Führen und Leiten in der Kirche: Ein Handbuch für die Praxis [1 ed.] 9783666630668, 9783525630662

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Führen und Leiten in der Kirche: Ein Handbuch für die Praxis [1 ed.]
 9783666630668, 9783525630662

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Detlef Dieckmann Daniel Dietzfelbinger Kristina Kühnbaum-Schmidt Christoph Meyns (Hg.)

Führen und Leiten in der Kirche Ein Handbuch für die Praxis

© 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666630668 | CC BY-NC-ND 4.0

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Führen und Leiten in der Kirche Ein Handbuch für die Praxis

Im Auftrag der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) herausgegeben von Detlef Dieckmann Daniel Dietzfelbinger Kristina Kühnbaum-Schmidt Christoph Meyns

Vandenhoeck & Ruprecht © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666630668 | CC BY-NC-ND 4.0

Mit 203 Abbildungen und 16 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © David/Adobe Stock Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-63066-8

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Inhalt

Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ein Handbuch als Lernbuch – Einleitung der Herausgeber:innen . . . . . . . . . . . . . . 8 1 Agiles Führen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Daniel Dietzfelbinger 2 Allgemeines Priestertum und Amt aus lutherischer Perspektive . . . . . . . . . . . . 36 Sabine Schmidtke 3 Auftritt: Mit Begeisterung anstecken – der Auftritt im kirchenleitenden Amt 53 Felix Ritter 4 Bilanzierung im Beruf: Ernte und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Tilman Kingreen 5 Dienstrecht: Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Michael Ahme und Renate Schulze 6 Digitalisierung: Vernetzung gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Christina Costanza 7 Ehrenamt: Mit Freiwilligen arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Daniel Dietzfelbinger 8 Führen mit Werten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Daniel Dietzfelbinger 9 Gespräche führen – Führen durch Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Stefan Reimers 10 Grenzen: Umgang mit Grenzen und Abstand im kirchlichen Umfeld . . . . . . . 172 Anne Grohn und Heidrun Miehe-Heger 11 Kirchenleitung: Zwischen allen Stühlen, aber frei – Typen von Kirchenleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Horst Gorski 12 Kirchentheorie: Den Überblick behalten – Theorien zur Wahrnehmung der Wirklichkeit des kirchlichen Lebens . . . . . . 197 Christoph Meyns 13 Konflikte: Her damit! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Andreas Herrmann

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14 Leiten im Geist: Leiten als Geistliche:r . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Detlef Dieckmann 15 Öffentlichkeitsarbeit: Raus in die Welt! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Henrike Müller 16 Öffentlichkeitsarbeit: Pressearbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Günter Saalfrank 17 Öffentlichkeitsarbeit: Rundfunkarbeit – sendungsbewusst . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Oliver Vorwald 18 Öffentliche Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Heinrich Bedford-Strohm 19 Organisationstheorie: (Un-)Steuerbarkeit und (Un-)Verfüg­barkeit – kirchliches Leitungs­handeln aus organisationstheoretischer Per­spektive . . . . . 292 Christoph Gerken, Eva Hillebold und Christopher Scholtz 20 Personalberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Tilman Kingreen 21 Personalentwicklung: Potenziale heben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Birgit Klostermeier 22 Predigen im kirchenleitenden Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Alexander Deeg 23 Seelsorge und Dienstvorgesetztenverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Kerstin Lammer 24 Sexualisierte Gewalt: Herausforderung und Verantwortung für kirchliche Leitungskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Alke Arns und Helge Staff 25 Stellvertretung: Leiten in der zweiten Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Regina Fritz 26 Stress und wie ich damit gut lebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Andreas Weigelt 27 Veränderung gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Daniel Dietzfelbinger 28 Visitation als Leitungshandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 Jan Peter Grevel Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426

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Geleitwort Hütet die Herde Gottes, die bei euch ist, indem ihr auf sie achtet, nicht aus Zwang, sondern freiwillig, Gott gemäß. (1 Petr 5,2; Elberfelder Bibel)

Sich für die Gemeinde Gottes einzusetzen, auf andere und sich selbst zu achten und bei alledem immer wieder nach Gott zu fragen, darum geht es in diesem Vers aus dem ersten Petrusbrief, darum geht es auch beim Führen und Leiten im Raum der Kirche. Wer führt und geführt wird, wechselt in den komplexen, synodalen, episkopalen und administrativen Strukturen der evangelischen Kirche. Zum Teil wird Führung und Leitung von Ehrenamtlichen, zum Teil von Hauptamtlichen wahrgenommen, häufig gemeinsam und immer aufeinander bezogen. Daher ist es ein besonderes Verdienst dieses Buches, dass es Möglichkeiten von Führung für die transparent macht, die in der einen oder anderen Weise an Kirchenleitung beteiligt sind. »Gott gemäß« – das ist ein hoher Anspruch. Zu den Stärken dieses Praxisbuches zählt es, dass es gerade nicht den Anspruch erhebt, Richtlinien für kirchliches Führungshandeln aufzuzeigen. Vielmehr wollen die Herausgeber:innen und Autor:innen Inhalte, Haltungen und Methoden weitergeben, die sich in der Praxis als hilfreich erwiesen haben und daher auch andere zu einer jeweils passenden Praxis anregen könnten – mit Materialien zum intensiven Selbststudium und mit zahlreichen Anregungen etwa für Pfarrund Kirchenkreiskonvente, in einem Buch, das es in dieser Form noch nicht gegeben hat. Die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) hat den Rektor des Theologischen Studienseminars, Dr. theol. Detlef Dieckmann, den Geschäftsführer des Instituts persönlichkeit+ethik, Dr. theol. Daniel Dietzfelbinger, die stellvertretende Leitende Bischöfin der VELKD, Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt, sowie Landesbischof Dr. theol. Christoph Meyns gebeten, mit diesem Buch bei allen organisatorischen Fragen auch der theologischen Reflexion des kirchlichen Leitungshandelns Raum zu geben und sie zu ermöglichen. Für die damit verbundene Arbeit danke ich im Namen der VELKD den Herausgeber:innen herzlich! »Hütet die Herde Gottes, die bei euch ist« – diese Aufforderung verweist auf die Nähe und Angewiesenheit der Leitenden zur Gemeinschaft, zur communio. »… indem ihr auf sie achtet« – hinter diesem »Achten« steht das griechische Verb episkopein, wörtlich: die Aufsicht, die hier als Für-Sorge qualifiziert wird. »Nicht aus Zwang, sondern freiwillig« sollen die Angeredeten ihre Verantwortung für die Gemeinde wahrnehmen können. Dass unser Führen und Leiten »Gott gemäß« geschieht, das erbitten wir. Dass dieses Buch dazu beiträgt, das Leitungsamt informiert, reflektiert, mit Aufmerksamkeit für sich, für andere und für die Gemeinschaft der Getauften auszuüben und dass der Geist Gottes uns dabei unterstützt, das wünsche ich Ihnen bei der Lektüre! Landesbischof Ralf Meister Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands

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Ein Handbuch als Lernbuch – Einleitung der Herausgeber:innen Dieses Buch ist aus einem Lernprozess entstanden, und es erscheint mit der Absicht, neue Denk- und Lernprozesse in Gang zu setzen. »Führen und Leiten in evangelischer Per­spektive« hieß der Studienkurs im Theologischen Studienseminar der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) in Pullach im Herbst 2018, der uns vier Herausgeber:innen motivierte, zusammen mit weiteren Autor:innen aus Theologie und Kirche Reflexionen und praktische Hilfen zur Leitungsaufgabe zusammenzustellen. Das vorliegende Werk ist kein Lehrbuch, sondern ein »Lernbuch« und damit offen für Ihre Mitarbeit, unvollständig und unabgeschlossen. Die Beiträge behandeln Themen und Fragen, die Leitende in der Vergangenheit und für die Zukunft als wichtig betrachtet haben, und geben Haltungen, Methoden und Inhalte weiter, die anderen helfen können. Möglicherweise werden Sie beim Studieren der Kapitel dieses Buches oder in der Praxis erkennen, dass Sie vieles anders umsetzen wollen oder müssen, als die Autor:innen dies hier vorschlagen.

Für die Praxis Neben Materialien zum Selbststudium gibt Ihnen das Buch Anregungen für thematische Einheiten, z. B. für Pfarrkonvente oder Fortbildungen. Das Ziel dieses Lernbuches ist die Praxis. Dies wird auch darin deutlich, dass alle Autor:innen der folgenden Kapitel im Raum der Kirche tätig sind oder waren und damit die Themengebiete aus ihren eigenen Erfahrungen heraus behandeln.

Prinzip Vielfalt Für die Auswahl der Autor:innen war Vielfalt wichtig, u. a. eine Vielfalt an Ausbildungen, Tätigkeiten und Ansichten. Entsprechend vielfältig sind die Ansätze und Zugänge der Beiträge – von der Theorie zur Praxis, von der Metaebene zu konkreten Handlungstipps, von der strategischen Perspektive bis hin zu operativen Gestaltungsansätzen. Beispielhaft wird diese Vielfalt an der Frage deutlich, wie man steuerndes Handeln in der Kirche bezeichnet: Ist es Führung, ist es Leitung? Wir haben bewusst beide Begriffe für den Titel dieses Buches gewählt. »Führung« wird oft mit Kommunikation, Konfliktfähigkeit, mit einer Klarheit in der Zielorientierung verbunden: mit einer Richtung für Menschen. Der Führungsbegriff bezieht sich dabei auf Ansätze, denen zufolge Führung als eigene Profession zu verstehen ist. »Leitung« hingegen bezeichnet eher die Steuerung von Organisationen als die Zielorientierung (wohin will ich führen?). Auch die Aufgaben im Bereich der kirchlichen Verwaltung sind treffender mit dem Begriff der Leitung als mit dem der Führung beschrieben. Vielfältig wie die Autor:innen sind auch diejenigen, an die sich dieses Buch richtet. In vielen Kapiteln werden vor allem Kirchenleitende der mittleren Ebene angesprochen.

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Ein Handbuch als Lernbuch – Einleitung der Herausgeber:innen

Wir gehen aber davon aus, dass alle, die im kirchlichen Bereich Verantwortung für andere Menschen, für Organisationen, Einrichtungen oder Gremien tragen, von den meisten Themen profitieren können.

Der theologische Hintergrund Mit der Veröffentlichung dieses Buches unterstreicht das Theologische Studienseminar der VELKD das Anliegen, Leitungsthemen bei allen praktischen Fragen auch theologisch zu reflektieren. Daher haben wir die Autor:innen darum gebeten, stets den Auftrag der Kirche mit zu bedenken: die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat. Wir gehen dabei von dem evangelischen, das heißt, durch das Evangelium gezeichneten Menschenbild aus, wonach wir als Menschen immer in der Gefahr stehen, gegenüber Gott, anderen Menschen und uns selbst in die Irre zu gehen und zu scheitern – während wir zugleich glauben, dass Gott uns vergibt, uns neu anfangen lässt und zu einer Ethik befreit, die von Wertschätzung für andere geprägt ist und die sich im Führen und Leiten zeigt. Gleichzeitig haben wir die Autor:innen ermutigt, Ideen und Konzepte zu nutzen, die außerhalb der Kirche entwickelt wurden und einem evangelischen Leitungsprofil dienen können.

Dank Viele haben dieses Projekt gefördert: Dem Amtsbereich VELKD im Kirchenamt der EKD – stellvertretend seien der Leiter, Herr Vizepräsident Dr. Horst Gorski und Herr Oberkirchenrat Dr. Andreas Ohlemacher genannt – danken wir für einen namhaften Druckkostenzuschuss. Beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht bedanken wir uns für die sorgfältige Betreuung des Buches durch Jana Harle und PD Dr. Izaak de Hulster. Als Lektorin hat Mag. theol. Marie-Christin Janssen große Dienste für die Redaktion geleistet, deren Fäden im Theologischen Studienseminar zusammenliefen. Als Grafikerin hat Sabine Urbas-Plenk aus Pullach Illustrationen erstellt und durch ihr Geschick für eine kreative Bildauswahl dazu beigetragen, dass dieses Buch auch ästhetisch attraktiv ist. Vor allem aber danken wir den Autor:innen für die viele Arbeit, die sie – neben allen anderen Verpflichtungen – in die Texte investiert haben! Pullach, München, Schwerin und Braunschweig, im August 2022 Die Herausgeber:innen

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Ein Handbuch als Lernbuch – Einleitung der Herausgeber:innen

Dr. Detlef Dieckmann konzipiert und leitet als Rektor des Theologischen Studienseminars der VELKD in Pullach bei München Fortbildungskurse für kirchenleitend Verantwortliche sowie theologische Studienkurse für Pfarrer:innen. An der Ruhr-Universität Bochum lehrt er Altes Testament als Privatdozent. Dieckmann hat eine Ausbildung zum Coach (dvct) und u. a. Fortbildungen in Arbeitsbewältigungs-Coaching und Systemischer Seelsorge absolviert. Dr. Daniel Dietzfelbinger war viele Jahre bei einem deutschen DAX-Unternehmen in der Unternehmenskommunikation tätig, hat als Referent für Medien, Öffentlichkeitsarbeit und Erwachsenenbildung in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern gewirkt und berät heute große Wirtschaftsunternehmen als Geschäftsführer des Instituts persönlichkeit+ethik GbR, Augsburg. Dietzfelbinger ist – nach Fortbildungen in Organisationsentwicklung und Coaching – Master am Institut für Systemische Beratung in Wiesloch sowie zertifizierter WerteManager nach dem Standard des Zentrums für Wirtschaftsethik, Konstanz. Kristina Kühnbaum-Schmidt ist als Landesbischöfin die leitende Geistliche der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Sie hat den Vorsitz der Kirchenleitung inne und vertritt die Landeskirche gegenüber den Bundesländern sowie im kirchlichen und öffentlichen Leben. Gleichzeitig ist Landesbischöfin Kühnbaum-Schmidt u. a. stellvertretende Leitende Bischöfin der VELKD. Kühnbaum-Schmidt hat eine Ausbildung zur pastoralpsychologischen Beraterin und Supervisorin (DGfP/Sektion Tiefenpsychologie) absolviert. Dr. Christoph Meyns ist als Landesbischof der leitende Geistliche der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig. Außerdem ist Landesbischof Meyns EKD-Beauftragter für den Kontakt zu den evangelischen Kommunitäten und Sprecher des Beauftragtenrates der EKD zum Schutz vor sexualisierter Gewalt. Zuvor hat Meyns im Auftrag der Kirchenleitung der damaligen Nordelbischen Kirche deren Reformprozess begleitet und arbeitete im Dezernat für Theologie und Publizistik. Meyns hat u. a. Fortbildungen zum Gemeindeberater, Mediator und Geistlichen Begleiter absolviert.

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Agiles Führen Daniel Dietzfelbinger Î Woher kommt die Agilitätsdebatte? Î Was ist »Agilität«? Î Können die Ideen vom »agilen Führen« auch für Leitungshandeln in der Kirche helfen? Î Grenzen der Agilität

1 Keine wahre Geschichte Sommerabend in einer Großstadtgemeinde. Der Pfarrer hat die neuen Konfirmand:innen eingeladen, die im darauffolgenden September den Konfi-Kurs starten, samt ihren Eltern. 35 Jugendliche sitzen da, eine stolze Zahl. Jede:r angehende Konfirmand:in hat mindestens einen Elternteil mitgebracht – der Gemeindesaal voll wie selten. Es ist heiß, Leitungswasser aus leicht kalkigen Glaskaraffen wird in IKEA-Standardgläsern angeboten, etwas Salzgebäck, das nicht für alle reicht, Marke Discounter. Der Pfarrer begrüßt die Jugendlichen, geht die Namensliste durch und erläutert Sinn und Zweck des Unterrichts im Vorfeld der Konfirmation. Er erzählt leicht gedämpft, dass der Konfirmationsunterricht zu seiner Zeit noch zwei Jahre gedauert habe, der Sound zwischen Verbitterung und Ironie. Endlich kommt er zu dem, was für die Anwesenden das Interessanteste ist: der Konfirmationsgottesdienst. »Der Gottesdienst«, so der Pfarrer, »wird in einem knappen Jahr am soundsovielten Mai sein. Wir beginnen um 10.00 Uhr, bei 35 Konfirmandinnen und Konfirmanden sollten Sie auf jeden Fall zwei Stunden einplanen.« »Wie ist das mit den Plätzen? Die Kirche ist ja nicht besonders groß«, fragt eine Mutter. »Ja, das Lieblingsthema«, sagt der Pfarrer, »die Sache ist ganz einfach: Wir haben in der Kirche 250 Sitzplätze. Wir machen das wie immer: Wir teilen die Sitzplätze durch die Anzahl der Konfirmandinnen und Konfirmanden, das heißt, jede Konfirmandin und jeder Konfirmand kann sechs Plätze reservieren, mehr geht leider nicht. Schließlich müssen der Kirchenvorstand und die anderen Mitarbeitenden auch noch Platz haben.« Schlagartig Wettkampfstimmung im Raum, innerlich fahren einige Eltern die Ellbogen aus: Wen könnte man wie rechtzeitig als Bankstöpsel am Tag der Konfirmation in die Kirche schicken? Die Konfirmand:innen sind gedanklich bei den Geschenken, die sie im Anschluss an den Gottesdienst auspacken dürfen – egal wie viel Verwandtschaft in der Kirche sitzen darf. »Ist das nicht ein bisschen wenig?«, fragt ein Konfirmandenvater im vom Testosteron gestärkten Gestus, »Mein Sohn hat drei Geschwister, dazu noch beide Großelternpaare, die Paten. Da kommen wir mit sechs Plätzen nicht aus!« »Ja, das ist ein leidiges Thema, ich weiß«, sagt der Pfarrer verständnisvoll nickend im pastoralen Ton, »aber wir können das nicht ändern, wir können ja nicht einfach die Kirche größer bauen.« Die Stimmung kippt. Das oberflächliche Harmonie- und »Wir-gehören-doch-zusammen«-Gefühl verpufft wie eine zusammengedrückte Staubblume. »Was heißt: nicht ändern?«, Stimmen gehen durcheinander, »Sie könnten doch auch die Konfirmationen an zwei Sonntagen machen, so kenne ich das von meinem Neffen«, ruft eine.

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20 Prozent Kund:in­nenschwund in einer halben Stunde

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Welle des Widerstandes

Daniel Dietzfelbinger

»Nein, nein, nein«, entgegnet der Pfarrer verwirrt ob des sich gleichsam zu einem Tsunami auftürmenden Widerstandes, »das haben wir schon immer so gemacht mit einem Gottesdienst, zugegebenermaßen sind das dieses Jahr ein bisschen viele Konfirmandinnen und Konfirmanden, aber es ist wichtig, dass die ganze Gruppe gemeinsam feiert und mit ein bisschen gutem Willen …« Die Diskussion geht hin und her, der Pfarrer bleibt stur, man müsse schon mal Kompromisse schließen auf Elternseite, so schön es sei, dass so viele sich angemeldet haben. Ob man vielleicht zwei Gottesdienste an einem Sonntag machen könne, den einen um neun, den anderen um elf Uhr – das wäre ein wenig entspannter, fragt eine kompromissbereite Mutter. Auch diesen Vorschlag lehnt der Pfarrer ab: »Es bleibt auch dieses Jahr bei einem gemeinsamen Gottesdienst.« Zwei Eltern stehen auf, nehmen ihr Kind und verlassen den Raum mit den Worten: »Nein, so nicht, Herr Pfarrer, dann gehen wir in die Nachbargemeinde, die gestalten das alles flexibler.« Fünf weitere schließen sich an, ob sie woanders hingehen, weiß zu diesem Zeitpunkt keine:r. 20 Prozent Schwund an einem Abend – der Pfarrer ist frustriert, sieht sich gleichwohl im Recht und ist gar ein wenig stolz darauf, dass er tapfer bei der Sache geblieben ist. Fragen zur Reflexion a. Was kann ich tun, damit ich nicht an starren Prinzipien festhalte, sondern den Blick offen halte für das, was in der Welt passiert? b. Wo habe ich mein Ohr an dem, was Menschen brauchen, ohne mich bei ihnen anzubiedern? c. Wo gelingt es, das, was ich den Menschen geben will, in eine Sprache und Form zu bringen, sodass es auch verstanden wird? d. Wie gelingt es mir, immer wieder den Blick aus der Komfortzone vertrauter Haltungen und Gewohnheiten herauszurichten?

2 Was ist Agilität? Wie alles begann

Kaum ein Führungshandbuch, das derzeit erscheint, kaum ein Artikel im Internet, Magazin oder in der Zeitung zum Thema »Führen« kommt ohne das Wort »Agilität« aus. Beim »Bullshit-Bingo« – ein beliebtes Spiel, bei dem es darum geht, möglichst viele Mode­wörter unterzubringen – steht »Agilität« auf den meisten Karten. Von »agiler Transformation« der Organisation ist die Rede, von neuen Führungsleitbildern und -stilen, die »agil« sein müssten, vom »agilen Mindset«, »neuer Arbeitswelt«, »Arbeit 4.0«, »Empower­ment« etc. Rasch schwirrt der Kopf, weil das Wort »agil« synonym für »modern«, »zeitgemäß« oder »rasch« verwendet wird. Was nicht »agil« ist, kann nur veraltet sein, von gestern, nicht mehr sexy. Zugleich werden Widerspruch und Ablehnung laut: Kritiker:innen sprechen vom neuen Borstentier, das durch die Siedlung getrieben werde und wieder verschwinden würde – vom alten Wein in neuen Schläuchen wäre die bibelfeste Variante der Metapher.

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Agiles Führen

Gleichwohl, das Nachdenken über »agiles Arbeiten« ist nicht neu: Die Grundidee des agilen Managements ist über 20 Jahre alt, also längst den Kinderschuhen entwachsen. Was ist dran an den agilen Konzepten und am »agilen Führen«? Wo können Führungskräfte in kirchlichen Organisationen vom Konzept des agilen Führens profitieren? Das ist die Leitfrage für diesen Artikel. Zwei Richtungen stehen dabei im Vordergrund. Zum einen wird danach gefragt, was Agilität ist und welche Methoden sich dahinter verbergen. Dabei schärft die Brille den Blick, die Paulus einst den Christ:innen in Thessaloniki aufgesetzt hat: »Prüft aber alles und das Gute behaltet.« (1 Thess 5,21) Danach wird zum anderen gefragt, was »agiles Führen« im kirchlichen Kontext bedeuten kann – es sei vorweggenommen, dass es viele Ansatzpunkte für agiles Management gibt. Schließlich werden beispielhaft einige der vielen agilen Methoden vorgestellt. Eine Bemerkung zu Beginn: In diesem Artikel werden immer wieder – bewusst – Begriffe aus der Führungs- und Managementtheorie verwendet. Der Wunsch dabei ist, diese Begriffe richtig einzusortieren und nicht in einem Anflug von theologischer Arroganz als etwas Weltliches abzutun, mit dem Kirche nichts zu tun hat. Verwaltungshandeln und Führung in der Kirche sind durch und durch weltlich und können insofern gut von der wissenschaftlich fundierten Managementtheorie lernen. Der Begriff »Agilität« kommt aus dem Lateinischen und wird mit »Flinkheit, Gewandtheit, Beweglichkeit« übersetzt. Im Zusammenhang mit Organisationsentwicklung und -führung hat der Begriff eine umfassendere Bedeutung. Es geht um Flexibilität in der Organisation, Schnelligkeit in der Reaktion, Überprüfung herkömmlicher Prozesse. Abgeleitet sind daraus die Themen »Eigenverantwortung« und »Selbstständigkeit«. Zum Programm wird der Begriff im Jahr 2001 auf dem Hintergrund der sich immer schneller entwickelnden Welt. Diese dauerhaften, rasanten Veränderungen in den gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Kontexten haben einen Namen bekommen, die sogenannte VUKA-Welt. VUKA-Welt Hinter dem Stichwort »VUKA-Welt« verbergen sich die vier Begriffe Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (die englische Variante lautet VUCA World: volatility – uncertainity – complexity – ambiguity) Gemeint ist damit: Volatilität: Technologie, Märkte, Gesellschaft – alles ändert sich rasant. In Politik, Gesellschaft und Wirtschaft vollziehen sich häufig Entwicklungen, die völlig überraschend sind und althergebrachte Muster/Denkweisen/Vorstellungen über den Haufen werfen. Man spricht auch von disruptiven Entwicklungen. Unsicherheit: In Politik, Technik und Gesellschaft gibt es nur wenige Dinge, auf die Verlass ist. Überraschende Krisen und Entwicklungen machen vieles unplanbar, von der Organisations- über Marktentwicklung bis hin zu privaten Urlaubsvorhaben. Komplexität:  Der sprichwörtliche Reissack, der in China umfällt, hat mittlerweile Bedeutung für die gesamte Weltgesellschaft. Die Welt ist so vernetzt, dass Zusammenhänge kaum noch durchschaubar sind: Vieles hängt

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Können kirchliche Führungskräfte von agilen Konzepten profitieren?

