.1.2 Agrippinas Selbstdarstellung als „Gefaellte“ Zu Beginn des Trauerspiels befindet sich Agrippina im Abseits der Macht. Bei ihrem ersten Auftritt, der sie im Dialog mit der Kaiserin Octavia zeigt, stellt sie sich selbst dar als „verstoßen vom Palast / In eines Buergers Haus“ (A I, 317–318) und erscheint degradiert und gedemütigt. Sie, die noch „unlaengst […] Rom hoechstes Gluecke pries“ (A I, 288–289), muss nun „gleichsam im Kercker“ (A I, 284) leben. Mit der Anspielung auf die Entfernung zwischen Palast und nunmehr bürgerlicher Wohnung, Hof und Kerker vermisst sie ihre Fallhöhe vertikal im Raum, während das „unlaengst“ die Jähe ihres Falls betont. Damit ist auf die Fortuna verwiesen, deren Dynamik sich sowohl senkrecht im plötzlichen Wechsel von Aufstieg und Fall manifestiert als auch in der Figur des Glücksrads veranschaulicht ist. Dementsprechend stilisiert Agrippina ihren Fall sogleich zum exemplum für den zufälligen Lauf der Dinge: „So spiel’t Gelueck und Zeit / die steter Wechsel treibet.“ (A I, 291) Agrippina gibt vor, die blinde Macht des Zufalls anzuerkennen und sich dieser unterzuordnen. Mit dem Glückswechsel ist nicht zuletzt auf die dramaturgische Kategorie der aristotelischen Peripetie, bzw. der barocken gravitas zurückverwiesen. Agrippina bezeichnet sich selbst als eine (von der Fortuna) „Gefaellte“ (A I, 294) und exponiert sich damit als mitleiderregende tragische Figur – als eine zu Fall Gebrachte, jedoch nicht als eine durch eigenes Verschulden Gefallene. In diesem Sinne beschließt sie auch ihre Rede, da sie ihren Fall mit einem Schiffbruch als dem Inbegriff der waltenden Fortuna gleichsetzt und sich selbst gar zu dessen „Merckmal“ (A I, 294), einem Mahnmal des Zufalls im Abseits der Macht und der Geschichte erklärt. Agrippina stellt die Herrschaft der Fortuna als eine vor, die scheinbar jeglicher sittlichen Gesetzmäßigkeit entbehrt. Sich selbst stellt sie als blinden Menschen im Angesicht der blinden Fortuna als reiner Kontingenzmacht dar. Gerade deshalb ist ihre Selbstinszenierung jedoch verdächtig. Schließlich ignoriert Agrippina das Verhängnis als den Wesenskern der Fortuna, das in seiner Sinnhaf-

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tigkeit durchaus der göttlichen Gerechtigkeit und Vorsehung gehorcht.63 Indem Agrippina die Fortuna also gleichsam entkernt, kann sie sie für ihre taktischen Zwecke nutzen. Schließlich besteht darin auch die Provokation von Agrippinas Fortuna-Konzeption, durch die Kontingenz und Notwendigkeit gegeneinander ausgespielt werden: Weil der Zufall gerade keinem gerechten und sittlichen Prinzip gehorcht, scheint die notwendige Voraussetzung für gutes, moralisches Handeln getilgt.64 Die Selbstinszenierung der Protagonistin nämlich steht im Dienste einer wirkungsvollen Pathosstrategie gegenüber ihrer Dialogpartnerin Octavia. Lohensteins Titelheldin erscheint folglich als zweifelhaftes Opfer, deren Degradation und Marginalisierung im Rahmen des Bühnengeschehens durchaus plausibel sind, jedoch aus politischem Kalkül von ihr selbst instrumentalisiert werden.65 Agrippinas Pathosstrategie ist erfolgreich. Octavia zeichnet den Fall ihrer Schwiegermutter noch einmal empathisch und emphatisch nach, indem sie auf die zentrale, rechtmäßige Position Agrippinas im Machtgefüge des römischen Kaisertums hinweist. Sie sei schließlich „eines Kaeysers Kind / Braut / Schwester / Mutter / Frau“ (A I, 309). Als Tochter des Germanicus, Gattin des Kaisers Claudius und Schwester des Kaisers Caligula ist Agrippina auf mehr als eine Art mit dem Kaisertum verwandt und bildet gleichsam einen Knotenpunkt der julisch-claudischen Dynastie.66 Da sie nun „Dem Falle sich vermaehl’t / enterb’t vom Purper schau“ (A I, 310) wurde dieser natürliche, rechtmäßige Bund mit der imperialen Macht jedoch zerstört.

63 Saavedra Fajardo schilt genau diese „ignorancia da deidad y poder de la fortuna“ [„Ignoranz gegenüber der Gottheit und Macht der Fortuna“], die Agrippina hier vorgibt, in seiner 36. Sinnspruch des Príncipe Político Christiano. – Dass das Verhängnis auch bei Lohenstein providentiell ist und einen Ewigkeitsanspruch erhebt, dazu siehe einschlägig Gerhard Spellerberg: Verhängnis und Geschichte. Untersuchungen zu den Trauerspielen und dem „Arminius“Roman Daniel Caspers von Lohenstein. Bad Homburg v.d. H. u. a. 1970, S. 48–51; 201–215. 64 Dass dies in Lohensteins Trauerspielen immer wieder problematisiert wird, bemerkt Spellerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 50. Agrippinas kalkulierte Selbstdarstellung als Opfer der Fortuna wurde von der Forschung jedoch bisher nicht in den Blick genommen, obwohl sich bereits hier, in ihrer allerersten Rede, ankündigt, dass der Meistersimulatorin Agrippina sprichwörtlich nichts heilig ist. 65 Auch Alt: Tod der Königin, S. 139 erkennt in der Agrippina ein „Opfer, dem die Züge der Ambivalenz eingegraben sind“. 66 Bei Germanicus’ Bezeichnung als Kaiser stand die Homonymie von Kaiser und Feldherr im Lateinischen Pate, da beide lateinisch „imperator“ heißen. Dieser Hinweis verdankt sich dem Stellenkommentar, siehe Lohenstein: Sämtliche Werke. Berlin, New York 2008. Abteilung 2: Dramen. Bd. 2: Agrippina, Epicharis. Teilband 2: Kommentar. Unter Verwendung von Vorarbeiten Gerhard Spellerbergs verfaßt von Lothar Mundt, S. 629–805, hier S. 654. Im Folgenden wird auf den Stellenkommentar unter der verkürzten Angabe Mundt: Kommentar Agrippina und der Seitenangabe verwiesen.

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Obgleich Agrippina sich in ihrer Eingangsrede der Fortuna vermeintlich unterordnet, so besteht Octavia doch gerade auf Agrippinas Durchsetzungsvermögen im politischen Aktionsraum des Hofes. Dort hatte Agrippina nämlich gerade nichts dem Zufall überlassen: „Ja die den Kaeyser selbst zum Kaeyser hat gemach’t“ (A I, 314) Sie hat also nicht nur Nero zum Kaiser, sondern auch sich selbst zur Kaisermacherin gemacht. Die Patrilinearität, der Agrippina ja zuallererst ihre eigene Legitimität verdankt, hat sie im Zuge ihrer Machinationen umgedeutet. Dadurch hat sie sich neben Kind, Braut und Schwester auch zur Mutter des Kaisers im doppelten Sinne gemacht: in ihr begründet sich biologisch Neros Leben und politisch seine imperiale Macht.67 Damit hat Agrippina gerade nicht das Naturrecht hingenommen, welches das Herrschaftsgefüge determiniert und legitimiert, sondern hat es stattdessen aus dem Innersten heraus manipuliert. Dass das Naturrecht aus dem göttlichen Recht entwickelt ist, ist entscheidend, um das Ausmaß von Agrippinas Vergehen zu begreifen.68 Denn indem sie wider das Naturrecht handelte, handelte sie im selben Schritt wider die göttliche Ordnung bzw. hat sich über diese – ganz luziferisch – hinweggesetzt. In der eindringlichen Rede Octavias scheint sekundär, dass Agrippina dabei ganz buchstäblich über Leichen gegangen ist. Agrippinas anmaßende Verbrechen und die sittlichen, natürlichen und gottgewollten Prinzipien, denen sie sich widersetzen und die sie verletzen, stehen hier außer Frage. Stattdessen wird durch die Figur der Octavia eine Kritik am Kaiser ins Spiel gebracht, die ganz grundsätzlich nach der Legitimität von Neros Herrschaft fragt. Sie widerspricht damit Neros Selbstsetzung als mehr denn göttlicher Kaiser, die das Trauerspiel ja eröffnet, und entlarvt sie als bloße Inszenierung. Octavia legt den Blick auf die mangelhafte Legitimität seiner Macht frei: Nero ist nicht durch Abstammung, sondern durch seine Mutter (und ihre Verbrechen) auf den Thron gehoben. Seine Macht beruht damit nicht auf seiner eigenen Kraft, sondern auf ihrer. Noch mehr als der Knotenpunkt der julisch-claudischen Dynastie ist Agrippina damit ihr neuralgischer Punkt. Dass das Trauerspiel ebendiese Krise der nicht legitim begründeten Macht Neros verhandelt, findet sich nicht zuletzt durch das Motto angekündigt, das

67 Dieser Konnex von Natur und Souveränität steht im Zentrum der Auseinandersetzung bei Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 118–123 und Alt: Tod der Königin, S. 141–145. 68 Der Naturrechtsbegriff, der für Lohenstein durchweg leitend ist, ist auf Hugo Grotius zurückzuführen, denn „[a]uch für Grotius hat das Naturrecht noch seinen Grund in Gott. Aber für ihn und das neue Naturrecht wird dies außer Diskussion gestellt. Menschliche Pflichten werden nicht mehr von der Natur Gottes, sondern allein von der Natur des Menschen abgeleitet, die allerdings weiterhin als von Gott geschaffen und ihm ebenbildlich gedacht ist.“ (Wichert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz, S. 61–62) .

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dem Trauerspiel vorangestellt ist. Es ist den Annalen des Tacitus entnommen, der meistzitierten Quelle in Lohensteins Anmerkungen: „Nihil rerum mortalium tam instabile ac fluxum est, / quam fama potentiæ non suâ vi nixæ.“69 Neros Macht ist von Natur aus haltlos und ungebunden, da sie naturrechtlich unbegründet ist. Sie ist nicht zuletzt deshalb per definitionem anfälliger für die Entartung und Entgrenzung der Herrschaft als Tyrannei. Diese weder ans Gesetz noch ans Naturrecht gebundene und sich auch nicht daran bindende Macht spiegelt in sich der aristotelische Topos von der Tyrannei der Affekte wider, der Nero mit seiner Neigung zur luxuria unterworfen ist. Die beiden aufeinander bezogenen Formen der Tyrannei – die politische und die der Affekte – finden sich in der Figur Nero verwirklicht.70 Nicht nur die Macht, die nicht auf sich selbst beruht, ist schwankend und haltlos, sondern auch der Mensch, der sie verkörpert. Gerade weil Neros Macht in Agrippina begründet ist, ist Agrippina von seiner Herrschaft bedroht. Denn in ihr ist der Zweifel an Neros legitimer Herrschaft wachgehalten sowie die Erinnerung daran, wie er an die Macht gelangt ist, nämlich durch ihre Untaten. Dass dadurch wiederum Neros Herrschaft im Kern anfechtbar und bedroht ist, beweist Octavia mit ihrem Diktum von der Kaisermacherin Agrippina. Um sich selbst vor dieserart Anfeindungen zu schützen, besteht Agrippina jedoch auf ihrer Position im Abseits der Macht. Mit ihrer Verdrängung aus dem Zentrum der Macht hat sie sich als nunmehr Gefällte, die sich der Macht der Fortuna untergeordnet hat, auch aus der politischen actio zurückgezogen und fragt: „Was haben wir verkerb’t / seit wir von Hofe sind?“ (A I, 345) Es sind jedoch ihre einstigen Übeltaten, die nun zu ihr zurückkehren. Diese sind auf geradezu dämonische Weise immer schon auf dem Schauplatz präsent. Aus diesem Grund ist sie auch nicht das Opfer der Fortuna, als das sie sich verstanden wissen möchte, sondern das Opfer ihrer eigenen Untaten, die sie nun heimsuchen und damit nicht zuletzt einer verhängnisvollen Gesetzmäßigkeit gehorchen. Die Personifikation von Agrippinas Verbrechen ist der Kaiser Nero. Dieser nämlich will Agrippina, getrieben von „Fürsten-Eyfer“ (A I, 341), „Furcht und

69 Tacitus: Ann. 13,19,1. „Nichts im Menschenleben ist so schwankend und haltlos wie / der Ruf einer Macht, die nicht auf eigener Kraft beruht.“ (A, S. 4). 70 In seiner juristischen Abhandlung De voluntate zitiert Lohenstein diese Stelle aus der Politik bzw. der Nikomachischen Ethik des Aristoteles: „Quia enim mens imperat appetitui non herili, sed civili & regio imperio; docente Aristotele 1. Polit. 3. & 1. Eth. ult. t. 112.“ (Daniel Casper von Lohenstein: Disputatio juridica De voluntate. In: Lohenstein: Sämtliche Werke. Abteilung 4: Kleinere Prosa. Hg. von Lothar Mundt. Berlin 2017, S. 3–166, hier S. 38) Lohenstein verhandelt in diesem Kontext, inwiefern die Affekte die vernunftgeleitete Willensbildung einschränken und wie sie demnach juristisch zu beurteilen sind.

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Ehrsucht“ (A I, 343), ermorden und hat dafür bereits zahlreiche Versuche angestellt, wie Agrippina selbst gegenüber Octavia beklagt: „Man hat zum dritten mahl die Reben uns vergifftet; / Jn falschen Zimmern uns mit Fallen auffgestell’t“ (A I, 348–349) Für das Kaisertum ist ihr Sohn – wie zuvor auch sie selbst – bereit über Leichen zu gehen. Warum Neros zahlreiche Mordanschläge bisher jedoch nicht von Erfolg gekrönt waren, dafür gibt er an anderer Stelle eine Erklärung ab: „Denn sie als Meisterin in ieglichem Verbrechen / Weiß aller List und Kunst zu kommen klueglich fuer.“ (A III, 338–339) Agrippina überlässt auch in ihrer Situation abseits des Hofes eben doch nichts dem „Zufall“, sondern setzt allen Eventualitäten im höfischen Machtkampf, der hier zum Kampf ums Überleben wird, gekonnt die prudentia entgegen. Da sie die Staatskunst meisterlich beherrscht, weiß sie auch ihre Fallstricke zu entdecken. Nicht zuletzt Agrippinas Berufung auf die Fortuna ist damit als rhetorischer Kunstgriff entlarvt. Indem sich Agrippinas Übeltaten verselbständigen und in der Unmittelbarkeit der dramatischen Handlung in den Untaten ihres Sohnes vergegenwärtigt, manifestiert sich das Böse als eine Genealogie aus Verbrechen, Laster und Schuld, die sich im Verlauf der Geschichte perpetuieren und übertreffen und schließlich den Verfall eines Weltreichs heraufbeschwören. Inbegriff dieser Diagnose ist der Muttermord, in dem sich diese pervertierte Schöpfung im Zirkelschluss selbst zu verschlingen verspricht. Durch den Matrizid, der sich in der zweiten Hälfte des Trauerspiels gar unendlich zu vervielfachen scheint, wird schließlich die Wiederholung als eine Figur des Bösen vorgestellt.71 In seiner juristischen Abhandlung De voluntate beschreibt Lohenstein die „Geminatio“72 als Beweis für die Vorsätzlichkeit des Verbrechens.73 Die Verdop-

71 Vgl. Alt: Tod der Königin, S. 141, der hier ebenfalls die „unaufhebbare Struktur der Wiederholung“ ausmacht. Alt erkennt in der Wiederholung eine „bestimmte Form der Darstellung des Bösen in der Literatur der Frühen Neuzeit“, die von der Idee des Bösen als einem Produkt aus seiner Differenz zum Guten abweicht (vgl. ebd., S. 142). Eine ähnliche Genealogie der Schuld, die auf der kaiserlichen Macht lastet, findet sich im Leo Armenius vermittelt, auch wenn sich diese nicht durch Blutsverwandtschaft fortzeugt, sondern über die Geburt der Herrschaft aus der Usurpation (vgl. Kapitel 2.5). 72 Lohenstein: De voluntate, S. 20. 73 Zur Bedeutung dieser Schrift für Lohensteins Werdegang sowie zum Genre der „Disputationsschrift“ in der Frühen Neuzeit siehe Wichert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz, S. 12–14. Dane: Zeter und Mordio, S. 199 hat mit Blick auf den Arminius-Roman bemerkt, dass Lohensteins juristische Interessen „die Frage nach der Intentionalität von Verbrechen und damit die nach der Willensfreiheit aufwerfen” und damit ethische Grundfragen des Rechts behandelt. Dies ist m. E. auch für eine Auseinandersetzung mit der Agrippina entscheidend. Überhaupt steht eine genauere Lektüre der Trauerspiele im Zusammenhang mit De voluntate noch aus. Es sei verwie-

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pelung ließe keinen Zweifel daran aufkommen, dass das Verbrechen willentlich verübt worden sei. In der mehrfachen Wiederholung aber liege eine stetige Steigerung des Verbrechens, sodass eine ebensolche „reiteratio“74 eine weitaus schwerere Strafe nach sich ziehen müsse als ein nur ‚einfaches‘ Verbrechen. Dabei betont Lohenstein, dass unter diesen Voraussetzungen auf keine Gnade zu hoffen sei.75 Diese Skalierbarkeit des Bösen, die Lohenstein hier als Rechtsgelehrter verhandelt, kommt im Trauerspiel als geschichtsphilosophische und als metaphysische Ausdeutung exemplarisch zur Darstellung. So zeugt die Wiederholungsgeste, die im Muttermord nachgerade ins Unermessliche gesteigert ist, immer schon von der Intentionalität des Bösen, durch die jegliche Gnade, ob als innerweltliche venia oder als göttliche (und kaiserliche!) gratia, verwirkt ist. Neben der genealogischen Fortzeugung des Verbrechens, die in und durch Nero kulminiert, formuliert sich in ihm eine ausgeprägte Neigung zum Bösen als treibende Kraft, die nicht eher ruht als sie sich in der bösen Tat entlädt. In der Lasterhaftigkeit der Figuren hat sich, im Modus der Wiederholung, die böse Tat verstetigt.76 Determinismus und Willensfreiheit treten hier in einen Widerspruch miteinander und sind gleichzeitig in der Figur Nero vereint.77 Diese Widersprüchlichkeit wird einzig ausgeglichen durch die Vorstellung einer muttergleichen göttlich-kosmischen Natur.78 Dass diese jedoch gerade in der Agrippina durch Nero und dessen Mutter nach allen Regeln der prudentisti-

sen auf Oliver Bach: Kluge Leidenschaft? Daniel Caspers von Lohenstein „Cleopatra“ zu Affektenlehre und Staatsräson. In: Daphnis 44 (2016), S. 572–604, S. 572–604, der die juristische Abhandlung für eine affekttheoretische Analyse der Cleopatra heranzieht. Dort findet sich auch ein Überblick über die Rezeption von De voluntate durch die Lohenstein-Forschung. 74 Ebd., S. 22. 75 Im lateinischen Original heißt es ebd. „nec sprerare debet veniam“. 76 So bezeichnet das Laster „die zur gewohnheit gewordene sünde“ (Art. Laster. In: DWb, Bd. 12, Sp. 253–255, hier Sp. 254). Diese Bedeutung ist auch moralphilosophisch virulent: „Am schärfsten klingt im deutschen Wort ‚L[aster]‘ die sittliche Verworfenheit und abgründige Verkehrung des Zustands an, das Wort ist heute eingeschränkt auf die durch häufiges, schuldhaftes Handeln eingefahrene Verfestigung des Bösen.“ (Richard Hauser: Art. Laster. In: HWPh, Bd. 5, Sp. 15999–16005, hier Sp. 16001). 77 Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 59–63 bemerkt, dass darin eine grundsätzliche Spannung in Lohensteins Dichtung auszumachen ist, die sich auch in seinen Anmerkungen niederschlägt. Zum Verhältnis von Willensfreiheit und Verhängnis sei verwiesen auf Spellerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 104–135, der diesen Konflikt ausgehend von Lohensteins Sophonisbe diskutiert. 78 Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 60 verweist auf die Ähnlichkeit dieser „optimistische[n] Prämisse“ einer providentiell geordneten, „muttergleich[en]“ Kosmosnatur mit Leibniz’ Theodizee.

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schen Staatskunst pervertiert wird, unterstreicht gerade deren Angriff auf dieses metaphysische Prinzip.

5.2 Von voluntas und voluptas: Die Inzesthandlung Die natürlichen, sittlichen Verwandtschaftsverhältnisse sind in der Agrippina von vornherein pervertiert, da sich hier Schuld und Verbrechen dynastisch fortzeugen anstelle von Tugendhaftigkeit und imperialer Würde. Diese Entartung findet sich in Nero konzentriert und kommt im von Agrippina initiierten Inzest zur vollen Entfaltung. Der Inzest ist der Knotenpunkt, an dem die Laster der Protagonisten zum Verbrechen erwachsen. Der Dialog in der dritten Abhandlung, in dem Agrippina Nero zur Blutschande verführen will, bezeichnet die Mitte des Trauerspiels und der Inzest bildet folglich das Zentrum, um welches das Trauerspiel kreist. Mit dem Ende der zweiten Abhandlung ist Agrippina von der politischen Konkurrenz weiter in die Ecke gedrängt, gar bis zu dem Grade, dass ihr Leben bedroht ist. Da auch sie als kluge Politikerin weiß, dass Neros Wille durch seine Wollust politisch zu lenken ist, will sie an Neros Lasterhaftigkeit ansetzen und fasst den Plan zum Inzest. Auch Agrippinas Motivation ist dabei doppelbödig, so will sie sich mit diesem Mittel selbst retten, sich jedoch zugleich erneut politischen Einfluss verschaffen. Die Inzesthandlung entfaltet sich vor diesem Hintergrund zu einer großen, scharfsinnigen Spekulation um die anthropologischen und moraltheologischen Kategorien der voluntas und voluptas, die darauf ausgerichtet ist, die „Boßheit“ (A III, 49; 60; 312) des Inzests ins Werk zu setzen. Da der Sohn im sexuellen Akt in die Mutter zurückkehrt und die Mutter sich wiederum den Sohn einverleibt, wird der Inzest schließlich zum Inbegriff der widernatürlichen, unsittlichen und nicht zuletzt gottlosen Dynamik des circulus vitiosus, in dem „Unkeuschheit und Ehren-sucht“79 sich auseinander generieren und dabei um nichts anderes als um sich selbst kreisen.

5.2.1 Vorspiel: Agrippinas „Magnet der Laster“ und Neros schwelende Wollust Der erste Dialog zwischen Agrippina und Octavia veranschaulicht die heikle Situation der Kaisermutter. Im weiteren Verlauf muss sie sich gegen einen intriganten Rachefeldzug ihrer persönlichen Feindin Iunia Silana verteidigen,

79 A Anm. Lohenstein, S. 166, Z. 4.

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eine ehemalige Vertraute, die selbst von Agrippina einst bösartig hintergangen wurde. Weder Silana noch ihre an der Intrige beteiligten Klienten treten hier auf, sondern deuten gerade in ihrer Abwesenheit darauf hin, wie ihre früheren Verbrechen Agrippina heimsuchen. Nachdem Silanas Intrige am Ende der ersten Abhandlung aufgeklärt wird und Nero und Agrippina sich – vorerst – versöhnen, setzt die zweite Abhandlung mit Sabina Poppeas Verführungsmanöver gegenüber Nero ein.80 Als Agrippina davon erfährt, dass Poppea daraufhin zu Neros neuer Favoritin aufgestiegen ist, erkennt sie umgehend die Bedrohung, die nunmehr von dieser politischen und erotischen Konkurrentin ausgeht. Damit stellt Agrippina hier einmal mehr ihre prudentia und ihr höfisches Kalkül unter Beweis, denn was sie hier spekuliert, weiß der Rezipient bereits, der ja zuvor Zeuge der intimen Begegnung zwischen Nero und Poppea in „des Kaeysers geheime[m] Zimmer“81 war. Dort nämlich hatte Poppea ihren politischen Ehrgeiz gekonnt in Liebe verstellt und an die notorische Wollust des Kaisers appelliert, um ihren Einfluss auf Nero zu erweitern und ihre Rivalinnen Agrippina und Octavia auszuschalten. Agrippina weiß, dass es nunmehr um ihr nacktes Überleben geht. Durch Poppea weiter in die Ecke gedrängt sieht sie sich dazu gezwungen, sich vollkommen der dunklen Seite der Politik zuzuwenden. Um sich zu retten, muss sie Nero erneut an sich binden und dazu bedarf es unlauterer Mittel: „Es werde der Magnet der Laster nur ergriffen / Nach dem uns der Compaß der Tugend irre macht.“ (A II, 444–445) Das Laster wird hier der Tugend gegenübergestellt und wiederholt damit den antithetischen Aufbau des ersten Reyen, der diese Konkurrenz allegorisch vor einem heilsgeschichtlichen Horizont im antiken Gewand verhandelt und – der moralistischen Konvention des barocken Trauerspiels folgend – die Belohnung der Tugend und Bestrafung der Laster garantiert.82 So heißt es dort in exaktem Wort-

80 Zur Affektmanipulation, die Poppea in diesem Zuge betreibt, um den Kaiser für sich zu gewinnen und sich machtpolitisch Einfluss zu verschaffen, siehe Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 103 und Rahn: Physiologie der Liebesblicke, S. 172. 81 A, S. 53 (Bühnenanweisung). 82 Die „Gerechtigkeit“, apostrophiert als „Goettin“ (A I, 645), ist die den Disput ordnende Instanz. Sie stellt als rhetorische Apotheose sowohl die (christliche) göttliche Gerechtigkeit und damit pars pro toto Gott vor als auch die antike Göttin der Gerechtigkeit Themis/Iustitia. Wie die Allegorie der Ewigkeit in Gryphius’ Catharina von Georgien, so schließt hier die Gerechtigkeit die Welt nach oben und nach unten auf – „Brich Hell und Himmel auf!“ (A I, 655) – und bedient sich der höllischen Rache und der himmlischen Belohnung als ihrer Instrumente, durch die sie das irdische Geschehen, ergo den Kampf von Laster gegen Tugend, ordnet und entscheidet. Zu Beginn des Reyens ist ausgehend von der Parallelisierung von christlicher Gottesgerechtigkeit und Themis/Iustitia wiederum ein intertextueller Bezug zur pseudo-senecaischen Octavia zu erkennen. Dort erklärt die Figur Seneca, dass Justitia im eisernen Zeitalter aus der Welt geflohen sei und nun die Laster regierten (vgl. Octavia, 422–434). Bei Lohenstein

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laut von der Gerechtigkeit: „Ihr [die Tugenden] sol’t doch Lohn, sie [die Laster] aber Straffe krigen.“ (A I, 634). Im Kampf zwischen Tugend und Laster – „oder vorlohensteinisch ausgedrückt: Gott und Teufel“83 – um die Vormachtstellung auf der Welt, entscheidet sich Agrippina für die Laster, um nun sprichwörtlich ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. Da die Inzesthandlung mit dieser Aussage Agrippinas gleichsam eingeleitet wird, lohnt eine Auseinandersetzung mit den Implikationen, die in der Metapher vom „Magnet der Laster“ enthalten sind. Da sich Agrippina in diesem Zusammenhang einmal mehr der Schifffahrtsmetaphorik bedient, ist hier auf ihre erste Figurenrede angespielt. Dort hatte sie mit dem Bild des Schiffbruchs die Macht der Fortuna evoziert, der sie sich ja als „Gefaellte“ untergeordnet hatte. Indem sie nun selbst wieder den Entschluss zur politischen actio fasst und zum Täuschungsmanöver ansetzt, ent-täuscht sie die Erwartungen an die Gefällte als tragische Figur endgültig, die sich eigentlich in der absoluten Ausweglosigkeit der göttlichen Vorsehung überantworten würde, gerade weil sie die Fortuna als deren Vorstufe erkennt. Stattdessen wird die Fortuna hier endgültig als rhetorischer Vorwand entlarvt und der innerweltlichen Politik und der prudentia preisgegeben. Agrippina verwirft den „Compaß der Tugend“ und besteht die vermeintliche Bewährungsprobe – im Sinne einer „bewährten Beständigkeit“ – nicht. Dies bedeutet sowohl eine Absage an das Ideal der constantia als auch an die Wirkabsicht der consolatio und damit an Gryphius’ Trauerspielmodell überhaupt, welches Lohenstein damit weit hinter sich lässt.84 Seine tragische Heldin verlässt hier eigenmächtig das Bezugsfeld der providentia, indem sie gerade nicht der übergeordneten irdischen und göttlichen Geschichte ihren Lauf lässt. Stattdessen setzt sie auf ihr eigenes politisches und erotisches Geschick, auf ihre prudentia. Anstatt sich dem Gut der göttlichen Gerechtigkeit zu überantworten, sucht sie den Verhängnisverlauf mit „Boßheit“ (A I, 625; 646) zu ihren Gunsten zu wenden. Agrippinas Vorhaben suggeriert, dass im politischen Aktionsraum jedes Mittel recht und nichts mehr heilig sei. Damit ist eine Prämisse des prudentistischen Ideals, die sich in Baltasar Graciáns Handorakel findet, überboten. Die „große Meisterregel“, die dem Autor nach keines weiteren Kommentars

sind es die Laster selbst, die proklamieren, dass die Gerechtigkeit „fuer uns in Himmel sich gefluechtet“ (A I, 635) und somit „[o]hnmaechtig“ und im wahrsten Sinne weltfern sei. Dass dies nicht stimmt, stellt das Trauerspiel vor. 83 Beise: Anthropophagie, S. 140. Dass dieserart allegorische Darstellung in den Reyen das Konfliktmuster der psychomachischen Tradition seit Aurelius Prudentius Clemens zugrundeliegt, hat Alt: Begriffsbilder, S. 268 aufgezeigt. 84 Dass bei Lohenstein das Märtyrerdrama „überholt“ ist, hat bereits Schings: Consolatio Tragoediae, S. 26 betont.

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bedürfe, besagt: „Man wende die menschlichen Mittel an, als ob es keine göttlichen und die göttlichen, als ob es keine menschlichen gäbe.“85 Die Provokation von Agrippinas Vorgehen besteht gerade darin, dass sie, was Gracián noch als spielerische Möglichkeit des „Als ob“ voraussetzt, nämlich die Nivellierung menschlicher und göttlicher Mittel, als Gewissheit nimmt. Schon indem sie die Fortuna nur noch rhetorisch heranzieht, postuliert sie die Absenz einer göttlichen Ordnungsmacht als Tatsache, sodass es im politischen Spiel eben nur noch menschliche Mittel gäbe. Dadurch stehen Laster und Tugenden prinzipiell gleichrangig nebeneinander und sind nur noch vom Zweck geheiligt. Agrippina erwächst mithin zum Schreckbild eines von jeder Transzendenz sich abkoppelnden politicus. Die Magneten-Metapher, die Agrippina in diesem Zusammenhang appliziert, greift in sich noch zwei weitere Kontexte auf. So findet sich bei Saavedra Fajardo seinem 87. Sinnspruch ein Emblem vorangestellt, das die prudentia in ihrer Ausrichtung auf den göttlichen Willen untersucht. In der pictura ragt eine Hand aus den Wolken, die einen Magneten hält. Dieser zieht ein Schwert in die Höhe, d. h. dem Himmel entgegen. Das Schwert symbolisiert die unumschränkte Gewalt des Souveräns als oberstem Rechts- und Kriegsherren. Das Schwert sei, so erklärt Saavedra, von einer „inclinación natural“86, einer natürlichen Neigung, bewegt. Diese gehorche einer übergeordneten Macht, welche den Fürsten lenke. Dieses Bild findet sich bei Lohenstein in die Agrippina übersetzt, wenn die Titelheldin erklärt, dass sie ebenjenen „Magnet der Laster“ ergreifen will. Der menschliche, fürstliche Wille, der stets auf den göttlichen Willen ausgerichtet sein soll, jedoch gerade im Falle Neros per se irrige Tendenzen aufweist, wird von Agrippina abgelenkt. Das Ideal, das bei Saavedra Fajardo durch die pictura illustriert wird, wird durch Agrippinas Vorgehen nicht nur pervertiert, sie fordert gleichsam die göttliche Ordnung heraus, da sie sich selbst an die Stelle der göttlichen Instanz setzt.

85 Baltasar Gracián: Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit. In der Übersetzung von Arthur Schopenhauer. Wiederhergestellt anhand der im handschriftlichen Nachlass überlieferten Fassung und mit einem Anhang versehen von Sebastian Neumeister. 14., vollständig überarbeitete Aufl. Stuttgart 2013, § 251, S. 126. [„Hanse de procurar los medios humanos como si no hubiese divinos, y los divinos como si no hubiese humanos: regla de gran maestro, no hay q añadir comento.” (Baltasar Gracián: Oráculo manual y arte de prudencia. In: Gracián: Obras completas. Hg. von Emilio Blanco. Bd. 2. Madrid 1993, S. 185–304, hier S. 286)] Der Verweis auf diesen Paragraphen des Handorakel findet sich auch bei Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 165, der in Agrippinas Handeln lediglich die Anwendung von Graciáns Axiom auf ihre eigene Situation erkennt. 86 Saavedra Fajardo: Príncipe Político Cristiano, Sinnspruch 87, S. 616.

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Ein weiterer Kontext, der für den „Magnet der Laster“ virulent ist, ist Lohensteins Lobschrift zur Hochzeit seines Bruders mit dem Titel Vereinbarung der Sterne und der Gemüther. Die Metapher vom menschlichen Willen als Magnetnadel taucht auch hier auf: Der Menschliche Wille irret wie eine Magnet-Nadel so lange herumb / biß er endlich auß so vielen eine Seele / zu welcher ihn die innere Zuneigung des Gemuethes leitet / wo nicht zwinget / gleichsam als seinen unbeweglichen Angel-Stern erzielet / welche ihm hernach ein bestaendiger Wegweiser seiner Lebens-Schiffarth verbleiben muß.87

Die Liebe zwischen den Menschen spiegelt in sich die Liebe Gottes wider als in der Natur wirksame Kraft, deren physikalische Äußerung der Magnetismus ist.88 Gott ist in diesem Naturverständnis der Angelpunkt der Natur, zu dem alles strebt und um den sich die Welt dreht, weshalb Polarstern und magnetischer Norden, zusammengefasst im „Angel-Stern“, sich ausgezeichnet dazu eignen, hier den metaphorischen Horizont von der Präsenz Gottes und seiner Güte in der Natur zu beschreiben. Dieser „bestaendige[] Wegeweiser“ hält auf Kurs, wobei diese spezifische Wortwahl wiederum das Ideal der constantia aufruft. In Lohensteins Vergleich ist der menschliche Wille als Analogon zur physikalischen Gesetzmäßigkeit entwickelt: Die Ausrichtung des Willens auf Gott wird zum Naturgesetz. Dieser Ausrichtung oder Einnordung des Willens auf das göttliche Gut bzw. Gottes Güte entspricht wiederum der Definition vom menschlichen Willen, die Lohenstein in De voluntate gibt. Dort konstatiert er unter Rückgriff auf Augustinus, dass der menschliche Wille zum Guten strebe, bzw. auf ein Gut ausgerichtet sei.89 Das Erscheinen Gottes in der physikalischen Natur ist folglich theologisch fundiert. Der Wille und damit einhergehend die Freiheit des Willens, zwischen Gut und Böse zu wählen, kommt direkt von Gott. Darin sieht Augustinus – und mit ihm Lohenstein, der sich in diese Denktradition einordnet – nicht zuletzt den Entstehungsgrund des Bösen und der weltlichen Übel, da sich der Wille hier vom göttlichen Gut abwendet und sich etwas Schädlichem, der menschlichen Natur Verderblichem zuneigt. Die Affekte sind solche Neigungen des Willens. Sie sind für Lohenstein, ausgehend von der neuaristotelischen Metriopathie,90 dann gut,

87 Daniel Casper von Lohenstein: Vereinbarung der Sterne und der Gemüther. In: Lohenstein: Sämtliche Werke. Kleinere Prosa, S. 295–308, hier S. 303–304. 88 Diesen Zusammenhang zwischen physikalischer Natur und Gottesliebe im 17. Jahrhundert hat bereits Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 58 offengelegt. 89 Lohenstein: De voluntate, S. 12. Dass Lohensteins Weg zu Augustinus über Thomas von Aquin führt, rekonstruiert Bach: Kluge Leidenschaft?, S. 586. 90 Dass Lohenstein der neostoizistischen Affektenlehre kritisch gegenübersteht und selbst der neoaristotelischen Metriopathie zugeneigt ist, wurde in der Forschung immer wieder be-

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wenn sie von der ebenfalls gottgegebenen Vernunft gelenkt und auf ein Gut ausgerichtet sind. Wie bereits erörtert wurde, ist die Gottesliebe das wohl höchste Gut überhaupt, dem es gilt entgegenzustreben. Pervertiert wird dieses Gut – und das ist entscheidend für die Auseinandersetzung mit der Agrippina – durch die Wollust. Sie ist die Kehrseite der Gottesliebe und moraltheologisch ein Erbteil des Bösen, das durch die Übertretung des göttlichen Gesetzes in die Welt gekommen ist und sich als concupiscentia fortzeugt. Der freie Wille, die Neigung als voluntas, ist korrumpiert durch die Wollust, die luxuria oder eben voluptas. Indem Agrippina selbst den „Magnet der Laster“ in die Hand nimmt, will sie ihr Geschick eigenmächtig lenken. Der menschliche Wille im Allgemeinen und der Neros im Besonderen ist die irrende Magnetnadel, die es zu steuern gilt. Agrippina beabsichtigt, aus der heiklen Verwandtschaft zwischen Willen und Wollust zu profitieren, indem sie Neros Willen durch die erratische Ausrichtung auf ein falsches Gut, nämlich die „Boßheit“ des Inzests, entfesseln will. Agrippina weiß, dass die Voraussetzungen dafür in Neros Kaisertum angelegt sind, wo auch der „Wolstand“ bereits zur Wollust entartet ist. Im Inzest will Agrippina Nero zur weiteren Entfesselung seines Willens anreizen. Die Woll-Lust verletzt dabei nicht nur als körperliche Begierde zwischen Mutter und Sohn ein universales, heiliges Tabu, das gar ein Naturgesetz bedeutet.91 Agrippina will ihn noch zusätzlich in seiner lasterhaften und lästerlichen superbia reizen, da sie ihm verspricht, sich im Inzest gottgleich über jegliche Grenzen – sittliche, natürliche, gottgewollte – zu erheben. In einer doppelten Volte will sich Agrippina damit selbst einmal mehr eigenmächtig über jegliche Ordnung hinwegsetzen, indem sie sich den Kaiser gefügig macht. Kaiserin ist schließlich die, die den Kaiser lenken kann. Sie will sich so erneut in eine zentrale Machtposition bringen, von der aus sie das Geschehen, ihr Geschick und die Geschichte lenken kann.92 Neros ungebundene – hier im Sinne von unbegründet und entfesselt – Macht würde

tont. Hier seien als einschlägige Beiträge zur Agrippina angeführt Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 38–42; Rahn: Affektpathologische und therapeutische Handlungszitate, S. 212. 91 Als Naturgesetz wird das Inzesttabu später auch zwischen Nero und Agrippina verhandelt, siehe Kapitel 5.2.2. 92 Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 171 erklärt Nero dementsprechend zum „betrogene[n] Opfer, das wie ein Automat beherrscht werden kann“. Dem wäre hinzuzufügen, dass Nero ein Opfer im doppelten Sinne ist: Er wird sowohl zum Opfer der Affektsimulation, die Agrippina (und auch Poppea) auf ihn anwenden, als auch zum Opfer seiner eigenen Neigung zur schädlichen Affizierung durch die sündige luxuria, die seine mangelnde prudentia bedingt und schließlich der Grund dafür ist, dass er die Vorspiegelungen nicht durchschaut. Es zeigt sich, dass die affektpsychologische Versuchsanordnung, die die Agrippina vorführt, durchaus komplexe Dynamiken vorstellt, die als Teufelskreis der Affektionen subsumiert werden können.

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auf diesem Wege noch weiter von Agrippina als seiner biologischen und imperialen Mutter ent-bunden und damit gleichsam auf ein Neues in ihr gebündelt werden. Mit diesem Manöver würde sie folglich noch ihre eigenen einstigen Verbrechen übertreffen: Aus der Kaisermacherin ginge die Götzenmacherin hervor.93 Die Affekte sind Teil der höfischen Kriegstechnik und so muss Agrippina an demselben Punkt ansetzen wie zuvor Poppea, nämlich an Neros „böser Brunst“ (A II, 426). Sie ist der Kanal, durch den Nero auch politisch zu steuern ist. Vom Aufstieg Poppeas leitet Agrippina ab, dass sie sprichwörtlich Feuer mit Feuer bekämpfen muss, denn die „böse Brunst“ ist hier beides: Brand und Wollust. Sowohl Poppeas als auch Agrippinas politisches Kalkül beruht hier ebenfalls auf den theologischen Implikationen der frühneuzeitlichen Anthropologie. Das menschliche Erkenntnisvermögen nämlich ist nach dem Sündenfall getrübt. Nur in der Vernunft scheint der göttliche Erbteil noch auf. Hier findet auch die politische Klugheit ihren Platz.94 Diese gilt es durch die Affekte zu verwirren. Mithilfe der Affekte soll der Wille entfesselt werden und kann so, losgelöst von der Vernunft, auf ein falsches Gut gelenkt werden. Zu Beginn der zweiten Abhandlung hatte Poppea dies in ihrem Verführungsmanöver eindrucksvoll vorgeführt. Mit der Reizung Neros zur Wollust hatte sie einen Angriff auf Neros ratio und prudentia unternommen und diese durch die erotische Affizierung erfolgreich außer Kraft gesetzt. Auf diese Weise hat sie sich einen Zugriff auf seine Macht eröffnet, wodurch „die triebgebundene Entelechie des Bösen“95 auf dem Schauplatz erstmalig zur Anschauung gekommen ist. Als Preis für ihre sexuelle Hingabe hatte Poppea Agrippina veranschlagt und Nero hat eingewilligt, diesen zu bezahlen. Das falsche Gut, auf das sie ihn hingelenkt hat, ist hier die Untat des Muttermordes. So hat Nero versprochen, die eigene Mutter „zu vertilgen“ (A II, 159). Er wird im wahrsten Sinne sein Wort halten, da der späteren Leichenschau von Agrippinas totem

93 Das sich darin formulierende Skandalon wirkt selbstverständlich nur im frühneuzeitlichchristlichen Horizont, da, wie oben bereits auseinandergesetzt wurde, die Vergöttlichung des Kaisers in der griechisch-römischen Antike durchaus üblich war, eben nicht nur für den malus princeps Nero, sondern auch für den bonus princeps Augustus. 94 Dass auch bei Saavedra die prudentia im Bezugsfeld christlicher Vorstellungen zwischen providentia und freiem Willen verortet ist, betont Mulagk: Phänomene des politischen Menschen, S. 156. 95 Alt: Tod der Königin, S. 142. Mit dem Begriff der Entelechie stützt sich Alt auf ein Diktum Walter Benjamins, der das Schicksal im barocken Trauerspiel als „die Entelechie des Geschehens auf dem Felde der Schuld“ bezeichnet. Die Schuld sei dort laut Benjamin stets „kreatürlich“ und damit an die Erbsünde rückgebunden, siehe Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 308.

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Leib anthropophage Züge trägt, worauf im Rahmen der Analyse des Muttermordes dezidiert eingegangen wird. Dass Nero in seiner Affektdisposition ganz grundsätzlich eine Neigung zur maßlosen Wollust aufweist, hatte zuvor schon Octavia als verschmähte Kaisergattin im Zwiegespräch mit Agrippina beklagt: Daß aber er offt frembden Speichel floeßet Auff unsern reinen Mund / wenn ander’ ihn gekueß’t; Daß er mit Knaben-Lust den Eckel ihm versueß’t / Den unsre Keuschheit schaff’t / mit Maennern sich vermaehlet Und ein entmanntes Kind zu seiner Braut erwaehlet / Daß er ihm Maegde leg’t in unser Bette bey / (A I, 328–333)

Octavia führt hier eine Reihe von „Neronischen Perversitäten“96 auf, die sich durchweg als sittliche Grenzüberschreitungen formulieren. Ihnen allen geht dabei immer schon der Ehebruch voraus, der in sich eine Rechtsverletzung bedeutet. Während Octavia als Ehefrau das Ideal der Reinheit und der Keuschheit verkörpert, feiert Nero den sexuellen Exzess, der einen Bruch mit den geltenden sittlichen und natürlichen Normen provoziert. Neros sexuelle Transgressionen und Eskapaden stehen dabei für seine mangelnde Affektbeherrschung und Vernunftkontrolle und charakterisieren damit seine Herrschaft: Indem Nero sich selbst, also seiner sexuellen Lust, keine Grenzen setzt, ist auch sein Kaisertum zur Tyrannei entgrenzt. In der ungezügelten Herrschaft der Affekte wiederholt sich die politische Tyrannei, da derjenige, der regiert, sich offensichtlich nicht selbst regieren kann und will. Dass Nero mit wechselnden männlichen und weiblichen Geschlechtspartnern, mit Kindern, Erwachsenen und Eunuchen gleichermaßen verkehrt, steht als Skandalon keineswegs ausschließlich für die sittliche Dekadenzkultur des Römischen Reichs. Auch die libertine höfische Sexualkultur des 17. Jahrhundert praktizierte cross-dressing und Vermählungen als erotische Rollenspiele.97 Von Lohenstein werden diese als „Ketzerey unserer verderbten Zeit“98 entschieden abgelehnt. Der Kampfbegriff der Ketzerei verweist hier auf die moraltheologische Komponente, die derartigen sexuellen Ausschweifungen zu Hofe implizit ist. Sexualität sei demnach im strengen Sinne nur dann legitim, wenn sie aus-

96 Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 268. 97 Vgl. Thomas Klinkert: Gleichgeschlechtliche Liebe / Sodomie. In: Liebessemantik. Frühneuzeitliche Darstellungen von Liebe in Italien und Frankreich. Hg. von Kirsten Dickhaut. Wiesbaden 2014 (Culturae 5), S. 477–513; Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 268. 98 Lohenstein: Lob-Schrifft George Wilhelms Hertzogens in Schlesien / zu Liegnitz / Brieg und Wohlau. In: Lohenstein: Sämtliche Werke. Kleinere Prosa, S. 167–271, hier S. 214.

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schließlich auf Fortpflanzung zielt. Der Lustgewinn um seiner selbst willen hingegen verderbe die natürliche Gemeinschaft der Menschen untereinander sowie diejenige mit Gott, da sie die Gottesliebe pervertiere, deren Abglanz ja die in der Ehe legitimierte zwischenmenschliche heterosexuelle (und heteronormative) Liebe ist. Dies markiert den Tatbestand der Wollust als entschieden „boeser Lust“ (A II, 524; Hervorhebung IvH), die Nero eignet. In der gleichgeschlechtlichen Sexualität ist diese ins Negative gesteigert, da sie per se die Möglichkeit der Reproduktion ausschließe und dies mache sie entschieden „widernatürlich“.99 Mit Octavias Liste wird auf dem Feld der Sexualität ein Exempel statuiert für eine verkehrte – ganz wesentlich perverse – höfische Welt.100 Ihr Zentrum bildet der Kaiser, der keine sittlichen, natürlichen, aber auch keine heiligen Grenzen kennt. Dieser Abgrund wird im „Reyen der Vestalischen Jungfrauen und der Rubria“ weiter ausgeleuchtet. Das Zwischenspiel, das sich der zweiten Abhandlung anschließt und somit den Übergang von Agrippinas Entschluss hin zur Inzesthandlung bildet, zeigt auf, dass Neros „boese[] Brunst“ (A II, 426) ähnlich einem Weltenbrand geradezu kosmische Auswirkungen hat.101 Der Reyen beklagt die Vergewaltigung der Vestalin Rubria durch Nero und entwickelt deren metaphysische, ja verhängnisvolle Implikationen. Das Feuer wird hier zum eindringlichen Bildvergleich für Neros schon in den Abhandlungen „schwelende“ Wollust. Die Vergewaltigung einer Vestalin, deren Jungfräulichkeit einem strengen kultischen Gesetz unterworfen war, galt im Römischen Reich als eines der schändlichsten Verbrechen, das mit der Todesstrafe belegt war. Die Entehrung der Frau durch die Notzucht, die ja eine gewaltsame Verletzung physischer, ethischer und rechtlicher Grenzen bedeutet, ist hier gesteigert zur Entweihung, da mit der Schändung einer Vestalin ein religiöses Gebot verletzt ist, das die

99 In der rigorosen Sündenkasuistik des Augustinus, die die luxuria graduell verhandelt, ist die gleichgeschlechtliche Sexualität noch vor Buhlschaft, Ehebruch und Inzest (!) zu verurteilen, da er es als „peccatum contra naturam“ einstuft, siehe Augustinus: Confessiones, lib. III, cap. 15, S. 104–107. In diesem Sinne zieht Nero in seiner sexuellen Exzessivität alle Register. 100 Auch Colvin: Daniel Casper von Lohenstein and the Notion of Witchcraft, S. 278 entdeckt in Nero “the very embodiment of the world upside-down“. 101 Die Funktion, die diesem Reyen zukommt, um das Ausmaß von Neros Bosheit und seinen Verbrechen näher bestimmen zu können, wurde von der Forschung bisher nicht wahrgenommen. Dies mag etwas damit zu tun haben, dass Lohensteins Reyenpoetik weitestgehend darauf reduziert wurde, „allegorische[] Affekt-Ballette[]“ (Rotermund: Der Affekt als literarischer Gegenstand, S. 264) vorzustellen oder eben als Organ von Lohensteins Fürstenlob untersucht wurde, das sich anhand der Vorstellung der translatio imperii formuliert. Dass diese Kategorisierung nicht für alle Reyen zutreffend ist, wird sich sowohl für das hier besprochene zweite als auch das dritte Zwischenspiel zeigen.

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Priesterin durch ihre Jungfräulichkeit verkörpert.102 Die Infamie von Neros Untat liegt deshalb gerade darin, dass er „diß Heil’ge fleckich mach’t“ (A II, 518). Da die Göttin Vesta und ihre unbefleckten Priesterinnen für den Bestand Roms sorgen, ist mit dem „Heyligthum“ (A II, 516) folglich sowohl der Vestakult als auch das Römische Reich und Kaisertum gemeint.103 Beide sind aufs engste miteinander verknüpft im Mythos von der Gründung Roms durch den Trojaner Aeneas. Dieser hat das im Vesta-Tempel brennende Feuer (ebenso wie das dort aufbewahrte Palladium) aus dem zerstörten Troja mitgebracht.104 Das Römische Reich ist damit aus der Asche Trojas errichtet. Im vestalischen Feuer ist die Erinnerung an den Brand Trojas mahnend wachgehalten, welcher „der Geilheit Brunst entglam“ (A II, 508). Die Wollust erweist sich hier als dämonische Zentrifugalkraft, durch die Zivilisationen, ja ganze Weltteile – die Vestalinnen weiten den Untergang Trojas als allegorisches totum pro parte zu „Asiens Begraebnueß“ (A II, 520) aus – zerstört werden. Als Hüterinnen dieses nunmehr reinen Feuers, das durch seine purgierende Wirkung von der Wollust befreit, setzen die Vestalinnen der destruktiven Kraft ihre heilige Keuschheit entgegen.105 Hatte sich „der Geilheit Brunst“ im Fall Trojas als Feuersbrunst materialisiert, so droht auch Neros „boese[] Lust“ (A II, 524) Stadt und Staat anzuzünden. So prophezeit die geschändete Rubria: „Ich seh’ in Rom schon Trojens Brand“106 (A II, 527) Dies wird sich später im Großen Brand Roms des Jahres 64 verwirklichen, den Nero laut Tacitus und Sueton gestiftet haben soll.

102 Zur Begriffsgeschichte und den rechtlichen Implikationen der „Notzucht“ sowie zur Notzucht als Ehrenraub im frühneuzeitlichen Kontext, siehe Dane: Zeter und Mordio, bes. S. 35 ff; 69–74; 119–129. 103 Vgl. Robert Philipps: Art. Vesta. In: DNP, Bd. 12, Sp. 130–131. 104 Siehe Anm. Lohenstein, S. 198, Z. 446–453: „Die Roemer hielten darfuer: Es habe Dardanus aus Samo-Thracien / als er Troja gebauet / das Bildnus der Gottin Minerva oder das so genennte Palladium als ein Zeichen: Daß / so lange es daselbst ware / die Stadt ewig bleiben solle / dahin gebracht. Dises habe Æneas bey Einaescherung der Stadt Troja (in dem die Grichen nur ein falsch-nachgemachtes bekommen hetten) nebst dem ewigen Feuer weggenommen und mit sich in Jtalien bracht / welches von Alba hernach nach Rom kommen.“ 105 Zu dieser reinigenden Wirkung des Feuers, die auch von Sophonisbe thematisiert wird, als sie ihre Absicht äußert, sich selbst zu töten – „Es [das Feuer] reinigt / was beflecket“ (S V, 233) – siehe Colvin: Daniel Casper von Lohenstein and the Notion of Witchcraft, S. 275. Die Sophonisbe wird in der bereits etablierten Formel zitiert nach: Daniel Casper von Lohenstein: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Lothar Mundt. Abteilung 2: Dramen. Bd. 3: Sophonisbe, Ibrahim Sultan. Teilbd. 1: Text. Berlin, Boston 2013, S. 389–784. 106 Der Vergleich von brennender Wollust und brennendem Troja findet sich ebenfalls im zweiten Reyen der Cleopatra, um auch dort zu illustrieren, wie das Laster der Begierde ganze Zivilisationen stürzen kann. So wird Venus von Juno und Pallas angeklagt: „Du und dein loderndes Troja wird muessen / Deine verdammte Verwegenheit bissen.“ (C II, 761–764; in dieser

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5 „Unser Teutscher Seneca“ und das Böse im Prätext der Geschichte

Die von Lohenstein herangezogene Geschichtsschreibung versichert hier den Wahrheitsgehalt der Weissagung.107 Nero ist damit als Feuerteufel überführt und die Vestalinnen, die durch ihr Priesteramt ohnehin der metaphysischen Ordnung verpflichtet sind, werden so zu den Vermittlerinnen der göttlichen Vorsehung, die im Geschichtsverlauf erkennbar wird und bezeugt ist. Deshalb wissen die Vestalinnen auch, dass die fatale Entfesselung von Neros Wollust und die verbrecherische Entgrenzung seiner Macht nicht auf ihm allein beruht, denn „Von Agrippinen ist die Fackel ja gebohren“ (A II, 528). Damit ist einmal mehr auf Neros kreatürlichen Ursprung, aber auch auf seinen Ursprung als Kaiser und Tyrann verwiesen. Die durch sie unlauter erworbene Macht schützt ihn gerade vor der irdischen Gerichtsbarkeit und der Ahndung seines unerhörten Verbrechens an der Vestalin und es zeigt sich, dass hier das Kaisertum zur Tyrannei entartet ist. Die metaphysische Ordnung hingegen ist gerecht und gut und vor der göttlichen Gerechtigkeit sind alle Menschen gleich. So verkündet Rubria: „Daß so bald der Mensch mit Lastern sich vergreif’t / Die Rache Jupiters auch schon die Keile schleiff’t.“ (A II, 556–557; Hervorhebung IvH) Es zeigt sich, dass Nero, wie er sich noch in seiner vermessenen Selbstinszenierung rühmte, Jupiter seine Position als höchster Gott keineswegs streitig gemacht hat und er nach wie vor das kosmische Zepter, bzw. die Blitze in der Hand hält.108 Jupiter richtet Nero und entlarvt damit bereits etablierten Formel wird zitiert aus der zweiten Fassung der Cleopatra von 1680 nach der Ausgabe Daniel Casper von Lohenstein: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Lothar Mundt. Abteilung 2: Dramen. Bd. 1: Ibrahim (Bassa), Cleopatra (Erst- und Zweitfassung). Teilbd. 1: Text. Berlin, Boston 2013, S. 391–841) Implizit findet sich dies als Topos auch im Ibrahim Sultan wieder, wo „des Sultans Brand“ (IS I, 76) ebenfalls den Brand Trojas reminisziert. Zu letzterem vgl. Peter Rau:,,Und mit den Körpern wird’s zugrunde gehn“. Leiblichkeit als paradigmatische Fremde in Lohensteins Türkischen Trauerspielen. In: Fremdkörper – fremde Körper – Körperfremde. Kultur- und literaturgeschichtliche Studien zum Körperthema. Hg. von Burkhardt Krause. Stuttgart 1992 (Helfant-Studien 9), S. 223–300, hier S. 268. 107 Siehe Tacitus (Ann. 15, 44), Sueton und Cassius Dio (62, 16, 1), die sich einig darüber sind, dass Nero den Brand befohlen hat. 108 Wenn hier „Jupiter auch schon die [Donner-]Keile schleiff’t“, kann dies als Vorausdeutung verstanden werden auf die Gewissensqualen, die Nero wegen des Muttermordes erfahren wird, wodurch antik-mythologische und frühneuzeitlich-christliche Vorstellungen einmal mehr miteinander verquickt sind. Zum Zusammenhang von antiken und jüdisch-christlichen Implikationen des Gewitters als „Donnerwort“ Gottes, das als auditives Phänomen das Gewissen der Sünder „anspricht“, sei noch einmal auf Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 31–64. verwiesen. Die Prophezeiung der Rubria wird später außerdem vom Geist des Britannicus aufgegriffen. War die Verhängnisverkündung bisher auf die Reyen limitiert, drängt sie nun – angesichts des Muttermordes – auch zur Manifestation in der immanenten Geschehenshandlung: „Wie die Wolken ihm nach Haupt und Zepter blitzen. / Wer ihm den Himmel unhold macht / Den kan kein Lorber-Krantz nicht fuer dem Donner schuetzen.“ (A IV, 60–62) Rubrias und Britannicus’ Voraussagen invertieren und relativieren Neros Selbsterhö-

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den selbstinszenierten Sol als Phaeton. Auch dessen Irrfahrt mit dem Sonnenwagen, die erst durch Jupiter beendet wurde, hatte nämlich zu einem kosmischen Weltenbrand geführt. Neros Verbrechen, vor dem die weltliche Rechtsprechung versagt, wird von der göttlichen Gerechtigkeit, die sich wiederum im römischen Gewand zeigt, abgegolten: So wie die Wollust der Ausgangspunkt seines Verbrechens war, so ist sie nun Ausgangspunkt seiner Bestrafung. Und diese wird vom Inzestversuch Agrippinas angestoßen, denn sie ist ja der Ursprung seiner Bosheit(en): „Wie auf die geile Brust / Der Mutter auch ein Sohn den stumpffen Dolch muß wetzen. / Poppee biß’t auch Schuld und Lust / Und Nero muß die Faust im eignen Blutte netzen.“ (A II, 559–562) In der „geile[n] Brust / der Mutter“ (A II, 559–560) hallt der „Geilheit Brunst“ (A II, 508) wider, die sich als „tolle“ (A II, 434), als „boese[] Brunst“ (A II, 426) des Sohnes fortzeugt, und deren Voraussetzung sie gleichsam immer schon ist. Mit dem Muttermord wird Nero seine affektökonomische Schuld gegenüber Poppea einlösen, die wiederum selbst für ihre eigene „Schuld und Lust“ büßen wird. Auch seine kosmische Schuld wird Nero mit dem Blut seiner selbst schuldigen Mutter „bezahlen“ (A II, 563) und büßt dafür wiederum selbst mit seinem bösen Gewissen. Dieses weist ihm schließlich am Ende des Trauerspiels den Weg in die Hölle, deren Flammen bereits in Glut und Feuersbrunst der Wollust aufflackern. Neros „Boßheit“ (A II, 555) kehrt damit an ihren mythologisch-kosmischen Ursprung zurück und richtet und vernichtet sich schließlich selbst. Die Inzesthandlung wird hier als Vehikel identifiziert, um dieses Verhängnisgeschehen ins Werk zu setzen. Der Reyen der Vestalinnen fasst das weitere Handlungsgeschehen zusammen und lässt keinen Zweifel daran, wie dieses zu bewerten sei. Der Geschichtsverlauf gehorcht der Verhängnisordnung. Egal welche Gestalt das Verhängnis annimmt, ob antik oder christlich, es ist universell und kommt von Gott. Als ein solches römisches Gewand für christliche Ideale können schließlich auch die Vestalinnen selbst identifiziert werden. Werden diese in der Ankündigung des Reyens noch als dezidiert „Vestalische Jungfrauen“ aufgeführt, so wird ihre Figurenrede nunmehr durchweg mit „Die Jungfrauen“ ausgewiesen. Das Attribut „vestalisch“ fällt weg, worin ein Anspruch auf Universalität zum Ausdruck kommt. Mit den Jungfrauen wird eine übergeordnete moraltheologische Vorstellung aufgerufen, da auch im Christentum die Jungfräulichkeit bekanntlich dem

hung aus dem Eingangsmonolog. Beide Opfer Neros avancieren zu Botengestalten der intakten kosmischen Ordnung und sind im Zuge der moralisierenden Ökonomie des Trauerspiels in ihrer erniedrigten Position erhöht.

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Schutz Gottes untersteht.109 Durch das Sexualverbrechen wird diese besondere spirituelle Qualität zerstört und dieser Verstoß richtet sich letztlich gegen Gott selbst. Dieser Verstoß ist in Neros Schändung der Rubria sowohl durch das Moment der Gewalt als auch durch das der Entweihung noch potenziert, sodass er das Böse einmal mehr zur Eskalation treibt. Ihren besonderen spirituellen Status teilt die Jungfräulichkeit mit der Ehe und der Blutsverwandtschaft. Darin ist dann auch die übergeordnete Gemeinsamkeit zwischen Neros Schändung der Rubria und dem vermeintlichen Inzest zwischen Agrippina und Nero zu entdecken, da sie jeweils Verstöße gegen Gott markieren. Es zeigt sich, dass die Blutschande aufs tiefste mit der Schändung der Vestalin verknüpft, bzw. deren verhängnisvolle Konsequenz ist. Nicht zuletzt gelten Jungfernschaft und Witwenschaft aufgrund ihrer vorausgesetzten sexuellen Enthaltsamkeit als besonders rein.110 Das Ideal der Witwenschaft ist in Agrippina grundsätzlich pervertiert, da sie überhaupt erst durch eigenes Verschulden – sie hat ihren Gatten Claudius mit einem oft zitierten Pilzgericht vergiftet, um den Platz des Kaisers für Nero frei zu machen – in diesen Stand gekommen ist. Dennoch wird der von ihr initiierte Inzest mit Nero vor diesem Hintergrund noch um ein weiteres in seiner „Boßheit“ (A III, 49) pointiert und perpetuiert. Schließlich war auch ihr Verhältnis mit Claudius ein inzestuöses, da sie in ihm mit ihrem Onkel verheiratet war.111 Durch diese reiteratio des Inzests wird die Übeltat in ihrer Verwerflichkeit noch potenziert, wodurch nicht zuletzt die Wiederholung als Figur des sich steigernden Bösen einmal mehr zur Darstellung gelangt.

5.2.2 Wi(e)der die Natur: Die Inzestszene Der Inzest wird in der dritten Abhandlung qua Botenbericht angekündigt durch die Freigelassene Acte, Neros Konkubine. Acte wurde bereits in Octavias Klage der verschmähten Gattin angesprochen, deren Auflistung von Neros sexuellen

109 Die folgenden Ausführungen über die besondere spirituelle Qualität von Jungfräulichkeit, Ehe und Blutsverwandtschaft im Christentum stützen sich auf Tilman Walter: Unkeuschheit und Werk der Liebe. Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit in Deutschland. Berlin 1998 (Studia linguistica Germanica 1), bes. S. 53–150. 110 Vgl. Ebd., S. 93. 111 Agrippina wurde darüber hinaus ein inzestuöses Verhältnis mit ihrem Bruder Caligula nachgesagt. Dazu wird Lohensteins Agrippina sich später in ihrem Geständnis kurz vor ihrer Ermordung bekennen: „Hier nechst steh’t angemahl’t / wie mein halb-viehisch Liben / Mit Sohn und Bruder hat unkeusche Lust getriben“ (A V, 45–46) .