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Daniel Dietzfelbinger

mit vielem zusammen, ohne dass dabei die Verbindungen im Detail auf die Schnelle nachvollzogen werden können. Komplexität unterscheidet sich dabei von Kompliziertheit. Ambiguität:  Viele positive Entwicklungen, zum Beispiel durch Technik, haben zugleich negative Auswirkungen oder zumindest fragwürdige Seiten. Beispiel E-Scooter: Sie sollen die Verkehrssituation in Städten entlasten und damit zum Klimaschutz beitragen; die Massenproduktion der Roller und die schnelle Abnutzung machen den Klimaeffekt jedoch wirkungslos.

Eine Gruppe von internationalen Softwareentwickler:innen sah sich durch die benannten gesellschaftlichen Entwicklungen, verbunden mit immer kürzer werdenden Produktzyklen und immer individueller werdenden Ansprüchen der Kund:innen, veranlasst, das klassische Projektmanagement (das sogenannte Wasserfallsystem, also die kaskadenartige Abarbeitung von Projekten) mit einem neuen Ansatz zu ergänzen: Das »agile Projektmanagement« war geboren, umrissen in einem »Agilen Manifest« (Agile Alliance 2001): »Wir erschließen bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen. Durch diese Tätigkeit haben wir diese Werte zu schätzen gelernt: Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlung Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans Das heißt, obwohl wir die Werte auf der rechten Seite wichtig finden, schätzen wir die Werte auf der linken Seite höher ein.«

Fokus: Kund:innen und Mitarbeiter:innen

Die Idee dahinter im Kontext der IT-Entwicklung ist: Wir können nicht mehr einfach der Kundin:dem Kunden eine Software vor die Nase setzen, sondern wir brauchen deren Feedback. Auf Basis dieses Feedbacks entwickeln wir die Software weiter und hören dabei auf die individuellen Wünsche der Kund:innen.1 Die Werte aus dem Agilen Manifest ersetzen nicht die anderen, sondern sie werden primär gestellt, das heißt, dass auch die anderen Werte noch wichtig sind. Der Grundgedanke dabei: Flexibilität, Lösungsorientierung, Teamverantwortung und Offenheit für Veränderungen vor Starrheit, autoritärer Prozessstruktur, verstaubter Hierarchie und machtbewusstem Funktionsverständnis. Das war (und ist) eine ambitionierte Ergänzung zum herkömmlich strukturierten und aufgebauten Prozess- und Managementverständnis. Dementsprechend hatten die Verfasser:innen des Agilen Manifestes eine Leitfrage im Kopf: Wie gelingt es, in einer VUKA-Welt, in der vieles unsicher geworden ist, und in einer Zeit, in der die Ansprüche der Menschen in der Welt (im Blick auf Unternehmen: der Kund:innen) immer individueller werden, Menschen und Organisationen mit Produkten/ Dienstleistungen individuell zufriedenzustellen und diese Produkte/Dienstleistungen mit zufriedenen und motivierten Mitarbeiter:innen zu schaffen? Das heißt: Fokus des agilen Managements sind zum einen die Nutznießer:innen der Produkte/Dienstleistungen – in betriebswirtschaftlicher Sprache: die Kund:innen – zum anderen die Mitarbeiter:innen, die mit einem hohen Maß an Eigenverantwortlichkeit bei der Entwicklung von Prozessen und Produkten beteiligt werden sollen. Die Verfasser:innen des Agilen Manifestes erläutern die vier Werte agilen Handelns in zwölf Prinzipien, 1 Wer ein wenig softwareaffin ist, kennt von früher noch die berühmten Beta-Versionen von Software, heute geschehen die laufenden Aktualisierungen imZuge der App-Kultur quasi während des Betriebes.

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Agiles Führen

von denen hier nur die erwähnt sind, die für das Weiterdenken im kirchlichen Kontext relevant sind – die vollständige Liste unter https://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto. html, abgerufen am 15.10.2021. »Heisse Anforderungsänderungen selbst spät in der Entwicklung willkommen […]. Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen. Die effizienteste und effektivste Methode, Informationen an und innerhalb eines Entwicklungsteams zu übermitteln, ist im Gespräch von Angesicht zu Angesicht. […] Einfachheit – die Kunst, die Menge nicht getaner Arbeit zu maximieren (sic!) – ist essenziell. Die besten Architekturen, Anforderungen und Entwürfe entstehen durch selbstorganisierte Teams. In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann und passt sein Verhalten entsprechend an.« (Agile Alliance 2001) Mittlerweile ist das Thema aus der Softwareentwicklung in die allgemeine ManagementLiteratur und -Lehre ausgewandert. Dabei lassen sich zwei Treiber identifizieren. Der eine Treiber ist der, der sich aus der oben beschrieben VUKA-Welt ergibt. In diesem Zusammenhang »beschreibt Agilität die Fähigkeit einer Organisation, sich kontinuierlich an ihre komplexe, turbulente und unsichere Umwelt anzupassen« (Häusling/Römer/ Zeppenfeld 2018, S. 11). Zudem gib es die personalbezogene Antreiberseite: Das sind die Menschen, die in einer Organisation, auch in der Kirche, arbeiten oder als Gemeinde­ glieder oder Interessierte mit der Kirche in Kontakt stehen. Hier gibt es in den zurückliegenden Jahren im Blick auf die Generationen massive Wertveränderungen und Haltungsverschiebungen: Die Generationen Y und Z haben individuellere Ansprüche, sind wenig fokussiert auf Hierarchien und Ämter, sondern wollen auf Augenhöhe angesehen werden und – so sie denn Mitarbeiter:innen sind – gern im Team, zugleich selbstverantwortlich arbeiten.

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Diese Generationen, die zum einen als Personal auch in der Kirche mehr und mehr Verantwortung übernehmen, zum anderen auch als Gemeindeglieder in den Fokus rücken, haben ihrerseits ein eigenes Verständnis von dem, wie sie geführt werden wollen und selbst führen. Beide Aspekte treiben das Thema »Agilität« in den zurückliegenden Jahren massiv voran. Mangelsdorf, Martina: Von Babyboomer bis Generation Z. Der richtige Umgang mit unterschiedlichen Generationen im Unternehmen, 3. Aufl., Offenbach 2019, S. 9–24.

e. Was braucht es, damit Menschen, für die ich Verantwortung trage, mit Lust und Freude an die Arbeit gehen? f. Welche Methoden und Ideen helfen, damit ich gemeinsam mit »meinen Leuten« zu kreativen und produktiven Prozessen und Ideen komme, um Menschen Orientierung zu geben und sie in ihrem Glauben zu bestärken? g. Wann habe ich mich auf Neues eingelassen und was habe ich dabei gelernt? h. Wie habe ich als junger Mensch darauf reagiert, wenn ältere Menschen sich nicht auf meine Ideen einlassen wollten? i. Erinnere ich mich an eine Situation, in der ich mich über eine:n Verkäufer:in/eine:n Handwerker:in/eine:n Dienstleister:in geärgert habe, weil er:sie mein Anliegen nicht verstanden hat?

3 Das »agile Mindset« Agiles Management setzt ein mit »agilem Mindset«. Interessanterweise findet sich in älteren englischen Lexika der Begriff mindset nicht. Erst in modernen Lexika wie im Internet taucht der Begriff auf und erfährt unterschiedliche Übersetzungen: Sie schwanken zwischen »Denkweise«, »Denkart« und »Mentalität«. Etwas freier übersetzt könnte man mindset auch als Haltung oder Einstellung übersetzen. Darum geht es als Erstes, wenn man über »agiles Management« und agile Transformation nachdenkt. Denn wie bei jedem Veränderungsprozess geht es nicht vordergründig um ein Ändern der Artefakte und sichtbaren Handlungen, sondern im Grunde um ein Umdenken, ein Arbeiten an seinen eigenen Einstellungen. Hier liegt der Knackpunkt für all das, was im Anschluss folgt: Wie gelingt es, sich aus Altgewohntem in Neues hineinzudenken, wie gelingt es, die gewohnten Bahnen, das Vertraute zu verlassen und den Blick zu wagen hinüber in das, was neu ist, was Veränderung bringt, dadurch ungewohnt ist? Negativ ausgedrückt: Wer nicht aufgeschlossen für Neues ist, starr an Altem festhält, wird an der Agilität verzweifeln oder sie verteufeln. Agilität bedeutet Umdenken. Was heißt das? »Es gibt kein richtiges oder falsches Mindset, nur ein zum Kontext und zur Situation passendes oder weniger passendes. Wichtigste Voraussetzung für ein agiles Mindset ist auf persönlicher Ebene Haltung, auf der organisationalen Ebene eine Vision. Beides gibt dem Denken etwas wie Rückgrat – es richtet auf. Das Mindset von Unternehmen [oder Organisationen; Anmerkung D. D.] muss auf Grundannahmen beruhen, als auf einem Verständnis des ›Guten‹.« (Hofert 2018, S. 4) Und wieder mal Maslow

Worauf zu achten ist: Es gibt starre und flexible Mindsets, sture und dynamische. Je nachdem, welchem Orientierungspunkt man folgt, welche Prägung man mitbringt, so ist das eigene Mindset, die eigene Haltung. Dabei ist offensichtlich, dass der Mensch, je älter er

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wird, in den meisten Fällen mehr nach Sicherheit und Stabilität strebt als nach stän­digem Wandel und Veränderung. In der nach wie vor relevanten Maslowschen Bedürfnispyramide2 baut das Sicherheitsbedürfnis direkt auf das Fundament der physiologischen Bedürfnisse. Das mag zunächst als Widerspruch zu einem agilen Mindset stehen, doch genau hier ist der Ansatzpunkt und die Grundfrage für Führungskräfte – kontextunabhängig: Wie gelingt es, dem Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung in einer sich rasant ändernden, von Unsicherheit geprägten Welt so gerecht zu werden, dass man sich nicht zurückzieht und den ohnehin vermeintlich besseren Zustand früherer Welten beschwört? Wie gelingt es, dass man sich öffnet für das, was in der Welt geschieht, und zugleich nicht in Beliebigkeit verfällt, indem man alles gut findet, was gerade auf dem Markt der Möglichkeiten feilgeboten wird? Die Spannung lässt sich mithilfe des von Friedemann Schulz von Thun, wiederentdeckten Wertequadrats von Paul Helwig verdeutlichen:3

Das Wertequadrat verdeutlicht: Der Wert Sicherheit hat seinen Schwesterwert in der Flexibilität, sie stehen in einem positiven Spannungsverhältnis. Beide Werte – Sicherheit wie Flexibilität – können jeweils übertrieben werden und stehen dann im diametralen Gegensatz (Starrheit/Sturheit vs. Beliebigkeit/anything goes). Die Kunst ausgeglichener Haltung besteht darin, das positive Spannungsverhältnis der Schwesterwerte Sicherheit und Flexibilität so für sich zu nutzen, dass man nicht auf einer Seite des Pferdes hinunterfällt, sondern versucht, stets beides im Blick zu behalten, da beide Werte für eine gesunde Haltung wichtig sind. Diese produktive Spannung braucht es, um bei sich an einer agilen Grundhaltung zu arbeiten. Solch ein agiles Mindset bei sich selbst zu entwickeln, geht nicht von heute auf morgen, auch nicht mit Umlegen eines Schalters. Kein:e Mitarbeiter:in würde Ihnen abkaufen, wenn Sie gestern noch auf starre Hierarchien, auf die Anrede mit Herr:Frau Dekan:in Wert gelegt haben, und heute auf einmal kumpelhaft mit jedem:jeder per Du sind. Kein:e Mitarbeiter:in würde Sie ernst nehmen, wenn Sie gestern noch auf Befehl-und-Gehorsam-Führungsstil bestehen und heute auf eigenverantwortliches Arbeiten der Mitarbeiter:innen setzen. Ein agiles Mindset zu entwickeln ist ein Weg, Arbeit an sich selbst. 2 Erstmals als Idee in: Maslow 1943; später von Maslow kontinuierlich weiterentwickelt und vielfach rezipiert. 3 Idee ursprünglich von Paul Helwig, in: Helwig 1936, S. 65; wiederentdeckt und für Führung fruchtbar gemacht von Friedemann Schulz von Thun, in: Schulz von Thun 2005, S. 38–56; Bild: eigene Darstellung.

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Dieser Weg hin zu einem agilen Mindset führt nur durch das oben genannte Wertequadrat und ist damit verbunden, sich immer wieder selbst zu hinterfragen. Dabei können folgenden Leitfragen hilfreich sein: – Gibt es ein Arbeitsfeld, bei dem ich mich aus meiner sicheren Komfortzone gern herauswagen will? – Wo bin ich bereit, einen Blick über den Tellerrand zu wagen? – Wo habe ich positive Erfahrungen mit Flexibilität gemacht? – Wo lohnt es sich, etwas Neues auszuprobieren? – Bei welchem Arbeitsfeld kann ich komplett loslassen? – Was von dem, was mir wichtig und wertvoll ist, will ich trotzdem beibehalten? Kann ich das plausibel begründen (oder halte ich einfach aus Gewohnheit daran fest)? – Habe ich Vertrauen in meine Mitarbeiter:innen, dass sie ihre Aufgaben eigenständig erledigen? – Habe ich Vertrauen in die Kreativität meiner Mitarbeiter:innen? – Lasse ich Eigenverantwortung meiner Mitarbeiter:innen zu? – Was würden Kolleg:innen oder Mitarbeiter:innen von mir gar nicht erwarten?

Dabei ist der Weg hin zu einem agilen Mindset im kirchlichen Kontext schon vorhanden. Valentin Nowotny beschreibt das agile Mindset folgendermaßen (vgl. Nowotny 2016, S. 364): Weg von …

… hin zu

Profitdenken

Sinngebung

Hierarchien

Netzwerken

Kontrollieren

Befähigen

(langfristige) Planung

(Aus-)Testen

Verschlossenheit

Transparenz



Überlegen Sie selbst, wo Sie in der dritten Spalte für Ihre Haltung einen Haken machen würden. j. Was brauche ich, um Veränderung nicht als Bedrohung, sondern als Chance zu sehen? k. Bei wem kann ich mir Feedback einholen über meine Arbeit als Führungskraft und meine Bereitschaft, über Veränderungen nachzudenken?

4 Agile Führung Führung als Profession Agile Führung fängt also mit der eigenen Haltung an: Ich lasse mich auf Neues und auf Veränderung ein und bin dabei bereit, mein eigenes Verhalten im Blick auf Mitarbeiter:innen zu hinterfragen. Oft trifft man im kirchlichen Kontext Führungskräfte, die ihr Führungsverständnis mit einem bestimmten, meist funktional oder charismatisch be-

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gründeten Amtsverständnis verknüpfen. Hierüber ließe sich trefflich lange diskutieren, dafür ist hier gleichwohl nicht der Ort – es sei nur so viel dazu gesagt: Ein subjektives theologisch-pastorales Amtsverständnis, das seine Begründung in Tradition, (pastoraler) Hierarchie oder (vermeintlich) persönlichem Charisma erfährt, ist nicht kompatibel mit einem professionellen Verständnis von Führung. Das beinhaltet die Kompetenz der Ziel- bzw. Richtungsangabe für und Motivation von Mitarbeiter:innen sowie psychologisches und menschliches Einfühlungsvermögen. Deswegen ist eine Grundvoraussetzung für kirchliche Führungskräfte, Führung als Profession zu verstehen, die man erlernen muss wie andere fachliche Kompetenzen. Kaum ein Mensch, und das heißt auch: kaum ein:e Pfarrer:in, kaum eine kirchenleitende Person, ist als Führungskraft geboren. Das Konzept der agilen Führung kann viele Aspekte umfassen. Dies soll die folgende Grafik veranschaulichen, in der die besonders häufig genannten Elemente agilen Manage­ ments aufgelistet sind:

Im Folgenden werden einige der Schlagworte beispielhaft aufgegriffen und die damit verbundenen Methoden erläutert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass agiles Führen zuallererst im Kopf, bei der eigenen Haltung beginnt und erst dann durch bestimmte Methoden verwirklicht wird. Bei der Umsetzung der agilen Führung kommen vor allem die Mitarbeiter:innen in den Blick, die Nutznießer:innen/Kund:innen sind hier sekundär (sollten aber im Hintergrund immer die Frage leiten: Was wollen wir den Kund:innen anbieten? Welche Möglichkeiten haben wir, alteingesessene Gemeindeglieder [»Bestandskund:innen«] zufrieden zu stellen, und was müssen wir tun, um neue Gemeindeglieder [»Neukund:innen«] zu gewinnen?).

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Was schon einmal funktioniert hat Es lohnt sich über Agilität nachzudenken, wenn … … Ihre Organisationsumwelt sich immer schneller verändert und immer verrückter zu werden scheint. … Entscheidungen, Vorgänge oder Reaktionen auf Ereignisse oft länger brauchen, als es aus Ihrer Sicht gut wäre. … die Zufriedenheit Ihrer Mitglieder nicht so hoch ist, wie Sie es sich wünschen würden. … sich Anforderungen an Projekte oder Aufgabestellungen während des Abarbeitens noch verändern. … das richtige Vorgehen in einem Projekt oder einer Aufgabenstellung nicht von Anfang an klar ist und noch herausgefunden werden muss. … Informationen zwischen Mitarbeiter:innen nicht so fließen, wie sie sollten. … Ihre Mitarbeiter:innen mehr Infos darüber haben, was die Gemeinde braucht, als Sie. … Ihre Mitarbeiter:innen unzufrieden sind oder sogar weglaufen. … Sie merken, dass Sie nicht die Arbeitgeberattraktivität haben, die es braucht, um ausreichend Bewerbungen zu bekommen. … am Ende Ihres Planungshorizontes die geplanten Themen überhaupt nicht mehr aktuell sind und vieles passiert, weil es in der Zielvereinbarung steht, obwohl es keinen Nutzen mehr hat.  (nach: Grätsch/Knebel 2020, angepasst durch D. D.)

Agile Führung setzt voraus, dass man offen ist für das, was in der Welt geschieht, was Mitarbeiter:innen können und wollen. Nicht: »Ich habe die Lösung für alles, ich weiß über alles am besten Bescheid«, sondern: »Ich eröffne dir, liebe:r Mitarbeiter:in, den Raum, damit du gemeinsam mit deinen Kolleg:innen die beste Lösung für das Thema, für die Frage, für das Anliegen findest. Wie diese Lösung aussieht, weiß ich jetzt noch nicht, aber ich vertraue darauf, dass du sie finden wirst – gern schauen wir in regelmäßigen Abständen gemeinsam drauf, was bis dahin passiert ist.« Das setzt voraus, dass der:die Mitarbeiter:in bereit ist, sich auf diese Verantwortung einzulassen. Demnach ist es gegebenenfalls zugleich Führungsaufgabe, den:die Mitarbeiter:in zu befähigen, sich auf diese Verantwortung nicht nur einzulassen, sondern diese aktiv wahrzunehmen. Der:die Sekretär:in, der:die sich bisher darauf verlassen hat, dass der:die Chef:in alles im Detail vorgibt und die Arbeitsergebnisse jeweils genau kontrolliert, wird sich schwer damit tun, wenn er:sie plötzlich eigenverantwortlich arbeiten soll. Eigenverantwortlich heißt, die Aufgabe eigenständig wahrzunehmen, selbst Lösungen zu entwickeln und nicht jeden Einzelschritt mit dem:der Chef:in abzusprechen. Deswegen heißt agiles Führen, die Mitarbeiter:innen kontinuierlich zu befähigen, so eigenständig wie möglich zu arbeiten – aufseiten der Führungskraft setzt dies aber Vertrauen und Loslassen sowie die Kunst des Delegierens voraus. Die Eisenhower-Matrix und das Dilemma der Delegation Zur Verdeutlichung, was das im agilen Management heißt, hilft die sogenannte Eisenhower-Matrix.4 Die Matrix teilt anstehende Aufgaben in vier Kategorien ein: 4 Es gibt keinen Hinweis darauf, dass der ehemalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower jemals damit gearbeitet hat oder diese Matrix erfunden hat. Vielmehr ginge der Bezug auf Eisenhower auf eine Rede zurück, »in der er 1954 einen ungenannten früheren Hochschulpräsidenten folgendermaßen zitierte: ›I have two kinds of problems, the urgent and the important. The urgent are not important, and the important are never urgent.‹« (vgl. Wikipedia 2021; Eisenhower 1954). © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666630668 | CC BY-NC-ND 4.0

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Dazu gibt es nun verschiedene Auflösungsmöglichkeiten. Bevor diese dargestellt werden, fragen Sie sich doch einen kurzen Augenblick: Welche der Aufgaben würden Sie delegieren? Aufgaben der Kategorie D können Sie problemlos delegieren, meistens können diese sogar in den Mülleimer wandern, weil diese unnötig Zeit und Kapazitäten binden. Aufgaben der Kategorie C kann und muss man delegieren. Die Fragen beginnen bei Aufgaben der Kategorie B und A. Aufgaben, die wichtig sind, aber nicht so dringend? Realistischerweise – wenn Sie kompetente Mitarbeiter:innen haben – können und müssen Sie diese delegieren, wenn der:die Mitarbeiter:in inhaltlich kompetent ist.5 Was aber ist mit Aufgaben der Kategorie A? Hier beginnt das Problem: Hand aufs Herz, hätten Sie wirklich gesagt, Sie können diese Aufgaben delegieren? Das wäre überraschend – dann sind Sie bereits auf dem besten Weg zu einem agilen Mindset. Normalerweise antworten die meisten Menschen, denen die Matrix vorgelegt wird, Aufgaben der Kategorie A müssten sie selbst übernehmen, weil diese wichtig und eilig sind und dafür seien sie ja schließlich Führungskraft. So wird die Eisenhower-Matrix auch in den meisten Führungs- oder Delegationsratgebern aufgelöst und festigt damit ein althergebrachtes Führungsverständnis: Der:die Chef:in ist der:die, der:die alles am besten kann, und nur er:sie ist für bestimmte Aufgaben geeignet. Gleichzeitig rekrutieren viele Führungskräfte ihr Selbstverständnis daraus, dass nur sie selbst die wichtigen Aufgaben erledigen können – welch Irrtum und Selbsttäuschung! Was bedeutet das? Konkret aufgelöst: Sie haben Mitarbeiter:innen, die wichtige Dinge erledigen können und müssen (C-Aufgaben), Sie haben Mitarbeiter:innen, die zeitkritische Dinge erledigen können und müssen (B-Aufgaben), aber Sie trauen keinem:keiner Mitarbeiter:in zu, beides zugleich zu können? Sie meinen, dass Sie das nur selbst können? Dann hätten Sie kein gutes Personal. Delegation, zu Ende gedacht, muss so weit gehen, dass Sie als Führungskraft im Idealfall Ihren Mitarbeiter:innen so viel wie möglich zutrauen – Delegation ist keine lästige 5 Wobei manche Autor:innen sagen, man müsse bereits die B-Aufgaben selbst übernehmen, der Wikipedia-­ Artikel spricht z. B. von »portionieren und dann selbst erledigen« (Wikipedia 2021); dem sei hier ausdrücklich widersprochen!

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Wie würden Sie entscheiden?