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Exzessen ja damit abgeschlossen wurde, dass er „Maegde leg’t in unser Bette bey“ (A II, 333). Zu dieser Stelle erklären Lohensteins Anmerkungen schlicht: „Die Acte“. Sie personifiziert und beglaubigt gleichsam die neronischen Perversitäten und berichtet als ausgewiesene Expertin auf diesem Gebiet von einer weiteren sich anbahnenden sexuellen Transgression, nämlich Neros Verführung durch Agrippina: „So faesselt sie den Printz mit Zauber-Kreißen ein / Durch rasend-tolle Brunst. Des Kaeysers Mutter kirret / Den Sohn zur BluttSchand’ an“ (A III, 5–6) Wollust und Zauberei sind hier chiastisch miteinander verschränkt. Durch den Bericht der Acte wird der von Agrippina induzierte Liebeswahn mit einer magischen Vorspiegelung gleichgesetzt. Acte verknüpft Verführungskunst und Schwarzkunst miteinander, sodass Agrippinas Vorgehen sogleich als umfassende „Boßheit“ (A III, 49) ausgewiesen ist. Bereits im ersten Reyen warnte die Gerechtigkeit vor der „Wollust Zirzen“112 (A I, 629). Die mythologische Hexe Kirke verwandelte die Männer des Odysseus in Schweine und so fährt auch die Allegorie der Gerechtigkeit fort, dass die Menschen von ihr zu „wilden Thiere[n]“ (A I, 630) gemacht würden. Die circeische Verwandlung als gängige Metapher für die Wollust findet sich auch im affektpathologischen Diskurs der Frühen Neuzeit, so z. B. bei dem französischen Mediziner und Paracelsisten Joseph Duchesne, auch Quercetanus genannt. Dieser bedient sich in seinem Diaeteticon polyhistoricon113 des Vergleichs mit der Kirke – „a poetis tam decantata“114 – um die Wirkung der Wollust auf den

112 Colvin: Daniel Casper von Lohenstein and the Notion of Witchcraft, S. 273 bemerkt, dass es sich dabei um ein gängiges Motiv bei Lohenstein handelt. So heißt es im programmatischen Widmungsgedicht der Sophonisbe: „die Wollust ist die Cirz“ (S, S. 117 [Widmungsgedicht]). Dies ist auch der Fall im 2. Reyen der Cleopatra, der das Paris-Urteil nachstellt: „Wer der verzaubernden Circe wil trauen / Wird in ein sündiges Unthier verkehrt.“ (C II, 761–762). 113 Joseph Duchesne: Diaeteticon polyhistoricon. Frankfurt am Main 1607. Einen Einblick in das Genre der diätetischen Traktate als Teil der naturphilosophischen und anthropologischen Diskussion der Affekte gewährt Micheal Stolberg: „Zorn, Wein und Weiber verderben unsere Leiber“. Affekt und Krankheit in der frühen Neuzeit. In: Passion, Affekt und Leidenschaft in der frühen Neuzeit. Hg. von Johann Anselm Steiger. Bd. 2. Wiesbaden 2005 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 43), S. 1051–1079. Dass Lohenstein mit der paracelsischen Medizin über seine Lektüre von Athanasius Kircher vertraut war, dazu siehe Peter-André Alt: Sexus ludens. Androgynie als Spiel der Rhetorik und des Theaters in den Dramen Daniel Caspers von Lohenstein. In: Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. Hg. von Thomas Anz, Heinrich Kaulen. Berlin 2009 (Spectrum Literaturwissenschaft 22), S. 231–254, hier S. 234. Zur Rezeption medizinischen Wissens in Lohensteins Agrippina siehe Charlotte Brancaforte: Liebesmetaphorik in Lohensteins „Agrippina“ im Lichte wissenschaftlicher Debatten des 17. Jahrhunderts. In: Daphnis 12 (1983), S. 304–320; Rahn: Affektpathologische Aspekte und therapeutische Handlungszitate. 114 Duchesne: Diaeteticon polyhistoricon, S. 17.

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Menschen zu beschreiben: Wie durch Zauberei würden durch die Wollust Tugend in Laster verkehrt und der Mensch zum Tier. Beim Dichter Lohenstein wird wiederum diese wissenschaftlich-medizinische Diskussion der Affekte durch die antike Bildvorlage mit moraltheologischen Prämissen enggeführt. In der christlichen Vorstellung ist es die gottgegebene Vernunft, die ratio bzw. der logos, der auch Sprache ist, welche die Menschen von den Tieren trennt und den Menschen ursprünglich in den Zustand der Gottesebenbildlichkeit versetzt hatte. Ist der Mensch dieser Vernunft beraubt, also dessen, was ihn eigentlich zum Menschen macht – und der pathologische Wahn, hier spezifisch der Liebeswahn, beschreibt einen solchen Zustand –, so verliert er damit die ihm von Gott bei der Schöpfung übertragene Herrschaft über die Welt und die Natur. Der Mensch ist folglich zum Tier degradiert und darin ist nicht zuletzt die göttliche Schöpfungsordnung pervertiert. Vor diesem Hintergrund ist auch Actes Bericht zu verstehen, da sie mitteilt, dass Nero unter Agrippinas Verführung bereits zu einem Tier verkommen sei – wenn auch nicht zu einem Schwein, so doch zu einem „saugend Lamb“ (A III, 33). Die moraltheologische Anordnung lässt sich ohne weiteres auf das politische Szenario übertragen, wenn hier Neros Scharfsinnigkeit und prudentia ausgeschaltet werden. Nero erscheint nicht nur zum Tier depraviert, sondern noch darüber hinaus infantilisiert. Dass Nero vor dem erotischen Angebot des Inzests zahm wie ein Lämmchen am Euter der Aue ist, stellt in Aussicht, dass Agrippina endlich wieder über ihn verfügen und sich als „Kaeysers Mutter“ (A II, 6) behaupten kann. Acte besteht in ihrem Bericht darauf, Agrippinas Verführungskunst mit Zauberkunst gleichzusetzen: Ob wieder die Natur gleich auch solch Feuer kaempffet / So biß’t doch die Natur fuer Agrippinen ein / Weil ihre Wuerckungen mehr als Natuerlich seyn. Jn sie ward Claudius durch Zauberey verlibet. (A III, 78–81)

Es wird wiederum die Feuermetaphorik zur Beschreibung der Wollust aufgegriffen, mit der Agrippina in der rhetorischen Komposition parellelisiert wird. Beide, die Wollust und Agrippina, wenden sich „wider die Natur“ und die Natur unterliegt. Agrippinas Verführungskünste – „ihre Wuerckungen“ – sind „mehr als Natuerlich“, d. h. sie überbietet die Natur und setzt sich über ihre Gesetze hinweg, was per definitionem „Zauberey“ (A III, 4; 29; 81) ist. Der Inzest, auf den Agrippinas „Zauberwerck“ (A III, 29) gegen Claudius und gegen Nero gleichermaßen ausgerichtet ist, verstößt schließlich genauso gegen die Naturgesetze wie die Magie. In Claudius’ und Neros Bezirzung durch Agrippina ist folglich die frühneuzeitliche Vorstellung der Hexerei aufgerufen, in der Ideen von Magie, Bedro-

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hung, Sexualität und Feuer miteinander konvergieren.115 Im Feuer der Wollust flackern die Flammen der Hölle auf, mit deren bösen Kräften die Hexe ja im Bunde steht. So wie die Wollust die menschliche Natur verdirbt – und dieses Verderben der Natur ist per se Werk des Teufels –, so ist auch die Hexerei als magia daemoniaca darauf ausgerichtet, die natürliche Welt und ihre Gesetze zu manipulieren. Der Angriff auf die göttliche Ordnung ist darin immer schon getan. Actes vehemente Anklage wird jedoch von Seneca relativiert: „Daß man die Uhrsach erst so frembden Kuensten gibet: / Der Libreitz einer Frau ist schon die Zauberey.“ (A III, 82–83) Seneca erkennt das zerstörerische Potential der weiblichen Sexualität durchaus an, vertritt dabei jedoch eine andere Position. Er entdeckt die Gefahr vielmehr darin, dass der Wille – „die Tugend“ (A III, 85) und „die Freyheit“ (A III, 87) – des Mannes vor der Wollust versagt und dazu bedürfe es eben gar nicht erst der Zauberei. Zum Zusammenhang von Wollust und Hexerei konstatiert Sarah Colvin ausgehend von der Sophonisbe: „It is, then, not so much women who cast the spell as men’s lust; and it is not so much witchcraft as men’s weakness in succumbing to that lust that is, in Lohenstein’s view, at the root of the problem.”116 Diese Anschauung, die Colvin Lohenstein zuschreibt, vertritt hier, in der Agrippina, Seneca, da er die scheinbar magische Kraft der Wollust auf die allzu männliche Willensschwäche zurückführt. Er behält mit seiner Einschätzung gar das letzte Wort, denn von Magie ist im Anschluss auch von Actes Seite nicht mehr die Rede. Agrippinas Vorgehen ist damit zwar ‚entzaubert‘, die Bezichtigung des Inzests hat dadurch jedoch nichts an Schwere eingebüßt. Es ist demnach keine Schwarzkunst, sondern politisches und affektpsychologisches Kalkül, also die Staatskunst, die Agrippina einmal mehr den Zugang zu „des Kaeysers Schlaff-Gemach“117 eröffnet. Die verschobenen Verhältnisse ähneln dabei den Zügen auf einem Schachbrett, dem strategischen Spiel der Könige: Wie zuvor in der politischen, so ist Nero jetzt auch in der inzestuösen Konstellation an Claudius’ Stelle gerückt, während Agrippina nun die Position eingenommen hat, die vor Kurzem noch Poppea im galanten Liebes- und Machtspiel innehatte. Was hier zur Anschauung kommt sind die spielerischen Implikationen der prudentia, die auf dem Schauplatz des Trauerspiels entfaltet werden.118

115 Vgl. Colvin: Daniel Casper von Lohenstein and the Notion of Witchcraft, S. 273–275. 116 Ebd., S. 282. 117 A, S. 88 (Bühnenanweisung). 118 Dass damit ein Kernpunkt von Lohensteins dichterischem Interesse angesprochen ist, zeigt wiederum der Blick auf das Widmungsgedicht der Sophonisbe. Am Paradigma des Spiels entwickelt Lohenstein dort seine anthropologischen, naturphilosophischen und politischen Vorstellungen, die er im Trauerspiel verhandelt.

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5 „Unser Teutscher Seneca“ und das Böse im Prätext der Geschichte

In der Gesamtkonzeption des Trauerspiels wird der Inzest zur Metapher einer „durch Politik entzauberten Welt“119, in der nichts mehr heilig und alles möglich ist. In der Verführung zum Inzest wird die rhetorische Persuasion im Dienste der prudentia ausgestellt.120 Lohenstein gestaltet den Dialog zwischen Agrippina und Nero als argute Argumentation, in der die Perversion, die der Inzest bedeutet, zwischen Mutter und Sohn disputatorisch verhandelt wird. Schon im Voraus als Verbrechen „wieder die Natur“ (A III, 79) gekennzeichnet, bildet hier stets das Naturrecht den Kern des Widerspruchs gegen das Inzestangebot, während Agrippinas Schoß der Mittelpunkt ist, um den die Disputation kreist. So spricht Nero noch zu Beginn der Szene: „Es haelt uns die Natur selbst bey dem letzten [dem mütterlichen Schoß] wieder.“ (A III, 149) und zeigt damit, dass er das Inzesttabu als Naturgesetz begreift. Das Naturrecht wird im Folgenden in jeweils unterschiedlichen Registern zur Disposition gestellt, auf deren Grundlage sich die scharfsinnige Disputation in fünf Teile aufgliedern lässt: Ganz zu Anfang wird die Blutschande ausgehend vom Begriff der Sünde moraltheologisch perspektiviert (1). Daraufhin sollen Naturgleichnisse Nero den Inzest als naturgemäß beweisen und legitimieren und widersprechen damit offensiv der Prämisse vom Inzesttabu als Naturgesetz (2). Als diese rhetorische Strategie nicht erfolgreich ist, geht Agrippina zu historischen exempla über (3). Da auch diese nicht überzeugen, ist sie auf sich selbst zurückgeworfen. Indem sie eine eindringliche Überbietungsrhetorik appliziert, in der sie die eigene Mutterschaft hinter der buhlerischen Liebschaft zurücklässt, treibt sie die rein verbale Persuasion an ihre Grenzen (4). Sie verlässt sich letztlich nur noch auf ihre Körpersprache (5) und macht Nero zum Augenzeugen ihres simulierten Affektzustandes. Dadurch wird Nero selbst schließlich vollkommen in seiner Wollust affiziert und willigt in den Inzest ein. In der ersten, moraltheologischen Phase der Disputation argumentiert Agrippina – wie zuvor Seneca – mit den Begriffen der Freiheit als Freiheit des Willens und der Vernunft. Sie widerspricht dem gleichnishaften Ideal der Moralistik, dass

119 Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 165. 120 Gabriele Vickermann-Ribémont: Liebe und Verführung. In: Liebessemantik, S. 385–423, hier S. 406 sieht in dieser frühneuzeitlichen Kulturtechnik die Schöpfungslehre aufscheinen: „Im Anschluss an die Urszene der Genesis ist Verführung auch immer schon ein Spiel mit den Verhaltens- und Sprachregeln, mit Konventionen und Normen, mit Maske und artifice […].“ Dass die Persuasion im Inzestdialog den klassischen fünf Stadien erotischer Liebe folgt, führen Aurnhammer, Detering: Deutsche Literatur der Frühen Neuzeit, S. 238 an: „Auf den Anblick (visus) folgt das Gespräch (colloquium), dann die Berührung (tactus) und der Kuss (osculum oder basium), bevor die Partner in der Vereinigung (coitus oder actus) zusammenfinden.“

5.2 Von voluntas und voluptas: Die Inzesthandlung

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die Affekte, hier: die Begierde, von der Vernunft gezügelt werden müssten wie ein Pferd vom Reiter.121 Die Vernunft sei vielmehr „was die Freyheit hemm’t“ (A III, 150). Eine derartige Hemmung sei „fuer den Poefel nur / fuer Sclaven […] erdacht“ (A III, 151). Bereits hier weist sie Nero auf seine außer-ordentliche Stellung als Kaiser, also außerhalb der sozialen, natürlichen, gottgewollten Ordnung, hin und rechtfertigt dadurch die Enthemmung seines Willens zur widrigen Wollust. Agrippinas Aufforderung zur vermeintlichen Befreiung des Willens – „So muß ihm [dem Pferd der Begierde] die Vernunfft den Zuegel lassen schueßen“ (A III, 153) – impliziert, dass Nero genau das fahren lassen soll, was ihn als Menschen überhaupt vom Pferd unterscheidet, nämlich die Vernunft. Wie bereits weiter oben auseinandergesetzt wurde, wäre er dadurch weiterhin zum Tier degeneriert – er ähnelte ja schon einem „saugend Lamb“ (A III, 33) – und Agrippina hätte von Neuem die Zügel in der Hand. Mit der Herrschaft über seine Affekte würde er die Herrschaft über sich selbst und damit auch über sein Kaisertum verlieren, bzw. sie letztlich Agrippina überantworten. Nero hätte damit seine Souveränität bzw. seine Mündigkeit als Mensch und Kaiser eingebüßt. Das Bild vom Pferd, dem das Zaumzeug ins Maul gelegt wird, gilt schließlich als gängiges Gleichnis für beides: die Freiheit des Willens und des Mundes. In letzterer Variante wird gerade zur Zügelung, zur Bezähmung des Mundes, pars pro toto der Zunge, gemahnt. Auch hier herrscht die Vernunft über die Sprache. Damit finden wir uns in das moraltheologische Zentrum der Inzesthandlung katapultiert, die in sich die Geburt des Bösen zu wiederholen verspricht. Denn durch die verführerische Macht der Sprache wurde der Leib der Ersteltern im Sündenfall erst befleckt. Dies findet sich im Disput über den Inzest als rhetorische Persuasion übersetzt und gleichsam zur Aufführung gebracht – nur dass die Protagonisten durch ihre Schuld und die Verbrechen, die sich in ihnen permanent fortzeugen, immer schon eine pervertierte Schöpfung repräsentieren. An Agrippinas Gleichnis anknüpfend beruft sich Nero seinerseits auf den Willen und ruft damit einmal mehr die heikle Verwandtschaft von voluntas und voluptas auf: „Daß uns der Wille nicht einst aus dem Buegel bring’t“ (A III, 156) Wird der Wille nämlich nicht von der Vernunft gesteuert, sondern ist er, wie von der Mutter vorgeschlagen, zur „Bergierden“ (A III, 152) enthemmt, so könne dies „leicht in den Abgrund“ (A III, 158) führen, also zu Fall bringen.122 Als Grund

121 Als Acte, Seneca und Burrhus über den sich anbahnenden Inzest beraten, beruft sich auch Burrhus auf „der Vernunfft ihr Zaum“ (A III, 57), der die Begierde zügeln soll. Er ist überzeugt, dass die „Boßheit“ (A III, 49; 60) somit keine Chance habe. 122 Auch David Halsted: From school theater to Trauerspiel: Lohenstein’s „Agrippina” as systemic analysis. In: Daphnis 22 (1993), S. 621–639, hier S. 631–632 bemerkt, dass Nero hier (sowie in der gesamten Disputation) als „Schüler Senecas“ argumentiert.

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dafür nennt Nero „[d]ie Suende“ (A III, 160). Die Sünde ist der Begriff, der hier den Inzest als „Boßheit“ (A III, 49; 60) moraltheologisch auf den Punkt bringt. Und die Sünde wird, so hatte im ersten Reyen bereits die Rache verkündet, „Jm Leben Pein / im Grabe Schimpff empfinden.“ (A I, 670). Sein Wissen von der Sünde, von der bösen Tat und ihrer metaphysischen Strafe, das hier auf die dezidiert frühneuzeitlich-christliche Moralistik gemünzt ist, lässt Nero (vorerst) zurückschrecken. Agrippina versucht, diese moraltheologische Position Neros zu entkräften, indem sie ihn wiederum auf seine unumschränkte Herrschaft zurückführt. Als absoluter Souverän untersteht er keinem weltlichen Gesetz und auch die Sünde erklärt Agrippina geradezu blasphemisch zu einer Einbildung, einem „alber Ding“ (A III, 161). Sie propagiert eine strikte Trennung des weltlichen und göttlichen Machtbereichs und verbannt damit Gott bequem ins Jenseits: „Jm Himmel herrschet Gott / der Kaeyser auf der Welt.“ (A III, 164) Nero beruft sich daraufhin erneut auf die Wirksamkeit des Naturrechts, das seiner Macht und seiner Wollust klare Grenzen setzt: „Hier [im Angesicht des sich anbahnenden Inzests] daempf’t selbst die Natur Scham-roethend die Begierde.“ (A III, 165) Als innerliche Gewissensethik ist das Naturrecht unveränderlich in den Menschen eingeschrieben und in letzter Konsequenz ebenfalls gottgegeben.123 Das Naturrecht wird damit gleichsam zu ebenjenem „Compaß der Tugend“, den Agrippina ja entschieden verworfen hatte. Sie ist darum bemüht, Nero – im Register der Naturgesetze verbleibend – den Inzest als falsches Gut vorzustellen und bedient sich in ihrem vehementen Widerspruch wiederum der Magnetmetaphorik: „Nein! Jhr [der Natur] Magnet zeucht sich zum Nord-stern reiner Zierde.“ (A III, 166) Agrippina greift den „Magnet der Laster“ auf und gibt ihn als harmlosen Magnet der Natur aus. Darin ist das theosophische Naturverständnis im Kern ausgehöhlt, da ja die Liebe Gottes die eigentlich wirkende Kraft in der Natur ist, der alles zustrebt. Indem sie Nero die inzestuöse Liebe als falsches Gut vorstellt, manipuliert sie die Einnordung des Willens auf das göttliche Gut bzw. Gottes Güte und pervertiert die gottgegebene, gottgewollte natürliche Ordnung. Das Inzestangebot wird hier ganz ostentativ zum Verbrechen wider die Natur und damit zur Sünde wider Gott. Agrippinas Rede ist von dieserart Gleichnissen durchwirkt, die Nero den Inzest weiterhin als naturgemäß beweisen sollen. Sie versucht damit die natürlichsittlichen Limitierungen zu überwinden, indem sie diese gar negiert. Agrippina zitiert hier die geistliche Lyrik, in der die Naturvergleiche eine dem Makro- und

123 Vgl. dazu Fromholzer: Gefangen im Gewissen, 183–228, hier bes. S. 195, der sich der gesamten Agrippina unter dem Aspekt der frühneuzeitlichen Gewissensethik widmet.

5.2 Von voluntas und voluptas: Die Inzesthandlung

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Mikrokosmos entsprechende Ordnung herstellen, welche wiederum von der galanten Lyrik genutzt werden, um die erotische passio als naturgegeben und gottgewollt erscheinen zu lassen.124 Diese zweifelhafte Moralität der erotischen Dichtung überbietet Agrippina noch durch den Zweck, der sich hinter ihrer „Naturlyrik“ verbirgt: Wir muessen die Natur der Dinge Zirckel nennen. Denn wurde nicht ihr Lauff zu seinem Uhrsprung rennen / So wuerd’ ihr Uhrwerck bald verwirr’t und stille steh’n. Des Himmels Umb-trieb muß nach Osten widergeh’n / Wo sein Bewegungs-Kreiß den Uhrsprung hat genommen. Der Fruehling muß zum Lentz / der Fluß zum Kwaelle kommen. Die Sonne rennet stets der Morgen-roethe nach / Und ihrer Mutter Schoos ist auch ihr Schlaf-Gemach. Warumb sol denn diß Thun als Unthat seyn verfluchet / Wenn ein holdreicher Sohn die Schoos der Mutter suchet? Den Brunnen der Geburth? Da er der Libe Frucht Und die Erneuerung des matten Lebens such’t. (A III, 181–192)

In dieser wohl meistzitierten Passage des Dramas stellt Agrippina den natürlichen Lauf der Dinge als Kreis-Lauf vor. Der „Bewegungs-Kreiß“ des Himmels, der Wechsel der Jahreszeiten sowie der von Tag und Nacht sind Naturgesetze, die dieses zyklische Modell beweisen. Da Gott die in der Natur wirkende Kraft ist, so ist seine Wirkweise auch an der Natur abzulesen. Die Form, die damit beschrieben wird, ist die des Kreises: „Überzeitliches, Ewiges wird am Zirkel versinnbildlicht.“125 Das „Uhrwerck“ repräsentiert diese natürliche Zeitlichkeit als menschengemachte Mechanik. Gerade weil das Uhrwerk immer wieder zu seinem Ursprung zurückkehren muss, kann die Zeit überhaupt fortschreiten und sich der natürliche Lauf der Dinge als Geschichte verwirklichen, was sich nicht zuletzt in der Wiederholung des Präfixesses „Uhr-“ in „Uhrwerck“ und „Uhrsprung“ auf scharfsinnige Weise ausformuliert.126 Agrippina verspricht Nero damit, dass er durch den Zirkelschluss, den der Inzest bedeutet, Geschichte schreiben kann. Diese eindringliche, argute Argumentation Agrippinas ignoriert den göttlichen Wesenskern sowohl der Verhängnisordnung der Geschichte als auch des

124 Auf diesen Zusammenhang von galanter Lyrik und geistlicher Lyrik verweist Rotermund: Der Affekt als literarischer Gegenstand, S. 267–268. 125 Wilhelm Vosskamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein. Bonn 1967 (Literatur und Wirklichkeit 1), S. 169. 126 Zu diesem rhetorischen Spiel mit der Morphologie äußert sich auch Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 145.

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Naturrechts und der Naturgesetze. Agrippina zeichnet gerade die „moralische Leere der Kreisbewegung“127 des ruchlosen circulus vitiosus nach. Der göttliche Zirkelschluss wird in den Teufelskreis verkehrt, wenn in einer widernatürlichen Inversionsbewegung der Sohn im sexuellen Akt in die Mutter zurückkehrt. Agrippina wiederum verleibt sich den Sohn und die kaiserliche Macht ein, die er inkorporiert. Da Agrippina die Gesetzmäßigkeit der Natur und der Geschichte ihres metaphysischen Sinngehalts entleert, wiederholt sie hier, was sie auch schon ganz zu Beginn des Trauerspiels bei der rhetorischen Instrumentalisierung der Fortuna vermittelt hatte: Ohne den metaphysischen Gehalt anzuerkennen, höhlt sie die Entität – sei es Fortuna oder Natur – aus und gibt sie ihrem politischen Kalkül preis. Dieser Wiederholungszwang ist für Agrippina geradezu symptomatisch, denn sie steht in gewisser Weise für das, was sie Nero gegenüber als Argument ins Feld führt. In Analogie zu ihrem scharfsinnigen Manöver repräsentiert sie eine gottlose, sündhaft zirkulierende Welt, die moralisch und metaphysisch entleert ist und sich um nichts mehr außer um sich selbst dreht. Das Ziel, auf das Agrippinas natürlicher Gleichnisreigen hinsteuert, ist folglich auch nicht ein wie auch immer geartetes Gut, sondern ihr Schoß. Die argute Komposition kulminiert, wenn „Sonne“ und „Sohn“, „ihrer [der Sonne] Mutter Schoos“ und „die Schoos der Mutter [Neros]“ nicht mehr unterscheidbar sind. Natur und Inzest werden identisch und Agrippina insistiert davon ausgehend, dass die sexuelle Vereinigung von Mutter und Sohn keinesfalls widernatürlich sein kann. Der Inzest stelle „Erneuerung“ in Aussicht und diese Erneuerung der imperialen Macht bedeutet nichts weniger als Apotheose. Mit der Konvergenz von „Sohn“ und „Sonn“ suggeriert sie Nero, im Inzest endgültig zum zweiten Sonnengott zu erwachsen. Sie verspricht ihm, sein Streben nach Göttlichkeit zu vollenden, das er in seinem das Trauerspiel eröffnenden Monolog zwar als geschichtliches Faktum formuliert hatte, das jedoch umgehend als bloße Selbstdarstellerei entlarvt wurde. Agrippina reizt Nero also nicht zuletzt in seiner luziferischen, gotteslästerlichen superbia, die sich ja im Drang zur theatralen Inszenierung seiner unlauteren Apotheose ausdrückt. Im Inzest soll Nero schließlich die Naturgesetze überwinden, denn hier holt er „nachträglich seine eigene Zeugung nach“128. Indem er so den göttlichen Zir-

127 Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 194. 128 Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 144 beschreibt den Inzest als „den ersten von zwei Momenten innerhalb der Logik absoluter Selbstsetzung[.] […] Inzest und Muttermord sind somit zwei Schritte in dem Prozess der phantasmatischen Selbstsetzung.“ Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass der Inzest ja von Agrippina initiiert wurde. Neros Selbstzeugung und Selbstsetzung im Inzest steht gerade nicht isoliert, sondern ist für Agrippina vielmehr Mittel zum Zweck, um sich selbst erneut als Kaisermacherin zu setzen.

5.2 Von voluntas und voluptas: Die Inzesthandlung

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kelschluss, wie er sich in der Natur angeblich manifestiert, vollzieht, verewigt Nero sich selbst und stellt sich damit auf eine Stufe mit dem göttlichen Prinzip. Durch diese Erneuerung, herbeigeführt durch die Entfesselung des Willens zur Wollust, setzt er sich über die innerweltliche „Gesaetze“ und „Satzungen“, über Naturgesetze und heilige Tabus gleichermaßen hinweg. Damit stellt er seine unumschränkte Souveränität unter Beweis, die ihn zum (Ab-)Gott erklärt und endlich zu seiner Apotheose verhilft. Doch Nero entkräftet Agrippinas Argument schon auf der Metaebene: „Es laeß’t hierinnen sich aus Gleichnuessen nicht schluessen.“ (A III, 193) Denn in der Kunst der Überzeugung hat das Gleichnis lediglich die Funktion, das Argument glaubhaft zu machen, verfügt jedoch selbst über keine Beweiskraft. Um die durchschlagende politische Kraft der inzestuösen Verbindung weiter zu belegen, führt Agrippina nun historische exempla an und besteht weiterhin darauf, dass Nero im Inzest Geschichte schreiben kann. Zuerst rekurriert sie auf sich selbst und ihre Ehe mit ihrem Onkel Claudius. Anschließend stellt sie ein Beispiel aus der persischen Geschichte vor und verknüpft dieses wiederum mit dem Aufruf zur Entfesselung, zur Entbindung von Neros unumschränkter Souveränität und apostrophiert, wie nebenbei, Nero und sich selbst beide als Fürsten: „Der Persen Recht laeß’t zu: daß eine Mutter sich / Jn’s Sohnes Bette laegt. Und du besorgest dich: / Daß / was den Poefel nicht bestrickt / uns Fuersten binde.“129 (A III, 207–209; Hervorhebung IvH) Nero kehrt daraufhin zu seiner moraltheologischen Gegenargumentation zurück und beruft sich unter dem Vorschub der kulturellen Differenz erneut auf die Sünde: „Viel / was der Perse lob’t / ist bey den Roemern Suende.“ (A III, 210) Die Disputation ist wieder an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt und es zeigt sich, dass der Inzest nicht mit den Mitteln der rhetorischen Persuasion herbeigeführt werden kann. Es bedarf vielmehr der sinnlichen Verwirrung durch die Affekte, der perturbationes animi, um die ratio endgültig auszuschalten und Neros Willen zu enthemmen. Dafür verzichtet Agrippina schließlich auch auf die „Apotheose des Inzests“130, womit die superbia hinter der voluptas zurückbleibt. Taten sagen mehr als tausend Worte und so kommt auch Agrippina für sich zu dem Schluss: „Wo Worte Kraft-loß sind / da fruchten Wercke doch.“ (A III, 256)

129 Dass Agrippina hier am Beispiel der persischen Geschichte nicht nur im Geiste eines moralischen sondern auch eines kulturellen Relativismus argumentiert, der als Diskurs auch in Lohensteins Anmerkungen mit dem Verweis auf Heinrich Ernst (Ernstius) aufgerufen ist, erarbeitet Jane Newman: Sons and Mothers. Agrippina, Semiramis, and the Philological Construction of Gender Roles in Early Modern Germany (Lohenstein’s “Agrippina”, 1665). In: Renaissance Quarterly 49 (1996), S. 77–113, hier S. 90–100. 130 Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 168.

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Agrippina verwirft, ein letztes Mal im großen rhetorischen Überbietungsgestus, ihre Mutterschaft zugunsten der buhlerischen Liebschaft. Sowohl gegen die Intrige der Silana als auch gegen die Bedrohung durch Poppea hatte sie ihre Mutterschaft gekonnt als rhetorisches Argument zur eigenen Verteidigung verwendet und setzte das mütterliche Ideal dem „unkeusche[n] Balg“ (A I, 388) auf dem „Hurenbett“ (A I, 390) bzw. dem „Hurenbalg“ (A II, 242) entgegen. Nunmehr wird von ihr selbst, rhetorisch ebenso versiert, das mütterliche in ein erotisches Liebesverhältnis pervertiert: „Jch libe dich mit mehr als Muetterlichem Hertzen. / Jch nehme nun nicht mehr den Nahmen Mutter an / Weil keine Mutter doch so hefftig liben kan.“ (A III, 231–232) Indem Agrippina ihrer Mutterschaft wort-wörtlich ent-sagt, da sie den „Nahmen Mutter“ ablegt, ist die verbale Persuasion an ihre Grenzen gebracht – erfolgreich, wie sich zeigt, denn Nero kann nur noch durch seine Körpersprache antworten mit Zittern, Erblassen, Beben, Seufzen, Lächeln und wechselnder Hautfarbe. Die rhetorische Persuasion ist durch die Verführung der ratio als erfolgreiche Affekterregung abgelöst. Agrippina appelliert im Folgenden ausschließlich an Neros Sinne. „Schau“ (A III, 241) und „Schmeck’“ (A III, 247; 250) sind die Aufforderungen, durch die er sich selbst von ihrem Affektzustand überzeugen soll. Diesen simuliert sie unter vollem Körpereinsatz und mit Rückgriff auf die medizinische Säftelehre.131 Agrippina (sowie auch Poppea und Nero) sind hier dezidiert als Meistersimulatorinnen auf dem politischen Schauplatz zu verstehen, die diese Techniken soweit verinnerlicht haben, dass angesichts der vorgespielten Affizierung selbst dem prudenten Gegenüber seine scharfsinnige Unterscheidung von Schein und Sein versagt. Ohne notwendigerweise selbst in Wollust entbrannt zu sein, wissen diese klugen Politikerinnen ihre Affizierung zu simulieren. Darin besteht dann auch, wie oben bereits wiederholt angedeutet wurde, die eigentliche Provokation, an der auch die Frage nach dem Bösen hängt: Nicht etwa das Affekthafte ist das Böse, sondern die skrupellose simulatio der Affekte, die jeglicher Sittlichkeit entbehrt und im Selbstzweck der Akteure aufgeht. Durch Agrippinas Enthüllung ihrer (simulierten) sexuellen Erregung, die ein unvergleichliches Geschmackserlebnis verspricht, provoziert sie schließlich

131 Vgl. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 172. Zur „Beweis- und Überredungsfunktion“, die den Körpersäften und -sekreten zukommen kann, siehe Rahn: Die Rhetorik der Körperflüsse in Lohensteins Theater, S. 18–29. Rahn behauptet an anderer Stelle, Agrippina (wie zuvor Poppea und später Nero, als er Agrippina nach Bajae locken will) „spielen ihre Geilheit nicht vor, sie kontrollieren lediglich deren Wirkungen.“ (Rahn: Physiologie der Liebesblicke, S. 173.).

5.2 Von voluntas und voluptas: Die Inzesthandlung

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Neros Aufforderung „Entbloeß’“ (A III, 264), mit der er in den Inzest einwilligt.132 Agrippina hat sich endlich Neros Willens durch die kluge Lenkung seiner lasterhaften Wollust bemächtigt. Neros Einwilligung ist nicht zuletzt an der rhetorischen Gesamtkomposition der Inzestdisputation abzulesen, denn in seiner letzten Figurenrede zitiert Nero Agrippina fast wörtlich. Zu Beginn der Szene hatte sie einen Metaphernkomplex aus Feuer und Eis entworfen, durch den der Inzest nach den Regeln petrarkistischer Liebesmetaphorik ausgeschmückt war. War am Anfang auf Agrippinas Seite noch die Rede vom leitmotivischen Brand der Wollust, „Den nur der glatte Schnee der Schooß [der Mutter] weiß abzukuehlen“ (A III, 141), so ist Nero nun überzeugt, dass nur „in dem Schneegebirg’“ (A III, 260) sowie „den kuehlen Anmuths-Wellen / Diß Alabaster-Meer“ (A III, 261–262) des mütterlichen Körpers seine brennende Wollust gestillt werden kann: „Darinnen sich der Brand der Seele leschen kan“ (A III, 263). Die zirkuläre Struktur, die sich auf dieser Grundlage für die rhetorische Komposition der Szene nachweisen lässt, entspricht dem Zirkelschluss, den der Inzest selbst beschreibt. Es sollen nunmehr Tatsachen geschaffen werden. So folgt vielversprechend Neros Aufforderung „Entbloeß’ – – – – – –“ (A III, 264). Der im Schriftbild durch Gedankenstriche gekennzeichnete Einschnitt markiert sowohl das Ende des Verses als auch der Szene. Angesichts dieser virtuellen Leerstelle drängt sich die Frage auf, ob das Unsägliche sich nun sprachlos vollzieht. Zumindest sind das Sagbare und Darstellbare hier an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gebracht in Hinblick auf die sittlichen Konventionen auf dem frühneuzeitlichen Theater. Durch die Gedankenstriche aber entsteht ein Spielraum des Obszönen, der sich jenseits der Sprache befindet. Mit der nächsten Szene wird das Unaussprechliche sodann aufgefangen: Dass der Abbruch des letzten Verses „Entbloeß’ – – – – – –“ den Einbruch der Höflinge in „des Kaeysers Schlaff-Gemach“ vorbereitet, findet sich durch die Rede der Acte aufgeklärt. Diese eröffnet die Szene und ihr Vers setzt ebenfalls mit einem Gedankenstrich ein: „– Ach Fuerst! es spinn’t sich aergster Aufruhr an!“ (A III, 264) Die „Boßheit“ ist also abgewendet.

132 Mit Hinblick auf den allegorischen vierten Reyen im Ibrahim Bassa, in dem der Geschmack selbst zu Wort kommt, bemerkt Rau: Leiblichkeit als paradigmatische Fremde, S. 253: „Diesseits der konkupiszenten oder der sonstigen luxuriös-voluptuösen Perversion hat der ‚Geschmack‘ beim frühen Lohenstein grundsätzlich seinen Wert“. Wenn Agrippina Nero also mit der Aufforderung zum „Schmeck’“ lockt, so spricht sie damit im Kern seine luxuria sowohl als Wollust als auch als Genusssucht an, die ja in der ersten Abhandlung schon mit Othos Lob der pompösen fürstlichen Bankette angesprochen wurde.

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5 „Unser Teutscher Seneca“ und das Böse im Prätext der Geschichte

Kurz zuvor hatte Nero noch zu seinem nunmehr entfesselten, entbundenen Willen zum Inzest erklärt: „Wer hier nicht luestern werden / Wer hier nicht naschen will / muß ein entseelter Stein / Nicht Agrippinens Kind / nicht ihr Gebluette seyn.“ (A III, 254–256) Nur weil Nero Agrippinas Sohn ist, will er Inzest begehen. Im Blut liegt der Grund für die willentliche Disposition zur Blutschande und zur Schändung heiliger Gesetze und Tabus. So hatten schon die Vestalinnen zuvor darauf verwiesen: „Von Agrippinen ist die Fackel ja gebohren“ (A II, 528) Das Böse als Erbfolge der Schuld lastet sowohl auf den Protagonisten als auch auf der kaiserlichen Macht selbst, die durch ihren Träger zur Tyrannei entartet ist. Aufgrund dieser Depravation ist schließlich nicht nur der Inzest möglich, sondern auch der Muttermord: „Genauso wie Nero den Inzest mit Agrippina vollzieht, weil er ,das Kind seiner Mutter ist‘, stirbt sie daran, die Mutter eines solchen Kindes zu sein.“133 War der Inzest schon „als aggressives Einverleibungsangebot“134 zu verstehen, so wiederholt sich dies in Muttermord und anthropophagisch anmutender Leichenschau. Die pervertierte Schöpfung verspricht sich selbst zu verschlingen und zeichnet so die moralisch entleerte Kreisbewegung des circulus vitiosus nach, auf dem die Genealogie der Schuld begründet ist.

5.3 Blutschuld und Blutschau: Der Muttermord Bereits in ihrem ersten Auftritt hatte Agrippina von Neros wiederholten Mordanschlägen auf sie berichtet. Der Muttermord ist in der Agrippina immer schon reelle Möglichkeit, die bereits in der Vorgeschichte zur Verwirklichung drängt. Im Verlauf des Trauerspiels ordnet Nero ganze drei Mal den Muttermord an, bis er in der fünften Abhandlung schließlich ihre Leiche obduzieren kann: Als er in der ersten Abhandlung von der vermeintlichen Verschwörung Agrippinas erfährt (die ja eigentlich eine Hofintrige gegen Agrippina ist), fordert er zum Mordanschlag auf. Im Anschluss an die Inzestszene in der dritten Abhandlung beschließt Nero ein weiteres Mal, Agrippina zu töten, diesmal mittels fingiertem Schiffbruch. Als dieser ausgeklügelte Mordplan misslingt, gibt Nero die Anordnung, seine Mutter – wiederum infolge eines künstlich geschürten Verdachts – in ihrem Schlafgemach zu überwältigen und aus angeblicher Notwehr zu töten. Der Anschlag gelingt und Nero kann daraufhin den Leichnam der Mutter besichtigen.

133 Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 146. 134 Rahn: Affektpathologische und therapeutische Handlungszitate, S. 227.

5.3 Blutschuld und Blutschau: Der Muttermord

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Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass gerade die Wiederholungsgeste, durch die das Verbrechen des Muttermordes sich multipliziert, auch das Ausmaß des Verbrechens noch steigert. Die geminatio, die in der psuedosenecaischen Octavia das „unvergesslich Böse“ des Matrizids betonte, ist bei Lohenstein als reiteratio vervielfältigt, gesteigert und geradezu verstetigt. In steter Kreisbewegung wird der circulus vitiosus immer wieder von Neuem abgeschritten und beschrieben und demonstriert damit den verschlingenden Charakter des Bösen. Die zirkuläre Dynamik, die dem Inzest inhärent ist, findet sich im Muttermord wiederholt und vollendet sich in der Sektion von Agrippinas Leiche als Blutschau, die einer anthropophagen Einverleibung der Mutter durch den Sohn gleichkommt. Der Gewaltakt gegen die Mutter mündet schließlich in ihrer absoluten Vernichtung, sowohl ihres Leibes als auch ihres Andenkens in der damnatio memoriae. Die Vervielfältigung des Muttermords auf dem Schauplatz erscheint als Emergenz des Bösen. Nach einem Wort Susan Neimans vermehrt sich das Böse gerade dann, „wenn es auf anderes Böses trifft, und ist so auf unendliche Selbstvermehrung angelegt“135. Bei Lohenstein ist die Möglichkeit des Muttermordes von Beginn an auf dämonische Weise präsent, jedoch treibt erst die „Boßheit“ (A III, 312) des Inzests die „Boßheit“ (A III, 516) des Muttermords endgültig hervor. Erst mit der Blutschande gerinnt der Kreislauf aus Laster und Verbrechen, der Mutter und Sohn miteinander verbindet, zur Blutschuld.

5.3.1 Simulatio und Schiffbruch: Der Muttermord als Provokation der Natur In der seriellen Logik des Bösen, die in der Agrippina entwickelt ist, generiert die widernatürliche Sexualität zwischen Mutter und Sohn die unabwendbare Katastrophe des Muttermordes, der ebenfalls ein Verbrechen wider die Natur bedeutet. Dieser Aspekt der Widernatürlichkeit ist im ersten Mordanschlag auf Agrippina in den Vordergrund gerückt, da sich der fingierte Schiffbruch ja gerade auf dem Meer als Naturraum vollziehen soll. Die Natur soll in diesem aufwendigen Manöver, das mit „Witz und Kunst“ (A III, 352) von Neros Schergen ausgeklügelt wird, den Muttermord decken und durch „Wind / Well’ und Flutt zerschmettern und zerreissen“ (A III, 362), d. h. ein für alle Mal jeden Argwohn tilgen. Es öffnet sich ein Abgrund zwischen der guten, gütigen, göttlichen Natur auf der einen und (Staats-)Kunst und Hofkultur auf der anderen Seite.136 135 Susan Neiman: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie. Übersetzt von Christiana Goldmann. Frankfurt am Main 2004, S. 285. 136 Diese Tendenz zur „Dissoziation“ (Arend: Rastlose Weltgestaltung, S. 149) kulminiert im Rahmen der staatstheoretischen Diskussion in Spanien gar in der Forderung nach einer dop-

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5 „Unser Teutscher Seneca“ und das Böse im Prätext der Geschichte

Schließlich ist der fingierte Schiffbruch als Meisterstück der höfischen simulatio arrangiert, die als bewusste Vorspiegelung auf dem Exerzierfeld der prudentistischen Politik der Sphäre des Bösen angehört.137 Um das Schiffsunglück überhaupt ins Werk setzen zu können, muss auch Nero sich als Meistersimulator beweisen, indem er seinerseits Agrippina gegenüber die Begierde vortäuscht und sie mit der Aussicht auf ein Stelldichein in Baiae, dem Ziel der Schiffsreise, in die Irre führt. Poetologisch ist hier eine argute Verwicklungstheorie verwirklicht, die sich in Jacob Masens Palestra Eloquientiae Ligatae (1654–57) systematisiert findet und deren Kern die dramatische Kategorie des error tragicus bildet, der zum tragischen Unfall – hier der als „Zufall“ (A III, 356) maskierte Schiffbruch – führen soll.138 Dieser wird nicht zuletzt durch die vorsätzliche Bosheit der täuschenden Figur herbeigeführt: „ex vitio et malitia agenti evenit“139 Es gelangt eine komplexe dramatische Struktur zur Entfaltung, die auf einem Geflecht der errores, der Fehlleitungen und Fehlleistungen, beruht und damit nicht zuletzt an eine christliche Vorstellung von Schuld und Sünde rückgebunden ist.140 Die dramentheoretische Häufung und Verkettung der schuldhaften errores formuliert sich in der Agrippina als Teufelskreis, in dem der Komplex um den simulierten Schiffbruch seinen eigenen Rachezyklus beschreibt. So handelt es sich in Neros Simulation um die Antwort auf Agrippinas Affektsimulation im Rahmen des Inzestangebots – Gleiches wird mit Gleichem vergolten. Indem Nero nun ebenfalls auf überzeugende Weise die rhetorische

pelten Moral, einer „politischen“ und einer „inneren“. Siehe dazu auch Karl Alfred Blüher: Seneca in Spanien. Untersuchungen zur Geschichte der Seneca-Rezeption in Spanien vom 13. bis 17. Jahrhundert. München 1969, S. 388. 137 Gegenüber der dissimulatio, die als Verhüllen der wahren Gefühle, aber auch Vortäuschen von Affekten eine moralisch heikle höfische Technik beschreibt, hat die simulatio, die als bewußte Verdrehung der Wahrheit dem Betrug und der Lüge nähersteht, immer schon einen zweifelhaften Ruf, da sie den Anforderungen der (christlichen) Ethik im politischen Spiel mit dem Schein nicht standhalten kann. Diese theoretische Distinktion findet sich in der politischen Philosophie der Spanier formuliert, sowohl bei Saavedra Fajardo als auch später bei Gracián, die ja beide richtungsweisend für Lohenstein waren. Vgl. dazu auch Mulagk: Phänomene des politischen Menschen, S. 136–139; Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 154–162. 138 Als Beispiel für den Zusammenhang von tragischem Irrtum und Affektdarstellung in den Poetiken des 17. Jahrhunderts setzt Rotermund: Der Affekt als literarischer Gegenstand, S. 252 sich mit Masens Theorie der tragischen errores auseinander, ohne jedoch auf konkrete Beispiele der zeitgenössischen Trauerspieldichtung einzugehen. 139 Masen: Palestra eloquentiae ligatae, Bd. 3, S. 56. 140 Diese christliche Fundierung und Perspektivierung der aristotelischen Hamartia wurde bereits in Kapitel 2.3 in Hinblick auf die Verkettung der errores des kaiserlichen Protagonisten im Leo Armenius erörtert.

5.3 Blutschuld und Blutschau: Der Muttermord

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persuasio appliziert, provoziert er den error reciprocus,141 die Täuschung der Täuschenden: Im Dienste ihrer eigenen Affektsimulation, d. h. indem sie ihrer Rolle als inszestwillige Mutter treu bleibt, wagt sie den Schritt auf das präparierte Schiff, der sich als tödlicher Fehltritt erweist. Im Vexierspiel der Simulationen droht die Meisterverbrecherin, die „Weiß aller List und Kunst zu kommen klueglich fuer“ (A III, 339), ihrer eigenen Vorspiegelung zum Opfer zu fallen. Am fingierten Schiffbruch wird dieser Abgrund zwischen Moral und politischem Kalkül, Natur und Kunstgriff ausgeleuchtet und vermessen. Dabei wird eindringlich vorgestellt, dass die Absenz von Moral, deren Inbegriff auf dem Bezugsfeld der Staatskunst die infame simulatio ist, sich geradezu tödlich auswirken kann. Der Schiffbruch selbst findet nicht auf der Bühne statt, stattdessen wird er im Zwischenspiel durch die Berg- und Seegöttinnen als Teichoskopie vermittelt. Die Oreaden und Nereiden greifen gar rettend in das Geschehen ein, sodass die Natur selbst – die Seegöttinnen halten Delfine, Schnecken und Fische zu Agrippinas Rettung an – den Muttermord verhindert. Sie nehmen damit eine signifikante Grenzüberschreitung vor, um die Grenzverletzung, die der Muttermord bedeutet, zu verhindern. Dies manifestiert sich auch in der Ordnung des Trauerspiels, da hier Abhandlung und Reyen, geschichtlicher Verlauf und metaphysischer Gehalt des Trauerspiels nicht mehr strikt voneinander getrennt sind.142 Vor diesem Einschreiten der göttlich gelenkten Kosmosnatur versagen „Witz und Kunst“ (A III, 352) der politischen Kultur schließlich. Obwohl für den simulierten Schiffbruch alle Register der Staatsklugheit gezogen wurden, wird der Anschlag vereitelt. In der sittlich geordneten Natur kann sich die Widernatürlichkeit des Muttermordes nicht verwirklichen. Die politische Kunst wirkt hier nicht.143 Und diese Moral der Geschichte wird unmittelbar durch die Natur selbst als Naturgesetz vermittelt. Dem Naturgesetz zufolge ist das Kind von Natur aus der Mutter unterstellt, da sie es geboren hat, d. h. durch die Geburt über sein Leben bestimmt hat.144

141 Vgl. Masen: Palestra eloquentiae ligatae, Bd. 3, S. 56. 142 Das dritte Zwischenspiel der Agrippina stellt damit eine Art Sonderfall für Lohensteins Reyen-Poetik dar, der bisher noch keine nähere Betrachtung erfahren hat. Es wird der Eindruck eines deus ex machina evoziert, wodurch Lohenstein die jesuitische Theatertradition anzitiert, in der es üblich war, dass Engel und Dämonen unverhofft in das Bühnengeschehen eingriffen. Da dieses Geschehen durch die Mauerschau narrativ vermittelt wird, lehnt Lohenstein zwar die unmittelbare Darstellung des göttlichen Eingreifens ab, schöpft jedoch deren allegorisches Potential voll aus. Der Reyen wird somit sowohl zum Spielfeld zwischen Faktizität und Metaphysik als auch zum Verhandlungsraum zwischen den Theatertraditionen. 143 Vgl. Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 207. 144 Zur patria potestas, die sich ihrerseits sowohl im Dekalog als auch im Römischen Recht begründet findet, siehe Campe: Der Befehl und die Rede des Souveräns, S. 58. Ebenfalls im Römischen Recht war die potestas matris kodifiziert, „da die Schwangere über die Frucht als

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5 „Unser Teutscher Seneca“ und das Böse im Prätext der Geschichte

Der Muttermord bedeutet gerade eine Inversion dieser Gesetzmäßigkeit, da nunmehr das natürliche Verwandtschaftsverhältnis rückwirkend zerstört und damit widersetzlich über Leben bzw. Tod der Mutter bestimmt wird. Gerade weil Nero mit dem Matrizid dieser naturrechtlichen Gesetzmäßigkeit trotzt, überbietet er als „[e]in boeses Kind […] wilder als die Wellen“ (A III, 506) folglich noch die Naturgewalt des Meeres, die sein Verbrechen eigentlich decken sollte, in ihrer potentiellen Zerstörungskraft. Schließlich ist der Muttermord als ein Verbrechen wider die Natur noch dadurch pointiert, dass die Natur weiblich ist und über ein göttliches Wesen verfügt. Dies findet seine ästhetische Repräsentation in der Allegorisierung der Natur als Göttinnen. Den Reyen beschließend versprechen die Seegöttinnen, dem Verbrechen ein Mahnmal zu setzen, das alle Zeiten überdauern soll: So lange Jaescht wird umb dis Ufer flueßen / Soll’n hier Corallen-Zapffen blueh’n / Zum Zeichen: Daß / wenn Kinder-hold verlaeschet / Das Wasser muesse Flammen nehr’n. (A III, 519–522)

Angesichts des Verbrechens setzt die marine Natur mit den ihr eigenen Mitteln, den Korallen, ein Zeichen. An dieser Veränderung in der Natur ist die kosmische Dimension, über die das Verbrechen des Muttermordes verfügt, abzulesen. Die Natur drängt nunmehr selbst zum Ausdruck, um Neros „Boßheit“ (A III, 516) zu denunzieren und vor ihr zu warnen. Schließlich ist nichts weniger als die kosmische Ordnung selbst durch den Muttermord angegriffen, der sowohl die natürliche Verwandtschaftsbeziehung zwischen Mutter und Sohn als auch das Ethos der Kinderliebe – „wenn Kinder-hold verlaeschet“ – radikal infrage stellt. Die Inversion des Naturgesetzes kann nur als Paradox zu Darstellung und Ausdruck gelangen, das sich in der Bildlichkeit der durch das Wasser gespeisten Flammen artikuliert. In dieser Paradoxie ist die Ordnungsstörung des Muttermordes gespiegelt und wird gleichsam von der Natur noch einmal eingefangen und gebannt.145 Die Subversion der bösen Tat, die Natur, Recht und Sittlichkeit herausfordert, ist unter dem (Ein-)Fluss des Wassers still gestellt.

Bestandteil ihres Körpers Rechtsgewalt besaß“ (Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 132). Das Naturgesetz ist damit immer schon als Naturrecht legalisiert. 145 Alt: Wiederholung, Paradoxie, Transgression, bes. S. 550–558 erkennt in der Paradoxie eine Grundfigur des Bösen. Lohensteins Entwurf unterscheidet sich von einer Ästhetik des Bösen ab 1800 darin, dass, auch wenn die Paradoxie zwar auch hier einen Ausnahmezustand formuliert, dieser letztlich immer noch metaphysisch aufgefangen und im Rahmen des simulierten Schiffbruchs gar kontrolliert wird. Das Spiel mit und die ästhetische Lust an diesen Provokationen macht sich trotzdem auch bei Lohenstein bemerkbar.

5.3 Blutschuld und Blutschau: Der Muttermord

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Das flammende Rot der Korallen deutet jedoch nicht nur auf die vormals brennende, nunmehr verloschene Kinderliebe, sondern verweist in der Leitmotivik des Trauerspiels ebenso auf Neros Brunst. In dieser Lesart scheint das Mahnmal unheilvoll die weitere Handlung vorwegzunehmen, in der Nero trotz gescheitertem Mordversuch zu See unbeirrt weiter danach strebt, seine Mutter zu töten. Neros Bosheit drängt entgegen aller natürlichen, moralischen, kosmischen Gesetze und Grenzen zur Vollendung. Im Bild der noch unter Wasser flammenden Korallen brennt Neros Brunst auch dann weiter, wenn sie von den Mächten der Natur schon gelöscht sein sollte. Unheilvoll offenbart sich das Böse als eine die Natur (hier: das Meer) noch übertreffende Kraft – „wilder als die Wellen“. Ob die umspülte Korallenflamme also für das Licht der Kinderliebe steht oder für die Brunst des Kaisers – dem unvergesslichen Bösen ist durch die paradoxe Bildlichkeit ein mahnendes Denkmal gesetzt, das durch nichts ausgelöscht werden kann. Diese Überzeitlichkeit garantieren schließlich auch die Seegöttinnen: „Die Flutt / […] Wird dis Gedaechtnues nicht verzehr’n“ (A III, 523–524) In der fünften Abhandlung, nachdem der Muttermord sich endlich vollzogen hat, will Nero genau dieses Gedächtnis an seine Mutter ebenfalls tilgen – verzehren – und greift dabei auf die Auslöschungspraxis der damnatio memoriae als dezidierter Kulturtechnik zurück, mit der ein forciertes Vergessen in die Kultur(er-)zeugnisse wie Bausubstanz und Schriftstücke eingelassen wird. Bereits hier jedoch, im dritten Reyen als Vermittlungsinstanz der verbindlichen sittlichen Ordnung, wird die Natur selbst als wahrer Speicher der memoria entdeckt, die sich schließlich gegen jegliche Kulturtechniken, seien es simulatio oder damnatio memoriae, verwehrt. Schon das Zwischenspiel zeugt von der zunehmenden Durchlässigkeit zwischen immanentem Geschehen und metaphysischem Jenseits, die den Muttermord als Verbrechen von kosmischem Ausmaß kennzeichnet. Die Welt gerät derart aus den Fugen, die Ordnung ist derart provoziert und herausgefordert, dass die göttliche Natur zum Einschreiten drängt. Auch die anschließende vierte Abhandlung setzt mit einer solchen Überschreitung ein, da dem schlafenden Nero der Geist des ermordeten Britannicus erscheint. Als Schwellenfigur fluktuiert dieser räumlich zwischen Diesseits und Jenseits und (über-)zeitlich zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.146 In der Vorgeschichte des Trauerspiels hatte Nero Britannicus, seinen Stiefbruder, mit einem Gifttrank getötet, da er in ihm als

146 Diese Schwellenhaftigkeit drückt sich auch auf der Ebene der Metrik im Monolog von Britannicus’ Geist aus, da seine Rede in einem anderen, alternierenden Versmaß verfasst ist. Dieser Wechsel der Metra ist kennzeichnend für Lohensteins Geisterauftritte, so auch später bei Agrippinas Geist sowie bei der Erscheinung des Marcus Antonius in der Cleopatra und Didos Geist in der Sophonisbe. Es wurde bereits in der Einleitung zu diesem Kapitel gezeigt, dass

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5 „Unser Teutscher Seneca“ und das Böse im Prätext der Geschichte

Octavius’ leiblichem Sohn und demnach legitimem Nachfolger auf den Thron seine eigene Position als Kaiser bedroht sah. Der ordo-Gedanke, den die Geistererscheinungen im barocken Trauerspiel repräsentieren, konkretisiert sich in der Figur des Britannicus als natürliche Ordnung sowohl der Verwandtschaftsbeziehungen als auch der julisch-claudischen Dynastie.147 Auch wenn die Gespenster in jenem zwiespältigen, zwielichtigen Bereich zwischen tatsächlicher Anwesenheit und Vorspiegelung bzw. perturbatio angesiedelt sind, so präsentieren sie stets den horror des an ihren Leibern verübten Verbrechens.148 Die Gespenster sind immer schon in die Nähe der biblischen Dämonen gerückt, denn die dämonische Präsenz der vergangenen Untaten gelangt durch sie zur unmittelbaren Anschauung bzw. gar zur unheimlichen Verkörperung. In dieser Tradition steht dann auch der Auftritt von Britannicus’ Geist. Durch ihn ergreifen Neros Untaten regelrecht selbst das Wort, sie verselbstständigen sich und denunzieren Nero in seiner Bosheit. Britannicus (re-)präsentiert, er vergegenwärtigt die prätextuellen Verbrechen, die ja schon seit der ersten Abhandlung auf dem Schauplatz herumgeistern. Neros Neigung zum Familienmord ist durch Britannicus bewiesen und mit ihm der vitiöse Blutkreislauf, der Neros Herrschaft zeitigt. Britannicus weist Nero damit sowohl als bösen Menschen als auch als Tyrann aus. Die vergangenen Verbrechen holen Nero in Gestalt des Britannicus ein und suchen ihn heim, wodurch der Geist nicht zuletzt als Vorbote der Hölle fungiert. Schon zu Beginn seines Monologs manifestiert sich die Antithetik, die dieser Figurenkonstellation zugrunde liegt. So entsetzt sich Britannicus zuallererst darüber, dass Nero auch als Brudermörder noch ruhig schlafen kann, wohingegen er selbst als Opfer des Brudermords auch im Tod nicht zur Ruhe kommt.149 Britannicus versucht daraufhin vergeblich das böse Gewissen des Tyrannen zu wecken, was zuletzt darin kulminiert, dass er seinen eigenen Körper mit „des Gifftes braune[n] Flecken“ (A IV, 22) als Zeugnis der Bösartigkeit des Bruders exponiert. Jedoch versagt dieser eindringliche Zeigegestus vor Nero seine Wir-

ebendiese unterschiedliche Gestaltung der gebundenen Rede Lohenstein den Titel „unser Teutscher Seneca“ eingebracht hat. 147 Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 26 hat dies für die Ordnung des Gewissens am Beispiel der Britannicus-Figur nachgewiesen und ist meines Wissens auch der Einzige, der den Geisterauftritt des Britannicus bisher überhaupt näher betrachtet hat. Während Fromholzer den Geisterauftritt aus der Perspektive der Gewissensethik liest, wird er hier vielmehr als Schlüssel zu einer Pathologie des Tyrannen Nero verstanden. 148 Ebd., S. 26–27. 149 Schoepff’t hier der Wuetterich / der Bruder-Moerder Lufft? Bring’t er die Nacht mit stillem Schlaffe zu? Und mein entseelter Geist hat in der tieffen Grufft Nicht fuer der Angst der muntern Rache Ruh? (A IV, 1–4).

5.3 Blutschuld und Blutschau: Der Muttermord

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kung, sodass der Brudermörder in seiner moralischen Depravation geradezu immun gegen Gewissensbisse scheint. Gerade weil Britannicus das ungerechte und ungerächte Blutopfer seines unverbesserlichen Bruders ist, erwächst er endlich zum Verkünder „der muntern Rache“ (A IV, 4) angesichts des versuchten Muttermordes. Es wird sich zeigen, dass ihm diese Rolle durch die Giftflecken regelrecht auf den Leib geschrieben ist. Doch vorerst erklärt Britannicus, dass eigentlich der Muttermord als Verbrechen von kosmischer Auswirkung ihn auf den Schauplatz gerufen habe: Wiß’ aber: Daß die ungeheure That / Fuer der der Mond’ erbleich’t / die Geister sich erroethen / Da du durch Schifbruch dich die Mutter mueh’st zu toedten / Mich aus der Grufft hieher getaget hat. (A IV, 43–46)

Indem er den Muttermord die „ungeheure That“ nennt, kennzeichnet er den Mordversuch sowohl als unheimlich, ergo als dämonisch, als auch monströs und somit als Entartung. Damit ist einmal mehr die Widernatürlichkeit der Untat aufgerufen, die sich wiederum in der veränderten Natur niederschlägt, da „der Mond’ erbleich’t / die Geister sich erroethen“. Die Seegöttinnen paraphrasierend erhebt Britannicus förmlich Einspruch gegen das maßlose Verbrechen: „Allein umbsonst! Die rinnenden Chrystallen / Sind zu Vertunckelung so grimmer That zu rein. / Die See kan nicht so kalt / als deine Seele seyn / Jn der nur Gifft muß statt des Bluttes wallen.“ (A IV, 47–50) Die Natur dient der mörderischen Simulation nicht als Deckmantel. Das Scheitern des Mordanschlags gründet in der naturrechtlichen Ordnung. Um Neros widernatürlichen Zerstörungswillen weiter zu betonen, greift Britannicus im Überbietungsvergleich die liquide Metaphorik des Reyens auf. War Nero dort noch „wilder als die Wellen“, so ist er hier kaltblütig, noch kälter als das Meer. Die Erwartung an ein Gleichmaß, an eine gesetzmäßige Harmonie zwischen Natur und Mensch, die sich im Gleichklang von „See“ und „Seele“ artikuliert, wird gerade durch Neros Wildheit und Widernatürlichkeit enttäuscht. Seine Bosheit invertiert jegliches Naturgesetz, sodass das Gift als tödliche Substanz zu seinem Lebenselixier wird. Als tödliches Destillat und Konzentrat einer natürlichen Substanz verweist das Gift abermals auf den künstlichen Charakter von Neros Machenschaften, womit Giftmord und Simulation des Schiffbruchs enggefasst sind. Beide bedeuten „ein subversives Delikt“150, das die natürlich-sittliche Ordnung stört. Anders als das Blut, in dem die Familienbande begründet

150 „Die Vergiftung ist eben – und besonders in der Zeit der vorchemischen Toxikologie – ein subversives Delikt, indem es kaum je nur den Betroffenen, vielfach aber übergeordnete Gesellschaftsstrukturen bedroht.“ Fischer-Homberger: Medizin vor Gericht, S. 363.

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sind, verändert und zerstört das Gift den Blutkreislauf. Auch Neros widernatürliches Treiben ist eben nicht auf das Wohl oder ein Gut ausgerichtet, sondern auf die Verderbnis der Natur und ihrer Verhältnisse, wodurch er wiederum in seiner Dämonie denunziert ist. Damit ist schließlich „überaus konventionell“151 auf den biblischen Mythos von der Verderbnis der menschlichen Natur durch die teuflische Giftschlange verwiesen. Auf die Genese ihres Sohnes als Giftschlange wird schließlich auch Agrippina unmittelbar vor ihrer Ermordung durch Neros Schergen eingehen: „Mein Sohn hat Gift / nicht Milch mir aus der Brust gezogen.“ (A V, 70) Agrippina ist der Ursprung Neros und der Quell dieses Gifts, das Ergebnis einer „unnatürlichen Denaturierung der Muttermilch“152 ist. Mit ihrer vergifteten Muttermilch hat sie ihm ihre Lasterhaftigkeit eingeflößt. Die Muttermilch verweist damit auf den (Blut-)Kreislauf aus Laster und Verbrechen, durch den die julisch-claudische Dynastie determiniert ist. Jedoch ist diese Aussage Agrippinas ambivalent, da sie sich damit selbst in ihrer depravierten Mutterschaft bezichtigt, aber auch ihren Sohn. Sein entartetes Wesen ist mit dem bloßen Erbteil nicht zu erklären, wodurch wiederum Determinismus und freie Willkür in der Figur Nero gepaart sind. Als „solch ein Kind“ (A V, 153) nämlich, d. h. als „boeses Kind“ (A III, 506), als das ihn die Naturgöttinnen denunziert haben, überbietet er die „Mitgift“153 der Mutter noch und destilliert aus der ohnehin schon kontaminierten Muttermilch das Gift. Das Gift gilt für sich genommen schon als pervertierte Nahrung, „als eine Art Gegenteil von Nahrung, welches, statt vom Körper verändert, verdaut und aufgenommen zu werden, diesen im Gegenteil gewissermaßen auffresse“154 und deutet mit dieser Eigenschaft auf den verschlingenden Charakter, der dem Bösen anhaftet. Nero verfügt folglich über eine ihm eigene, verderbte Prädisposition, die einer Entartung der natürlichen Brutpflege durch

151 Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 255. 152 Dass hier ebenfalls „ein Vorwurf an die Adresse des Säuglings“ enthalten ist, bemerkt auch Rahn: Affektpathologische und therapeutische Handlungszitate, S. 218. Im Weiteren stütze ich mich auf Rahn und Brancaforte, die sich in ihren Arbeiten intensiv mit den zeitgenössischen medizinischen Traktaten und Abhandlungen zur frühneuzeitlichen Gynäkologie auseinandersetzen. Besonders hervorzuheben ist dabei das Korrelat von Blut und Milch, da die Muttermilch als Derivat des mütterlichen Blutes galt. Mit Blick auf das metaphorische Spiel mit Blut und Milch, das sich auch in der Inzestszene formuliert, verweist Brancaforte auf den Oceanus Macro-Microcosmicus des Breslauer Arztes Philipp Jacob Sachs von Löwenheim aus dem Jahre 1664. Dort findet sich die Vorstellung, dass in den Adern einer Mutter sowohl Blut als auch Milch fließen. Vgl. Brancaforte: Liebesmetaphorik in Lohensteins „Agrippina“, S. 315–316; Rahn: Affektpathologische und therapeutische Handlungszitate, S. 215–217. 153 Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 253. 154 Fischer-Homberger: Medizin vor Gericht, S. 361.