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Pflicht, sondern Grundaufgabe der Führung. Beim agilen Führen wird Delegation zentral, weil es darum geht, so viel Eigenverantwortlichkeit wie möglich in das Team, dem:der Mitarbeiter:in zu geben. Es geht dabei darum, loslassen zu können und Führung vor allem als Unterstützung zu verstehen (»servant leadership«). Um das klarzustellen: Natürlich gibt es Aufgaben als kirchliche Führungskraft, die Sie nicht delegieren können. Gerade im Blick auf liturgische Anlässe müssen Sie als Dekan:in oder Pfarrer:in in Führung gehen – gleichwohl lässt sich auch hier immer wieder die Frage stellen, was man abgeben kann und was nicht. Auch bei gottesdienstlichen Anlässen gibt es Bausteine, die man getrost delegieren kann, von der Liedauswahl bis hin zu Gebeten – das ist je unterschiedlich einzuschätzen und zu bewerten. Im agilen Management kommt beim Thema »Delegation« das Stufenmodell (Appelo 2011, S. 127 ff. und 2018, S. 66 ff.) zum Tragen. Die Idee dabei: Ausgehend davon, dass ich möglichst viel delegieren will und soll, muss ich bei jeder Aufgabe und bei jedem:jeder Mitarbeiter:in entscheiden, wie viel ich an wen delegieren kann. Das Modell wird hier in acht Stufen dargestellt:6

6 Appelo verwendet ursprünglich sieben Stufen. In der Literatur/im Internet schwankt die Zahl mittlerweile.

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Je nach Mitarbeiter:in und Aufgabe muss die Führungskraft entscheiden, bis zu welcher Stufe er:sie delegieren kann und will, die Grundhaltung dabei sollte sein, so viel wie möglich abzugeben.7 Im Netz gibt es dazu viele Beispiele, siehe etwa t2informatik: Was ist Delegation Poker?, online unter: https:// t2informatik.de/wissen-kompakt/delegation-poker/, abgerufen am 08.05.2022.

Bei aller agilen Haltung und Bereitschaft, den Mitarbeiter:innen Selbstverantwortung zuzumuten – es gibt Grenzen: Als Führungskraft muss man darauf achten, dass man Mitarbeiter:innen nicht überfordert. Dabei ist – wie häufig in Führungssituationen – Fingerspitzengefühl gefragt, denn es gilt, das richtige Maß zu finden zwischen Unter-, Heraus- und Überforderung! Zwischen Führungskraft und Mitarbeiter:innen Wie beschrieben, heißt agile Führung, Mitarbeiter:innen etwas zuzutrauen. Das mag banal klingen, erhebt zugleich aber einen hohen Anspruch: Die Anforderung ist, als Führungskraft allenfalls die Rahmenbedingungen vorzugeben, vielleicht auch noch über das gemeinsame Ziel – den Weg zur Zielerreichung – zu diskutieren, die Strategie, die Methoden aber den Mitarbeiter:innen zu überlassen, denn agile Führung setzt auf selbstorganisiertes Arbeiten. Dazu sind im kirchlichen Kontext gute Rahmenbedingungen gegeben. Denn viele Arbeitsbereiche, für die eine kirchliche Führungskraft, ein:e Pfarrer:in in einem leitenden Amt, Verantwortung trägt, sind im alltäglichen Arbeiten eigenständige Bereiche, in denen eine Einmischung pfarrerlicher Macht eher unerwünscht ist. Ob Mesnerei, Kindergarten oder kirchlich getragenes Tagescafé – meist sind die Mitarbeiter:innen froh, wenn sich der:die Pfarrer:in, der:die rechtlich die Letztverantwortung trägt, nicht in das Tagesgeschäft einmischt. Agiles Arbeiten im Sinne der Selbstverantwortung bedeutet nicht zugleich, dass die Mitarbeiter:innen in den Teilbereichen tun und machen können, was sie wollen. »Scrum«8, einer der klassischen Grundmethoden des agilen Managements setzt gerade darauf, dass es in den sogenannten Sprints und Iterationen immer wieder Rückkoppelungen an den:die Auftraggeber:in oder Letztverantwortliche:n gibt – agiles Management ist keine Anarchie.

7 Das Modell wird im agilen Management auch dazu genutzt, um in kleinen Gruppen oder Seminaren »Dele­gation Poker« zu spielen. Dabei geht es darum, spielerisch im Miteinander zu entscheiden, welche Aufgaben im Team vergeben werden können und welche besser nicht oder nur zum Teil. Auch im Coaching oder in Führungsseminaren lässt sich dieser spielerische Ansatz gut verwenden. 8 Der Begriff bedeutet wörtlich »Gedränge«; in die agile Sprache übernommen wurde er aus dem englischen Rugby-Sport, bei dem »Scrum« nicht einfach ein chaotisches Gedränge ist, sondern eine geordnete Aufstellung beider Mannschaften in einem großen Miteinander – etwa nach einem Foulspiel oder bei einem Einwurf. Siehe dazu einschlägige Artikel im Netz.

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Agiles Management ist keine Anarchie

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Neues Denken

Feedback, Feedback, Feedback

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Agile Führung bedeutet wie beschrieben, den Mitarbeiter:innen auf Augenhöhe zu begegnen – konsequent auf allen Ebenen, vom Mesner bis zur Kindergartenleiterin. Die Mitarbeiter:innen in ihren unterschiedlichen Arbeitsgebieten sind kompetent und in Problem- und Zweifelsfällen näher an der Lösung als die Führungskraft. Augenhöhe heißt, sich auf unterschiedliche Herkunftsmilieus einlassen zu können und die Mitarbeiter:innen als Vertreter:innen unterschiedlicher Milieus wahr- und ernst zu nehmen. Wenn der:die neue Pfarrer:in glaubt, sich in der Kirche besser auszukennen als der:die Mesner:in, die seit zwanzig Jahren dort seinen:ihren Dienst versieht, muss er:sie sich nicht wundern, wenn er:sie auf Widerstand stößt. Wenn der:die Dekan:in der:dem Leiter:in der lokalen Erwachsenenbildungsstätte etwas über Bildungsarbeit erzählt, muss er:sie – mindestens wenn es überheblich wird – mit Gegenwind rechnen. Umgekehrt: Wenn es gelingt, Mitarbeiter:innen auf Augenhöhe zu begegnen, ihnen ihre Kompetenzfelder zuzugestehen und entsprechend möglichst viele Aufgaben zu delegieren, werden Lösungen, Erfolge und teamorientiertes Arbeiten wahrscheinlicher. Agile Führung spricht bei der Grundhaltung des Führens von »servant leadership«, wörtlich übersetzt die »dienende Führung«. Übertragen heißt das, dass die Führungskraft ermöglicht und nicht Anweisungen erteilt. Man spricht auch von indirekter Führung oder lateralem Führen. Agile Führung heißt, manchmal auch (erst einmal) kleine Schritte zu gehen, nicht immer den langen Prozess vor Augen zu haben. Ausprobieren, dann gemeinsam draufblicken: Was haben wir gelernt? Wie weit sind wir gekommen? Um es dann in einem nächsten Schritt zu probieren – in der agilen Sprache nennt sich das Iteration und ist eng verbunden mit dem Thema »offene Feedback-Kultur«. Auch im kirchlichen Kontext kann dieser Ansatz bei manchen Themen sinnvoll sein. Agile Führung heißt, zu entscheiden, wenn möglich schnell. Hier mag manche:r Sorgenfalten auf die Stirn bekommen, wenn er:sie an kirchliche Gremienarbeit denkt. Entscheidung treffen, noch dazu schnell, mag wie ein Fremdwort klingen, laufen doch Gremien im kirchlichen Kontext oft nach der Valentineske »Es ist schon alles gesagt, nur nicht von allen«. Das wiederum hat etwas mit der oft auf breiter Partizipation fußenden Entscheidungsmodalitäten im kirchlichen Kontext zu tun. So sehr je nach Situation Fingerspitzengefühl gefragt ist, so notwendig ist es, Prozesse, Fragen und Themen Lösungen zuzuführen. Das erfordert manchmal Mut und einen breiten Rücken, gerade wenn in kirchlichen Kontexten Partizipation ernst genommen wird. Aber selbst wenn man basisdemokratisch aufgestellt ist, braucht es am Ende jemanden, die:der Mehrheitsentscheidungen durchsetzt, auch wenn er:sie dafür von der Minderheit Prügel bezieht. Agile Führung heißt, Fehler zuzulassen und aus ihnen zu lernen. Das lange Hinausschieben von Entscheidungen hat oft mit der Angst zu tun, im Zweifelsfalle etwas zu übersehen, also »falsch« zu entscheiden – wer auch immer das »Falsch« definiert. Auf diese Angst reagiert der agile Ansatz mit der Offenheit, Fehler zu machen. Das ist geradezu Teil des Konzepts, weil oft aus »Fehlern« etwas Neues entstehen kann; es gibt unzählige Fälle, wie aus sogenannten Abfallprodukten in der Industrie etwas Nützliches für die Welt entstanden ist – heute spricht man positiver von Spin-offs.9 Fehlerfreundlichkeit heißt banal: »Was können wir daraus lernen?«, nicht: »Wer hat das verbockt?« »Heiße den Fehler willkommen!« steht auf manchem agilen Führungsplakat – mit ein bisschen Fantasie kann das auch als eine moderne Management-Lesart von simul iustus et peccator verstanden werden. Agile Führung heißt schließlich, sich konsequent auf Feedbackschleifen einzulassen. Dabei geht es darum, sich bei Prozessen oder bei Projekten während des Prozesses und 9 Es lohnt sich zum Beispiel, die Geschichte des Teflons zu lesen, das nicht aus der Raumfahrt, sondern wohl zufällig bei der Kühlschrankproduktion entstanden ist, und dann zunächst für den Atombombenbau weitere Verwendung fand.

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Agiles Führen

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danach im Team zusammenzusetzen und darauf zu blicken, wie der Stand ist, was gut läuft/lief, wo es Probleme gab/gibt. Im kirchlichen Kontext besteht die Gefahr zu großer Harmonisierungslust oder mangelnder Konfliktbereitschaft. Kritisches Feedback, noch dazu in Richtung der Vorgesetzten, wird dabei oft unterdrückt oder »hintenrum« geäußert (in kaum einer Organisation wird wohl so viel über Personen hintenrum geredet wie in der Kirche!). Dabei ist kritisch-konstruktives Feedback in Prozessen und Projekten absolut notwendig. Das kann auch das Verhalten bzw. das Auftreten der Führungskraft – also des:der Dekan:in – betreffen. Deutlich ist, dass Feedbackprozesse erlernt werden müssen, sowohl als Empfänger:in von Feedback wie auch als Geber:in von Feedback. Diese Regeln gehören zum klassischen und notwendigen Instrumentarium einer Führungskraft. Im agil verstandenen Managementanasatz heißt das, dass Sie als Führungskraft den Raum schaffen, dass Mitarbeiter:innen auch ihnen kritisches Feedback geben können, dürfen und sollen. Feedbackschleifen im agilen Management – in kleiner Form als Review, für den gesamten Prozess als Retrospektive bezeichnet – sind ein wichtiges Format, sich immer wieder Rückmeldung zu geben zum einen, wie man das bewertet, was aus einem Prozess, aus einem Vorhaben, aus einer Idee herausgekommen ist, zum anderen zum Prozess, wie das Gesamte im Miteinander entstanden ist. Dabei geht es nicht um endlose Befindlichkeitsschleifen, sondern um kurze professionell laufende Runden, etwa mit den Leitfragen: Was ist gut gelaufen? Was ist nicht gut gelaufen? Was lerne ich daraus, was können wir daraus lernen? Was mache ich bis zum nächsten Meeting anders? Feedback zu geben, muss man lernen. Aufgabe der Führungskraft ist es, Mitarbeiter:innen zu befähigen und zu ermutigen, entsprechende Rückmeldung in Richtung Führungskraft zu geben. Dies ist oft eine hohe Hemmschwelle für Mitarbeiter:innen, da Hierarchie und latente Angst vor möglichen Nachteilen aus einem kritischen Feedback in Richtung Führungskraft immer noch prägend sind, auch im kirchlichen Kontext (missverstandener Respekt vor Autoritäten, falsches Hierarchieverständnis). Deswegen müssen Führungskräfte das Geben von Feedback mit ihren Mitarbeiter:innen aktiv einüben. Exkurs: Agiles Management und subjektiver Machtverlust Agil zu führen, zu delegieren, offen zu sein, den Mitarbeiter:innen etwas zuzutrauen, ist für viele Führungskräfte – egal in welchem Kontext – gleichbedeutend mit Machtverlust. Wenige gestehen sich das zu – wie sieht es bei Ihnen aus? Macht, die Möglichkeit und/oder Fähigkeit über Menschen zu bestimmen, sie anzuführen, sie gegebenenfalls auch zu kritisieren, ist für viele Menschen ein Lebenselixier. Das ist nicht negativ zu sehen, sondern zeugt von der Lust, etwas zu gestalten, Verantwortung zu übernehmen Es gibt dazu in Politik, Philosophie und Gesellschaft unterschiedliche Theorien und Ansätze (vgl. dazu kurz und bündig Anter 2021). Psychologisch kann es für Führungskräfte persönliche Befriedigung bedeuten, Macht über Menschen auszuüben und darüber sein eigenes Ego zu definieren: Ich habe so und so viele Mitarbeiter:innen »unter mir«, also ist meine Macht groß – ein Phänomen, das in allen Organisationen, egal ob profit- oder non-profit-orientiert, vorkommt. Daran schließt sich an: Je größer meine Macht, desto wichtiger bin ich. Daraus speist sich schließlich das Selbstbild und die vermeintliche Ausstrahlung nach außen. Nicht selten führen solche Anwandlungen zu narzisstischen Zügen bei den jeweils machtinhabenden Personen bzw. nährt den Narzissmus; man fühlt sich mit einem Charisma ausgestattet, das allein funktional durch eine bestimmte Position begründet ist, durch einen Titel, den man trägt, selten durch persönliche Fähigkeiten.

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Macht und Wichtigkeit

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Wenn nun beim agilen Führen von Servant Leadership (»dienender Führung«) die Rede ist, so wandelt sich das (Selbst-)Verständnis von Führung und Führungskraft. Nicht mehr die Macht, über Leute zu bestimmen, zeichnet eine Führungskraft aus, sondern die Macht, Menschen zu befähigen und selbstverantwortlich werden zu lassen. Agile Führung stellt das eigene Ego zugunsten der Ideen, der Kreativität der Mitarbeiter:innen hinten an und schafft Räume, in denen sich die Mitarbeiter:innen entwickeln, einbringen können. Insofern bedeutet agile Führung für das herkömmliche Verständnis von Führung und Macht einen grundlegenden Wandel.

5 Agile Methoden Agile Führung heißt, sich kontinuierlich mit Methoden und Ideen aus der agilen Transformation auseinanderzusetzen und zu überlegen, welche Methoden für die eigene Organisation, sei es im Dekanat oder in der Gemeinde, hilfreich sind. »Das Alte soll weg? Bloß nicht! Wertschätzen Sie das, was war und weiter sein wird – nur nach Chaos und Zerstörung beginnen wir bei null. Normalerweise heben wir das Vorhandene auf ein neues Level, transformieren es in etwa anders. Einfach Neu gegen Alt einzutauschen – das funktioniert nicht. Nur wenn die Vergangenheit ausreichend gewürdigt und angemessen integriert wird, haben Mitarbeiter Lust auf Neues. Bauen Sie auf vorhandene Ressourcen und sorgen Sie gleichzeitig dafür, dass eine absichtsvolle Haltung in der Belegschaft die gewünschte Veränderung trägt. Ein wenig Euphorie schadet nicht – ganz im Gegenteil.« (Hifert/Thonet 2019, S. 62) Im Folgenden werden einige wenige, einfach umsetzbare und auch für das kirchliche Umfeld rasch umsetzbare Methoden erläutert. Mittlerweile gibt es unzählige Methoden, teilweise überraschend unkonventionell, die in Organisationen helfen, agiler zu werden.10 Eine gute Übersicht über gängige und überraschende Methoden findet sich bei: Oesterreich, Bernd/Schröder, Claudia: Agile Organisationsentwicklung. Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisationen, München 2020, S. 140 ff. Häusling, André/Römer, Esther/Zeppenfeld, Nina: Praxisbuch Agilität. Tools für Personal- und Organisationsentwicklung, Freiburg i. Br. u. a. 2018.

Im Blick auf die Umsetzung agiler Managementmethoden haben sich in den zurückliegenden Jahren viele unterschiedliche Methoden und Werkzeuge (»Tools«) entwickelt, wie man diesen Ansatz im Alltag einer Organisation umsetzen kann, um als Organisation erfolgreich bestehen zu können.

10 Da der Ansatz des agilen Managements wie beschrieben aus der Informationstechnologie kommt, sind die meisten Begriffe englisch – manche auch schwer ins Deutsche übersetzbar. Hier sind bewusst die englischen Begriffe verwendet, aber entsprechend beschrieben, was damit gemeint ist.

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Agiles Führen

Eigene Darstellung nach: Philomondo 2021

Beispiel: Scrum (vgl. Röpstorff/Wiechmann 2016) Zu Beginn wird eine Methode vorgestellt, die so sicher nur schwer im kirchlichen Kontext umgesetzt werden kann, aber in gewisser Form das Herzstück agilen Arbeitens ist und deswegen kurz eingeführt werden soll. Es geht um Scrum. Der Begriff stammt aus dem Rugby und meint die geordnete (!) Aufstellung der gegnerischen Rugby-Teams zum Beispiel bei einem Freistoß. Das nach außen hin vermeintliche Chaos folgt einer genauen Aufstellungsformation der jeweiligen Teams. Scrum ist eine der Projektmethoden, die am strengsten dem Prinzip Kundennutzen folgen.

Eigene Darstellung nach: Schaffrath 2020; ergänzt um eigene Erläuterungen, um die Methode für den kirchlichen Kontext etwas zu schärfen

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Die Dynamik von SCRUM

Daniel Dietzfelbinger

Die wichtigste Figur ist der Product Owner (1)11, also im konventionellen Verständnis so etwas wie der:die Auftraggeber:in, der:die vom Team ein Ergebnis erwartet – im produktiven Bereich naheliegenderweise ein Produkt, im Dienstleistungsbereich könnte das der:die Pfarrer:in sein. Der Product Owner sagt nicht: »Ich will, dass dies und das am Ende rauskommt!«, sondern beschreibt vielmehr eine Idee: »Ich will, dass wir in zwei Jahren fünf Prozent mehr Gottesdienstbesucher:innen haben!« Diese große Vision oder Idee ist leitend und Hauptinhalt des Product Backlogs (5) (wörtlich der »Rückstau«, als Aufgabenliste zu verstehen). Hier wird die Idee umgeschrieben in Geschichten bzw. Anforderungen, wie Kund:innen sie formulieren würden (»User Stories«). Also zum Beispiel: »Wenn ich als Jugendlicher in den Gottesdienst kommen soll, dann wünsche ich mir, dass es mehr moderne Musik gibt.« Oder: »Ich würde ja gerne in die Kirche kommen, aber ich sitze im Rollstuhl, und die Kirche ist immer noch nicht barrierefrei!« Oder: »Gottesdienst könnte doch auch heißen, dass wir gemeinsam danach noch ein Mittagessen feiern. Jede:r bringt etwas mit …« Je konkreter die User Stories, umso besser lässt sich daran arbeiten. Der Product Owner übergibt die Aufgabe/die Idee einem Entwicklungsteam (2). Wie sich das zusammensetzt, ist unterschiedlich: Idealerweise versammeln sich im Entwicklungsteam genau die Menschen, die die Aufgabe bzw. Anforderung im kreativen Miteinander lösen können. Gleichwohl hat man selten die Freiheit, da man von den gegebenen Rahmenbedingungen ausgehen muss. Soweit man das Team als Product Owner selbst zusammenstellt, sollte man – je nach Idee oder Aufgabe – auf ein kreatives Miteinander und ein gut gemischtes Team achten (drei bis acht Personen). Im Entwicklungsteam braucht es einen Scrum Master (3), der genau darauf achtet, dass die Methoden eingehalten werden. Er achtet nur auf die Methoden, coacht dabei die Mitglieder des Teams, gibt aber keine Arbeitsanweisungen. Streng genommen gibt der Scrum Master keinen inhaltlichen Rat. Das Entwicklungsteam setzt sich mit der Aufgabe oder Idee auseinander, mit dem Ziel, am Ende des Prozesses eine erste sinnvolle (Teil-)Lösung zu finden, von der man aber jetzt noch nicht weiß, wie sie aussieht/aussehen könnte. Deswegen lässt man sich auf sogenannte Teilergebnisse (»Inkremente«) ein, die sich aus jedem Sprint ergeben können (4). Sprints (8) sind nun regelmäßige Teamphasen, nach Lehrbuch zwei Wochen, in denen das Entwicklungsteam intensiv an möglichen Lösung(side)en arbeitet. In diesen zwei Wochen mischt sich der Product Owner nicht ein, sondern lässt das Team arbeiten. Das Team nimmt sich aus dem Product Backlog (5) eine Aufgabe und definiert sie für den Sprint differenzierter. Das Entwicklungsteam nimmt sich also aus dem Product Backlog eine User Story und überträgt sie in das Sprint Backlog. Dann plant das Team, wie man die User Story am besten bearbeitet (7), unter Umständen schärft das Team noch einmal nach und arbeitet nun streng nach Regel zwei Wochen an ein, zwei User Stories und überlegt Lösungen – der eigentliche Sprint (8). Die ersten Ideen und Erfahrungen, vielleicht auch schon Lösungsansätze im Entwicklungsteam, werden in einem Daily Scrum oder Stand-up (9) (siehe 5.2) überprüft. Am Ende des Sprints steht ein Review, die Retrospektive (10), bei dem zusammen mit dem Product Owner die bis dahin erreichten Ergebnisse überprüft werden. Manches kann dann schon in den Lösungskatalog übernommen werden, manches passt vielleicht nicht zur Ausgangsfrage, ist aber eine Idee oder Lösung für ein anderes Thema (streng genommen würde dieses Inkrement dann in das Backlog eines anderen Prozesses einfließen), manches muss in einem nächsten Sprint überdacht werden.

11 Bei englischen Begriffen wird auf den sog. Genderstern verzichtet, da im Englischen von vorneherein alle Geschlechter eingeschlossen sind.

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Agiles Führen

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Diese hochkreative Methode kommt aus der Softwareentwicklung, kann aber in Teilaspekten auch für Dienstleistungen übernommen werden. Grundidee dabei: Wir haben knappe Zeit, wir haben überschaubare Ressourcen, aber wir wissen noch nicht, was dabei herauskommt. Beispiel: Daily Stand-up In der kirchlichen Besprechungskultur ist die Dienstbesprechung, die »DB«, die Mutter aller Konferenzen das Sanctum Sanctorum. Meist im wöchentlichen Turnus kommen die hauptamtlichen Mitarbeiter:innen zusammen und erstellen den Wochenplan, blicken auf gemeinsame Projekte und besondere Anliegen. Meist dauern die Besprechungen anderthalb bis zwei Stunden, oft ist der Nervfaktor für mindestens die Beteiligten, die nicht ganz so viel zu sagen haben, relativ hoch. Oft nutzt auch der:die geschäftsführende Pfarrer:in die Bühne, um seine:ihre Anliegen und Themen in epischer Breite zu referieren, oder gar zur Selbstdarstellung.

Eine Methode aus dem agilen Management kann hier Abhilfe schaffen, das so genannte Daily Stand-up, also eine tägliche kurze Zusammenkunft im Stehen – die Idee dahinter: Man trifft sich in der Abteilung, im Team, in der Runde kurz an einem Stehtisch, vielleicht mit einer Tasse Kaffee oder Tee dazu; jede:r erzählt reihum rasch den aktuellen Stand anhand dreier Leitfragen: – Seit unserem letzten Treffen (Daily) habe ich dies und das gemacht. – Bis zu unserem nächsten Treffen will ich dies und das erledigt haben. – Auf dies und das Thema bin ich gestoßen, das Schwierigkeiten bereitet. Diese knappe Form des Gesprächseinstieges gibt rasch einen Überblick, wer wo steht (pro Person sollten maximal fünf Minuten Zeit gegeben werden, eher drei), und vor allem jedem:jeder Teilnehmer:in die Möglichkeit, das Seine:Ihre zu sagen, ohne das Gefühl zu haben, man sei eben noch so ans Ende geflanscht worden. Aufbauend auf den Einstieg

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Methoden sind für Menschen da, nicht Menschen für Methoden

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lässt sich dann entscheiden, bei welchen Punkten man das Gespräch in der gesamten Runde vertieft oder was unter Umständen bilateral zu klären ist. So kommt man unter Umständen rasch zu einem Ende der Besprechung oder vertieft tatsächlich nur dort, wo es für alle Beteiligten sinnvoll erscheint. Dabei sollte man nach dem Motto vorgehen: Methoden sind für Menschen da, nicht Menschen für Methoden. Das heißt: Passen Sie sich die Idee einer raschen Stand-up-Besprechung auf Ihre Bedürfnisse an – sei es einmal täglich, sei es zweimal die Woche, sei es wöchentlich (dann heißt es strenggenommen »Weekly Stand-up«). Wichtig dabei ist, dass Sie nicht in den alten Trott einer endlosen Dienstbesprechung verfallen und die Stand-ups regelmäßig durchführen, damit im guten Sinne Routine hineinkommt. Beispiel: Kanban-Board Im Zuge der Diskussion um agiles Management kommt auch das Kanban-Board wieder zum Vorschein, obgleich dieses schon vor der Agilitätsära entwickelt wurde. Die Idee ist, Arbeits- und Prozessfortschritte zu visualisieren. Dies kann jede:r für sich machen, die größere Wirkung zeitigt es gleichwohl in einem Teamraum. Projekte und untergeordnete Teilprojekte bekommen eigene Farben, der Entwicklungsstatus wird mit Post-its visualisiert, sodass sowohl Sie als Führungskraft als auch die Mitarbeiter:innen den Prozessfortschritt stets vor Augen haben. Eine einfache Variante ist ein Board mit vier Spalten: Wartend – Zu tun – In Arbeit – Fertig. Zum Beispiel: – Für Projekt/Arbeit/Prozess A fehlen noch Informationen; es geht im Augenblick nicht voran, Karte hängt bei »Wartend«. – Für Projekt/Arbeit/Prozess B müssen wir in der kommenden Woche zwei Telefonate führen, also Karte bei »Zu tun«. – Projekt/Arbeit/Prozess C läuft; es gibt derzeit auch keine Schwierigkeiten, Karte hängt bei »In Arbeit«. – Projekt/Arbeit/Prozess ist durch – erfolgreich abgeschlossen (und es gab noch Lob von dem:der Chef:in!), Karte hängt bei »Fertig«. Auch das motiviert Mitarbeiter:innen, wenn ein Erfolg/ein Abschluss sichtbar gemacht wird! Wartend

Zu tun

In Arbeit

Fertig

Man kann ein solches Board beliebig um Spalten erweitern, Projekte/Themen oder die ausführenden Personen mit farblich unterschiedlichen Post-its markieren etc. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt – es geht darum, Arbeitsprozesse, Fortschritte und zu Ende Gebrachtes für alle sichtbar zu machen. Ein überaus einfaches, zugleich sehr wirksames Instrument für die Motivation aller Beteiligten.

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Agiles Führen

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Beispiel: Bedarfsanalyse – »Customer Journeys« und »Personae« Wie beschrieben heißt agile Führung auch, den:die Kund:in mit seinen:ihren Bedürfnissen konsequent in den Blick zu nehmen. Hier mögen bei manchen Alarmsirenen angehen: Kirchenmitglieder sind keine Kund:innen, das Evangelium kein Angebot, das man beliebig nach der Nachfrage, nach dem Bedarf tatsächlicher oder potenzieller Kirchenmitglieder richten darf – Kirche und ihre Vertreter:innen müssen verkünden, nicht sich anpassen! Diese Diskussion ist lang und breit in der Vergangenheit geführt worden und muss hier nicht aufgerollt werden. In Zeiten zurückgehender Mitgliederzahlen und massiver finanzieller Einbrüche müssen die Kirchen und ihre Vertreter:innen darüber nachdenken, in welcher Form man mit interessierten Menschen kommuniziert und welche Formen der Begleitung man anbietet. Kirchliches Management, Führung in kirchlichen Organisationen, kann viel von den klassischen Managementansätzen lernen. Ein Ansatz besteht in der Zielgruppendifferenzierung. Bestandskund:innen, die schon immer die Ware genutzt haben oder schon immer bei dem Unternehmen eingekauft haben, brauchen etwas anderes als Neukund:innen. Bei den Neukund:innen ist wiederum zu unterscheiden, welche Zielgruppen man als Organisation ansprechen will. Wenn man die Zielgruppe identifiziert hat, fragt man möglichst konkret, was diese Zielgruppe braucht und will (in der agilen Nomenklatur spricht man von »Customer Journeys«), bezieht – so möglich – Personen aus dieser Zielgruppe in die Produkt- oder Dienstleistungsentwicklung mit ein, sei es real, sei es imaginär (in der agilen Nomenklatur die Methode der »Personae«). Die Idee dabei: Der:die Kund:in ist nahe bei der Entwicklung der Dienstleistung oder des Produktes dabei, er:sie gibt seine:ihre Einschätzung dazu, das Produkt oder die Dienstleistung werden im besten Sinne maßgeschneidert (in der agilen Nomenklatur »customized«).

Wo können kirchliche Organisationen lernen? Es geht nicht um Anbiederung oder darum, Menschen bauchzupinseln (»Wohlfühlchristentum«). Sondern agil an das Thema heranzugehen, hieße Folgendes: Die Kernkompetenz der Kirche und ihrer Vertreter:innen besteht darin, Menschen mit der Liebe Gottes vertraut zu machen, ihnen anzubieten

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Bestands- und Neukund:innen

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Daniel Dietzfelbinger

und darzulegen, was das im Alltag bedeuten kann, welche befreiende Kraft die Botschaft des Evangeliums hat. Das – man möge das verzeihen – ist das Produkt, die Kernkompetenz, die Kirche anzubieten hat. Agile Bedarfsanalyse und Kund:innenmanagement hieße nun, zu fragen, mit welchen Methoden und in welchen Formen diese Botschaft an die Menschen gebracht werden kann. Bestandskund:innen – traditionelle Kirchenmitglieder – muss man anders bedienen als potenzielle Neukund:innen – neue Kirchenmitglieder. So wie sich viele Senior:innen mit dem Internet schwer tun, so sind Menschen der Generation Y und Z kaum noch mit dem Schaukasten erreichbar (vgl. Kring/Hurrel­ mann 2019). So wie Senior:innen zusammenzucken, wenn im Gottesdienst E-Gitarre und Drumcomputer aufgebaut werden, so langweilig und abgespact finden Jugendliche liturgischen Gesang. So wenig Senior:innen das Deutsch-Englisch-Abkürzungs-Mixmax der Jugendsprache verstehen, so abstoßend finden junge Menschen pastoralen Ton mit dauerrollendem R und pathetischen Sprachverschwurbelungen. Wie gelingt es, all diesen verschiedenen Gruppen die Botschaft des Evangeliums nahezubringen? Sicher nicht durch Festhalten am Alten, am Herkömmlichen, sondern nur, indem man die Zielgruppen befragt, sie teilnehmen lässt, sich kontinuierlich Rückmeldung einholt, wie die Botschaften und die dazu verwendeten Kommunikationsmethoden bei ihnen ankommen.

6 Schluss: Kirche als lernende Organisation Ist also alles neu und alles anders? Nein – wenn man genau hinsieht, kommen im agilen Management viele alte Führungs-»Tugenden« und -methoden zum Tragen, werden durchgeschüttelt und neu aufgestellt. Also doch alter Wein in neuen Schläuchen? Ja und nein – das Neue ist dabei, wie eingangs beschrieben, die Grundhaltung, das agile Mindset. Hier verschiebt sich der Fokus weg vom eigenen Machterhalt, weg vom Bild »Ich muss als Führungskraft alles können und machen«, weg vom Bild »Meine Mitarbeiter:innen müssen mir dienen«, weg vom Bild »Der:die Kund:in, der:die Abnehmer:in meiner Dienstleistung, meines Angebot muss nehmen, was er:sie bekommt« hin zu einem Bild von Mitarbeiter:in und Kund:in, das diese als eigenverantwortliche Individuen wahr- und ernst nimmt, die Gegenüber auf Augenhöhe sind. Erzählt man die Eingangsgeschichte zu diesem Text, erntet man neben Kopfschütteln über das Verhalten des Pfarrers auch viel Zustimmung: Der habe doch ganz richtig gehandelt, Kirche und ihre Angebote seien doch nicht dafür da, sich nach den Wünschen der Mitglieder zur richten, wo käme man denn dahin, wenn …, man gebe sich ja der Beliebigkeit preis …, das haben wir ja noch nie so gemacht. Einwände gegen agile Methoden, gerade im Kontext der Kirche, gibt es viele. Da ist davon die Rede, dass man in der Kirche gar nicht von Kund:innen reden könne, eine Debatte, die bereits in den 1990er-Jahren zwischenzeitlich bis hin zur Ausrufung des status confessionis eskaliert war. Da ist davon die Rede, dass man sich als Kirche oder kirchliche:r Mitarbeiter:in nicht an den Moden der Welt und der Menschen ausrichten dürfe, sondern doch im Evangelium einen ewigen Schatz habe, der sich über die Flüchtigkeit weltlichen Daseins und der damit verbundenen Wünsche hinwegsetzt. Da ist davon die Rede, dass im kirchlichen Kontext nicht von Effizienz und Effektivität gesprochen werden dürfe, weil die Ausrichtung der Kirche als Organisation eben gerade keine wirtschaftliche ist. Da ist davon die Rede, dass Agilität, wie eingangs beschrieben, nur alter Wein in neuen Schläuchen sei und auch wieder vergehen werde.

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Agiles Führen

Richtig an diesen und anderen Einwänden ist: Es geht nicht darum, alles über Bord zu werfen und so zu tun, als würde nur noch im agilen Management das Heil der Kirche, ihrer Mitarbeiter:innen und das Heil aller Gemeindeglieder liegen. Das wäre fahrlässig. Genauso fahrlässig wäre es, mit diesen Einwänden jegliche Überlegungen und Impulse, die aus dem agilen Management kommen, als obsolet, störend und unsinnig zu bezeichnen. Denn die Kirche als Organisation wie auch die in ihr tätigen Führungskräfte und Mitarbeiter:innen sind je Kinder ihrer Zeit, wie es auch die Gemeindeglieder und die an der Arbeit der Kirche interessierten Menschen sind. Deren Bedürfnisse, Wahrnehmungen und Wünsche zu respektieren, ist guter Ausdruck gelebten Christentums.

7 Zum allerletzten Schluss: Die Geschichte vom Anfang neu erzählt Sommerabend in einer Großstadtgemeinde. Der Pfarrer hat die neuen Konfirmand:innen eingeladen, die im darauffolgenden September den Konfi-Kurs starten, samt ihren Eltern. 35 Jugendliche sitzen da, eine stolze Zahl. Jede:r angehende Konfirmand:in hat mindestens ein Elternteil mitgebracht – der Gemeindesaal voll wie selten. Es ist heiß, Leitungswasser aus leicht kalkigen Glaskaraffen wird in IKEA-Standardgläsern angeboten, etwas Salzgebäck, das nicht für alle reicht, Marke Discounter. Der Pfarrer begrüßt die Jugendlichen, geht die Namensliste durch und erläutert Sinn und Zweck des Unterrichts im Vorfeld der Konfirmation. Er erzählt leicht gedämpft davon, dass der Konfirmationsunterricht zu seiner Zeit noch zwei Jahre gedauert habe, der Sound zwischen Verbitterung und Ironie. Endlich kommt er zu dem, was für die Anwesenden das Interessanteste ist: der Konfirmationsgottesdienst. »Der Gottesdienst«, so der Pfarrer, »wird in einem knappen Jahr am sounsovielten Mai sein. Wir beginnen um 10.00 Uhr, bei 35 Konfirmandinnen und Konfirmanden sollten Sie auf jeden Fall zwei Stunden einplanen.« »Wie ist das mit den Plätzen, die Kirche ist ja nicht besonders groß«, fragt eine Mutter. »Guter Punkt, den Sie ansprechen«, sagt der Pfarrer, »und gut, dass so viele von Ihnen da sind, denn wir haben uns die Frage auch schon gestellt. Bei so vielen Konfirmanden und Konfirmandinnen wären je Familie in einem Gottesdienst nur sechs Plätze möglich – das geht natürlich nicht! Mein Vorschlag: Setzen Sie sich kurz an den Tischen zusammen und überlegen Sie sich ein paar kreative Ideen, was alles möglich ist. Wir haben auch ein paar Ideen, aber gern bringen Sie sich mit ein – wir machen das flott – 15 Minuten Zeit, Moderationskarten liegen auf dem Tisch – je Tisch zwei Ideen und dann schauen wir uns das gleich gemeinsam an und entscheiden uns für die kreativste Lösung.« Sieben kreative Ideen kommen dabei heraus, nichts Revolutionäres, man einigt sich auf zwei Gottesdienste um 9 und um 11 Uhr – aber alle sind zufrieden. Bibeltexte zum Thema Es lassen sich einige Bibelstellen nennen, die für Offenheit, Flexibilität, ja, von der Überraschung in Führungsfragen erzählen: 1. Thessalonicher 5,21

Für die Haltung gegenüber neuen Methoden, Ansätze und Gedanken, helfen die Worte aus dem Thessalonicherbrief, die eine ebenso banale wie tiefschürfende Weisheit im Blick auf Innovationen mitgibt.

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Daniel Dietzfelbinger

Lukas 15,4

Mit ein wenig Offenheit und Lust am Neuen lässt sich auch das Lukas-Zitat als Motivation verstehen, sich um jede:n Kund:in, jedes Gemeindeglied, zu kümmern und keine:n verloren gehen zu lassen. Im Blick auf Führung lohnt es sich, sich mit Führungsgestalten der Bibel näher zu befassen. Das beginnt bei den sogenannten »Erzvätern«, die in unterschiedlichen Situationen oft kurzfristig, manchmal recht agil reagieren. Bei den Richtern finden sich dann auch erste Frauengestalten der Führung (Debora u. a.). Exodus 13–15

Die Geschichte vom Auszug aus Ägypten lässt sich gut mit der Brille »Führung und Veränderungsmanagement« lesen – alle Aspekte eines Veränderungsprozesses (Zielbestimmung, Begeisterung, Murren, Verzweiflung, Unglaube, Schock, Hoffnung etc.) finden sich hier wieder.

10 Tipps, wie Sie am besten agiles Management zum Scheitern bringen 1. Möglichst viele Regeln und Vorschriften (Mikromanagement). 2. Das Gemeindeglied bzw. der:die Mitarbeiter:in mit seinen:ihren Interessen steht nicht wirklich im Zentrum. 3. Es herrscht keine Atmosphäre des Vertrauens. 4. Die Kommunikationskanäle sind mangelhaft. 5. Die Planung ist ungeeignet und fehlerhaft. 6. Die Struktur im Team ist unpassend und es gibt fehlende oder unklare Rollen. 7. Disziplin und Fokussierung fehlen. 8. Schlechte Aufwandschätzungen und/oder mangelhafte Fortschrittskontrolle. 9. Fehlende Dailys und Retrospektiven. 10. Unzureichende Qualitätskontrolle. (nach:Philomondo 2021, bearbeitet durch D. D.)

Autor Dr. Daniel Dietzfelbinger ist Pfarrer sowie Systemischer Coach, Organisationsentwickler und Geschäftsführer des Instituts persönlichkeit+ethik GbR, Augsburg. www.persoenlichkeitundethik.de, [email protected] Literatur Agile Alliance: Manifest für Agile Softwareentwicklung, 2001. https://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto. html, abgerufen am 07.01.2021. Anter, Andreas: Theorien der Macht. Zur Einführung, 5. Aufl., Hamburg 2021. Appelo, Jurgen: Management 3.0. Leading Agile Developers, Developing Agile Leader, Hoboken 2011. Appelo, Jurgen: Managing for Happiness. Übungen, Werkzeuge und Praktiken, um jedes Team zu motivieren, München 2018. Eisenhower, Dwight D.: Address at the Second Assembly of the World Council of Churches, 19.8.1954, archiviert vom Original am 2. April 2015, in: Woolley, John/Peters, Gerhard: The American Presidency Project. https://www.presidency.ucsb.edu/documents/address-the-second-assembly-the-world-council-churchesevanston-illinois, abgerufen am 15.06.2020.

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Agiles Führen

Eschen, Rainer: Warum fällt es so schwer die Menge nicht getaner Arbeit zu maximieren?, 01.08.2014. http:// www.bluescrum.de/2014/08/01/warum-faellt-es-so-schwer-die-menge-nicht-getaner-arbeit-zu-maximieren/, abgerufen am 15.06.2021. Grätsch, Susanne/Knebel, Kassandra: Agile Führung. Was ist Agile Leadership? Die 10 Prinzipien, 17.02.2020. https://www.berlinerteam.de/magazin/agile-fuehrung-agile-leadership/, abgerufen am 06.01.2021. Häusling, André/Römer, Esther/Zeppenfeld, Nina: Praxisbuch Agilität. Tools für Personal- und Organisationsentwicklung, Freiburg i. Br. u. a. 2018. Helwig, Paul: Charakterologie, Stuttgart 1936. Hofert, Svenja/Thonet, Claudia: Der agile Kulturwandel. 33 Lösungen für Veränderungen in Organisationen, Wiesbaden 2019. Hofert, Svenja: Das agile Mindset. Mitarbeiter entwickeln, Zukunft der Arbeit gestalten, Wiesbaden 2018. Kring, Wolfgang/Hurrelmann, Klaus: Die Generation Z erfolgreich gewinnen, führen, binden, Herne 2019. Maslow, Abraham: A Theory of Human Motivation, in: Psychological Review 50/1943, S. 370–396. Nowotny, Valentin: Agile Unternehmen. Nur was sich bewegt, kann sich verbessern, 2. Aufl., Göttingen 2016. Philomondo: Agilität Lernplakat. http://www.unternehmenskultur-wind.de/assets/pdf/Lernpaket_Agilitaet. pdf, abgerufen am 07.01.2021. Röpstorff, Sven/Wiechmann, Robert: Scrum in der Praxis. Erfahrungen, Problemfelder und Erfolgsfaktoren, 2. Aufl., Heidelberg 2016. Schaffrath.de: Was ist Scrum? Der Turbo fürs Projektmanagement, 30.04.2020. https://www.schaffrath.de/ magazin/detail/was-ist-scrum-der-turbo-fuers-projektmanagement, abgerufen am 07.01.2021. Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung, Hamburg 2005. Wikipedia: Art. Eisenhower-Prinzip. https://de.wikipedia.org/wiki/Eisenhower-Prinzip#cite_note-1, abgerufen am 08.05.2021.

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Allgemeines Priestertum und Amt aus lutherischer Perspektive Sabine Schmidtke Î Was begründet und kennzeichnet das kirchliche Amt und wie verhält es sich zum allgemeinen Priestertum? Î Wie begründet man die Auswahl von Amtsträger:innen? Welche Schwierigkeiten verknüpfen sich mit der Erhebung von Eignungskriterien? Î Darf man als Amtsträger:in Macht ausüben?

1 »Hein, du bist berufen!«1 – Allgemeines Priestertum, Amt und Leitungsamt in lutherischer Perspektive

Grundlegend für das Amts­verständnis: das allgemeine Priestertum

»Die Vorstellung vom allgemeinen Priestertum gehört zu den markantesten Merkmalen lutherischer und allgemein protestantischer Theologie.« (Leppin 2017, S. 149) Will man daher aus evangelischer Perspektive das berufene Amt systematisch-theologisch reflektieren, liegt es nahe, den Ausgangspunkt beim zentralen Gedanken des Priestertums aller Gläubigen bzw. Getauften zu nehmen. Es stellt sich dann aber die Frage nach dem Verhältnis zwischen allgemeinem Priestertum und berufenem Amt bzw. die nach der Notwendigkeit eines solchen Amtes und des kirchlichen Leitungsamtes im Besonderen. Der Gedanke eines allgemeinen Priestertums aller Christ:innen ist keine Erfindung der Reformationskirchen, wurde aber von den Reformatoren gegenüber einer zunehmenden geistlichen Hierarchisierung und gegenüber einer Bindung des individuellen Heils an eine kirchlich-priesterliche Vermittlung wieder in den Fokus gerückt. Biblisch fundiert ist der Gedanke eines umfassenden Priestertums zum einen in der alttestamentlichen Ankündigung, »dass das ganze Volk Israel von Gott dazu bestimmt sei, ein Volk von Priestern zu sein.« (Härle 2017, S. 116; unter Berufung auf Ex 19,5–6 und Jes 61,5–6)2 Zum anderen korrespondiert dieser Verheißung die neutestamentliche Vorstellung ihrer Erfüllung: Das traditionelle, an Einzelpersonen gebundene Priesteramt zur Vermittlung zwischen Gott und den Menschen ist im hohepriesterlichen Opfertod Jesu Christi endgültig erfüllt, damit aber auch aufgehoben. Der freie, unvermittelte Zugang zu Gott wird durch ihn eröffnet, sodass alle, die an ihn glauben, zu »Priestern vor Gott« (Offb 1,6) geworden sind. Damit geht insofern eine Metaphorisierung des Priestertitels einher, als der Titel im Neuen Testament nie als Bezeichnung für ein Amt innerhalb der christlichen Gemeinden begegnet (vgl. Härle 1996, S. 64).

1 Waalkes 2010. 2 Zum biblischen Befund bezüglich des allgemeinen Priestertums vgl. auch Härle 2017, S. 115–119. Vgl. zu den biblischen Grundlagen auch Gäckle 2014.

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Allgemeines Priestertum und Amt aus lutherischer Perspektive

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Bibeltexte zum Thema »Allgemeines Priestertum« Exodus 19,5–6; Jesaja 61,5–6

Verheißung an das Volk Israel, ein Volk von Priestern zu sein Hebräer 4,14–5,10 u. ö.

Bezeichnung Jesu Christi als Hohepriester 1. Petrus 2,5.9; Offenbarung 1,6; 5,10; 20,6

Verwendung des Priesterbegriffs für die Glieder der christlichen Gemeinde bzw. für alle Christ:innen

Luther hat gegen die im Laufe der weiteren Kirchengeschichte sich vollziehende Wiederaufnahme des Gedankens eines durch Weihe herausgehobenen Priesterstandes bereits früh und entschieden das Priestertum aller Christ:innen betont. Seine Begründung ist dabei rechtfertigungstheologisch motiviert: Wenn der Mensch allein aus Gnade und allein wegen Christus durch den Glauben Sündenvergebung und Annahme in die Gotteskindschaft erfährt und so gerecht vor Gott wird, dann kann es keine weitere heilsnotwendige Mittlerinstanz geben. Im Sermon von dem neuen Testament, das ist von der heiligen Messe aus dem Jahr 1520 heißt es entsprechend: »Denn alle die, welche den Glauben haben, daß Christus für sie ein Pfarrer sei im Himmel vor Gottes Augen; und die auf ihn legen und durch ihn vor Gott tragen ihre Gebete, Lob, Not und sich selbst; die nicht daran zweifeln, er tue das und opfere sich selbst für sie; die darauf leiblich oder geistlich das Sakrament und Testament nehmen als ein Zeichen für das alles und nicht daran zweifeln, daß alle Sünde vergeben, Gott ein gnädiger Vater geworden und ewiges Leben bereitet ist: Siehe, alle die […] das sind rechte Priester. Die halten wahrhaftig rechte Messe, erlangen damit auch, was sie wollen, denn der Glaube muß alles erreichen. Er ist allein das rechte priesterliche Amt und läßt es auch niemand anders sein. Darum sind alle Christenmänner Priester, alle Frauen Priesterinnen, jung oder alt, Herr oder Knecht, Herrin oder Magdt, Gelehrter oder Laie. Hier ist kein Unterschied, es sei denn, der Glaube sei ungleich.« (Luther 1520, S. 103; Hervorhebung durch S. S.])3 Trotz dieser Betonung des gleichen geistlichen Standes aller Christusgläubigen hielten auch die entstehenden evangelischen Kirchen am ordinierten Amt fest. Luther zählt es in der Schrift Von den Konzilien und Kirchen von 1539 sogar zu den äußerlichen Kennzeichen der Kirche. Man erkenne diese »äußerlich daran, daß sie Diener der Kirche weiht oder beruft oder Ämter hat, die sie bestellen soll. Denn man muß Bischöfe, Pfarrer oder Prediger haben« (Luther 1539, S. 194). Diese scheinbare Widersprüchlichkeit, dass auf die Notwendigkeit des ordinierten Amtes trotz des allgemeinen Priestertums bestanden wird, wurde und wird kritisiert – gegenwärtig beispielsweise in Form einer Kritik an der Amtskirche mit ihren sogenannten Kirchenfürst:innen durch einen Teil freikirchlicher Christ:innen. Nicht immer ist diese Kritik theologisch fundiert und motiviert. Es lässt sich aber zu Recht fragen, aus welchen Gründen in der Reformationszeit an der Notwendigkeit des ordinierten Amtes

3 Vgl. zur Entfaltung des Gedankens vom allgemeinen Priestertum bei Luther, v. a. in der Freiheits- und Adelsschrift, auch Leppin 2017, S. 150–156.