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den Säugling gleichkommt und den Destillationsprozess der schädlichen Substanz aus der Nahrung bedingt.155 Durch die gezielte Einverleibung des Giftes ist dessen verderbliches, zerstörerisches Potential in Nero auf widernatürliche Weise konzentriert.156 Dieser Verinnerlichung des Giftes durch Nero, die einer Immunisierung gegen jegliche Moral gleichkommt, ist der horror des vom Gift gezeichneten Körpers des Britannicus antithetisch gegenübergestellt. Die Essenz von Neros Depravation und ihre tödlichen Auswirkungen kommen in Britannicus geradezu symptomatisch zur Anschauung. Nachdem Britannicus Nero also in seiner wesenhaften „Boßheit“ (A IV, 29; 36) denunziert, verkündet er als Agent „der muntern Rache“ das gerechte Urteil über Nero. Dies korrespondiert mit der metaphysischen Ordnung, die noch im ersten Reyen entworfen wurde und derzufolge die Rache das „Werckzeug“ (A I, 655) der göttlichen Gerechtigkeit ist. Als Schwellen- und Mittlerfigur überführt der Geist des Britannicus das kosmische Wissen der Reyen in die Unmittelbarkeit des Handlungsgeschehens, denn sowohl die Vestalinnen als auch die Naturgöttinnen hatten Nero ja bereits den Untergang prophezeit. Der Verhängnisordnung entsprechend – „Boesen muß ein Paradiß / Zur Hell’ / ein Blumen-thal zur Schinder-Grube werden.“ (A IV, 107) – sagt er Neros Höllenfahrt voraus, die sich sogar ganz unmittelbar vor dem entsetzten Geist zu ereignen scheint: „Die Erde bricht / Der Abgrund krach’t“ (A IV, 59). Auf eindringliche Weise ersteht die „Erschreckliche Gestalt“ (A IV, 55) der Hölle unmittelbar vor dem inneren Auge Neros (und des Publikums), womit die eigentliche, spätere Höllenfahrt Neros wirkungsvoll in Aussicht gestellt wird. Durch den wiederholten Rekurs auf den Sehsinn in „Ich sehe“ (A IV, 58) und „Seh’t“ (A IV, 60) sind diesem letzten Teil des Monologs Züge einer Vision eingeprägt, die einer Offenbarung von Neros Untergang gleichkommt.

155 Rahn: Affektpathologische und therapeutische Handlungszitate, S. 218 verweist darauf, dass Agrippina hier ein „emblematisches Argument“ zitiere, das antike naturkundliche Vorstellungen rezipiere. So verwandle auch die Biene „den Nektar in Honig, während ihn die Spinne in Gift kehre. Der Umwandlungsprozeß der nährenden Substanz würde jeweils durch das Wesen bzw. die physiologischen Besonderheiten des Konsumenten bestimmt.“ 156 Dies wiederum wird im letzten Reyen des Trauerspiels durch die dort auftretenden Geister bestätigt. Nero ist derjenige, „Der Mutter-Milch in Wermuth kehret.“ (A V, 838) Durch ihn ist die Familienbeziehung vergiftet und verkehrt. Das „zunächst dunkle Metapherngeflecht“ aus Muttermilch, Wermut und Wurm findet sich erklärt bei Rahn: Affektpathologische und therapeutische Handlungszitate, S. 219. Als pharmakologisches Mittel wurde in der Frühen Neuzeit ein Konzentrat aus Wermut, der pseudo-etymologisch auch „Wurmholz“ genannt wird, als Wurmkur eingesetzt. Neros übermäßige Wermutdestillation hat schließlich den Wurm getötet, der die Gewissensbisse auslöst, bzw. hat ihn dagegen immunisiert. Doch die Geister drängen darauf, ihm diesen nachträglich als Teil seiner Höllenqualen, die auch Gewissensqualen sind, wieder einzupflanzen: „Saetz’t Wuermer ihm in’s Hertz / im Busen Schlangen /“ (A V, 836).

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Wenn Britannicus erklärt „Jch sehe schon den Kaeyser Drachen fressen“ (AIV, 58), so ist darin der Tartarus als Unterweltreich aufgerufen, das tiefer als der Hades liegt und in dem Verbrecher bestraft werden, deren Untaten nicht gesühnt werden können. Der Tartarus findet Eingang in die christliche Höllenvorstellung und bezeichnet im 2. Petrusbriefs (2 Petr 2,4) den Ort, an dem die mit Lucifer abgefallenen Engel als Dämonen das letzte Gericht erwarten. So folgt auch auf Neros luciferischen Hochmut, den er noch im Eröffnungsmonolog zur Schau gestellt hatte, sein Sturz in die Hölle. Dementsprechend ist in diesem Vers die Aussage der Rache „Der Abgrund selbst frist seinen Schlangen-Brutt“ (A I, 664) aus dem ersten Reyen variiert und konkretisiert, denn als ebendiese giftige Schlangenbrut ist Nero identifiziert. Die Drachen, die Nero fressen werden, sind als teuflisch-höllische Kreaturen mit Schlangen (und Würmern) verwandt und folglich wird Nero von „seinesgleichen“ vertilgt. Als Sinnbilder stellen die Schlange und der Wurm die leitmotivische Zirkularität aus Laster und Schuld dar, von der das Trauerspiel durchwirkt ist, und verweisen damit auf den verschlingenden Charakter des Bösen. So wird Nero zu guter Letzt wieder seinem Ursprung, der Hölle, zugeführt und genau dort wird sich im fünften Reyen auch der Teufelskreis schließen, den die Agrippina beschreibt.

5.3.2 Erdolchung – Sektion – damnatio memoriae: Die (Ver-)Tilgung der Mutter Als Nero erwacht und sich von der perturbatio erholt, die Geistererscheinung und Höllenvision in ihm ausgelöst haben – „Hilf Himmel! ich erstarr’! ich zitter’! ich vergeh’! Wo bin ich? Himmel hilf!“ (A IV, 63–64) –, bestätigt ihm sein Vertrauter Paris die Botschaft des Geistes, dass Agrippina den Mordanschlag überlebt hat. Der Kreislauf beginnt von Neuem, in dem Nero sich durch Agrippinas bloße Existenz in seiner Position bedroht sieht und wiederum keinen anderen Ausweg erkennt als den Muttermord. Die extensive Disputation für und wider den Matrizid wiederholt sich hier zum dritten und letzten Mal.157 Es wird eine weitere List ersonnen, durch die Agrippina des versuchten Kaisermordes 157 Zum ersten Mal wird der Muttermord in der dritten Szene der ersten Abhandlung (A I, 157–282) als Möglichkeit diskutiert. Auf Grundlage der Intrige der Silana wird Agrippina bezichtigt, Nero stürzen und töten zu wollen, um die Macht an sich und ihren vermeintlichen Geliebten zu reißen. Daraufhin fragt Nero, bereit zur Tat zu schreiten: „Jst Schwerdt / ist Feuer dar / fuer ihn und Agrippinen.“ (A I, 192) Nachdem Seneca und Burrhus Nachforschungen bei Agrippina anstellen und die Intrige aufgeklärt werden kann, sind Nero und Agrippina vorerst versöhnt. Zum zweiten Mal wird der Muttermord in der dritten Abhandlung im Anschluss an

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bezichtigt und dafür in scheinbarer Notwehr hingerichtet werden soll. Der vorgetäuschte Anschlag wird, nachdem sich die höfische simulatio in der Natur nicht bewähren konnte, „ins Fuerstliche Gemach“ (A IV, 204) verlegt. Im innersten Raum der höfischen Sphäre, noch mehr: im Zentrum der tyrannischen Macht kann das Unrecht ungehemmt ins Werk gesetzt werden. Als vermeintliches corpus delicti, das die Täterin überführen soll, dient ein „gift’ge[r] Dolch“ (A IV, 207). Dieser wird dem Boten Agerinus untergeschoben, der ursprünglich von Agrippina geschickt wurde, um dem Sohn die frohe Botschaft von ihrem Überleben zu überbringen. Sobald der Dolch bei Agerinus entdeckt ist, soll der Bote einem peinlichen Strafgericht unterzogen werden, um Agrippina letztlich zu überführen. Da es sich bei der Mordwaffe nicht um einen bloßen Dolch handelt, sondern dieser gerade mit Gift benetzt ist, trägt er nachgerade Agrippinas Handschrift. Schon ihren Gatten Claudius hatte sie ja mit einer vergifteten Speise getötet. Darin ist auf den „Geheimnischarakter des Gifts“158 verwiesen, der mit weiblicher Machtausübung und Sexualpolitik in Verbindung steht. Und dies wiederum deutet auf Agrippinas angebliches Tatmotiv, das aus der Rache für den an ihr verübten Mordanschlag und ihrer notorischen Regiersucht konstruiert wird, die schon zu Beginn des Dramas als „Ehrsucht Gifft“ (A I, 258) metaphorisiert ist. Konnte sich Nero beim simulierten Schiffbruch nicht der Natur bemächtigen, um seinen Anschlag zu decken, so bedient er sich nun auf unlautere Weise der rechtlichen Mittel, die ihm als Kaiser zur Verfügung stehen, um den Muttermord zu vollziehen und zu legitimieren. Da er als Herrscher die Rolle des obersten weltlichen Richters innehat, führt er höchstpersönlich das peinliche Strafgericht gegen Agerinus. Nero pervertiert hier seine Herrschaftsinstrumente, da er sie nicht im Dienste der Gerechtigkeit zur Sicherung der staatlichen Ordnung einsetzt, sondern selbstgerecht für seine mörderischen persönlichen Zwecke missbraucht. Die Folterszene exponiert Nero noch einmal auf entschiedene Weise in seiner Despotie, die alles bisher Dagewesene übertrifft.159 So fragt auch der Gemarterte: „Welch Blutthund / welch Tyrann hat jemals so gebahret?“ (A IV, 310) Agerinus aber erträgt die Qualen und verweigert die fälschliche Bezichtigung

die Inzestszene verhandelt (A III, 287–386) und danach mit dem fingierten Schiffbruch versucht. 158 Fischer-Homberger: Medizin vor Gericht, S. 364. Dass das Gift außerdem als bevorzugte Waffe den Hexen zugeschrieben wird, dazu vgl. Colvin: Daniel Casper von Lohenstein and the Notion of Witchcraft, S. 274. 159 Wie sich in der Folter die Rollen von Tyrann und seinem Opfer vertauschen können, beleuchtet Lohenstein in der Epicharis. Vgl. dazu Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 231 ff; Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 267–279.

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Agrippinas. Der systematischen Verwundung und gewaltsamen Öffnung seines Körpers in der Folter setzt er seine Verschließung gegen die Falschaussage entgegen: „Jhr werdet durch den Leib eh’ / als mich unrecht / seh’n.“ (A IV, 308) Agerinus konterkariert den rechtswidrigen Missbrauch der Folter, durch den die Unwahrheit hervorgebracht werden soll, gerade dadurch, dass er die Wahrheit sagt. Diese Übereinstimmung von „Seele“ (A IV, 302) und Rede, zwischen Äußerem und Inneren, wird schließlich noch mit einem Blutbeweis fundiert, in dem der Körper zur Sprache kommt. Schließlich vermutet Nero schon, dass es bei Agerinus’ Widerstand gegen die Erpressung der Falschaussage nicht mit rechten Dingen zugehen kann: „Er ist durch Zauberey fuer aller Kwal verwahret“ (A IV, 309) Um sicherzustellen, dass Agerinus die Wahrheit spricht, werden ihm die Fußsohlen aufgeritzt. Dies dient der Überprüfung „ob er blutten kann“ (A IV 311). Durch die „extra-verbale[] Semiotik des Körperlichen“160 wird die Wahrheit ans Licht gebracht: „Es bluttet! Schaue nun der Unschuld Purper an.“ (A IV, 312) War es zuvor die Natur, die sich der Verwirklichung der bösen Tat entgegengestellt hat, so ist es jetzt die menschliche Tugend als natürliches Gut, die sich der Bosheit widersetzt. Obwohl (oder gerade weil) die Wahrheit nunmehr unwiderruflich bewiesen ist, lässt Nero Agerinus schließlich töten. Da der Angeklagte, der der Folter widersteht, der frühneuzeitlichen Rechtspraxis nach eigentlich freigelassen werden muss, überbietet sich Nero hier selbst noch in seiner Skrupellosigkeit und pointiert die Pervertierung des Rechtsverfahrens. Auch wenn es umgehend vernichtet wird, leuchtet in Agerinus ein moralisches exemplum auf, das Neros Bösartigkeit kontrastiert und gleichzeitig umso deutlicher hervortreten lässt.161 Die blutige Folterung des Agerinus ist historisch nicht verbürgt, was darauf schließen lässt, dass dieser Szene eine besondere Funktion im dramatischen Gefüge zukommt.162 Hier zeigt sich, wie Neros Ungeheuerlichkeit die Tugend,

160 Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 245. 161 Halsted: From School Theater to Trauerspiel, S. 630 sieht darin eine Absage an Gryphius’ Märtyrerkonzept: “[I]n Nero’s Rome the purest constancy is still beholden to the forces of decay.” Tatsächlich ist die Beständigkeit, die Agerinus hier beweist, nur noch rein formal mit derjenigen von Gryphius’ christlichen Märtyrern verwandt. Dies gilt auch in Hinblick auf die Martyrien der Verschwörer in der Epicharis. Wie Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 222–230 aufgezeigt hat, wird an ihnen vielmehr ein ruhmvolles Sterben nach antikem Vorbild dargestellt, in denen sich wiederum eine „Leidenslust“ deutlich macht. Wie weiter oben bereits in Hinblick auf das Konzept des gefallenen und geläuterten Helden erarbeitet wurde, lässt Lohenstein auch auf dem Bezugsfeld des Martyriums Gryphius’ Modell hinter sich. 162 Bei Tacitus (Ann. 14,7,6) findet sich lediglich der Hinweis auf Agerinus’ Festnahme, nachdem er fälschlicherweise des Mordes bezichtigt wurde: „ipse, audito venisse missu Agrippinae nuntium Agermum, scaenam ultro criminis parat, gladiumque, dum mandata perfert, abicit inter pedes eius. turn quasi deprehenso vincla inici iubet, ut exitium principis molitam matrem

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die Agerinus mit seiner Integrität verkörpert, auf gewaltsame Weise Stück für Stück zersetzt und vernichtet, während Nero durch den widerrechtlichen Gebrauch der hoheitlichen Mittel in seiner politischen Tyrannei einmal mehr ausgestellt wird. Gleichzeitig zeugt die Folterszene von einer Präponderanz des Bösen in der höfischen Sphäre, da Agerinus einsam seinen Mördern gegenübersteht. Außer Nero und seinem Handlanger Anicetus, die das peinliche Strafgericht und den Mord durchführen, stehen Burrhus und Seneca, aber auch „Die Trabanten“ und „Die Nachrichter“ stumm daneben und beobachten das grausame, widrige Treiben.163 Schließlich jedoch, und dies ist entscheidend für die Wiederholungs- und Überbietungsstruktur, die der Agrippina als Darstellungsmodus des Bösen eingeschrieben ist, antizipiert das Blutgericht des Agerinus die Hinrichtung Agrippinas. Abgesehen davon, dass Agerinus’ peinliches Verhör als Vehikel dienen sollte, um Agrippina zu überführen, weist seine Marter auch strukturell auf ihre Tötung voraus. In beiden Fällen nämlich erteilt das Blut Auskunft über Schuld bzw. Unschuld der Angeklagten. Dementsprechend gerät auch Agerinus’ Folter im Moment des Blutbeweises zur Autopsie, welche auch die Sektion von Agrippi-

et pudore deprehensi sceleris sponte mortem sumpsisse confingeret.“ [„Er selbst [Nero] setzt als er hört, von Agrippina geschickt sei Agermus [=Agerinus] als Bote gekommen, seinerseits eine Komödie des Verbrechens in Szene und wirft ihm, während er seinen Auftrag ausrichtet, sein Schwert zwischen die Füße. Dann läßt er ihn, als sei er auf frischer Tat ertappt, in Fesseln legen, um vorgeben zu können, die Mutter habe die Ermordung des Princeps beabsichtigt und sich aus Scham über die Entdeckung der Untat selbst den Tod gegeben.“ (Tacitus: Annalen, S. 639)]. 163 Siehe A IV, S. 117 (Bühnenanweisung). Diese stummen Figuren konterkarieren in ihrer Anwesenheit gleichzeitig den Rahmen eines rechtmäßigen peinlichen Verhörs, der hier in keiner Weise gewahrt wird. Die Praxis des Richtens ist eindrücklich pervertiert, denn „[e]rst nachdem die Berechtigung zur Folter von den Schoppen-Stühlen überprüft war, durfte sie, und zwar unter Ausschluß der Öffentlichkeit, in einem hellen Raum, unter Gegenwart des Richters, zweier Schöffen, eines Schriftführers sowie eines Arztes, der die Belastbarkeit des zu Folternden überprüfen mußte, stattfinden.“ (Wichert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz, S. 376.) Zentral ist die „Perversion des Richtens“ in der Epicharis ausgestellt, weist jedoch Parallelen zur Folterung des Agerinus in der Agrippina auf. Das Unrecht, das in der Epicharis zentral ist, stellt sich bereits in der Agrippina als eine Art gängige Praxis dar, die Neros tyrannische Herrschaft somit durchweg kennzeichnet. Was Wichert am Beispiel der Epicharis stark macht, kann auf diese Stelle der Agrippina übertragen werden: In beiden Fällen nämlich erscheint Nero „als der Prototyp einer das Recht brechenden, die Regeln des Strafrechts mißbrauchenden und die Richtertugenden mißachtenden Gerichtsobrigkeit.“ (Wichert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz, S. 382).

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nas Leichnam quasi vorwegnimmt.164 Agerinus fungiert vor diesem Hintergrund gleichsam als Agrippinas Stellvertreter, an dem der Ernstfall des Matrizids geprobt wird. Auf wahrlich eindringliche Weise wiederholt sich die atrocitas der jeweils gewaltsamen Öffnung der Körper, sodass der Mord an Agrippina sich hier auf dem Schauplatz mithin zu verdoppeln scheint. Einen weiteren Stellvertretertod stirbt der von Agrippina freigelassene Mnester. In der fünften Abhandlung bringt er sich selbst um angesichts des ehrlosen Begräbnisses, das Agrippina bereitet wird. Auch diese Szene weicht von den historischen Quellen ab und stellt eine eigene Interpretation Lohensteins vor, was auf ihre besondere Funktion innerhalb des Dramengefüges schließen lässt.165 Mnester klagt das ruchlose Verbrechen des Muttermords an und opfert sich schließlich selbst, um Agrippinas Leichnam vom Frevel, der ihm angetan wurde, reinzuwaschen.166 Er folgt damit zwar dem kultischen Gesetz, das schon die Vestalinnen postuliert haben – „Die Seele wird gereinig’t nur durch Blutt. / Durch Blutt faell’t freylich Boßheit hin!“ (A II, 554–555) –, jedoch erscheint sein Blutvergießen viel eher als Verzweiflungstat, als sprichwörtlicher (Bluts-)Tropfen auf den heißen Stein angesichts der Übermacht des Bösen.167 Mnester tötet sich ebenfalls durch einen Dolch: „Stoß / Mnester / stoß / stoß zu!“ (A V, 575) Er zitiert hier das dreifache „Stoß“ (A V, 152–154), mit dem auch Agrippina ihre Hinrichtung kommentiert. Die Wiederholung als Figuration des Bösen wird hier als sprachliche Figur abgebildet. Mnester wird zum Blutzeugen des zerstörerischen Kreislaufs, der als Entelechie des Bösen den Schauplatz bestimmt. Als entsetzliche iteratio scheint der Muttermord somit gleich drei Mal zur Aufführung zu gelangen, sodass dieser 164 Auch Rahn: Affektpathologische Aspekte und therapeutische Handlungszitate, S. 213 wendet den Begriff der Autopsie, der später im Zusammenhang mit Neros Besichtigung von Agrippinas totem Körper wichtig wird, bereits auf Agerinus’ Folter an. 165 Bei Tacitus (Ann. 14,9,2) steht: „accenso rogo libertus eius cognomento Mnester se ipse ferro transegit, incertum caritate in patronam an metu exitii.“ [„Als der Scheiterhaufen angezündet war, durchbohrte sich einer ihrer Freigelassenen mit Namen Mnester selbst mit dem Schwert, man weiß nicht, ob aus Anhänglichkeit gegenüber seiner Herrin oder aus Furcht vor der Hinrichtung.“ (Tacitus: Annalen, S. 641)]. 166 So spricht Mnester zu sich selbst: „Auf Mnester? rueste dich und opffere dein Leben / Derselben / der man wil kein Blutt zum Opffer geben! / Weil Niemand ihr Gebein’ aus kostbarm Wasser waesch’t / Und die noch glimme Glutt durch keine Thraen’ außlaesch’t / So wasch’ und lesche sie mein spritzendes Gebluette;“ (A V, 563–567). 167 Auch Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 215 war zu der Konklusion gekommen: „Wenn Mnester sich selbst an Agrippinas Grab opfert, der Selbstmord aber nur dem Mord zuvorkommt, ist die Verwandlung von vergossenem Blut in Ehre […] völlig diskreditiert. […] Mnesters Tod [bleibt] innerhalb der der unehrenhaften Bestattung selbst ‚Wahnwitz‘, ein Zeichen der Ausweglosigkeit.“

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Kunstgriff Neros Verbrechen als eines ausstellt, das die Grenzen des Möglichen und Glaubhaften übersteigt.168 Mit den Mitteln der Dichtung wird hier gezeigt, was anhand von Lohensteins juristischer Schrift De voluntate auf theoretischer Ebene erarbeitet wurde: Die mehrfache Wiederholung bedeutet eine stete Steigerung des Verbrechens, wodurch das ‚einfache‘ Verbrechen in seiner Qualität überboten wird. In dieser Verknüpfung von Dichtung und Jurisprudenz tritt Lohenstein in seinem Schaffen als poeta et syndicus besonders deutlich hervor. Durch den Kunstgriff, mit dem sich der grausame Muttermord auf dem Schauplatz vervielfältigt, überbietet Lohenstein schließlich auch die Darstellung des Bösen in der Octavia, wo die Verdoppelung des Muttermords das ultimative Skandalon eines unvergesslichen Bösen bedeutete. Die Agrippina erscheint als eine aemulatio der senecaischen Tragödiendichtung und ihrer Darstellung der Greuelgemälde. Wurde die vierte Abhandlung mit der Hinrichtung des Agerinus beschlossen, so wird Agrippina zu Beginn der fünften Abhandlung von Neros Schergen in ihrem „Schlaff-Gemach“169 überfallen. Das Eindringen von Neros Handlangern in Agrippinas Privatraum nimmt das gewaltsame Eindringen des Dolches in ihren Körper vorweg. Dem Überfall ist eine confessio Agrippinas vorgelagert, durch die ein Einblick in ihr Innerstes, ihre Seele gegeben wird.170 Agrippina ist wieder an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt, denn auch ihr erster Auftritt fand in ihrem „Schalffgemach“171 statt. Ein Kreis schließt sich: In der zirkulären Dynamik des Trauerspiels ist Agrippina ein letztes Mal den circulus vitiosus abgeschritten. Im Gegensatz zu ihrer Selbstinszenierung als von der Fortuna „Gefaellte“ in der ersten Abhandlung, die im Dienste einer wirkungsvollen Pathosstrategie das Mitleid der Kaisergattin erregen sollte, so erscheint Agrippina nun als Gefallene, als Opfer ihrer eigenen infamen simulatio, bzw. der erratischen Verwicklungen, die sie damit heraufbeschworen hat. Allein mit ihrer Dienerin fehlt Agrippina nunmehr das höfische Publikum, die Projektionsfläche für ihre simulatio. Sie ist auf sich selbst zurückgeworfen und geradezu zur Introspektion verurteilt. Das peinli-

168 Diese Achse zwischen den fiktionalisierten Toden von Agerinus und Mnester und die Stellvertreterfunktion, die sie im Verhältnis zu Agrippina und dem Muttermord einnehmen, wurde so von der Forschung noch nicht offengelegt. Es zeigt sich an diesem Beispiel, dass sich ein Blick auf die Nebenfiguren und -schauplätze lohnt, gerade dann, wenn sie in so zu nennender dichterischer Freiheit von der historia abweichen. 169 A V, S. 129. 170 Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 197 weist darauf hin, dass das Geständnis nun „gerade durch seinen privaten Charakter im Schlafgemach Agrippinas noch zusätzliches Gewicht im Sinne einer nicht gesellschaftlich etablierten Selbstthematisierung“ erhält. 171 A I, S. 35.

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che Strafgericht, das noch Agerinus die Wahrheit abgerungen hatte, ist in Agrippinas Fall als „Folterbank des Gewissens“172 in ihre Innerlichkeit verlagert. Durch das natürliche Phänomen des Gewitters, das ja als Donnerwort Gottes gilt, wird ihr böses Gewissen geweckt: Nein! mein Gewissen selbst versag’t mir allen Trost / Die Goetter sind erzuern’t / der Himmel ist erbost / Die Wolcken hecken Blitz / der Abgrund kaltes Eisen Auf mein verdammtes Haupt. Die eignen Thaten weisen Mir diesen Rechnungs-schluß (A V, 36–39)

Auch Agrippinas Vision transzendiert die Grenzen zwischen immanentem Geschehen und metaphysischer Wahrheit und steht damit für die zunehmende Durchlässigkeit von Diesseits und Jenseits. Sie entdeckt die hinter allem wirkende Macht des Verhängnisses, deren Rechtsprechung Verbrechen und Laster im „Rechnungs-schluß“ gegen die gerechten Strafen abwägt. Der Verbrecherin bleibt erwartungsgemäß der „Trost“ verwehrt, an dem sich Gryphius’ gute, wenn auch unglückliche Helden angesichts der sich entfaltenden christlichen Heilsordnung erfreuen durften. Auf poetologischer Ebene zeigt sich die moralisierende (Straf-)Ökonomie des Trauerspiels hier ganz deutlich als eine Repräsentation der Verhängnisordnung, die sich mittlerweile in der Abhandlung ähnlich energisch wie in den Reyen formuliert. Während Agrippinas Schuld und ihre einstigen Verbrechen zu Beginn des Trauerspiels nur zu erahnen waren, gewinnen ihre „eignen Thaten“, „meine Thaten“ (A V, 44) nun deutlich an gespenstisch-dämonischer Präsenz. Als „Schatten nicht erschrecklicher Gestalten“ (A V, 42) suchen sie Agrippina heim und rufen in diesem Wortlaut die „Erschreckliche Gestalt“ (A IV, 55) der Hölle aus der Geistererscheinung des Britannicus auf. Im Gegensatz zu Nero jedoch, dessen böser Sinn auch durch die imago der Höllenfahrt nicht besänftigt werden konnte, werden Agrippina durch ihr böses Gewissen und die Geister, die es mit sich bringt, sprichwörtlich die Augen geöffnet. Ihre einstigen Verbrechen gelangen in der confessio „als rhetorische evidentia ‚zur Sprache‘, vor das Angesicht“173 und so lenkt Agrippina den Blick Sosias (und des Publikums) auf ihre Schuld – „Schaustu’s“ (A V, 55), „Schaut!“ (A V, 56) –, die „Hier“ (A V, 45; 55) und „Dort“ (A V, 50; 59), also allgegenwärtig ist. Agrippina hat sich in ihren Verbrechen stets selbst übertroffen, da sich die Aufzählung ihrer Untaten von „halb-viehisch Liben“ (A V, 45) über „Neid“ (A V, 55) bis hin zur wiederholten „Mordthat“ (A V, 59) steigert. Darin kommt nicht zuletzt ihre Lasterhaftigkeit 172 Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 202. 173 Ebd., S. 200.

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zur Anschauung, die ja nichts anderes bedeutet, als dass sich in ihr durch Wiederholung die böse Tat verstetigt hat. Aus dem Geständnis mit deiktischem Gestus geht schließlich das Schuldbekenntnis hervor: „Mein schuldig Hertze weiß: Daß es die Warheit sey.“ (A V, 68) Agrippina erkennt nach der Vorstellung des Gewissens das Verhängnis als transzendente Macht an, die hinter dem blutigen Geschehen waltet: „Jtzt ist die Stunde dar / Die mein Verhaengnues hat den Sternen eingeschrieben“ (A V, 92–93) Wie schon die Blitze des Gewissensgewitters illustrieren, ist die Natur die zentrale Kategorie, in der der göttliche Wille aufleuchtet. Da sich Agrippina nunmehr in Übereinstimmung mit der Verhängnisordnung befindet, sind ihre moralische Integrität und Tugend trotz der immensen Verbrechen ein stückweit rehabilitiert.174 In diesem Zustand der Transzendenz durchbricht Agrippina schließlich die vierte Wand. Sie scheint sich nicht nur an ihre Dienerin, sondern auch an das Publikum zu wenden, wenn sie spricht: „Lern’t nun: Wie schwanckend sitzen / Die / derer Armen sich auf frembden Achseln stuetzen.“ (A V, 113–114) Damit ist also nicht nur die Grenze zwischen Schauplatz und Publikumsraum überwunden, sondern auch die zwischen Paratext und Dramentext, da die Figur Agrippina hier das Tacitus-Motto paraphrasiert, das dem Text Agrippina vorangestellt ist. Die moralische Lehre, die sich eigentlich ex negativo formuliert, wird hier ausbuchstabiert. Die tragische Titelheldin wird zur Trägerin und Vermittlerin des historischen Scripts.175 In diesem Zustand treffen Neros Häscher Agrippina an. Sie fordert ihre Mörder auf, sie in ihrer Schuldigkeit zu richten und sie damit nicht zuletzt ihrem Verhängnis zuzuführen:

174 Colvin: Daniel Casper von Lohenstein and the Notion of Witchcraft, S. 278 stellt Agrippina in diesem Aspekt in eine Reihe mit Cleopatra und Sophonisbe, da den Geständnissen aller drei Titelheldinnen Züge der Urgicht bei Hexenprozessen eingeprägt seien. Diese setzten sich aus Aufzählungen von sexuellen Perversitäten, Rache- und Mordtaten zusammen. In diesem Sinne ist auch Agrippinas Eingeständnis zu lesen, dass sie „aergste Zauber-kunst“ (A V, 49) angewendet habe, um Claudius an sich zu binden. Vor diesem Hintergrund ist Agrippinas Referenz auf den Gebrauch von Magie keinesfalls als bloßes „Mißverständnis L[ohenstein]s von Tacitus“ (Mundt: Kommentar Agrippina, S. 688.) zu übergehen, sondern eher als Kunstgriff zu betrachten, der auch hier die Metaphorik der Wollust als circeische Verwandlung und damit Hexerei in Anschlag bringt. Auch Acte hatte ja die Verführungskunst mit der Zauberkunst gleichgesetzt, um den Inzest als umfassendes Böses auszustellen. Der zusätzliche Tatbestand der Magie bzw. Hexerei – ob Missverständnis oder Kunstgriff – verstärkt in jedem Fall den Eindruck von Agrippinas selbstproklamierter Nähe zum Bösen. 175 Diese Formulierung vom historischen Script entlehne ich Jane Newman: The Intervention of Philology. Gender, Learning, and Power in Lohenstein’s Roman Plays. Chapel Hill 2000 (University of North Carolina Studies in Germanic Languages and Literature 122), S. 17.

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Stoß / Moerder / durch das Glied / das es verschuldet hat / Stoß durch der Brueste Milch’! Di solch ein Kind gesaeuget / Stoß durch den nackten Bauch / der einen Wurm gezeuget / (A V, 152–154)

Als stilistisches Äquivalent scheint die dreifache Wiederholung des „Stoß“ als Antwort auf Neros dreifache Aufforderung zum Muttermord durch den Dolchstoß zu fungieren. Mit dem sprachlichen Gestus des Imperativs scheint Agrippina auch im letzten Moment noch ihre imperiale Machtposition zu behaupten. Bezeichnenderweise ist es Oloaritus als der Hauptmann von Neros Leibwache, der den Dolch in Agrippinas Leib setzt. Zielgenau trifft er die Körperteile „Brueste“, „nackte[r] Bauch“ und Schoß, die sowohl für Agrippinas Laster stehen als auch die Zeugung und Ernährung des ebenfalls lasterhaften, depravierten Sohnes. Bereits in den vergangenen zwei Disputationen um den Muttermord hatte Nero jeweils explizit für die Erdolchung Agrippinas optiert.176 Der Dolchstoß als Perforation und Penetration der physischen Grenze zwischen Außen und Innen, Leben und Tod, wiederholt und steigert in sich die Verletzung der natürlich-sittlichen Grenze, die schon der Inzest bedeutete. In Agrippinas Aufforderung zum tödlichen „Stoß“ hallt ihre erotische Einladung „Schmeck’“ wider, mit der sie Neros Einwilligung zum Inzest provoziert hatte. Sowohl im Inzest als auch im Muttermord kehrt Nero an seinen kreatürlichen Ursprung zurück und drängt darauf, diesen zu tilgen. Der Muttermord wiederholt folglich die zirkuläre Dynamik des Inzests, nur eben auf destruktive Weise.177 Hatte Agrippina Nero im widrigen sexuellen Akt „Erneuerung“ (A III, 192) durch „Selbstzeugung“178 versprochen, so verspricht sich Nero nun vom Muttermord, dass ihm „durch dis Werck das Reich auf’s neue“ (A IV, 194) geschenkt werde. Im Matrizid emanzipiert sich Nero von Agrippina als Kaisermacherin und entfesselt seinen grenzenlosen Machtwillen: Er gebiert und entbindet sich als Kaiser selbst, sodass die Erdolchung der Mutter zum Kaiserschnitt wird.179 Nero will nicht nur seinen eigenen kreatürli176 So heißt es von Nero in der ersten Abhandlung „Der Mit-Verraether wuensch’t / und uns wil Freund verbleiben / Der sol nebst uns den Dolch ihr durch die Brueste treiben.“ (A I, 271–272) und in der in der dritten Abhandlung: „Meinstu [angesprochen ist Paris] daß sich der Mord durch Dolche laeß’t verhoelen?“ (A III, 326). 177 Vgl. Alt: Tod der Königin, S. 143. 178 Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 144. 179 Den Moment des Kaiserschnitts in der Agrippina hat zuerst Rahn ausgemacht. Rahn: Affektpathologische Aspekte und therapeutische Handlungszitate, S. 225 deutet die Perversion des Kaiserschnitts als Indiz für die Perversion des neronischen Kaisertums. Davon ausgehend stellt Wild Neros Kaiserschnitt ins Zentrum seiner gleichnamigen Studie und liest ihn als Neros Geste der absoluten Selbstsetzung, in der er sich als unumschränkter Souverän von seiner kreatürlichen Herkunft löst. Nero nehme dabei die Sprach- und Kulturgeschichte beim Wort, denn „Plinius zufolge leitet sich der Gattungsbegriff ‚Caesar‘, und damit auch das deut-

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chen und imperialen Urgrund tilgen, sondern auch die Geschichte des Kaisertums und Kaiserreichs neu schreiben, da er sich als erster und einziger Kaiser selbst setzt.180 Der Muttermord als tödlicher Einschnitt verletzt und durchbohrt auf irreversible Weise physische, natürlich-sittliche und machtpolitische, ja gottgewollte Grenzen. Indem Nero sich nämlich auf diese Weise als Kaiser selbst (neu) erschaffen will, fordert er die göttliche Ordnung auf radikale Weise heraus und ist gar darum bemüht, sie außer Kraft zu setzen. Die endgültige sectio caesarea vollzieht sich erst mit der Sektion von Agrippinas totem Körper und dessen anschließender Vernichtung.181 Durch die Leichenschau verschafft sich Nero einen Überblick über seinen kreatürlichen und imperialen Ursprung und erobert sich damit – als nunmehr letzte Instanz in der Kette der Beobachter – die ultimative Vormachtstellung. Die mechanischen Einschnitte, die der Dolch vorgenommen hat, haben Agrippinas Körper für „Neros aut-optische[n] Blick“182 geöffnet, mit dem wiederum auf Neros Neigung zur sündigen concupiscentia oculorum verwiesen ist, die er bereits in der ersten Abhandlung an den Tag gelegt hatte. Er will „die blutt’ge Leiche sehen“ (A V, 174), „die Eigenschaft der Wunden recht beschauen“ (A V, 177) und sein „zornig Aug“ (179) ergötzen. Nach Augustinus spiegelt die lasterhafte Begierlichkeit der Augen sich sowohl in einer krankhaften Theaterleidenschaft als auch in der Neugierde wider, mit der Leichen betrachtet werden.183 Vor diesem moraltheologischen Hintergrund wird Agrippinas Sektion zum perversen theatrum anatomicum. Die Leichenschau, die sich also ganz dezidiert im Register des Sehens vollzieht, gerät zu Neros eigenem Erstaunen – „Ich hette nicht gemein’t: Daß solche Glider mich / Solch Schnee-gebirgter Leib in sich getragen haben“ (A V, 180–181) – zu

sche Wort ‚Kaiser‘, welches eines der ältesten lateinischen Lehnwörter bildet, von der sectio caesaria ab – und nicht etwa umgekehrt. Der Kaiser stellt also einen Menschen dar, dessen Geburt durch einen Schnitt gekennzeichnet ist, der ihn von seinem biologischen Ursprung abschneidet und trennt.“ (Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 132). Im Folgenden wird sich auf die Analysen von Rahn und Wild gestützt und darauf aufbauend die Erdolchung und Leichenschau Agrippinas als Manifestation des Bösen untersucht. 180 In der Epicharis wird das Schreiben mit Blut als „Purper-Tinte“ (E V, 595) expliziert. Siehe dazu Rahn: Rhetorik der Körperflüsse, S. 25–27. 181 Rahn und Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 123–131 verweisen darauf, dass Lohensteins Darstellung an eine ikonographische Tradition mindestens seit dem Mittelalter angeschlossen ist, die das „Sujet ‚Agrippinas Sektion‘“ (Rahn: Affektpathologische Aspekte und therapeutische Handlungszitate, S. 225) bearbeitet. Allein das Titelkupfer der Agrippina spielt darauf an, in dem Muttermord und Leichenschau zusammengeführt sind. 182 Auch Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 123 macht Neros „Neugierde“ aus, stellt jedoch auch hier nicht die Verbindung zur christlichen Morallehre der concupiscentia oculorum her. 183 Augustinus: Confessiones, lib. X, cap. 55, S. 504.

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einer erotisierten Betrachtung von Agrippinas nunmehr totem Leib, wobei die neugierige Augenlust zur Wollust wird. Die preziöse Metapher des Schneegebirges weist zurück auf die Inzestszene, deren decorum ebenfalls die petrarkische Liebesmetaphorik von Feuer und Eis war. Inzest und Leichenschau konvergieren, indem Nero durch seinen nunmehr lüsternen Blick die vorangegangene mechanische Öffnung von Agrippinas Leib durch den Dolch nachvollzieht und in ihn eindringt.184 Die Autopsie gereicht der Befriedigung sowohl seines politischen als auch seines erotischen Begehrens. Neros widernatürliche Wollust erweitert den Inzest noch in seiner Perversität, da er nun an Nekrophilie grenzt. Diese Pervertierung ist auch auf formaler Ebene dargestellt, da hier „die geläufige preziöse Montage der Frau in der [petrarkischen] Liebesmetaphorik zur preziösen Demontage der Mutter“185 umgelegt, also zur anatomischen Sektion ihres Leichnams wird. Ganz ähnlich den Darstellungen von außerordentlichen Verbrechen in Senecas Tragödien ist auch hier bei Lohenstein die böse Tat ästhetisch überformt: Gerade die Diskrepanz zwischen preziöser Metaphorik und sadistischer Schaulust lassen Neros abgründige Bosheit nur umso deutlicher hervortreten. Durch die Autopsie wird sogleich der Blick freigelegt auf das, was sich im Inneren Agrippinas verbirgt. Nero entdeckt, was Agrippinas confessio dem Zuschauer bereits als rhetorische evidentia vorgestellt hatte, nämlich ihre Lasterhaftigkeit. Zum einen ist da „Ein so kohl schwartzes Hertz“ (A V, 185), das nach der Säftelehre auf eine Vergiftung des Herzens durch die schwarze Galle der Melancholie hindeutet. Diesem medizinischen Befund ist der frühneuzeitlichen Vorstellung nach die Ehrsucht korreliert: „Der Affekt der Ehrsucht fördert den Überschuß von schwarzer Galle, der wiederum Ehrsucht bedingt.“186 Vergiftung und Laster stehen in einem wechselseitigen, sich stets steigernden Verhältnis, das auf physiologischer Ebene die Dynamik des circulus vitiosus beschreibt, den die Agrippina zur Darstellung bringt. Dieser Teufelskreis bestimmt Agrippinas Säftekreislauf und ihr „schuldig Herz“ (A V, 68), zu dem sie sich ja zuletzt bekannt hatte, ist pathologisiert. Ihr Mund ist seinerseits das Versteck „Der gift’gen Schlangen […] / die in der Seele nisten“ (A V, 189) und verweist damit auf die Leitmotivik der Giftschlange, deren tückische Doppelzüngigkeit hier vordergründig ist. Damit ist auch Agrippinas Meisterschaft in der rhetorischen persuasio angesprochen, die sie u. a. in der Inzestdisputation unter Beweis gestellt hat. Allen

184 Vgl. Rahn: Physiologie der Liebesblicke, S. 171. 185 Rahn: Affektpathologische und therapeutische Handlungszitate in Lohensteins „Agrippina“, S. 224. 186 Rahn: Affektpathologische und therapeutische Handlungszitate, S. 204. Die Ausführungen zum „kohl schwartze[n] Hertz“ stützen sich ebenfalls darauf.

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voran findet Nero jedoch sich selbst auf einer Ebene mit diesen Lastern: „Ich hette nicht gemein’t: Daß solche Glider mich […] in sich getragen haben“.187 Die Sektion gewährt damit vor allem einen Einblick in die Genese des Tyrannen. Mit Rückgriff auf die Einleitung zu Saavedra Fajardos Abriss eines Christlich-Politischen Printzen kann die Leichenschau gar als mise-en-abyme für das gesamte Trauerspiel angesehen werden: „Dieses ist noch daß beste an einem bösen Fürsten / daß die weißheit mag nach dessen Todt seinen Leichnam durch die Anatomy gleichsam durchgrüblen / vnd die kranckheiten / vnd vrsachen / der übel Regierten gemeine ersehen / vnd solchen helffen.“188 Vor diesem Hintergrund wird die gesamte Agrippina als eine einzige große Obduktion lesbar, die Nero, seine Tyrannei und das dekadente Römische Reich auf die jeweiligen „kranckheiten / vnd vrsachen“ hin untersucht. Durch Autopsie und Anamnese kann eine Pathologie des Tyrannen entwickelt werden, die letztlich den christlich-politischen Prinzen ex negativo stärkt.189 In diesem Sinne fungiert auch Agrippinas Ausspruch „Diß ist das Trauerspiel / das schon mit mir beginnet /“ (A I, 439) als Metakommentar auf den gesamten zyklischen Dramen- und Geschichtsverlauf, da ihre Laster und Bosheiten sich in Nero fortzeugen. Aus ihr generiert sich der malus princeps, der willentlich alles bisher Dagewesene zu überbieten sucht und somit als Aberration der historia erscheint. Nachdem im strengen Sinne die Sektion und Demontage des Körpers abgeschlossen ist, folgt die Blutschau. Dass Agrippinas immer noch „erhitztes Blutt“ (A V, 195) weiterhin aus den Wunden hervorströmt, deutet ja im Sinne der frühneuzeitlichen Rechtspraxis als cruentatio cadaverum darauf, dass sich der Leichnam im Angesicht seines Mörders befindet und diesen denunziert. Nero empfindet wiederum sowohl Augenlust als auch Wollust bei diesem Anblick und fordert auch die Beistehenden dazu auf, sich das Schauspiel anzusehen:

187 Auch Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 271 bemerkt: „Zur eigenen Überraschung […] findet sich Nero auf einer Ebene mit Agrippinas inneren bösen Objekten wieder. Konzeptistisch verschlüsselt wird damit, dass er als Inkarnation aller ‚vitia‘ aus dem toten Leib seiner Mutter hervorgetreten ist.“ 188 Saavedra Fajardo: Abriss eines Christlich-Politischen Printzen, S. 2 [„Solo este bien quèda de aver tenido vn Príncipe malo en cuyo cadáver haga anatomía la prudencia, conociendo por el las enfermedades de un mal gobierno para curallas.“ (Saavedra Fajardo: Príncipe Político Christiano, S. 2–3)]. 189 Der Hinweis auf diese Stelle bei Saavedra und deren Bedeutung für Lohensteins poetische „Methode der Negativität“ findet sich bei Schings: consolatio und prudentia, S. 433. Zur konkreten Anwendung auf Lohensteins dramatische Dichtungen ist dieser Befund jedoch bisher noch nicht gekommen.

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Schau’t wie di Morgen-roth am weissen Himmel lach’t. Zinober kwill’t aus Milch / Rubin aus Helffenbeine / Aus Alabaster Glutt / Korall aus Marmelsteine.“ (A V, 197–198)

Der Muttermord wird als „Naturschauspiel“, nämlich als Anbruch eines neuen Tages stilisiert, an dem Nero als Kaiser und auch sein Kaisertum aus dem toten Körper der Mutter neu geboren werden. Das ist es nach Neros Interpretation, wovon der Blutbeweis Zeugnis ablegt und damit Neros Selbstsetzung legitimiert. In diesem „petrarkistische[n] Bravourstück“190 ist durch den farblichen Kontrast zwischen dem Rot des Blutes und dem Weiß der Haut die Liebesmetaphorik von Feuer und Eis noch einmal aufgerufen und verstärkt,191 wodurch sich geradezu proportional auch die Aversion gegen Neros abgründige Verdorbenheit noch einmal intensiviert. Die preziöse Metaphorik ruft ebenfalls Topoi der christlichen Blut- und Wundentheologie auf. Allein die Passion Christi ist hier ganz grundsätzlich invertiert: Während Jesus als Gottes Sohn zum Wohl der Menschheit geopfert wurde, so opfert hier der Sohn die Mutter seiner vermessenen Selbstsetzung und stellt sich dadurch auf eine Stufe mit Gott. Im Muttermord ist dementsprechend eben nicht alle Schuld getilgt, sondern Neros universale Schuld übertrifft alles bisher Gekannte. Dieser Aspekt der Pervertierung von Glaubensgrundsätzen und der Blasphemie, der dem Muttermord damit beigegeben ist, wird noch durch Neros Äußerung pointiert, dass der Mord „Den Goettern hat gefallen“ (A V, 194). Die Lästerung kulminiert schließlich, wenn Nero spricht: Die Waermbde / die ihr itzt noch steig’t aus Blutt und Wund’ Hat so viel Kraft in sich: daß unser Zung und Mund Empfinden Hitz und Durst. Reich’t uns ein Glaß mit Weine. (A V, 199–202)

Nicht mehr nur der Anblick, auch die „Waermbde“, die Agrippinas Leichnam entströmt, reizt Nero zu „Hitze und Durst“. Gerade die Hitze verweist auf die Leitmotivik von Neros brennender Wollust. Diese zu stillen hatte Agrippina zuvor noch durch den Inzest in Aussicht gestellt. Dies setzt Nero nun eigenständig um: Indem er über dem Leichnam der Mutter ein Glas Wein trinkt, kommt er Agrippinas Aufforderung zum Inzest, die sich im oralen Genussversprechen

190 Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 271. 191 Meyer-Kalkus macht ebd., S. 272–273 darin ein bei Lohenstein zentrales Motiv aus und verweist auf sein Venus-Gedicht, das auf Grundlage dieses Kontrasts von Inkarnat und Blut an die sadistische Bildlichkeit bei den Italienern, allen voran Giambattista Marino, anzuknüpfen scheint.

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des „Schmeck’“ artikulierte, endlich nach.192 Die erotische Aneignung durch die Examination der Leiche wird zur Einverleibung und es manifestiert sich einmal mehr die finstere Verbindung von Wollust und Verbrechen, die der Emergenz des Bösen zugrunde liegt. Mit der Evokation der christologischen „Blutt und Wund’“-Frömmigkeit erfolgt die Einverleibung in „fast eucharistischer Manier“193 nach den Regeln der Transsubstantiation, wodurch in vermittelter Weise das Sakrament des Abendmahls als Vampirismus avant la lettre entweiht und entartet ist. Im Sakrileg entfaltet sich der horror der anthropophagen Einverleibung rein imaginativ und doch ganz unmittelbar.194 Da Nero gerade die „Kraft“ anspricht, die von Agrippinas Blut ausgehe, ist ebenfalls auf die Anthropophagie als Signatur der magia daemoniaca verwiesen. Auch in Gryphius’ Leo Armenius gipfelte ja die Litanei der Teufelsbeschwörung in der Anthropophagie, deren Essenz wiederum das Blut ist: „Wo nichts das dich [den angerufenen Höllischen Geist] ergetze / Geht ueber Menschen Blutt“ (LA IV, 96–97) Dieser dämonische Blutdurst zeichnet eben auch Nero aus. Neros Nähe zur Schwarzkunst, die sich damit ankündigt, wird sich später in der großen Zauberszene konkretisieren, wo die Anthropophagie als schwarzmagische Praxis weiter ausgestellt wird. Nero ist hier in seiner Gottlosigkeit exponiert.195 Die symbolische Ersatzhandlung wird folglich als eine Transgression lesbar, durch die Nero vollends in die Sphäre des Bösen und ihrer dämonischen Mächte übergeht. Wenn sich im horror des anthropophagen Akts Neros Gottlosigkeit ausdrückt, so ist darin auch die Widernatürlichkeit seines Verbrechens, die ja immer auch einen Verstoß gegen die gottgewollte Ordnung bedeutet, pointiert

192 Lohenstein stützt sich in seiner Darstellung auf Sueton (129/130), der berichtet, dass Nero bei der Inspektion von Agrippinas Leichnam ein Glas Wein getrunken habe. 193 Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 121. 194 Dies geht laut Beise: Anthropophagie, S. 139 einher mit einer Tendenz der Anthropophagiedarstellungen im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts: „Die Rhetorisierung des Motivs [der Anthropophagie], das seine verstörendste Wirkung imaginativ entfaltet, leistete einer Verwendung Vorschub, bei der die Rede davon sich auf keine tatsächliche Menschenfresserei mehr bezieht.“ 195 Die implizite Analogisierung von magischer Praxis und Eucharistie, die Lohenstein hier vornimmt, kann als anti-katholische Polemik gewertet werden, die sich in der Zauberszene weiter entfalten wird. Bereits für Gryphius’ Leo Armenius konnte eine solche implizite Schmähung der katholischen Sakramentaltheologie nachgewiesen werden, sowohl hinsichtlich der Eucharistie als auch des Reliquienkults. Die Zauberszenen fungieren damit auch als Nebenschauplätze für das konfliktive und komplexe Verhältnis zwischen Protestantismus und Katholizismus, das sich auch auf dem Theater des Jesuitendramas und des protestantischen Schuldramas verhandelt findet.

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bzw. vollendet. Da das Kind aus dem Leib der Mutter hervorgeht, die Mutter jedoch hier in den Sohn eingeht, ist in diesem „unnatürliche[n] Fressakt“196 endlich jede natürliche und göttliche Gesetzmäßigkeit invertiert. Nicht nur tilgt Nero hier seinen kreatürlichen und imperialen Ursprung, er vertilgt ihn. Mit der Einverleibung findet sich letztlich auch die Vorstellung jenes inzestuös-kannibalistischen Zeitalters ausagiert, das die Dekadenz des Römischen Reichs unter Neros Herrschaft zeitigt. Da Nero im pseudo-kannibalischen Akt auch gegen ein so zu nennendes Zivilisationstabu verstößt, infolgedessen die Menschenfresserei Kennzeichen eines vorkulturellen, eines vorchristlichen Zustands ist, konterkariert seine Tyrannei ganz entschieden das frühneuzeitliche Ideal des guten, sittlichen, christlichen Herrschers. Gerade weil die Anthropophagie auf unterschiedlichen Ebenen – als „Signum des gänzlich Anderen, des ein für alle Mal Vergangenen, des Exotischen, des Pathologischen, der absoluten Ausnahmesituation“197 – das absolut Negative bedeutet, erreicht die poetologische Formel des ex negativo hier ihre wohl eindringlichste Formulierung. Die (Ver-)Tilgung der Mutter ist jedoch erst perfekt mit der Tilgung ihres Andenkens. Um sich selbst unvergessen zu machen, muss Nero das Gedächtnis an die Mutter zerstören. Dafür bedient sich Nero im Folgenden an einem ganzen Repertoire an Strategien, die traditionell der römischen Kulturtechnik der damnatio memoriae zugeordnet werden, nämlich der demonstrativen Vernichtung visueller Repräsentationen, der Ausradierung des Namens sowie dem Verbot, der Beerdigung beizuwohnen und zu trauern.198 Im übertragenen Sinne bedeutet die damnatio memoriae einen Einschnitt, der nur mehr in die kollektive memoria und damit in die Geschichtsschreibung und -tradierung erfolgt. Die Sektion von Agrippinas Leichnam wird als Mutilation ihres Gedächtnisses weitergeführt, die als Manipulation der imperialen memoria nicht zuletzt Auswirkungen auf die Korporation des Römischen Reichs hat. Die damnatio memoriae soll „mit guttem Scheine“ (A V, 202) die kaiserlichoffizielle Version ihres Todes stützen. Diese besagt, dass sich Agrippina aus Gewissensqualen über ihren vermeintlichen jüngsten Mordanschlag auf den Kaiser 196 Rahn: Affektpathologische und therapeutische Handlungszitate, S. 226. 197 Beise: Anthropophagie, S. 116. 198 Die Praxis der damnatio memoriae ist paradox: Gerade durch die demonstrativen Leerstellen, die durch Ausstreichen oder Ausreißen von Namen und Bildern der Betroffenen entstanden, wurde eine so zu nennende Erinnerung an das Vergessen propagiert, wodurch das Andenken an die Person entehrt und verflucht ist. Die aggressive Tilgung des Andenkens produziert und provoziert selbst eine eigene Art der Erinnerung, siehe Eva Elm: Art. Memoriae damnatio. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Hg. von Georg Schöllgen. Bd. 24. Stuttgart 2012, Sp. 657–682; weiterführend: Charles Hedrick: History and Silence. Purge and Rehabilitation in Late Antiquity. Austin 2000.

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selbst gerichtet hat: „Man sprenge kuehnlich aus: Jhr hoechst befleck’t Gewissen / Sey Gegentheil gewest; Die Haende haetten muessen / Jhr eigen Hencker seyn.“ (A V, 205–207) In diesem Zuge soll Agrippinas Name aus den Annalen gestrichen werden: „Der Tag / da aber sie zur Welt gebohren ward / Sol als verdamm’t und schwartz im Zeit-Register stehen.“ (A V, 260–261) Da Agrippinas Geburtstag nun als dies ater, d. h. als schwarzer Tag im Kalender steht und als Unglückstag vermerkt ist, ist ihr Andenken verflucht.199 Nero befiehlt des Weiteren: „Reiß’t ihre Saeulen umb zu Rom im Capitol.“ (A V, 263) Diese gewaltige Ruptur, mit der es ja an die (Bau-)Substanz des Römischen Reichs geht, verweist auf Neros Befehl zum Muttermord aus der dritten Abhandlung, in der Nero proklamierte: „Daß ihr erstarrter Leib des Reiches Pfeiler sey“ (A III, 316). Agrippinas toter Körper wurde bereits dort als Fundament seiner Herrschaft ausgerufen, jedoch ist Neros absolute Selbstsetzung erst jetzt perfekt mit der absoluten Vernichtung der Mutter.200 Der Tilgung von Agrippinas Andenken ist deshalb mit der Vernichtung ihres Leichnams durch Verbrennung korreliert: „Schaff’t: Daß man sie verbrenn’t noch heinte dise Nacht. / Nur nach gemeiner Art / und sonder grosse Pracht.“201 (A V, 267– 268) Da das Verbrennen außerdem eine unehrenhafte Strafe bedeutet, wird ihr

199 Zur Funktion des dies ater in der römischen Kalenderschreibung siehe Jörg Rüpke: Kalender und Öffentlichkeit. Die Geschichte der Repräsentation und religiösen Qualifikation von Zeit in Rom. Berlin, New York 1995 (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 40), S. 570–575. Bei Tacitus findet sich der Verweis in 14,12,1: „dies natalis Agrippinae inter nefastos esset“ [„und der Geburtstag Agrippinas [sollte] unter die Unglückstage gerechnet werden“ (Tacitus: Annalen, S. 645). Dies nefastus und dies ater werden synonym verwendet. 200 Darauf, wie nach der Autopsie mit Agrippinas sterblichen Überresten und ihrem Andenken verfahren wird, gehen die einschlägigen Forschungsbeiträge jeweils nicht näher ein, sodass die Bedeutung der damnatio memoriae als integrativer Teil des „Kaiserschnitts“ bisher keine Erwähnung gefunden hat. Einzig Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 202–204. wendet sich der Beratungsszene im Anschluss an die Leichenschau zu, konzentriert sich dabei jedoch auf die Verschriftlichung der offiziellen Version von Agrippinas Tod durch Seneca. 201 Es sei hier noch einmal daran erinnert, dass in der frühneuzeitlichen Strafpraxis keine klare Linie zwischen lebendigem und totem Körper gezogen wurde, vgl. Kapitel 4.3. Die Verbrennung gilt als eine Vernichtungsstrafe, mit der sowohl Zauberei, Hexerei, Ketzerei, schwere Unzucht als auch Brandstiftung und Mordbrand geahndet werden (vgl. Schild: Alte Gerichtsbarkeit, S. 204.), allesamt Tatbestände, denen sich auch Agrippina schuldig gemacht hat. Mit Hinblick auf die Hexerei verweist Colvin: Daniel Casper von Lohenstein and the Notion of Witchcraft, S. 275 darauf, dass die Flammen, denen Agrippina zugeführt wird, die brennende Wollust figurieren, mit der Agrippina Nero im übertragenen Sinne angesteckt hatte: „Aside from its purifying quality, fire is of course also the element that connotes the witch’s association both with lust and with hell.“ Beim Verbrennen ihres Körpers würde diese auf die Affekte entzündliche Wirkung Agrippinas durch die Kraft des Feuers purgiert. Außerdem würde Agrippina damit symbolisch dem Höllenfeuer überantwortet. Die Feuermotivik ist hier jedoch durchaus ambivalent. Betrachtet man nämlich die Verbrennung Agrippinas in Zusammenhang

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damit automatisch die ehrliche Bestattung in der Familiengruft versagt und Ruhm und Ruhe verweigert.202 Ihr wird ein schändliches Begräbnis zuteil, das von Beschimpfungen durch Neros Schergen begleitet in der nächtlichen Dunkelheit stattfindet.203 Sie wird ganz „nach gemeiner Art / und sonder grosse Pracht“ in „eine[r] wueste[n] Einoede“204 beigesetzt, fernab vom Zentrum der Macht. Durch diese letzte, einschneidende Ehrverletzung wird ganz im Sinne der damnatio memoriae jede weitere Möglichkeit ihres Gedenkens und damit die Erinnerung an Neros kreatürlichen und imperialen Ursprung eliminiert.

5.3.3 „Brandmal aergster Suende“: Auftritt von Agrippinens Geist Obwohl Nero sich folglich jeglicher Mittel bedient, um seine vermessene Selbstsetzung herbeizuführen und im selben Moment das unsägliche Verbrechen des Muttermordes durch die damnatio mamoriae zu vertuschen, gelingt es ihm nicht. Nero wird vom Geist der toten Agrippina heimgesucht, womit seine Verbrechen zu ihm zurückkehren, um sich an ihm zu rächen. Hatte er durch die damnatio memoriae ihr Andenken der Verfluchung preisgegeben, so kommt ihr Geist nun zu ihm zurück, um ihn zu verfluchen und der Hölle zu überantworten. Das Erscheinen des Geistes wird dabei zu allererst durch Nero vermittelt, der nunmehr selbst in deiktischem Gestus den Blick des Publikums auf den horror dieses Schauspiels lenkt: „Schaut! Wie die Bluttige das Mordschwerd fertig mache! / Schaut! Wie ihr nackter Arm das Eisen auf uns wetz’t. / Und uns die Faust an Halß / den Dolch ans Hertze setz’t!“ (A V, 398–400) Als explizit „Blutmit dem Leitmotiv von Neros schwelender Wollust, die Symptom seines entfesselten Willens bzw. seiner tyrannischen Willkür ist, so fällt Agrippina hier eben (auch) dieser zum Opfer. 202 Vgl. A V, 271–272: „Daß diser Todten-grufft mit keinen Lorbern blueh’t / Die ihrer Ahnen Ruhm fuer sich vergoettert sih’t.“ 203 In der Inhaltsangabe zur Agrippina ist zu lesen: „Bey dem eingeascherten Holtzstoße reden Paris und Anicetus von der Agrippinen schlechten Begrabnueße schimpflich“ (A, S. 12) Bei Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 214 findet sich der Hinweis, dass Agrippinas Bestattung die Züge des sogenannten „Eselsbegräbnisses“ eingeprägt sind, bei dem der Leichnam real oder symbolisch – und sei es eben durch Beschimpfung – malträtiert wurde. Diese Malträtierung führt die Erdolchung und Leichenschau also auch im Moment der Beisetzung noch weiter, wodurch die These, dass die damnatio memoriae eine Eskalation des Muttermordes darstellt, weiter gestützt ist. Auch die Beisetzung bei Nacht – Mnester bemerkt: „Der Himmel leuchtet ihr mit Sternen selbst zu Grabe.“ (A V, 523) –, die gerade im lutherischen Kontext als Schande galt, ist auf diese Weise zu verstehen. Der Muttermord wird als ganz universelle Bosheit somit nur noch weiter ausgestellt, wobei Lohenstein sowohl aus antiker als auch frühneuzeitlicher Zeichensprache schöpft. 204 A, S. 150 (Bühnennanweisung).

5.3 Blutschuld und Blutschau: Der Muttermord

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tige“ bringt Agrippina Neros Bluttat unmittelbar zur Anschauung. Der Dolch als corpus delicti richtet sich nunmehr, der spiegelhaften Wiedervergeltungslogik von Laster und Strafen folgend, gegen ihn. Vor diesem Anblick von gesteigertem horror und terror bekennt sich Nero als „Mutter-Moerder“ (A V, 396) und scheint damit sein Verbrechen als solches erstmals anzuerkennen. Konfrontiert mit der Ungeheuerlichkeit seiner Tat ist er nunmehr auf seine Kreatürlichkeit zurückgeworfen. Agrippinas Geist denunziert Nero jedoch nicht (nur) in dieser Kreatürlichkeit, sondern vor allem in seiner Monstrosität: „Ein Tiger hat mit mir sich muessen gatten: / Daß dieser Leib solch einen Wurm gebahr.“ (A V, 403–404) Diese Variante vom „halb-viehisch Liben“ (A V, 45) als Paarung zwischen Mensch und Tier ist eine der gängigen Vorstellung über die Entstehung von Monstern.205 Agrippina führt Nero damit zurück auf seinen natürlichen Ursprung, nur um ihn in seiner Widernatürlichkeit auszustellen. Anschließend an diese Wesensbestimmung wendet sich Agrippinas Geist dem Skandalon des Muttermordes zu. Das Urteil der Seegöttinnen über den Muttermörder, er sei „wilder als die Wellen“, also noch zerstörerischer als die Natur selbst, überträgt Agrippina in ihrer Rede auf die bestialische Natur. Während die wilde Natur in ihrem durchaus grausamen Zerstörungstrieb immer noch bestimmten Gesetzmäßigkeiten gehorcht, ignoriert und negiert Nero diese Satzungen. Als Vergleich wird auch hier wieder die Leitmotivik des infernalischen Gewürms herangezogen: Die Natter reis’t der Mutter Eingeweide Nicht außer der Geburth enttzwey: Weil ich von dir dis auch nun sterbend leide / Seh’ ich: Daß Nero mehr als Schlang’ und Natter sey. (A V, 405–408)

Nero übertrifft das naturphilosophische Gleichnis der Viper, die bei der Geburt den Leib der Mutter zerbeißen und zerreißen soll, da sein Verhalten eben keiner natürlichen Gesetzmäßigkeit folgt.206 Schlimmer noch als die Viper tötet er seine Mutter nach freier Willkür noch „außer der Geburth“. Wie Agrippinas „Seh’ ich“ markiert, erzeugt das Gleichnis wiederum evidentia. Nero wird im Überbietungsvergleich als das ganz und gar Widernatürliche erkennbar und in seiner Ungeheuerlichkeit weiter ausgestellt. Auf ganz ähnliche Weise ist anschließend auch Neros anthropophager Blutdurst perspektiviert: „Kein Geyer speißt sich nicht mit Geyers Blutte; / Du aber saugst’s der Mutter aus.“ (A V, 415–416) 205 Vgl. Hammer: Ordnung durch Unordnung, S. 215. 206 Dieses Gleichnis ist auf die antike Zoologie zurückzuführen und findet seinen Eingang in die Emblematik, siehe Henkel, Schöne: Emblemata, Sp. 661–662; Schöne: Emblematik und Drama, S. 81–82.

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Selbst der Aasfresser überschreitet die äußerste natürlich-sittliche Grenze, die der Kannibalismus bezeichnet, nicht. Die nachträgliche, einschneidende Ehrverletzung der damnatio memoriae als Mutilation ihres Andenkens, die ja in sich einen Anspruch auf Ewigkeit erhebt, übertrifft für Agrippina jedoch noch die Verwerflichkeit des Muttermordes: „Du Moerder / schwaertz’st mit diesem Laster mich / Jch hette Meuchel-Mord gestiftet selbst auf dich!“ (A V, 431–432) Die Schwärzung durch das falsche Laster verweist auf das Anschwärzen als metaphorische Verleumdung, aber auch auf den dies ater als Schwärzung in den Annalen, die im Zuge der damnatio memoriae „verdamm’t und schwartz“ (A V, 261) ihre Existenz auf der Welt gleichzeitig tilgen und verfluchen soll. Als Rache an dieser Verdammung ihrer Erinnerung reißt Agrippina nun endgültig die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits ein und gibt Nero seiner eigenen Verdammung preis: „Brich Abgrund auf! Verschling die Mißgeburth der Erden /“ (A V, 433) Die Wiedervergeltungslogik, die auf gerechte, moralisierende Weise Laster und Strafe – damnatio memoriae und Verdammung – gegeneinander abwägt und spiegelt, ist auch hier virulent. Es wird das verschlingende Wesen des Bösen evoziert, das seinesgleichen vertilgt und damit letztlich selbst einer in sich geordneten, kosmischen Gesetzmäßigkeit folgt. Schließlich ist auch die grausame Rache ja nur „Werckzeug“ (A I, 655) der göttlichen Gerechtigkeit. Dies wird auch in der zyklischen Struktur des Trauerspiels augenfällig, da Agrippinas Rachspruch hier die Aussage der allegorischen Rache „Der Abgrund selbst frist seinen Schlangen-Brutt“ (A I, 664) aus dem ersten Reyen paraphrasiert. Indem Agrippinas Geist den Einbruch der Hölle im letzten Reyen vorbereitet, führt die tote Mutter die „Miß-Geburth“, das Monster Nero „der Erden“, dem „Abgrund“ als der „katastrophische[n] Seite“207 seines Ursprungs zu. In diesem Zirkelschluss ist sowohl sein Ende als auch das düstere Ende des Trauerspiels bezeichnet. Die Evokationen der Hölle und des bösen, infernalischen Gewissens schaffen bei Nero schließlich ein Bewusstsein für seine Schuld: „Ach! Mutter / ach! Vergib! vergib dem boesen Kinde! / Wasch’ ab durch Straff und Blutt das Brandmal aergster Suende!“ (A V, 455–456) Neros moraltheologisches Verständnis von der Sünde scheint durch die Offenbarung von Agrippinas Geist wiederhergestellt. Dies kommt gerade durch den Reim aus dem „boesen Kinde“ und „aergster Suende“ zum Ausdruck: Nero wiederholt in dieser Selbstbezeichnung die Aussage der Seegöttinnen, die ihn bereits angesichts des fingierten Schiffbruchs als „boeses Kind“ (A III, 506) bezeichnet hatten. Da die Berg- und Seegöttinnen die göttlich gelenkte Kosmosnatur repräsentieren, scheint es hier

207 Alt: Tod der Königin, S. 148.

5.4 Schwarzkunst als Sprachkunst: Zoroasters Beschwörung

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geradezu so, als ob Nero sich nunmehr im Einverständnis mit der gottgewollten Verhängnisordnung befindet. So bemerkt er auch gegenüber Burrhus: „Was uns ihr Geist gedreu’t / das dreu’t uns auch’s Gewissen.“ (A V, 467) Jedoch enttäuscht er letztlich die Erwartungen. Im Gegensatz zu Agrippina, die sich infolge ihres Gewissengewitters ihrem Schicksal hingegeben hatte, wendet er sich nun der Schwarzkunst zu, um den Geist und sein böses Gewissen zu besänftigen. Das antik-kultische Gesetz soll mit dem Abwaschen des „Brandmal [s] aergster Suende“ durch Blut in sein Gegenteil verkehrt werden, um nicht zuletzt die göttlich-gerechte Ordnung, nach der Tugend belohnt und Laster bestraft werden, außer Kraft zu setzen. Auf die Vervielfältigung des Muttermordes auf dem Schauplatz, durch die sich die böse Tat immer weiter wiederholt und steigert, häuft sich nun das Verbrechen der magia daemoniaca. In diesem finalen Übertritt, mit dem Nero sich dem fatalen „Blutt-Spruch“ (A V, 465) widersetzen und in die Verhängnisordnung eingreifen will, demonstriert sich auf eindrucksvolle Weise Neros Unverbesserlichkeit.

5.4 Schwarzkunst als Sprachkunst: Zoroasters Beschwörung Die letzte Szene des Trauerspiels ist als große Zauberhandlung arrangiert, in der Nero mit der Hilfe des Schwarzkünstlers Zoroaster versucht, Agrippinas Geist zu versöhnen – vergeblich, wie sich zeigt, denn der mütterliche Geist antwortet nicht und auch die angerufenen bösen Geister versagen ihren Dienst. Nero und mit ihm Zoroaster fallen in Ohnmacht, woraufhin Nero im fünften Reyen der Hölle und ihren Dämonen, die seine Gewissensqualen figurieren, überantwortet wird. Die Zauberszene verfügt über die herkömmlichen Koordinaten einer Geisterbeschwörung: Sie spielt sich in jener „wueste[n] Einoede“208 ab, in der Agrippinas Überreste beigesetzt werden sollen. Der christlichen Tradition zufolge sind Wüste und Gräber Orte der Dämonen und befinden sich dazu in einer besonderen Nähe zum „Abgrund“ (A V, 433), der die Gesamtheit der Dämonen einschließt.209 Auch findet die Zauberhandlung zur Geisterstunde um „MitterNacht“ (A V, 702) statt, ganz explizit zu ebenjener „Zeit die zu dem Werck’ allein ist außgestecket“ (A V, 703). Jedoch erfüllen diese Eckdaten nicht nur die Erwartungen an ein magisches Setting, auch wird hier der besondere Bezug zu

208 A, S. 150 (Bühnenanweisung). 209 Vgl. Otto Böcher: Art. Dämonen, I Neues Testament. In: TRE, Bd. 8, S. 279–286, hier S. 280.

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Neros Eröffnungsmonolog erkennbar: Hatte dieser noch „des Kaeysers Gemach“210 zum Schauplatz – als einer der Innenräume des römischen Hofes stellvertretend für das Zentrum der Macht und seine politische Kultur – so endet das Trauerspiel nun in wilder Kargheit. Nero hat sich folglich im Verlauf des Dramas ins Abseits der Kultur und der Geschichte gespielt. Überstrahlte Nero zu Beginn noch alles mit seiner selbstproklamierten Glorie, so findet sich diese nun verfinstert. Diese Verfinsterung ist umfassend, bezieht sie sich sowohl auf die nächtliche Stunde als auch die Schwärzung von Agrippinas Andenken als Kumulationspunkt des Muttermordes sowie die Hinzuziehung der Schwarzkunst. Die Zauberszene konterkariert damit die vermessene Selbstinszenierung Neros aus seinem Eröffnungsmonolog und zeitigt seinen Fall sowie den Verfall des Römischen Reiches.211 Gleichzeitig schließt sich an dieser Stelle ein ganz natürlicher Kreislauf, da hier die Sonne untergeht, und dies wiederum korrespondiert mit der Anlage das Trauerspiels, das sich mit dieser Szene ebenfalls dem Ende zuneigt. Die Dichtung ist damit der natürlichen und gerechten Ordnung nachgebildet. Der Eindruck von Neros Herrschaft als vorchristliche, antichristliche Tyrannei, die den christlichen Werten und Vorstellungen feindlich und konträr gegenübersteht, wird dadurch verstärkt, dass Lohenstein keinen geringeren als den Kaiser im Bann der Magie zeigt. Auch wenn die Zauberszene also auf einem abseitigen Schauplatz in finsterer Einöde stattfindet, so ist das Böse in seiner übernatürlichen, magisch-dämonischen Ausformung doch ins Zentrum der Macht vorgedrungen. Der Rückgriff auf Magie, Mythos und Ritual verweist auf eine Welt, die sich im „Bann des Analogiezaubers“212 befindet. Als Relikt aus einer solchen Zeit ist der altpersische Prophet und Religionsstifter Zoroaster hier in die römische Kaiserzeit versetzt. Auch in Gryphius’ Leo Armenius war der Zauberer Jamblichus sowohl antikisiert als auch orientalisiert. Dadurch war die Magie als Anderes, das keinen Platz im Eigenen haben soll, ausgegrenzt und zugleich als archaische Praxis gekennzeichnet. Auch wenn Lohenstein seinen Zauberer ebenfalls antikisiert und orientalisiert, ist hinsichtlich der Rezeptionsgeschichte Zoroasters in der Frühen Neuzeit anzuführen, dass der Zoroastrismus bei den Religionshis-

210 A, S. 23 (Bühnenanweisung). 211 Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 218 stellt ebenfalls diesen Bezug zwischen erster und letzter Szene des Trauerspiels her und erkennt darin den „Niedergang Neros in der finsteren Einöde unter den Gesetzen eines zyklischen Geschichtsmodells […] Der Fall des Fürsten kann ebenso wenig aufgehalten werden wie der Lauf der Sonne.“ 212 Alt: Tod der Königin, S. 148.

5.4 Schwarzkunst als Sprachkunst: Zoroasters Beschwörung

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torikern des 17. Jahrhunderts eine Form des cultus idolatricus bildet.213 Es ist vorauszusetzen, dass Lohenstein mit diesen Debatten vertraut war. Gleichzeitig ist anzunehmen, dass Lohensteins Auseinandersetzung mit Magie auch konkreter Art war. Denn die Präsenz der Magie war gerade in den 1650er und 1660er Jahren in Schlesien nicht zu übersehen aufgrund massenhafter Hinrichtungen, die ein Resultat von extensiven Hexenprozessen waren.214 Diese theoretische und konkrete Gegenwart der Magie, inkarniert durch die Figur des Zoroaster, inszeniert Lohenstein in der Agrippina auf bemerkenswert ambivalente Weise. Als Begründer der persisch-medischen Religion des Zoroastrismus steht Zoroaster stellvertretend für das zweite biblische Weltreich im Sinne der translatio imperii. Neros Rückgriff auf Zoroaster bedeutet somit außerdem eine Rückwendung zu einem bereits abgestiegenen Weltreich. Nero widerspricht sich damit selbst, hatte er doch in seinem Eröffnungsmonolog noch betont, er übertreffe mit seiner Glorie alle bisher dagewesenen Imperien und ihre Herrscher. Nicht aber Kyaxares, der politische Vertreter der Meder, „Muß fuer des Kaeysers Sieg den Krebsgang gehn zuruecke“ (A I, 4), es ist nun Nero selbst (und mit ihm das Römische Reich), der den Krebsgang einschlägt. Mit dem Rückschritt, den die Hinwendung zu Zoroaster bedeutet, widersetzt sich Nero schließlich auch der Progression der Geschichte und damit in letzter Instanz der Entfaltung des Verhängnisses. Die Verhängnisentfaltung aufzuhalten ist schließlich auch der Anlass für die Geisterbeschwörung, durch die ja der fatale „Blutt-Spruch“ (A V, 465) aufgehoben werden soll, den Agrippinas Geist über Nero verhängt hat. Durch eine magische Ersatzhandlung soll Agrippinas Integrität symbolhaft restituiert werden, um das Verbrechen an der Mutter rückgängig zu machen. Nero verkennt dabei, dass der Rachegeist als Medium der gerechten, göttlichen Rache fungiert und ignoriert damit den metaphysischen Grund des Urteils, das als göttlicher Richtspruch zu verstehen ist. Eine Besänftigung des Muttergeistes greift also zu kurz. Hinzu kommt, dass mit der magischen Handlung, die ja durch die Versöhnung der Mutter das Schicksal abwenden soll, letztlich nichts Geringeres als 213 Als Beispiele dafür seien sowohl Gerhard Voss’ Theologia gentilis (1641) als auch für das von Voss inspirierte Traktat De religionem gentilium Herbert von Cherburys genannt, das 1663, also zwei Jahre vor der Agrippina, von Gerhards Sohn Isaac Voss veröffentlicht wurde. Siehe dazu ausführlich Michael Strausberg: Faszination Zarathushtra. Zoroaster und die Europäische Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin, New York 1998 (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 42). 214 Diese Wellen der Verurteilung finden sich verzeichnet bei Pierre Béhar: Silesia tragica. Epanouissement et fin de l’école dramatique silesienne dans l’oeuvre tragique de Daniel Casper von Lohenstein (1635–1683). 2 Bde. Wiesbaden 1988 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 18), Bd. 1, S. 55.

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die Verhängnisordnung selbst außer Kraft gesetzt werden soll. Darin besteht sodann auch die äußerste Provokation von Neros Bosheit und impliziert sogleich die Unmöglichkeit der angestrebten Wiedergutmachung. Die Zauberszene lässt sich in drei Abschnitte aufgliedern: Sie setzt ein mit dem Selbstlob des Zauberers, woraufhin die eigentliche magische Handlung mit der Bereitlegung von Zauberutensilien sowie der Präparation des Schauplatzes eingeleitet wird. Darauf folgt dann die Verkündung des Zauberspruchs, der jedoch ohne Wirkung bleibt. Zoroasters Selbstlob weist deutliche Parallelen zu Neros Selbstlob in der ersten Abhandlung auf, wodurch der Bezug von erster und letzter Szene einmal mehr augenfällig wird. Auch Zoroaster rühmt sich, über eine unumschränkte Macht zu verfügen, die göttliche Gesetze und Naturgesetze aufheben und sich so Gott und Natur unterordnen kann: Die Sternen folgen mir / Jch schreibe Satzungen den Goettern selber fuer / Jch mache: daß der Tag mit vielen Sonnen strahlet / Daß dreyer Monden Licht die Mitternachte mahlet (A V, 597–600)

Die Selbstinszenierung von Neros Staatskunst und Zoroasters Schwarzkunst weisen damit verblüffende Ähnlichkeiten auf. Konnte Nero durch seine imperiale Strahlkraft die Welt in einen Zustand des rigor mortis versetzen und zum Stillstand bringen, so kann auch Zoroaster den natürlichen Lauf der Dinge arretieren: „Jch halte durch mein Lied der Fluesse schnellen Lauff / Den Zirckel der Natur / der Sternen Wechsel auf.“ (A V, 601–602) Indem Zoroasters „Zirckel der Natur“ das zentrale Gleichnis aus Agrippinas Verführungsrede „Wir muessen die Natur der Dinge Zirckel nennen“ (A III, 181) aufnimmt, verweist er auf die pervertierte Natur, die Agrippina repräsentierte, und der auch er verpflichtet ist.215 Seiner Aussage ist jedoch zugleich ein Überbietungsgestus inhärent: Seine Zauberkunst übertrifft Agrippinas Verführungskunst und rhetorische persuasio noch dadurch, dass sie nicht in Gleichnissen spricht, sondern gleichsam vorgibt, Tatsachen zu schaffen. Zoroaster alludiert nicht nur, dass „der Fluß zum Kwaelle kommen“ (A III, 186) muss, um zu überzeugen, er überzeugt dadurch, dass durch ihn „die Baech in Kwaell verseug’t“ (A V, 609) sind. Weil er die Ordnung der Natur eigenmächtig invertieren und pervertieren kann, ist er nicht zuletzt der Richtige, um das Ritual zur Umkehrung des Muttermordes und der Aufhebung des Verhäng-

215 Vgl. Alt: Tod der Königin, S. 147.

5.4 Schwarzkunst als Sprachkunst: Zoroasters Beschwörung

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nisses erfolgreich durchzuführen. Er präsentiert sich als derjenige, der das Unmögliche möglich machen kann.216 Eine weitere Provokation von Zoroasters Selbstlob besteht darin, dass er postuliert, selbst schöpfend tätig zu werden. Seine Proklamationen „Ich mache“ (A V, 599) und „Ich schaffe“ (A V, 604) deuten darauf hin, dass Zoroasters Handeln eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht und eine eigene Wirklichkeit, unabhängig von göttlichen Gesetzen und Naturgesetzen, hervorbringt. Dies erinnert wiederum an Neros performativen Sprechakt, der das Trauerspiel eröffnet, sein „SO ist’s“, mit dem er sich als pervertierter Schöpfer selbst inszeniert. Zoroaster erteilt seinerseits auch Auskunft darüber, wie er schafft. Gleich zu Beginn seines Selbstlobs erklärt er: „Ich schreibe […] fuer“ (A V, 598). Dass gerade das Schreiben der Vorschrift, also die dezidiert sprachlich-schriftliche Verfasstheit seiner Absicht von zentraler Bedeutung ist, spezifiziert er später: „Die Zeichen meiner Schrifft / Sind von so grosser Krafft“ (A V, 605–606) Auch versetzt er „durch [s] ein Lied“ (A V, 601) den Kreislauf der Natur in Stillstand. Zoroaster erscheint als verkehrter Orpheus, der durch seinen Gesang nicht aus dem Tod befreit, sondern stattdessen in den Zustand des rigor mortis versetzt.217 Gerade seine Zauberkunst erscheint damit als eine Perversion nicht nur der Gesangkunst, sondern vor allem der Dichtkunst, auf die mit den „Zeichen meiner Schrifft“ angespielt ist und als deren mythologischer Urvater Orpheus gilt.218 Die Vermessenheit, Zoroaster könne sich durch seine Kunst tatsächlich über jegliche Grenzen hinwegsetzen, findet sich schließlich mit Blick auf das Textkorpus der Agrippina realisiert, denn Zoroaster überschreitet die Grenze

216 Das Selbstlob des Zauberers ist dem Selbstlob Medeas bei Ovid und Seneca nachgebildet, die sich ebenfalls rühmt, durch ihre magischen Kräfte Adynata zu realisieren. Vgl. dazu Mundt: Kommentar Agrippina, S. 698; Kittler: Rhetorik der Macht und Macht der Rhetorik. Lohensteins „Agrippina“. In: Johann Christian Günther. Mit einem Beitrag zu Lohensteins „Agrippina“. Hg. von Hans-Georg Pott. Paderborn 1988 (Schriften des Eichendorff-Instituts an der Universität Düsseldorf), S. 39–52, hier S. 46. Überhaupt gilt Senecas Medea als literarischer Prototext zur frühneuzeitlichen Magierezeption, der auch als eines der Vorbilder für die Beschwörungsszene in Gryphius’ Leo Armenius ausgemacht wurde, wie in Kapitel 2.4.2 erläutert wurde. Dass die Geisterbeschwörung aus dem Leo Armenius wiederum für diejenige in der Agrippina Modell stand, darüber herrscht in der Forschung Konsens. Dieser Hinweis findet sich bei Béhar: Silesia tragica, Bd. 1, S. 101; Kittler: Rhetorik der Macht, S. 46; Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 275; Mundt: Kommentar Agrippina, S. 697, wobei ein detaillierter Vergleich beider Szenen bislang aber noch aussteht. 217 Auch Kittler: Rhetorik der Macht, S. 47 nennt Lohensteins Zoroaster einen „Anti-Orpheus“, ohne jedoch weiter auf die möglichen Implikationen dieses Befunds einzugehen. 218 Zur Rezeption des Orpheus-Mythos in der Bühnenkunst der Frühen Neuzeit empfiehlt sich die Lektüre von Olga Artsibacheva: Die Rezeption des Orpheus-Mythos in deutschen Musikdramen des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 132).

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zwischen Trauerspieltext und Anmerkungsapparat. Bei der Präparation der Geisterbeschwörung verlangt Zoroaster neben zahllosen anderen Utensilien und Ingredienzien nach „Maur-Raut“ (A V, 649). In seiner Anmerkung dazu zitiert Lohenstein Athanasius Kircher, der wiederum den „Autore Zoroastre“219 zitiert. Im anmerkungsinternen Zusammenhang führt die wissenschaftliche Autorität Kircher lediglich Zoroaster als Autorität an. Im Dialog mit dem Trauerspieltext entsteht jedoch der Eindruck, dass Zoroaster sich selbst zitiert als au(c)tor, als Urheber und Schöpfer eines nach eigener Aussage mächtigen Schriftwerks, das eigens dazu geschaffen ist, die göttliche Schöpfung zu manipulieren.220 Zoroasters Schwarzkunst erscheint damit als eine lästerliche Dichtkunst. Davon lässt sich schließlich ein metapoetischer Kommentar ableiten: Eine Dichtung, die sich von Moral und Metaphysik entkoppelt, und in der der Dichter eigenmächtig eine eigene Wirklichkeit schafft, ist blasphemisch und eine verdammungswürdige Kunst.221 Davon abgesehen, dass Zoroasters Selbstlob im Selbstzitat um ein weiteres pointiert ist, wiederholt sich darin gleichzeitig jene Selbstreferentialität der höfischen Sphäre, die im Trauerspiel durchweg als ultimative Provokation und Verstoß gegen die gottgewollte Ordnung verhandelt wird. Zoroasters Selbstzitat als auctor und auctoritas spiegelt in sich sowohl Neros Selbstgeburt als Kaiser wider als auch Agrippinas nur noch um sich selbst kreisende simulatio des Inzestbegehrens. Moralisch und metaphysisch entleerte Staatskunst und Schwarzkunst (und Dichtkunst) verfügen über eine düstere Wesensverwandtschaft, da göttliche und menschliche Mittel darin jeweils nivelliert sind. Sie repräsentieren Filialen einer gottlosen, sündhaft zirkulierenden Welt, die eigenmächtig eine eigene Wirklichkeit schafft. Die Selbstreferentialität zeichnet den circulus vitiosus als Figur des Bösen nach und bringt ihn gleichsam hervor. Auf Zoroasters Selbstlob folgt die Geisterbeschwörung, in deren Zentrum die magische Ersatzhandlung steht, durch die das Verbrechen an der Mutter rückgängig gemacht werden soll. Hatte Nero die Demontage, Verdammung und Tilgung sowohl ihres Körpers als auch ihres Andenkens vorgenommen, so soll 219 A Anm. Lohenstein, S. 246, Z. 1084–1088. Die von Lohenstein zitierte Stelle mit dem Verweis auf Zoroaster findet sich in Athanasius Kircher: Obeliscus Pamphilius. Rom 1650, lib. IV, hierogrammatismus 15, S. 331. 220 Kittler: Rhetorik der Macht, S. 48 setzt sich ebenfalls mit diesem Selbstzitat des Zoroaster auseinander, jedoch um ihn als Verkörperung der Macht von Rhetorik in der Agrippina zu lesen. Es werde an dieser Stelle deutlich, dass „[i]n Agrippina exempla, praecepta und imitatio alle beieinander“ seien. 221 Ganz ähnlich betont Birken: Dicht-Kunst, § 226, S. 331, eine Dichtung, in der Tugend nicht belohnt und Laster nicht bestraft würden, sei „Gotteslästerung / weil es der Göttlichen Regirung zuwider lauffet“.

5.4 Schwarzkunst als Sprachkunst: Zoroasters Beschwörung

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nun durch den Zauber eine Montage von einzelnen tierischen Organen und Körperteilen ihre Integrität symbolhaft wiederherstellen: Die damnatio memoriae soll im Sinne eines re-memberings rückgängig gemacht werden. Die Versatzstücke einer gewaltsam entstellten, dissoziierten Natur sollen in dieser Operation zu einem monströsen Ganzen zusammengefügt werden. Diese widernatürliche und schauerliche Restitution per analogiam, also im Bann des Analogiezaubers, soll die Versöhnung des Geistes heraufbeschwören. Dafür lässt die Zauberhandlung den Matrizid noch einmal Revue passieren. So entstammt die erste Zutat zum Ritual einem Kaiserschnitt:222 „Gib das gefaerbte Tuch aus laulichtem Gebluette / Der Kinder / die mein Arm aus Mutter-Leibe schnitte.“ (A V, 623–624) Auch steht eine ganze Reihe von Zutaten für eine sich entgegen jeder Gesetzmäßigkeit verzehrende Natur, wie „die Heydechs-Haut / die sie / weil sie sich nicht / Uns goennet / selbst verschling’t“ (A V, 670–671) oder „des Hirsches Eingeweide: / Daß ich mir zur Artzney aus ihm die Schlange schneide / Die gestern er verschlang.“ (A V, 679–681) Das Verschlingen der Schöpfung findet sich gar in der verschlungenen Konstruktion des Alexandriners abgebildet. Schließlich wird der Magier selbst Teil dieses widernatürlichen Kreislaufs aus gewaltsamem Einschnitt und Einverleibung: „Wo ist des Maulworffs Hertz und dises / das mein Arm / Bey neuem Mondenschein der Widehopffe warm / Aus ihren Darmen rieß: Jch muß es bald verschlingen.“ (A V, 685–687) Überhaupt ist der Kreis auch die Figur, die dem Ritual seine Form gibt, denn Zoroaster will „alles […] in heil’gen Zirckel schluessen“ (A V, 660). Dieser Zirkel, den Zoroaster am Ende seines Zaubermonologs um sich zieht – es „Muß Zirzens Zauberstab in einen Kreiß uns schluessen“ (A V, 716) –, stellt dabei ein Grundmotiv magischen Handelns dar, bringt jedoch ebenfalls den circulus vitiosus als das Grundmotiv des Bösen im Trauerspiel ganz performativ zur Anschauung. Schließlich scheint das gesamte Trauerspielpersonal in einem derartigen Teufelskreis gebannt. Der Montage der disparaten Einzelteile in der Zauberhandlung entspricht die Montage der Quellen, auf die sich der Anmerkungsapparat stützt. Die Beschwörung, die aus 160 Versen (AV, 620–780) besteht und bei weitem der längste Monolog des gesamten Dramas ist, ist durch umfassende Anmerkungen belegt.223 Dies hat verschiedene Gründe. So kann und darf die magische Handlung nicht unkommentiert bleiben, denn Lohenstein begibt sich mit der Darstellung in einen heiklen metaphysischen Grenzbereich, deren Beweislast er

222 Darauf verweist auch Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 148. 223 Kittler: Rhetorik der Macht, S. 50 veranschaulicht dies statistisch: „Er [der Schluss des Trauerspiels] beansprucht 6% des Textes, aber 28% der Anmerkungen.“

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5 „Unser Teutscher Seneca“ und das Böse im Prätext der Geschichte

alleine nicht tragen könnte. Deshalb ist sie auf die Schultern jener Instanzen und Institutionen verteilt, die er in seinen Anmerkungen heranzieht. Die von Lohenstein bisher vorrangig verwendeten Quellen der römischen Geschichtsschreibung weichen Verweisen auf einschlägige naturkundliche Abhandlungen zeitgenössischer und antiker Provenienz, allen voran die Autoritäten Athanasius Kircher mit Obeliscus Pamphilius (1650) und Oedipus Aegyptiacus (1652) und Plinius der Ältere mit seiner Historia naturalis (77 n. Chr.). Um keinen Zweifel daran zu lassen, welchen Geistes Kind er ist, führt Lohenstein an einer Stelle außerdem Martín Delríos Disquisitiones Magicae (1599/1600) an.224 Die Magie wird folglich durch Gelehrsamkeit fundiert, relativiert und schließlich verdammt. Dies gerät bei Lohenstein wiederum zum Kunstgriff: Indem er verschiedene Wissensbestände ineinander montiert, erzeugt er innerhalb seiner Dichtung eine Illusion der Magie, die in sich die Magie als bloßen Illusionsapparat scharfsinnig reflektiert und demontiert.225 Im Beschwörungsmonolog selbst spiegelt sich diese Zirkulation von Wissen durch die Zirkulation eines scheinbar unerschöpflichen Arsenals an Zauberutensilien wider, dessen Aufzählung den Großteil dieses Textabschnitts in Anspruch nimmt. Da diese Litanei einen extensiven Gebrauch von Theaterrequisiten voraussetzt, wird durch die Darstellung der illusorischen Zauberkunst auch das Theater als Illusionsmaschine kritisch reflektiert. Noch mehr: Hier wird ein Theater, das die eigenen Mittel zur Inszenierung seiner selbst in den Vordergrund stellt und dabei seinen eigentlichen Auftrag im Dienste der Moralisation vernachlässigt, als Schwarzkunst vorgestellt und erscheint damit – der lästerlichen Dichtkunst entsprechend – als frevelhafte Theaterkunst. Die gerade durch die Theatereffekte besonders wirksame Szene scheint somit implizit vor der Effektha-

224 Vgl. A Anm. Lohenstein S. 256, Z. 1210–1211. Delríos Traktat ist ein Kompendium des Hexenglaubens und der Dämonenlehre, das alle wichtigen, bisher erschienenen Abhandlungen – darunter den Malleus Maleficarum von Heinrich Institoris und Jakob Sprenger sowie Jean Bodins Demonomanie – aufnimmt und sich dafür ausspricht, dass zwischen magia dameoniaca und naturalis kein Unterschied zu machen sei. Bei Magie handelt es sich nicht nur um etwas Übernatürliches, sondern Dämonisches und folglich um Teufelswerk, das es mit allen Mitteln zu bekämpfen gelte. 225 Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 148 nennt diesen Teil „eine Parade aus dem exotischen Universum barocken Wissens“. Niefanger: Geschichtsdrama, S. 205 sieht die Beschwörung als polyhistorischen Zauber, durch den die Vergangenheit – das geschichtliche Wissen in den Anmerkungen und die tote Mutter – beschworen werden. Dass jedoch gerade durch den Dialog zwischen Trauerspieltext und Anmerkungen ein Bild von „Magie“ als Illusionsmaschine gezeichnet wird, wurde bisher nicht beleuchtet.

5.4 Schwarzkunst als Sprachkunst: Zoroasters Beschwörung

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scherei eines Theaterbetriebs zu mahnen, der zum bloßen Spektakel verkommt.226 Die verdammungswürdige Selbstbezüglichkeit, die das Trauerspiel durchwirkt, findet sich hier folglich auf die Ebene des Theatralen überführt. Mit einer solchen Dialektik des Theatralen ist nicht zuletzt auf Neros Eröffnungsmonolog zurückverwiesen, wo bereits durch die Selbstdarstellung des Kaisers eine Inszenierungspraxis um ihrer selbst willen ausgestellt und gleichzeitig disqualifiziert wurde. Dass diese umfassende Aufzählung der Utensilien und Ingredienzien jedoch auch zum Exerzierfeld für Lohensteins dichterische Meisterschaft wird, ist nicht von der Hand zu weisen. So ist dieser Abschnitt als aemulatio von Gryphius’ Zauberszene im Leo Armenius gestaltet, wie allein der Blick auf den Umfang der magischen Handlung – bei Gryphius besteht die Aufzählung aus knapp 20 Versen (LA IV, 39–58), bei Lohenstein aus gut 100 Verse (A V, 622–726) – verrät. Nachdem der Schauplatz präpariert und der magische Zirkel um Zoroaster und sein pervertiertes „Heyligthum“ (A V, 589; 620; 668; 782) geschlossen ist, beginnt der Magier mit der eigentlichen Beschwörung. Diese ist als blasphemische Liturgie konzipiert, in der Zoroasters schwarzmagische Sprachkunst zur unmittelbaren Vorführung gelangt. Die Beschwörung ist als einziger Abschnitt des Dramas in daktylische Tetrameter gesetzt, sodass sich hier nicht nur Zoroaster als sprachmächtiger Magier, sondern durch ihn hindurch auch Lohenstein sich als Dichter profiliert.227 Hier scheint sich also ebenfalls eine Lust an der Darstellung der Schwarzkunst als lästerlicher Sprachkunst, letztlich aber an der Dichtung selbst und ihren Möglichkeiten, bemerkbar zu machen. Zoroaster ruft ein düsteres Pandämonium ursprünglich antiker Entitäten an, die in Verbindung mit dem Tod und der Unterwelt stehen und so Eingang in die christliche Höllenvorstellung gefunden haben.228 Mit ihrer Hilfe soll Agrippinas Geist auf den Schauplatz gebracht werden. Die Beschwörung ist klimaktisch vom Übergeordneten hin zum Konkreten strukturiert und soll somit

226 Dass diese Art der Theaterkritik auch in der Geisterbeschwörung im Leo Armenius implizit ist, dazu vgl. Kapitel 2.4.2. Es ist anzunehmen, dass auch Lohenstein sich hier das Vorbild des jesuitischen Ordensdramas vornimmt, wobei die Bewunderung für und eine Lust am multimedialen Theaterereignis und eine Ablehnung der aufwendigen Theatermaschinerie, nicht zuletzt im Sinne einer anti-katholischen Polemik, miteinander zu konkurrieren scheinen. 227 Es sei daran erinnert, dass gerade die Anwendung unterschiedlicher Metra Lohenstein den lobenden Titel „unser Teutscher Seneca“ eingebracht hat. Auch hier ist die aemulatio der Zauberszene aus dem Leo Armenius abzulesen, die Gryphius ebenfalls in daktylische Tetrameter setzt. 228 Vgl. Osterkamp: Lucifer, S. 62, der diese Inkorporation antiker Götter und anderer mythologischer Gestalten als Tendenz in der Epik des 17. Jahrhunderts ausmacht: „Die Hölle des Christentums bevölkert sich mit Harpyien, Chimären und Furien, ihre Flüsse heißen Styx und Acheron, und auf dem Thron regiert Gott Pluto selbst.“

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5 „Unser Teutscher Seneca“ und das Böse im Prätext der Geschichte

über eine hierarchisch organisierte Dämonologie den nekromantischen Zugriff auf Agrippinas Geist ermöglichen. Allen voran apostrophiert Zoroaster Pluto als Höllenfürst, als „Grossen[n] Beherrscher der finsteren Hoelen“ (A V, 727). Zoroaster bezeichnet sich selbst als „dein [Plutos] gewidmeter Priester“ (A V, 736) und präsentiert sich damit als spirituellen Diener des Bösen. Als nächstes ruft er Hekate an als dämonische Mittlerin zwischen „Himmel und Erde und HellenPfuhl“ (A V, 738), deren Stellvertreter auf Erden, „Wo ich dein Prister-Ampt wuerdig verrichte“ (A 739), er selbst ist.229 Im Folgenden appelliert er an die Schicksalsgöttin Klotho.230 Sie soll Agrippinas Lebensfaden von Neuem spinnen und somit den Schnitt ihrer Schwester Atropos, der hier mit Neros fatalem Einschnitt zusammengedacht wird, rückgängig machen.: „Klotho besaenffte der Atropos Wuetten. / Faedeme wieder den Lebens-Drat ein / Welchen die Schwester ihr hatte zerschnitten.“ (A V, 743–745) Die Anrufung Klothos bildet die Mitte der Beschwörung und formuliert gleichsam den Nukleus der magischen Handlung überhaupt, durch die ja nichts weniger als das Verhängnis rückgängig gemacht und schließlich außer Kraft gesetzt werden soll. Anschließend wendet sich Zoroaster an Charon, der als Fährmann über den Höllenfluss Acheron für die so zu nennende Logistik zuständig ist und „Ihren [Agrippinas] Geist wieder zu ruecke bringen“ (A V, 754) soll. Im letzten Teil der nekromantischen Beschwörung wird Agrippina selbst als „du blasser Geist / irrende Seele“ (A V, 755) apostrophiert und auf den Schauplatz zitiert – jedoch ohne Wirkung. Gerade Zoroasters Beschwörung, der Moment also, in dem seine hochberühmte Sprach- und Schwarzkunst zur Anwendung kommen, bleibt erfolglos. Seine lästerliche Dichtkunst versagt, womit nicht zuletzt sein großsprecherisches Selbstlob revidiert wird. Was er versprochen hat, kann er nicht in die Tat umsetzen. Auch als er den ohnehin schon zahllosen magischen Utensilien und Ingredienzien noch das Herz des toten Mnester zusteuert, gehorchen ihm die Dämonen und der Geist der Toten nicht. Zwar bricht der Abgrund auf, jedoch erscheinen nicht die Geister, die Zoroaster rief, um Nero vor seinem Verhängnis zu bewahren, sondern solche, die gekommen sind, um Nero endgültig zu verdammen und somit seinem Schicksal zuzuführen. Zoroasters Zauber, der das Schicksal umkehren sollte, scheitert an der Ordnung des Verhängnisses. Es zeigt sich, dass dieses mit keinerlei Mitteln, weder menschlichen noch magischen, außer Kraft zu set-

229 Zur Hekate-Referenz in Zoroasters Monolog ausführlicher Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 219. 230 Klotho ist in der griechischen Mythologie eine der drei Moiren, römisch Parzen, den Personifikationen des Schicksals. Klothos Aufgabe ist es, den Lebensfaden zu spinnen, der von Lachesis bemessen und von Atropos abgeschnitten wird, vgl. Albert Heinrichs: Art. Moira. In: DNP, Bd. 8, Sp. 340–343, hier Sp. 341.

5.5 „Der Abgrund schling’t mich ein!“: Neros Verdammnis

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zen ist. Das ist schließlich auch die Moral der Geschichte und die Lehre des Trauerspiels, die am Ende der Kette sich perpetuierender und steigernder Verbrechen nicht ex negativo, sondern ganz direkt von Zoroaster formuliert wird. Er durchbricht die vierte Wand und spricht: „ihr Sterblichen moeg’t lernen: / Wer Hell’ und Schatten ehr’t / entehr’t / erzuern’t die Sternen.“ (A V, 783–784) Der Zauberkünstler selbst, der sich dazu verpflichtet hat, dem Bösen – sowohl den Dämonen als auch Nero – zu dienen und in diesem Zuge gegen die Verhängnisordnung angegangen ist, bestätigt diese nun. Er selbst scheint exemplarisch eines Besseren belehrt und teilt diese Erkenntnis von der guten, gerechten, göttlichen Ordnung – die Sterne sind hier als eine Metonymie für den Himmel und damit für Gott zu verstehen – dem zu belehrenden und lernenden Publikum mit.231

5.5 „Der Abgrund schling’t mich ein!“: Neros Verdammnis Nachdem Zoroaster die Lehre verkündet hat, fällt er gemeinsam mit Nero in Ohnmacht. Tyrann und Magier, Staatskunst und Schwarzkunst sind in diesem Zustand, im Angesicht des Verhängnisses, zugleich sprachlos und machtlos.232 Da die Ohnmacht im frühneuzeitlichen Kontext auch auf eine dämonische Besessenheit hindeuten kann, schafft sie den geeigneten Übergang zum letzten Reyen, in dem Nero von einer Riege von Dämonen, nämlich die „Geister des Orestes und des Alcmæon. Der Megæra, Alecto, und Tisiphone”233, heimgesucht wird. Dieser Reyen ist eine Art Nachspiel auf dem forum internum von Neros Gewissen, welches das Trauerspiel beschließt. Hatte Nero bislang das

231 Auch Agrippina hatte sich ja in Anerkennung ihres Schicksalsurteils direkt an das Publikum gewendet. Die Erkenntnis der Verhängnisordnung, also die Transzendenz, berechtigt zur Überwindung der Grenzen zwischen Dramentext und Anmerkungstext, Bühnenraum und Zuschauerraum, und damit zwischen den historischen Momenten der Aufführung und des Aufgeführten, zwischen römischer Geschichte und schlesischer Aktualität, sodass ein gelehrsamer Dialog etabliert wird. 232 Vgl. Art. Ohnmacht. In: DWb, Bd. 13, Sp. 1222–1224, dem zufolge die Ohnmacht sowohl einen physischen kraft- und bewusstlosen Zustand, der dem Tod ähnelt, bedeutet als auch „Unmacht“ im Sinne eines Mangels an Macht. 233 A, S. 163 (Bühnenanweisung). Zur Ohnmacht als dämonische Besessenheit vgl. Stolberg: Affekt und Krankheit in der frühen Neuzeit, S. 1051. „Ärzte und Laien zählten sie [die Ohnmacht] zu den wichtigsten Ursachen von Krankheiten, darunter nicht zuletzt auch solcher, die, wie Epilepsien und Krämpfe, von vielen Zeitgenossen womöglich als ‚angetan‘ oder als Folge dämonischer Besessenheit gedeutet wurden.“

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5 „Unser Teutscher Seneca“ und das Böse im Prätext der Geschichte

Böse verkörpert, so findet sich hier das Dämonische als Strafe internalisiert. Es wird ein Blick ins Innere dieser höllischen Strafpsychologie und -ökonomie gewährt, wodurch auch Neros Bosheit ein letztes Mal perspektiviert ist.234 „Hilff / Himmel! ich bin todt! der Abgrund schling’t mich ein!“ (A V, 781) waren Neros letzte Worte vor seinem Dahinsinken in Ohnmacht.235 Die Prophezeiung der Geister Britannicus und Agrippina wiederholt Nero hier nunmehr selbst und bestätigt sie damit.236 Die Rache, die ihm Agrippina und Britannicus jeweils angekündigt haben, präsentiert sich nun in Gestalt der Furien. Sie erscheinen als Dämonen, sind jedoch als Rachegöttinnen der übergeordneten Gerechtigkeit unterstellt. Diese hierarchische Ordnung wurde ja bereits im ersten Reyen vorgestellt, wo sowohl Hölle als auch Rache als Werkzeuge der Gerechtigkeit ausgewiesen wurden, um die Laster zu strafen und zu verdammen. Megaera, Alecto und Tisiphone sind die Personifikationen dieser Rache aus dem ersten Reyen, die dort noch als abstraktes Prinzip allegorisiert war. Was im ersten Zwischenspiel noch auf theoretischer Ebene verhandelt wurde, gelangt hier unmittelbar und ganz konkret zu Anschauung. Hat sich der Muttermord im Verlauf des Trauerspiels mit drei Mordbefehlen und drei Leichen vervielfacht, so hat sich auch die Rache in Gestalt der drei Furien geradezu proportional dazu weiter auseinanderdividiert, um Neros Verbrechen angemessen zu bestrafen. Neben der Rache vervielfältigt sich sodann mit Alcmaeon und Orest auch die Anzahl der Muttermörder auf dem Schauplatz. Der Beginn des Reyens suggeriert, dass Nero sich neben Orest und Alcmaeon als Dritter im Bunde in eine Ahnenreihe der ruchlosen Muttermörder fügt, mit denen er nun gemeinsam „Stets sterbend leben / ewig bueßen“ (A V, 796) wird. Doch auch Alcmaeon und Orest, deren jeweiliger Matrizid über mythologische Größe verfügt, wenden sich gegen Nero, da er sie in seiner Bosheit noch übertrifft. Orest bemerkt: „Jch toedtete die [die Mutter] mich verletzet / Du die / die dich in’s Reich gesaetzet.“

234 Wie bereits Kapitel 3.5 am Beispiel von Gryphius’ Catharina von Georgien gezeigt hat, wird auch dort eine solche Vorwegnahme der höllischen Gerichtsbarkeit und damit die Darstellung der Gewissensqual als innerer Hölle vorgestellt. Den Zusammenhang von Höllenstrafen und Gewissensstrafen hat für den finalen Reyen der Agrippina Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 224–228 unter Einbezug geschichtsphilosophischer und politischer Diskursformationen erarbeitet. 235 Zur Paradoxie von Neros Aussage „ich bin todt“, siehe auch Kittler: Macht der Rhetorik, S. 49 sowie Wild: Neros Kaiserschnitt, S. 148–149, der sie als Zeugnis „der absoluten Ohnmacht absolutistischer Macht“ interpretiert. So auch Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 222. 236 So sagte Britannicus voraus: „Jch sehe schon den Kaeyser Drachen fressen. / Die Erde bricht / Der Abgrund krach’t“ (A IV, 59) und Agrippina analog: „Brich Abgrund auf! Verschling die Mißgeburth der Erden /“ (A V, 433).

5.5 „Der Abgrund schling’t mich ein!“: Neros Verdammnis

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(A V, 807–808) Auch unter „seinesgleichen“ ist Neros Verbrechen also außerordentlich. Im Anbetracht seiner Bosheit, die folglich alles bisher Dagewesene übersteigt, werden selbst die Verdammten Orest und Alcmaeon zu Quälgeistern, die die Furien gar noch dazu antreiben, im Strafen bis an die äußersten Grenzen zu gehen: „Nur: daß die Pein den nicht verzehret / Der Mutter-Milch in Wermuth kehret.“ (A V, 837–838) Nero soll einzig nicht vollständig vernichtet werden, um zu gewährleisten, dass er in alle Ewigkeit bestraft werden kann. Das „verzehren“ als Vergeltungsstrafe verweist wiederum auf das Vertilgen, dessen Nero sich an Agrippina schuldig gemacht hat, und kennzeichnet Neros gesamte Höllenfahrt, da er ja zuletzt ausruft: „der Abgrund schling’t mich ein!“ (A V, 781; Hervorhebung IvH). In Übereinstimmung mit den Verdammten urteilt auch die Rachegöttin Megaera: „Der Fuerst hat mehr begangen / Als sich Orest / Alcmæon unterfangen.“ (A V, 843–844) Analog zu Neros Verbrechen, das alle bisher bekannten Grenzen sprengt, wollen auch die Furien ihren Einflussbereich ausweiten und ihn dafür in der weltlichen, römischen Öffentlichkeit als Muttermörder denunzieren.237 Es spricht wiederum Megaera: Jch wil nicht seinen Geist nur plagen / Rom mag hier Nerons Bildnues seh’n Den Sack der Mutter-Moerder tragen Zu weisen: Was ihm sol gescheh’n. (A V, 839–842)

Der „Sack der Mutter-Moerder“ spielt an auf die antike Strafe, die Elternmörder erwartete: Mit verschiedenen Tieren wurden sie in einen Sack genäht und ins Wasser geworfen. Cassius Dio berichtet davon, dass nach Agrippinas Tod an einer Nero-Statue, einem „Bildnues“, ein ebensolcher „Sack“ angebracht wurde, um den Kaiser als Muttermörder anzuzeigen.238 Lohensteins Konstruktion an dieser Stelle ist äußerst raffiniert: Die Rachegöttin als Organ des Verhängnisses kündigt diese Begebenheit an, von der die Geschichtsschreibung berichten wird und – durch Lohensteins Geschichtsdrama Agrippina – berichtet. Die Geschichtsschrei-

237 Was Lohenstein in seiner Disputationsschrift verteidigt, nämlich dass ein wiederholtes und damit gesteigertes Verbrechen nach einer weitaus schwereren Strafe als ein nur ‚einfaches‘ Verbrechen verlangt (siehe Lohenstein: De voluntate, S. 22), ist hier durch die gerechte, göttliche Rache gleichsam legitimiert. Göttliche und juristische Gerichtsbarkeit befinden sich im Einklang. Durch diesen Kunstgriff nobilitiert der poeta et syndicus Lohenstein die frühneuzeitliche Justiz als einen Abglanz des göttlichen Rechts. Sowohl auf metaphysischer als auch auf moralischer und juristischer Ebene halten sich Verbrechen und Strafe in seiner Dichtung die Waage. 238 Vgl. Cassius Dio 61,16,1.

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5 „Unser Teutscher Seneca“ und das Böse im Prätext der Geschichte

bung, auf die Lohenstein sich ja in seinen Anmerkungen stützt, wird auf diese Weise fundiert und legitimiert, noch mehr: in der Historiographie wird die Macht des Verhängnisses lesbar. Lohenstein wiederum, als Verfasser von Geschichtsdramen, ist der Repräsentation der Verhängnisordnung ebenso verpflichtet und bringt diesen Gehalt mit den Mitteln der Dichtung zur Anschauung. Dafür schöpft er hier gleichsam aus dem metaphorischen Potential dieser historischen Begebenheit. Versteht man den Muttermörder-Sack nämlich im übertragenen Sinne, so hängt Neros historischem Bildnis unwiderruflich der Muttermord an. Alle Repräsentationen Neros müssen den Muttermord mit sich tragen. Lohenstein selbst beweist also mit seiner Agrippina, was das Schicksal in Gestalt der Megaera verspricht, nämlich dass Nero als Muttermörder in die (römische) Geschichte eingeht. Das ist es, „Was ihm sol gescheh’n“ und was ihm hier geschieht. Darin schreibt sich Neros Strafe für seine Bosheit über alle Maßen auf ewig in der memoria fort. Wenn Geister und Furien schließlich die vierte Wand durchbrechen, einstimmig die letzten Verse des Trauerspiels sprechen und dessen Lehre vermitteln – „Lern’t Sterblichen: Daß ein verlaetzt Gewissen / So wird gekwael’t / gehenckert und zerrissen.“ (A V, 855–856) –, so ist mit dem „Gewissen“ eben nicht nur Neros schuldige Innerlichkeit gemeint, sondern auch sein Andenken als memoria.239 Mit dem Verletzen, Quälen, Henkern und Zerreißen seines Gedächtnisses ist damit auf die Erinnerungspraxis der damnatio memoriae angespielt. Sein Andenken wird, wie schon Alcmaeon und Orest eingefordert haben, eben „nicht verzehret“, also vernichtet, sondern es wird immer wieder von Neuem verflucht. Auf diese Weise wird nicht zuletzt das Verbrechen an Agrippina gerächt, das ja in der damnatio memoriae kulminierte. Der Matrizid wird demnach endgültig zum Inbegriff eines wahrlich unvergesslichen Bösen, das aus Mythos und Geschichte herausragt. Nero steht in seiner abgründigen Bosheit allein und isoliert, weshalb – ganz anders als in den sog. Afrikanischen Trauerspielen – am Ende keine Wendung des Trauerspiels hin zum Modell der translatio imperii stattfinden kann.240

239 Diesen Zusammenhang von personalem Schuldbewusstsein und kollektiver memoria, der sich in Neros Gewissen niederschlägt, legt auch Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 223 offen. 240 Ich gelange hier zur selben Einsicht wie zuvor Fromholzer: Gefangen im Gewissen, S. 223, jedoch beschreitet dieser einen anderen Weg, indem er die Verflechtung der Zeitebenen im Schlusstableau reflektiert: „Nun wird klar, warum am Ende des Trauerspiels die Vergangenheit in Form der rächenden Geister und Furien triumphiert, keine futuristische Relativierung des römischen Kaisers im Zeichen eines habsburgischen translatio imperii-Gedankens aufkommen kann.“

5.5 „Der Abgrund schling’t mich ein!“: Neros Verdammnis

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Mit dem Gräuelgemälde der Agrippina setzt Lohenstein Neros Bosheit ein eigenes Denkmal, das, der frühneuzeitlichen Moraldidaxe und Strafökonomie entsprechend, Nero und seine Laster strafen und das Publikum zur Tugend mahnen soll. Es zeigt sich, dass Neros Gedächtnis unwiderruflich an seine Verdammung gebunden ist.241 Gerade weil Lohenstein Nero in seinem Trauerspiel wiederauferstehen lässt und sodann am Ende der Hölle überantwortet, trägt er zu dessen obligatorischer Verfluchung in der und durch die memoria bei.242 In diesem Sinne behält die gerechte Rache im Trauerspiel das letzte Wort. Dass die göttliche Rache ein zyklisches Modell darstellt, das schließlich den Kreislauf sich wiederholender und steigernder Laster einholt, gelangt im Mai 1666 am Breslauer Elisabeth-Gymnasium täglich zur Aufführung, da Agrippina und Epicharis dort abwechselnd, also in Rotation, gezeigt werden.243 Tag für Tag wird Nero aufs Neue seinem ewigen, infernalischen Schicksal zugeführt. Lohensteins historische Dichtung erfüllt damit schließlich nichts geringeres als den Auftrag des Verhängnisses.

241 Wenn Alt: Tod der Königin, S. 148 sagt: „Der ‚Abgrund‘, der Nero aufnimmt, ist nur die katastrophische Seite des Ursprungs, der ihn gebar; sobald er sich geschlossen hat, kann alles wieder neu beginnen.“, dann ist dem hinzuzufügen, dass auf einen solchen Neuanfang wiederum zwangsläufig die Verdammung folgen muss. Das Mögliche nämlich wird bei Lohenstein immer noch durch das Notwendige aufgefangen. 242 Auch die Octavia ist ganz ähnliche angelegt, wie Flower: The Art of Forgetting, S. 206 betont: „The Octavia as political rhetoric is designed to have the same effect as the memory sanctions themselves: Nero is to bear the blame for everything, while others around him are to be exonerated or even rehabilitated in various ways.” 243 Dies ist den jeweiligen Szenaren zu entnehmen, siehe Gerhard Spellerberg: Szenare zu den Breslauer Aufführungen Lohensteinscher Trauerspiele. In: Daphnis 7 (1978), S. 629–645, hier S. 636–637.

6 Die Schauseite des Bösen: Lohensteins Ibrahim Sultan (1673) Der Ibrahim Sultan ist ungefähr zeitgleich mit Lohensteins Nero-Dramen Agrippina und Epicharis entstanden. In diesen so zu nennenden Tyrannendramen variiert der Dichter die Thematik, er befragt und untersucht die Figur des Despoten in unterschiedlichen Konstellationen, wobei die Sexualität jeweils als Exerzierfeld für diese Dramen der absoluten Macht dient. Ursprünglich war der Ibrahim Sultan 1666 anlässlich der Hochzeit des Habsburger Kaisers Leopolds I. mit seiner ersten Gattin Maria Teresa verfasst worden. Das Manuskript wurde damals jedoch nicht veröffentlicht. Eine Aufführung des Dramas ist ebenfalls nicht belegt. Jedoch lässt eine erhaltene handschriftliche Version der Inhaltsangabe darauf schließen, dass Lohenstein zwischen 1666 und der ersten Publikation 1673 keine größeren Veränderungen hinsichtlich des Handlungsablaufs vorgenommen hat.1 Die Veröffentlichung im Jahr 1673 erfolgt anlässlich der Heirat Leopolds I. mit seiner zweiten Gattin Claudia Felizitas. Das Titelkupfer kennzeichnet es als „Schauspiel auf die glueckseligste Vermaehlung beyder Roem. Kaeyser- wie auch zu Hungarn und Boeheim Koenigl. Majestaeten“2. Die eheliche Verbindung in keuscher Liebe zwischen Leopold und Claudia Felicitas steht dabei, der politischen Theologie folgend, allegorisch für die Verbindung des Habsburger Kaisers mit seinem Reich als einem matrimonium morale et politicum, einer moralischen und politischen Ehe.3 Die Widmungsrede, die dem Drama vorangestellt ist, ist dement1 Ich berufe mich in diesen Ausführungen zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte auf die von Mundt besorgte Edition: Daniel Casper von Lohenstein: Sämtliche Werke. Historischkritische Ausgabe, Abt. 2, Bd. 3, Teilbd. 1, S. 1–344. Dieser ist die Neuausgabe von 1679 zugrunde gelegt, die eine stilistisch geringfügig überarbeitete Fassung letzter Hand darstellt. Der Ibrahim Sultan wird nach dieser Ausgabe zitiert und mit der Sigle IS abgekürzt. Abhandlungen und Reyen werden inkl. Akt- und Verszahl im Text zitiert. Der Prolog wird statt mit einer Aktzahl mit „P“ ausgewiesen. Die Anmerkungen Lohensteins werden ebenfalls in den Fußnoten zitiert, als „[Sigle] Anm. Lohenstein“ mit Angabe der Seiten- und Zeilenzahl. Sonstige Paratexte werden in den Fußnoten mit der Sigle und der Seitenzahl vermerkt. Auf den Stellenkommentar Daniel Casper von Lohenstein: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abteilung 2: Dramen. Bd. 3: Ibrahim Sultan, Sophonisbe. Teilband 2: Kommentar. Verfasst von Lothar Mundt. Berlin, New York 2008, S. 859–949 wird im Folgenden unter der verkürzten Angabe Mundt: Kommentar Ibrahim Sultan und der Seitenangabe verwiesen. 2 IS, S. 3 (Titelblatt). 3 Vgl. dazu Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 224–230. Auf diesen Zusammenhang hat ebenfalls Wild: Theater der Keuschheit, S. 67–72 hingewiesen, der davon ausgehend seine Analyse des Ibrahim Sultan als „Hymenaeum“ entwickelt. Zur Ehe in der protestantischen Nahttps://doi.org/10.1515/9783110726022-006

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sprechend als ein Lob auf den Kaiser angelegt, der „ein Beyspiel aller vollkommenen Fuersten / und ein anbethens-wuerdiges Vorbild der Vollkommenheit“4 sei. Ihm „bey der Nachwelt“5 ein Denkmal zu setzen ist die Absicht, die hinter Lohensteins Dichtung steht. Dafür wendet Lohenstein das poetische Verfahren der Darstellung ex negativo an. Dies wird ganz explizit formuliert, da Lohenstein erklärt, dass er gerade den „Gegensatz der Welt fuer Augen […] stellen“ will, um den Habsburger Kaiser (und mit ihm sein Reich) in seiner Überlegenheit noch deutlicher hervortreten zu lassen: Diß Schauspiel entwirfft die Gemueths-Flecken und die zu unserer Zeit sichtbare Verfinsterung eines Oßmannischen Mohnden; umb durch Ew. Kaeyserl. Majest. Gegensatz der Welt fuer Augen zu stellen: wie jene zwar durch stetige Herrschens-Sucht sich aufblaehen; die Sonnen von Oesterreich aber aller Vergroesserung ueberlegen sind;6

Nicht nur liefert das Osmanische Reich das negative Gegenstück zu Österreich, auch stellt Lohenstein es als im Verfall begriffen dar – „die zu unserer Zeit sichtbare Verfinsterung eines Oßmannischen Mohnden“ –, womit er suggeriert, dass seine Dichtung eine Diagnose über die gegenwärtige Verfassung des Feindes bietet. Lohenstein verharrt in dieser Licht-Dunkel-Antithetik, wenn er weiter anführt, dass diese „Verfinsterung“ nicht nur durch die „Kriegs-Strahlen“ Österreichs, also militärisch, herbeigeführt wurde, sondern auch moralisch durch die „reine[n] Flammen“ der keuschen Liebe.7 Diese nämlich würden „jene beschaemen [die glaubten]: daß Liebe nichts minder ohne boese Lust / als Rosen ohne Dornen / Diamanten ohne Flecken / und Gold ohne Kupfer seyn koenne.“8 Die Liebe wird hier neben Rosen, Diamanten und Gold als ebenso edles, natürliches Gut vorgestellt. Die Irrlehre osmanischer Provenienz bestehe also gerade darin, dass die Wollust die von Natur aus edle Liebe noch weiter vervollkommne. Tatsächlich bedeutet die unmissverständlich als „boese Lust“ ausgewiesene sexuelle Begierde jedoch die Verderbnis der menschlichen Natur und entspricht ebenjenen „Gemueths-Flecken“, also Charakterfehlern, die den Verfall des Osmanischen Reiches gegenwärtig provozierten. Die Überzeugung turrechtslehre, vgl. Wichert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz, S. 82–115, bes. S. 86: „Ehe und Gesellschaftsvertrag sind zwei Formen der naturrechtlichen Vertragsethik, die auf der ‚freyen Verbindung‘ der Menschen beruht.“ 4 IS, S. 7 (Zuschrifft). 5 Ebd. 6 Ebd., S. 8. 7 Auch Wild: Theater der Keuschheit, S. 73 hat darauf aufmerksam gemacht, dass hier dieselbe solare Metaphorik appliziert wird wie in Neros Eröffnungsmonolog, um die Strahlkraft der imperialen Macht zu illustrieren. 8 IS, S. 8 (Zuschrifft).

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von der vermeintlichen Veredelung der Liebe durch die Wollust pervertiert dabei in sich die harmonische Gesetzmäßigkeit einer sittlich geordneten Natur und eines sittlich geordneten Staates. Der Titelheld des Dramas, Sultan Ibrahim, verkörpert dieses Skandalon. Das Drama führt vor, wie die wollüstige Depravation des Herrschers die Schwäche und Dekadenz seines Reiches bedingt. Dieses Korrelat von Moral und Politik weist zurück auf das Ideal des matrimonium morale et politicum, das folglich im Sultan ins Negative verkehrt wird, da in ihm „boese Lust“ und „boese[] Regierung“9 zur grausamen Entfaltung kommen. Erotik und Politik, Unzucht und Untergang sind hier aufs Engste miteinander verschränkt. Die Methode der Negativität, die Lohenstein hier in Anschlag bringt und die er von Saavedra Fajardo übernimmt, legt nicht zuletzt die konzeptionelle Verwandtschaft zwischen der Agrippina und dem Ibrahim Sultan offen. Denn auch der Ibrahim Sultan stellt eine Pathologie und Anamnese des bösen Fürsten und seiner „boesen Regierung“ – oder mit den Worten Saavedra Fajardos: seiner „übel Regierten gemeine“ – vor.10 Der Tyrann wird auf seine Bosheit hin untersucht, um den politisch-christlichen Prinzen ex negativo zu stärken und ihn zugleich zu loben.11 Die wesenhafte Verwandtschaft zwischen Sultan Ibrahim und Nero, zwischen osmanischem und römischem Tyrannen verfügt über eine eigene kulturgeschichtliche Tradition. Seit dem 16. Jahrhundert, also im Zuge der Expansion des Osmanischen Reichs in Europa, wurden die osmanischen Herrscher verstärkt mit Nero als dem alles überragenden exemplum für tyrannischen Exzess verglichen.12 Ihnen wird die Lasterhaftigkeit des römischen Tyrannen par excel-

9 IS, S. 12 (Inhalt). 10 Es sei noch einmal an die Einleitung zu Saavedra Fajardos Politisch-christlichen Prinzen erinnert, die bereits in Kapitel 5.3.2 diskutiert wurde: „Dieses ist noch daß beste an einem bösen Fürsten / daß die weißheit mag nach dessen Todt seinen Leichnam durch die Anatomy gleichsam durchgrüblen / vnd die kranckheiten / vnd vrsachen / der übel Regierten gemeine ersehen / vnd solchen helffen.“ – Ohne die Verbindung zu Saavedra Fajardo herzustellen macht auch Rau: Leiblichkeit als paradigmatische Fremde, S. 237 eine Ähnlichkeit bezüglich der „Pathologie der Perversionen“ in beiden Dramen aus. 11 Im Fall der Agrippina ist es ja die schlesische Landesmutter Herzogin Luise, deren mütterliche Tugenden durch das Trauerspiel gehuldigt werden sollten, wie die Widmungsrede konstatiert. 12 Vgl. Carina Johnson: Imperial Succession and Mirrors of Tyranny in the Houses of Habsburg and Osman. In: Rivalry and Rhetoric in the Mediterranean. Hg. von Barbara Fuchs, Emily Weissbourd. Toronto 2015, S. 80–100, hier S. 91. Dass in diesem Vergleich der Sultane mit Nero auch deren jeweiliger Ruf als grausame Christenverfolger keine unerhebliche Rolle spielt, wäre hinzuzufügen.

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lence zugeschrieben. Lohensteins Sultan ist jedoch nicht nur zu einem Nero der Gegenwart stilisiert, er übertrifft seine historische Prä-Figuration noch, wie die Analyse des Ibrahim Sultan offenlegen wird. Lohensteins Ibrahim ist dabei nicht als eine singuläre Erscheinung der osmanischen Geschichte konstruiert. Er repräsentiert den uneinholbaren Kulminationspunkt eines dynastischen Kontinuums von Gräuel und Usurpation, erotischer Dekadenz und politischem Despotismus, dem die osmanische Herrschaft in Lohensteins Dichtung unterworfen ist. Dabei handelt es sich nicht zuletzt um eine zeitgenössische orientalisierende und exotisierende Trope, die die Osmanen und ihre Herrschaft kennzeichnet.13 Diese frühneuzeitliche Spielart des Orientalismus generiert sich nicht etwa aus einer Position westlicher Überlegenheit, wie sie Edward Said in seiner einschlägigen Studie Orientalism für die Moderne erarbeitet, sondern ist stattdessen auf die Schwächung der Habsburger durch die Osmanen zurückzuführen. Davon ausgehend ist auch Lohensteins Ibrahim Sultan als ein solches Tendenzstück zu verstehen, deren Produktion im 17. Jahrhundert kontinuierlich zunimmt. Daraus lässt sich wiederum folgern, dass Lohenstein dem Kaiser damit einen politischen Dienst erweist: Indem er den Sultan und seine Herrschaft mit den Mitteln der Dichtung und des Theaters auf der Bühne demontiert, leistet er einen Beitrag zur Moralisierung angesichts der erneut zunehmenden Bedrohung durch die Osmanen. Die Reiteration des Bösen wohnt in Lohensteins dramatischer Konstruktion der Institution des Sultanats geradezu naturhaft inne und erweist sich dadurch als tyrannisches Regime. Sultan Ibrahim überbietet in seiner Depravation und Lasterhaftigkeit sowohl seine Vorgänger im Amt des Sultans als auch das universelle, überzeitliche (und europäische) Negativ-exemplum Nero als enfant terrible der Welthistorie.14 In seinem erratischen Lebenswandel überragt Ibrahim alles bisher Dagewesene. Das Böse manifestiert sich im Ibrahim Sultan in der Transgressivität, der permanenten Selbstüberbietung und Exzessivität seines Titelhelden. Dem Drama ist der Prolog des Thrakischen Bosporus vorangestellt, der einen Bericht von der auf Mord und Unzucht gründenden Tyrannei der Osmanen liefert, um auf Ibrahims wollüstigen Despotismus hinzuführen (Kapitel 6.1). Gegenstand der Abhandlungen sind sodann die Ereignisse des „7. und 8. Augusti im 1648sten

13 So bemerkt auch Johnson: Imperial Succession, S. 81: „Orientalizing the Ottomans as a dynasty of despotic and sybaritic tyrants was a project fully familiar to Christian European readers by the beginning of the eighteenth century.” 14 Klaus Günther Just: Lohenstein und die türkische Welt. In: Lohenstein: Türkische Trauerspiele. Ibrahim Bassa, Ibrahim Sultan. Hg. von Klaus Günther Just. Stuttgart 1953, S. XXXVII– XLVII, hier S. XLI hat Lohensteins Sultan Ibrahim einen „Super-Nero“ genannt.