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Trotz des allgemeinen Priestertums halten auch die Reformationskirchen am ordinierten Amt fest

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Keine wesentliche Differenz zwischen Leitungsamt und nichtleitendem Amt

Sabine Schmidtke

festgehalten wurde. Die einschlägigen Ausführungen hierzu finden sich vor allem in der Confessio Augustana, ihrer Apologie, sowie in vielen Schriften Luthers. Betont wird in diesen Schriften zunächst die Dienstfunktion des Amtes: Durch rechte Wortverkündigung, Sakramentsspendung sowie Absolution ist es für die Entstehung, Verbreitung und Stärkung des Glaubens notwendig. An diesem Maßstab müsse sich auch die Beurteilung der Lehre orientieren. Begründet wird die Notwendigkeit mit zwei verschiedenen Argumentationsfiguren: Das Amt sei von Gott angeordnet bzw. von Christus eingesetzt und es diene der Ordnung in der Kirche. Obwohl die lutherische Amtstheologie dem Wesen nach nur ein Amt kennt, beinhaltet sie dennoch zugleich die Unterscheidung zwischen dem lokalen Gemeindepfarramt und dem überregionalen Aufsichts- bzw. Bischofs­amt. »In ihrer überörtlichen Leitungsfunktion kommt den Bischöfen nach Luther die Aufgabe der Visitation und der Auswahl, der Prüfung und Ordination der Pfarrer zu.« (Nüssel 2018, S. 152) Dieses Amt trägt also auf anderer Ebene für die gleiche Aufgabe Verantwortung wie das regionale Pfarramt, über das Aufsicht geführt wird: für die rechte Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung – und damit zugleich für die Apostolizität und Einheit der Kirche. »Der Bischof soll als pastor pastorum Aufsicht führen und überörtlich für die Eintracht der Kirche sorgen.« (Nüssel 2005, S. 163) Fragen zur Reflexion a. Wie verstehe ich mein Leitungsamt im Unterschied oder in Übereinstimmung mit dem nichtleitenden kirchlichen Amt? b. Welche Aspekte meines Leitungsamtes werden von der klassischen lutherischen Amtstheologie nicht berücksichtigt? c. Von welchen Aspekten der klassischen Amtstheologie wünsche ich mir, dass sie in meinem Leitungsamt eine stärkere Rolle spielen? d. Was könnte ich tun, um diesen Wunsch zu realisieren?

Bünker, Michael/Friedrich, Martin (Hg.): Amt, Ordination, Episkopé und theologische Ausbildung/Ministry, ordination, episkopé and theological education (Leuenberger Texte/Leuenberg Documents 13), Leipzig 2013. Lohse, Bernhard: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, online unter: https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/ bsb00046157_00001.html, abgerufen am 05.03.2021.

2 Von der Gemeinde beauftragt oder von Gott eingesetzt? – Delegations- und institutionstheoretische Deutungslinien Obwohl es unterschiedliche Argumentationsfiguren für die Notwendigkeit des berufenen Amtes gibt, ist gegenwärtig wohl die übertragungstheoretische Begründung am verbreitetsten und wirkungskräftigsten: Gemäß dieser kommt allen Gläubigen grundsätzlich die gleiche geistliche Befähigung zu. Häufig schließt sich an diese Deutungsfigur ein Verständnis des fünften Artikels der Confessio Augustana an, wonach dieser noch nicht das berufene Amt meint, sondern vom Priestertum aller Gläubigen spricht. Der Begriff »ministerium« wird im Sinne eines allgemeinen Dienstes verstanden. Jedoch können faktisch nicht alle gleichzeitig öffentlich verkündigen und Sakramente spenden. Dies würde, so heißt es dann im 28. Artikel, zu »unordenung oder [einem] wuste[n] Wesen« (CA XXVIII, in: Dingel 2014, S. 211) in der Kirche führen.

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Allgemeines Priestertum und Amt aus lutherischer Perspektive

Die durch die Beibehaltung des berufenen Amts angestrebte Ordnung ist dabei nicht Selbstzweck, sondern dient dem Schutz von Wortverkündigung und Sakramentsspendung (vgl. Härle 1996, S. 67–68); eine ungeordnete Ausübung des Dienstes würde letztlich zur Gefährdung des allgemeinen Priestertums führen: »Was sollte sonst werden, wenn jeder reden oder die Sakramente reichen und keiner dem anderen weichen wollte?« (Luther 1539, S. 194) Nicht nur Chaos würde herrschen, sondern auch die Einschränkung des Priestertums des:der anderen wäre die Konsequenz, wenn jede:r ungeordnet das Amt gemäß seiner Bestimmung aus CA V ausübte. Schließlich kommt ein weiterer Aspekt hinzu, der sich wiederum an CA V anschließt. Es könnte auch das Gegenteil eintreten, dass es niemanden gibt, der regelmäßig das Wort verkündigt und Sakramente spendet. Um die Ordentlichkeit im Sinne der Verlässlichkeit zu gewährleisten, beruft die Kirche Amtsträger:innen für den ordentlichen, öffentlichen Dienst. In dieser übertragungstheoretischen Deutung wird Kirche dabei meist im Sinne von Gemeinschaft aller Gläubigen verstanden und die Beauftragung zum Amt im Sinne einer Delegation des allgemeinen Priesterrechtes auf einzelne Personen, die dieses Recht stellvertretend ausüben. Neben dieser delegationstheoretischen Interpretation der Bekenntnisschriften und der Aussagen Luthers gibt es eine zweite Interpretationslinie in der lutherischen Tradition. Diese beruft sich stärker auf solche Aussagen der Schriften, die die göttliche Einsetzung oder Stiftung des Amtes durch Christus betonen. Dieser Interpretationslinie folgend wird in der Regel CA V nicht auf das allgemeine Priestertum bezogen, sondern auf die Dienstaufgabe des ordentlich berufenen Amtes. Es wird damit nicht das Priestertum aller Gläubigen bestritten, aber es wird ein stärkerer Fokus auf die »Unterscheidung zwischen dem priesterlichen Dienst aller und dem an die Ordination gebundenen Verkündigungsamt« (Nüssel 2018, S. 148) gelegt. Schon bei Luther lässt sich in der Beschäftigung mit der Amtsfrage eine Entwicklung feststellen: Während er anfangs stärker den Ordnungsgedanken betont, entwickelt er in der Auseinandersetzung mit der römisch-katholischen Kritik einerseits und dem evangelischen sogenannten Schwärmertum andererseits ein profiliertes Amtsverständnis, das immer stärker den Gedanken der Einsetzung des Amtes durch Christus sowie den Zusammenhang von Geistwirken und geistlichem Amt betont. In dieser Hinsicht ist der bereits angeführte Ausschnitt von 1539 aus der Schrift Von den Konzilien und Kirchen zu beachten, in dem das kirchliche Amt als äußeres Kennzeichen der Kirche bestimmt wird. Und schon 1530 in der Schrift Eine Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle heißt es:

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Für die übertragungs-­ theoretische Deutung entscheidend: der Ordnungsgedanke

»Ich hoffe ja, das die gleubigen und was Christen heissen will, fast wol wissen, das der geistliche stand sey von Gott eingesetzt und gestifftet nicht mit gold und silber, sondern mit dem theüren blut und bittern tode seines einigen sons unsers Herrn Jhesu Christi. Denn aus seinen wunden fliessen warlich […] die Sacrament, und hatts warlich theur erarnt, das man inn der gantzen welt solch ampt hat, zu predigen, teuffen, loesen, binden, Sacrament reichen, trosten, warnen, vermanen, mit Gottes wort, und was mehr zum ampt der seel sorgen gehoret.« (Luther 1530, S. 526–527) Im Verständnis der Deutungen, die sich solchen Aussagen anschließen, ist das Amt nicht durch Delegation begründet, sondern »ist eine göttliche Institution und untersteht nicht dem Willen und Gutdünken der Gemeinden.« (Nüssel 2018, S. 150) In prominenter und maßgeblicher Weise hat Johann Gerhard in seinen Loci theologici die Lehre vom ministerium ecclesiasticum, also vom kirchlichen Amt, in einer solchen Weise entwickelt. Er unterscheidet zwischen der »allgemeine[n] Berufung aller Christen zum geistlichen Priesterdienst und der besonderen Berufung zum öffentlichen Dienst der Verkündigung« (Nüssel 2018, S. 150). Das kirchliche Amt sei

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Für die institutions-­theoretische Deutung entscheidend: der Stiftungs- oder Einsetzungsgedanke

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Sabine Schmidtke

»ein von Gott eingesetztes heiliges und öffentliches Amt […], das besonderen Menschen durch legitime Berufung übertragen wird, damit sie mit besonderer Macht instruiert das Wort Gottes lehren, die Sakramente verwalten und die kirchliche Disziplin bewahren, um auf diese Weise das Heil zu befördern und die Ehre Gottes zu verkünden« (zitiert nach der Übersetzung bei Nüssel 2018, S. 151). Die spezielle Berufung, die sich nicht aus dem allgemeinen Priestertum ableite, erfolge allerdings nicht, wie in der Anfangszeit der Kirche, direkt durch Christus, sondern vermittelt durch die Kirche unter Beteiligung aller ihrer Stände – die eigentliche Wirk­ursache dieser Berufung sei dennoch Gott.4 Der Ordnungsgedanke begegnete auch hier, aber mit dem Fokus auf der Stiftung und Bewahrung von Ordnung durch Gott. Gerhard geht davon aus, dass Gottes schöpferisches Handeln immer Ordnung stiftet und dass das kirchliche Amt vom dreieinigen Gott bereits im Paradies errichtet und seitdem bewahrt worden sei. Gegenüber der römischkatholischen Kritik ist ihm daran gelegen, zu betonen, dass durch die Reformation diese Ordnung nicht gebrochen wurde. Die durch göttliche Institution eingerichtete Ordnung des Amtes sei in der lutherischen Kirche voll gewahrt und erhalten. In Abgrenzung zum römisch-katholischen Amts- und Weiheverständnis betont Gerhard allerdings, dass mit der Ordination nicht ein anderer Gnadenstand und kein character indelebilis (unauslöschliches Prägemal) verliehen werde. Wohl habe sie aber eine besondere Wirkung, nämlich die Verleihung der potestas ordinis, der Amtsgewalt. Auch die unterschiedlichen Stufen des kirchlichen Amtes führt Gerhard auf eine göttliche Einsetzung zurück, wobei diese nicht für alle kirchlichen Ämter gelte und der Kirche auch die Freiheit zukomme, »unter bestimmten Umständen weitere Grade einzuführen« (Nüssel 2005, S. 159). Die institutionstheoretische Auslegung hat, auch wenn gegenwärtig die übertragungstheoretische Linie dominanter ist, die lutherische Amtstheologie bis in die Aufklärungszeit hin bestimmt. In der Aufklärungszeit geriet sie weniger aufgrund ihrer Inhalte als aufgrund der durch die Krise des Schriftprinzips wegbrechenden biblischen Basis in die Kritik. Im 19. Jahrhundert kam es erneut zu einer innerlutherischen Debatte über Ursprung und Gestalt des Amtes, bei der die Institutionstheorie (durch Wilhelm Löhe) als ein Begründungsmodell vertreten wurde. Gegenwärtig spielt sie in ökumenischen Kontexten immer wieder eine Rolle, da sie gegenüber der römisch-katholischen Position anschlussfähiger erscheint (vgl. Nüssel 2005, S. 174–189). Insgesamt zeigt sich in den Debatten, dass hinsichtlich der innerlutherisch-amtstheologischen Selbstverständigung bis heute kein einhelliger Konsens gefunden ist. Beide Deutungslinien finden ausreichend Halt und Belege in den Bekenntnisschriften und Schriften Luthers.5 Beide stellen vor spezifische Schwierigkeiten. Die institutionstheoretische Deutung läuft Gefahr, latent oder explizit erneut eine Scheidung zwischen Laien und Geistlichen einzuziehen und so ein Gegenüber von Amt und Gemeinde zu implementieren. Die delegationstheoretische Begründung ist vielen spontan sympathischer, insofern mit ihr der Gedanke des allgemeinen Priestertums strikter gewahrt zu sein scheint, stellt aber vor die Schwierigkeiten, die Notwendigkeit von Amt, Ordination und Ämterordnung einerseits zu begründen und andererseits die Voraussetzungen und 4 Der Unterschied bestehe nicht nur bezüglich der Berufung, sondern auch hinsichtlich des Auftrags: »Denn das ministerium ecclesiasticum sei zum öffentlichen Dienst der Evangeliumsverkündigung und Sakramentsverwaltung geordnet, während das geistliche Priestertum auf die Pflege der Frömmigkeit im privaten Bereich ziele.« (Nüssel 2005, S. 153). 5 Anders bei Härle 1996, der im Blick auf Luther und Schleiermacher konstatiert (S. 76): »Beide gehen nicht von einem göttlich gestifteten Amt in der Kirche aus, sondern verstehen das Amt bzw. die Kirchenleitung als eine Einrichtung, die sich unter bestimmten Umständen als für das Leben der Kirche erforderlich erweist.«

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Allgemeines Priestertum und Amt aus lutherischer Perspektive

Kriterien zu benennen und theologisch zu plausibilisieren, anhand derer entschieden werden kann, wer für das ordinierte Amt ausgewählt wird. Für die Weiterentwicklung lutherischer Amtstheologie fruchtbarer und weiterführender scheint es, statt von einem statischen Gegenüber beider Interpretationslinien von einem dynamischen Verhältnis auszugehen. Wenn beide Verständnisse sich wechselseitig korrigieren, leistet dies einen Beitrag dazu, die mit ihnen verbundenen Schwierigkeiten zu umgehen. Die faktische Ordinationspraxis legt es meines Erachtens darüber hinaus nahe, dass es bei den Interpretationen nicht um gegenseitige Exklusion geht. »Die Wortverkündigung kann gar nichts anderem folgen als dem Auftrag Gottes. Da dieser aber allen Glaubenden als Priestern und Priesterinnen gilt, erfolgt die konkrete öffentliche Beauftragung durch diese.« (Leppin 2017, S. 161)6 Für ein Zusammenspiel beider Aspekte finden sich bereits in den Bekenntnisschriften Belege. In der Apologie der Confessio Augustana, die sich nicht davor scheut, sogar die Sakramentalität der Ordination und Einsegnung zu erwägen, heißt es im dreizehnten Artikel: »Wo man aber das Sacrament des ordens wolt nennen ein ›Sacrament von dem predigampt und Evangelio‹, so hette es kein beschwerung, die ordinatio ein Sacrament zu nennen, Denn das predigampt hat Gott eingesetzt und geboten […]. Wenn man das Sacrament des ordens also verstehen wolt, so möcht man auch das aufflegen der hende ein Sacrament nennen, Denn die kirche hat Gottes befehl, das sie sol prediger und Diaconos bestellen. Dieweil nu solchs sehrs tröstlich ist, so wir wissen, das Gott durch menschen und diejhenigen, so von menschen gewelet sind, predigen und wircken wil, so ist gut, das man solche wahle hoch rhüme und ehre […].« (ApolCA XIII, in: Dingel 2014, S. 514; Hervorhebungen durch die S. S.) e. f. g. h.

Halte ich das ordinierte Amt für notwendig? Wenn ja, warum? Wie erlebe ich, was bei und durch Ordinationen geschieht? Wer ist handelndes Subjekt bei einer Ordination? Welche Formulierungen im Ordinationsformular legen welches Amtsverständnis nahe?

Wenz, Gunther: Ekklesiologie und Kirchenverfassung. Das Amtsverständnis von CA V in seiner heutigen Bedeutung, in: Rittner, Reinhard (Hg.): In Christus berufen. Amt und allgemeines Priestertum in lutherischer Perspektive, Hannover 2001, S. 80–113. Slenczka, Notger: Die Diskussion um das kirchliche Amt in der lutherischen Theologie im 19. Jahrhundert, in: Rittner, Reinhard (Hg.): In Christus berufen. Amt und allgemeines Priestertum in lutherischer Perspektive, Hannover 2001, S. 114–152. Weiss, Hans-Martin/Wenz, Gunther: Argumente zur Entwicklung einer heutigen lutherischen Amtstheologie. Ein Gespräch, in: Hanns Kerner/Johannes Rehm/Hans-Martin Weiss (Hg.): Das geistliche Amt im Wandel. Entwicklungen und Perspektiven, Leipzig 2017, S. 77–90. Lohse, Bernhard: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, online unter: https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/ bsb00046157_00001.html, abgerufen am 05.03.2021.

6 Leppin charakterisiert daher die exklusive Gegenüberstellung beider Deutungen als »künstlich«.

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Zusammenhang beider Deutungslinien

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Sabine Schmidtke

3 Geistlich geeignet und kompetent – Auswahlkriterien für das berufene Amt Das delegations-theoretische Amtsverständnis erfordert die Formulierung von Eignungskriterien

Ende der 1990er-Jahre kam es angesichts des sich deutlich abzeichnenden Rückgangs von Theolog:innen, die in den Pfarrdienst gingen, und angesichts der Zunahme von Prädikant:innen im Gemeindedienst zu einer erneuten Diskussion innerhalb der VELKD über Allgemeines Priestertum, Ordination und Beauftragung nach evangelischem Verständnis (VELKD 2004). In diesem Text, der von verschiedenen Seiten kritisiert wurde,7 wird eine institutionstheoretische Deutung der Amtstheologie vor dem Hintergrund der biblischen und reformatorischen Grundlagen abgelehnt: »Streng in diesem Rahmen [sc. einer übertragungstheoretischen Deutung des ordinierten Amtes] zu verstehen sind die Aussagen Luthers, die das ordinationsgebundene Amt als Stiftung Christi oder Stiftung Gottes bezeichnen. Sie sind nicht so zu verstehen, als ginge das ordinationsgebundene Amt und seine Ordnung auf eine göttliche Einsetzung zurück, wie dies von den Heilsmitteln der Wortverkündigung und Sakramente zu sagen ist.« (VELKD 2004, S. 11) Demgegenüber werden der delegationstheoretische Zugang und die Schutzfunktion des ordinierten Amtes für das allgemeine Priestertum betont. Umso mehr stellt sich die Frage, »[n]ach welchen Kriterien […] eine Person auszuwählen [ist], der das ordinationsgebundene Amt übertragen wird« (VELKD 2004, S. 12). Zu diesem Zweck wird unterschieden zwischen der prinzipiellen geistlichen Befähigung aller Christusgläubigen einerseits und der spezifischen Eignung für das ordinierte Amt andererseits. Zur Eignung gehöre nun insbesondere die theologische Kompetenz. Das wirft jedoch die weitere Frage auf, worin diese bestehen soll. In diesem Zusammenhang wird auf ein 1993 erschienenes Buch über die Grundlagen der theologischen Ausbildung und Fortbildung (Hassiepen/Herms 1993) verwiesen. Dort werden Aspekte benannt, die zusammengefasst die theologische Kompetenz ausmachten: Zu ihr gehöre, kurzgefasst, die Kenntnis der und die persönliche Einsicht in die Wahrheit des Evangeliums sowie in die Evangeliumsgemäßheit der geltenden kirchlichen Lehre. Weiter müssten Amtsträger:innen diese Einsichten authentisch und verständlich öffentlich vertreten können – in der Rede und in der Weise der eigenen Amtsführung. Schließlich gehe es darum, diese Einsichten und Kenntnisse stetig zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Nur wer über diese Fähigkeiten, wenn auch nicht in Perfektion, verfüge, erweise damit neben der prinzipiellen Befähigung auch die Eignung für »eine auftragsgemäße und professionelle Führung des Pfarramtes« (Hassiepen/Herms 1993, S. 20). Geschult und abgeprüft werden diese Kompetenzen durch Studium, Vikariat, Examina und Fortbildungen. Dass aber neben der theologischen Kompetenz auch andere, nichttheologische Eignungskriterien mitbestimmend sind bei der Frage, wem der Zugang zum Amt gestattet wird, und damit der 7 Auch aufgrund der Kritik erschien 2006 erneut eine Empfehlung zu dieser Thematik, in der wiederum festgehalten wird, dass es sich bei dem 2004 erschienen Text nicht um eine Empfehlung, sondern um den Entwurf einer Empfehlung gehandelt habe (vgl. VELKD 2006a, II). Dass sowohl der Entwurf von 2004 als auch die Empfehlung von 2006 der Position Wilfried Härles zur Thematik korrespondieren, überrascht nicht, da dieser als Vorsitzender und Geschäftsführer des Theologischen Ausschusses »über viele Jahre hinweg die meiste Arbeit mit und an diesem Papier hatte« (VELKD 2006a, V). Auf die weitere Diskussion und Kritik der Empfehlung reagiert sodann 2012 »Fragen und Antworten zur Empfehlung ›Ordnungsgemäß berufen‹« (VELKD 2006b). Da beide neueren Veröffentlichungen bezüglich der verhandelten Thematik nicht von dem ersten Entwurf abweichen, dient dieser als Grundlage. Der 2006 erschienene Text ergänzt jedoch, dass es nicht ausgeschlossen werden könne, dass theologische Kompetenz auf einem anderen Weg als über das Theologiestudium und Vikariat erworben werden könne (VELKD 2006b, 19).

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Allgemeines Priestertum und Amt aus lutherischer Perspektive

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Unterscheidung zwischen prinzipieller Befähigung und spezifischer Eignung auch eine Problematik inhäriert, die es zu reflektieren gilt, soll folgend an einem exemplarischen Beispiel verdeutlicht werden.

4 Geistlich geeignet, aber nicht kompetent? – Zur Problematik von Auswahlkriterien für das berufene Amt i. Welche spezifischen Kompetenzen muss eine Amtsperson besitzen, die über die theologische Kompetenz hinausgehen? j. Wie lassen sich nichttheologische Eignungskriterien begründen und transparent machen? k. Welche Schwierigkeiten sehe ich bei der Erhebung und Anwendung nichttheologischer Eignungskriterien?

Auch, wenn es unvermeidlich ist, Kriterien der Eignung für das ordinierte Amt zu erheben, so kann die Unterscheidung von prinzipieller Befähigung und faktischer Eignung auch zu Exklusionsmechanismen führen. Exemplarisch zeigt sich dies, wenn sie herangezogen wird, um die Legitimität der Frauenordination bzw. deren Verhandlung bei Luther zu behandeln. Bevor eine solche Argumentationsweise thematisiert wird, soll kurz grundsätzlich auf die Frage nach dem Verhältnis von allgemeinem Priestertum und Frauenordination eingegangen werden. Man hätte annehmen können, mit dem emanzipatorischen Potenzial, das dem Gedanken des Priestertums aller Getauften inhäriert, wäre auch schon zu Luthers Zeiten die Frage nach der Zulässigkeit von Frauen zum Predigtamt eindeutig entschieden. Es heißt bei Luther selbst ja deutlich: »Wenn Du willt die Christen ansehen, so mustu kein unterscheyd ansehen, und nicht sagen: das ist eyn man odder eyn weyb […]. Es ist alles eyn ding, und eyttel geystlich volck. Darumb sind sie alle zu mal priester, muegen alle Gottis wort verkundigen« (Luther 1523, S. 309,13–17). Theologisch führt Luther dennoch gegen das Predigtamt für Frauen 1. Korinther 14,33– 34 an, scheint diese Stelle selbst aber für zu dünn zu halten, um allein ausschlaggebend zu sein. Daher ergänzt er: »Aber Paulus hat das nicht aus seinem eigenen Kopf verboten, sondern er beruft sich auf das Gesetz, welches sagt, daß die Frauen untertan sein sollen (1. Mose 3,16). Daher war Paulus gewiß, daß der Geist sich selbst nicht darin widerspräche, daß er die Frauen, welche er zuvor den Männern untergeordnet hatte, nun über die Männer erhebe, sondern daß er vielmehr, seiner vorherigen Einsetzung eingedenk, die Männer zum Predigen erwecke« (Luther 1521, S. 109). Eine Ausnahme von dieser vermeintlich natürlichen und geistgewirkten Ordnung sei nur dann legitim, wenn kein Mann vorhanden sei, der predigen kann. Dieses Argument, dass es eben die Ordnung durch den Geist Gottes sei, durch die Frauen den Männern von jeher untergeordnet und damit auch durch den Geist nicht für den Predigtdienst erwählt würden, hinkt gleich doppelt.