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Jahre“, dem letzten Tag und der letzten Nacht in Herrschaft und Leben des Sultans Ibrahim. Das Zentrum dieser Geschehnisse bildet die Notzucht der Ambre, der Tochter des Mufti, ein Akt, der als „boese Sache“ zum Inbegriff des Bösen erwächst. Dieses zentrale Skandalon findet sich vorbereitet in der versuchten Vergewaltigung der Sisigambis, mit der die erste Abhandlung einsetzt, sowie in Ibrahims doppeltem Kindsmord, sodass Ibrahims Wüten als eine dynamische Verkettung von Verbrechen erscheint, wobei der Sultan sich konsequent in seiner Bosheit selbst überbietet. Der Aspekt des Schauens ist zentral für die Konzeption des Ibrahim Sultan, wie allein der Blick auf den Untertitel des Dramas zeigt: Es ist ein „Schau Spiel“15. Noch darüber hinaus ist es Lohensteins einziges Schauspiel überhaupt, alle anderen Dramen sind vom Autor als „Trauerspiel“ ausgewiesen. Der Grund für diese abweichende Zuschreibung des Ibrahim Sultan ist weniger in einem Mangel an Tragischem zu entdecken als in der Emphase, die in der Entwicklung des zentralen Konflikts auf das Schauen selbst gelegt ist: Als expositio / Exposition von Ibrahims Bosheit (Kapitel 6.2), die als Schaulust bzw. concupiscentia oculorum entwickelt ist (Kapitel 6.3), als Lenkung, ja als Regie der Blicke auf dem Feld des Politischen und schließlich als öffentliche Zur-Schau-Stellung der vergewaltigten Ambre in Form eines sadistischen Spektakels (Kapitel 6.4). Im Ibrahim Sultan wird der Schau-Aspekt des Bösen verhandelt, was wiederum auf Lohensteins Methode der Negativität zurückverweist, die er in der Widmungsvorrede formuliert. Schließlich heißt es dort eindrücklich: „Diß Schauspiel entwirfft die Gemueths-Flecken und die zu unserer Zeit sichtbare Verfinsterung eines Oßmannischen Mohnden; umb durch Ew. Kaeyserl. Majest. Gegensatz der Welt fuer Augen zu stellen“ Die Widmungsvorrede erteilt also nicht nur Auskunft über die Ebene der Handlung, sondern auch über die Ebene der Darstellung, in deren Zuge gerade das Schauen des Gegensatzes, des Negativen herausgestellt wird. Das Schauen wird hier zum Instrument für die Verhandlung von Machtverhältnissen und reflektiert dafür nicht zuletzt die visuelle Konstellation des Theaters.16 Deshalb kann im Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie gar konstatiert werden: Der Ibrahim Sultan ist ein „Schau Spiel“ des Bösen und vice versa wird das Böse selbst hier zum Schauspiel. Da jedoch auf dem moralischen Theater der Frühen Neuzeit kein Laster ohne Bestrafung bleibt, ist im Ibrahim Sultan auch die Strafe immanenter Teil dieses Schauspiels bzw. selbst

15 IS, S. 2 (Titelkupfer). Mir ist keine Studie bekannt, in der diese abweichende Kategorisierung des Dramas thematisiert wurde. 16 Auch Wild: Theater der Keuschheit, S. 77–78 konstatiert dies sowohl mit Blick auf den Ibrahim Sultan als auch die Agrippina.

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als Schauspiel arrangiert (Kapitel 6.5 und 6.6). Ibrahim wird schließlich rechtmäßig von Regierungsfunktionären gestürzt und in den Kerker verbannt, wo er von Rachegeistern heimgesucht, erwürgt und erwartungsgemäß der Hölle überantwortet wird. Gleichzeitig wird sein ältester Sohn Machmet mit allen Ehren auf dem Schauplatz inthronisierst. Es zeigt sich, dass die Veranschaulichung des negativen Exempels „virtuell und antizipativ“17 wirkt. Während Lohenstein seine unbedingte Loyalität und Treue gegenüber Leopold I. in den Paratexten des Dramas versichert, führt er ihm in den Abhandlungen die Konsequenzen eines Betrugs des matrimonium morale et politicum, nämlich Aufruhr und Fürstensturz, vor. Die Kritik in Form einer Untersuchung des wollüstigen Despoten könnte auch den österreichischen Souverän in verdeckter Weise mahnen, nicht selbst dieser Art Tyrannei zu verfallen. Die Methode des ex negativo bedeutet schließlich eine „Mischung aus Laudatio und Appell, Huldigung und Forderung“18, deren Ambivalenz bis zum Ende des Ibrahim Sultan aufrechterhalten bleibt. Diese Ambivalenz schlägt sich nicht zuletzt auch in Lohensteins Repräsentation der Osmanen – des designierten Gegensatzes – nieder, die durchweg zwischen Faszination und Aversion, Nähe und Distanz zum Eigenen changiert.

6.1 Ibrahims Bosheit und der Rückzug der Natur: Der Prolog des Thrakischen Bosporus Die Botschaft der Widmungsvorrede – Keuschheit und Triumph Österreichs auf der einen, Unzucht und Untergang des Osmanischen Reichs auf der anderen Seite –, die ja bei der Aufführung des Dramas dem Theaterpublikum vorenthalten bleibt, wird mit dem Prolog in das Drama übersetzt und als Allegorie auf den Schauplatz überführt. Der übergeordnete Sinn der eigentlichen Handlung wird vorgestellt bzw. als zukünftiges Geschehen prophezeit und vorweggenommen.19 Die dem Schauspiel vorangestellte Inhaltsangabe fasst zusammen: 17 Wild: Theater der Keuschheit, S. 77. 18 Thomas Borgstedt: Reichsidee und Liebesethik. Eine Rekonstruktion des Lohensteinschen Arminiusromans. Tübingen 2015 (Studien zur deutschen Literatur 121), S. 28. 19 Alt: Begriffsbilder, S. 247 erklärt, dass Lohenstein darin der traditionellen Ausrichtung des Prologs gehorche, wie sie das jesuitische Schuldrama pflege, das protestantische Drama jedoch nicht. Sowohl der Ibrahim Sultan als auch der Ibrahim Bassa bilden dabei, wie auch Gryphius’ Catharina von Georgien, eine Ausnahme. In Mundt: Kommentar Ibrahim Sultan, S. 861 findet sich außerdem der Hinweis, dass das Vorspiel zum Ibrahim Sultan sowohl inhaltliche als auch strukturelle Parallelen zum Prolog in Giovanni Battista Guarinis Il pastor fido (1590) aufweist. Lohenstein hat überdies eine Übersetzung von Guarinis Vorspiel angefertigt, die in

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DEr vorredende Thracische Bosphorus verdammet die Unzucht des Tuerckischen Sultan Jbrahim / erhebet die keusche Vermaehlung des unueberwindlichsten Kaeysers LEOPOLDS / mit der Allerdurchlauchtigsten Ertz-Hertzogin von Oesterreich CLAUDIA FELICITAS, wahrsaget jenem den Untergang / diesem die Vermehrung des Reichs.20

Durch die hier applizierte allegorische Technik kommt im Prolog die Natur in Gestalt der Meerenge selbst zu Wort. Jedoch ist diese Natur auf eine bestimmte Art und Weise determiniert, nämlich als spezifisch Thrakischer Bosporus.21 Diese Bezeichnung wurde von Herodot geprägt, der den Bosporus außerdem als ‚natürliche‘22 Grenze zwischen Europa und Asien beschrieb. Der Begriff

seinem Anmerkungsapparat zur Sophonisbe (S Anm. Lohenstein, S. 636–648) aufgeführt ist. Bei Guarini ist der Fluss Alfeo der Vorredner, was Lohenstein wiederum in seinen Prolog des Thrakischen Bosporus durch die Erwähnung des Mythos von der Liebe des Flussgottes Alpheios zur Nymphe Arethusa einarbeitet: „Des Alfeus Silber ist in Elis nicht so hell / Als wo er seine Brunst mit Arethusen stillet.“ (IS P, 11–12) Dem ist hinzuzufügen, dass der Pastor fido sich über die Grenzen Italiens hinaus besonderer Berühmtheit erfreute und den Einfluss der italienischen Theaterdichtung und -kultur auf das übrige Europa weiter konsolidierte. Aufgrund seines arguten Stils, der getragen ist von Antithesen und erotisch-preziöser Metaphorik, gilt Guarini u. a. als Vorläufer Marinos, der ja ebenfalls eines von Lohensteins Vorbildern ist. Vor diesem Hintergrund wird der Prolog des Thrakischen Bosporus auch als Lob auf den italienischen Stil lesbar. Lohenstein schreibt diesen fort und adelt damit sein eigenes Drama als eine Verlängerung des Musterhaften. Unter Einbezug der jesuitischen Prologtradition legt Lohenstein eine eigene Interpretation vor, durch die sich nicht nur seine eruditio, sondern auch und vor allem sein eigenes dichterisches ingenium umso deutlicher zeigt. Zur deutschen Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte des Pastor fido im 17. Jahrhundert siehe Alba Schwarz: „Der teutsch-redende treue Schafer“. Guarinis „Pastor Fido“ und die Übersetzungen von Eilger Mannlich 1619, Statius Ackermann 1636, Hofmann von Hofmannswaldau 1652, Assmann von Abschatz 1672. Bern 1972; Tomasz Jabłecki: Zu Form, Funktion und soziokultureller Dimension der deutschen Übersetzungen von „Il pastor fido“ Guarinis in der Frühen Neuzeit. In: Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750). Beiträge zur dritten Arbeitstagung in Wissembourg/Weißenburg (März 2014). Hg. von Peter Hvilshøj Andersen-Vinilandicus. Bd. 3. Bern 2015 (Jahrbuch für internationale Germanistik 120), S. 387–407. 20 IS, S. 11 (Inhalt). 21 Vgl. Herodot: Historien. Hg. von Heinz-Günther Nesselrath. 2 Bde. 5., vollkommen neu bearbeitete Aufl. Stuttgart 2017, Buch 4, Kap. 83, S. 325, der diesen Terminus als Abgrenzung zum Kimmerischen Bosporus (Straße von Kertsch) benutzt hat. Auch im Art. Bosporus Thracius. In: Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste […]. 64 Bde. und 4 Suppl.-Bde. Halle, Leipzig 1732–1754, hier Bd. 4, Sp. 813–814, hier Sp. 813 wird diese Unterscheidung noch getroffen. 22 Eine solche „natürliche Grenze“ bedeutet auch in der Antike immer schon ein künstliches kulturelles Konstrukt, das dazu dient, ein wie auch immer geartetes Fremdes – hier „Asien“ bzw. „die Osmanen“ – jenseits der Grenzziehung des „Eigenen“ zu verorten. Dieses Fremde ist damit gleichsam Teil der eigenen ‚natürlichen‘ Ordnung und daran beteiligt, diese zu konstitu-

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verweist zurück sowohl auf die antike Historiographie als auch auf die ehemals europäische Vorherrschaft in dem nunmehr osmanisch regierten Gebiet. Der „Thracische Bosphorus“ verfügt damit über eine ganz ursprüngliche Nähe zu Europa und ist mit seiner Geschichte und seinem Erbe in der Region verbunden. Das Vorspiel wird eingeleitet von einer Bühnenanweisung, die den Schauplatz beschreibt und lokalisiert: Er „stellet auf einer Seite die Gegend der Kaeyserlichen Haupt-Stadt Wien / nebst dem Donau- Strome / und auf der andern eine Meer-Enge fuer.“23 Auch wenn dieses Nebeneinander von Donau und Bosporus auf den ersten Blick paradox wirken mag, so ist dadurch auch im Sinne einer historischen Geographie die Nähe des Thrakischen Bosporus zu Europa und – dem Habsburger Kaiserlob gemäß – Wien als seinem imperialen Zentrum am Lauf der Donau wiederhergestellt. Das antike Thrakien nämlich wurde im Norden durch die Donau (Ister) begrenzt, bevor sie ins Schwarze Meer, die Ostgrenze Thrakiens, mündete.24 Lohensteins Bosporus wandert gewissermaßen einmal die einstige thrakische Küste hinauf zum Donau-Delta, wobei die „MeerEnge“ und die „Haupt-Stadt Wien“ durch die jeweilige Nähe zur Donau miteinander verbunden sind. Dies lässt sich auch auf die politische Ebene übertragen, schließlich war das antike Thrakien zeitweise auch Provinz des Römischen Reichs, dem Vorläufer des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, sodass auch im Sinne der translatio imperii die Nähe zu Österreich als wahrem, gutem Weltreich (wieder-)hergestellt wird. Gleich zu Beginn seiner Rede zeigt sich der Thrakische Bosporus darum bemüht, das vermeintliche Paradox seiner Nähe zu Wien aufzulösen: BEfrembdet euch / ihr Voelcker holder Sitten / Daß des erzuernten Bosphors Schlund / Den Strand verlaesst / wo Thrax und Tuercke wuetten / Fuer des unwirthbar’n Meeres Mund Der Donau suesse Lipp’ und gruene Flut zu kuessen? Es ist nichts seltzames / mein unter-irrdisch Lauf. (IS P, 1–6)

ieren. Mit dieser Form der Identitätskonstruktion durch Abgrenzung befinden wir uns im Kern des Alteritätsparadigmas, das die Literatur und Kultur seit ihren Anfängen begleitet. Davon geben für den europäischen Fal beispielsweise Homers Odyssee oder eben Herodots Historien Auskunft. Siehe dazu einführend Anja Becker; Jan Mohr: Alterität. Geschichte und Perspektiven eines Konzepts. In: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hg. von Anja Becker, Jan Mohr. Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), S. 1–60. 23 IS, S. 19 (Reigenanweisung). 24 Vgl. Iris von Bredow u. a.: Art. Thrakes, Thrake, Thraci. In: DNP, Bd. 12/1, Sp. 478–491.

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Die hier aufgerufene Metaphorik von „Lipp’“, „kuessen“ und „Mund“ kann, neben der Suggestion einer Vereinigung in (keuscher) Liebe, als Anspielung auf die Mündung beider Gewässer, sowohl der Donau als auch des Bosporus, ins Schwarze Meer verstanden werden. Denn während der Oberstrom des Bosporus vom Schwarzen Meer ins Marmarameer und von dort in die Ägäis und das Mittelmeer fließt, gibt es im Bosporus auch einen kräftigen Unterstrom, den „unter-irrdisch Lauf“, der in die entgegengesetzte Richtung verläuft und an sich „nichts seltzames“ ist. Es handelt sich also um eine durchaus „natürliche“ Bewegung. Diese wird hier noch zusätzlich sittlich aufgeladen und ergreift so den gesamten Strom: Die Flucht des Bosporus von seinen eigenen Ufern ist ebenfalls eine „natürliche“ Bewegung, nämlich weg vom Schaden und hin zu einem lieblicheren Ziel. Schließlich ist die Natur selbst sittlich geordnet und strebt dem Guten entgegen.25 Die politische Tendenz des Prologs (und damit des gesamten Dramas) wird hier als „natürliche“ Tendenz vorgestellt. Was „[be]fremdet“, ist also nicht die Flucht der Natur, sondern das, vor dem sie flieht. Zu Lohensteins Zeiten waren „Thrax“ und „Türcke“ gleichbedeutend, da der letzte verbleibende Teil des antiken Thrakiens – ebenjener, der an den Bosporus grenzt – im 15. Jahrhunderts von den Osmanen erobert wurde.26 Jedoch ist die Paarung von „Thrax und Tuercke“ weit davon entfernt, eine bloße Tautologie zu sein. Allein die Bezeichnung „Tuercke“ ist zeithistorisch aufgeladen.27 Mit der Verbindung von „Thrax und Tuercke“ schöpft Lohenstein aus den alliterativen Möglichkeiten, von denen auch schon Luther mit der von ihm geprägten Doppelspitze „Türck und Teufel”28 Gebrauch gemacht hatte. An späterer 25 Zur Vorstellung einer sittlich geordneten Natur bei Lohenstein, siehe Kapitel 5.3.1. 26 Diese Erklärung findet sich unter Mundt: Kommentar Ibrahim Sultan, S. 870. 27 Sarah Colvin: The Rhetorical Feminine. Gender and Orient on The German Stage 1647– 1742. Oxford 1999 (Oxford Modern Languages and Literature Monographs), S. 30 macht darin gar einen zeitgenössischen Kampf- und Schmähbegriff aus, um die Osmanen als islamische Barbaren zu degradieren: “These events – notably the Ottoman expansion – do mean that the ‘barbarian’, from being generally Asiatic or ‘Saracen’, is distinctly Islamic, conceived of and described as the Turk; an inaccurate category, since the Ottomans themselves would have shunned the term. They looked down on the Turcomans as an inferior ethnic group comprised of Anatolian peasants who would not even have understood the language of the ruling elite.” 28 So z. B. in der „Vermahnunge zum Gebet Wider den Türcken“, in WA 51, 585–925, hier S. 591; 594. Während die Allusion im Ibrahim Sultan noch relativ subtil ist, hat Lohenstein im Ibrahim Bassa geradezu plakativ die Rhetorik von Luthers anti-türkischer Polemik integriert. Er hat dabei vor allem auf die „vorrede auff die offenbarung Sanct Johannis“ (von 1530, erstmals veröffentlicht 1546; WA 3/7, 407–420) zurückgegriffen. So werden dort im Prolog Asiens die Osmanen mit den apokalyptischen, vom Satan befreiten Völkern „Gog und Magog“ (IB I, 64) gleichgesetzt, die auch Luther mit dem „Tuercke“ identifiziert. Im ersten Reyen stellt der

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Stelle des Prologs werden die Osmanen und ihre Laster gar explizit „des Teufels gift’ge Saaten“ (IS P, 43) genannt. Lohenstein evoziert damit das gottes- und menschenfeindliche Wesen der Osmanen und lässt sie als Barbaren und Dämonen erscheinen.29 Durch ihr „wuetten“ stören und verderben sie die natürliche, ja kosmische Ordnung, die durch den Bosporus repräsentiert wird. Dieser ist nun selbst „erzuernt[]“ (IS P, 2) und verlässt seine eigenen mittlerweile „unwirthbar’n“ (IS P, 4) Ufer, indem er ja nun in Form eines Adynatons seinen kompletten Lauf verkehrt und sich vollkommen auf die „Donau“ (IS P, 5) ausrichtet, um den apostrophierten „Voelcker[n] holder Sitten“ (IS P, 1) entgegenzustreben. Pointiert ist dies noch dadurch, dass gerade der Thrakische Bosporus vor „Thrax und Tuercke“, also vor seinesgleichen, vor seinem eigenen „Stamm“ – hier rhetorisch wiedergegeben als figura etymologica – flieht. An dieser wesentlichen Veränderung in der Natur, an ihrem notgedrungen verkehrten Lauf, wird schließlich das kosmische Ausmaß von jenem „wuetten“, das die Bosheit der Osmanen indiziert, lesbar.30 Die buchstäblichen Beweggründe des Bosporus werden im Folgenden weiter spezifiziert, da der horror und terror der Osmanischen Herrschaft eingelassen wird in einen historischen Referenzrahmen. Sie werden mit den etymologisch-mythologischen Ursprüngen des Bosporus einerseits und mit der griechisch-byzantinischen Ära andererseits in Relation gesetzt, um im Vergleich die gegenwärtige Gräuelherrschaft der Osmanen, die schließlich in der ungeheuerlichen Verworfenheit des Sultans Ibrahim kulminiert, noch deutlicher

„Chor der leibeigenen Christen” die Frage: „Wie lang peitscht uns deine Rutt’“ (IB I, 534) und appliziert Luthers Vorstellung von den Osmanen als Gottes Zuchtrute und damit als Werkzeug göttlicher Bestrafung. 29 Dass Lohenstein die Osmanen explizit als „Barbaren“ bezeichnet, findet sich u. a. in einer seiner Anmerkungen verbürgt, in der er schreibt: „Dieses ist eine Arth bey den Barbarn.“ (IS Anm. Lohenstein, S. 204, Z. 33–34) Reika Dorit Ebert: Vom Barbaren zum aufgeklärten Herrscher. Zur Entwicklung des Türkenbildes im deutschsprachigen Drama des 17. Jahrhunderts. Diss. Univ. of Washington 2000, S. 61 erklärt, dass Lohenstein mit dieser Bezeichnung einer zeitgenössischen Tendenz folgt: „Dieser Terminus [‚Barbar‘] ist über einen langen Zeitraum hinweg in unzähligen Texten der übergreifende Begriff, unter dem sich die verschiedenen Komponenten des Türkenbildes subsumieren lassen.“ 30 Dieses Motiv der kosmischen Störung, die sich in der Natur niederschlägt, findet sich auch in Senecas Tragödien als „appropriate response to injustice and evil“ (Anthony Boyle: Commentary Thyestes. In: Lucius Annaeus Seneca: Thyestes. Mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar hg. von Anthony Boyle. Oxford 2017, S. S. 91–455, hier S. 365). Dass Seneca gerade in dieser Schaffensphase, in der auch der Ibrahim Sultan entstanden ist, einen großen Einfluss auf Lohenstein hatte, speziell was die Konzeption des Bösen betrifft, wurde bereits in Kapitel 5 auseinandergesetzt.

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hervortreten zu lassen. Dafür exponiert der Bosporus zu allererst seine zentrale Stellung und Bedeutung in Historiographie und Mythos: Mein enger Strand / auf dessen seichtem Ruecken Darius baute Bruecken / Durch den Zevs schwam verstellt in eine Kuh / Wird durch geronnen Blut und Leichen gantz verschwemmet. Der Todten-Knochen Last stopft meinen Einfluß zu / (IS P, 21–25)

Es ist wiederum Herodot, der von jener Schiffsbrücke berichtet, die der persische König Darius (historisch: Dareios I.) in einem militärischen Zug gegen die Skythen im Jahre 513 v. Chr. errichten ließ, um die beiden Ufer der Meerenge über die natürliche Grenze zwischen Europa und Asien hinweg miteinander zu verbinden.31 Noch in Zedlers Universallexikon ist zu lesen, dass der „Bosporus Thracius deswegen sonderlich bekannt“32 sei. Wie der Thrakische Bosporus im Prolog fortfährt, ist er nicht nur der Schauplatz dieser herausragenden strategischen Leistung, sondern auch der Ort, „[d]urch den Zevs schwam verstellt in eine Kuh /“33. Da die Bezeichnung „Bosporus“ gemeinhin als „Rinderfurt“ übersetzt wird, hat die Meerenge damit ihren Platz – noch mehr: ihren etymologischen Ursprung – im Mythos. Dabei liefert der Europa-Mythos eine Ätiologie des europäischen Kontinents überhaupt, sodass Bosporus und Europa über einen gemeinsamen Ursprung in mythologischer Vorzeit verfügen. Diese glorreichen Zeiten sind nun jedoch verloren. Die Kuhfurt der griechischen Mythologie ist zum „erzuern’ten Bosphors Schlund“ (IS P, 2) geworden und identifiziert sich so mit der türkischen Bezeichnung „Boğaz“ für Bosporus, die übersetzt „Schlund“ bedeutet.34 Nicht zuletzt artikuliert sich in dieser Bedeutungsverschiebung, dass die ruhmvolle Vergangenheit des Bosporus durch die Gräuel der Osmanen geradezu palimpsestartig überschrieben bzw. ausgelöscht zu wer-

31 Herodot: Historien, Buch 4, Kap. 83–88, S. 325–327. 32 Art. Bosporus Thracius. In: Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 4, Sp. 814. 33 Mundt: Kommentar Ibrahim Sultan, S. 871 bemerkt, dass Lohenstein hier ein Flüchtigkeitsfehler unterlaufen sein muss, da nicht Zeus in Gestalt einer Kuh den Bosporus durchschwommen hat, sondern seine Geliebte Io. Sie war von ihm, zum Schutz vor der eifersüchtigen Hera, in eine Kuh verwandelt worden. Auf ihrer Flucht vor einer Bremse, die Hera auf sie angesetzt hatte, schwamm Io über Nordgriechenland, das Ionische Meer und den Bosporus bis nach Ägypten, wo ihr Zeus endlich ihre menschliche Gestalt wiedergab. 34 Leider konnte ich bisher nach Sichtung der von Lohenstein verwendeten Quellen keinen Beweis dafür finden, dass Lohenstein diese Bezeichnung kannte. Jedoch scheint dies höchst wahrscheinlich, nicht zuletzt weil an diesem Begriff die gesamte galant-metaphorische Konstruktion hängt, die in der antizipierten Vereinigung von Bosporus und Donau im Kuss sprichwörtlich mündet und folglich nichts weniger als den Prolog eröffnet.

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den droht. Die Natur wiederum wird zum Medium der memoria, die dem Publikum auf diese Weise vergegenwärtigt wird. Inzwischen ist es gar unmöglich geworden, dass der Bosporus von Göttern durchschwommen und seine Ufer von schwimmenden Brücken miteinander verbunden werden, da ja „Mein enger Strand / […] Wird durch geronnen Blut und Leichen gantz verschwemmet / Der Todten-Knochen Last stopft meinen Einfluß zu /“. Seine Ufer sind von blutigen Leichen überhäuft, sodass man sie nicht mehr betreten und dadurch auch die Wasserstraße selbst nicht mehr benutzen kann. Der natürliche, ungehemmte Fluss des Bosporus ist nunmehr gestört und geradezu aufgehalten („stopft meinen Einfluß zu“). Von Tod durchsetzt und stagniert scheint die Natur somit auf grausame Weise in einen Zustand des rigor mortis versetzt. Die absolute Macht der Osmanen äußert sich folglich als Todestrieb. So fährt der Prolog damit fort, dass sich dieses Verderben der Natur, das ja ganz wesentlich das Böse in seiner Pervertierungsstrategie beschreibt, bei den Osmanen noch darüber hinaus als makabre Baukunst kultiviert findet und als solche der Befestigung und Sicherung ihrer Herrschaft dient: Der Todten-Knochen Last stopft meinen Einfluß zu / Weil ieder Mord-Fuerst hier darmit den Stuhl umbtaemmet; Ja heil’ge Thuerm’ auß Menschen-Haeuptern baut / Darzu man zu Spahan nur Ziegen-Koepffe brauchet. (IS P, 25–28)

Der gütigen Natur als vitalem Prinzip wird hier gleichsam in einer Horrorvision eine Kultur gegenübergestellt, deren politische („Stuhl“) sowie religiöse („heil’ge Thuerm’“) Institutionen nicht nur auf Töten und Tod aufbauen, vielmehr werden „Todten-Knochen“ und „Menschen-Haeupter[]“ gleichsam zu ihrem Ornament. Der Überbietungstopik eines noch nie dagewesenen Übels entsprechend übertreffen die Osmanen darin noch die Perser (mit „Spahan“ ist die persische Hauptstadt Isfahan gemeint), die immerhin „nur Ziegen-Koepffe“ zum Bau einer ähnlichen Konstruktion verwendetet hätten. Das Osmanische Reich erscheint als ein mundus perversus der europäisch-christlichen Kultur, die ja ihrerseits gerade auf der soteriologischen Vorstellung von der Tötung des Todes durch den Tod Christi fußt.35 Gerade die „heil’ge[n] Thuerm’ auß MenschenHaeuptern“ werden somit zu einer geradezu blasphemischen Provokation,

35 Auch Rau: Leiblichkeit als paradigmatische Fremde, S. 227 erkennt in der Darstellung des Osmanische Reichs im Prolog den Gipfelpunkt einer „antichristliche[n] und antichristologische[n] Gegengeschichte“. Diese im 16. und 17. Jahrhundert geläufige Vorstellung vom Osmanen als dem Antipoden der europäisch-christlichen Kultur findet sich bei Pierre Béhar: Türkenbilder, Italienerbilder. Antithesen des Deutschen. In: Deutsch – Wort und Begriff. Hg. von Wolfgang Haubrichs. Göttingen 1994 (Literaturwissenschaft und Linguistik 94), S. 92–107,

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indem sie einem Kult des Tötens und des Todes ein architektonisches Denkmal setzen. Da schließlich „ieder Mord-Fuerst hier“ diese ungeheuerlichen, widernatürlichen und unchristlichen Kulturtechniken in Anschlag bringt, repräsentiert dieser horror und terror das Kontinuum der bösen osmanischen Herrschaft. Schließlich ist es neben der Mordlust die Wollust, die das Sultanat befestigt. Der Serail als die sogenannte „Hohe Pforte“ ist es, „Die Mord und Unzucht als zwey Pforten schluessen“ (IS P, 33). Mordlust und Wollust markieren die Grenze zum Innenraum der pervertieren Macht, also die Grenze zwischen sittlicher Natur und frevelhafter Kultur. Schließlich ist auch die Wollust als schädliche Neigung bekanntlich wider die Natur und so verdirbt auch sie den Bosporus: „Weil man in Mich so viel nicht Wasser rinnen schaut / Als Geilheits-Oel und Schwefel toller Brunst / Mit vollem Strom aus den Palaesten schissen“36 (IS P, 30–31). Um die Bestimmung der genuin osmanischen Bosheit, die sich aus „Mord und Unzucht“ konstituiert, noch weiter zu pointieren, folgt, wie bereits angekündigt, ein Vergleich mit der griechisch-byzantinischen Geschichte. Es wird eine Reihe aus Verbrechen von mythologischer Größe angeführt, die jedoch – so suggeriert es der Vorredner – nichtig erscheinen angesichts der Übeltaten der Osmanen: „Der Grichen Laster sind bey ietzigen nur Dunst;“ (IS P, 34) Von Uranos’ Kastration durch seinen Sohn Kronos über den Inzest zwischen Iocaste und Ödipus bis hin zu Atreus’ unvergesslichem Verbrechen an seinem Bruder Thyestes und dessen Kindern – die Bosheit der Osmanen ist inkommensurabel.37 Der Bosporus kommt zu der Konklusion: „So gehen doch der Tuercken Greuel-Thaten / Der Welt und Vorwelt Suenden fuer.“ (IS P, 41–42) Die Osmanen übertreffen gar das unvergessliche Böse, das aus Geschichte und Mythos herausragt. Dies wiederum lässt sich gar auf das Verhältnis von römischem

hier S. 92 in einer Reihe von zugegeben harmloseren und doch umfassenden Beispielen illustriert: „Seine [des Osmanen] Kultur ist nicht nur anders als die christliche, sie ist das Gegenteil davon. Der Türke ist für sie ein Wesen, das alles genau anders herum macht: er kleidet sich wie eine Frau in weite Kleider, die er Kaftane nennt, während eine Frau eine Hose trägt und sich wie ein Mann kleidet; im Gegensatz zum Christen hat der Türke das Recht, mehrere Frauen zu besitzen, gleichzeitig: wenn er reich ist, nacheinander: wenn er arm ist; der Türke setzt sich auf den Boden, er isst auf dem Boden sitzend; er schreibt verkehrt herum: von rechts nach links; er uriniert verkehrt: gebückt wie eine Frau; letztlich tötet er auch verkehrt, nicht durch Köpfen, sondern durch Pfählen. Kurz gesagt, der Türke ist das perfekte Gegenteil des Europäers.“ 36 Es sei hier auf Kapitel 5.2.1 verwiesen, wo die naturphilosophischen und moraltheologischen Implikationen der Wollust – sowie der reinen Liebe – bei Lohenstein skizziert wurden. Dies soll hier sowie im Folgenden als Voraussetzung gelten. 37 Vgl. IS P, 35–40.

6.1 Ibrahims Bosheit und der Rückzug der Natur

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und osmanischem Trauerspiel übertragen. Denn die vom Bosporus genannten Beispiele dienen auch in der Agrippina als Referenzpunkte für Neros Bosheit, bzw. hat Nero mit dem Inzest gar selbst ein Verbrechen von förmlich mythologischer Größe verübt. Neros unvergessliche Bosheit, der Lohenstein mit der Agrippina ja ein mahnendes Denkmal gesetzt hat, taugt im Ibrahim Sultan selbst nur mehr als Referenzpunkt und wird übertroffen.38 In der Vorher-Nachher-Darstellung des Prologs sowie im Verhältnis von römischem und osmanischem Trauerspiel, zwischen Geschichtsdrama und Gegenwartsdrama, lässt der Jetzt-Zustand alles bisher Dagewesene – „Der Welt und Vorwelt Suenden“ – hinter sich. Wie bereits weiter oben bemerkt wurde, ist Sultan Ibrahim schließlich der Kulminationspunkt dieser Jetzt-Zeit und Repräsentant der äußersten Perversion der Macht. Auf ihn läuft der Abriss der osmanischen Gräuelherrschaft schließlich zu und Ibrahim wird zum Exponenten einer wollüstigen Despotie: Jch kan mehr den Gestanck der schwartzen Unzucht-Kertzen Des Jbrahims vertragen nicht. Es muß sich mein Crystall von seiner Boßheit schwaertzen / Stambuldens Glantz verliehrn ihr Licht. (IS P, 45–48)

Mit dem „Gestanck der schwartzen Unzucht-Kertzen“ (IS P, 45) ist auf den schwarzen Amber verwiesen, der neben seiner Verwendung als Parfüm und Gewürz auch als Räucherwerk eingesetzt wurde.39 Die spezifische Formulierung „Unzucht-Kerzen“ deutet dabei auf die aphrodisierende Wirkung von Amber hin. Mit seiner notorischen Wollust, die noch nach künstlicher Stimulation verlangt, verschmutzt Ibrahim die Atmosphäre. Die Unzucht als Verderbnis der reinen Natur und damit als Manifestation des Bösen drückt sich sodann auch darin aus, dass ganz explizit „seine[] Boßheit“ ebenfalls das kristallklare Wasser des Bospo-

38 Zwar sieht auch Rau: Leiblichkeit als paradigmatische Fremde, S. 282 hier „ausgesprochen, was das Türkische mit dem Römischen Trauerspiel vor allem verbindet“. Jedoch geht er davon aus, dass sowohl der osmanischen Herrschaft als auch der vorchristlichen Antike der Inzest als „Determinante der tyrannischen Handlung überhaupt“ eigne und verkennt dabei, dass der Skandal der osmanischen Herrschaft gerade darin besteht, diese und ähnliche Determinanten weit hinter sich zu lassen. Ähnliches gilt nämlich auch für die Welt im Status des rigor mortis: Während Nero (und sein Magier Zoroaster) dies als Machtgestus lediglich für sich proklamierten, ohne ihn erfolgreich in die Tat umzusetzen, haben die Osmanen den natürlichen Lauf der Dinge, wie die Natur selbst berichtet, arretiert. 39 Die schwarze Ambra wird „nur zu Amber-Aepffeln, Raeucher-Kertzen und dergleichen genommen: Auch nur von den Parfumirern, allerhand Galanterien damit wolriechend zu machen“ (Art. Ambra nigra. In: Zedler: Universal-Lexicon, Bd. 1, S. 838, Sp. 1697).

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rus schwärzt.40 Luft und Wasser werden gleichermaßen verunreinigt, sodass seine Bosheit geradezu ubiquitär erscheint. In der hier entwickelten Licht- und Farbmetaphorik, die der Prolog aus der Widmungsvorrede aufgreift, führt dies eine Verdunkelung der Welt herbei, die ihrerseits die Trübung der Vernunft durch die lasterhaften Affekte reflektiert. Die Unzucht markiert dabei gerade den schändlichen Übertritt von einem Status der Reinheit, hier repräsentiert durch den „Crystall“ des Wassers, in einen der Unreinheit, hier metaphorisiert als Schwärzung. Dies wird noch durch den maßlosen Gebrauch des Aphrodisiakums von Ibrahim forciert, sodass „seine Boßheit“ noch weiter pointiert ist. Anders jedoch als seine ebenfalls erotisch-exzessiven Vorgänger, die auch unter dem Einfluss von „Geilheits-Oel und Schwefel toller Brunst“ (IS P, 31) ihre Macht stets behauptet haben, wird unter Ibrahims Regierung parallel zur Natur sodann auch das Osmanische Reich dem Verfall preisgegeben, pars pro toto repräsentiert durch seine Hauptstadt, wobei „Stambul“ hier als osmanische Bezeichnung in Abgrenzung zu „Byzanz“ (IS P, 43) verwendet wird. Sowohl die natürliche als auch die politische Umwelt ist kontaminiert. Die imperiale Strahlkraft („Glantz“ und „Licht“) wird ebenfalls eingedunkelt und es bereitet sich damit die in der Widmungsvorrede angekündigte „Verfinsterung eines Oßmannischen Mohnden“ vor.41

40 Ganz ähnlich klagt auch der Tyber im dritten Reyen der Epicharis, nur ist es dort Neros Mordlust, die den Fluss kontaminiert: Hier wird der „Chrystall in Blutt“ (E III, 727) verwandelt, was wiederum auf den Himmel reflektiert, wenn „durch meinen Wiederschein / Die weißen Ochßen sich beflecken“ (E III, 756–757). Auch Neros Bosheit kontaminiert hier die Natur und den Kosmos, repräsentiert durch die Ochsen, die den Mondwagen der Göttin Diana ziehen. 41 Eine solche Verdammungsrede ist auch dem Ibrahim Bassa vorangestellt, vermittelt durch die bereits oben erwähnte Allegorie des Kontinents Asien, der „in gestalt einer Frauen von den Lastern angefaesselt auff den Schauplatz gestaellet“ (IB, S. 13) wird. Die Klage Asiens über den eigenen Verfall und den Verlust des ehemaligen Weltruhms unter der gegenwärtigen osmanischen Herrschaft gipfelt in der Anklage des Sultans Soliman (historisch Süleyman I., regierte von 1520 bis 1566). Dieser wird eindringlich als „Ha Bluthund! Bluthund ha! unmenschlichs Mensch! verzweiffelter Tyrann / durch Teuffeltes Gemuth / Ertzt-Moerder Soliman! Ertz-Moerder!“ (IB I, 87–89) apostrophiert und schließlich der göttlichen Gerichtsbarkeit überantwortet. Jedoch hält die dramatische Handlung des Ibrahim Bassa nicht, was die Vorrede verspricht. Soliman ist nämlich keinesfalls der Tyrann, den wir nach dem Prolog erwarten. Die erste Hälfte des Dramas widmet sich Solimans innerem Konflikt zwischen Begierde und Vernunft, bevor er zum Opfer einer Hofintrige wird, die von seiner Gattin Roxelane, seinem Berater Rusthan und dem Mufti – sie wären hier als Agenten des Bösen anzuführen, die durch Einflüsterungen danach streben, die Macht des Souveräns zu entfesseln – orchestriert ist. Soliman ordnet daraufhin die Ermordung seines Vertrauten, des Titelhelden Pascha Ibrahim, an, erscheint dabei jedoch weniger als blutdurstiger Tyrann denn vielmehr als schwacher Herrscher.

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Es kann zusammengefasst werden, dass der Bericht des Bosporus von der Tyrannei der Osmanen klimaktisch organisiert ist: Zu Beginn seiner Rede hatte der Bosporus noch eher abstrakt das „wuetten“ von „Thrax und Tuercke“ als Grund seiner Flucht angegeben. Was im Folgenden als „Mord und Unzucht“ weiter ausdifferenziert wurde, findet sich nun in Ibrahims wollüstigem Despotismus pointiert, sodass der Bosporus seine Ausführungen mit der nunmehr rein rhetorischen Frage beschließt: „Wie soll ich nun [während Ibrahims Herrschaft] nicht mein Gestade fliehen / Zu Ruh und Lust an frembdes Ufer ziehen?“ (IS P, 49–50) Die Veränderung in der Natur ist somit nur die notwendige Konsequenz, die aus Ibrahims „Boßheit“ zu ziehen ist. Hatte zu Beginn des Prologs also noch das bloße Symptom dieser Störung der Natur „[be]fremdet“ (IS, P, 1), so ist nun deren Ursache ausgemacht und beim Namen genannt: Ibrahim. Nicht nur für die Fließrichtung des Bosporus, sondern auch im Aufbau seiner Rede ist damit der Wendepunkt erreicht. Der Prolog mündet in das Lob Habsburgs, das als „Teutsche[] Sonne“ (IS P, 56) das Ideal der Staatsvernunft repräsentiert und erwartungsgemäß mit seiner imperialen Macht alles, vor allem das Osmanische Reich und seinen Sultan, überstrahlt.42 Der Bosporus flieht deshalb auch nicht mehr vorrangig vor Ibrahim, sondern strömt nun aus Liebe zum Guten nach Wien, um sich mit der „Donau zu vermaehlen“ (IS P, 78). Mit der keuschen Ehe möchte der Bosporus es dem Habsburger Brautpaar gleichtun. Durch diese Liebe zum Guten, die sich in der imitatio des Beispielhaften manifestiert, befindet sich der Vorredner schließlich in Übereinstimmung mit der göttlichen providentia. Dies befähigt ihn zu guter Letzt auch zur Transzendenz. Die Überschreitung der eigenen physischen Grenzen in einem Streben nach dem Guten geht also einher mit einem Überwinden der Grenzen zwischen Immanenz und metaphysischer Wahrheit. Er erkennt die Verhängnisordnung und wird zu deren Verkünder: „Jch weiß es: das Verhaengniß sinne: / […] keusche Liebe baut die Thron’ / unkeusche reisst sie ein.“ (IS P, 99–104) Dieser Lehrsatz, der ja eine Paraphrase des Ideals vom

Obwohl er am Ende fürchterlich scheitert, demonstriert der Sultan – ganz „untürkisch[]“ (Ebert: Vom Barbaren zum aufgeklärten Herrscher, S. 134) – ein Gewissen und Reue, wenn er u. a. von sich selbst sagt: „der Keiser hat den Mord erbaermlich selbst beraeuet /“ (IB V, 299). Soliman zeigt sich damit fähig zu (christlichen) Tugenden, die damit eben nicht ausschließlich christlich, sondern universell erscheinen. Der Ibrahim Bassa verhandelt an der Figur des Sultans also viel eher einen universellen Konflikt um moralische Integrität und gerechte Herrschaft als dass hier die Abgründe eines verworfenen osmanischen Despoten zur Darstellung kommen, wie noch der Prolog suggeriert. 42 Alt: Begriffsbilder, S. 267 verweist auf die Ähnlichkeiten, die der Prolog des Ibrahim Sultan in diesem Aspekt mit dem Epilog der Sophonisbe aufweist.

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matrimonium politicum et morale ist, beschließt sodann den Prolog und öffnet den Schauplatz für die dramatische Handlung.

6.2 Expositio immoralis et politica: Die erste Abhandlung Ibrahims ungeheuerliche Verworfenheit, seine „boese Lust“ und „boese Regierung“, kommt in den Abhandlungen zur Darstellung. Lohenstein wählt für den Ibrahim Sultan einen Einstieg in medias res, indem er in der ersten Szene des Dramas die versuchte Vergewaltigung der Sisigambis vorführt. Dieser Einstieg sorgt gleich zu Beginn für einen Schockmoment, durch den die Bedrohung durch Ibrahim als potentieller erotischer und politischer Übergriff zur Aufführung gelangt, auch wenn die tätliche Konfrontation zwischen Ibrahim und Sisgambis im letzten Moment verhindert werden kann. Während die versuchte „Entweihung“ der Sisigambis Ibrahims Unzucht ganz unmittelbar veranschaulicht, findet in den folgenden Szenen eine Reflexion von Ibrahims wollüstiger Despotie durch seine Berater statt, um diese affektpathologisch, politisch und historisch zu verorten. Die Sultansmutter Kiosem liefert eine Anamnese seiner lasterhaften Konstitution, die unter dem Begriff der luxuria gefasst werden kann, und warnt daraufhin vor ihren potentiellen politischen Konsequenzen. Letzteres wird in einer anschließenden Szene, in der „die grossen Bedienten sich versamlen“43, noch weiter konkretisiert. Dort werden Ibrahims luxuria und ihre Auswirkungen auf seine Regierung nicht nur außen- und innenpolitisch sowie historisch perspektiviert, sondern als Indikatoren des imperialen Verfalls ausgedeutet. Insgesamt werden in der ersten Abhandlung die Abgründe von Ibrahims „boeser Lust“ und „boeser Regierung“ ausgeleuchtet, um als Exposition des Schauspiels des Bösen den zentralen Konflikt, der sich später um die Vergewaltigung der Ambre entfalten wird, in all seinen Facetten vorzubereiten.

6.2.1 In medias res: Die versuchte Entweihung der Sisigambis Das Drama setzt damit ein, dass Ibrahim sich gewaltsam Zugang zum Schlafgemach von Sisigambis, der Witwe seines Bruders, verschafft, um sie zum Beischlaf zu zwingen. Ibrahims erster Auftritt, seine erste Handlung (und damit die erste Handlung des Dramas überhaupt) ist geprägt durch eine radikale Grenzüberschreitung. Indem Ibrahim in diese „Oda / oder ein Gemach des

43 IS, S. 43 (Bühnenanweisung).

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Frauenzimmers im Seraglio“44 einbricht, dringt er gewaltsam in diesen Innenraum der Weiblichkeit vor. Der Harem wird hier zum Schauplatz par excellence, auf dem der zentrale Konflikt um Erotik und Politik vorgestellt wird.45 Mit der ersten Szene befinden wir uns folglich inmitten der (osmanischen) Dinge, also in medias res. Treten wir einen Schritt zurück, so fällt auf, dass gleichzeitig durch die dramatische Dichtung selbst in das geheime Innere, das Zentrum der osmanischen Macht vorgedrungen wird. Dass dabei auch ein voyeuristischer Reiz von der exotisierten und erotisierten Sphäre auf den Zuschauer ausgeht, ist kaum von der Hand zu weisen.46 Doch nicht nur hier, wo der Schauplatz spezifisch als „Oda“ gekennzeichnet ist, sondern für fast alle Szenen gibt Lohenstein ganz genau an, wo im oder um den Sultanspalast die jeweilige Handlung stattfindet. Auf diese Weise suggeriert Lohenstein, einen exklusiven Einblick in das Innerste des osmanischen Reichs zu haben und zu gewähren, einen uneingeschränkten Zugang also, der Außenstehenden eigentlich grundsätzlich verwehrt bleibt. Lohenstein kreiert damit eine Illusion, da nicht einmal die Autoren seiner Quellen, auf die er sich in seinen Anmerkungen stützt, einen solchen Zugang zum Topkapı-Palast hatten.47 Diese Illusion dient eben genau dazu, das Publikum hinsichtlich der vermeintlichen Überlegenheit des Osmanischen Reiches restlos zu desillusionieren. Darin profiliert sich nicht zuletzt auch die exterritoriale Macht Habsburgs (als intendiertem Publikum) bzw. die Lohensteins als deren Agent. Während im Drama nämlich die Reichweite von Ibrahims tyrannischer Macht bzw. deren Grenzen verhandelt werden, manifestiert sich im unumschränkten Blick des Publikums seine eigene Überlegenheit. Alleine wer auf den

44 Ebd., S. 23. 45 Dass es sich dabei um einen Topos der frühneuzeitlichen, europäischen Dramatik handelt, die sich der osmanischen Thematik widmet, erklären – jedoch ohne Bezug auf Lohenstein oder die deutschsprachige Dichtung zu nehmen – Alexander Bevilacqua, Helen Pfeifer: Turquerie. Culture in Motion, 1650–1750. In: Past & Present, Vol. 221 (2013), S. 75–118, hier S. 108. 46 Vgl. Colvin: The Rhetorical Feminine, S. 48–49, die herausarbeitet, dass Lohenstein mit seiner Haremsdarstellung als einem „view through the peephole“ die Tradition von Orientdarstellungen vor allem in der bildenden Kunst des 18. und 19. Jahrhundert antizipiert. Zum Orientalismus in der europäischen Malerei der Frühen Neuzeit siehe weiterführend Nina Trauth: Maske und Person. Orientalismus im Porträt des Barock. Berlin, München 2009 (Kunstwissenschaftliche Studien 157), zu Haremsbildnissen bes. S. 151–174. 47 Zu den räumlichen Restriktionen, mit denen die Autoren Ogier Ghislain de Busbecq, Maiolino Bisaccioni, Paul Ricaut und Francisco Sansovino konfrontiert waren, siehe Jane Newman: Disorientations: Disorientations. Same-Sex Seduction and Women’s Power in Daniel Casper von Lohenstein’s “Ibrahim Sultan”. In: Colloquia Germanica, Vol. 28 (1995), S. 337–355, bes. S. 347.

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Schauplatz gerichtet den Überblick behält, hat die Vormachtstellung inne und kann diese potentiell auch behaupten.48 Bereits hier, in der ersten Szene des Dramas, ist das Vorrecht des Schauens somit zentral für die Verhandlung der Machtverhältnisse. Wird der Blick nun wieder auf die innere Handlung der ersten Szene gerichtet, so wird das Schwert, das Ibrahim bei seinem Einbruch in Sisigambis’ Schlafgemach bei sich trägt, zum Symbol seiner gewaltsamen Grenzverletzung. Sisigambis ruft beim Anblick der Waffe aus: „Ach GOtt! was dreut uns sein hier ungewoehnlich Schwerd?“ (IS I, 5) Lohensteins Anmerkungen ist zu entnehmen, dass das Schwert „hier ungewoehnlich“ sei, weil es nicht einmal dem Sultan erlaubt war, im Serail einen Säbel mit sich zu führen. Das Tragen von Waffen sei allein im Krieg üblich.49 Im europäischen Absolutismus wiederum steht das Schwert des Herrschers für seine unumschränkte Gewalt als Kriegsund Rechtsherr. Dies findet sich hier jedoch pervertiert, wenn Ibrahim das blanke Schwert mit zweifellos phallischem Charakter zur bloßen sexuellen Befriedigung gegen seine Schutzbefohlene wendet. Damit ist nicht zuletzt das Ideal des matrimonium morale et politicum ins Negative verkehrt.50 Alles deutet darauf hin, dass auch die politische Ordnung durch Ibrahims wollüstige Gewalt gestört ist, sodass sich in der Konfrontation von Ibrahim und Sisigambis der Skandal seiner Despotie und damit der zentrale Konflikt des Dramas expositorisch widerspiegelt. Die Grundkonstellation dieser physischen, sittlichen und rechtlichen Grenzverletzung findet sich noch weiter verschärft durch die Konzeption der Figur Sisigambis: War die verwitwete Schwägerin des Sultans in den von Lohenstein konsultierten Quellen noch namenlos, so verweist der Name, den Lohenstein ihr gegeben hat, auf die antike persische Königin Sisygambis. Von ihr wird berichtet, dass Alexander der Große sie, nachdem ihr Sohn im Anschluss an eine Niederlage gegen die Griechen ermordet wurde, mit großer Milde und Güte behandelt habe.51 Allein vor diesem Hintergrund wird Ibrahims Lasterhaftigkeit kontrastiv noch weiter hervorgehoben: Wo Alexander darum bemüht war, die Ehre seiner

48 Diese Art der Beobachtungsverhältnisse war auch in der Eröffnungsszene der Agrippina von einschlägiger Bedeutung, jedoch lediglich für die Vermessung der Machtverhältnisse innerhalb des Trauerspiels, nicht im Verhältnis des Dargestellten zu seinem Publikum, siehe Kapitel 5.1.1. In beiden Fällen aber gilt: „‚Kaiser‘ ist hier nur noch der, dem es gelingt, sich als Letzter in der Kette der Beobachter zu positionieren.“ (Lüdemann: Beobachtungsverhältnisse, S. 87). 49 IS Anm. Lohenstein, S. 206, Z. 62–73. 50 So auch Wild: Theater der Keuschheit, S. 91. 51 Vgl. Joseph Wiesehöfer: Art. Sisygambis. In: DNP, Bd. 11, Sp. 598.

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Feindin auch noch in ihrer Niederlage zu wahren, verfolgt Ibrahim die Absicht, seine eigene Schwägerin durch Notzucht zu entehren. Alexander fungiert hier implizit als historisches exemplum des Kriegs- und Völkerrechts, während Ibrahim ein Verbrechen begehen will, das nicht einmal im Krieg an den Feinden verübt werden darf.52 Dies wird durch die politischen und militärischen Implikationen des exemplums ergänzt, da Alexander ein „westlicher“ König war, der weit nach Osten expandierte und damit ein Gegenbild zu den Osmanen liefert, die seit über hundert Jahren intensiv nach Westen vordringen. Bereits hier sind also erotische und politische Expansion miteinander verknüpft. Ihre potentielle Entehrung wird von Sisigambis wiederum explizit als „Entweihung“ adressiert, bzw. ist der Dialog zwischen Ibrahim und Sisigambis sogar von der Berufung auf das Verbrechen als „Entweihung“ gerahmt.53 Die Notzucht markiert hier also nicht „nur“ eine physische, ethische und rechtliche Grenzverletzung, sondern verstößt auch und vor allem gegen die lex divina.54 Dieser Grundsatz ist durch Sisigambis’ Status der Witwenschaft noch weiter akzentuiert. Nach frühneuzeitlicher moraltheologischer Vorstellung nämlich ist die Witwe aufgrund ihrer Enthaltsamkeit in einen Zustand der spirituellen

52 Auch Béhar: Silesia tragica, Bd. 1, S. 147 interpretiert Lohensteins Namenswahl als Absicht, Ibrahims Lasterhaftigkeit noch deutlicher hervortreten zu lassen. Dass im Zuge von Lohensteins Herrscherlob Leopold I. als Figuration Alexander des Großen arrangiert ist, zeigt ein Blick auf die Widmungsrede: „Denn / wie soll ein so grosser Kaeyser [gemeint ist Leopold] ietzt einen ihm anstaendigen Redner oder Tichter finden? Da der grosse Alexander in dem bluehenden Griechen-Lande schon ueber den Abgang eines Homerus geseuftzet“ (IS, S. 7 [Zuschrifft]) In dieser Konstellation ist Lohensteins nichts weniger als der Homer Leopolds und seiner eigenen Zeit, sodass das Herrscherlob wiederum zum Dichterlob wird. – Zu den kriegsund völkerrechtlichen Implikationen vgl. Hugo Grotius: De iure belli ac pacis. Libri tres. Hg. von Bernardina de Kanter-van Hettinga Tromp. Aalen 1993, lib. II, cap. 1, § VII, S. 174, der maßgeblichen Einfluss auf Lohensteins juristische Studien, insbesondere die Herausbildung seines Naturrechtsbegriffs, hatte. 53 Zu Beginn der Szene fragt Sisigmabis: „Wie? sucht der Kaeyser / hier die Keuschheit zu entweihen?“ (IS I, 3) Am Ende ruft sie entsetzt aus: „Hilff Himmel! [Es] will der Fuerst durch Noth-Zwang uns entweyh’n.“ (IS I, 165). Später wiederholt sie dies gegenüber Kiosem und Sekierpera noch einmal: „Er hat sich mit Gewalt mich zu entweihn erkuehnet.“ (IS I, 220). 54 Dies findet sich u. a. bei Grotius: De iure belli ac pacis, lib. II, cap. 1, § VII, S. 174 expliziert, der sich dabei auf die Autoritäten Seneca (De beneficiis, lib. I, cap. 11) und Augustinus (De libero arbitrio, lib. I, cap. 5) beruft: „[…] et lex divina pudicitiam vitae adaequet“. [„Dies ist kaum bestritten, da […] auch das Gesetz Gottes die Keuschheit dem Leben gleichstellt“ (Hugo Grotius: Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens. Nebst einer Vorrede von Christian Thomasius zur ersten deutschen Ausg. des Grotius vom Jahre 1707. Neuer deutscher Text und Einleitung von Walter Schätzel. Tübingen 1950, S. 139)].

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Keuschheit versetzt, der zeitlebens unangetastet bleiben soll. 55 Die keusche Witwe ist damit ganz grundsätzlich mit der Jungfrau verwandt, im paulinischen Sinne ist sie sogar Jungfrau.56 Die versuchte Notzucht der Witwe Sisigambis antizipiert also die spätere Vergewaltigung der Jungfrau Ambre. Ibrahims Verbrechen stellt damit einen gar exemplarischen casus der Wiederholungstat dar, der von Lohenstein theoretisch in De voluntate verarbeitet wird: „Ex numero constat de enixa ejus voluntate, qui cum quid benè aut malè facere semel animo proponit, tum verò non facit, post iterum sibi proponit, & facit;“57 Es handelt sich also nicht um ein einfaches Verbrechen. Durch das repetierende Moment manifestiert sich vielmehr eine Dynamik der Selbstüberbietung, die Ibrahims „Boßheit“ eignet. Die durch ihre Witwenschaft erworbene Keuschheit – und damit ihr Verhältnis zu Gott – hat Sisigambis noch dazu aus sich selbst heraus mit einem Gelübde besiegelt: „Hab ich durch theuren Eyd die Keuschheit seinem [ihres verstorbenen Gatten Amurath, historisch: Sultan Murad IV.] Geiste / Biß in den Tod gelobt.“ (IS I, 123–124) Die Verbindung von Sisigambis und Amurath wird damit noch über den Tod ihres Gatten hinaus als eine Art transzendente, keusche Ehe aufrechterhalten, wodurch sie unweigerlich in die Nähe des christlichen Ideals der keuschen Ehe gerückt ist und so für Lohensteins intendiertes Publikum zum Identifikationsmoment wird. Da der „theure Eyd“ eine „Beteuerung gegenüb er der Gottheit“ 58 einschließt, hat sie sich in ihrem Keuschheitsgelübde nicht nur ihrem verstorbenen Ehemann, sondern auch Gott verpflichtet. Die Notzucht würde deshalb letztlich eine doppelte Entweihung bedeuten, nämlich sowohl ihrer „Keuschheit“ (IS I, 3) als auch dieses „theuren Eydes“.

55 Eine Zusammenfassung frühneuzeitlicher Verhaltenscodices für Witwen findet sich bei Britta-Juliane Kruse: Witwen. Kulturgeschichte eines Standes in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2007, S. 3. So wurde von ihnen erwartet, dass sie „nicht wieder heirateten und sich auf diese Weise gedanklich von der ersten Ehe entfernten, sondern keusch lebten, ihre Sinneswahrnehmungen kontrollierten, auch im Andenken an den Verstorbenen ihren guten Ruf wahrten, sich zurückhaltend kleideten und auf die Glaubenspraxis konzentrierten“. 56 Zur Verwandtschaft von Jungfrau und Witwe, siehe Kapitel 5.2.1. 57 Lohenstein: De voluntate, S. 20 – „Hinsichtlich der Zahl gilt Bestimmtheit des Willens bei demjenigen als zweifellos vorhanden, der, wenn er sich einmal im Geiste vorgenommen hat, etwas gut oder schlecht zu machen, es dann aber nicht tut, es sich danach wiederum vornimmt und auch tut“ (Lohenstein: De voluntate, S. 21). Es zeigt sich, dass auch hier die Dichtung für Lohenstein zu einem „Experimentierfeld juristischer Urteilssuche“ (Wichert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz, S. 280) wird. 58 Dieser Hinweis verdankt sich Mundt: Kommentar Ibrahim Sultan, S. 876, der sich dabei auf Art. theuer. In: DWb Bd. 21, Sp. 367–371, hier Sp. 370 beruft.

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Gerade weil die physische Schändung sich hier zu einer metaphysischen Schändung auswächst, will Ibrahim sein widriges Begehren naturrechtlich legitimieren und im selben Zuge Sisigambis’ Schwur die Verbindlichkeit absprechen: Das Lieben aber hat diß Recht und Eigenthum: Daß kein Geluebde nicht auch kein Gesetz’ es bindet. Denn hier schafft die Natur / und die Vernunfft verblindet Durch der Begierden Rauch. Sonst soll ein ieder zieln Auff Glauben / aber hier mag man mit Eyden spieln. (IS I, 126–129)

Ibrahim formuliert hier eine blasphemische Naturlehre, in der die Wollust zum Naturgesetz erhöht ist. Als entfesselte Naturkraft verfüge sie über eine eigene Rechtmäßigkeit, die sowohl von göttlichen („Geluebde“) als auch weltlichen („Gesetz’“) Vorschriften entbinde und auch die Vernunft als innere Kontrollinstanz suspendiere.59 Damit löst er nicht zuletzt die Natur selbst auf sündige Weise aus jeglicher metaphysischen und sittlichen Ordnung heraus.60 Das Böse besteht hier nicht mehr in der Gesetzes- oder Grenzverletzung, sondern darin, dass Ibrahim diese Ordnung und damit ihre implizite Übertretung negiert und die Naturgewalt an ihre Stelle setzt. Im entgrenzten Trieb waltet und wuchert die Natur frei bzw. „schafft“ sie dort. Die Natur wird hier also zu einem chaotischen Prinzip, das schafft – im Sinne von „wirken“ und „schöpfen“ –, indem es Ordnungen (zer-)stört. In letzter Konsequenz ist damit impliziert, dass der Mensch unter dem Gesetz dieser Naturlehre, d. h. im Exzess selbst zu einem Schöpfergott erwächst, der aus dem Chaos der Natur geboren wird. Die lästerliche Irrlehre, mit der Ibrahim die Wollust und damit das Böse als Naturgewalt propagiert, weiß dann auch die tugendhafte Sisigambis sogleich als „Aberglaube“ (IS I, 131) und „der Thorheit Lehre“ (IS I, 135) zu entlarven. Da Sisigambis die naturhafte Macht der Geilheit nicht anerkennt, überführt Ibra-

59 Ibrahim redet hier der Begierde selbst das Wort, die im zweiten Reyen beansprucht: „Was fleischlich ist / ist meiner Satzung Halter / Die die Natur in Fleisch und Adern schrieb.“ (IS II, 569–570) Weder in den Abhandlungen noch im Reyen hat sie jedoch in letzter Konsequenz eine Chance gegen die Keuschheit, die zuletzt alle Laster überwindet und den Siegeskranz davonträgt. Siehe dazu sowohl das Ende des zweiten Reyen (IS II, 683–692) als auch den fünften Reyen, der das gesamte Drama beschließt. 60 Ibrahims rhetorische Operation, mit der er die Natur von ihrem gottgegebenen sittlichen Wesenskern löst, hatte auch Agrippina im Rahmen ihrer Inzestrede vorgenommen, um von ihrer widrigen sexuellen Absicht zu überzeugen. Während jedoch Agrippina mit ihrem unlauteren Unternehmen immer noch ihr eigenes (politisches) Überleben sichern wollte, folgt Ibrahim hier einzig seiner Triebnatur, was seine Absichten umso niederer erscheinen lässt.

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him daraufhin seine exzessive Wollust auf das Feld der Expansionspolitik. Seine entgrenzte erotische Potenz ist damit in seiner militärischen potestas – sein Ruhm durchdringt Asien von der „Wolge“ (IS I, 141) bis nach „Pecking“ (IS I, 145) – reflektiert. Wollust und Kriegslust koinzidieren, sodass Sisigambis’ Körper nur zu einem weiteren Territorium wird, das es sich mit Gewalt anzueignen gilt. Diese exterritoriale (Liebes-)Politik Ibrahims wird in der nächsten Szene von keiner Geringeren als Ibrahims Kupplerin Sekierpera gar historisch kontextualisiert und damit legitimiert: Jst solcher Liebes-trieb bey Fuersten unerhoert? / Und zu Stambulden neu? [...] Ja in den Zimmern klebet Durch andre Sultane vorhin verspritztes Blut Der Weiber / die verschmaeht aus thoerchten Ubermuth Verliebter Herren Gunst. Das Schwerdt / das uns erstritten / Des Constantinus Reich / hat ebenfals durchschnitten / Ein so verstocktes Weib.61 (IS I, 221–229)

Sekierpera zeigt auf, dass es sich bei der buchstäblichen Überschneidung von „Liebes-trieb“ und Expansionstrieb gar um eine Art „osmanische Tradition“ handele, die sich auch im Zusammenhang mit dem größten außenpolitischen Erfolg – gemeint ist die Eroberung Konstantinopels als „Des Constantinus Reich“ – bewährt hat. Dem Publikum wird auf diese Weise das Kontinuum dieser erotischmilitärischen Praxis (und damit der osmanischen Dominanz in Europa) schmerzhaft vor Augen geführt. Da die Wände des Harems mit Feindes- und Frauenblut imprägniert sind, wird einmal mehr deutlich, dass dieser den geeigneten Schauplatz für ein solch grausames Schauspiel von Erotik und Politik bereitstellt. Der expansive Trieb des erotischen sowie politischen Aggressors Ibrahim findet seine Begrenzung jedoch in Sisigambis’ Keuschheit. Als er erkennt, dass sie „Macht hat zu versagen“ (IS I, 164), will er selbst schließlich Taten sprechen lassen und seine unumschränkte Gewalt durch die Vergewaltigung beweisen.

61 Das Korrelat von Wollust und Kriegslust legt auch Wild: Theater der Keuschheit, S. 90–91 in seiner Interpretation dieser Textstelle offen: „Mit einem Streich erstreitet und durchschneidet das phallische Schwert fremde Territorien und verstockte Frauen, die wechselseitig füreinander einstehen.“ Mit Rückgriff auf Jean Bodin: Sechs Bücher über den Staat. Übersetzt und mit Anm. versehen von Bernd Wimmer. Eingeleitet und hg. von Peter Cornelius Meyer-Tasch. 2 Bde. München 1981–1986. Bd. 1, S. 353 ist sowohl die osmanische Tradition im Allgemeinen als auch Ibrahims Vorgehen im Speziellen bereits hier zweifellos als Tyrannei ausgewiesen: „Ein König achtet die Ehre der anständigen Frau, dem Tyrannen hingegen bedeutet ihre Schändung Triumph.“

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So drängt er mit seinem phallischen Schwert erneut auf die Witwe ein und befiehlt: „Gib dich! sonst soll dein Blut hier diesen Dolch bespritzen.“ (IS I, 178) Ihre Keuschheit wird Sisigmabis hier jedoch zum patenten Mittel des Widerstands, das sie der drohenden Invasion des Bösen entgegensetzt.62 Denn zur Verteidigung zückt Sisgambis ihrerseits ein Messer, das geradezu als Materialisierung ihrer Keuschheit erscheint: „So sol diß Messer mich fuer Dolch und Unzucht schuetzen.“ (IS I, 178) Es zeigt sich, dass ihre Keuschheit die Macht des Despoten im Notfall verletzen bzw. beschneiden kann.63 Als Möglichkeit oder, besser gesagt, als Notwendigkeit kehrt diese potentielle Verletzung der entgrenzten Majestät auch an späterer Stelle wieder. In der dritten Abhandlung bricht Ibrahim – ebenfalls von Wollust getrieben – ein zweites Mal bewaffnet in den Harem ein, diesmal, um seine Söhne zu ermorden. Auch hier wird das exzessive Moment deutlich, das Ibrahims Bosheit inhärent ist. War Sisigmabis „nur“ seine Schwägerin, so richtet er nun seine Gewalt gegen seine eigenen Nachkommen. Wird Sisigambis nur mit dem Schwert bedroht, so sticht er bei seinen Söhnen gleich doppelt zu. Die Gefahr, die Ibrahim damit für seinesgleichen – sowohl für das Herrschergeschlecht als auch das Reich – bedeutet, wird unmittelbarer, da seine Söhne die Kontinuität der osmanischen Dynastie garantieren sollen. Deshalb erscheint auch die innere Not zur Verteidigung gegen Ibrahim immer dringlicher. An dieser Stelle fordert dann auch die Sultansmutter Kiosem zur Notwehr auf: „Jhr Kinder / nun ist’s Zeit / Daß ihr die Messer zueck’t.“ (IS III, 297–298) Geradezu proportional zur Potenzierung seiner Verbrechen vermehren sich also auch die Messer, die gegen Ibrahim im Spiel sind. Das eine Messer, das Sisigambis gegen Ibrahim richtet, wird zu den Messern der Kinder vervielfältigt. Diese Szenen, die einerseits den Anfang, andererseits die Mitte des Dramas bilden, nehmen die Katastrophe, nämlich Ibrahims Sturz, vorweg. Die Revolte wird schließlich von den Janitscharen, einer Eliteeinheit der Armee, geführt, die als Gesamtheit und jeder für sich das Kriegsschwert des Osmanischen Reichs tragen. Dieses Schwert, das der Souve-

62 Im Arminius-Roman nennt Lohenstein die Notzucht gar „das Böse“, das es jederzeit gilt, abzulehnen, vgl. Lohenstein: Arminius, Bd. 1, S. 431b. In ihrer Analyse zu dieser Stelle des Arminus, die ja das Verbrechen der Notzucht in Form einer Disputation abhandelt, erklärt Dane: Zeter und Mordio, S. 202, dass der Begriff der Keuschheit hier von der physischen Unbeflecktheit ausgeweitet würde „zu einer kämpferischen, ja heroischen Tugend“. Dieses Ideal repräsentieren im Ibrahim Sultan sowohl Sisigmabis als auch Ambre, wie die noch zu leistende Analyse zeigen wird. 63 Wild: Theater der Keuschheit, S. 71 entdeckt hier eine „Kastration bzw. Entmännlichung“ der Majestät durch die Keuschheit.

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rän wiederholt gewaltsam gegen seine Schutzbefohlenen richtet, wendet sich letztlich gegen ihn. Als notwendiges Übel ist die Verletzung der Majestät von der ersten Szene an im Drama angelegt. Sisigambis jedoch muss ihr Messer gegenüber Ibrahim nicht benutzen, da der Sultan in seiner Absicht jäh unterbrochen wird, als seine Berater – seine Mutter Kiosem, seine Kupplerin Sekierpera und sein Pascha Achmet – den Harem betreten. Dass die Vergewaltigung jedoch eine irreversible Grenzverletzung bedeutet und damit nicht zuletzt die Majestät selbst antastbar macht, findet sich bereits hier, ganz zu Beginn des Dramas, vorbereitet.

6.2.2 Die Prädisposition des Bluthunds: Pathologie und Anamnese von Ibrahims böser Lust Als Kiosem von der versuchten Vergewaltigung erfährt, erklärt sie, dass Ibrahim damit nicht nur Sisigmabis’ Ehre, sondern auch seine eigene versehren bzw. gar vernichten würde: „Durch solche Schandthat baut er seiner Ehr’ ein Grab.“ (IS I, 178) Bereits Augustinus bewertet die Vergewaltigung dahingehend, dass nur der Mann in dieser Übeltat frevele, solange die Frau ihrem Wunsch und Willen zur Keuschheit unbedingt verpflichtet bleibe.64 Der Frevel, den Ibrahim also auf sich lädt, wird noch dadurch verschärft, dass er sowohl Sisigambis’ Schwager als auch ihr Herrscher ist. Sie gehört seiner Familie an und ist nach Amuraths Tod gar Teil seines Haushalts (oeconomia) geworden. Ibrahim ist damit sowohl ihr Landesvater als auch ihr Hausvater und deshalb gleich doppelt für ihren Schutz verantwortlich. Das frühneuzeitliche Strafgesetzbuch des Heiligen Römischen Reiches, die Constitutio Criminalis Carolina, deutet die Notzucht als Ehrenraub.65 Deren unmittelbares Opfer ist die Frau, der die Vergewaltigung angetan wird, das mittelbare Opfer hingegen ist die Familie, deren Oberhaupt ja der Hausvater ist.66 Vor diesem Hintergrund ist dann auch

64 Vgl. Augustinus: De civitate Dei, lib. I, cap. 19, S. 42. Zu Augustinus’ Haltung gegenüber Vergewaltigung, die er am Fall der Lucretia elaboriert, und die nachwirkende Bedeutung dieser Position in der Frühen Neuzeit siehe Dane: Zeter und Mordio, S. 46–55. Dass die Vergewaltigung der Lucretia wiederum die Folie für die Vergewaltigung der Ambre darstellt, wird an späterer Stelle der Analyse näher beleuchtet. Obwohl Dane sich in ihrer Arbeit eindringlich mit der Literatur des 17. Jahrhunderts beschäftigt und dabei sowohl auf die Trauerspiel- als auch die Romandichtung eingeht, spart sie den Ibrahim Sultan jedoch aus. 65 Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. Hg. und erläutert von Gustav Radbruch. 6. durchgesehene Aufl. Stuttgart 1996, Art. 119, S. 82. 66 Vgl. Dane: Zeter und Mordio, S. 168.

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Kiosems Urteil zu verstehen: Ibrahim verhält sich sowohl ökonomisch als auch politisch unklug, da er durch die Notzucht der Sisigambis seine Ehre und seine Majestät gleichermaßen selbst verletzen würde. Nachdem Kiosem im Folgenden an Ibrahims Vernunft und Klugheit appelliert und ihn ganz im Sinne der metriopathischen Affektenlehre und Ethik zur Mäßigung bzw. zur Begrenzung anhält – „Die Wollust ist vergoennt / wenn man ein Ziel ihr setzt;“67 (IS I, 182) –, liefert sie eine Anamnese seiner schädlichen Neigung: „Dein siecher Leib wird bald / Ja hat dich schon gelehr’t: daß Jugend selbst wird kalt / Die hier zu hitzig spielt;“ (IS I, 185–187) Lohensteins Anmerkungen zu dieser Stelle ist zu entnehmen, dass Ibrahim im Jahr 1641 „wegen ebenmaessiger Geilheit“68 einen Schlaganfall erlitten habe. Das körperliche Übel hat seinen einzigen Grund in Ibrahims Trieb. Seine Wollust ist also erwiesenermaßen pathologisch oder genauer: affektpathologisch. Sie schwächt Ibrahim, beeinträchtigt seine Gesundheit und gefährdet damit auch die politische Ordnung, die er vertritt.69 Schließlich ist der sexuellen (Im-)Potenz auch hier die politische potestas implizit: Während sie im erkalteten Zustand Gefahr läuft zu stagnieren, droht sie im erhitzten Zustand zu eskalieren. Da Ibrahim sich gerade zwischen den Extremen bewegt, zwischen heißer Brunst und impotenter Kälte, konterkariert er deutlich das Ideal der Metriopathie,70 das ja ein wohltemperiertes Gemüt, gelenkt von den positiven Triebkräften der Vernunft und der Klugheit, fordert. Dies gilt bekanntlich für den Menschen im Allgemeinen und den Fürsten im Speziellen. Als Grund für den ungesunden Umschwung von Impotenz zu notorischer Wollust gibt Kiosem Ibrahims Kupplerin Sekierpera an: „Die Jugend ist weich Wachs / in die sich leicht die Schrift / Der Wollust pregen laesst. / Dir Hur’ ist’s zuzuschreiben / Daß man den Sultan sieht so freche Laster treiben;“ (IS I, 243–245) Die Wollust ist Ibrahim also wort-wörtlich eingeschrieben und Sekierpera ist die Autorin, die Urheberin dieser unbändigen Lasterhaftigkeit. Da sie seine Natur entstellt, ist

67 „Ziel“ ist hier als „grenzpunkt, auch grenzlinie, grenze“ zu verstehen, vgl. Art. Ziel. In: DWb, Bd. 31, Sp. 1040–1077, hier Sp. 1050. 68 IS Anm. Lohenstein, S. 208, Z. 90–93, der sich hier auf Bisaccionis Sultansvita bezieht. Der Zusatz „ebenmäßig“ ist hier zu verstehen als „ebensolche“ und gerade nicht als „gleichmäßig“, vgl. Art. ebenmäszig. In: DWb, Bd. 3, Sp. 15–16. 69 Auch Alt: Tod der Königin, S. 150 macht hier eine Störung des „natürliche[n] Gleichgewicht[s] der Macht“ aus. 70 Die Metriopathie wird sogar als Naturgesetz der „Mässigkeit“ im zweiten Reyen verhandelt: „Was die Natur mit ihrem Finger preget / Und schreibt auf die zwey [Gestezes-]Taffeln / Fleisch und Blutt; […] Jst reiner Trieb / und ungefaelschte Glutt.“ (IS II, 573–576).

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der Dienst, den Sekierpera ihm erweist, ein Teufelsdienst.71 Nicht nur diskreditiert sie die Kupplerin damit, Kiosem dämonisiert sie auch, um ihren eigenen Sohn von einer schädlichen Neigung aus sich selbst heraus zu entlasten und diese sozusagen auszulagern. Schließlich ist das Böse im Teufel „bequem gebannt“72. Nicht zuletzt führt Kiosem hier ein scharfsinniges Manöver durch, um von sich selbst abzulenken, sodass die Dämonisierung der Kupplerin als rhetorischer Behelf und kluges Strategem entlarvt werden kann: Wäre Ibrahims Lasterhaftigkeit nämlich ursprünglich allein in ihm begründet, könnte dies auf sie selbst als seine Mutter zurückfallen und sie wäre die wahre Urheberin des Bösen.73 Schließlich ignoriert Ibrahims Wollust auch die Fortpflanzung als alleinige moraltheologische Legitimierung und Limitierung der Sexualität. Während die Impotenz die Reproduktion unmöglich macht, wird sie von der notorischen Wollust, die ja eine Triebbefriedigung um ihrer selbst willen fordert, negiert. Beide sind also im Wesentlichen unfruchtbar und repräsentieren damit Formen

71 Rau: Leiblichkeit in den Türkischen Trauerspielen, S. 260 bezeichnet Sekierpera als „verführt-verführende[n] Dämon des lbrahim“. Dem ist zu ergänzen, dass es sich dabei um einen Dämon handelt, der dem deformierten Staatsapparat mit der Kupplerin als Institution innewohnt, da er allein auf die Bedürfnisse seines perversen Herrschers ausgerichtet ist. Darauf wird im Rahmen der folgenden Analyse, vor allem in Kapitel 6.3, weiterführend eingegangen. 72 Osterkamp: Lucifer, S. 55. 73 Dass Kiosem als Ibrahims biologische und imperiale Mutter durchaus als „Beförderin des Bösen“ (Rau: Leiblichkeit als paradigmatische Fremde, S. 283) gelten kann, wurde von der Forschung (ebd.; Alt: Tod der Königin, S. 149–152) beleuchtet, weshalb auf die Figur Kiosem in der vorliegenden Studie nur am Rande eingegangen werden soll. An dieser Stelle sei zusammengefasst, dass sowohl Alt als auch Rau Kiosems Ähnlichkeit mit Agrippina konstatieren und ihr jeweils eine Ambivalenz „zwischen Fürsorge und Grausamkeit, Vernunft und Machtgier“ attestieren, „wie man sie als Signum weiblicher Königinnen sonst nur in den Dramen Shakespeares antrifft“ (Alt: Tod der Königin, S. 149). Kiosem war schon in der Vorgeschichte des Dramas um das unbedingte Fortleben der eigenen dynastischen Herrscherfolge bestrebt. Entgegen den Vorgaben ihres verstorbenen Sohnes und Sultans Amurath nämlich hatte sie Ibrahim auf den Thron gehoben. Sie widerstrebt damit dem Ideal und den Gesetzen der politischen Klugheit und der Vernunft, da sie „in der Liebe zum eigenen Geschöpf das dämonische Chaos des Bösen gebiert und dessen destruktive Kraft fortzeugen hilft“ (Alt: Tod der Königin, S. 153). Schließlich opfert sie angesichts der politischen Revolte ihren Sohn der Institution des Sultanats, stellt dabei jedoch sicher, dass über allem die Dynastie im neuen Sultan Machmet, ihrem Enkel, fortlebt und demonstriert dabei wiederum „the ability of an well-placed and astute woman to secure dynastic continuity as well as stability“ (Newman: Disorientations, S. 350).

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einer widernatürlichen Sexualität, die ausschließlich auf sich selbst bezogen ist.74 Dieses Moment der unfruchtbaren Selbstbezogenheit geht, wie Kiosem weiter bemerkt, einher mit einer Unersättlichkeit, die der Wollust ebenfalls eignet. In seinem ungehemmten Trieb nämlich wird Ibrahim (und werden mit ihm seine Haremsdamen) geradezu von der „niemals-satten Brunst“ (IS I, 251) aufgezehrt. Um seine „Verschwelgte[n] Kraefte“ (IS I, 199) wiederzuerlangen, nimmt er die Aphrodisiaka „Ambra“ und „Zibeth“ (IS I, 196) zu sich. Diese seien „zwar ein Saltz der Brunst / Nicht aber Lebens-Oel“ (IS I, 197–198), also keine Nahrung, sondern lediglich Gewürz, sodass sich die Wollust in letzter Konsequenz selbst verzehrt, ohne aber jemals zu sättigen oder satt zu werden. Zu solcherart Würzmittel zählt auch Ibrahims Kupplerin Sekierpera. Lohensteins Anmerkungen nämlich ist zu entnehmen: „Der Nahme Sekierpera, welche des Jbrahims Kuplerin und Werckzeug seiner Uppigkeiten gewest / heißt ein Stuecke Zucker.“75 Ihr sprechender Name verrät, dass sie eine Determinante seiner Wollust ist. Als süßes Würzzeug dient sie ihm als Werkzeug, um seine krankhafte Genusssucht zu befriedigen. Im Werbungsdialog in der zweiten Abhandlung will Sekierpera an Ibrahims Statt seinem Lustobjekt Ambre die Wollust schmackhaft machen: „Kost’ einmal suesses Kind / so suesse Speisen doch!“ (IS I, 430)76 Unter den sich wiederholenden Zischlauten und der Aufforderung zum Probieren von der verbotenen Kost scheint Sekierpera gar als Figuration der Schlange, der Ur-Verführerin aus dem Paradies. Die artifizielle, aphrodisierende Süße zeigt sich hier als verbale Verführungskunst, die sich ebenso süßer Worte bedient. Ambre jedoch, die ja

74 Rau: Leiblichkeit als paradigmatische Fremde, S. 271 konstatiert ebenfalls, dass sowohl im Ibrahim Bassa als auch im Ibrahim Sultan „[e]rotisches Lieben als eigentliche Unfruchtbarkeit“ vorgestellt sei und deshalb „hier und in der weiteren literarischen Tradition in Deutschland Geilheit und Impotenz zusammengehören“. Dem ist für den Ibrahim Sultan hinzuzufügen, dass – Lohensteins Poetik des ex negativo entsprechend – die keusche Liebe von Leopold und Claudia Felicitas hingegen überaus fruchtbar ist, wie der letzte Reyen in prophetischer Manier verkündet. So heißt es dort „Die Fruchtbarkeit kehr’t reichlich ein /“ (IS V, 917) und wenig später: „Und ich seh’ Oesterreich bereit / Mit Kaeyser-Fruechten fruchtbar steh’n /“ (IS V, 928–929). – Zu den Implikationen widernatürlicher Sexualität bei Lohenstein siehe Kapitel 5.2.1. 75 IS Anm. Lohenstein, S. 214, Z. 169–171. 76 Newman: Disorientations, S. 343–350 beschäftigt sich eingehend mit der Homoerotik dieser Szene. Sie verortet diese in zeitgenössischen literar- und kulturhistorischen Traditionen und führt sie mit orientalistischen Diskursen der Frühen Neuzeit zusammen im Sinne einer sexuellen Desorientierung.

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aufgrund ihres sprechenden Namens ebenfalls unweigerlich in diesen vitiösen Stoffwechsel aus Verzehren und Aufzehren eingegliedert ist,77 expliziert als Antwort darauf das unersättliche Wesen der Wollust: „Die Geilheit frißt sich selbst mit stetem Hunger ab.“ (IS II, 433) Ambre weiß genau, dass Ibrahim selbst dies ganz offensichtlich verkörpert, da er „wie ein Schein nur noch / von Unzucht abgezehr’t / Von Seuchen laß umb-irr’t“ (IS II, 154–155). Gerade weil die Keuschheit hingegen schon von „selbst eine süsse Speise“ (IS II, 435) ist, wird sie schließlich in der dritten Abhandlung mit der Vergewaltigung der Ambre zur „Kost der Tyrannei“ (IS III, 505).78 Hier findet sich schließlich die Irrlehre von der Veredlung der aus sich selbst heraus edlen, keuschen Liebe, wie sie die Widmungsvorrede präsentiert hat, veranschaulicht. Während Keuschheit und edle Liebe sich als jeweils natürliches Gut selbst genügen, braucht die ohnehin schon verdorbene Wollust noch zusätzliche Stimulantien (Amber, Zibet und Zucker), um letztlich auch das Gute zu kontaminieren und zu konsumieren. Was sich in der oral-gastrischen Metaphorik aus dem Bereich des Verschlingens und des Einverleibens äußert, ist ein stetes Wechselspiel von Mangel und Begehren (Hunger und aphrodisierendes Würzmittel), das in sich wiederum die augustinische Auffassung vom Bösen als einem Produkt ständigen Mangels repräsentiert. Die Geilheit bedeutet in dieser Konstellation mithin die Essenz des Bösen: In der Ambra, aus der ja jene im Prolog als Indikator für Ibrahims Verworfenheit angeführten „schwartzen Unzucht-Kertzen“ gefertigt sind, und der Ambre konzentriert sich der Skandal „seiner Boßheit“. Wie die Korrelation zwischen der Wollust und den Luxusgütern Ambra und Zibet zeigt, ist auch Ibrahims Tyrannei als Herrschaft der luxuria konzipiert.

77 Zur Namensgebung bemerkt Bernhard Asmuth: Die italienische Quelle von Lohensteins „Ibrahim Sultan“. In: Europäische Tradition und deutscher Literaturbarock. Internationale Beiträge zum Problem von Überlieferung und Umgestaltung. Hg. von Gerhart Hoffmeister. München 1973, S. 225–249, hier S. 247: „Der Duftname Ambre, den er Bisaccionis anonymer ‚figlia del Mufti‘ beilegt, erklärt sich als Kontrast zur übertriebenen Verwendung der Ambra, eines wohlriechenden Stoffwechselprodukts des Pottwals, das im 17. Jahrhundert als Parfüm in Mode war – nicht nur im Orient – und auch als Aphrodisiacum benutzt wurde. Ambre ist selbst so schön, daß sie alle künstlichen Duftstoffe übertrumpft“. 78 Vgl. hier Wild: Theater der Keuschheit, S. 145, der die trophologische Selbstgenügsamkeit der Keuschheit auf ebenjene Ökonomie von Tugend und Laster überträgt, die Lohensteins dramatischer Dichtung überhaupt inhärent ist. Diese nämlich „impliziert also notwendig die Niederlage der Tugend und den Sieg des Lasters, denn nur dann erfüllt das Laster seine Lasterhaftigkeit, durch die es sich letztendlich selbst vernichtet. Die theatralische Vernichtung des Lasters beruht somit auf dem Opfer der Tugend, welche darin ihre Tugendhaftigkeit erweist.“

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Diese beschränkt sich nicht nur auf den Genuss solcher exotisch-erotisierenden Aromen, mit denen er „taeglich [s]eine Speise / Mit Uberflusse wuertzt“ (IS I, 196–197). Auch sonst, so berichtet Kiosem weiter, „schwimmst [du, d. h. Ibrahim] in den Uppigkeiten“ (IS I, 191). Die Üppigkeit kann sowohl (wie hier) Luxus und Verschwendung bezeichnen als auch Unzucht und fungiert damit als Synonym der luxuria.79 Die liquide Metaphorik vom Schwimmen im Überfluss deutet ihrerseits auf die Maßlosigkeit von Ibrahims Luxussucht. Auch dies findet sich in dem Wort „Üppigkeit“ alludiert, das auch „überschwellend, -quellend, -strömend“80 bedeuten kann. Dadurch ist außerdem eine Verbindung zum Prolog des Thrakischen Bosporus hergestellt, in dem ja ein Gewässer seine Verschmutzung durch Ibrahims übermäßige, überbordende luxuria – „seine Boßheit“ – beklagt. In diesem Sinne fährt Kiosem fort, dass Ibrahim „gleich einer See / laesst Zimmer dir bereiten / Mit Zobeln ueberdielt / mit Dirnen angefuell’t / Die alle Welt dir zinßt“ (IS I, 192–194, Hervorhebung IvH). Der Parallelismus von „Zobeln“ und „Dirnen“ veranschaulicht das Korrelat von Luxussucht und Wollust in Ibrahims schädlicher und schändlicher Neigung. Die exzessive Vorliebe des Sultans für Zobelfell bringt außerdem jenen „vestimentären Fetischismus“81 zum Ausdruck, der von den Konsequenzen seiner krankhaften luxuria für die Ökonomie des Reiches zeugt. Seine exklusive Genusssucht nämlich kommt „alle Welt“ teuer zu stehen und dient dabei gerade nicht dem Allgemeingut – also aller Welt –, sondern allein seinem persönlichen Lustgewinn. Ibrahims Verschwendung indiziert sowohl seine verderbte Moralität als auch die Unwirtschaftlichkeit seiner Herrschaft, die letztlich dem Reich schadet. Auch diese „Überflusswirtschaft“82, die ja (Luxus-)Güter verschlingt, als seien sie unbegrenzt verfügbar, ist dabei als pathologisch einzuordnen. Aufgrund seiner ökonomisch-politischen Unvernunft, die ebenfalls das Resultat jener Dynamik von Mangel und Begehren ist, erweist sich Ibrahim als nicht zurechnungsfähig. Weder mit seinen körperlichen noch mit seinen materiellen Ressourcen geht er maßvoll um, sondern gibt sich der hemmungslosen Verausgabung hin.

79 Vgl. Art. üppig. In: DWb, Bd. 24, Sp. 2339–2359. Zum Luxus als Bedeutungsmöglichkeit bes. Sp. 2347–2348; 2352; zur Wollust Sp. 2346–2347, wo u. a. ein Beispiel aus Lohensteins „Rosen“ zitiert wird. 80 Vgl. Ebd., Sp. 2341. 81 Ethel Mathala de Mazza: Verschwendung. In: Des Kaisers neue Kleider, S. 205–217, hier S. 207. 82 Ebd., S. 213. Obwohl sich Mathala de Mazza in ihren Ausführungen weder mit dem Ibrahim Sultan noch mit der schlesischen Trauerspieldichtung überhaupt auseinandersetzt, erweist sich ihre Verwendung des Begriffs doch für meine Analyse als passgenau.

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Die Konvergenz von degenerativer Sexualität und Luxussucht bedient nicht zuletzt einen exotistischen Topos der zeitgenössischen Darstellung der Osmanen. Auch wenn die Aversion gegen Ibrahims abgründige Verworfenheit in Lohensteins Darstellung vordergründig ist, so geht doch auch eine Faszination vom Fremden aus, das (bzw. der) in den exotischen Gütern Ambra, Zibet und Zobel schwelgt. Dass sich deshalb auch eine latente Faszination mit ‚orientalischer‘ Transgression und Exzessivität im Text bemerkbar macht, wie ja schon der voyeuristische Blick in den Harem zeigt, ist dabei kaum zu negieren.83 Trotzdem handelt es sich bei Ibrahims „Üppigkeiten“ zweifelsohne um eine Entartung, was der genauere Blick auf die Natur der Luxusgüter zeigt, die Ibrahim bevorzugt. Ambra, Zibet und Zobel sind allesamt tierischen Ursprungs, womit Ibrahim in die Nähe des Animalischen gerückt ist. In seinen wahrlich viehischen Ausschweifungen erscheint Ibrahim als Monstrum, halb Mensch, halb Tier, sodass seine Widernatürlichkeit deutlich hervortritt. Entsprechend wird Ibrahim im Verlauf des Trauerspiels ganze 22 Mal als „Blutthund“ bezeichnet und lässt damit das Synonym „Tyrann“ bzw. „Tyrannei“ weit hinter sich. Auch wird er wiederholt „Unmensch“84 und „Unthier“85 ge-

83 Asmuth: Die italienische Quelle von Lohensteins „Ibrahim Sultan“, S. 240 betont in seiner Auseinandersetzung mit Bisaccionis Sultansvita, dass es nicht Lohensteins poetologischer Agenda entspreche, „Faszination über die ungeheure Dimension des Bösen in Ibrahim [zu] wecken“. Dies fasst jedoch die Intention lediglich soz. „offiziell“ zusammen. Dass Lohenstein und damit auch sein dichterisches Projekt keineswegs immun gegenüber den sinnlichen Reizen der erotisierten und exotisierten Sphäre sind, bemerkt auch Colvin: The Rhetorical Feminine, S. 48 in ihrer Analyse des Ibrahim Sultan. Dies gilt wiederum ganz allgemein für die Rezeption und Repräsentation der Osmanen im Heiligen Römischen Reich. Die Vorstellungen von der osmanischen Welt sind nämlich keinesfalls eindimensional in dem Sinne, dass die Osmanen durchweg als „Erzfeind“ dargestellt werden, sondern von einer tiefen Ambivalenz geprägt, in der Abwehr und Bewunderung miteinander korrespondieren. Siehe dazu ebenfalls Colvin: The Rhetorical Feminine, S. 31 sowie Larry Silver: Europe’s Turkish Nemesis. In: Rivalry and Rhetoric in the Mediterranean, S. 58–79. Mir ist es deshalb wichtig herauszustellen, dass es in einer Auseinandersetzung mit den einzelnen Artefakten – wie eben dem Ibrahim Sultan – folglich darum gehen muss, diese Gemengelage differenziert zu betrachten, wie es wiederum Bevilacqua, Pfeifer: Turquerie, S. 117 fordern: „The ultimate goal is […] to understand the process of European response [to the Ottoman presence] in its full and contradictory breadth.” 84 Als Ambre dem Pascha Mehemet in der zweiten Abhandlung von der Werbung des Sultans berichtet, fragt dieser: „Welch Unmensch / welch’ wild Thier beleidig’t solche Tugend?“ (IS II, 143). Der Mufti konstatiert in der vierten Abhandlung, diesmal gegenüber Kiosem: „Wer solch ein Unmensch ist / ist nicht Erbarmens werth.“ (IS IV, 428). 85 In der vierten Abhandlung bemerkt wiederum der Mufti in der Planszene des Tyrannenmordes: „Auch fehlt’s an Kraefften nicht diß Unthier zu bekaempfen” (IS IV, 48) und an späterer Stelle der Pascha Kiuperli: „Mit Dolch und Stricke soll das Unthier seyn belohnet“ (IS IV, 188).

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nannt. Gerade letzterer Begriff wird in der Frühen Neuzeit wiederum als geläufige Bezeichnung für den Teufel verwendet, sodass hier ebenfalls die im Prolog forcierte Verwandtschaft von „Tuerck und Teuffel“ anklingt. Auch mit dieser Akzentuierung von Ibrahims Bosheit folgt Lohenstein orientalistischen Vorstellungen von der osmanischen Lasterhaftigkeit, die gerade in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert verstärkt zirkulieren und in denen die Osmanen als unmenschlich, animalisch und diabolisch repräsentiert sind.86 Entsprechend erscheint Ibrahim seinen Haremsdamen in der dritten Abhandlung dann auch in einem Traum, der die Ermordung seiner Söhne prophezeit, in Gestalt eines „erboste[n] Thier[es]“ (IS III, 152), nämlich als „erzuernter Strauß“ (IS III, 146). Nicht nur ist der Strauß ein exotisches Tier, auch gilt er als wahlloser Allesfresser.87 Als solcher weist der Strauß zurück auf das verschlingende, nimmersatte Wesen des Bösen, das Ibrahim zum ebenfalls exotischen Menschenfresser macht.88 So beschreibt schließlich auch die Sultanin Alima sein Verbrechen als kannibalischen Akt: „welch Thier friß’t seine Jungen? Welch Drache seine Frucht? wohl hastu’s Kind verschlungen /“ (IS I, 295–296).89 In der widernatürlichen Tat des Kindsmordes übertrifft Ibrahim jedoch sogar die wilde Fauna, da er seinesgleichen verzehrt. Nicht einmal der Drache als infernalisches Geschöpf ist zu einem solchen Frevel fähig. Als politisches und erotisches Monstrum überbietet Ibrahim schließlich auch mit der Notzucht der Ambre noch die bestialische, räuberische Natur, denn „der Blutthund ist mehr wild als Loew und Beeren /“ (IS IV, 155). Kiosems Belehrung, die folglich eine Anamnese von Ibrahims krankhafter luxuria liefert, schließt mit einem Appell an die Staatsvernunft des Sultans.

86 Colvin: The Rhetorical Feminine, S. 39 macht diese Tendenz in der Darstellung einer „oriental inhumanity: the inhumanity of the non-Christian who is very nearly a beast“ sowie seine „devilishness“ in der frühneuzeitlichen Dramatik aus, führt jedoch den Ibrahim Sultan dafür gerade nicht als Beispiel an. 87 Dieser Hinweis verdankt sich Mundt: Kommentar Ibrahim Sultan, S. 903, der sich darin auf Plinius’ Historia naturalis bezieht. 88 Dass der Stereotyp des „exotischen Kannibalen“ auf der frühneuzeitlichen Bühne der „Selbstvergewisserung eigener kultureller Überlegenheit […] des zuschauenden christlichen Publikums“ dient, bemerkt Beise: Anthropophagie in deutschen Trauerspielen des 17. Jahrhunderts, S. 119. Ebd., S. 139 fügt Beise hinzu: „Die Rhetorisierung des Motivs [der Anthropophagie], das seine verstörendste Wirkung imaginativ entfaltet, leistete einer Verwendung Vorschub, bei der die Rede davon sich auf keine tatsächliche Menschenfresserei mehr bezieht.“ 89 Dass mit dem Verbrechen gegen die eigene Familie auch gegen jegliche natürliche Gesetzmäßigkeit verstoßen wird, findet sich ja auch in der Agrippina mittels überbietendem Tiervergleich wiederholt aufgerufen, vgl. Kapitel 5.3.

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Hatte sie ihre Rede damit eröffnet, Ibrahim zu einem sittlich-gesunden Lebenswandel in „Tugend […] und Maaß“ (IS I, 183) anzuhalten, so drängt sie nun darauf ihm beizubringen, dass er in seinem erotisch-luxuriösen Exzess eben nicht innerhalb eines Vakuums agiert, sondern stets gleichzeitig repräsentiert: „Jhr [der Fürsten] boeß’ Exempel sind die Funcken / die den Brand / Auf tausend Haeuser streu’n.“ (IS I, 217–218) Als erfahrene Politikerin weiß Kiosem:90 Durch Ibrahims persönliche Lasterhaftigkeit kann potentiell der Untergang des Reiches als allgemeine politische Katastrophe provoziert werden. Um dies auszudrücken, bedient sie sich jener Brandmetaphorik, die ja schon Neros schwelende Wollust in der Agrippina gekennzeichnet hatte: Ist der Kaiser in sexueller Brunst entbrannt, so steht auch sein Reich in Flammen. Da der Fürst nämlich unweigerlich mit der res publica verbunden ist und auf sie reflektiert, befindet sich auch sein Volk bzw. sein Reich in einem nur so guten oder eben schlechten Zustand wie er selbst. Die Leiblichkeit des Königs (body natural) und die Körperschaft des Staates (body politic) stehen in Wechselwirkung miteinander. Ibrahims affektpathologische Entzündung ist also auch politisch ansteckend. Der Brand der „tausend Haeuser“ repräsentiert dabei sowohl ein verheerendes ökonomisches (das Haus als oikos, der Haushalt als oeconomia) als auch politisches Übel, da der Staat sich ja aus der Gesamtheit dieser Häuser konstituiert. Schließlich versehrt Ibrahim, der selbst ja sowohl Hausherr als auch Staatsherr ist, durch seine krankhafte luxuria sowohl seine Ehre als auch seine Majestät.

6.2.3 Beratung vor dem leeren Thron: „des Ibrahims boese Regierung“ und der Untergang des Osmanischen Reiches Die letzte Szene der ersten Abhandlung konkretisiert die außen- und innenpolitischen Auswirkungen von Ibrahims Laster für den Zustand des Reichs. Es wird eine Beratungssituation der politischen, militärischen und geistlichen Funktionäre in Abwesenheit des Sultans vorgestellt. Der Rat tagt im „Saal Hosada“, dem Thronsaal. Der Stuhl des Sultans bleibt leer, da sich Ibrahim bezeichnenderweise im Zwiegespräch mit seiner Kupplerin befindet, die ihm Ambre als nächstes Lustobjekt anpreist. Vor diesem Hintergrund liefert die Szene zuerst eine Bestandsaufnahme von „des Jbrahims boeser Regierung“91,

90 Nach der Inthronisierung ihres älteren Sohnes Amurath, der jedoch noch nicht im regierungsfähigen Alter war, übernahm sie in den ersten Jahren die Regierungsgeschäfte. Ihre starke politische Stellung konnte sie später auch unter ihrem Sohn Sultan Ibrahim behaupten. 91 So die Inhaltsangabe zu dieser Szene, IS, S. 12 (Inhalt).

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um in einem zweiten Schritt den Verfall des Osmanischen Reichs unter Ibrahim zu prognostizieren. Der Ausgangspunkt der Konsultation ist der Krieg mit Venetien im Zuge der osmanischen Expansionspolitik. Die Eroberung Kretas stagniert. Grund dafür ist – erwartungsgemäß – Ibrahims Depravation. So ist auch die Frage des Janitscharenführers Bectas gleich zu Beginn der Szene rein rhetorisch zu verstehen: Jst Oßmanns Witz verfalln / und Oßmanns Arm zerbrochen? Kan unser Fuerst / der ja das Haupt der Welt will seyn / Mit allen Kraeften nicht zwey Stadte nehmen ein? (IS I, 388–390)

Als dynastischem Nachfolger Osmans I., dem Gründer- und Namensvater des Osmanischen Reichs, mangelt es Ibrahim sowohl an jener Klugheit („Witz“) als auch an der politischen und militärischen Stärke („Arm“), die dem Reich ursprünglich zu seinem Glanz und seiner territorialen Ausbreitung verholfen haben. Dieser Mangel kennzeichnet ihn als schlechten Herrscher und damit als Träger einer „boese[n] Regirung“. Während seine Vorgänger im Amt des Sultans ganze Imperien unterwarfen, kann er nicht einmal „zwey Staedte“ auf einer Insel einnehmen, die sich noch dazu bereits zur Hälfte in osmanischer Gewalt befindet, denn die Siedlungen „Canea / Retimo sind ja in unsern Haenden.“ (IS I, 391). Der Staatskörper scheint nicht intakt zu sein: Der Arm bewegt sich nicht, obwohl die Hände nur weiter zugreifen müssten. Hatte Ibrahim sich noch gegenüber Sisigambis gerühmt, über einen weltumspannenden Ruf als Kriegsherr von der „Wolge“ bis nach „Pecking“ zu verfügen, so zeigt sich hier, dass dies keineswegs der Realität entspricht. Ibrahim erscheint abgekoppelt von der politischen Realität seines Reichs, sodass weder die geographischen Ränder noch das Zentrum der osmanischen Macht, repräsentiert durch den Thron, durch ihn besetzt sind. Pascha Mehemet pflichtet Bectas bei, indem er auf geradezu zynische Weise bemerkt: „Es [be]doerffe mehr Verstand / auch schaff’ es mehr Gefahr / Mit einer solchen Stadt / als geilen Weibern kriegen.“ (IS I, 398–399) Der Sultan als oberster Kriegsherr nämlich „Hengt seiner Wollust nach“ (IS I, 401) und zieht damit den Liebeskrieg dem Expansionskrieg vor. Da er sich seiner übermäßigen sexuellen Potenz hingibt, wird er militärisch und politisch jedoch impotent. Das natürliche Gleichgewicht der Macht ist durch die übermäßige Wollust gestört, da die erotische potestas der politischen potestas alle Kräfte entzieht. Während militärisch also Stagnation eintritt – „Jetzt / nun der Krieg sich schleppt / laesst ihn der Sultan liegen /“ (IS I, 400) –, kommt es auf dem Feld der Erotik zur Eskalation, wie seinerseits der Pascha Kiuperli berichtet. Dieser nämlich weiß,

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daß er zu Lastern lacht / Auß seiner Uppigkeit ein offen Schau-Spiel macht / Umb daß er seine Brunst durch frembdes Oel anzuende / (Da es vor dieser Zeit war sterbens-werthe Suende /) Zum Garten / wo der Fuerst mit seinen Dirnen spielt / Zuschauer ihm bestellt. (IS I, 525–530)

Nicht nur hinter den verschlossenen Türen des Harems frönt Ibrahim seiner „Uppigkeit“, er weitet sein Liebesspiel noch in die Öffentlichkeit des Palastgartens aus – seine Wollust expandiert. Der Garten als Schauplatz ist dabei bedeutsam, da er als Repräsentationsraum sowohl territorial auf die Landschaft als angeeignetes Gebiet als auch politisch auf die Ordnung der Souveränität verweist. Denn die Gartenkunst repräsentiert in sich die Regierungskunst einer guten Herrschaft. Indem Ibrahim den Garten für seine Triebbefriedigung nutzt, pervertiert er dieses Ideal und seine Wollust okkupiert gleichsam diesen Ort der imperialen Repräsentation. Des Weiteren stehen Garten und Hortikultur für eine Bändigung, eine Kultivierung der Natur. Dieser Aspekt wird durch die Exposition von Ibrahims denaturierter Unzucht ebenfalls konterkariert. Es wird eine entartete, schädliche Wucherung seiner Triebkräfte ausgestellt, die ihre eigentlichen sittlichen, natürlichen und politischen Grenzen schamlos übertritt. Da der Garten außerdem auf das Paradies als Garten der Schöpfung zurückweist, scheint Ibrahim geradezu den Sündenfall und die damit verbundene Verderbnis der menschlichen Natur durch die Wollust auf lästerliche Weise zu zelebrieren.92 Diese umfassenden Implikationen werden schließlich noch dadurch potenziert, dass Ibrahim aus seiner „Uppigkeit“ ein öffentliches Spektakel macht, das Schaulust erregt und befriedigt. Dieses Wechselspiel gilt einem perversen Selbstzweck: Ibrahim inszeniert seine Wollust vor geladenem Publikum, affiziert seine Zuschauer und reizt sie zur concupiscentia oculorum, um die eigene Geilheit dadurch zu schüren: „Umb daß er seine Brunst durch frembdes Oel anzuende /“. Die Schau-Lust seines Publikums wird ihm zum Aphrodisiakum, das ihn selbst durch einen vitiösen Zirkelschluss wiederum in seiner concupiscentia carnis reizt. Durch die voyeuristische Teilhabe der Schaulustigen wird das „offen Schau-Spiel“ zur Orgie, deren Zentrum der exhibitionistische Sultan bildet, während die Orgie selbst mithin zum Ort seiner exzessiven Selbstüberbietung wird. Aufgrund der Vermittlung durch den Botenbericht wird deutlich, dass es sich hier um etwas handelt, das, dem frühneuzeitlichen decorum entsprechend,

92 Eine solche blasphemische Inversion im Register der Natur proklamiert dann auch die Begierde im zweiten Reyen: „Mein Sieg ist mit der Welt in gleichem Alter. / Von Adam her stammt meines Stachels Trieb“ (IS II, 567–568).

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nur jenseits der Bühne – ab scaena – dargestellt werden kann. Ibrahims Schauspiel wiederum bricht gerade mit dieser (poetischen) Konvention, die gleichzeitig ein Tabu markiert, da es der Obszönität selbst eine Bühne bereitet.93 Die schamlose Grenzverletzung, die die öffentliche Ostentation seiner Wollust bedeutet, ist damit auf die Spitze getrieben. Ibrahim kultiviert seine Widernatürlichkeit als perverses Theater. Auf einer metapoetischen Ebene gehorcht seine Darbietung damit der Logik des ex negativo. Sie konterkariert das Ideal einer moralisierenden Theatralität, die Lohensteins dramatische Dichtung wiederum selbst vorstellt, da ja der Ibrahim Sultan auch paratextuell als „Schauspiel“ ausgewiesen ist. Hier wird Lohensteins Zuschauer zur Sittlichkeit gemahnt, weil dort, im Garten des Serails, das „boeß’ Exempel“ mit seiner krankhaften Wollust miseen-scène die ganze Welt ansteckt. Schließlich ist der Garten nach Foucault „die kleinste Parzelle der Welt und zugleich ist er die ganze Welt“94 und ähnelt darin nicht zuletzt dem frühneuzeitlichen Bühnenschauplatz in seinem Verhältnis zum theatrum mundi. In seiner Parzelle erhebt sich Ibrahim eigenmächtig zum perversen Spielleiter, unter dessen Regie das Böse im enthemmten Trieb zur Entfaltung kommt. Damit ist dann auch auf moraltheologischer Ebene die vollständige Trias der augustinischen Sündenlehre aufgerufen, da sich Ibrahim sowohl der concupiscentia carnis und concupiscentia oculorum als auch der superbia, also aller drei Formen der Begierde, in seiner obszönen Ostentation schuldig macht. Dass diese Inszenierung der Obszönität jedoch auch innerhalb der osmanischen Geschichte und Kultur einzigartig ist, wird hervorgehoben durch die Paranthese „(Da es vor dieser Zeit war sterbens-werthe Suende /)“. Kiuperli paraphrasiert 93 Die Ableitung des Wortes „obscenum“ von „ab scaena“, die sich als etymologisch nicht haltbar herausgestellt hat (siehe dazu Annemarie Eder, Ulrich Müller: Art. Obszön/Obszönität. In: RLW, Bd. 2, S. 732–735, hier S. 732), findet sich noch Ende des 17. Jahrhunderts in philologischen Traktaten wie z. B. bei Johann Daniel Schreber: De libris obscoenis. Leipzig 1688. In § 2 bestimmt Schreber die Obszönität außerdem als unzüchtiges und derb-deutliches Reden über schamlose Akte wollüstiger Menschen. Angewendet auf den Ibrahim Sultan bedeutet dies: Während Lohenstein auf vermitteltem Wege zeigt, dass Ibrahim vollkommen schamlos handelt, ist er selbst von diesem Vorwurf befreit, da er sowohl aufgrund der Mittelbarkeit des Botenberichts als auch aufgrund der metaphorischen Überformung („Umb daß er seine Brunst durch frembdes Oel anzuende“) die Distanz zu Ibrahims pornographischer Praxis wahrt. Anders als die Pornographie jedoch, die eine Verletzung allein der sexuellen Scham bedeutet, kann das Obszöne eine Verletzung von allerlei zeitgenössischen Tabus beschreiben, d. h. es erfasst auch den Bereich des religiösen Tabubruchs im Sinne von Blasphemie und Häresie (vgl. auch hier Eder, Müller: Art. Obszön, S. 733). Diese Nähe findet sich auch in Kiuperlis Rede wiedergegeben, da direkt auf den Bericht von Ibrahims perversem Spektakel der Hinweis folgt: „Daß sein [Ibrahims] Gemuethe zielt / Des Ketzers Kadaris fuer laengst verdammte Lehren“ (IS I, 530–531). Ibrahim scheint damit alle Register der Obszönität zu ziehen. 94 Foucault: Von anderen Räumen, S. 939.

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hier den Prolog, in dem es lautete: „So gehen doch der Tuercken Greuel-Thaten / Der Welt und Vorwelt Suenden fuer.“ Doch was der Thrakische Bosporus noch allgemein für die Osmanische Reich konstatierte, findet sich hier auf und in Ibrahim zugespitzt. Er ist der Repräsentant der äußersten Perversion von Macht und Moral. Doch auch für die Osmanen ist dieses Ausmaß der Verworfenheit bisher ungekannt. Dies ist entscheidend, da damit das kategorische Gegenbild, das noch der Prolog von den Osmanen entwirft, abgemildert und speziell auf Ibrahim konzentriert wird. Ibrahims Lasterhaftigkeit markiert also eine Störung, einen Bruch auch im Kontinuum der osmanischen Kultur und Geschichte und zeitigt damit nicht nur den sittlichen, sondern auch den imperialen Verfall. So liefert der Janitscharenführer Bectas einen Abriss der osmanischen Eroberungszüge der vergangenen 400 Jahre. Die rhetorische Figur der Anapher, die seinen Bericht strukturiert – „Als Oßman“ (IS, 405), „Als Orcan“ (IS I, 406), „alß Koenig Bajazeth“ (IS I, 409), „als Soliman[]“ (IS I, 421) –, drückt aus, dass die Sultane als Kriegsherren diese Errungenschaften anführten. Ibrahim jedoch stellt eine jähe Unterbrechung dar, sodass am Ende der Reihe die Frage steht: „Jtzt nun der Sultan nur auff Uppigkeit hat acht / Was sol fuer Glueck uns bluehn?“ (IS I, 426–427) Der Jetzt-Zustand, der durch Ibrahim herbeigeführt ist, ist damit auch auf dem Feld der Expansionspolitik als Bruch mit der Vergangenheit akzentuiert, noch mehr: er markiert den Anfang vom Ende. Der Untergang des Osmanischen Reichs wird daraufhin sowohl vom Mufti als auch durch den Pascha Mehemet beschworen.95 Beide sehen die Ursache dafür in Gefahren von außen: der Mufti, seiner geistlichen Profession entsprechend, im Christentum, Mehemet im Westfälischen Frieden, da die europäischen Reiche – allen voran die unterzeichnenden Vertreter „Teutschland / Schwed’ und Franckreich“ (IS I, 501) – und christlichen Konfessionen nun mit vereinten Kräften dem Osmanischen Reich als gemeinsamem Feind begegnen können.96 Kiuperli wiederum weiß jedoch, dass der Grund für den erwarteten

95 Der Mufti leitet seine Rede ein: „Es naehere sich ietzt […] unser Untergang“ (IS I, 428–430), Mehemet analog dazu im Anschluss: „Jch spuere viel Gefahr / Und unsers Untergang’s sind hundert Zeichen dar.“ (IS I, 485–486). 96 Die vertraglichen Verhandlungen zum Westfälischen Frieden zwischen dem 15. Mai und dem 24. Oktober 1648 fallen mit den im Drama dargestellten Ereignissen zusammen, denn „[d]ie Zeit der Geschichte ist der 7. und 8. Augusti im 1648sten Jahre“ (IS, S. 18 [Personenverzeichnis]). In der Angst vor den erstarkenden europäischen Kräften, die den Osmanen in den Mund gelegt wird, findet sich nicht nur die Angst der europäischen Grenzreiche vor osmanischer Invasion und Islamisierung invertiert, es werden auch Lob und Rat an Leopold I. impliziert, der gleichsam das Erbe des Westfälischen Friedens antritt und verwaltet. Seine mächtigste Waffe gegen den osmanischen Feind, aber auch seine Verantwortlichkeit bestehen folglich in seinem christlichen Glauben und in der Wahrung der Einigkeit des Heiligen Römischen Reiches, innenpolitisch

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Niedergang im Osmanischen Reich selbst liegt: „Das Unglueck das uns blueht / Komm’t her von unser Schuld.“ (IS I, 502–503) Er zählt neben Ibrahims Verschwendungssucht auch Korruption und Nepotismus als innenpolitische Übel auf, die symptomatisch für Ibrahims „boese Regirung“ stehen. Seine Willkürund Gewaltherrschaft verweigert sich damit der meritokratischen Ordnung des Osmanischen Reichs.97 Dieses unkluge, erratische Verhalten drückt sich am wohl eindringlichsten in dem grausamen Beispiel aus, „[d]aß er [Ibrahim] fuer grossen Ruhm / Und Helden-Thaten haelt / wenn er verdiente Bassen / Die fuer sein Heyl gewacht / kan niedersaebeln lassen;“ (IS I, 534–536) Ibrahims Despotie schafft folglich einen mundus perversus, in dem die Ethik von Tugend und Klugheit, die Macht und Majestät zugrunde liegen soll, umgewertet und gar außer Kraft gesetzt ist. Das Zentrum von Kiuperlis Ausführungen bildet dabei unweigerlich Ibrahims „Suende“ (IS I, 528), die sich in seiner Inszenierung der Obszönität veranschaulicht findet.98 Sie ist der Inbegriff ebenjener „Schuld“ (IS I, 503), die nun auf dem Osmanischen Reich laste. Schließlich ist auch das Reich durch Ibrahims Handeln in Aufruhr versetzt, denn „Das Volck / das seine [Ibrahims] Last nicht laenger tragen kann / Fuehrt

sowie in Beziehung zu seinen christlichen Nachbarn. Darin wäre dann auch der Grund zu entdecken, warum Lohenstein für sein Drama zu Ehren Leopolds I. ausgerechnet die osmanischen Ereignisse aus dem Jahr 1648 gewählt hat, nämlich als pointierten historischen Wendepunkt in der Auseinandersetzung zwischen christlichem Europa und dem muslimischen Osmanischen Reich. 97 Im Osmanischen Reich wurde allein der Sultan aus einer dynastischen Abfolge gestellt. Davon abgesehen aber bestand keine geburtsständische Ordnung für politische und militärische Ämter. Diese wurden aufgrund von Verdienst vergeben, sodass auch (ehemalige) Leibeigene zu Großwesiren und Paschas aufsteigen konnten. Bestes Beispiel dafür ist der Titelheld von Lohensteins Erstlingsdrama Ibrahim Bassa, der als Sklave griechischer Herkunft an den osmanischen Hof kam und zum engsten Vertrauten Sultan Süleymans I. wurde, der ihn sogar als seinen „Bruder“ bezeichnete. Dies stand im heiklen Kontrast zu den Verhältnissen im Heiligen Römischen Reich, wo die geburtsständische Konkurrenz zwischen Adel, Bürgertum und Bauern über einiges Konfliktpotential verfügte, wie die anhaltenden Unruhen zwischen den Ständen, allen voran die Bauernkriege, beweisen. Vor diesem Hintergrund erschien die osmanische Ordnung gar als gesellschaftliche Alternative, sodass die Präsenz der Osmanen auch innenpolitisch und ideologisch bedrohlich für den europäischen Nachbar war. Siehe dazu auch Winfried Schulze: Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung. München 1978, bes. S. 55, 58. Der Umstand, dass in Lohensteins Dichtung gerade die Meritokratie von Ibrahim torpediert wird, schaltet dieses Dilemma aus, ist jedoch ebenfalls als impliziter Ratschlag an Kaiser Leopold zu verstehen, im Zuge guter Regierung Verdienst anzuerkennen und zu belohnen. 98 Dies lässt sich rein rechnerisch nachvollziehen, denn Kiuperlis Rede umfasst die Verse IS I, 502 bis IS I, 554, der Bericht vom „offen Schau-Spiel“ der Laster die Verse IS I, 525–530 und befindet sich damit genau in der Mitte dieses Abschnitts.

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nach viel Seufftzen ietzt bewegliche Beschwerden“ (IS I, 547). Ibrahims Laster werden zur Bürde für das Volk, das „ietzt“ beginnt wortgewaltig – das bewegliche Beschweren ist hier etwa im Sinne des rhetorischen movere zu verstehen – aufzubegehren. Indem nämlich das Volk über ihn klagt, bricht es den stummen Gehorsam gegenüber seiner Regierung. Dies zeugt wiederum davon, dass der naturrechtliche Bund zwischen dem Fürsten und der res publica durch ihn gebrochen, das matrimonium morale et politicum betrogen ist. Der Gehorsam ist damit an seine Grenzen getrieben, sodass die Gehorsamsverweigerung, die dem Naturrecht nach ein Verbrechen gegen die Majestät bedeutet, hier als notwendiges Übel erscheint.99 Neben der inneren, zivilen Unruhe formiert sich dann auch an den Grenzen des Reiches Aufruhr: „Albanien / […] Spinnt neuen Auffstand an“ (IS I, 549–551) Ibrahims wollüstige Despotie wendet sich gegen sein Reich und greift es sowohl an seinen territorialen Außengrenzen als auch im zivilen und politischen Inneren an. Ibrahim markiert damit zusammenfassend den sittlichen, politischen und historischen Bruch des „ietzt“ im Kontinuum des Sultanats. Kiuperlis letzte Befürchtung, dass Ibrahim durch Ketzerei, nämlich als Anhänger „verdammter Lehren / Die des Verhangnuesses Ertzt-feste Schluesse stoeren /“ (IS I, 531–532) oder durch sein erratisches politischen Verhalten – „unser Gluecks-Spiel scheint ietzt so verwirr’t zu lauffen“100 (IS I, 552) – auch die gottgewollte Ordnung außer Kraft setzt, wird schließlich im ersten Reyen revidiert. Dort klärt die Allegorie der Rache gleich zu Beginn auf, dass der göttliche Rat- und Richtschluss durchaus „Ertzt-fest[]“ und damit unveränderlich sei, denn „sein Vermerck ist in Metall geschrieben“ (IS I, 648), also ebenjenes Material, aus dem das Richtschwert gefertigt ist und ebenjene Schwerter der Janitscharen, die sich gegen Ibrahim wenden werden. Kämpften im ersten Reyen der Agrippina noch Laster und Tugenden um die Vormachtstellung auf dem Schauplatz, so ist dieser Konflikt hier ganz auf die Seite des Bösen zugespitzt. Belohnung und Tugenden sind abwesend, was nur mit der „absolute[n] Tugendabsenz“101 korrespondiert, die in der expositio vor99 Zu diesen Implikationen des Gehorsamsgebots vgl. Kapitel 4.2. Wie Ebert: Vom Barbaren zum aufgeklärten Herrscher, S. 174 konstatiert, legt Lohenstein mit dem Ibrahim Sultan eine differenzierte Studie vom Gut des Gehorsams vor, indem er die „Loyalität [der Untertanen] an die Vorbildlichkeit und an die gesellschaftliche Leistung des Herrschers“ knüpft. Sie betont dabei, dass dies selbstverständlich nur vor dem Hintergrund der fremden Kultur geschehen kann. 100 Gemeint ist das Verhängnis, das durch die Instanz der Fortuna ebenjenes „Gluecks-Spiel“ mit dem Menschen treibt. Siehe dazu auch das Widmungsgedicht der Sophonisbe, das ja die anthropologischen Bezüge auf das Spiel des Schicksals in voller Breite entwirft. 101 Spellerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 198.

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gestellt wurde. Hier nämlich okkupiert die Bosheit den immanenten Schauplatz der Abhandlung. Analog dazu sind es im Reyen lediglich die göttliche Rache und die Laster, die um das Wohl „der Stadt Byzanz“ streiten.102 Wie in der Agrippina sind die Laster auch hier „ein Werckzeug meiner [der Rache] Rache“ (IS I, 676) und stehen damit im Dienst der göttlichen Gerechtigkeit. Der Reyen vermittelt, dass die Bosheit nur mehr mit den Mitteln des Bösen vergolten werden kann. Das Böse muss sich in letzter Konsequenz selbst richten und vernichten. In der Konstruktion des Reyens liefert den Ausgangspunkt dafür die Allegorie der Stadt Byzanz. Diese nämlich ist aufgrund der „zweyhundert Jahr“ (IS I, 654) osmanischer Herrschaft seit ihrer Eroberung bzw. wegen des „Bluthund[s] Ibrahim“ (IS I, 674) in einen Zustand der entsetzlichsten perturbatio animi versetzt, wie ihre Körpersprache demonstriert: „Mir Aerm’sten bebet iedes Glied / Das Hertze schlaeg’t / das Haar steht mir zu Berge!“ (IS I, 649–650) Der Schrecken der Despotie ist damit auf eindrückliche Weise veranschaulicht. Als eine Art Affektärztin erklärt die Rache epigrammatisch: „Gift ist fuer Gift zur Artzney gutt / Und boese Lust daempft man mit boesen Luesten.“ (IS I, 683–684) Die Geilheit bedeutet das einzig wirksame Therapeutikum – „das ultimative Anti-Anti-Dot“103 – gegen sich selbst. Die Laster- und Strafökonomie des Reyens formuliert sich als Affektökonomie, die eine „Selbstrache vitiöser Affekte“104 ins Werk setzt und damit die Selbstbezüglichkeit des Bösen ausnutzt.105 Das Gift als „Artzney“ wird hier jedoch nicht im Sinne eines purgierenden Heilmittels eingesetzt, sondern zur Tilgung des Infektionsherdes. Wie die Wollust und ihre Aphrodisiaka wirkt auch das Gift nach frühneuzeitlicher medizinischer Vorstellung als pervertierte Nahrung, „als eine Art Gegenteil von Nahrung, welches, statt vom Körper verändert, verdaut und aufgenommen zu werden, diesen

102 Mundt: Kommentar Ibrahim Sultan, S. 891–892 führt diese Anordnung auf die 7. Krisis aus dem ersten Teil von Graciáns El Criticón zurück, siehe Baltasar Gracián: El Criticón. In: Obras completas, Bd. 1, S. 89–109. Dort konkurrieren die Laster jedoch darum, welches sich am besten dazu eigne, den Menschen bzw. dessen Vernunft zu besiegen. Dass sich Lohenstein mit Graciáns Roman beschäftigt hat, entnimmt Mundt dem erhaltenen handschriftlichen Entwurf zu diesem Reyen. 103 Wild: Theater der Keuschheit, S. 143. 104 Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 270–271. 105 Auch Wild: Theater der Keuschheit, S. 143 erklärt: „Die ‚Unzucht‘ ist demnach kein Gift, das aufgrund seiner intrinsischen Ambivalenz in ein Heilmittel umschlägt, sondern ein Gift, das aufgrund seiner Selbstbezüglichkeit sein negatives Potential gegen sich selbst wendet und letztlich an sich selbst zugrunde geht.“ Die Selbstbezüglichkeit als wesentliches Merkmal des Bösen konnte bereits in der Auseinandersetzung mit der Agrippina ausgemacht werden, vgl. Kapitel 5.4.

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im Gegenteil gewissermaßen auffresse“106 und deutet damit auf das unersättliche Wesen des Bösen. Das Böse wird allein durch sich selbst kuriert, wenn es sich schließlich selbst aufzehrt und damit endgültig den vitiösen Stoffwechsel unterbricht.

6.3 „Verteufelt-boeser Schluß! verdammte Missethat!“: Der Kindsmord Während der Rat vor dem leeren Thron tagt, befindet sich, wie bereits weiter oben erwähnt, Ibrahim im Zwiegespräch mit seiner Kupplerin Sekierpera. Kurz zuvor hat er von ihr erfahren, dass seine Mutter „die grosse Armenierin“107, seine Favoritin, hatte hinrichten lassen. Aufgrund dieser Entdeckung war er in Wut gegen Kiosem entbrannt und ließ sie aus dem Serail verbannen. Um Ibrahim zu besänftigen, preist Sekierpera ihm nun Ambre, die Tochter des Muftis, als neue Gespielin an. Sie lenkt ihn von seiner schädlichen Wut ab, indem sie den Blick des Sultans auf ein neues Liebesobjekt richtet: „Die Zung ist’s Hertzens Both / und Leiterin der Augen.“ (IS II, 404) Durch petrakistisches Lob lässt sie Ambre vor seinem inneren Auge erstehen und präsentiert ihm abschließend einen Schattenschnitt von ihr. Sekierpera reizt ihn so in seiner concupiscentia oculorum, nämlich in seiner Neugierde und seiner Schaulust, die ihn schließlich dazu antreibt, dieses Objekt auch sexuell besitzen zu wollen.108 Sekierperas Manöver verfolgt einen politischen (Selbst-)Zweck und gehorcht darin prudentistischen Prämissen. Ihren Status am Hof will sie um jeden Preis behaupten – Kiosem hatte zuvor versucht, sie zu demontieren, woraufhin sie erst Kiosem als Mörderin der Armenierin verraten hat –, jedoch geht dies nur, wenn Ibrahim Sultan bleibt. Somit ist sie nicht nur seiner Wollust, sondern auch und vor allem dem Erhalt seiner Macht verpflichtet. Wie zuvor Kiosem mahnt

106 Fischer-Homberger: Medizin vor Gericht, S. 361. 107 IS, S. 11 (Inhalt). 108 Sekierperas Vorgehen gegenüber Ibrahim sowie die damit verbundenen machtpolitischen und moraltheologischen Implikationen weisen einschlägige Parallelen zu demjenigen Othos gegenüber Nero zu Beginn der Agrippina auf, wo er dem Kaiser seine Gattin Poppea als Geliebte anpreist: Die Vormachtstellung hat der- oder eben diejenige inne, die den Blick und damit den Willen des Kaisers zu lenken versteht. Vgl. dazu Kapitel 5.1.1. Jedoch ist hier die Erotisierung und Sexualisierung des Fürsten durch seinen Hofstaat, die Lohenstein selbst ja als „Ketzerey unserer verderbten Zeit“ (Lohenstein: Lob-Schrifft George Wilhelms, S. 214) verurteilt, durch die Kupplerin geradezu institutionalisiert. Schließlich tritt sie ganz unverstellt neben der Sultansmutter und seinem Pascha auf und gehört damit zur höfischen Elite. Dabei verkörpert sie wie keine Andere das lüsterne Klima, das bei Hofe vorherrscht.

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auch sie ihn deshalb zu „Vernunfft“ und „Geduld“ (IS II, 306). Sowohl die Notzucht der Sisigambis als auch das Verbrechen gegen die Mutter nämlich könnten den Sultan stürzen, „Weil Volck und Janitschar auf beyder Wincken sieht“ (IS II, 313). Ambre fungiert hier folglich als ein Mittel zur Schadensbegrenzung, das die Aufmerksamkeit des Sultans in scheinbar geregeltere Bahnen lenken soll. Dies ist jedoch ein Trugschluss, wie sich herausstellen wird, denn genau hier nimmt die Eskalation seiner Liebeswut, die sich in der Vergewaltigung der Ambre als unbändige Gewalt entladen wird, erst ihren Anfang und endet letztlich notgedrungen in Ibrahims Sturz und Hinrichtung. Sekierperas politisches und affektökonomisches Kalkül geht nicht auf und es zeigt sich, dass das Wesen und Wirken der „bösen Lust“ selbst für sie, als Kupplerin eine Expertin in diesen Belangen, unberechenbar ist.109 Wie der Mufti erläutert, vollzieht sich die Eskalation der Verbrechen als buchstäbliche Kettenreaktion: „Daß Missethat in sich wie Ketten sey verschrenck’t / Da eine boese That stracks an der andern henck’t / Wie Glied am Gliede folg’t / lehrt uns des Sultans Wuetten.“ (IS IV, 1–3) Eines dieser Glieder ist der Kindsmord. Im dramatischen Gefüge ist er mit der Vergewaltigung der Ambre verschränkt und beschreibt dabei, wie im Folgenden gezeigt werden soll, in sich eine eigene politische und naturrechtliche Katastrophe. Diese nimmt ihren Ausgang in Ambres „Widerspenstigkeit“110 gegen Ibrahims Antrag, sie in seinen Harem aufzunehmen. Ibrahim wendet sich mit seinem Anliegen, Ambre zu besitzen, zuerst an den Mufti. Als dieser seiner Tochter das Begehren des Sultans eröffnet, beginnt sie unweigerlich über den Antrag zu klagen. Noch schlimmer als den Verlust ihrer „reine[n] Keuschheit“ (IS II, 71) sieht sie dabei den Umstand an, dass sie „Kinder des Todes“111 gebären würde: Ja man laß uns vergnueg’t in’s Sultans Bette schreiten / Der Anmuth Westen-Wind auf unsren Bruesten spiel’n; [...] So moegen wir doch nicht dem Hertzeleid’ entfliehen: Daß ich fuer Grimm und Tod nur Kinder kan gebehrn /

109 Der moralisierenden Intention des Dramas zufolge liegt dies auch darin begründet, dass die Laster in letzter Konsequenz im Dienst der göttlichen Ordnung stehen. Indem Sekierpera Ibrahim die Ambre zuführt, handelt sie ganz im Sinne der göttlichen Rache, die ja im ersten Reyen erklärt: Erst „[d]urch Zucker gib’t sich Gifft leicht ein /“ (IS I, 721). Aufgrund ihres sprechenden Namens ist Sekierpera ja die Personifikation ebendieses Zuckers. Als Agentin der Laster auf Erden fungiert sie vor diesem Hintergrund ebenfalls als „Werkzeug“ der göttlichen Gerechtigkeit und führt unwissentlich Ibrahim seinem Verhängnis zu. 110 IS, S. 12 (Inhalt). 111 IS, S. 12 (Inhalt).

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Die auf die Schlachtbanck pflegt der Blutt-Durst zu gewehrn Der Brueder / wo sie noch der Vaeter Rach’ entrinnen. (IS II, 108–115)

Ambres „Hertzeleid’“ ist eine dem Publikum Lohensteins durchaus geläufige Kritik implizit, die sich auf die dynastische Politik einer offenen Thronfolge bezieht, wie sie im Osmanischen Reich praktiziert wurde. Nicht nur unterscheidet diese sich ganz wesentlich von der Regelung der Primogenitur, auch sind der Sultan und das Sultanat dadurch aus christlich-europäischer Sicht ganz entschieden negativ gekennzeichnet. Der „Blutt-Durst […] der Brueder“, d. h. der dynastische Brudermord, war im osmanischen Reich üblich – Lohenstein schreibt in seinen Anmerkungen, er „ist auß hundert Exempeln bekand“112 – und als eine Art Kollateralschaden akzeptiert, weil er Generationen von fähigen Herrschern hervorgebracht hatte. Dem europäischen Verständnis nach galt der Fratrizid mit seinem quasi-institutionellen Status hingegen als pervertiertes Naturrecht.113 Da es den Anwärter auf den Thron dazu zwang, seine eigenen Brüder umzubringen, um die Herrschaft endgültig zu sichern, erschien diese Praxis gar als kannibalisch, wie die Formulierung „Blutt-Durst“ veranschaulicht, und wird damit zum Signum des Barbarischen, Unchristlichen und damit des absolut Negativen.114 Der osmanische Staat galt demnach von Natur aus als Tyrannei. Schließlich wäre Ibrahim selbst fast zum Opfer der offenen Sukzession geworden: Sein Bruder Amurath hatte alle anderen Brüder töten lassen, Ibrahim wurde nur auf Kiosems Bitten hin verschont und stand bis zu dessen Tod unter Hausarrest. Sowohl Ibrahims Regierung als auch sein Geschlecht sind damit unmittelbar von diesem blutigen Gesetz der Herrscherfolge bestimmt, das sich auch zukünftig fortzupflanzen verspricht. In der offenen Sukzession liegt auch der Horror des Kindsmords – „der Vaeter Rach’“ – begründet, der ebenfalls einen Indikator für den tyrannischen Exzess und die depravierte Herrschaft des Osmanischen Reichs darstellt. Dieser ungleich jüngere Topos geht zurück auf Sultan Süleyman I. (Regierungszeit 1520–1566), unter dem das Osmanische Reich seine größte territoriale Ausbreitung erfahren hatte. Noch über die Grenzen des Osmanischen Reichs hinaus war Süleyman als weiser und gerechter Herrscher bekannt. Aufgrund einer Palastintrige ließ er seinen erstgeborenen Sohn töten, wozu Lohenstein in seinen Anmerkungen erklärt: „Suleimann ließ seinen aeltesten Sohn Mustafa auff An-

112 IS Anm. Lohenstein, S. 272, Z. 993–994. 113 Vgl. Johnson: Imperial Succession, S. 91, die sich in ihren Ausführungen sowohl auf den Bericht des deutschen Diplomaten Salomon Schweigger (veröffentlicht 1608) bezieht als auch auf denjenigen Busbecqs, der ja eine von Lohensteins Quellen war. 114 Zu diesen Implikationen der Anthropohagie vgl. 5.3.2.