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Problematik: nichttheologisch begründete Exklusionsmechanismen

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Luthers Argumentation gegen Frauen im ­Predigtamt ist protologisch, hamar­tiologisch, soteriologisch und ekklesio­logisch in sich widersprüchlich

Sabine Schmidtke

Auf der einen Seite sind die protologischen, hamartiologischen und soteriologischen Dimensionen unsauber ineinander verwoben: Luther bezieht sich auf Genesis 3,16, wenn er die Unterordnung der Frau unter den Mann als vom Geist angeordnet behauptet. Luther selbst führt jedoch die Sünde auf den (sogenannten) Sündenfall zurück und deutet entsprechend Genesis 3,16 gerade nicht als gute Schöpfungsordnung (protologisch), sondern als Konsequenz der Sünde (hamartiologisch) (vgl. Axt-Piscalar 2001, S. 401–402; Bayer 2007, S. 160–176, bes. S. 162–163). Dann aber ist es angesichts der rechtfertigungstheologischen Aussage, dass den Gläubigen die Sünde vergeben ist, nicht einsehbar, eine Bestimmung, die als Folge der Sünde charakterisiert wird, zu einem Ausschlusskriterium zu erheben, wenn es um die Verkündigung des Evangeliums durch gerechtfertigte Gläubige geht. Luther hätte wohl kaum einem Mann, dessen Feld nicht Dornen und Disteln trägt oder der anderes als das Kraut auf dem Feld isst (vgl. Gen 3,17–19), vorgeworfen, dass er damit der Ordnung des göttlichen Geistes widerspricht. Auf der anderen Seite ist das Argument auch ekklesiologisch widersprüchlich: Wenn mit dem berufenen Amt gerade kein gesonderter, hierarchisch erhobener, geistlich von anderen unterschiedener Stand erlangt wird, sondern alle durch das allgemeine Priestertum gleichen geistlichen Standes sind, dann kann es keine Erhebung von Frauen über Männer bedeuten, wenn Frauen das Amt der Verkündigung und Sakramentsspendung ausüben. Ausschlaggebender scheint für Luther eher ein nichttheologisches Eignungskriterium zu sein, das gegen Frauen im öffentlichen Predigtamt spricht: Altgläubigen Kritiker:innen des Gedankens des allgemeinen Priestertums, die mit dem Korintherbrief argumentieren, dass, wenn die Frau in der Gemeinde schweigen soll, somit wohl kaum alle Christ:innen gleichen Standes seien, antwortet Luther, »daß man auch Stumme und sonst Behinderte und Ungeschickte nicht predigen läßt. Denn obwohl jeder Recht und Macht hat zu predigen, so soll man doch niemanden dazu gebrauchen, noch soll sich jemand dessen bemächtigen, es sei denn, er sei dazu vor anderen geeignet. […] Denn zu dem Geist, der predigen will, gehört eine gute Stimme, eine gute Aussprache, ein gutes Gedächtnis und andere natürliche Gaben. Wer diese nicht hat, der schweige gerechterweise und lasse einen anderen reden.« (Luther 1521, S. 108–109) Zu dieser Passage bei Luther gibt es nun aktuelle Erläuterungen, die auf die Unterscheidung von prinzipieller Befähigung oder prinzipiellem Recht und spezifischer Eignung rekurrieren. Exemplarisch sei eine angeführt: »Luther tritt also für das uneingeschränkte geistliche Recht auch der Frauen ein, in der Gemeinde zu predigen, aber er hält sie für nicht geeigneter bzw. für weniger geeignet als Männer für den Verkündigungsdienst. Diese geringere Eignung sieht er darin, dass Frauen stimmlich weniger gut ausgestattet sind sowie weniger gut ausgebildet und weniger geübt sind in der öffentlichen Rede. […] Nach Luthers Überzeugung sind Frauen (im Allgemeinen) weniger geeignet zur Wahrnehmung der öffentlichen Verkündigung, als es Männer sind. Und nur solche Gründe der mangelnden Eignung sind für Luther zulässig, um ein Schweigegebot oder ein Verkündigungsverbot für Frauen in der Gemeinde zu erlassen und zu begründen. Es gibt jedoch keine theologischen

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Allgemeines Priestertum und Amt aus lutherischer Perspektive

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Gründe für ein solches Ge- bzw. Verbot. […] Aufgrund biologischer, pädagogischer und sozialer Gründe rät Luther also in seiner Zeit von der Frauenordination ab. Und das ist nicht generell zu kritisieren; denn solche Gründe macht die christliche Kirche zu Recht immer und überall für die Auswahl derer geltend, die ordiniert werden und mit der Wahrnehmung des Pfarramts betraut werden können und sollen.« (Härle 2017, S. 136–138; Kursivsetzung im Original, Fettsetzung durch S. S.) Es ist nachvollziehbar, dass es weder Paulus noch Luther in ihren zeitlichen Kontexten gelang, über die herrschende gesellschaftliche Ordnung bezüglich des Geschlechterverhältnisses theologisch konsequent hinauszukommen, auch wenn die Basis in beiden Fällen gelegt war. Gerade im Blick auf die Praxis ist aber zu fragen, ob nichttheologische Gründe »zu Recht: immer und überall« für die Auswahl der Personen, die für das berufene Amt geeignet sind, geltend gemacht wurden und werden dürfen. Bei solchen Eignungskriterien bedarf es einer selbstkritischen Reflexion, ob diese wirklich mit Recht in Anschlag gebracht werden. Hier zeigt sich die Schwierigkeit der Bestimmung von Eignungskriterien: Wer bestimmt aus welchen Gründen und Motiven, was zur Eignung gehört und was nicht? Kann das Evangelium nur kompetent kommuniziert werden, wenn man über eine tiefe, sonore Stimme verfügt?8 Die Frage nach der Legitimität der Frauenordination erweist sich als exemplarischer Fall einer prinzipiellen Schwierigkeit: Schon Luther exkludiert ja zugleich mit den Frauen auch noch weitere Bevölkerungsgruppen vom Predigtamt. Es hilft nicht, die Aussagen Luthers zu »Frauen – Stummen – Behinderten – Ungeschickten« abmildern zu wollen, indem man meint, das sei ja nur so lange kränkend, »wie man die Feststellung einer Behinderung für eine Kränkung hält« (Härle 2017, S. 136–137). Die Kränkung liegt nicht in der Zusammenstellung, sondern in der Marginalisierung und Exklusion derer, die nicht den eigenen Eignungsvorstellungen entsprechen. Noch immer gilt beispielsweise: »Theologinnen und Theologen mit Behinderungen machen auch in der Kirche oft die Erfahrung, dass sie zusätzlich zu den bestehenden Beeinträchtigungen in ihrem beruflichen Werdegang behindert werden.« (EKD 2014, S. 182) Und ganze soziale Milieus sind kaum unter Theologiestudierenden, im kirchlichen Amt, geschweige denn im kirchlichen Leitungsamt vertreten. Wenn die Notwendigkeit des ordinierten Amtes und seine Unterscheidung vom allgemeinen Priestertum mit der Unterscheidung zwischen allgemeiner geistlicher Befähigung und anderweitiger theologischer, biologischer, sozialer, pädagogischer oder anderer Eignung begründet wird, liegt darin auch das Risiko, dass stets die gleichen oder einander ähnliche Menschen entscheiden, was zur Eignung für das Amt gehört – in der Regel ist es das, was sie selbst auszeichnet bzw. von dem sie meinen, dass es sie auszeichnet. Damit besteht jedoch zugleich die Gefahr, dass zur Verfestigung – meist unhinterfragter und unreflektierter – Strukturen beigetragen wird, durch die andere – zumindest zum Teil aus nichttheologischen Gründen – vom Amt ausgeschlossen werden. Es ist unvermeidbar, Eignungskriterien zu erheben und zu benennen. Doch sollte dies auf eine überaus reflektierte, selbstkritische und sensible Art und Weise geschehen, gerade wenn diese Kriterien nichttheologisch begründet sind. Es stellt einen erheblichen Schaden für die Glaubwürdigkeit nicht nur der eigenen Amtstheologie, sondern auch und gerade der kirchlichen Evangeliumsverkündigung in Wort und Tat dar, wenn in der Erhebung von Eignungskriterien und in der Auswahl von Personen für das berufene Amt nicht in hohem Maße auf das Diskriminierungsverbot geachtet wird.

8 Dass darüber hinaus die Zuordnung »angenehme, gute Stimme = Mann«, »unangenehme, verkündigungsuntaugliche Stimme = Frau« faktisch unzutreffend ist, zeigt die Erfahrung in ausreichendem Maß.

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Gerade nichttheologische Eignungskriterien bedürfen einer hochgradig reflektierten, selbstkritischen und sensiblen Begründung

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Sabine Schmidtke

5 »Möge die Macht mit dir sein!« – Amt und potestas l. Welcher Aspekt bestimmt mein Leitungshandeln am stärksten:9 Motiv

Streben

Vermeiden

Leistung

Hoffnung auf Erfolg

Angst vor Versagen/Scheitern

Macht

Hoffnung auf Einfluss

Angst vor mangelnder Durchsetzungskraft

Anschluss

Hoffnung auf Akzeptanz

Angst vor Zurückweisung

Gibt es ein Handlungsmotiv, das ich unter allen Umständen vermeiden möchte? Warum? m. Was würde sich an meinem Leitungshandeln ändern, wenn ein anderes Motiv in den Vordergrund treten würde? – Welche Risiken sehe ich diesbezüglich? – Welche Chancen könnte es eröffnen?

Theologische Vorbehalte gegenüber dem Machtbegriff

Theologische und theologie­ geschichtliche Gründe für die »Macht-Skepsis«

Der Machtbegriff ist in Theologie und Kirche häufig negativ konnotiert. Obwohl man auch nicht ohnmächtig sein möchte, besteht eine Scheu davor, das eigene Handeln als Machthandeln zu begreifen. Entweder wird Macht direkt mit Machtmissbrauch und Machtspielen identifiziert und somit per se abgelehnt. Die Vorsicht gegenüber eigenem Machthandeln kann allerdings auch darin gründen, dass man sich vor der Ablehnung durch andere oder auch vor der Übernahme von Verantwortung in Machtstrukturen fürchtet. Nichtsdestotrotz steht die Machtfrage in einem engen Zusammenhang zur Amtsfrage: Wer hat die Macht, zu bestimmen, was für eine kompetente Amtsführung notwendig ist? Wem wird durch die Ordination die potestas ordinis (Johann Gerhard), die Macht des Amtes verliehen? Auch die theologische Auseinandersetzung mit dem kirchlichen Amt bzw. Leitungsamt meidet meist den Machtbegriff bzw. will ihn modifizieren und so kirchlich-theologisch akzeptabel machen. In pastoralpsychologischer Perspektive hinsichtlich Leitungshandeln heißt es beispielsweise: »Soll aus bloßer Machtausübung ein ebenso menschenfreundliches wie sachentsprechendes Leitungsverhalten entstehen, so setzt das einen Auseinandersetzungsprozeß mit bestimmten Wirkfaktoren im Handlungsbereich voraus.« (Winkler 1995, S. 252) – Der Umkehrschluss liegt nahe, dass Machtausübung als solche weder den Menschen noch der Sache angemessen, ja sie menschenunfreundlich und unsachgemäß sei. Die theologischen bzw. theologiegeschichtlichen Gründe für diese Vorbehalte gegenüber dem Machtgedanken sind vielfältig und vielschichtig. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige benannt: Biblisch gesehen wird Macht als solche nicht negativ gesehen, eher im Gegenteil. Allerdings gibt es auch kritische Aussagen, gerade gegenüber weltlicher Macht, von deren Ausübungsweise sich das Verhalten der Christ:innen unterscheiden soll (vgl. Mt 20,25– 27). Schließlich kommt es im Christentum mit dem Kreuz als Zentralsymbol zu einer Fokussierung hin auf die Ohnmachtsthematik: Gott, der Allmächtige, geht in die absolute Ohnmacht. Gott, der Mächtige, lässt nicht leiden – er leidet selbst. Es ist zwar nicht so, dass in Kreuz und Auferstehung nicht auf paradoxe Weise Ohnmacht und Macht zugleich zum Ausdruck kämen – aber das leere Grab hat es nicht geschafft, zum repräsentativen Symbol des Christentums zu werden. In der reformatorischen Theologie lässt sich, wie oben dargelegt, mit der Betonung des allgemeinen Priestertums, dem Delegationsmodell, der Einschränkung der bischöf9 Die Motive orientieren sich an McClelland 1953.

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lichen Macht und schließlich mit der Unterscheidung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt durchaus ein machtkritisches Moment erkennen. Sine vi, sed verbo, nicht mit Kraft bzw. Gewalt, sondern durch das Wort – dieses Schlagwort aus dem 28. Artikel der Confessio Augustana zur bischöflichen Gewalt wird noch gegenwärtig gern angeführt, wenn es um die Frage von Macht in der Kirche geht. Primär wurde die theologische Auseinandersetzung meist nicht auf die innerkirchliche Machtthematik bezogen, die eher konsequent ausgeblendet wurde, sondern auf die Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat. Das wirkt aber wiederum zurück auf die Frage nach innerkirchlicher Leitung, Herrschaft, Macht. Dies zeigt sich exemplarisch bei der vierten These der Barmer Theologischen Erklärung: »Jesus Christus spricht: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener. (Mt 20, 25–26) Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben und geben lassen.« (EKD o. J.) In Abwehr der Eingliederung der Kirche in das Hitlersystem wird mit Matthäus 20 der Unterschied von weltlicher Gewalt und Kirche festgehalten. Zugleich kommt eine Auffassung zum Ausdruck, »nach der die kirchlichen Ämter ›keine Herrschaft der einen über die anderen‹ begründen. Damit ist die innerkirchliche Ausübung von Macht und Herrschaft theologisch grundsätzlich delegitimiert.« (Jähnichen 2011, S. 138) Diese und weitere biblische sowie theologiegeschichtliche Gründe sind nachvollziehbar. Allerdings muss man festhalten, dass Macht als solche weder biblisch noch in den reformatorischen Bekenntnisschriften eine negative theologische Kategorie ist. Zwar ist es biblisch primär Gott, dem Macht zugeschrieben wird, aber auch Menschen können im Rahmen ihrer geschöpflichen Endlichkeit Macht erhalten und ausüben, die positiv ist. So gibt beispielsweise Jesus gemäß Matthäus 10,1 seinen Jüngern die Macht, unreine Geister auszutreiben und Kranke zu heilen. In den Bekenntnisschriften steht insgesamt nicht infrage, dass dem kirchlichen Amt eine bestimmte potestas zukommt. Gegenwärtig wird die MachdDiskussion wieder in der Theologie geführt, vor allem innerhalb der Systematischen und Praktischen Theologie im Anschluss an soziologische und philosophische Machttheorien. Macht wird als »universale soziale Kategorie« (Levold 2011, S. 113) bzw. als »Grundphänomen des Lebens« (Josuttis 2005, S. 30) wahrgenommen. Dabei wirken Machtstrukturen häufig subtil bis unbemerkt: Auch wenn sie eine Asymmetrie im sozialen Gefüge voraussetzen, bei der ein Part über höhere Macht verfügt, handelt es sich in der Regel nie um das Gefüge von absoluter Macht auf der einen, absoluter Ohnmacht auf der anderen Seite, sodass für diese Seite ein Gefühl der Selbstbestimmtheit bestehen bleibt, das gegebenenfalls über die faktische Machtstruktur hinwegtäuscht. Machtstrukturen müssen nicht statisch und dauerhaft sein, sondern hängen meist von bestimmten Kontexten und Settings ab. Sogar in ein und derselben Rolle befindet man sich häufig in verschiedenen Machtkonstellationen: Wer Pastor:in ist, steht zum Beispiel in verschiedenen Positionen in Machtgefügen, was das Verhältnis zu Gemeindegliedern, Mitarbeiter:innen, Konfirmand:innen, (Regional-)Bischöf:innen, Kolleg:innen, Gremiumsmitgliedern usw. betrifft. Obwohl Machtstrukturen in sozialen Kontexten faktisch vorhanden sind und dies für Organisationen viel mehr gilt, werden sie innerhalb der Kirche kaum reflektiert und, vor allem sprachlich, verschleiert:

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Machtstrukturen werden im kirchlichen Kontext häufig verschleiert

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»Wir […] sprechen beispielsweise lieber von ›Vollmacht‹ als von ›Haftung‹ und von ›geistlicher Leitung‹ statt von Führung; wir bevorzugen, wenn es um die Kirche geht, antiinstitutionelle Metaphern wie ›Leib‹, ›Tempel‹ oder ›Braut‹; bei uns heißt ›Dienstgemeinschaft‹, was man anderswo als asymmetrische Arbeitsverhältnisse begreift.« (Sellmann 2019, S. 15) Auch in praktischer Hinsicht zeitigt diese Sprachregelung Konsequenzen, wie Josuttis im Blick auf die kirchenleitende Ebene problematisiert: »›Kirche hat keine Macht!‹ Wer in einer Organisation, die von einer solchen Maxime bestimmt ist, Karriere machen will, ist zu einer eigentümlichen Verhaltensstrategie gezwungen. Er muss Führungsqualitäten zeigen, aber Aufstiegsabsichten verstecken.« (Josuttis 2005, S. 31)

Eine theologische Reflexion kirchlicher Machtstrukturen ist notwendig

Nun könnte man sagen, dass sei der kirchliche Sonderweg, Fakten anders zu benennen und handzuhaben, der als solcher aber unproblematisch sei. Es ist jedoch nahezu allgemeine Einsicht, dass die Verschleierung faktischer Machtstrukturen zu Schwierigkeiten führt. Zum einen geht mit dem Verzicht auf klare, reflektierte und gestaltete Machtstrukturen oft das Phänomen einher, dass sich keine eindeutig Verantwortlichen finden. Konsensual sollen Lösungen gefunden und Entscheidungen getroffen werden – umgekehrt fühlt sich für strittige Entscheidungen niemand mehr persönlich verantwortlich. Zum anderen, darin liegt die weitaus größere Gefahr, sind faktisch vorhandene, aber unreflektierte, ungestaltete Machtstrukturen wesentlich anfälliger dafür, dass es in ihnen zu Machtmissbrauch kommt. Dass Macht nicht zur Sprache kommt, macht sie nur unsichtbar, aber nicht unwirksam. Ein schockierendes Beispiel dafür sind die Missbrauchsfälle im kirchlichen Bereich, die durch verschleierte Machtstrukturen begünstigt wurden und lange verdeckt blieben. Es ist also notwendig, auch im Bereich von Kirche und Theologie den Machtbegriff theologisch zu reflektieren und die eigenen Machtstrukturen bewusst und transparent zu gestalten. Im Anschluss soll daher zunächst eine soziologisch-kommunikationswissenschaftliche Machttheorie skizziert werden. Daran schließen sich Vorschläge einer systematisch-theologischen Reflexion der Machtthematik an, die zur Diskussion gestellt werden. In seinem Aufsatz zu Kommunikation, Macht, Identität. Verlässlichkeit als Schlüsselkategorie kommunikativer Macht entwirft der Soziologe und Kommunikationswissenschaftler Jo Reichertz (2011) im Anschluss an Luhmann und Weber einen Begriff kommunikativer Macht. Er geht davon aus, dass durch kommunikatives Handeln bewirkt werden soll, dass eine intendierte Absicht eintritt, weshalb es Gründe dafür liefern müsse, weshalb das Gegenüber diese intendierte Absicht auch realisiert. Hieran knüpft er den Macht­ begriff an: »Macht ist dabei eine Art Platzhalter für alle Gründe, welche die Chance mit sich bringen, den anderen zu Handlungen zu bewegen.« (Reichertz 2011, S. 60) Diese Macht könne sich aus unterschiedlichen Quellen bzw. Praktiken ergeben: »Der erste Grund, kommunikativ angetragenen Handlungszumutungen zu folgen, ist die Be-

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reitschaft und das Vermögen des Kundgebenden, dem anderen bei Nichterfüllung der Handlungserwartung mehr oder weniger massive körperliche Schädigung, vor allem Schmerzen zuzufügen« (Reichertz 2011, S. 60; Hervorhebung durch S. S.), also Gewalt. Dieser Aspekt entfällt im Blick auf Macht im Rahmen kirchlichen Handelns in der Regel. »Der zweite Grund, kommunikativen Handlungen zu folgen, sich Handlungszumutungen zu fügen, finden sich in der Bereitschaft und der Möglichkeit des Kund­gebenden, dem Kundnehmenden unter bestimmten Umständen rechtmäßig Schaden zufügen zu können bzw. bestimmte Vorteile zukommen zu lassen. Der Sprecher darf ›Befehle‹, ›Anweisungen‹, ›Aufträge‹ – verpflichtende Sätze äußern. Durch die Äußerung sind sie auferlegt, weil der Kundgebende eine bestimmte Funktion inne hat und mit dieser Funktion dieses Recht nicht nur verbunden ist, sondern auch in irgendeiner Form gesetztes Recht ist.« (Reichertz 2011, S. 60–61; Hervorhebung durch S. S.) Diese Machtform wird Herrschaft genannt. Im Blick auf kirchenleitendes Handeln ist dies eine Form der Machtausübung, die den Amtsträger:innen qua Kirchenrecht zugestanden wird. Für die dritte Form der Macht ist nach Reichertz eine soziale Beziehung ausschlaggebend, für die bestimmend ist, dass die Beteiligten einander relevant geworden sind und dadurch das kommunikative Handeln für alle Beteiligten auch Identitätsarbeit bedeute. Über die Kommunikation würden nicht nur Handlungen initiiert, sondern auch die eigene Position im sozialen Gefüge werde entweder befestigt oder modifiziert. Damit sich eine solche Kommunikationsform einstellen könne, müssten sich die Akteur:innen, besonders aber die kundgebende Person, als verlässlich und vertrauenswürdig erweisen, was insbesondere die Korrespondenz von Wort und Tat einschließe. Dass gerade auch dieser Aspekt in den Kommunikations- bzw. Machtgefügen kirchlichen Handelns eine erhebliche Rolle spielt, liegt auf der Hand. Bei Reichertz führt diese Differenzierung des Machtbegriffs dahin, dass letztlich die Beziehungsmacht das Ziel sein soll, zumal diese die geringsten sozialen Kosten bei größter Effektivität verspreche: Wer nicht nur auf Anweisung, sondern aufgrund persönlicher Verbundenheit und Einstimmung in die Ziele handele, investiere mehr Engagement und neige weniger zu Widerstand oder low performance. Dieses Modell bietet sich an einigen Stellen zur Verdeutlichung an. Die Perspektive ist im Folgenden primär eine dogmatische, wobei aber ethische Aspekte auch in den Blick kommen. Anthropologisch und theologisch ist es meines Erachtens geboten, wenn vom Menschen als Ebenbild Gottes und von Gott als dem Allmächtigen gesprochen wird, dass auch dem Menschen Macht zugestanden wird; eine Macht, die zwar eine geschaffene, bedingte und endliche Macht ist, aber als solche nicht per se negativ charakterisiert ist. Zugleich muss dann die hamartiologische Dimension berücksichtigt werden: Weil der Mensch Sünder:in ist und nach reformatorischem Verständnis immer Sünder:in und Gerechtfertigte:r zugleich bleibt, steht auch seine Macht und ihre Ausübung unter der Ambivalenz des simul. Dies könnte nun zwar unter amtstheologischen und ethischen Gesichtspunkten erneut gegen den Machtbegriff ins Feld geführt werden. Aber diese Ambivalenz gilt ebenso für den vermeintlichen Machtverzicht oder jegliche andere Form, soziale oder institutionelle Beziehungen zu gestalten – auch Leitung, Führung, Management etc. sind nicht der Ambivalenz und möglichen Negativgestaltung entzogen. Gegen Reichertz kann eingewandt werden, dass die Beziehungsmacht hochgradig anfällig für den Machtmissbrauch ist. Wenn man qua rechtlich geregelter Herrschaftsmacht Handlungsanweisungen erteilt, gibt man den Empfänger:innen zumindest noch die Möglichkeit, sie zwar zu befolgen, sie zugleich aber für verkehrt zu halten. Qua Beziehungsmacht wird an-