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stifften und Beschuldigung der Roxelana [seiner Hauptdame]: daß er dem Vater nach dem Regiment stuende / erwuergen: damit sie hierdurch ihren langsamer gebohrnen Kindern auf den Thron huelffe.“115 In der europäischen Perzeption und Rezeption Süleymans, die seit jeher ambivalent war, markiert der Kindsmord einen definitiven Umschlagpunkt.116 Seine rechtmäßige Herrschaft wird mit dem Kindsmord zur Despotie und Süleyman erscheint unwiderruflich als Tyrann, der zum Erhalt seiner Macht nicht mehr nur die Kinder seiner Feinde, sondern nun auch die eigenen Nachkommen grausam hinrichtet. Dass Süleymans Kindsmord keinen Einzelfall darstellt, sondern eine blutige Tradition begründet, setzt an anderer Stelle die Sultanin Fatima im Gespräch mit Kiosem auseinander: „Komm’t es ihr frembde fuer / daß sich die Fuersten kuehlen / Mit ihrer Kinder Blutt?“ (IS III, 176–177) Der Kindsmord ist eben nicht „frembde“, sondern geradezu Teil des Eigenen, der osmanischen Geschichte und der politischen Kultur gleichermaßen. Dies illustriert Fatima, indem sie einen historischen Bogen spannt, der eben von Süleyman bis in die jüngere Vergangenheit reicht: „Wie lang ist’s: daß Verdacht / Des Mahumets hat Sohn und Mutter umbgebracht?“117 (IS III, 177–178) Obwohl der Kindsmord also unter den Sultanen verbreitet ist, wird er jedoch keineswegs von der Haremsdame akzeptiert, sondern moralisch verurteilt, denn „Der grosse Suleiman hat selbst sich hoch beflecket“ (IS III, 179) durch den Mord seiner Söhne. Der Kindsmord ist folglich als sittliches Übel ausgewiesen, welches das natürliche

115 IS Anm. Lohenstein, S. 292–294. Lohenstein beruft sich in seinen Ausführungen auf Busbecq, der des Weiteren berichtet, dass Süleyman in ähnlicher Weise insgesamt drei seiner Söhne und fünf Enkel hat hinrichten lassen. Dies wird auch im Ibrahim Bassa thematisiert, wo „Mustaffens Gespaenst“ als schreckliches Traumgesicht Sultan Soliman heimsucht und ihm den Untergang prophezeit. Mustafa führt ihm einen stummen Todesreigen vor, in dem auch sein ebenfalls ermordeter Bruder Giangir auftritt: oder bistu [Giangir] auch verkracht in braenden in welchen nach uns auch noch andere walln / die das un-menschlich-vertaerbende Rasen ihm [Soliman] ueber Kinder und Kinds-Kind geblasen- (IB V, 149–152) Süleymans Kindsmorde bedeuten ein bestialisches Verbrechen wider die Natur („un-menschlich-vertaerbend[]“), das ihm jedoch „eingeblasen“, also eingeredet wurde. Mustafa sagt voraus, dass diesen Einflüsterern, allen voran Roxelane, als eigentliche Urheber des Bösen später der Hölle überantwortet werden. 116 Vgl. Johnson: Imperial Succession, S. 86–88, die sowohl die Ambivalenzen als auch diesen Bruch in der europäischen Rezeption und Repräsentation Süleymans diskurs- und quellenanalytisch nachzeichnet. 117 Gemeint ist Sultan Mehmed III., der von 1595–1603 regierte.

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Gesetz des Lebens missachtet und somit für eine Entartung der Macht in der politischen Ordnung des Sultanats überhaupt steht. Die Gewaltstrukturen, die Bruder- und Kindsmord folglich beschreiben, zeugen sich als dynastische Schuld fort, wodurch nicht zuletzt die natürliche Ordnung der Genealogie und damit der Herrschaft ganz wesentlich pervertiert sind. Auf dieser Blutschuld ist die osmanische Herrschaft begründet. Sie ist es, mit der, wie es noch im Prolog formuliert war, „ieder Mord-Fuerst hier […] den Stuhl umbtaemmet“ (IS P, 26), also seine Regentschaft absichert. Da die offene Thronfolge an der Wurzel der osmanischen Tyrannei liegt, gewinnt schließlich auch Ambres „Widerspenstigkeit“ eine zusätzliche politische Dimension: Indem sie ihre zukünftigen Kinder nicht der offenen Sukzession opfern möchte und diese mörderische dynastische Praxis ablehnt, leistet sie nicht nur Ibrahims Begehren, sondern gleichsam der politischen Tyrannei, die der Sultan repräsentiert, Widerstand.118 Als Ibrahim von Ambres Gründen erfährt, entschließt er sich kurzerhand, seine Söhne, die potentiellen Brudermörder, eigenhändig hinzurichten. Damit erfüllt er die schlimmsten Erwartungen an das despotische Regime und übertrifft diese gar noch: Er gibt nicht nur seine Kinder der überkommenen „Vaeter Rach’“ preis, sondern entäußert die Maxime des Politischen. Unter dem Diktat der Geilheit, welche Vernunft und prudentia trübt bzw. gar ausschaltet, handelt er ausschließlich aus lüsternem Selbstzweck und verliert die Bedingungen der Macht dabei aus den Augen. Dies wird durch eine theologische Lesart fundiert, wenn Ibrahim, nicht zuletzt aufgrund der augenfälligen Namensverwandtschaft, zu einer Art Anti-Abraham erwächst, der seine Söhne nicht etwa aus Frömmigkeit und unbedingtem Gehorsam seinem Gott opfert, sondern dem „Abgott seiner Bruenste“119 (IS V, 781). Dies lässt sich auch auf die Figur Abrahams (Ibrahim al-Khalil) im Islam anwenden. Abraham/Ibrahim nimmt in der

118 Soweit ich sehe, wurde dieses Moment des Widerstands, das in Ambres Absage gegenüber Ibrahim liegt, bisher nicht näher betrachtet. So wendet z. B. Wild: Theater der Keuschheit S. 85–88, der Gryphius’ Catharina einen „keuschen Widerstand“ attestiert, seinen Befund nicht auf Ambre an. Einzig Newman: Disorientations, S. 343 geht auf diesen Aspekt des Politischen in der Figur Ambre am Rande ihrer Analyse ein: „Ambre’s almost spiritualized chastity meshes nicely with her politics here and elsewhere in the play, since she is repelled by Ibrahim’s sexuality and his politics, both of which are ‘tyrannical’.” Sie repräsentiere deshalb den Typus des „political rebel” (ebd., S. 353). 119 Wie Johnson: Imperial Succession, S. 88 nachweist, ist dieser Kontrast der osmanischen Infantizide zur biblischen Erzählung von Abraham und Isaak bereits im Falle Süleymans I. in Anschlag gebracht worden. Zur extensiven Auseinandersetzung mit der Isaak-Episode in der Frühen Neuzeit, siehe den Sammelband Johann Anselm Steiger, Ulrich Heinen (Hg.): Isaaks Opferung (Gen 22) in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit. Berlin, New York 2006 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 101).

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islamischen Tradition eine besondere Stellung ein, da er als der erste Muslim betrachtet wird, als Prophet, der allein von Muhammad übertroffen wird, und als Erbauer der Kaaba und Begründer des Hadsch gilt. Das Opferfest Id al-Adha als höchstes islamisches Fest gedenkt Abrahams/Ibrahims Opfer und markiert jährlich das Ende des Hadsch. Lohensteins Sultan Ibrahim pervertiert also auch die islamische Tradition und damit seine eigene Kultur. Entgegen der Homonymie ist er ebenso ein Anti-Ibrahim. Es sei noch einmal hervorgehoben, dass Ibrahim seine Söhne hier einer bloßen Vorstellung hingeben will – schließlich hat er Ambre in natura noch nie gesehen. Ibrahims Entschluss erscheint dadurch noch erratischer und geradezu grotesk. Gleichzeitig demonstriert sich hier die katastrophische suggestive Kraft der concupiscentia oculorum, die als ein zwanghaftes Haben-Wollen um jeden Preis zur Verwirklichung im Sexus drängt und dabei affektpathologisch der krankhaften Entzündung durch die Begierde entspricht.120 Es ist wiederum Ambre, die dies durchschaut und ausspricht, als sie Ibrahim endlich gegenüber steht: „Die aber nicht bey Witz / die der Begierden Dunst / Den Kitzel / der entspring’t auß geiler Augen Brunst / Jhr Haupt umbnebeln laeß’t“ (IS III, 481–483, Hervorhebung IvH). Im Dienste seiner erotischen potestas will Ibrahim dann auch seine väterliche Gewalt, seine patria potestas, missbrauchen, mit der er über Leben und Tod der Kinder gebietet.121 Seine Söhne, die seinem Liebestrieb entsprungen sind, will er einzig seiner Triebbefriedigung opfern, aus der wiederum neue Söhne hervorgehen könnten. Da in diesem Zirkelschluss Liebestrieb und Todestrieb ineinander aufgehen, ist das natürliche Gesetz der Genealogie, nämlich des Fortlebens, hier zerschlagen. Was zur Anschauung kommt, ist wiederum die exzessive Dynamik des Bösen sowie seine Selbstbezüglichkeit als kanniba-

120 Zu den Implikationen der concupiscentia oculorum, die im Moment des Haben-Wollens sowohl der curiositas als auch der avaritia verpflichtet ist und eine Art Vorstufe zur concupiscentia carnis bildet, vgl. Kapitel 5.1.1. Wie Rahn: Physiologie der Liebesblicke, S. 164 mit Rückgriff auf Schottels Ethica zur Psychopathologie des libidinösen Affekts erklärt, äußert dieser sich „in der angeregten Tätigkeit des erwärmten und ausgedehnten Herzens, das die übrigen Teile des Körpers mit übermäßig erhitztem Blut versorgt.“ Die Augen dienten dabei als Medium dieser Ansteckung und „[d]ie Herzerwärmung forciert […] die im Herzen lokalisierte Samenproduktion, deren Erzeugnis zur Abführung drängt.“ Rahn richtet diese Ausführungen auf seine Analyse der Agrippina aus. Dass Ibrahim diese sündigen affektpathologischen „Symptome“ geradezu beispielhaft verkörpert, wurde meiner Kenntnis nach noch nicht beleuchtet. 121 Dies bringt Ibrahim gegenüber seinen Haremsdamen in Anschlag, wenn er fragt: „Sind diese Kinder hier nicht unser mehr als euer?“ (IS III, 207). Zur patria potestas und ihrer Bedeutung für die Konzeption von Souveränität bei Lohenstein, siehe Campe: Der Befehl und die Rede des Souveräns, bes. S. 57–58.

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listisches Prinzip: Es verschlingt seine eigene Frucht, um sich selbst erneut hervorzubringen. Der Exzess ist für Ibrahim das zentrale Movens, denn er möchte „durch eigne Haende / Den Thamm / an welchem sich ihr Strom der Liebe stoeß’t / Von Grund-auß reissen ein!“ (IS III, 124–126) Auch hier ist die liquide Metaphorik des Überbordenden aufgerufen, die Ibrahims Tyrannei als Herrschaft der maßlosen luxuria kennzeichnet. Sie ist mit Ibrahims lästerlich verdrehter Naturlehre enggeführt, welche er ja schon gegenüber Sisigambis dargelegt hatte. Sein Argument kreist auch hier um einen entfesselten Naturbegriff, um nunmehr die geltende naturrechtliche Ordnung außer Kraft zu setzen: Seine Söhne markieren die scheinbar künstliche, konstruierte Grenze, den „Thamm“, die Ibrahims maßloser Begierde, welche er wiederum als Naturkraft, nämlich als „Strom“ darstellt, gesetzt ist. Diese artifizielle Begrenzung oder Kanalisierung will er vollkommen tilgen, um der Kraft seiner enthemmten „Natur“ freien Lauf zu lassen.122 Die Missachtung jeglicher Begrenzung – sowohl der Natur als auch seiner Macht – manifestiert sich dann auch räumlich als rigorose Grenzverletzung, da Ibrahim wiederum gewaltsam und bewaffnet in „der Sultaninnen Spatzier-Saal“123 eindringt. Im Harem sind Ibrahims Mordlust und Wollust mit der keuschen Mutterliebe sowie der Unschuld der Kinder konfrontiert. Der mütterlichen Fruchtbarkeit begegnet die moraltheologisch unfruchtbare Geilheit, die hier zum Todestrieb gesteigert ist. Neben der Witwe (Sisigambis) und der Jungfrau (Ambre) repräsentiert auch die Mutter hier eine spirituelle und sittliche Reinheit, die der Verworfenheit Ibrahims entgegensteht.124 Dieser Kontrast wird noch weiter verschärft, da Ibrahim auf die Opferbereitschaft der Prinzenmutter Hagar trifft: „Ja! meine Glieder soll’n diß Schwerdt mit Lust besprengen / Jch will die Adern mir selbst schneiden

122 Auch Alt: Tod der Königin, S. 150–151 erkennt in der Entscheidung zum Kindsmord Ibrahims „pervertiertes Verständnis des Naturrechts“ bzw. einen „Frevel, den der Despot unter dem Diktat eines deformierten Naturbegriff an Staat und Amtswürde begeht“. 123 IS, S. 105 (Bühnenanweisung). 124 Das Ideal der mütterlichen Keuschheit deriviert, auch im protestantischen Raum, von der Jungfrau Maria als Muttergottes. Das damit einhergehende Ideal der Leidensfähigkeit sowie die Opferbereitschaft der Mutter ist auf die Identifikation mit der Mater Dolorosa der Passion zurückzuführen. Vgl. Miroslawa Czarnecka: Mutter- und Mutterschaftsdiskurs in den literarischen Zeugnissen des Barock. In: Mutterbilder und Mütterlichkeitskonzepte im ästhetischen Diskurs. Hg. von Miroslawa Czarnecka. Wrocław 2000 (Orbis linguarum, Beihefte 5), S. 123– 133. Dass sich dieses christliche Ideal der keuschen Mutterschaft im erotisierten Raum des Harems präsentiert und behauptet, deutet auf den universalen Anspruch, der diesem Konzept zugeschrieben wird. Tugend und Keuschheit haben bei Lohenstein Gültigkeit auch jenseits des europäisch-christlichen Raums.

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morsch entzwey: Daß meine Leiche nur ihr [der Söhne] Lebens-Pfeiler sey.“ (IS III, 228–230) Während Ibrahim darauf aus ist, Leben zu vernichten, will sie sich selbst töten, um den Söhnen gar ein zweites Mal zum Leben zu verhelfen, und leistet somit nicht zuletzt Ibrahims deformierter patria potestas Widerstand. Dies gilt schließlich für alle Haremsdamen, denn „[h]ier widersetzen sich die gesammten Sultaninnen / theils mit Thraenen / theils mit Gewalt /“125, um den Mord an ihren Kindern mit jeweils eigenen Mitteln zu verhindern: Fatima appelliert an Ibrahims Liebe zu ihr, Schatradeler Agasi droht mit Höllenstrafen. Jedoch bleiben alle Bemühungen erfolglos. Ibrahims Bosheit tritt in der Konfrontation mit diesem Ideal der beschützenden, keuschen Mütterlichkeit nur noch deutlicher hervor, um sich endlich im Kindsmord zu entladen. Zuvor jedoch ist es wiederum Hagar, die den Frevel des Kindsmordes noch einmal akzentuiert: Was kan ein solches Kind / Das selbst die Unschuld ist / und nichts nicht kan verbrechen / Ja das / was Suende sey / noch nicht weiß außzusprechen / Fuer Lasters schuldig seyn? (IS III, 234–237)

Der Infantizid bedeutet folglich nichts weniger als einen Mord an der „Unschuld“ selbst. Sie wird durch die ihr wesensmäßig fremden „Laster“ und die „Suende“ hingerichtet.126 Dieser für Lohensteins Dramatik zentrale Konflikt, in dem die Tugend zum Opfer des Lasters wird, wird hier auf radikale Weise ganz unverstellt auf offener Bühne ausgetragen, wenn Ibrahim schließlich zwei seiner Söhne mit dem Säbel niederstreckt, die damit zu Opfern seiner erratischen politischen und erotischen potestas werden. Seine väterliche und politische Gewalt ist endgültig zur Grausamkeit entartet, und unter dem dramatischen Gesetz der atrocitas erwächst Ibrahim ganz unmittelbar und wirkungsvoll zum Tyrannen. Ibrahims mörderischem Wüten wird wiederum durch Kiosem Einhalt geboten, die ja zuvor auch die Vergewaltigung der Sisigambis vereitelt hatte. Als sie nach dem Grund für das brutale, unmäßige Blutvergießen forscht, erfährt sie von ihrem Sohn, dass hinter dem Kindsmord die Wollust als Triebkraft steht: „Weil Ambre sich nicht will in unser Bette legen“ (IS III, 304) Darin erkennt Kiosem sodann den wahren Frevel: „Verteufelt-boeser Schluß! verdammte Mis-

125 IS, S. 13 (Inhalt). 126 Rau: Leiblichkeit als paradigmatische Fremde, S. 243 leitet daraus eine Gesamtdiagnose für Lohensteins Konzeption der osmanischen Welt ab, lässt dabei jedoch – wie in seiner gesamten Analyse – wiederum die wesentlichen politischen Implikationen außer Acht: „In der Schändung der Kinder zeigt sich die eigentliche Beschaffenheit türkischer Erotik überhaupt: sie ist in sich der Mord am Reinen und deshalb der Kern aller Grausamkeit, welche man im Reich der Lust sich selbst und den Anderen antut.“

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sethat! Umb eine Handvoll Lust solch Blutt-Bad zu beschluessen!“ (IS III, 117) Während die Tat „verdammt“ und damit Sache der weltlichen und jenseitigen Gerichtsbarkeit ist, ist der vorgeordnete Entschluss dazu „verteufelt-boese“. Mit der figura etymologica „Schluß“ und „beschluessen“ wird hier die Intentionalität des Bösen herausgestellt: Hinter dem Verbrechen treten Wille und Absicht hervor. Nicht nur die Tat nämlich, sondern auch der Vorsatz selbst ist böse: Während der Kindsmord die (Zer-)Störung der natürlichen und gottgegebenen Ordnung der Genealogie bedeutet, so wurde die Entscheidung dazu aufgrund der Verheißung der schändlichen Wollust getroffen. Der Entschluss dient damit allein Ibrahims lasterhaftem Selbstzweck, dem er bereit ist, das allgemeine Gut, nämlich die Zukunft des Reichs, zu opfern. Die verheerende Kraft nur einer „Handvoll Lust“ bedeutet dabei den Inbegriff der sündig-weltlichen Versuchung und der Vergänglichkeit, welche die Ewigkeit der Majestät, aber auch das Kontinuum der osmanischen Dynastie, die durch Ibrahims Verbrechen gefährdet ist, konterkariert. Wie seine Vorfahren verletzt sich Ibrahim durch den Kindsmord sowohl in seiner Ehre als Hausvater als auch in seiner Würde als Souverän selbst, da er die Begrenzung durch Naturrecht und herrscherliche Ethik missachtet bzw. „einreißt“, und damit genealogisch Schuld auf sich lädt. Jedoch übertrifft er seine Vorgänger noch, denn er will alle Söhne „rotten auß“ (IS III, 127). Ibrahims Frevel erreicht damit ein in der osmanischen Geschichte bisher ungekanntes Ausmaß, wie wiederum Kiosem bemerkt: „Ja keinen andern Fuersten / Hat man gesehn nach Blutt gesammter Kinder duersten.“ (IS III, 267–268; Hervorhebung IvH) Im Skandal der dynastischen Auslöschung eskaliert Ibrahims exzessive Bosheit und erwächst zu ‚historischer Größe‘. Ibrahim wird endgültig unterbrochen, als sein Vertrauter Achmet im Harem eintrifft, da „Wach“ (IS III, 322) und „Heer[]“ (IS III, 325) angesichts des Mordens aufbegehren. Die Auflehnung der Janitscharen vor dem Harem spiegelt den Widerstand der Sultaninnen im Inneren wider und beide weisen ihrerseits zurück auf Ambres ursprünglichen Widerstand gegen Ibrahim. Achmet ist jedoch lediglich der Bote dieses Aufruhrs und in seinem strengen Gehorsam einzig dem Erhalt von „Oßmans Stamm“ (IS III, 327; 339), nämlich der Macht, der Dynastie und des Reichs verpflichtet. Dieser Gehorsam erfährt auch keinen Abbruch, als er den wahren Grund für den blutigen Kindsmord erfährt, nämlich „Daß Ambre mich [Ibrahim] verschmaeht / wenn sie [die Söhne] bey’m Leben bleiben“ (IS III, 340). Während die Wiederholung dieses „verteufelt-boesen“ und gleichzeitig grotesken Motivs den Wahnsinn des Verbrechens nur noch weiter ausstellt, entscheidet Achmet nun kurzerhand, Ambre für Ibrahim zu rauben, um ebendiesen Wahnsinn zu beenden. Der Raub Ambres nimmt den Ehrenraub, den die Notzucht bedeutet, vorweg und Achmet setzt damit das letzte Verbrechen des Sultans ins Werk.

6.4 Das Schauspiel der „boesen Sache“: Die Vergewaltigung der Ambre

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Wie schon im Ablenkungsmanöver der Sekierpera, die Ambre dem Sultan ja vorgestellt hatte, um ihn von einer drohenden (Selbst-)Verletzung der Majestät abzuhalten, wird nun auch die Notzucht der Ambre als vermeintliches malum necessarium zur Maßnahme der Schadensbegrenzung. Sowohl Sekierpera als auch Achmet fungieren dabei als Repräsentanten eines deformierten Staatsapparats, der nur mehr darauf ausgerichtet ist, noch die entsetzlichste Entartung des Fürsten und seiner Macht zu verwalten und darin Ibrahims deformiertem Naturbegriff nachgebildet ist. Auch wenn Achmet (ähnlich wie zuvor Sekierpera) also im Rahmen der höfischen prudentia handelt, so ist es doch ebendieser Rahmen der höfischen Ethik, der durch die Herrschaft des Despoten geradezu gesprengt ist. Mit seiner Verwaltungsstrategie trägt Achmet nur noch zur weiteren Entgrenzung der Macht bei. So rechtfertigt Achmet Raub und Notzucht der Ambre auch zuvorderst mit der unumschränkten Gewalt, die dem Souverän eignet: „Man nehme mit Gewalt / was sie verweigert hat. / Der Fuerst kan mit mehr Fug Gewalt auf Sclaven ueben / Daß: die in Guette nicht will / ihn auß Zwang muß lieben;“ (IS III, 346–348) Um die außer Kontrolle geratenen Verhältnisse zu beruhigen und Ibrahims Wüten zu besänftigen, ignoriert Achmet als Vertreter eines stummen Gehorsams die sittlichen Beschränkungen der absoluten Souveränität und pocht stattdessen auf das unbedingte Vorrecht der souveränen Gewalt. Als Missbrauch dieser Gewalt wird der Missbrauch der Ambre zur buchstäblichen Vergewaltigung.127 Hier ist Ibrahims Bosheit zur ultimativen Eskalation getrieben, und diese wiederum wird schließlich zum Anlass, das tyrannische Gebilde aus Gewaltstrukturen zu zerschlagen.

6.4 Das Schauspiel der „boesen Sache“: Die Vergewaltigung der Ambre Die Vergewaltigung der Ambre fungiert im Zusammenhang des Schauspiels als Engführung der Verbrechen, die im bisherigen Verlauf des Dramas vorgestellt wurden, nämlich der versuchten Entweihung der Sisigambis und des Kindsmords. Sie ist „die große Schandtat“ (IS IV, 162), die „grause Tat“ (IS V, 245), „Verfluchte Greueltat“ (IS IV, 251) und „boese[] Sache“ (IS V, 648), die in ihrer

127 Zur Begriffsgeschichte von „Notzucht“ und „Vergewaltigung“ siehe Dane: Zeter und Mordio, S. 35, die nachweist, dass der Terminus „Vergewaltigung“ noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Sinne von „Gewalt anwenden“ gebraucht wurde. Auch wenn „Vergewaltigung“ im Kontext des Ibrahim Sultan also einen ahistorischen Begriff darstellt, so wird diesem hier Vorzug gegeben, da er den Aspekt der Gewaltanwendung bez. des (politischen) Gewaltmissbrauchs, welcher der „Notzucht“ der Ambre implizit ist, mittransportiert.

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entsetzlichen Singularität alle bisher dagewesenen Verbrechen übertrifft und deshalb am Ende der dritten Abhandlung das Zentrum und gleichzeitig den Umschlagpunkt des Dramas markiert. Dabei wird das Moment des Schauens zentral. Nicht nur entlädt sich in der Vergewaltigung Ibrahims concupiscentia oculorum, auch bereitet er im Anschluss daran der Schändung auf obszöne Weise eine Bühne, da er sein Opfer in der höfischen Öffentlichkeit vorführt und ausstellt. Darin überbietet er das Verbrechen der „bloßen“ Vergewaltigung noch, weil er seine „boese[] Sache“ noch nachwirkend als Spektakel inszeniert. Da sich die Implikationen der Vergewaltigung, die weiter oben anhand der ersten Szene des Dramas entwickelt wurden, hier verwirklichen, erwächst Ibrahims maßloser Gebrauch seiner Lüste endgültig zum politischen Verbrechen, in dem er sich selbst in seiner Bosheit übertrifft. Diese Gewalttat gilt bei Hugo Grotius, der als „magnus Grotius“128 zu den bedeutenden rechtsphilosophischen Autoritäten für Lohenstein zählt, als „non solam iniuriam sed ipsum efferatae libidinis actum hic […], et quod is neque ad securitatem petineat neque ad poenam, ac proinde non bello magis quam pace impunitus esse debeat, atque hoc posterius ius est gentium non omnium sed meliorum“129. Es gehe dabei schließlich um eine Bestimmung des Völkerrechts, das auf der lex divina der Keuschheit aufbaut: „id es ut qui pudicitiam vi laesit, quamvis in bello, ubique poenae sit obnoxius“130. Das Osmanische Reich erweist sich hier als eine solche „bessere Nation“ („gentium […] meliorum“). Mit der Vergewaltigung der Ambre nämlich wendet sich das Schauspiel der wollüstigen Despotie zum Drama des Tyrannensturzes, denn in der ultimativen Grenzverletzung, die Ambres Vergewaltigung bedeutet, manifestiert sich gleichzeitig die Grenze des Gehorsams. Durch das ultimative Verbrechen der Vergewaltigung sind die Untertanen vom Gehorsam, die Regierungsräte und Militärs von ihrem Treueschwur gegenüber dem Sultan,

128 Lohenstein: De voluntate, S. 18. Lohenstein wiederholt diese Auszeichnung über zwei Jahrzehnte später in seiner Lob-Rede auf Hoffmannswaldau, wo er die Bekanntschaft des nunmehr Verstorbenen mit dem „grossen Grotius“ erwähnt. Vgl. Lohenstein: Lob-Rede bey Herrn Christians von Hofmannswaldau Leichbegaengnueße. In: Sämtliche Werke. Kleinere Prosa, S. 273–294, hier S. 285, Z. 181. 129 Grotius: De iure belli ac pacis, lib. III, cap. 4, § XIX, S. 671. [Die „Gewalttat gegen die Unschuld der Frauen“ wird „nicht nur als solche körperliche Schädigung angesehen, sondern als […] Ausfluß einer zügellosen Begierde, die weder mit der Sicherheit noch mit einer Bestrafung etwas zu tun habe und deshalb im Kriege wie im Frieden nicht straflos bleiben darf. Diese Ansicht ist auch in das Völkerrecht, wenigstens bei den besseren Nationen, übergegangen.“ (Grotius: Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, S. 457)]. 130 Grotius: De iure belli ac pacis, S. 672 [„daß wer die Unschuld geschändet hat, selbst im Kriege seine Strafe erhalte“ (Grotius: Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, S. 458)].

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der seine kaiserliche Würde selbst versehrt hat, entbunden. Er ist nur mehr ein „Ein Schaender / dessen That uns laeß’t des Eydes loß.“ (IS V, 633) In dem an Ambre verübten Frevel sind die Verbrechen Ibrahims an seinem Volk, seinem Geschlecht und seinem Reich konzentriert. Der Umstand, dass er sein (phallisches) Schwert, das ja seine rechtliche und exekutive Gewalt repräsentiert, gegen seine eigenen Untertanen richtet, wird an Ambres Körper ausagiert und gelangt dort zur Anschauung als, wie Ambre schließlich selbst verkündet, Schmach, „die der Hund euch auch in mir anthut!“ (IS IV, 165–166) Die vergewaltigte Ambre wird damit zur Symbolfigur der Entartung der absoluten Macht als Gewaltherrschaft und der des Sultans als (Blut-)Hund. Ambres gesteigerter Symbolwert generiert sich aus der spezifischen Konstruktion der Figur, die Ibrahims Bosheit wiederum gerade im Kontrast umso deutlicher hervorbringt und vergegenwärtigt. Darin findet sich die antithetische Konstellation, die bereits bei der versuchten Vergewaltigung der Sisigambis sowie beim Kindsmord leitend war, wiederholt und pointiert. Als Jungfrau verkörpert Ambre nämlich sowohl spirituelle Keuschheit als auch die Unschuld des Kindes. Entsprechend leitet Sekierpera ihre Anpreisung Ambres gegenüber Ibrahim ein mit den Worten „ein Kind“ (IS I, 320; 323). Mit vierzehn Jahren nämlich befindet sich Ambre nur an der Schwelle zur sexuellen Reife und damit zum heiratsfähigen Alter. Dies erklärt der Mufti an anderer Stelle: „So Eh’ als Paradis erfordert fuenfzehn Jahr.“131 (IS I, 621) Ambre wiederum sagt von sich selbst: „Und meine Kindheit ist nicht faehig noch zur Zeit / Zu spielen auf dem Eis’ erwehnter Uppigkeit.“ (IS III, 429–430) Ihre Vergewaltigung bedeutet folglich einen Verstoß gegen diese theologisch und naturrechtlich fundierte Bestimmung ihrer „Kindheit“. Dabei rückt auch die intrinsische Unfruchtbarkeit der Wollust einmal mehr in den Vordergrund. Ibrahim strebt einzig nach der Verwirklichung im Trieb und schändet dafür auch unfruchtbare Kinder. Die metaphysische Qualität von Ambres Keuschheit wird noch dadurch akzentuiert, dass sie die Tochter des Muftis, also des geistlichen Oberhaupts des Osmanischen Reichs, ist und damit sowohl spirituell als auch gesellschaftlich über einen gehobenen, geradezu enthobenen Status verfügt. Darauf ist dann auch die Komposition ihres ersten Auftritts angelegt. Im Anschluss an die expositio von Ibrahims Verwerflichkeit in der ersten Abhandlung und dem darauffol-

131 In Lohensteins Anmerkungen zu diesem Vers (IS Anm. Lohenstein, S. 256, Z. 769–776), die sich auf Sansovino stützen, findet sich der Hinweis auf die muslimische Vorstellung vom Paradies, in der die Frauen, an denen sich die Männer sexuell erfreuen dürfen, zwischen 15 und 20 Jahre alt sind, während die Männer selbst auf ewig 30 Jahre alt sind. Ein Paradies der erotischen Lustbarkeiten muss für das europäisch-christliche Publikum mit seinem Ideal der Keuschheit verwerflich gewesen sein und doch gleichzeitig reizvoll gewirkt haben.

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genden Reyen der Laster, wird nun, zu Beginn der zweiten Abhandlung, ein deutliches Gegenbild entworfen. Allein das Setting – Schauplatz ist programmatisch der „Vorhof der heiligen Sophien-Kirche / welche itzt die fuernehmste Tuerckische ist“132 – dient dazu, Ambres Reinheit und Frömmigkeit die rechte Bühne zu bereiten. Im Gegensatz zur „Oda“ und dem „Saal Hosada“ als exotischen Szenarien der ersten Abhandlung ist dieser Schauplatz Lohensteins intendiertem Publikum durchaus vertraut, schließlich war die „heilige Sophien-Kirche“ bis zur Eroberung Konstantinopels die größte Kirche der Welt. Der Schauplatz ruft damit die Erinnerung an die glorreiche byzantinische Vergangenheit auf, die in Gestalt dieses architektonischen Monuments der Christenheit in der osmanischen Gegenwart und auf Lohensteins Bühne präsent ist. Mit ebenjener Bezeichnung als „heilige Sophien-Kirche“ besteht Lohenstein auf diesem Erbe und führt dennoch den damit verbundenen schrecklichen Verlust vor Augen, schließlich ist sie „itzt die fuernehmste Tuerckische“.133 Vor diesem vertrauten und gleichzeitig entfremdeten Hintergrund erscheint Ambre zum ersten Mal und wird dem Publikum somit als Identifikationsfigur vorgestellt.134 Sie wird beim Gebet gezeigt und eröffnet

132 IS, S. 59 (Bühnenanweisung). 133 Die Hagia Sophia wurde von dem osmanischen Eroberer Sultan Mehmed II. in eine Moschee umgewandelt. Es wird berichtet, dass dies gar Mehmeds erste Amtshandlung bei seinem Einzug nach Konstantinopel war: Er befahl einem anwesenden islamischen Religionsgelehrten, in der Kirche die Shahāda, das Glaubensbekenntnis des Islam, zu singen. Damit war die Kirche liturgisch in eine Moschee konvertiert und die islamische Herrschaft in Konstantinopel konsolidiert. Ob dies dem tatsächlichen historischen Hergang entspricht oder nicht – in jedem Fall trug diese Darstellung der religiösen Propaganda auf osmanischer und europäischer, islamischer und christlicher Seite dazu bei, das eigene politische Anliegen stark zu machen. Auch Lohensteins Regieanweisung ist auf diese Weise zu verstehen. 134 Rau: Leiblichkeit als paradigmatische Fremde, S. 290 interpretiert Ambre im Sinne „eine[r] Christkindpräfiguration als heilige Jungfrau“ und leitet daraus ab, „daß Ambre dasjenige repräsentiert, was aus der frühen christlichen Aera [sic!] in sündenfälliger Gegenwart noch zugegen ist“ (ebd., S. 291). Die Tugenden, die Ambre verkörpert, sind zwar europäisch-christliche und die Vorstellung der Figur verweist auf das byzantinische Erbe zurück, jedoch spricht dies m. E. eher für eine Universalität dieser Tugenden. Ebenso ist das Verbrechen der Vergewaltigung, dem sie später zum Opfer fällt, als universalistisch arrangiert. Zu einem ähnlichen Befund war auch Dane: Zeter und Mordio, S. 212 in ihrer Analyse des Arminius-Romans gekommen: „Das Verbrechen und seine Folgen werden durch die Verbindung mit naturrechtlichen Positionen in einen universalistischen Bedeutungshorizont gestellt, in dem Ehrgefühl und Keuschheit als anthropologische Konstanten betrachtet werden, die zu verletzen zu jeder Zeit und überall strafbar und verhängnisvoll ist.“ Dass Lohensteins Dichtung ganz grundsätzlich einen allgemeingültigen Anspruch von Ehre und Sittlichkeit (bzw. Unsittlichkeit, Verbrechen und Bosheit) als universellen anthropologischen Kategorien vorlegt, findet sich auch in der Agrippina und ihrer Überlagerung von antiker und christlicher Vorstellungswelt verwirklicht, auch wenn hier das gemeinsame „europäische“ Erbe vorrangig ist. Für den osmanischen Fall kann wiederum Sultan Soliman aus

6.4 Das Schauspiel der „boesen Sache“: Die Vergewaltigung der Ambre

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auf diese Weise die zweite Abhandlung. Das erste Wort, das sie spricht, lautet „GOtt“ (IS II, 1). Die Konstruktion der Vergewaltigung als Entweihung, wie sie ja bereits in Sisgambis’ Fall vorgestellt wurde, wird aufgrund von Ambres religiöser Hingabe und ihres spirituellen Status weiter herausgestellt und scheint gar die historische Entweihung der Hagia Sophia zu figurieren. Es wird eine gewaltsame Eroberung politischer, geistlicher und eben weiblicher ‚Territorien‘ vorgeführt bzw. fortgeführt, sodass die Erinnerung an die imperialistische Inkorporationspraxis der Osmanen sowohl durch den Schauplatz als auch die Schandtat der Vergewaltigung vergegenwärtigt wird. Wollust und Kriegslust, entgrenzte erotische und politische potestas fallen auch hier jeweils zusammen, haben jedoch konträre Konsequenzen: Während die Eroberung Konstantinopels den Vorstoß der Osmanen auf dem europäischen Kontinent und damit den Beginn der osmanischen Expansion markierte, dokumentiert die Vergewaltigung der Ambre gerade den imperialen Verfall. Die Vergewaltigung, die einen Bruch im Lebensweg der Jungfrau bedeutet,135 zeigt den historischen Bruch an, den Ibrahims Herrschaft im Kontinuum des Osmanischen Reichs bedeutet. Das Verbrechen gegen Tugend, Ehre und gegen Gott, das die Vergewaltigung bezeichnet, weitet sich letztlich aus auf den Mufti als deren mittelbarem Opfer. Im weiteren Sinne werden in seiner Person sowohl oikos als auch ecclesia durch Ibrahims Verbrechen entehrt bzw. entweiht.136 In seiner Funktion als Landesvater propagiert Ibrahim eine grundsätzliche „Pervertierung des Paternalismus“137 sowie des Patriarchats, die den Mufti als exemplarischen Hausvater und Kirchenvater versehrt. Dies erkennt auch Ambre umgehend, als sie von Ibrahims Begehren erfährt. Sie weiß, dass der väterliche Schutz nicht ausreichen wird, um sie vor dem Zugriff des Sultans zu bewahren. Deshalb wendet sie sich an den Pascha Mehemet als zivilem und militärischem Würdenträger und unterstellt sich, indem sie sich ihm als Braut verspricht, seiner Verfügungs-

dem Ibrahim Bassa als Beispiel angeführt werden, der gerade nach seinem Verbrechen noch die christlichen Eigenschaften Gewissen und Reue an den Tag legt. Die Universalität der Tugendhaftigkeit im Ibrahim Sultan korrespondiert wiederum mit dem Ausgang des Dramas, in dem sich die tyrannisierten Osmanen als fähig erweisen, sich selbst zu heilen, sodass die Darstellung der osmanischen Welt und die Konsequenz, die daraus für Lohensteins Adressatenkreis zu ziehen ist, insgesamt durchaus ambivalent ausfällt. 135 Diese Vorstellung des Bruchs elaboriert Dane: Zeter und Mordio, S. 170 am Beispiel von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Courasche sowie Pedro Calderón de la Barcas El alcalde de Zalamea. 136 Entsprechend heißt es nach dem Raub der Ambre unter anderem: „Kein Sultan hat noch nie die Jnfel so versehr’t / So scheutzlich sich befleck’t.“ (IS IV, 10–11). 137 Rau: Leiblichkeit als paradigmatische Fremde, S. 278.

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gewalt und damit seinem Schutz: „Wo sie fuer’m Sultan mich sind maechtig zu bewahrn / So haben sie Gewalt mit Ambren zu gebahrn /“ (IS II, 165–166) Auch der Pascha Mehemet wird somit letztlich zum mittelbaren Opfer von Ibrahims Frevel. Die Vergewaltigung betrifft als umfassende Gewalttat jedoch nicht nur alle Stände, sie stört und zerstört potentiell die grundständige Ordnung. Schließlich verletzt sich nicht zuletzt Ibrahim damit in seiner Majestät selbst. Entsprechend Kiosems Mahnung aus der ersten Abhandlung sind dies „die Funcken / die den Brand / Auf tausend Haeuser streu’n“ (IS I, 217–218) und somit den Aufruhr entfachen. Mit der Entführung wird Ambre dem väterlichen Schutz brutal entzogen. Dies korrespondiert mit der moraltheologischen Vorstellung, dass eine Jungfrau außerhalb der Sicherheit ihres Hauses stets gefährdet sei. In der Öffentlichkeit sei sie schutzlos begehrlichen Blicken – also der concuspiscentia oculorum – ausgesetzt, die ihre Jungfräulichkeit beflecken.138 Als schlimmster Ort dafür gelten die öffentlichen Bäder. Lohenstein liefert dafür ein Lehrstück, da Ambre ja ursprünglich in einem solchen Bad von Sekierpera „entdeckt“ wurde und deshalb dem Sultan überhaupt erst vorgestellt werden konnte.139 Auch ist bezeichnenderweise das Bad der Ort, an dem sich Achmet ganz ungehindert Zugang zu Ambre verschafft, um sie zu rauben.140 Bei ihrer Ankunft in „des Kaeysers geheyme[m] Zimmer“141 am Ende der dritten Abhandlung steht Ambre somit entblößt da, sowohl im buchstäblichen (Kleidung) als auch im übertragenen (väterlicher Schutz) Sinne.

138 Diese buchstäblichen Einsichten der Patristik, allen voran Cyprians „De habitu virginum“ und Tertullians „De virginibus velandis“, sowie des Johannes Chrysostomos finden sich bei Wild: Theater der Keuschheit, S. 115 ff in Zusammenhang mit dem „unkeuschen Augenzweck“, dem Gryphius’ Catharina bei ihrer Marter ausgeliefert ist, aufbereitet. Cyprian war selbst von den Schriften Tertullians beeinflusst und prägte wiederum nachhaltig Augustinus, dessen Moraltheologie ja nachweislich Spuren bei Lohenstein hinterlassen hat, so vor allem hinsichtlich der drei Begierden concupiscentia oculorum, concupiscentia carnis und superbia. 139 So erklärt Sekierpera gegenüber Ibrahim bei ihrer Vorstellung der Ambre: „Der Zunder heisser Brunst ist selbst in mir entglommen / Seit dem ich zweymal sie im Bade wahrgenommen.“ (IS I, 351–352) Die implizierte Nacktheit der Badenden trägt wirkungsvoll dazu bei, Ibrahim noch zusätzlich in seiner (Schau-)Lust zu reizen. Zu den Bädern als erotisch-exotischem und homosexuellem Imaginationsraum in frühneuzeitlichen Reiseberichten über das Osmanische Reich und deren Rezeption bei Lohenstein, siehe Newman: Disorientations, S. 346. Ergänzend wären hier sicherlich auch biblische Prätexte, Susanna im Bade, insbesondere König David und Bathseba, im Hintergrund mitzubedenken. Die Augenlust der jeweiligen Männergestalten wäre bei Lohenstein an die Kupplerin als Stellvertreterin und Vermittlerin ausgelagert. 140 So sagt Achmet, als er Ibrahim den Raub der Ambre verspricht: „Jch will schnur-stracks sie auß dem Bad’ in’s Zimmer schaffen.“ (IS III, 359). 141 IS, S. 121 (Bühnenanweisung).

6.4 Das Schauspiel der „boesen Sache“: Die Vergewaltigung der Ambre

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Auch Sekierpera ist anwesend, als Achmet seinem Sultan endlich Ambre in persona vorführt, sodass sich im geheimen Zimmer die schädliche „Öffentlichkeit“ aus diesen drei Figuren und wohlgemerkt dem Theaterpublikum konstituiert. Da Ibrahim hier Ambres zum ersten Mal ansichtig wird, kann sich sein okulares Begehren endlich realisieren. Ambres Schändung beginnt in diesem Moment, in dem Ibrahim den Blick auf sie legt, und so ihre Jungfräulichkeit durch seine Geilheit antastet.142 Von Angesicht zu Angesicht apostrophiert er Ambre gleich zu Beginn der Szene als „Mein Aug-Apfel“ (IS III, 398). Er inkorporiert sie, wobei die Apostrophe nicht nur sein Liebeswerben ausdrückt, sondern auch die potentielle Aneignung des begehrten weiblichen Körpers als ‚Territorium‘, sodass auch hier erotische und militärische Expansion miteinander konvergieren. Noch beim stellvertretenden Werben der Sekierpera hatte sich Ambre auf kluge (prudentia) und scharfsinnige (argutia) Weise der rhetorischen Kunst der persuasio bedient, um ihre Jungfräulichkeit um jeden Preis vor dem unlauteren Begehren des Sultans zu bewahren. Der Zweck, nämlich der Schutz ihrer Ehre, Tugend und Keuschheit, heiligte hier die Mittel. Sie vermochte Sekierpera mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, da Ambres rhetorische persuasio Züge der erotischen angenommen hatte. Sie konnte die Kupplerin dazu bewegen (movere), nunmehr in ihrem Dienste den Sultan von seinen Absichten abzubringen, auch wenn Sekierperas Movens, also ihr homoerotisches Begehren, gemäß christlicher Morallehre als ebenso unlauter und unfruchtbar gilt wie Ibrahims unmäßige Wollust selbst.143 Sekierperas argut-persuasive Kunstfertigkeit scheiterte schließlich jedoch an Ibrahims unbändiger Begierde, wie nun die Szene im geheimen Zimmer vor Augen stellt. Sekierpera, die ursprüngliche Meisterin der rhetorischen und erotischen Verführung, ist hier endgültig verstummt. Die Schlange als Ur-Verführerin aus dem Paradies, die Sekierpera, wie ja weiter oben auseinandergesetzt wurde, als dämonisierte Urheberin der Wollust unter Zischlauten auf dem höfischen Schauplatz figuriert, ist gegen den bösen Menschen, der sie mittlerweile maßlos übertrifft, machtlos. War die Kupplerin dem Erhalt von Ibrahims Macht sowie ihrem Liebesobjekt Ambre verpflichtet, so muss sie nun bei der Vergewaltigung die Versehrung beider mit ansehen. Da sich „seine Boßheit“ verselbständigt hat, ist die Agentin der „boesen Lust“ nur mehr stumme Augenzeugin ebenjener „boesen Sache“, die sie einst stellvertretend durch ihre eigene Augenlust angetrieben hat und macht sich – wie auch der anwesende Achmet – der Mittäterschaft schuldig. Dies ist dann auch Sekier142 Dass das Sehen eine andere Art von „Tasten“ darstellt wurde bereits in Kapitel 3.4 erläutert. 143 Zur „homoerotischen Ökonomie“ der Szene vgl. Newman: Disorientations, S. 343 ff, bes. S. 345. Zur Einschätzung der gleichgeschlechtlichen Sexualität in der frühneuzeitlichen Moraltheologie siehe Kapitel 5.2.1.

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peras letzter Auftritt. Anschließend verschwindet sie sang- und klanglos vom Schauplatz. Die Figur der Sekierpera als Figuration des Teufels zeichnet damit die umfassendere Entwicklung einer „Psychologisierung des Teufels“144 nach, in der sich eine Abkehr vom außermenschlichen Bösen formuliert und den Menschen selbst – hier Ibrahim als Inbegriff des irdischen Tyrannen – als Ursprung des Bösen erkennt und in den alleinigen Fokus des Schauspiels rückt. Auch Ambres Überzeugungskraft versagt schließlich vor der Übermacht von Ibrahims Wollust und der erotischen und exekutiven Gewalt, mit der der Sultan anordnet: „Stracks / Achmet / nimm sie hin / Und laß sie fingernackt in unser Bette werffen.“ (IS III, 506–507) Mit diesem Befehl endet die Szene, die gleichzeitig die dritte Abhandlung beschließt. Stand Ambre zuvor schon vom Schutz des Vaters entblößt im geheimen Zimmer, so wird sie nun völlig nackt Ibrahims Bett als dem Ort zugeführt, der das Zentrum seiner Tyrannei bildet. Die Vergewaltigung findet ab scaena statt und wird somit den Augen von Lohensteins Zuschauern, dem decorum gehorchend, entzogen. Der darauffolgende „Reyen Des badenden Frauen-Zimmers“, dessen Schauplatz „ein warmes Bad“145 vorstellt, ist dabei als Ersatzhandlung zu verstehen.146 Hier wird die Schaulust von Lohensteins Publikum zugleich befriedigt und denunziert. Da das Zwischenspiel Einsicht gewährt in diesen dem europäischen Blick gemeinhin verschlossenen Raum, verfügt es über einen unbestreitbaren erotischen und exotischen Reiz, auch wenn im Disput über „boese[] Brunst“ (IS III, 582) und „reine[] Keuschheit“ (IS III, 584) die tugendhaften Jungfrauen das letzte Wort behalten. Das warme Bad als Schauplatz steht im Dienste dieser moralisatio, da der Reyen damit den Ursprungsort des Übels, das sich nun hinter verschlossenen Türen vollzieht, vor Augen führt: „Frauen“ und „Jungfrauen“ stehen sich im Bad gegenüber wie einst Sekierpera und Ambre. Indem Lohenstein die erregten Blicke des Publikums auf die Badenden – vor allem die badenden Jungfrauen – richtet, wird es selbst in die Position der begehrlichen Öffentlichkeit versetzt und auf performative und geradezu peinliche Weise vom Laster der Augenlust und seiner verheerenden Wirkung belehrt. Die Regie der Blicke wird auch für den nächsten Auftritt der Ambre, in der zweiten Szene der vierten Abhandlung, entscheidend. Ihre Vergewaltigung

144 Osterkamp: Lucifer, S. 74. 145 IS, S. 128 (Bühnenanweisung). 146 Entsprechend bemerkt Colvin: The Rhetorical Feminine, S. 49, dieser Reyen „may accord some visual satisfaction to an audience who are presumably both shocked and excited by the hidden dramatic events“. Auch hier ist also Asmuth: Die italienische Quelle von Lohensteins „Ibrahim Sultan“, S. 247 zu widersprechen, der analog zur Szene vor der Hagia Sophia in diesem Reyen einen Kontrast zum „friedlosen Serail des Sultans“ entdeckt.

6.4 Das Schauspiel der „boesen Sache“: Die Vergewaltigung der Ambre

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gerät hier noch nachträglich zum obszönen Schauspiel. Nachdem sich Ibrahim an ihr vergangenen hat, schickt er sie unter Achmets Geleit zurück zum Mufti. Ambre wird ihrem Vater und den anwesenden Funktionären präsentiert als „beschimpfft / befleckt / entbloeßt / verspeiet / Zerrissen / ausgelach’t / geschaendet und entweihet /“ (IS IV, 71–72). Die Obszönität, die nicht zur Darstellung kommen konnte, kommt hier zur Sprache und wird somit auf vermittelte Weise vergegenwärtigt. Schonungslos und in geballter Form entdeckt die asyndetische Reihung alle Etappen und Facetten des Frevels. Dabei ist gerade der sinistere Sadismus der Entehrung vordergründig, der die Möglichkeiten physischer und verbaler Gewalt in Gänze ausschöpft, um schließlich in der Entweihung zu kulminieren. Der ostentative Gestus der unehrenhaften Verstoßung aus dem Serail wird noch weiter forciert durch das Gewand, das Ambre trägt. Lohensteins Anmerkungen ist zu entnehmen, es sei „die groeste Unehre / mit zerrissenen Kleidern auß dem Seraglio gestossen [zu] werden“147. Dementsprechend tritt Ambre „in dem Huren-Kleide“ (IS IV, 79), gehüllt „Jn Saecke / Stroh und Haar“ (IS IV, 79) vor die Öffentlichkeit. Wurde sie durch den Sultan sowohl vom väterlichen Schutz als auch von ihrer Kleidung gewaltsam entblößt, so entdeckt dieses Kleid nun ihre Befleckung und Entweihung. Die weltliche Ehre der kaiserlichen Braut, als die sie nun „in Seid’ und Purper“ (IS IV, 74) gehüllt wäre, ist verwirkt und eindrücklich ins Gegenteil verkehrt. Das „Huren-Kleide“ wird zum Zeichen von Ibrahims Verspottung, die ebenfalls eine Form der Gewalt ist. Auch dieser Gewaltakt attackiert Ambres Keuschheit, die sie noch um den Preis ihres Lebens bewahren wollte.148 Zum Schutz ihrer Jungfräulichkeit nämlich wollte Ambre wie eine Nonne leben und „nach Calender Art“ (IS II, 97), also nach dem Brauch der sufischen Sekte der Qalandar, „Zu Kleidern Pferde-Haar“ (IS II, 98) tragen.149 Aufgrund seines Materials ähnelt das Hurenkleid diesem Nonnenhabit, sodass Ibrahim auf perfide Art Ambres Wunsch erfüllt, sich in Kleider aus (Pferde-)Haar zu hüllen, nur dass nun anstelle des Keuschheitsgelübdes in höhnischer Weise Ambres Ehrverlust ausgestellt wird. Durch das Hurenkleid, das ja ebenfalls Theaterkostüm ist, wird die Ostentation der Schandtat als obszönes Spektakel vordergründig, das in seinem Inszenierungscharakter aus den Mitteln und Möglichkeiten des Theaters schöpft. Dies wird wiederum moraltheologisch eingefangen, denn auch im patristischen

147 IS Anm. Lohenstein, S. 302, Z. 1404–1405. 148 Ihre letzten Worte vor der Vergewaltigung lauteten: „Ambre / die behertzt will hundert Tode leiden / Ja die den Henckerstrick mit Lachen kuessen will / Da sie nur Jungfrau stirbt.“ (IS III, 516–518). 149 Lohenstein führt hier den Vergleich mit „Moenche[n] und Nonnen“ (IS Anm. Lohenstein, S. 270, Z. 958) an, jedoch gibt es in der muslimischen Glaubenspraxis kein Äquivalent.

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6 Die Schauseite des Bösen

Diskurs kommt die öffentliche Zur-Schau-Stellung nicht nur der Schändung der Jungfrau gleich, sondern wird als solche mit der visuellen Konstellation des Theaters verglichen.150 Hier ist ebenfalls der zynische Kommentar Achmets einzuordnen, der Ambres schändliche Ausstellung begleitet. So solle der Mufti noch für die „Milde“ des Sultans dankbar sein: „Doch kanstu dieses noch fuer hoechste Gnad erheben: / Daß die Besudelte nicht Knechten frey gegeben / Und Sclaven ward entdeck’t.“ (IS IV, 75–77) Gerade Achmets Zynismus stellt dabei ein modernes Reflexionsmuster des Bösen dar.151 Zwar wird Ambre nicht den Blicken der Knechte und Sklaven „entdeckt“ und dadurch weiter erniedrigt und entehrt. Stattdessen wird sie in dem Moment, in dem sie ihrem Vater und seinen Verbündeten vorgeführt wird, deren Blicken unvermittelt preisgegeben. Sie bezeugen somit ihre Demütigung und haben zugleich zwangsläufig an ihr teil. Hatte der Mufti zuvor noch die Entsetzlichkeit der „boese[n] That“ (IS IV, 2) betont, die „unerhört“ (IS IV, 11), d. h. noch nie dagewesen sei, so wird diese atrocitas durch die nachträgliche Zurschaustellung des Opfers noch zusätzlich potenziert. Dies wird wiederum später auch von Ambre selbst thematisiert und mit der bereits bekannten Metapher des Würzens verknüpft, die für Ibrahims exzessive, orgiastische Bosheit steht: Und was noch Schmach und Schmertz Mir aermsten schaerffer wuertz’t; so muß ich hier erfahren: Daß dieser Hengst hier laeß’t noch ruhmbar offenbaren Sein Laster / meinen Schimpf (IS IV, 114–117; Hervorhebung IvH)

Ibrahim fungiert, wie bei seinen Orgien im Garten des Serails, auch hier als Spielleiter: Die Umstehenden sind seiner infamen Blickregie unterworfen und dadurch gezwungenermaßen am Frevel, den der Sultan verübt hat, beteiligt. Gleichzeitig werden sie selbst gedemütigt, da sie – allen voran der Mufti und Mehemet – ja die mittelbaren Opfer des ehrrührigen Verbrechens sind, das sich in der schamlosen Exposition der Vergewaltigten intensiviert findet. Diese visuelle Konstellation demonstriert sowohl die obszön-sadistische Lust des Despoten als auch seine grenzenlose Gewalt. Die Schändung der Ambre gerät zu einem umfassenden Spektakel, an dem in der Kette der Augen-Zeugen schließ-

150 Der Theatervergleich findet sich bei Cyprian: De habitu virginum XIX. Patrologiar cursus completus. Series latina. Hg. von Jacques-Paul Migne. Paris 1844–1864, Bd. 4, Sp. 439–464, hier: Sp. 458 und erwartungsgemäß bei Tertullian: De virginibus velandis. Corpus christianorum. Series latina. Hg. von Eligius Dekkers et al. 2 Bde. Turnhout 1954. Bd. 2, S. 1207–1226, hier: S. 1212, der bekannt ist für seine antitheatralische Polemik. Siehe auch Wild: Theater der Keuschheit, S. 117. 151 Vgl. Kapitel 2.5.

6.5 Die Hinrichtung Achmets als „offnes Schauspiel“

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lich auch Lohensteins Publikum teilhat und so die maß- und grenzenlose atrocitas Ibrahims bezeugt (indem es eben auch das innerfiktionale Bezeugen bezeugt) und Ibrahims folgenden Untergang billigt. In dieser nachträglichen Inszenierung der Vergewaltigung als obszönem Schauspiel kulminiert Ibrahims schädliche Schaulust und veranschaulicht ihre verheerende Wirkung.

6.5 Die Hinrichtung Achmets als „offnes Schauspiel“ Im Anschluss an ihre Exposition als Geschändete begeht Ambre gleichsam als Lucretia-Figuration Selbstmord – nicht ohne ihre Zeugen zuvor zur Rache für das an ihr begangene Verbrechen zu mahnen.152 In ihrem letzten Monolog eignet Ambre sich ihr Schand-Kleid an und kodiert es – mit eindrücklichem deiktischen Gestus – um: „Schaut! dieses Huren-Kleid / [soll] Der Keuschheit Purper seyn!“ (IS IV, 110–111) Der Ehre als geschlechtlicher Integrität ist sie durch Ibrahim gewaltsam beraubt, ihre spirituelle Keuschheit hingegen bleibt unangetas-

152 Auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass Lohenstein die Meinung vertritt, Selbstmord sei ein Verbrechen gegen die Verhängnisordnung, da Gott allein über Leben und Tod entscheidet, so verhandeln seine Dramen dies differenzierter – allen voran die Epicharis, in der mehr Figuren durch Selbstmord als durch Mord sterben. Vgl. zum Selbstmord bei Lohenstein und dem kultur- und rechtshistorischen Kontext: Wichert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz, S. 436–440 Der Arminius-Roman bearbeitet dies in einem expliziten Rekurs auf die Lucretia-Geschichte unter Bezug auf Augustins De civitate Dei und bezieht sich so auf den Stichwortgeber in der Auseinandersetzung um Lucretia. Zu Augustins Position und deren Wirkungsgeschichte in der Frühen Neuzeit vgl. Dane: Zeter und Mordio, S. 46–55; speziell in Lohensteins Arminius S. 197–212. Dane hat ebd., S. 200 gezeigt, dass der Selbstmord im Arminius weder verworfen noch als ideale Lösung dargestellt werde. Lucretias unbestreitbarer Verdienst sei es jedoch gewesen, „das Joch der königlichen Tyranney“ (Lohenstein: Arminius, S. 432a) abzuschütteln und lässt damit auch das Problem, das ihr Suizid moraltheologisch darstellt, hinter sich. In diesem Sinne wird im Ibrahim Sultan Ambres Opfer in Verbindung mit Lucretia gesetzt: „Rom lehr’t uns am Tarqvin: daß / wenn man Schaender stuertz’t / Die unser Haupt gleich sind / Gott pfleg’t das Werck zu segnen.“ (IS IV, 226–227) Nicht nur verleiht der Verweis auf dieses positiv konnotierte Ereignis der römischen Geschichte dem osmanischen Unternehmen beim deutschen Publikum großes Gewicht (vgl. Ebert: Türkenbild, S. 183). Der Umstand, dass „Lohenstein’s Turks know their Roman history“, deutet darüber hinaus auf Lohensteins universelle politische und moralische Agenda, wie auch Newman folgert: „The similarities to traditional, Western scenarios suggest that, while Lohenstein knew that his source materials depicted Ottomans’ diplomatic activities and strategies as specific to their geo-political needs and goals, he clearly did not aim to restrict his text exclusively to the Turks. Indeed, the play stresses from this point on the parallels between the issues confronting the ‘East’ and the ‘West’.” (beide Zitate aus Newman: Disorientations, S. 348).

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6 Die Schauseite des Bösen

tet.153 Davon soll sich ein jeder mit eigenen Augen überzeugen und schließlich ebenjene Unversehrtheit bezeugen, die sie mit „Der Keuschheit Purper“ zur Schau trägt. Ambre tritt damit aus der Machtlosigkeit heraus, die sie aufgrund ihrer gewaltsamen Entehrung erfahren hat.154 Sie wendet Ibrahims perfiden Umgang mit Ostentation und Zeugenschaft gegen ihn. Durch den Akt des Bezeugens – des Schauens – ihrer unversehrten Keuschheit lässt sie auch die Umstehenden daran teilhaben und verleiht ihnen damit erneut Handlungsmacht. Mit dieser visuellen Konstellation des Zeugens und Bezeugens ist Ambre in den Horizont des christlichen Martyriums gestellt. Darin ist eine weitere Parallele zu Lucretia zu erkennen, die in ihrer spätantiken und mittelalterlichen Rezeption als Repräsentantin eines christlichen Ethos der Keuschheit in paganem Gewand galt und so in die Nähe biblischer Vertreterinnen und christlicher Märtyrerinnen gerückt wurde.155 Darin ist die universalisierende Tendenz von Lohensteins Tugendund Keuschheitsvorstellungen zu erkennen, die Gültigkeit auch jenseits der christlichen Vorstellungwelt und Glaubensrichtung haben. Mit den Anleihen an das Martyrium ist außerdem gegenüber dem christlichen Publikum ein einschlägiges und wirkungsvolles Instrument am Werk, das dem Anliegen von Ibrahims Gegnern weiter Gewicht verleiht und es sanktioniert. Nicht zuletzt wendet Lohenstein das Martyrium ins Politische und lässt damit Gryphius’ Dramatik hinter sich, in der das Martyrium als tröstender Zweck des Trauerspiels die zentrale Position vor dem politischen Historiengegenstand einnimmt. Bevor sie sich erdolcht, spricht Ambre: „Des Himmels rechte Rach’ und eure Huelffe goenne / Daß an dem Blutthund’ ich mich bald gerochen schau!“ (IS IV, 128–129) Nicht nur die Rache selbst, die als figura etymologica Ambres Ausruf do153 Die Keuschheit – anders als die Ehre – betrifft das Verhältnis der Frau zum gnädigen und strafenden Gott, wobei im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts der Reyen „unmissverständlich klärt, dass die Keuschheit der Frau erhalten geblieben ist“ (Dane: Zeter und Mordio, S. 170). „Die Keuschheit aber behaelt den Sieg“ (IS, S. 13 [Inhalt]) bestätigt auch der zweite Reyen des Ibrahim Sultan, in dem die Keuschheit gegen die Wollust und deren so zu nennenden Begleiterscheinungen wie Schande und Gewalt kämpft. Der Reyen beantwortet damit die Frage nach der Versehrung von Ambres Keuschheit im Voraus und stellt noch vor dem einschneidenden Ereignis der Notzucht sicher, dass sündige Anfechtungen ihr nichts anhaben können: „Der Blutthund zwar kan Ambrens Leib verderben; / Doch wird die Seel’ in Ambren Jungfrau sterben.“ (IS II, 681–682). 154 Zum „Bewußtsein einer anhaltenden Machtlosigkeit“, das sich im sozialen und emotionalen Spannungsfeld von Scham und Schande angesichts des Ehrverlusts einstellt, siehe Dane: Zeter und Mordio, S. 107. 155 Auch Rau: Leiblichkeit als paradigmatische Fremde, S. 291 verortet Ambre „auf halber Strecke zwischen der vorchristlichen römischen Lukretia und der wahren christlichen Dulderin und Märtyrerin“, auch wenn seiner Identifikation Ambres als Dulderin insofern zu widersprechen ist, dass sie ja gerade anstelle der Erduldung ihres Ehrverlusts den Suizid wählt.