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Aus theologischer, anthro­ pologischer, ekklesio­logischer und ethischer Perspektive gibt es keine zwingenden Gründe, auf den Machtbegriff oder Machtausübung zu verzichten

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gestrebt, dass das Gegenüber nicht nur tut, was die anweisende Person intendiert, sondern die Intention ist, dass die ausführende Person die Intention der anweisenden Person als eigene annimmt. Wenn ekklesiologisch und speziell amtstheologisch die Machtfrage ausgeschlossen wird, dient das der Untermauerung eines vermeintlich hierarchiefreien Ämtermodells, dem aber die kirchliche Realität gerade im Luthertum nicht entspricht. Der Versuch der Unterscheidung kirchlicher Strukturen von anderen Machtgefügen durch das Schlagwort sine vi, sed verbo ignoriert dabei, dass gerade das Wort bzw. die Kommunikation in theologischer bzw. soziologischer Perspektive mit Macht verbunden ist. Diese Auffassung gehört ja zu den Kernstücken reformatorischer Theologie: sine vi, sed verbo grenzt die Macht des Amtes von weltlicher Gewalt ab. Aber keineswegs erscheint das Wort als machtlos. Diese potestas wird in den Bekenntnisschriften auf eine spezifische Weise bestimmt: Es ist die Macht, das Wort verkündigen zu dürfen, die Sakramente zu spenden, Absolution zu erteilen und Lehre zu beurteilen. Es ist eine Macht zu, nicht über etwas. Diese Unterscheidung von Macht zu und Macht über kann auch im Blick auf die praktische Ausübung eines mit Macht verbundenen Leitungsamtes ertragreich sein: Eine theologische Reflexion der Begründung und Funktion der zugestandenen Macht kann auch dienlich sein, in der Praxis Antworten zu finden auf Fragen wie: »Wozu habe ich Macht – und wozu nicht? Was kann ich im Rahmen meiner Macht leisten, um andere zu ermächtigen? Inwiefern dient mein Machthandeln, wenn auch vielleicht nur indirekt, der Verbreitung und Stärkung des Glaubens?« »Machtspiele« im kirchlichen Kontext erweisen sich nur dann als besonders gefährlich, wenn sie unbewusst und unreflektiert verlaufen, die Regeln nicht begründet, intransparent oder nicht allen bekannt sind. Wer aber die Regeln seiner:ihrer Herrschaftsmacht selbst reflektiert, transparent macht und befolgt und sich damit auch im Sinne der Beziehungsmacht als verlässlich erweist, bei dem:der spricht nichts dagegen, offen zu dieser zugestandenen Macht zu stehen und sie verantwortlich auszuüben. Notwendigkeit und Funktion des berufenen Amts in den Bekenntnisschriften und bei Luther 1. Lesen Sie die Auszüge aus Confessio Augustana V, aus Confessio Augus­tana XXVIII und aus Martin Luther, Von den Konzilien und Kirchen (Dauer: 15 Minuten): »Solchen glauben zuerlangen, hat Got das predig ampt eingesatzt, Evangelium und Sacramenta geben, dadurch als durch mittel der heilig geist wirckt und die hertzen tröst und glauben gibt, wo und wenn er wil, inn denen, so das Evangelium hören, welches leret, das wir durch Christus verdienst ein gnedigen Gott haben, so wir solchs gleuben.« (CA V, in: Dingel 2014, S. 100) »Und ist Bischoffe gewalt laut des Evangelii ein befehl Gottes, das Evangelium zu predigen, sunder straffen und binden, sunde vergeben und die Sacrament reichen. […] Und diese gewalt wirt allein durchs wort und Sacrament geübt, so man vielen oder einem inn sunderheit Gottes wort sagt, sunde strafft, bindet oder vergibt und auff löset.« (CA XXVIII, in: Dingel 2014,S. 188) »Zum fünften erkennt man die Kirche äußerlich daran, daß sie Diener der Kirche weiht oder beruft oder Ämter hat, die sie bestellen soll. Denn man muß Bischöfe, Pfarrer oder Prediger haben, die öffentlich und insgeheim die oben genannten vier Stücke oder Heilmittel geben, reichen und ausüben, wegen der Kirche und in

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ihrem Namen, noch viel mehr aber aufgrund der Einsetzung Christi, wie St. Paulus Eph.4,11 sagt: ›Er hat den Menschen Gaben gegeben.‹ Er hat einige zu Aposteln, Propheten, Evangelisten, Lehrern, Regenten usw. gesetzt. Denn der Haufen in seiner Gesamtheit kann das nicht tun, sondern sie müssen es einem anbefehlen oder anbefohlen sein lassen. Was sollte sonst werden, wenn jeder reden oder die Sakramente reichen und keiner dem anderen weichen wollte. Es muß einem allein anbefohlen werden, und ihn allein muß man lassen predigen, taufen, absolvieren und das Altarsakrament reichen, die anderen alle sollen damit zufrieden sein und einwilligen. Wo du nun dies siehst, da sei gewiß, daß dort Gottes Volk, das christliche, heilige Volk sei.« (Luther 1539, S. 194) 2. Tauschen Sie sich in Kleingruppen zu den folgenden Leitfragen aus und sammeln Sie ihre Ergebnisse in Stichworten (Dauer: 15 Minuten): – Worin bestehen die Aufgaben des kirchlichen Amtes? – Wie wird die Notwendigkeit des berufenen Amtes begründet? 3. Visualisieren Sie Ihre Ergebnisse und präsentieren Sie diese im Plenum!

Autorin Pastorin i.E. Dr. Sabine Schmidtke ist Pfarrerin in Zusenhausen und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ökumenischen Institut der Universität Heidelberg, aktuelles Forschungsprojekt: »Ein Mensch? – Theologische Anthropologie im ökumenischen Kontext im Spannungsfeld von Dogmatik und Ethik«. [email protected]

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Josuttis, Manfred: Zwanghafte Versteckspiele. Umgang mit Macht in der evangelischen Kirche, in: Zeit­ zeichen 6/2005, S. 30–32. Leppin, Volker: Priestertum aller Gläubigen. Amt und Ehrenamt in der lutherischen Kirche, in: Ulrich Heckel/Jürgen Kampmann/Volker Leppin/Christoph Schwöbel (Hg.): Luther heute. Ausstrahlungen der Wittenberger Reformation, Tübingen 2017, S. 149–169. Levold, Tom: Macht und Beratung, in: Wege zum Menschen 63/2011, S. 112–119. Luther, Martin: Ein Sermon von dem neuen Testament, das ist von der heiligen Messe (1520), in: Karin Bornkamm/Gerhard Ebeling (Hg.): Martin Luther. Ausgewählte Schriften, Bd. 2: Erneuerung von Frömmigkeit und Theologie, Frankfurt a. M. 1982, S. 78–114. Luther, Martin: Vom Mißbrauch der Messe (1521), in: Karin Bornkamm/Gerhard Ebeling (Hg.): Martin Luther. Ausgewählte Schriften, Bd. 3: Auseinandersetzung mit der römischen Kirche, Frankfurt a. M. 1982, S. 85–164. Luther, Martin: Epistel S. Petri gepredigt und außgelegt. Erste Bearbeitung (1523), WA 12, S. 249–399. Luther, Martin: Eine Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle (1530), WA 30/II, S. 526–527. Luther, Martin: Von den Konzilien und Kirchen (1539), in: Karin Bornkamm/Gerhard Ebeling (Hg.): Martin Luther. Ausgewählte Schriften, Bd. 5: Kirche, Gottesdienst, Schule, Frankfurt a. M. 1982, S. 181–221. Lutherisches Kirchenamt der VELKD (Hg.): Allgemeines Priestertum, Ordination und Beauftragung nach evangelischem Verständnis. Eine Empfehlung der Bischofskonferenz der VELKD (Texte aus der VELKD 130), Hannover 2004. https://www.gemeindenetzwerk.de/?p=1301, abgerufen am 11.04.2022. Lutherisches Kirchenamt der VELKD (Hg.): »Ordnungsgemäß berufen«. Eine Empfehlung der Bischofskonferenz der VELKD zur Berufung zu Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung nach evangelischem Verständnis (Texte aus der VELKD 136), Hannover 2006., https://www.velkd.de/publikationen/download. php?ffd52f3c7e12435a724a8f30fddadd9c, abgerufen am11.04.2022. Lutherisches Kirchenamt der VELKD (Hg.): Fragen und Antworten zur Empfehlung »Ordnungsgemäß berufen«, Beiheft zu Texten aus der VELKD 136/2006 (Texte aus der VELKD 164), Hannover 2012, https:// www.velkd.de/publikationen/publikationen-gesamtkatalog.php?publikation=283&kategorie=22, abgerufen am11.04.2022.McClelland, David C.: The achievement motive, New York 1953. Nüssel, Friederike: Zum Verständnis des evangelischen Bischofsamtes in der Neuzeit, in: Dorothea Sattler/ Gunther Wenz (Hg.): Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge, Bd. 2: Ursprünge und Wandlungen (Dialog der Kirchen 13), Freiburg i. Br. u. a. 2005, S. 145–189. Nüssel, Friederike: Amt und Ordination bei Martin Luther und in der lutherischen Dogmatik, in: Felix Körner/Wolfgang Thönissen (Hg.): Vermitteltes Heil. Martin Luther und die Sakramente, Paderborn/Leipzig 2018, S. 143–161. Reichertz, Jo: Kommunikation, Macht, Identität. Verlässlichkeit als Schlüsselkategorie kommunikativer Macht, in: Communicatio Socialis 44/2011, S. 58–73. Sellmann, Matthias: Sprecht über Macht!, in: Herder Korrespondenz 73/2019, S. 14–16. Waalkes, Otto: Die Legende vom Heiligen Hein, 15.11.2010. https://www.youtube.com/watch?v=EC9PdgXqi28, abgerufen am 23.02.2021. Winkler, Klaus: Leitung in der Kirche, in: Wort und Dienst 23/1995, S. 247–258.

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Auftritt Mit Begeisterung anstecken – der Auftritt im kirchenleitenden Amt Felix Ritter Î Glaube ich, was ich sage? Î Was mache ich bloß mit meinen Armen? Î Was hilft mir gegen Nervosität? Î Was ist interessant?

1 Das Problem mit Ernst »Jetzt wird’s ernst«, sagen sich viele angehende Führungskräfte und rutschen mit diesem Motto in ihre neue Funktion hinein. Sie denken vielleicht: »Ich muss meine Arbeit ernst nehmen, sonst gewinne ich keinen Überblick.« Wenn jemand aber ernst auftritt, dann ist das kontraproduktiv. Als Zuhörende:r möchte ich Menschen glauben, was sie sagen. Wenn aber Ernst zwischen uns steht, dann klingen frohe Botschaften oft wie Lügen. Im Folgenden teile ich einige Beobachtungen, die helfen sollen, sich von diesem gerade in der Kirche verbreiteten Auftritts-Ernst zu verabschieden. Stellen Sie sich vor: Sie haben eine gute, inspirierende Rede oder Predigt vorbereitet. Ihre Gemeinde hat gut gefrühstückt, sich auf dem Weg nicht gestritten, sie ärgern sich gerade über nichts, sind offen und neugierig. Optimale Bedingungen. Wenn Sie jetzt Ihre Rede ernst, nachdenklich, zurückhaltend, vermeintlich objektiv vortragen, dann hat die Gemeinde die Chance, sich 25 Prozent der Informationen zu merken. Wenn Sie dieselbe Predigt begeistert oder mit einem anderen Gefühl begleitet vortragen, ist es möglich, dass die Zuhörer:innen sich 45 Prozent der Information merken. Für mich ist das eine gute Nachricht, weil sie bedeutet: Ich muss kein Gefühl unterdrücken. Oder positiv gewendet: Ich darf Gefühle haben. Wenn Sie die Zuhörer:innen zum Lachen bringen, merken diese sich sogar die Hälfte und mehr. Wenn wir gemeinsam lachen, stirbt irgendwo ein Problem, sagt man. Es ist gleichwohl nicht sinnvoll, Begeisterung oder Freude zu spielen. Das erinnert dann an den Witz, in dem der Pfarrer nach Hause kommt und die Ehefrau sagt: »Ach Schatz, du musst nicht mehr lächeln, es ist keiner da.« Wenn Gefühle echt sind, unterstützen sie jede Aussage. Ernst ist also nicht nur langweilig, sondern auch ineffizient. In der Wirtschaft reicht dieses Argument aus, um Menschen dazu zu gewinnen, den Ernst abzulegen. In der Kirche muss ich weiter ausholen, weil viele bewusst oder unbewusst davon ausgehen, dass Ernst gottgewollt ist. Dieses Mindset basiert meiner Erfahrung nach auf diesen vier Fehleinschätzungen: 1. Durch Ernst entsteht Würde. 2. Ich bin nicht wichtig. Ich spreche für andere. Ich bin hier als Träger:in eines Amtes und nicht als Person.

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3. Der Tradition wohnt ein Geheimnis inne, dass ich nicht verstehen oder glauben muss, sondern das für sich selbst spricht. 4. Ich muss immer auch trösten. Es tut weder dem:der Liturg:in noch der Gemeinde gut, so zu denken, weil es Menschen klein und niedergeschlagen macht. Ich kann einem Menschen nicht begegnen, wenn er sich hinter einem Amt versteckt. Wenn Redner:innen aber offen, authentisch, lebendig und liebevoll sind, dann entsteht Vertrauen und Zuhörer:innen haben Lust, sich gedanklich und emotional mit ihnen auf die Reise zu begeben. Mit Ernst verbinde ich Nachdenklichkeit. Nachdenklichkeit ist kein Problem. Es ist sinnvoll, über Dinge nachzudenken, bevor man über sie spricht. Nachdenklichkeit wird zum Problem, wenn sie zur Haltung der Sprecher:innen wird. Versuchen Sie einmal laut und nachdenklich diese Sätze zu sprechen: »Der Herr ist auferstanden!«, »Und abermals sage ich euch: Freuet euch!« oder »Das Kind ward geheilt!«. Die Meisten machen dann vor Verben Pausen. Ich höre ein Problem. Die Botschaft kommt nicht rüber. Michael Meyer-Blanck, Vorsitzender der Liturgischen Konferenz der EKD, betont in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die trostspendende Spiritualität eines evangelischen Gottesdienstes: »Keine leere Fröhlichkeit, sondern eine spirituell gegründete. Fröhlich werde ich dann, wenn ich so mittelmäßig oder auch traurig leben kann, und sagen kann: Es ist trotzdem schön zu leben, angenommen zu sein, eine Perspektive zu haben. Ich werde fröhlich, trotz meiner Traurigkeit. Das ist ja gut evangelisch, was man mit Rechtfertigung, Erlösung, Heiligung beschreibt.« (Hollenbach 2019) Theolog:innen können wunderbar trösten. Ich bin genug für Gott, bin angenommen und geliebt. Viele Kirchensteuerzahler:innen wissen, dass sie in die Kirche gehen können, wenn es ihnen schlecht geht. Was aber, wenn es mir gut geht? Das ist in einem reichen Land wie Deutschland gar nicht so unrealistisch. Viele haben den Eindruck, dass in der Kirche so mit ihnen gesprochen wird, als sei gerade ein:e Angehörige:r gestorben. Betroffen, schwermütig und nachdenklich zu sprechen, ist sehr einfach, finde ich. Fröhlichkeit ist nicht leer, sondern kostbar, schnell verflogen und manchmal harte Arbeit. Fröhlichkeit ist die Voraussetzung für das, was Liturg:innen am Anfang versprechen, nämlich dass wir feiern. Im Folgenden skizziere ich, wie wir uns inhaltlich neu ausrichten können, um überzeugend und inspirierend zu reden. Anschließend stelle ich drei Strategien des Körpers vor, die mir helfen, in Feierlaune zu kommen. Mein Körper hilft mir dabei, mit Gott und den Menschen glücklich zu sein. Ich werde fröhlich und lasse den Zusatz von Meyer-Blanck »trotz meiner Traurigkeit« weg, weil sich Millionen von Menschen durch diesen Zusatz nicht angesprochen fühlen. Ernst und Orientierung auf Probleme machen Gottes­dienst und andere Feiern für viele unattraktiv. Fragen zur Reflexion a. Glaube ich, was ich sage? b. Kann ich hier echt feiern? c. Worüber können wir gemeinsam lachen? d. Warum machen wir das eigentlich? Was ist die Quelle meiner Inspiration?

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2 Wie Worte weiterhelfen Was rechtfertigt es, dass sich Ihre Zuhörer:innen für Sie Zeit nehmen? Redner:innen brauchen ein Geschenk. Seit 20 Jahren werden Reden ins Netz gestellt. Die Rede ist dadurch so populär wie noch nie. Wir können von dieser Entwicklung profitieren, weil Algorithmen genau berechnen können, wann Rede gut ankommt. Millionen Redner:innen haben pausenlos Milliarden Zuschauer:innen! Auf LinkedIn schreiben Vorstände neben ihren Namen, dass sie Redner:innen seien und nicht Betriebswirt:innen. In erfolgreichen Reden wird nicht mehr belehrt, sondern natürlich, authentisch, ehrlich und liebevoll gesprochen. Der wichtigste Grund für diese Renaissance der Rede war aber die Erkenntnis, dass es nicht interessant ist, wenn ich über ein Thema rede (Anderson 2017). Wenn ich über ein Thema rede, bin ich oft problemorientiert. Ich präsentiere Fakten, gebe ihnen aber keine Richtung. Wenn man mehrere solcher Reden hintereinander hört, stumpfen viele ab, weil sie mit der Information allein gelassen werden. Was ich rede, ist auch nicht deshalb schon interessant, weil ich einen Posten wie Dekan:in oder Bischöf:in habe, durch diese Vorstellung scheitert so manches Grußwort. Oft versuchen Redner:innen zu sagen, was ihr Publikum hören will, dabei kennen sie mich doch gar nicht. Wie wollen sie wissen, was mich interessiert? Wenn Sie etwas erzählen, was Ihnen persönlich wichtig ist, was Sie begeistert, ist die Wahrscheinlichkeit am größten, dass es auch für mich wichtig wird. Je persönlicher die Information, desto universeller wird die Botschaft. Ideen können richtungsgebende Denkansätze sein oder überraschende Handlungsratschläge, wohltuende Erkenntnisse, Visionen oder attraktive Ziele. Die Idee stellt sich den Fakten und denkt einen Ausweg. Mit einer Idee im Kopf präsentiere ich also kein Pro­ blem, sondern eine Lösung oder mache einen Vorschlag. Die gute Nachricht ist: Eine Idee reicht. Zu einer Idee gehören Sachverhalte, Welt­ anschau­ungen und in unserem Fall auch eine Form der Spiritualität. Darum ist eine Idee mehr als genug. Sie wollen mich im Laufe der Veranstaltung von Ihrer Idee überzeugen. Geben Sie mir und Ihrem Publikum Gründe, um sich für Ihr Thema zu interessieren. Machen Sie uns neugierig. Bauen Sie Ihre Idee Stück für Stück auf und benutzen Sie eine Sprache und ein Konzept, die Ihr Publikum verstehen kann. Schreiben Sie Ihre Idee so, dass sie es wert ist, geteilt zu werden. Formulieren Sie Ihre Idee in maximal 14 Worten. Schreiben Sie keine Überschrift, sondern versuchen Sie, in maximal 14 Worten alles zu sagen. Lesen Sie das einem:einer Freund:in vor. Fragen Sie ihn:sie, ob es ihn:sie neugierig macht. Kann die Idee etwas bewegen? Ist sie ein Geschenk? Diese Idee ist der rote Faden Ihrer Rede, Ihrer Predigt, Ihres Gottesdienstes, Ihres Grußworts. Sie möchten, dass die Gemeinde von Ihrer Idee überzeugt wird. Sie wollen ihnen Lust machen, mit Ihnen zu

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Nicht Themen interessieren die Zuhörer:innen, sondern (persönliche) Geschichten

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denken und zu handeln. Die Idee hilft auch bei der Gestaltung der Liturgie. Jeder liturgische Baustein hat dann die Funktion, Ihre Idee zu unterstützen. Der Vorteil der relativ kurzen Botschaft ist, dass die Prediger:innen immer wissen, worüber sie reden und dass die Gemeinde eine Chance hat, die Botschaft zu verstehen und in sich aufzunehmen Der Vorteil der relativ kurzen Idee ist, dass die Prediger:innen immer wissen, was das Gerüst ihrer Rede ist. So hat auch die Gemeinde eine Chance, den Gedankenbau nachzuvollziehen, ihn zu betrachten, sich hindurchzubewegen und eventuell eigene Wege oder Baustellen zu finden. Ich kann die Idee als Kraftquelle mit in die Woche nehmen. Vielleicht wird auch Sie diese Methode überraschen: Viele können lange frei reden, wenn sie sich auf eine Kernaussage beschränken. e. Was hat das Thema mit mir und meinem Glauben zu tun? f. Welches Problem soll hier gelöst werden? g. Was muss mein Publikum wissen, um die Idee zu verstehen?

Beispiele für Ideen: Es ist gar nicht so leicht, eine gute Botschaft zu finden, weil sowohl der:die Redner:in als auch das Publikum das Interesse nicht verlieren dürfen. Ideen leuchten nur gemeinsam. Hier ein paar Gottesdienstideen, dir mir geholfen haben: – Ich kann Gottes Segen schmecken. – Wir müssen das hier nicht allein machen. – Teilen ist multiplizieren. – Wer singt, betet doppelt. – Ich muss gar nicht auf den Tod warten. Ich kann heute auferstehen. – In der Angst spüre ich Gottes Nähe. Sie beschützt mich. Mein Favorit: Mein Glaube macht mich vielleicht nicht gesund, aber heile.

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3 Wenn mein Körper mein Freund wird Das niederländische Wort für Aufmerksamkeit heißt »Aandacht«. So eine Aandacht möchte ich mit Ihnen feiern. Eine Aandacht für den Körper. Mein Körper ist das Instrument, auf dem ich spiele. Wenn ich achtsam oder aufmerksam mit ihm umgehe, kann das mein Arbeiten, Denken und meine Aussage unterstützen. Seit 2007 sind bei Google und anderen internationalen Unternehmen Workshops für Arbeitnehmer:innen populär, die Mindfulness unterrichten. Mindfulness heißt, dass ich mir bewusst mache, dass ich im Hier und Jetzt bin. Ich erreiche das, indem ich entschleunige, bewusster handele oder meditiere. Die Wirkung dieser Trainings ist verblüffend, weil Mitarbeiter:innen glücklicher werden und effizienter arbeiten. Der daraus entstandene Gewinn ist berechenbar. Meiner Erfahrung nach entsteht Mindfulness auch durch ein gezieltes Training der Körpersprache. Erst versuchen wir gut zu stehen, um einen Standpunkt einnehmen zu können. Dann trainieren wir den Blick, damit das Publikum sich gemeint fühlt, und danach üben wir Gestik. Zum Beispiel helfen die Arme, bei der freien Rede Worte zu finden.