6.5 Die Hinrichtung Achmets als „offnes Schauspiel“

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miniert, auch das Schauen der Rache ist hier vordergründig. Es zeigt sich, dass der Schau-Aspekt bzw. die Ostentation ebenso zentral für die Darstellung des Bösen wie für seine „rechte“ Ahndung ist. Dies wird an der Hinrichtung Achmets demonstriert. Noch bevor Ambre von Achmet vorgeführt wurde, hatte sich in der ersten Szene der vierten Abhandlung aufgrund der doppelten „Greuel-That“ (IS IV, 6) – der „Noth- und Unzucht“ (IS IV, 7) sowie dem Verbrechen gegen die Geistlichkeit – um den Mufti und die Regierungsräte der Aufstand zum Sturz Ibrahims formiert. Um diesen erfolgreich ins Werk zu setzen, wurde beschlossen, zuerst Achmet, der nach Ibrahims eigener Aussage „Des Sultans rechter Arm“ (IS V, 475) ist, auszuschalten, denn „Ein Schif und Reichs Haupt ist schon mehr als halb gestuertzet / Wenn diß der Diener- wird und jenes Ancker-loß.“ (IS IV, 52–53).156 Als Agent des deformierten Staatsapparats sowie als Vertreter eines stummen Gehorsams, der gewährleistet, dass sich Ibrahims Despotismus ungehemmt entfalten kann, ist Achmet der „Beförderer des Bösen“157 und wird als „Dieb und

156 In ihrer strategischen Analyse berufen sich die Aufständischen auf den Sturz Karls I. von England als dem zeitgenössischen Präzedenzfall des Fürstenmordes: „Der Britten Haupte fehl’t nur noch der zehnde Stoß / Zum Schiffbruch / seit daß er den Pfeiler eingebuesset / Durch Strafforts treuen Kopf.“ (IS IV, 54–56) In diesem Zusammenhang ist Newman: Disorientations, S. 349 zuzustimmen, die zu dem Schluss kommt: „From the position of historical hindsight, then, Lohenstein’s political analysis reveals more similarities than differences between the Turks and the Europeans at the time, especially as concerns the mechanics of power at the court.” Dem wäre hinzuzufügen, dass bei Lohenstein der Fürstensturz als offenbar universelle politische Herausforderung nur so vorbehaltlos – vor allem im Gegensatz zu Gryphius’ Leo Armenius und selbstredend dem Carolus Stuardus – dargelegt werden kann, weil dies eben vor dem Hintergrund einer Kultur geschieht, die sich in sicherer Distanz zur eigenen befindet. Durch den osmanischen Schauplatz entsteht eine Art Spielraum, in dem diese heiklen Fragen verhandelbar werden. Gleichzeitig qualifizieren sich die Osmanen, indem sie sich am Sultan für das universelle Verbrechen der Vergewaltigung rächen, nach Grotius als „gens melior“, wie bereits oben auseinandergesetzt wurde. Ihr Vorgehen ist damit sanktioniert und sie sind unweigerlich in die Nähe der europäisch-christlichen Völker gerückt. Einmal mehr zeigt sich, dass Lohensteins Darstellung der Osmanen zwischen Nähe und Distanz, wie eben auch zwischen Aversion und Faszination, changiert. 157 Wie bereits weiter oben angeführt nennt Rau: Leiblichkeit als paradigmatische Fremde, S. 283 Kiosem die „Beförderin des Bösen“. Die vorliegende Analyse hat jedoch gezeigt, dass diese Zuschreibung ausgeweitet werden kann auf Sekierpera und Achmet, die ebenfalls um jeden Preis Ibrahims Macht erhalten wollen und dafür mit je eigenen Mitteln seine Bosheit „verwalten“. Bereits die Figurenkonstellation der zweiten Szene des Dramas, in der Kiosem, Sekierpera und Achmet geschlossen auftreten und Ibrahim von der Vergewaltigung der Sisigambis abbringen, deutet darauf hin, dass diese Figuren eine ebensolche Trias bilden.

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Kupler“ (IS IV, 13), als „Werckzeug seiner [Ibrahims] Laster“ (IS IV, 35), als „boeser Knecht“ (IS IV, 41) und schließlich wiederholt als „Boesewicht“ (IS V, 335; 354; 385) denunziert. Da Achmet die ausführende Instanz war, unter der sich das sinistere Spektakel von Ambres Zurschaustellung vollzogen hatte, wird ihm eine Strafe zuteil, in der sich diese letzte Schandtat spiegelt. In der fünften Abhandlung wird Ibrahim durch eine Intrige der Verschwörer dazu bewegt, Achmet abzusetzen und Mehemet an seiner Stelle zum Großwesir zu machen. Achmet sucht daraufhin Schutz im Haus des Muftis, trifft dort auf die versammelten Regierungsräte und wird unehrenhaft erwürgt. Doch damit nicht genug, denn Bectas ordnet die verlängerte Bestrafung Achmets an dessen Leichnam an: „Laß’t den erstickten Hund zu offnem Schauspiel werffen / Fuer’s neue Kirchen-Thor: daß alles Volck schau’ an: Wie hoch ein grosser Baum durch Laster fallen kan.“ (IS V, 440–442) Achmets Hinrichtung wird somit nachträglich öffentlich ausgestellt. Sowohl die Verlängerung der Strafe als auch deren Zurschaustellung als „offnem Schauspiel“ reflektiert in sich Ambres Vorführung als Geschändete. Dabei ist wiederum der Schauplatz, nämlich das „neue Kirchen-Thor“ bedeutsam, da es auf Ambres ersten Auftritt auf dem „Vorhof der heiligen Sophien-Kirche“ zurückweist und nun denjenigen exponiert, der als Ibrahims Handlanger dieses fromme Tableau zerschlagen und sich an ihr und der Geistlichkeit vergangen hat. Mit der Ostentation von Achmets totem Leib wird ein Zeichen gesetzt, das sowohl auf Mahnung als auch moralisatio abzielt, da sie eben demonstriert, „Wie hoch ein grosser Baum durch Laster fallen kann“, dass also auch die Bosheit der Mächtigen bestraft wird. Dass diese Demonstration „alles Volck schau’ an“, deutet wiederum hin auf den universellen Anspruch dieses Spektakels. Hier manifestiert sich das „offne[] Schauspiel“, das der Ibrahim Sultan selbst ist. Laster und Strafe bilden zwei Seiten des Bösen ab und sind hier gleichermaßen als „Schau Spiel“ arrangiert. Achmets Zurschaustellung ist letztlich selbst ein durchkomponiertes Tableau der gerechten Rache. Sein „Fallen“ – oder eher „Fällen“ – antizipiert dabei den Sturz Ibrahims, wie sodann der Oberbefehlshaber der Janitscharen, Kul-Kiahia, ergänzt: „Doch diß ist’s Vorbild nur des rechten Trauer-Spieles.“ (IS V, 451) Das Ende des Sultans (und damit des Schauspiels Ibrahim Sultan) ist dieses „rechte“ – also das eigentliche und gerechte – Trauerspiel.

6.6 Das Ende des Ibrahim Sultan als „rechtes Trauer-Spiel“ Die Gerechtigkeit ist für das Unternehmen, Ibrahim zu entmachten, leitend. Die Rebellen folgen dabei völkerrechtlichen Konventionen (Grotius), europäischchristlichen Vorbildern (Lucretia, biblische Vertreterinnen, christliche Märtyre-

6.6 Das Ende des Ibrahim Sultan als „rechtes Trauer-Spiel“

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rinnen) und befinden sich in Übereinstimmung mit der göttlichen Gerechtigkeit und Rache, die sich bereits im ersten Reyen formuliert hatte. Ibrahims böse Lust ist am Ende des Trauerspiels zur „verdammte[n] Lust“ (IS V, 622) geworden und damit sowohl vor weltlicher als auch metaphysischer Instanz strafwürdig. Ibrahims Absetzung verläuft bemerkenswert friedlich:158 Der Sultan widersetzt sich drei Mal der Aufforderung vor den Diwan, den osmanischen Reichsrat, zu treten, um Rechenschaft vor seinen Untaten abzulegen. Indem er dem „Gesetz und’s Divans Rath“ (IS V, 515) Widerstand leistet, ist seine Entmachtung ordnungsgemäß begründet. Ibrahim ist dem Urteil des Diwans schutzlos ausgeliefert, da diejenigen Figuren, die um den unbedingten Erhalt seiner Macht bemüht waren, eliminiert sind: Sekierpera hat den Schauplatz verlassen, Achmet wurde hingerichtet und Kiosem befindet sich durch die Überzeugungsarbeit des Muftis mittlerweile auf der Seite der Rebellen.159 Der Sultan wird durch „das Gesetz’ entkroenet“ (IS V, 604), wobei der Mufti zum Verkünder des Rechtsspruchs wird: „Du bist kein Kaeyser mehr. Des Divans Schluß hat dir / Hals / Ehre / Kaeyserthum rechtmaessig abgesprochen.“ (IS V, 618–619) Nicht nur wird Ibrahim unehrenhaft des Amtes („Kaeyserthum“) enthoben, auch ist über ihn die Todesstrafe („Hals“) verhängt. Kiosem gelingt es, das Todesurteil abzumildern. Indem sie Ibrahim nachträglich dazu bewegt, zugunsten seines Sohnes und ausgemachten Thronfolgers Machmet (historisch: Mehmed IV.) abzudanken, erwirkt sie, dass Ibrahim lediglich in den Kerker verbannt wird. Er kehrt damit gar an seinen Ausgangspunkt zurück: Die Regentschaft seines Bruders Amurath hatte er ja in ebendiesem Kerker verbracht, bis Kiosem ihn nach Amuraths Tod daraus befreite und in die Macht setzte. Doch auch innerhalb der Topographie des Dramas sind wir in dieser Szene an einen Ausgangspunkt zurückgekehrt. Denn die Entmachtung Ibrahims findet im Thronsaal „Hosada“ statt. Bereits in der Exposition des Dramas bildete dieser die Kulisse für die Beratung der politischen und militärischen Funktionäre über „des Ibrahims boese Regirung“. Diese bestand ja im Wesentlichen darin, dass Ibrahim seinen Regierungspflichten nicht nachkam und der Thron als Insignie und Zentrum seiner Macht praktisch unbesetzt blieb. Seine Entthronung erscheint vor diesem Hintergrund nur mehr als bloße, wenn auch notwendige, Formalität.

158 Auch Newman: Disorientations, S. 349 kommt zu dem Schluss: „[T]he text actually explores the way in which the Turks achieve a surprisingly peaceful negotiation of a resolution to the political crisis faced by an imperial state apparatus.” 159 Am Ende der vierten Abhandlung hatte Kiosem unter Einfluss des Muftis „so wohl in ihres Sohns Ibrahims (doch daß er beym Leben bleibe) als des Achmets Absetzung stimmet / und hierzu zuhelffen angelobet.“ (IS, S. 14 [Inhalt]).

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Ibrahims Absetzung wird die Einsetzung von Ibrahims Nachfolger Machmet, seinem ältesten Sohn, noch in derselben Szene entgegengesetzt. Die Zeremonie zur Thronerhebung Machmets ist im Drama derjenigen Amuraths nachgebildet, wobei dieses Ähnlichkeitsverhältnis zum Kunstgriff wird.160 Auch wenn Amurath keineswegs ein makelloser Fürst war, so ist doch durch diese Wiederholungsstruktur ein Kontinuum konstruiert. Vor diesem Hintergrund erscheint Ibrahims Regentschaft, deren Verbechen „unerhört“ (IS IV, 11) sind und noch nie dagewesen – „Kein Sultan hat noch nie die Jnfel so versehr’t / So scheutzlich sich befleck’t.“ (IS IV, 10–11; Hervorhebung IvH) –, als erratische Episode, die aufgrund ihrer Entsetzlichkeit aus der Geschichte herausragt, jedoch nicht deren Endpunkt markiert. Dies prophezeit schließlich auch der Geist des verstorbenen Amurath: „Denn’s Reich […] / Reich’t ueber der Vergeltung enge Schrancken.“ (IS IV, 319– 320) Die Institution des Sultanats sowie die Majestät bleiben unversehrt und überdauern das Zwischenspiel aus Bosheit und gerechter Rache.161 Als Konstante im Wiederholungs- und Wechselspiel der Sultane tritt Kiosem in den Vordergrund. Sie ist nunmehr dreifache Sultansmutter, denn sie hat drei Sultanen, zwei Söhnen und nun einem Enkel, an die Macht verholfen. Sowohl auf Amuraths als auch Ibrahims Regentschaft übte sie bedeutenden Einfluss aus und auch Machmet gelobt, sich aufgrund seines noch jungen Alters auf den „Witz der Sultanin“ (IS V, 720) zu verlassen. Angesichts von Machmets Thronerhebung ruft Kiosem aus: „Verwirrtes Trauerspiel! verkehrte Mitter-Nacht! / Da ich den Sohn vergeh’n / den Enckel wachsen schaue.“ (IS V, 690–691) Jedoch ist Kiosem keine tatenlose Zuschauerin bei diesem Geschehen, sondern seit jeher maßgeblich beteiligt an dieser Reproduktion dynastischer Schuld, von der die osmanische Herrschaft geprägt ist. Schließlich war sie zuletzt auch an der Absetzung Ibrahims beteiligt. Mit dem Amtswechsel zwischen Sohn und Enkel wird nicht zuletzt Kiosem selbst ihrem eigenen Verhängnis zugeführt. In der vierten Abhandlung war ihr Amuraths Geist erschienen und hatte ihr prophezeit, dass sie einst von der neuen Sultansmutter ermordet werden würde: „Denn deinen Lebens-Drat wird 160 Lohensteins Anmerkungen ist mit Bezug auf Bisaccionis Bericht zu entnehmen: „Alle hier beschriebene Ceremonien sind auch bey Erwehlung des Amuraths IV. im 1623. Jahre dergestalt verrichtet worden.“ (IS Anm. Lohenstein, S. 334, Z. 1859–1860). 161 Ganz ähnlich nennt Alt: Tod der Königin, S. 156 Ibrahims Herrschaft ein „Intermezzo des Lasters“ und kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass Lohenstein „hier die aus der christlichen Tradition des Kirchenrechts stammende Auffassung von der zeitlosen Dauer des Amtes in die pagane Welt des türkischen Imperiums“ übertrage. Dem lässt sich hinzufügen, dass sich darin einmal mehr Lohensteins universalisierende Agenda manifestiert, derzufolge eben auch die Würde der Souveränität jenseits des christlich-europäischen Vorstellungsraums Gültigkeit besitzt.

6.6 Das Ende des Ibrahim Sultan als „rechtes Trauer-Spiel“

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ein frech Weib zerschneiden; / Ob schon ihr Sohn durch dich zum Kaeyser wird erhoeh’t.“162 (IS IV, 311–312) Sie wird somit selbst zum Opfer dieser Abfolge von Gewaltstrukturen, die sie als „Beförderin des Bösen“ selbst kultiviert hat. Das „verwirrte Trauerspiel“ deutet damit auch auf Kiosems eigenes Drama. Es wird zum Beispiel ebenjener „Entelechie des Bösen“163, die das Kontinuum der osmanischen Herrschaft bislang determiniert hat und sich nach dem Ende des Schauspiels Ibrahim Sultan noch weiter fortzeugt. Denn Kiosem geht keineswegs geläutert aus den Ereignissen um ihren Sohn Ibrahim hervor, wie Lohensteins Anmerkungen zu entnehmen ist: Als Jbrahim todt und sein kleiner Sohn Machmet Kaeyser ward / maaßte sich Kiosem Jbrahims Mutter der Herrschafft alleine an. Diese Gewalt / […] kam des Machmets Mutter / die ihres erwuergten Ehe-Mannes Beyspiel taeglich fuer Augen hatte / sehr verdaechtig fuer / also daß sie auch fuer des Machmets Leben in Sorge stand.164

Machmets Mutter stiftet daher eine Palastintrige an, in deren Zuge Kiosem ermordet wird. Kiosem wird folglich von ihresgleichen, nämlich ihrer dynastischen Nachfolgerin als Sultansmutter, ausgeschaltet. Als Widerspiel von Schuld und Strafe handelt es sich auch dabei in letzter Konsequenz um ein „rechtes Trauerspiel“, in dem sich das Böse abschließend selbst tilgt.165 Ähnliches kann sodann auch für Ibrahim konstatiert werden. Während die Inthronisation seines Sohnes zur Ostentation von imperialer Macht und Würde erwächst, an der „ALLE“ – Klerus, Militär und „Volck“ (IS V, 701) – teilhaben, und somit der Schau-Aspekt des „rechten Trauerspiels“ befriedigt wird, ist Ibrahims Ende den Augen der Öffentlichkeit entzogen. Lohenstein gewährt in der letzten Szene des Dramas leidglich seinem Theaterpublikum einen exklusiven Einblick in den „Kercker“166 des Serails. Um diesem verordneten lebendigen Be162 Alt: Tod der Königin, S. 154 identifiziert als dieses „frech Weib“ fälschlicherweise die „Ehefrau ihres [Kiosems] Enkels“, jedoch handelt es sich stattdessen um „des Machmets Mutter“ (IS Anm. Lohenstein, S. 304, Z. 1431), also die mittlerweile verwitwete Frau ihres Sohnes. Im Drama trägt diese den fiktiven Namen Fatima. Kiosems Mörderin ist also diejenige Sultanin, die sich noch im Drama gerade im Gespräch mit ihr als historisch besonders versiert zeigte hinsichtlich der blutigen Tradition des dynastischen Mordens im Osmanischen Reich und dabei gleichzeitig moralische Integrität bewies, siehe Kapitel 6.3. 163 Alt: Tod der Königin, S. 154. 164 IS Anm. Lohenstein, S. 304, Z. 1428–1433. Lohenstein bezieht sich in seinen Ausführungen auf Ricauts Histoire de l’état présent de l’empire Ottoman (1670). 165 Zu dieser Konklusion kommt auch Alt: Tod der Königin, S. 154: „Aus der Perspektive der Zukunftsschau erscheint, was zunächst wie eine Erfüllung von Naturgesetzen im Bann der politischen Despotie anmutet, als Konsequenz einer höheren Vernunft, die dadurch wirkt, daß sie das Böse sich selbst vernichten läßt.“ 166 IS, S. 192 (Inhalt).

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gräbnis, wie Ibrahim es bezeichnet,167 ein vorzeitiges Ende zu bereiten, will er Selbstmord verüben. Mit dem Entschluss zum Suizid will sich Ibrahim dem gerechten Urteil über seine Verbrechen entziehen und gleichzeitig seine Eigenmacht behaupten, obgleich sie ihm aberkannt wurde. Schließlich sieht er sich selbst immer noch als „Stamboldens Sonn’“ (IS V, 725), also als den Kaiser des Osmanischen Reichs, an. Doch der Suizid, durch den Ambre sich und das Osmanische Reich gerade von Ibrahims Tyrannei befreit hatte, bleibt Ibrahim versagt. Er kann den „selbst-erkieste[n] Tod“ (IS V, 756) als exekutive Handlung nicht vollstrecken, da er nicht mehr über die nötigen Machtwerkzeuge – allen voran den „scharffen Dolch“ (IS V, 757) – verfügt. Stattdessen ist er nun endgültig einer höheren Macht untergeordnet, die sich ihm daraufhin in Gestalt von Ambrens Geist präsentiert. Ambre erscheint als Rachegeist. Da „er mich den Abgott seiner Bruenste / Jn seinen Hencker sich so bald verwandeln sih’t.“ (IS V, 789–790), erfüllt sich der Beschluss der göttlichen Rache aus dem ersten Reyen: Die Wollust als Substrat des Bösen vernichtet sich schließlich selbst. Die Laster- und Strafökonomie, die Lohensteins Dramatik zugrunde liegt, gelangt hier zur Verwirklichung und transzendiert dabei in der Figur des Geistes die Grenzen zwischen weltlicher und metaphysischer Ebene. Ambre ist auf diese Weise als frommes „Werckzeug meiner [d. h. der göttlichen] Rache“ (IS I, 676) entdeckt, das Ibrahim seinem Verhängnis zugeführt hat, um ihn nun als Rachegeist der Hölle als jenseitigem Strafort zu überantworten: „Auf! Blutthund auf! nim nunmehr wahr: / Daß / wie der Hencker dir schon nach der Kehle greiff’t / Der Abgrund auch sein Schwerdt auf deine Seele schleiff’t.“ (IS V, 799–801) Zur Vollstreckung von Ibrahims Verhängnis ruft Ambre, die hier als eine Art Exekutivgewalt fungiert, schließlich „Stumme“ hinzu. Sie sollen Ibrahim erwürgen: „Auf! Stumme / fallet ihm ins Haar /“ (IS V, 802) In der Ordnung des inneren Serails bildeten die „Stummen“ (osmanisch Dilsiz: ohne Zunge) eine eigene Dienerschaft, die dem direkten Befehl des Sultans unterstand.168 Sie verrichteten Aufgaben, die besondere Geheimhaltung erforderten, darunter auch Exekutionen, wie Lohensteins Anmerkungen zu entnehmen ist: „fuernehmlich aber werden sie zu Erwuergung grosser Herren gebrauchet / wie […] hier dem Jbrahim geschehen.“169

167 „Soll’n wir lebendig seyn in diesen Sarch vergraben“ (IS V, 727). 168 Vgl. Bernard Lewis: Art. Dilsiz. In: Encyclopaedia of Islam. Hg. von Bernard Lewis u. a. 2. Aufl. Leiden 1965, Bd. 2, S. 277. Die Dilsiz waren keineswegs ‚stumm‘, sondern verfügten über eine elaborierte Zeichensprache, mit der sie sich untereinander sowie mit ihren Befehlshabern verständigten. 169 IS Anm. Lohenstein, S. 338, Z. 1916–1919.

6.6 Das Ende des Ibrahim Sultan als „rechtes Trauer-Spiel“

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Die Stummheit von Ibrahims Henkern verweist in der Konzeption des Dramas zurück auf Sekierperas stumme Präsenz bei Ambres Vergewaltigung und auf den stummen Gehorsam, den Achmet seinem Sultan gegenüber geleistet hatte. Schließlich repräsentieren hier nicht nur die Stummen ein exotisch anmutendes Kuriosum, sondern auch der stumme Gehorsam.170 Im übertragenen Sinne kann aus diesem Schlusstableau abgeleitet werden, dass Ibrahim schließlich durch den institutionalisierten stummen Gehorsam hingerichtet wird, der durch die Stummen verkörpert wird. Sowohl seine nunmehr „verdammte Lust“ (in Gestalt der Ambre) als auch seine „boese Regirung“ (in Gestalt der Stummen) rächen sich an ihm. Die Stummen und Verstummten bzw. diejenigen, die stumm gemacht wurden, werden mündig. Diese Szene weist unübersehbare Parallelen zur letzten Szene in Gryphius’ Catharina von Georgien auf (siehe Kapitel 3.6). Auch wenn Ibrahim, im Gegensatz zu Chach Abas, in keinem Moment auch nur das geringste Anzeichen der Reue demonstriert, ist doch in beiden Fällen das böse Gewissen die richtende Instanz, die sich im Jenseits der Hölle verlängert findet. So spricht Ambre zu ihrem „Ertzt-Schaender“ (IS V, 776) Ibrahim, bevor sie ihn in die Hölle schickt: „Dir selber sag’t schon dein Gewissen wahr“ (IS V, 781). Auch er erkennt das Verhängnisurteil an: „Ja / leider / Ach! ich muß verdamm’t seyn und verzweifeln!“ (IS V, 808) In dieser Demut macht sich gar ein Wandel bemerkbar. Noch angesichts des weltlichen Richtspruchs, der ihm vom Mufti mitgeteilt wurde, hatte Ibrahim ignorant und ebenso provokativ, ja geradezu zynisch gefragt: „Ach! was hat Jbrahim so grosses denn verbrochen?“ (IS V, 620) Nun befindet er sich dagegen in Übereinstimmung mit dem Verhängnisurteil, was ihn schließlich – ähnlich Zoroaster und der Titelheldin Agrippina – dazu befähigt, die vierte Wand zu durchbrechen: „Lernt Sterblichen: wie scharff des hoechsten Pfeile seyn / Wenn er sie lange Zeit in Langmuths-Oel weich’t ein!“ (IS V, 813– 814) Die Lehre des „rechten Trauerspiels“ formuliert sich am Ende nicht ex negativo, sondern artikuliert sich ganz unmittelbar durch den Protagonisten. Einzig die Erkenntnis der Verhängnisordnung, also die Transzendenz, berech-

170 Auch Ebert: Vom Barbaren zum aufgeklärten Herrscher, S. 171 erklärt zur Darstellung des blinden Gehorsams im Ibrahim Sultan mit Bezug auf IS Anm. Lohenstein, S. 302, Z. 1409–1422: „Indem Lohenstein diesen fehlgeleiteten Gehorsam nicht nur für die Türken feststellt, sondern diesen Brauch für den gesamten Orient belegt, distanziert er sich und die Leser weithin von dieser Form des Gehorsams. Dieser Brauch ist sozusagen eine exotische und sensationelle Ausprägung, eine Verformung, die so weit entfernt von der eigenen Kultur stattfindet, daß sie nichts mit der eigenen zu tun hat.“ Eberts Interpretation ist hinzuzufügen, dass sich dahinter auch die Warnung Lohensteins an seine Adressaten und sein Publikum verbirgt, diese Form des Gehorsams nicht zu kultivieren, da sie sich, wie Ibrahims Ende zeigt, einst rächen wird.

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tigt dabei zur Überwindung der Grenzen zwischen Bühnenraum und Zuschauerraum und konterkariert damit das Exzessive, Orgiastische und Transgressive, das durch Sultan Ibrahim zur Schau gestellt wurde. Im anschließenden letzten Reyen wird „seine Boßheit“ sodann im Jenseits vergolten. Die Höllenstrafen spiegeln dabei, der frühneuzeitlichen Strafökonomie und Moraldidaxe folgend, Ibrahims schädliche Neigungen wider und lassen sie somit noch einmal Revue passieren. Bestraft werden seine Unersättlichkeit, seine Mordlust und seiner Wollust. Begleitet von Ambres Geist wird Ibrahim der nächsten metaphysischen Instanz in Gestalt infernalischer Quälgeister übergeben, auf die Ambre seinen Blick nun lenkt: „Dort wird der Baum der Bitterkeit mit Fruchten / Die Kost nach Arth der Teufels-Koepff’ anrichten“ (IS V, 896).171 Diese teuflische, bittere Kost reflektiert in sich die „Kost der Tyrannei“, zu der durch Ibrahim Ambres Tugend wurde und die eigentlich eine von Natur aus süße Speise war. Dies sei jedoch nur die Vorspeise, wie ihm nun „die hoellischen Geister“172 selbst verkünden: Jß! Blutthund / iß! schmeck’t dir der Vorschmack nicht? / So sihe wie durch Teufel dort von ferne / Dir wird die rechte Taffel angericht! Diß sind nur Huelsen / jenes sind die Kerne. (IS V, 897–900)

Während die Vergewaltigung als Hülse das sichtbare Äußere oder Äußerste seiner Gräuel darstellt, so bildet noch etwas anderes den Kern seiner Bosheit. Zu seinem ewigen, abgeschmackten Bankett wird Ibrahim auf einen „Stuhl“ gesetzt, „Der in dem Hartzt / wie seiner schwam im Blutte“ (IS V, 902). Der infernalische Thron verweist auf seine blutige Herrschaft und nicht zuletzt auf das vergossene Blut seiner Söhne. Dass dieser Thron nun im Pech der Hölle schwimmt, greift wiederum die liquide Metaphorik auf, die Ibrahims Verschwendungssucht und Überflusswirtschaft gekennzeichnet hat. Kurz vor seiner Ermordung hatte Ibrahim dies gar kommen sehen, da er ausrief „Jch […] schwimm’ im schwartzen Meer!“ (IS V, 810). Nicht nur nimmt das schwarze Meer das Pech vorweg, in dem er nun schwimmt. Der Ausdruck deutet ebenso zurück auf den Bosporus. Dieser ist nicht nur die Wasserstraße, die zum Schwarzen Meer führt, sondern er hatte, wie der allegorische Thrakische Bosporus im Prolog verkündet, unter Ibrahims Ty-

171 Lohensteins Anmerkungen ist zu entnehmen, dass er hier eine islamische Höllenvorstellung rezipiert: „Ferner dichten sie [die Muslime]: […] Jn der Mitte der Holle stuende ein reicher Baum / welcher Aepffel wie Teuffels-Koepffe truege / und Zoaccum Agacci oder der Baum der Bitterkeit hiesse / und im Feuer allezeit gruen bliebe.“ (IS Anm. Lohenstein, S. 340, Z. 1947–1952). 172 IS, S. 196 (Personenverzeichnis).

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rannei selbst die Farbe „der schwartzen Unzucht-Kertzen“ (IS P, 45) aus Amber angenommen und war geschwärzt durch „seine [Ibrahims] Boßheit“ (IS P, 47). Kern seiner Bosheit, das Laster, das ihr zugrunde liegt und gleichzeitig alle Gräuel hervorgebracht hat, ist die luxuria, die sowohl seine Verschwendungssucht als auch seine Wollust bezeichnet. Die Anrichtung des Banketts schließen die Höllischen Geister sodann mit der Lehre des rechten Trauerspiels: „Denn wer durch Brunst dem Teufel sich vermaehlet; / Dem wird die Glutt zum Braut-Bett’ außerwaehlet;“ (IS V, 905–906) Die Metaphorik von „Brunst“ und „Glutt“ ruft zuallererst den bekannten Topos auf, gemäß dem in der geilen Brunst im Diesseits immer schon die Glut der Hölle vorbereitet ist. Dass Ibrahim die Hölle zum „Braut-Bett“ wird, ruft ein letztes Mal den Inbegriff seiner Laster und Verbrechen auf, nämlich den Moment, in dem er sich Ambre „fingernackt in unser Bette werffen“ (IS III, 507) ließ. Schließlich konterkariert Ibrahims teuflische „Vermählung“ in Wollust die keusche Vermählung und Ehe der österreichischen Kaiser als matrimonium politicum et morale. Dementsprechend wird auch die Rede der Höllischen Geister von den Göttinnen „Claudia und Felicitas“ abgelöst. In deren Gestalt hat die neue Gemahlin Leopolds I. einen „Gastauftritt“173 und verkündet die glorreiche Zukunft der Habsburger. Hier schließt sich also der Kreis: Es wiederholt sich die aus Widmung und Prolog bekannte dichotomische Konstellation, in der die Habsburger Kaiser „Mit Sonnen pral’n / wofuer die [osmanischen] Monden untergeh’n.“ (IS V, 930). Widmungsvorrede, Prolog und letzter Reyen fungieren somit gleichsam als Rahmung des dramatischen Geschehens, in dem „boese Lust“ und „boese Regierung“ unmittelbar zur Darstellung gebracht wurden. Mittels dieser paratextuellen Einfassung wird die dramenimmanente Handlung mit ihrer exzessiven atrocitas aufgefangen. Vice versa gilt: Gerade weil das Böse durch diese heilvolle Fokussierung abgefedert ist, kann es im Dramengeschehen umso vehementer zur Anschauung kommen. Schließlich ist das Schauen auch am Ende des Ibrahim Sultan von zentraler Bedeutung, wie sich an der Aufforderung der Göttin Felicitas „Jhr keuschen Seelen / kommt und schau’t“ (IS V, 919) ablesen lässt. Während die keuschen österreichischen Kaiser „in’s Paradiß“ (IS V, 912) aufsteigen, fährt der geile Sultan „in den Hellen-Schlund“ (IS V, 875), der an den „erzuernten Bosphors Schlund“ (IS P, 2) erinnert, mit dem der Prolog eröffnet wurde. Der Reyen berichtet damit, was der Prolog angekündigt hatte, und bringt zur Sprache, was das Titelkupfer zum „Schau Spiel“ des Ibrahim Sultan abbildet.174 Noch mehr:

173 Wild: Theater der Keuschheit, S. 67. 174 Ein dezidierter Vergleich von Reyen und Titelkupfer findet sich bei Wild: Theater der Keuschheit, S. 68.

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Hier findet sich das Tableau der Abbildung durch die sprachliche Darstellung des Reyen als tableau vivant in die visuelle Konstellation des Theaters übersetzt. Das Schauspiel des Bösen und seiner Strafen wird durch den Dialog von Text und Paratext letztlich zu einer eigenen Art multimedialem Spektakel, durch das Lohenstein seine Kunstfertigkeit demonstriert und den österreichischen Kaisern ein fulminantes Denkmal „bey der Nachwelt“ setzt. Trotzdem bleibt ein Rest von Ambivalenz am Ende des Ibrahim Sultan erhalten. Auch wenn Leopold I. im Schlusstableau eindrucksvoll über den wollüstigen Tyrannen Ibrahim siegt, so bleibt doch die Frage offen, wie das Verhältnis zum neuen – und zur Entstehungszeit und Publikation des Dramas gegenwärtigen – Sultan Machmet einzuschätzen ist, dem bei seiner Inthronisation „ALLE“ einstimmig zurufen: „Daß Sultan Machmet muß’ unendlich bluehn und leben!“ (IS V, 724) Die Osmanen haben sich als „gens melior“ erwiesen und erscheinen hier, am Ende des Dramas, als geeint vor ihrem neuen Sultan, sodass gar das Potential für eine gerechte, vernünftige und kluge Herrschaft aufscheint.175 Ebert konkludiert in ihrer Studie, der Ausblick auf eine Beruhigung der dynastischen Verhältnisse und auf innenpolitische Stabilität sei „überschattet durch den gräßlichen Tod des Sultans“176. Dem ist jedoch schwerlich zuzustimmen, denn so grausam Ibrahims Tod auch sein mag, er ist die gerechte Strafe für seine Verbrechen und folgt darin ja der Verhängnisordnung. Als der Ibrahim Sultan verschriftlicht (zwischen 1666 und 1673) und veröffentlicht (1673) wurde, konnte das Osmanische Reich unter „Sultan Machmet“ wieder außenpolitische Erfolge verbuchen. „Machmet“ ist mittlerweile nicht mehr das Kind, das im Drama noch zu jung ist, um zu regieren, sondern ein erwachsener Souverän, unter dessen Regiment wieder Expansionskriege auf europäischen Territorien geführt werden. Unter anderem gelingt ihm ein erneuter Vorstoß in europäische Gebiete, von denen im Rahmen des Osmanisch-Polnischen Krieges (1672–1676) auch Teile von Schlesiens Nachbar Polen betroffen waren.177 Es ist davon auszugehen, dass Lohenstein, der zu jener Zeit Syndikus 175 Alt: Tod der Königin, S. 156 erkennt allein in der Übertragung der Vorstellung von der Ewigkeit der Majestät auf das Sultanat einen solchen Ausblick: „Diese Zuschreibung besitzt eine suggestive Komponente, insofern sie die Erwartung ausdrückt, daß das osmanische Reich aus der Finsternis der Tyrannei ins Licht der klugen Herrschaft treten werde.“ 176 Ebert: Vom Barbaren zum aufgeklärten Herrscher, S. 199. 177 Auch Newman: Disorientations, S. 349 ruft diesen historischen Kontext auf und betont dabei, dass die Osmanen eben nicht als „negative caricature“ ihrer selbst dargestellt werden „even though the population of Breslau would have had good cause to fear the Turks in the early 1670s, when the fragile Peace of Vasvar of 1663 between the allied states of the West and the Ottoman Empire constantly threatened to collapse with the success ful movement of the Turks into Poland“.

6.6 Das Ende des Ibrahim Sultan als „rechtes Trauer-Spiel“

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der Stadt Breslau war, diese abermalige territoriale Bedrohung durch die Osmanen sehr ernst nahm. Auch wenn der Ibrahim Sultan ein uneingeschränktes Lob des „unuberwindlichsten Kayesers“178 Leopolds I. formuliert, der ex negativo neben Sultan Ibrahim umso tugendhafter und mächtiger strahlt, so beinhaltet das Drama vor dem aktuellen außenpolitischen Hintergrund auch einen unterschwelligen Appell an den Kaiser, dessen Schutz Schlesien untersteht, die neu erstarkten Osmanen als Feinde auf Augenhöhe ernst zu nehmen.179 Es sei noch einmal Saavedra Fajardo herangezogen, an dem sich Lohenstein ja in seiner Methode der Negativität orientiert hat: Mit dem Ibrahim Sultan als historischem exemplum, durch das Lohenstein den „Gegensatz der Welt fuer Augen […] stellen“ will, wird nicht nur der politisch-christliche Prinz, als dessen Inbegriff Leopold I. hier stilisiert ist, gestärkt und gelobt. Es wird ebenfalls vorgeführt, wie sich das Osmanische Reich nach Pathologie und Anamnese des bösen Fürsten und seiner „boesen Regierung“ durch die Extraktion dieses singulären Tyrannen selbst kuriert und so das natürliche Gleichgewicht der Macht wiederhergestellt hat. Mit dem Resultat ist Leopold I. nun, 1673, konfrontiert. Dass Lohenstein mit der Tendenz seiner sorgfältigen Analyse richtig lag, zeigte sich spätestens 1683 – zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung des Ibrahim Sultan und wenige Monate nach Lohensteins Tod am 28. April –, als Wien am 14. Juli erneut von osmanischen Truppen belagert wurde. Auch wenn diese Belagerung nur von kurzer Dauer war, so hatte Lohenstein das Potential eines erstarkten Osmanischen Reichs und seine außenpolitische und militärische Potenz frühzeitig erkannt.

178 IS, S. 11. 179 Offiziell formuliert Lohenstein dies in der Widmung selbstverständlich als Lob, nämlich dass „jene [die Osmanen] zwar durch stetige Herrschens-Sucht sich aufblaehen; die Sonnen von Oesterreich aber aller Vergroesserung ueberlegen sind“ (IS, S. 8 [Widmung]).

7 Figurationen des Teufels – Figurationen des Bösen: Abschließende Bemerkungen unter Einbezug von Hallmanns Sophia (1671) Die „glänzende[] Breslauer Theatertradition“1 findet 1671 ihr plötzliches Ende. Im selben Jahr wird Johann Christian Hallmanns Trauerspiel Sophia erstmals publiziert und aufgeführt. Der Text weicht von dem für das schlesische Kunstdrama bislang leitenden Prinzip ab, das Böse, im Vergleich zum zeitgenössischen Jesuitendrama und den älteren Moralitäten, Jedermann-Stücken und Osterspielen, in subtileren Figurationen darzustellen. Hallmann wird später von Gottsched, dem rigorosen Kritiker des deutschen Trauerspiels des 17. Jahrhunderts, als der „nach Opitzen, Gryphen und Lohensteinen IV. tragische Dichter von besserer Art“2 bezeichnet. Und er bringt den Teufel auf die Bühne. Während Birken in seiner Poetik gar davor warnt, „Teufel und deren Qwalgenossen“3 auftreten zu lassen, stellt die Sophia innerhalb dieser Trauerspieltradition einen Fall dar, der dieses Gebot überschreitet. Wie verhält sich dies zu den in der vorliegenden Studie unternommenen Lektüren von Gryphius’ und Lohensteins Dramen, die gerade Figurationen des Bösen (im Sinne von malum) präsentieren, und damit die Figurationen des Teufels (des malus) hinter sich lassen? Das gilt es abschließend näher zu betrachten. Hallmanns Sophia handelt vom Martyrium der Titelheldin während der Christenverfolgung unter dem römischen Kaiser Hadrian. Sophia, „eine HochAdeliche Roemische Wittib“4, die durch ihren sprechenden Namen mit der göttlichen Weisheit verwandt ist,5 kommt mit ihren drei Töchtern jedoch nicht nur aufgrund ihres christlichen Bekenntnisses in Bedrängnis, sondern auch weil

1 Spellerberg: Schlesisches Kunstdrama, S. 86. In diesem „abrupten Ende0[]“ könnte auch der Grund dafür liegen, dass keine zeitgenössische Aufführung von Lohensteins Ibrahim Sultan belegt ist. Weiterführend siehe Spellerberg: Das schlesische Barockdrama. 2 Johann Christoph Gottsched: Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst: Oder Verzeichnis aller deutschen Trauer- Lust und Singspiele, die im Druck erschienen, von 1450 bis zur Hälfte des jetzigen Jahrhunderts gesammelt und ans Licht gestellet. Leipzig 1757, S. 222. 3 Birken: Dicht-Kunst, Kap. XII, § 225, S. 330. 4 Johann Christian Hallmann: Sophia. In: Hallmann: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Spellerberg. Bd. 2: Trauerspiele 2. Berlin, Boston 1980, S. 4–156. Die Sophia wird mit der Sigle ST gekennzeichnet. Abhandlungen und Reyen werden inkl. Akt- und Verszahl im Text zitiert. Paratexte wie das Personenverzeichnis oder die Inhaltszusammenfassung werden in den Fußnoten mit der Sigle und der Seitenzahl vermerkt, hier ST, S. 15 (Personenverzeichnis). 5 Alt: Begriffsbilder, S. 297. https://doi.org/10.1515/9783110726022-007

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der andersgläubige Herrscher um sie buhlt – eine Konstellation, die so bereits aus Gryphius’ Catharina von Georgien (Kapitel 3) bekannt ist und in Lohensteins Ibrahim Sultan (Kapitel 6) modifiziert wurde. Als sich Sophia dem doppelten Begehren des Kaisers verweigert, ordnet dieser an, „Sie im Lust-Garten an einen Baum zu binden“6. Dort dringen zu Beginn der vierten Abhandlung „Fleisch“, „Welt“, „Tod“ und „Teufel“ auf sie ein, deren vorgeblichen „Beystand“ (ST IV, 75) Sophia jedoch durch ihre eigene Beständigkeit ausschlägt.7 Zweifellos verfügt diese Szene gerade aufgrund ihrer allegorischen Gestaltung über eine besondere Bühnenwirksamkeit und ist damit charakteristisch für Hallmanns Dramatik überhaupt, die stärker als bei Gryphius und Lohenstein bereits in ihrer Konzeption auf die theaterpraktische Umsetzung und deren Effekte ausgerichtet ist.8 Als Mächte des Bösen sind Fleisch, Welt, Tod und Teufel hier jedoch nicht nur Allegorien der Anfechtung – anders als im Jesuitentheater, den Moralitäten und dem Jedermann-Spielen –, sondern Repräsentationen einer Affektpsychologie, die als Spiel der Leidenschaften zur Darstellung kommt.9 Sie weisen somit über die dichterische und theatrale Tradition hinaus, auf die sie mit ihrer Präsenz auf der Bühne anspielen und die auf diese Weise gar vergegenwärtigt wird, da sie hier zum stilistischen Mittel werden, um Sophias konfliktive Innerlichkeit zu veranschaulichen. Gerade weil Hallmann die allegorische Sequenz auf der Ebene der Abhandlungen ansiedelt, zeigt sich, dass dieses Geschehen für die immanente Handlung von unmittelbarer Bedeutung ist, denn erst durch die Überwindung ihres inneren Zwists kann Sophia glaubwürdig und eindrucksvoll zur Größe der Märtyrerin erwachsen. Und um diesen Widerstreit, der damit gleichsam den Wendepunkt ihres Märtyrerinnendramas bedeutet, zur Dar-

6 ST, S. 12 (Inhalt). 7 Unter dem Titel Die Himmlische Liebe Oder Die Beständige Märterin Sophia erschien das Trauerspiel sodann auch 1684 in einem Nachdruck in Breslau. Durch die nunmehr titelgebende „Beständigkeit“ wird nicht zuletzt Sophias Nähe zu Gryphius’ Catharina akzentuiert. 8 Vgl. dazu Spellerberg: Schlesisches Kunstdrama, S. 85–87, der dafür die umfangreichen Regie- und Bühnenanweisungen, die in Hallmanns Dramen zu finden sind, ins Feld führt und dabei auch auf Hallmanns von Gryphius und Lohenstein abweichende Prägung durch die italienische Dramen- und Operntradition sowie die Wanderbühnen verweist. 9 Alt: Begriffsbilder, S. 300 weist nach, dass Sophia hier „nicht nur prinzipienfeste Stoikerin, sondern auch empfindender Mensch ist“, denn auch sie kenne die allegorisch vermittelte „Angst vor dem Tod, Unsicherheit des Glaubens, Lust am Leben und Trägheit des Herzens“ (ebd., S. 302). Alt argumentiert so überzeugend gegen eine von der Forschung – so z. B. bei Maria Elida Szarota: Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jahrhunderts. Bern 1976, S. 95–96 – geübte Kritik, die Figur der Sophia sei eine „kalte Märtyrerin“, die keine Angst kenne und auch die Hinrichtung ihrer drei Töchter unbewegt hinnehme.

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stellung zu bringen, hat Hallmann eben nicht etwa das dramaturgische Mittel des Monologs, sondern das der theaterwirksameren allegorischen Szene gewählt.10 Zu Beginn der vierten Szene der Sophia wird folglich eine nuancierte Psychologie entfaltet.11 Das Innenleben der Figur wird auf dem äußeren Schauplatz veranschaulicht und präsentiert dort, was sich auf dem forum internum der Figur ereignet, und damit auf die Innerlichkeit des Menschen zeigt. Als vermeintlich „treuer Schutz-Herr“ (ST IV, 69) personifiziert der Teufel hier die Verheißungen der Konversion und verspricht Sophia von des „Glaubens Folterbuehnen“ (ST IV, 60) zu erlösen. Der Teufel wird damit zu einer Art Projektion, die ihre Verunsicherung oder perturbatio des Glaubens im Moment der äußeren und inneren „so grossen Noth“ (ST IV, 73) auf dem Schauplatz zur Darstellung bringt. Dem Teufel ist das Reich des (Un-)Glaubens zugeordnet, wobei in der allegorischen Abfolge gerade der erwogene Abfall vom christlichen Glauben den End- und damit Kulminationspunkt von Sophias Zweifel bedeutet. Zugleich ist das Böse hier nicht mehr allein in der Figuration des Teufels gebannt, sondern er steht in einer Reihe mit Wollust, Weltlichkeit und Todesangst, deren mythologischen Ursprung er eigentlich beschreibt und die sich damit von ihm gelöst, ja verselbstständigt haben. Als so zu nennende Filialen der Affektpsychologie sind die Mächte des Bösen hier ausdifferenziert. Die allegorische Darstellung von Sophias Bedrägnis durch die Mächte des Bösen bereitet sodann die reale Bedrohung durch den Kaiser Hadrian vor, der nun „in Gestalt eines Schäffers“12 auftritt. Mittels dieser pastoralen Selbstinszenierung buhlt der Kaiser um Sophias Liebe. Nachdem sie sein begehrliches Werben jedoch standhaft zurückweist, legt er seine Verkleidung ab und offenbart sich ihr ostentativ in seiner fürstlichen Macht: „Hier ist kein Sartyrus! Sie schau den Kaiser an!“ (ST IV, 217). Mit seiner politischen und erotischen potestas versucht er daraufhin ihre Beständigkeit zu bezwingen und will sie schließlich vergewaltigen. Bevor Hadrian aber zum Äußersten schreiten kann, wird er, nachdem Sophia als

10 Darauf verweist auch Alt: Begriffsbilder, S. 302, der Hallmanns Verwendung des allegorischen Apparats vor diesem Hintergrund ebenfalls auf eine „recht differenzierte Psychologie der Affekte“ hin ausdeutet. 11 Alt: Begriffsbilder, S. 304 konstatiert: „Hallmanns Verdienst bleibt es, dass er die oft einseitige allegorische Programmatik seiner Vorgänger durch eine ausgeklügelte Psychologie der tragischen Figuren ersetzt.“ Gerhard Spellerberg: Johann Christian Hallmann. Johann Christian Hallmann. In: Deutsche Dichter. Bd. 2: Reformation, Renaissance und Barock. Hg. von Gunter Grimm. Stuttgart 1988 (RUB 8612), S. 364–375, hier S. 370 betont seinerseits bzgl. des Zuwachses an Psychologie bei Hallmann: „Die für Hallmanns Trauerspiele so oft betonte Akzentverlagerung vom Weltgeschichtlich-Politischen aufs Psychologische hat nichts mit einem erwachenden Interesse am rein privaten zwischenmenschlichen Bereich zu tun.“ 12 ST, S. 99 (Regieanweisung).

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sponsa Christi ihren Jesus („Mein Jesus!“ [ST IV, 260]) um Hilfe anruft, durch einen Donnerschlag, also höhere bzw. höchste Gewalt, davon abgehalten. Der kurzen Zusammenfassung ist zu entnehmen, dass in dieser Szene der Sophia verschiedene Themen und Darstellungsformen des Bösen angespielt werden, die in den vorangegangenen Kapiteln erarbeitet wurden. Anzuführen sind die Verlarvung als Strategie des Bösen, der tyrannische Missbrauch der potestas für die Durchsetzung eines erotischen Begehrens sowie der willkürliche Umschlag der potestas in violentia in der bösen Tat der Notzucht. Aurnhammer erkennt in der Anlage dieser Szene eine eigenständige Anverwandlung der Satyr-Episode aus Torquato Tassos Schäferdrama Aminta (1580).13 Gerade die Negation „Hier ist kein Sartyrus!“ sei als „verdeckt-ironische“14 Allusion zu verstehen, die den Kaiser umso mehr in seiner Rolle als Satyr ausstelle. Damit entlarve sich Hadrian schließlich selbst in seinem diabolischen Wesen, da der Teufel seit dem Mittelalter immer wieder als Satyr dargestellt worden ist. Entsprechend sei in Hallmanns Ausgestaltung der Episode die Verführung als diabolische Macht inszeniert, was, wie ich weiter oben gezeigt habe, bereits durch die allegorische Sequenz zu Beginn der vierten Abhandlung entwickelt wurde. Für die Untersuchung der Figurationen des Bösen lässt sich ableiten, dass auch hier, wie zuvor im Leo Armenius und Carolus Stuardus, die Ironie als Modus des Bösen weiter profiliert wird und sich damit ein modernes Reflexionsmuster des Bösen herauszubilden beginnt. Gleichzeitig lässt sich am Beispiel des Satyrs beobachten, dass solcherart Figurationen des Teufels nur noch Larven und Verkleidungen für den „gar bösen“ Menschen sind, in dem nicht mehr der malus, sondern das malum – mit den Worten Benjamins – „wirksam“ ist. Dies wird in der Sophia performativ sowie mit Kostüm und Requisite als Mitteln des Theaters zur Darstellung gebracht. Der Blick auf Hallmanns Sophia, auch wenn er das Ende der Trauerspielund Theatertradition sowie der vorliegenden Studie bildet, führt uns doch wieder an den Anfang zurück. Dies gilt für den Teufel, der auf den schöpfungsmythologischen Anfang des Bösen verweist, aber auch den Anfang dieser Studie, die ihren Ausgangspunkt in Benjamins Ausführungen zu „Schrecken und Verheißungen des Satan“ genommen hatte. Es schließt sich hier gleichsam ein (Teufels-)Kreis,

13 Achim Aurnhammer: Torquato Tasso im deutschen Barock. Tübingen 1994 (Frühe Neuzeit 13), S. 286–291, hier besonders S. 289: „Die situativen Parallelen sind unverkennbar: wie Silvia ist Sophia an einen Baum gefesselt, wie der Satyr nimmt sich Hadrian nach der Zurückweisung seines Liebeswerbens das Recht zur sexuellen Gewalt, wie der Schäfer Aminta rettet Christus die Geliebte vor der drohenden Vergewaltigung.“ 14 Ebd., S. 289.

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wenn Sophia unter ebensolchen Verheißungen zur Abkehr vom christlichen Glauben und zum Übertritt in den satanischen Bereich verführt werden soll. Weil der Teufel aufgrund der zeitgenössischen Verinnerlichungstendenz im Bereich des Glaubens und eben des Bösen von der Bühne verdrängt wird, wird er nun zu einer Figuration dieser Psychologisierung einerseits und zur bloßen Larve des bösen Menschen andererseits. Die Allegorien Fleisch, Welt und Tod, die dem Teufel in Hallmanns Trauerspiel an die Seite gestellt sind, repräsentieren mit Rückgriff auf Benjamins Begrifflichkeiten die „geistigen“ und „materialischen“ Verheißungen des Bösen, die dann der Tyrann im Satyrkostüm präsentiert. Sophia versagt sich dagegen, weil sie sie als unwesentlich erkennt, als „Leere“ und als „Schein“, und somit nicht zuletzt das Böse in seinem Mangel denunziert, wenn sie ihm die ewige Güte Gottes und „ihren Jesus“ entgegensetzt. Die allegorischen Verheißungen des Bösen wirken jedoch nicht von außen auf Sophia ein und sind ihr wesensfremd, sondern generieren sich aus ihr selbst heraus. Darin besteht die Pointe von Hallmanns Trauerspiel. Durch diese differenzierte Psychologie reduziert sich die Distanz zwischen Gut und Böse, denn beides hat seinen Ort im Inneren des Menschen. Das Böse ist hier also nicht (mehr) nur „[i]n der Gestalt bald des Tyrannen, bald des Intriganten […] immerfort […] wirksam“15, sondern auch in einer der „‚gar guten‘“ Figuren, denen „das Märtyrerdrama und das Mitleid“16 gehört. Dies spielt sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der realen äußeren Bedrohung durch den römischen Tyrannen Hadrian ab. Er wird wiederum selbst durch seine eigene böse Lust angetrieben, sodass die Auftritte des allegorischen sowie des verkleideten Teufels bei Hallmann letztlich ebenjener Verinnerlichungstendenz und Psychologisierung des Bösen weiter Vorschub leisten, die auch Gryphius’ und Lohensteins Dramen vorführen. Um ebendies als subtile Psychologie wirkungsvoll darzustellen, schöpft Hallmann aus den Möglichkeiten der ihm vorangegangen dramatischen und theatralen Traditionen, bei denen der Teufel noch zum festen Bühnenpersonal gehörte, und reflektiert diese spielerisch. Es entfaltet sich ein Wissen vom Bösen, das zur Sprache und zur Darstellung kommt, indem es die Dichtung in ihren Konventionen und Möglichkeiten herausfordert. Benjamin hatte dies im Ursprung des deutschen Trauerspiels bereits erfasst, da er dort schreibt, das Wissen um das Böse gehe im Barock jeder künstlerischen Anstrengung voraus. Die in dieser Studie unternommenen Lektüren der Trauerspiele von Gryphius und Lohenstein und nun Hallmann haben gezeigt, wie eng die inhaltliche Ver-

15 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 404. 16 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 249–250.

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handlung des Bösen mit der Darstellungsseite verbunden ist. Interessanterweise hat dies sowohl bei Gryphius als auch bei Lohenstein den Höhepunkt jeweils im letzten Drama ihrer Trauerspielzyklen gefunden: Bei Gryphius in der zweiten Version des Carolus Stuardus, in der die Dekomposition der dramatisch-dialogischen Struktur die Dekomposition der göttlich gebotenen Ordnung der Majestät verarbeitet, bei Lohenstein im Ibrahim Sultan, in dem durch den betonten Schauaspekt des Bösen die der Status des Texts als Schauspiel mitverhandelt wird. Auch wenn dabei das poetologische Protokoll einer Bestrafung des Bösen und einer Belohnung des Guten in keinem Moment vernachlässigt oder unterlaufen wird, so wird das Böse doch zu einem (Frei-)Raum, in dem die Struktur und die literarische Konstruktion des barocken Trauerspiels lustvoll in ihren Möglichkeiten geprüft wird. Da beide Trauerspiele am Ende der dramatischen Produktion ihrer Autoren stehen, könnte ein Indiz dafür sein, dass dieser Raum erst durch Erfahrung und Übung im dichterischen Handwerk einerseits und Etablierung und Ansehen als Dichter andererseits zu erschließen ist. Hinsichtlich der in dieser Studie analysierten Stücke von Gryphius lässt sich resümieren, dass Textschwellen und Schwellen im Text sowie die Grenzverletzungen, die sie markieren, maßgebend sind, um das Böse zu situieren. Mit Blick auf Lohenstein fällt auf, dass über die Darstellung des Bösen die eigene textuelle Verfasstheit als Dichtung, sei es als Geschichtsdrama oder Schauspiel, im Geiste poetischer Selbstreflixivität mitverhandelt wird. Dass das Böse in diesem Zuge auch zu einem Sujet wird, in dem der Dichter sich in seiner eigenen poetischen Meisterschaft profilieren kann, hat sich anhand der Geisterbeschwörungen im Leo Armenius und der Agrippina ebenso gezeigt wie am innerlichen Zerfall des Chachs, der sich schließlich in Catharinas Entleibung reflektiert. Unter der Tyrannei der adfectus mali artikuliert sich die Dissoziation des Chachs zum Dividuum, als zwiegespaltenes und zerrissenes Wesen, auch in der rhetorischen und metrischen Komposition, die ebenfalls innerlich zu zerreissen droht. Im Leo Armenius eignet sich Gryphius nicht nur die Techniken des Jesuitendramas und -theaters für das eigene dichterische Projekt an und evaluiert sie dabei kritisch, sondern er spiegelt die Gegenordnung, die vom Teufelspriester evoziert wird, in der metrischen Ordnung bzw. Unordnung, in die er die Teufelsbeschwörung gesetzt hat. Davon ausgehend konnte festgestellt werden, dass Lohensteins Zauberszene in der Agrippina als aemulatio von Gryphius’ Geisterbeschwörung im Leo Armenius konzipiert wurde. Lohenstein vermittelt durch seine ausgeklügelte Konzeption des Versbaus die Operation, durch die eine gewaltsam entstellte, dissoziierte Natur zu einem monströsen Ganzen zusammengefügt werden soll. Da sich das Böse durch diese poetische Anstrengung wirkungsvoll als Gräuelgemälde entfaltet, bringt Lohenstein nicht zuletzt den Titel „unser Teutscher Seneca“ ein.

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Die Erkenntnisse der Arbeit, die sich aus der Betrachtung der Schlesischen Schule innerhalb von 25 Jahren gewinnen lassen, könnten sich sicherlich durch eine vergleichende Lektüre protestantischer Schuldramen wie denen Christian Weises und Johann Sebastian Mitternachts ausweiten lassen.17 Dies bleibt mithin zukünftiger Forschung überlassen. Für die in dieser Studie zentrale Trauerspieldichtung Gryphius’, Lohensteins und Hallmanns lässt sich abschließend feststellen, dass die Grundfiguren der Transgression und der Verkehrung, der Gradation und Wucherung, der Wiederholung und des Exzesses für die Darstellung des Bösen wesentlich sind. Deshalb gehen in diesen Dramen die Figurationen des Bösen weit über die Formel „negative Figuren mit bösem Verhalten“ hinaus. Es wird eine Psychologie des Bösen, des malum, entwickelt und diese wird von den Grundfiguren des Bösen komplementiert, die wiederum die Prinzipien bilden, welche die Darstellung des Bösen regeln und hervorbringen. Es lässt sich beizeiten gar eine literarische Lust am Bösen als dramatisch-theatralem Gegenstand beobachten, auch wenn das Bezugsfeld der Moraldidaxe von den Autoren nicht verlassen wird. Die Trauerspiele schöpfen auf intrikate Weise aus den Möglichkeiten der Dichtung, des Theaters und deren Traditionen und präsentieren eine barocke Artikulation und Vorstufe dessen, was sich als modernes Phänomen einer Ästhetik des Bösen weiter entfalten wird.

17 Als ein solcher Beitrag sei hier Achim Aurnhammer: Harvey und der Paduaner Herzaufschneider. Zur Resonanz der Vivisektion in der deutschen Barockdichtung (Mitternacht, Ernst, Wiedemann). In: Iliaster. Literatur und Naturkunde in der Frühen Neuzeit. Festgabe für Joachim Telle zum 60. Geburtstag. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Heidelberg 1999, S. 13–39 angeführt, der sich mit der curiositas als Figuration des Bösen am Beispiel von Mitternachts Tragödie Der Unglükselige Soldat und Vorwitzige Barbirer (1662) beschäftigt. Darin wird die Vivisektion eines desertierten Soldaten inszeniert, dem bei lebendigem Leib von einem bösartig neugierigen Wissenschaftler/Chirurg das Herz entnommen wird, da er die Bewegung des Herzens genauer studieren möchte.

Zitatverzeichnis Kapitelüberschriften 1. (2.3) Aus „ein Wort“ mach’ „zwey Wort“ (LA II, 134 und LA II, 377–378; LA III, 361) 2. (2.4.1) „Werckstatt toller Luegen“ (LA IV, 24) 3. (2.4.2) „Etliche frembde Zeichen“ (LA IV, 128) 4. (3.1) „Unter dem Schau-Platz die Helle“ (CG, S. 125 [Bühnenanweisung]) 5. (3.2) „Die hell’sche Welt“ (CG III, 280) 6. (3.3) „bitter Helle“ (CG II, 122) 7. (4.1) „Perversus semper“ (CS, S. 447, V. 18 [Epitaph]) 8. (4.2) „Independentischen Rotte“ (CS Anm. Gryphius, S. 551, Z. 16–17) 9. (4.4.2) „Greuel-Zeichen“ (CS III, 486) 10. (5.1.1) „SO ist’s“ (A I, 1) 11. (5.1.2) „Gefaellte“ (A I, 294) 12. (5.2.1) „Magnet der Laster“ (A II, 444) 13. (5.3.3) „Brandmal aergster Suende“ (A V, 456) 14. (5.5) „Der Abgrund schling’t mich ein!“ (A V, 781) 15. (6.2.3) „des Ibrahims boese[] Regierung“ (IS, S. 12 [Inhalt]) 16. (6.3) „Verteufelt-boeser Schluß! verdammte Missethat!“ (IS III, 306) 17. (6.4) „boesen Sache“ (IS V, 648) 18. (6.5) „offne[s] Schauspiel“ (IS V, 440) 19. (6.6) „rechte[s] Trauer-Spiel[]“ (IS V, 451)

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Register Historische Autoren und Personen, anonyme Werke Im Register finden sich neben den historischen (vor 1800 geborenen) Autoren und Personen auch die in der Studie behandelten anonymen Werke. Letztere wurden nach dem ersten Buchstaben des Titels in die alphabetische Reihenfolge aufgenommen. Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 48 Aristoteles 30, 39, 187 Augustinus, Aurelius 5, 23, 35, 67, 126, 181, 194, 198, 233, 277, 282, 312 Augustus, Kaiser des Römischen Reiches 175, 178, 196 Baker, Richard 132 Bidermann, Jakob 52 Bieber, Gregor 105 Birken, Sigmund von 8, 11, 166, 330 Bisaccioni, Maiolino 275, 283, 288, 322 Bodin, Jean 4, 250, 280 Böhme, Jakob 4 Busbecq, Ogier Ghislain de 275, 301 Calderón de la Barca, Pedro 311 Caligula, Kaiser des Römischen Reiches (Gaius Caesar Augustus Germanicus) 175, 185, 202 Carpzov, Benedikt 27, 37 Cassius Dio Cocceianus, Lucius Claudius 173, 177, 255 Cedrenus, Georgios 24 Cellot, Louis 48, 52–53 Celtis, Conrad 165 Chrysostomos, Johannes 312 Cicero, Marcus Tullius 40 Claudia Felizitas, Kaiserin des Heiligen Römischen Reiches 258, 327 Claudius, Kaiser des Römischen Reiches (Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus) 174, 176, 185, 202, 204, 211 Cyprian von Karthago 312

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Delrío, Martín Antonio 250 Döpler, Jacob 156 Drexel, Jeremias 28 Duchesne, Joseph 203 Ernst, Heinrich 211 Fischart, Johann 4 Francisci, Erasmus (Erasmus von Finx) 156 Galba, Lucius Livius Ocella Servius Sulpicius, Kaiser des Römischen Reiches 169 Garzoni, Tommaso 52 Gerhard, Johann 83 Germanicus, römischer Feldherr (Nero Claudius Germanicus) 185 Gottsched, Johann Christoph 164 Gracián, Baltasar 192, 216, 297 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 311 Grotius, Hugo 186, 277, 308 Guarini, Giovanni Battista 263 Harsdörffer, Georg Philipp 9, 25, 28, 103, 156 Haugwitz, August Adolph von 151 Herbert von Cherbury, Edward 245 Herodot von Halikarnassos 264, 268 Hesiodos von Askra 178 Historia von D. Johann Fausten 46 Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann von 124, 308 Homer 265, 277 Hooft, Pieter Corneliszoon 53 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 69

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Register

Iamblichos von Chalkis 47 Innozenz III. (Papst der römisch-katholischen Kirche) 83 Institoris, Heinrich (Heinrich Kramer) 4, 250

Plutarch 175 Porphyrios 47 Ricaut, Paul 275, 323 Rist, Johann 151

Johannes von Salisbury 139 Kircher, Athanasius 203, 248, 250 Leibniz, Gottfried Wilhelm 189 Leopold I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 258, 263, 328–329 Lipsius, Justus 24, 29, 40, 63, 98 Logau, Friedrich von 30 Luise, Herzogin von Wohlau 260 Luther, Martin 6, 8, 25, 30, 41, 43, 50, 67, 70, 75–76, 82–84, 110, 119, 129–131, 266 Malingre, Claude 78 Margarita Teresa, Kaiserin des Heiligen Römischen Reiches 258 Marino, Giambattista 236, 264 Marlowe, Christopher 136 Masen, Jacob 39, 216 Mehmed II., Sultan des Osmanischen Reiches 310 Mehmed IV., Sultan des Osmanischen Reiches 328 Mitternacht, Johann Sebastian 336

Saavedra Fajardo, Diego de 178, 185, 193, 216, 235, 260, 329 Sachs von Löwenheim, Philipp Jakob 222 Sansovino, Francisco 275, 309 Scaliger, Julius Caesar 166 Schottel, Justus Georg 83, 114, 303 Seneca, Lucius Annaeus 52, 81, 169, 174, 176–177, 247, 267, 277 Shakespeare, William 136 Simon, Joseph 52 Sprenger, Jakob 4, 250 Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus) 173, 177, 199, 237 Süleyman I., Sultan des Osmanischen Reiches 272, 295, 300, 302 Tacitus 173, 177, 187, 199, 231 Tasso, Torquato 333 Tertullian (Quintus Septimius Florens Tertullianus) 312 Theodosius I., Kaiser des Römischen Reiches 26 Using, Johann 105

Omeis, Magnus Daniel 164 Opitz, Martin 166 Ovid 178, 247 Paracelsus (Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim) 49 Petrarca, Francesco 105 Pico della Mirandola, Giovanni 48 Platon 135 Plinius d. Ä. (Gaius Plinius Secundus) 250, 289 Plotin 4

Vespasianus, Titus Flavius, Kaiser des Römischen Reiches 169 Vondel, Joost van den 29, 52, 133 Voss, Gerhard Johannes 245 Voss, Isaac 245 Weise, Christian 336 Zesen, Philipp von 116 Zonaras, Joannes 24