4 Einen Standpunkt einnehmen und ankommen Ich stelle meine Füße auf weiten Raum. Die Idee vom Stehen hat sich verändert. Wenn man sich Gemälde anschaut, findet man bis in das frühe 20. Jahrhundert kaum gebildete Bürger:innen oder Menschen von Stand, die das Gewicht auf beide Füße gleichzeitig geben. Das galt in Europa als primitiv. So malte man Bäuer:innen. Heute suchen wir genau diesen geerdeten Stand der Bäuer:innen, der afrikanischen Tänzer:innen und der tibetanischen Mönche. In Ratgebern für Führungskräfte gilt dieser Stand oft als der einzig Richtige. Wir sollten aber beim Körper nicht in Kategorien von Richtig und Falsch denken. Mich macht es glücklich, geerdet zu stehen, und es passt zu vielem, was ich mir im Gottesdienst wünsche. Im Gottesdienst stehen Liturg:innen viel. Wer denkt, dass Stehen Stillstand ist, fängt an zu schwanken wie ein Matrose im Sturm. Der Bewegungstherapeut Moshé Feldenkrais beschreibt das geerdete Stehen als eine Bewegung des Geistes. Fußsohle, Beine und Hüfte sind entspannt und schwer. Ein permanentes Loslassen. Dann stelle ich mir vor, dass mein Kopf nach oben gezogen wird. Kopf, Halswirbel, Arme, Brust und Bauch schweben. Ich kann mit den Beinen einen Standpunkt einnehmen und mit dem Oberkörper lebendig argumentieren. Manche Liturg:innen stellen die Füße vor dem Altar eng zusammen. Ich finde es schwer, so anzukommen. Darum stelle ich meine Füße auf weiten Raum. Ich nehme mir Zeit zum Ankommen. Wenn Sie sich eine stille Zeit für Gott am Altar erlauben, macht das die Gemeinde gedanklich auch. Seien Sie ruhig egoistisch und warten Sie, bis Sie angekommen sind. Die Beine sind schwer. Der Oberkörper ist leicht. Es fällt Ihnen ein Stein vom Herzen. Wer einmal geerdet ist, kann auch schnelle Gänge machen. Achten Sie darauf, dass nicht jeder Gang das gleiche Tempo hat. Wenn Sie beten, gehört der Gang zum Gebet. Wenn Sie gleich eine engagierte Predigt halten, dann müssen Sie da nicht langsam hingehen, das wirkt wie schlechtes Theater. Menschen hören nur drei Minuten lang zu, dann schweifen sie ab, oder sie müssen sich anstrengen. Auch Opernarien sind nicht viel länger. Alle drei Minuten brauche ich

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Bewusste Bewegung, bewusstes Stillstehen kann in einer Wechselbeziehung mit der Gedankenführung stehen und die Gemeinde gedanklich prägen

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ein neues Angebot. Darum braucht jede Rede Abwechslung. Eine einfache wirkungs­volle Abwechslung, die ich in der Rede machen kann, ist der Ortswechsel: Vielleicht lesen Sie einen Text am Pult, erzählen eine Geschichte in der Nähe der ersten Reihe und haben eine Offenbarung am Altar – alles in einer Predigt. In den Bewegungen lassen Sie 20 bis 30 Sekunden Musik spielen, so bleibt es dicht und die Gemeinde hält Aandacht mit ihrem Gedanken. Nehmen Sie sich Zeit nach jedem Ortswechsel, um anzukommen. Alle Redner:innen sind interessant, bevor sie anfangen zu sprechen. Schauen Sie möglichst wenig auf den Boden. Das sieht niedergeschlagen aus und macht unglücklich. Denke Sie sich: Da will ich hin oder noch besser … da wollte ich schon immer mal hin! Funfact: Der Blick auf den Boden führt dazu, dass man bei Treppen den Talar komisch raffen musst. Der neugierige Blick nach vorn kürzt den Rock um gute zehn Zentimeter.

5 Du bist der Grund, warum ich spreche »Du bist der Grund, warum ich spreche. Ich spreche von mir für dich.« Das ist oft der erste Satz in meinen Kursen. Wenn ich eine Rede halte, dann führe ich eine Gruppe von Menschen durch einen Moment. Dabei kann ich mich extrem einsam fühlen. Ich fühle mich einsam, weil ich das Gefühl habe, dass ich das alles hier ganz allein machen muss. Diese Einsamkeit kann Panik auslösen und auch so entsteht Lampenfieber. Kluge redegewandte Redner:innen wirken dann wie weggetreten. Sie müssen das hier aber gar nicht allein machen. Ein guter Vortrag ist keine One-Wo:man-Show, sondern ein kollektiver Denkraum. Eine Rede ist wie eine kleine Reise, auf die wir uns gemeinsam begeben. Wenn ich vortrage, dann gebe ich die Richtung an, aber Sie können selbst entscheiden, wie weit Sie mitgehen. Meist aber sitzt mein Publikum passiv da, und ich spüre nicht, ob es den Weg mitgeht. Darum ist Humor wichtig, weil ich beim Lachen erlebe, dass wir an einem Strang ziehen. Andere Rückmeldungen bekomme ich über die Blicke. Viele Menschen blicken, wenn sie nicht mehr weiterwissen, nach rechts oben oder links unten auf der Bühne. Dabei steht da gar nichts geschrieben, was weiterhilft. Meistens sage ich dann »Ähhm …«. Wenn ich mein Publikum direkt anschaue, dann wirke ich so, als ob ich genau weiß, was ich sage. In den Augen meines Publikums finde ich die Antworten auf meine Fragen. Ich spüre, was dran ist. Je länger und interessierter ich eine Person anschaue, desto überzeugender wird mein Vortrag. Ich entspanne mich und Sie fühlen sich gemeint. Viele Liturg:innen sind zugewandte und soziale Menschen, die es allen recht machen wollen. Deshalb wechseln sie beinahe im Sekundentakt die Blickrichtung und können so keine Beziehung aufbauen. Es gilt daher die Regel, dass man einen Gedanken lang bei einer Person bleibt und den nächsten Gedanken bei einer anderen. Erst ist sie der Grund, warum ich spreche, und dann er. Meine Aufmerksamkeit ist von Moment zu Moment auf die glückende Kommunikation mit einer Person konzentriert. Als ich anfing, Vortragende zu trainieren, schlug ich ihnen vor, ihr Publikum direkter anzuschauen. Das half vielen weiter. Andere schauten zwar Einzelne an, bauten aber keinen richtigen Blickkontakt auf. Dies kann das Publikum als abweisend oder hilflos interpretieren. Seit ein paar Jahren schlage ich daher vor, mit dem Publikum zu flirten, und das Resultat ist überwältigend. Als Redner:in zeige ich: Du bist mir wichtig! Du bist der Grund, warum ich spreche. Ich würde gern wissen, was du zu dem meinst, was ich sage.

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Genau diese Haltung hilft Redner:innen, weil ein Publikum nicht gern zuhört, wenn es das Gefühl hat, dass es nicht gemeint ist. Dieses Gefühl entsteht, wenn der Blick zu neutral ist. Tipps für einen guten Kontakt zum Publikum 1. Versuchen Sie, vor der Veranstaltung mit drei Menschen, die Ihnen sympathisch sind, Augenkontakt aufzunehmen. Sie können auch mit ihnen reden, aber das ist nicht zwingend nötig. 2. Sie nehmen diese drei als Fixpunkte im Publikum und teilen mit ihnen die ersten Gedanken. Sympathie ist meistens gegenseitig und die drei werden neugierig, interessiert zurückschauen. Das tut gut. 3. Jetzt öffnen Sie sich auch für andere und schenken Ihre Neugierde der ganzen Gemeinde. Verweilen Sie dabei lange genug bei einer Person. Ein Gedanke gehört einem Menschen. 4. Dadurch fühlen sich alle mehr angesprochen und können besser mitdenken.

6 Was mache ich bloß mit meinen Händen? Liturg:innen im Talar ohne Gestik wirken wie hilflose Wackeldackel auf einem schwarzen Sack. Reine Kopfmenschen. Nur mit dem Kopf kann ich mein Publikum aber nicht erreichen. Gestik macht Sprechen lebendiger. Bewegende Hände beim Sprechen erlösen die Gemeinde von der Monotonie. Redner:innen wirken entschlossener und ich höre plötzlich auch die Emotion, die hinter den Worten steht. Oft fühlt sich Gestik im Talar erst mal fremd an. »Fuchtel ich nicht viel zu wild rum?«, fragen viele. Im Training für den Fernsehgottesdienst des ZDF nehmen wir einen Trailer mit den Hauptamtlichen auf. In den Übungen davor ermutigen wir sie, ihrem Gefühl nach zu viel zu gestikulieren. Wenn sie sich dann in der Aufnahme sehen, sind viele erstaunt, dass es natürlich und angenehm lebendig wirkt, die Hände zu bewegen. Die Sprache wird dynamischer im Tempo und sie spielen mit der Lautstärke. Auf was muss ich bei der Gestik achten? Die gute Nachricht zuerst: Ihre Arme wollen sich bewegen. Man hat es Ihnen nur abtrainiert, weil wir in der Öffentlichkeit preußische Offiziere nachspielen. Gehen Sie mal mit Kolleg:innen etwas trinken und Sie werden sehen, dass deren Arme immer lebendiger werden beim Sprechen, weil sie sich nicht mehr kontrollieren. Wenn Sie nicht beten, versuchen Sie am besten, Ihre Hände nicht festzuhalten. Bauen Sie keine Mauer zum Publikum auf. Sie wollen Ihrem Gegenüber mit Ihren Worten begegnen. Offene Redner:innen treffen auf offene Ohren. Wenn Sie Ihre Arme länger unterhalb des Bauchnabels bewegen, wirkt das depressiv. Wenn Ihre Hände zu lange in Kopfhöhe sind – das passiert manchmal auf großen Kanzeln –, dann kann das verzweifelt wirken. Denken Sie sich keine Gesten aus. Wenn Sie beim Haus Gottes ein Kartenhaus in die Luft malen, dann wirkt das wie ferngesteuert. Lassen Sie Ihre Arme fließen und sprudeln wie Wasser, das nach der Schneeschmelze den Berg hinunterplätschert. Rede mit Gestik sieht nicht nur einfach besser aus. Aussagen werden deutlicher. Es entsteht ein Wortraum, in dem wir uns bewegen. Gestik hilft den Redner:innen auch, Worte zu finden. Das ist für mich die spannendste Entdeckung. Wenn Prediger:innen

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Denken Sie daran, dass Sie einen Körper haben, der gern Ihr Reden unterstützt

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probieren, frei zu sprechen, dann gelingt das viel leichter, wenn sie ihre Arme bewegen. Es muss eine Beziehung zwischen Gesten und Gedanken geben. Bewusster Einsatz von Körpersprache unterstützt meine Botschaft, aber ersetzt sie nicht. Mit einer guten Idee im Kopf kann ich leicht einen Standpunkt einnehmen, mit den Augen Beziehung aufbauen und die Arme fließen lassen. Bibeltext zum Thema Lukas 11,34–36 (Basisbibel)

Jesus spricht: 34 Die Lampe des Körpers ist dein Auge. Wenn dein Auge klar ist, ist dein ganzer Körper voller Licht. Ist es aber trübe, ist auch dein Körper voller Finsternis. 35 Achte deshalb darauf, dass das Licht in dir nicht Finsternis ist. 36 Wenn nun dein Körper ganz voller Licht und nichts an ihm finster ist: dann wird alles voller Licht sein – als ob eine Lampe dich hell erleuchtet.«

Autor Felix Ritter ist Coach, Trainer und Dramaturg und lebt in Amsterdam. Weitere Informationen unter www.felixritter.com und www.theauthentics.nl. Literatur Anderson, Chris: TED Talks. Die Kunst der öffentlichen Rede. Das offizielle Handbuch, Frankfurt a. M. 2017. Hollenbach, Michael: Gottesdienstbesuch / Die Sonntagsfrage, Deutschlandfunk, 24.09.2019. https://www. deutschlandfunk.de/gottesdienstbesuch-die-sonntagsfrage-100.html, abgerufen am 12.01.2022.

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Bilanzierung im Beruf Ernte und Ausblick Tilman Kingreen Î Was bedeutet »Bilanzierung« im Beruf? Î Welche Dimensionen gehören zu einer beruflichen Bilanzierung? Î Welche Haltung ist für eine berufliche Bilanzierung erforderlich?

1 Zur Aktualität des Themas Leitungsverantwortliche sind es gewohnt, die Arbeit von Mitarbeiter:innen zu fördern und kritisch zu begleiten. Nun verspüren sie den Wunsch, ihre eigene berufliche Entwicklung genauer zu betrachten. Doch welche Haltung braucht es und welche professionellen Instrumentarien stehen zur Verfügung, um sich als Führungskraft selbst zum Gegenstand beruflicher Entwicklungsfragen zu machen? Bilanzierung – dieser Begriff aus der Welt der Ökonomie löst bei diesem beruflichen Reflexionsformat einen besonderen Reiz aus: vielleicht, weil dieser Begriff sowohl an menschliche Grenzen erinnert als auch die Kategorien Effizienz und Zielstrebigkeit als Dimensionen beruflicher Entwicklung einzeichnet. Er trifft zudem einen zentralen Nerv heutigen Arbeitslebens: das Gefühl hoher Selbstverantwortung bei der Gestaltung einer Berufsbiografie. Vorgegebene Karrierewege gibt es immer weniger. Jede:r scheint seines:ihres eigenen Glückes Schmied zu sein. Das Kuratieren einer als singulär verstandenen Berufsbiografie wird als Umwelterwartung inzwischen an alle Berufe herangetragen.1 Worum geht es bei der beruflichen Bilanzierung? Es kann niemals die Biografie eines Menschen Bilanzierungsgegenstand sein. Es geht ausschließlich darum, den Ertrag beruflicher Wirksamkeit zu erfassen. Liegen etwa Ressourcen brach, die zu Kompetenzen weiterentwickelt werden können? Wurden umgekehrt bestimmte Erwartungen im Blick auf das, was man beruflich darstellen oder erreichen will, überstrapaziert und haben ein schleichendes Gefühl der Unzulänglichkeit entstehen lassen? Stimmen Soll und Haben? Stehen Motivation und Ertrag, Engagement und eingefahrene Früchte in einem guten Balanceverhältnis? Was ein Mensch geschafft hat, kommt ins Bild und wird mit dem abgeglichen, was er als seinen beruflichen Lebensauftrag versteht. In Abgrenzung zu Formaten, die der Resilienz oder der Balance von Privatem und Beruflichem dienen, verfolgt die berufliche Bilanzierung das Ziel, sich dem Ertrag und damit auch der Sinnstiftung beruflichen Wirkens zu nähern. »Investiere ich das Richtige an der richtigen Stelle? Und investiere ich das Richtige richtig?« Berufliche Bilanzierung versucht zwei Pole oder Perspektiven miteinander zu verschränken: Es geht um die richtige Passung und um daraus sich ableitende Veränderungsnotwendigkeiten. Es geht um den Beruf und der sich darin verwirklichenden Berufung. Vergangenheit und Zukunft, Plan und Ist, eigene Erwartungen und ihre Verwirklichung werden auf ihr Passungsverhältnis hin überprüft. 1 Zur Aktualität dieser durch den Soziologen Andreas Reckwitz eingeführten Kategorie im Raum der Kirche vgl. Cordemann 2021.

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Die Chance zur beruflichen Bilanzierung befördert eine Einstellung, die zum Handeln anregt, die Lust weckt, Ressourcen zu heben und die darum auch zu beruflichen Kurskorrekturen bereit ist. Es bewährt sich für Führungskräfte, ihre berufliche Bilanzierung zum einen ergebnis- und ertragsorientiert durchzuführen und dabei zugleich offen zu bleiben für überraschende und unerwartete Entwicklungsimpulse, deren Richtung vorher nicht bestimmbar sind. Seminare zur Frage beruflicher Bilanzierung erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Sie werden im Theologischen Studienseminar Pullach und an der Führungsakademie für Kirche und Diakonie in Berlin (fakd) von Führungskräften gezielt wahrgenommen. Zugleich können aber auch Fragen beruflicher Bilanzierung ihren Ort in der sehr persönlichen Selbstreflexion finden. Fragen zur Reflexion a. b. c. d. e.

Wo stehe ich gegenwärtig beruflich? Welche Aufgaben und Funktionen erfüllen mich mit Freude? Welche Potenziale liegen in mir noch brach? Habe ich ein erstes Bild von dem, was beruflich noch werden will? Was genau wartet bei mir auf Entwicklung im Beruf?

In der Zeit der Romantik versuchten Maler wie Philipp Otto Runge oder Caspar David Friedrich ein integratives Raumerleben ins Bild zu bringen, das dem bilanzierenden Bedürfnis und Verständnis von Leitungspersonen in Kirche und Diakonie in erstaunlicher Weise nahekommt. Dies könnte daran liegen, dass die Romantik eine an der Natur und ihrer Schönheit orientierte Rückwärtsbewegung als Teil einer wachstumsorientierten Vorwärtsbewegung des Menschen versteht und damit auf die Wahrnehmung und Entwicklung von Ressourcen ausgerichtet ist. Der Moment des Stehenbleibens, den die Romantiker:innen mit ihrer Einladung zur Naturbetrachtung emotional anstiftend ins Bild zu bringen vermögen, verhilft, nicht atemlos zu sein, sondern in sich selbst eine Zukunft zu erspüren. Führungskräfte sind es normalerweise gewohnt, anderen Ressourcen zuzuteilen und diese zu verwalten. Wenn aber plötzlich der Vorrat an den eigenen beruflichen Optionen und damit an erlebter beruflicher Zukunft schmilzt, suchen sie nach einer verantwortungsvollen Neuausrichtung auf der Basis dessen, was in ihnen angelegt ist, bisher noch unentdeckt blieb, aber nun im Werden begriffen ist. Hier setzt das Format beruflicher Bilanzierung an.

Caspar David Friedrich: Frau vor der unter­ gehenden Sonne, um 1818

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Bilanzierung im Beruf

2 Zum Grundverständnis beruflicher Bilanzierung Diese mit dem Rücken zur:zum Bildbetrachtenden in die Landschaft gestellte Rückenfigur im Werk von Caspar David Friedrich aus dem Jahr 1818 lässt offen, ob die als Frau dargestellte Person der auf- oder der untergehenden Sonne entgegensieht (vgl. Schnabel 2017). Der Horizont verschränkt Vergangenheit und Zukunft, ist einzig Licht. Die Person schaut ins Offene. Die betrachtende Perspektive folgt diesem Blick. Sie identifiziert sich dabei unmittelbar mit dem Standort der betrachteten Person und wird dadurch in eine Haltung gebracht, »als ob« sie diese Person wäre. In dieser Haltung kommt ein Grundverständnis zum Ausdruck, das für eine berufliche Bilanzierung wesensbestimmend ist. Es geht bei der Bilanzierung darum, der eigenen Deutungsperspektive konsequent zu folgen und sie nicht aus Sorge oder Skepsis zu minimieren oder zu relativieren. Vor diesem großen Horizont werden eigenen Deutungen gleichermaßen Vergangenheit und Zukunft, Bestätigung und Hoffnung zuerkannt. Es kommt zu einem wahrhaftigen inneren Überprüfen beruflicher Optionen. Dies stiftet Klarheit. Nur das, was einmal wirklich radikal zu Ende gedacht wurde, kann danach geläutert in nüchterne Handlungsideen transferiert werden. Sei es, dass Ideen endgültig verabschiedet oder dass sie konkret realisiert werden. Bleiben hingegen die eigenen Überlegungen zu den beruflichen Perspektiven immer wieder stecken und werden nicht konsequent zu Ende gedacht, kommt es zu einem Verharren im Raum unerfüllter Sehnsüchte. Statt Aufbruch oder Abschied entstehen Trauer und Resignation. Die Landschaft auf dem Bild von Caspar David Friedrich wirkt vor dem lichten Horizont nüchtern und karg, nicht fixierend, eher unbestimmt. Auch in der beruflichen Bilanzierung wird kaum nur der Nahbereich ausgeleuchtet, etwa das, was bisher bereits beruflich geschafft worden ist. Dies vermag nur Gegenwärtiges zu repräsentieren und würde es lediglich in die Zukunft verlängern. Berufliche Bilanzierung fragt vielmehr nach dem, was noch kommen will. Der Horizont bei Caspar David Friedrich, sei er durch die aufoder die untergehende Sonne bestrahlt, weitet den Blick für das noch nicht Ergriffene und lässt somit in der Dimension einer Super-Vision eine Re-Vision alles Bisherigen möglich werden mit dem Ziel, in eine realitätskonforme Vision für Zukünftiges zu gelangen. Auf dem Bild von Caspar David Friedrich endet der im Vordergrund liegende Weg. Blätter hindern am Weitergehen. Berufliche Bilanzierung stiftet eine vergleichbare Erfahrung. Sie verlangt, innezuhalten und bereit zu sein, alle bisherigen beruflichen Logiken und Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. f. g. h. i.

Was will ich bewirken mit meinem Können im Beruf? Welche Bilder leiten mich dabei? Wie sieht die Welt aus, die ich mitgestalten möchte? Gibt es Erwartungen, vor denen ich bislang weggelaufen bin? Was suche ich? Besser: Was sucht mich?

Sich diesen Fragen zu stellen, löst auch Verunsicherung aus. Bei der Rückenfigur auf dem Bild entsteht der Eindruck momentaner Haltlosigkeit. Berufliche Bilanzierungsfragen können punktuelle Verunsicherungen hervorrufen, indem sie berufliche Grundwahrheiten auf den Prüfstand stellen. In einer solchen Situation der Verunsicherung öffnet sich im Bild von Caspar David Friedrich eine vielgestaltige Landschaft vor dem sonnendurchfluteten blutroten Horizont. Dieser Horizont verspricht Wandel und Entwicklung. Er vermag, für Veränderliches zu begeistern und erzeugt dabei eine Haltung der Abenteuerlust. Berufliche Bilanzierung fördert diesen freien Blick und versucht, ihn zur Erfahrung zu bringen. Wie kann das gelingen?

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Bei Caspar David Friedrich ist es so, dass die Rückenfigur nicht zum Objekt wird. Sie wird zum Subjekt und sie verknüpft die Objektivität der Landschaft mit eigenen Deutungen und Bewertungen. Ihr Standort macht das Bild zu einem Schwellenbild. An diesem Scheidepunkt von Nähe und Ferne, von Rück- und Ausblick öffnet sich ein Raum der Ermöglichung, es tut sich eine Aussicht in eine verheißungsvolle Unbestimmtheit auf. Berufliche Bilanzierung führt über eine solche Schwelle. Sie hebt Potenziale und macht sie jenseits eingefahrener Wahrnehmungsroutinen erfahrbar. Bei der Bilanzierung gilt es in einem ersten Schritt die Vielfalt bisheriger beruflicher Stationen, Qualifikationen, gelebter wie auch bislang nicht gelebter Optionen, Hoffnungen und Erwartungen zu sichten. Eine Komplexität geglückter wie misslungener beruflicher Erfolge und Erfahrungen tut sich auf. In einer angstfreien Ruhe entstehen aber auch neue Bilder. Sie scheinen noch unklar, surreal. So öffnet sich ein Raum, der mit Bildern von Zukünftigem und den Erfahrungen des Gewesenen gefüllt ist. Aus beiden Dimensionen bildet sich ein Fokus heraus, der zu einem tieferen Verstehen der beruflichen Entwicklungslinien führt. Dabei verliert das Unwegsame an Starre. Es entsteht ein Prozess. Linien werden erkennbar. Die Fragen: »Wo stehe ich?« und »Was will werden?« sind bilanzierend offen gestellte Fragen. Sie suchen vor allem nach einer Richtung, in die alles weist, ohne dabei Ergebnisse und konkrete Ziele im Blick zu haben. Es geht um keine schnelle Fixierung, sondern um eine grundlegende berufliche Richtungsentscheidung. j. Welche Horizonte bestimmen meine beruflichen Überlegungen? k. Wo lassen sich diese Horizonte weiten? l. Wie organisiere ich mir Hilfe, um mir eine angstfreie Betrachtung meiner Erfahrungen zu ermöglichen? m. Wie kann ich Schwellensituationen identifizieren und als Chance nutzen, damit in meiner beruflichen Situation festgefahrene Erfahrungsmuster geweitet werden?

Vor diesem größeren Sinnhorizont wird nach der Essenz der Gaben gesucht, die sich bei der Bilanzierung der Begabungen herauskristallisieren. Dadurch kann etwas Grundlegendes sichtbar werden. Das verspricht einen Zugewinn an Autorität. Wem es gelingt, stärker aus der Essenz seiner beruflichen Gaben zu wirken, gewinnt an persönlicher Ausstrahlung. Bisherige Handlungslinien werden transparenter. Hinter dominanten Emotionen wie beruflichem Stolz, Zuversicht, Tatkraft oder auch Ärger, Neid und erlöschendem Elan tritt die berufliche Persönlichkeit hervor, die sich einer wissenden und offenen Betrachtung ihrer beruflichen Situation mit dem Ziel stellt, sich persönlichkeitskonform weiterzuentwickeln. Ein Kernprofil schält sich heraus, aus dem die berufliche Zukunft planvoll neu gestaltbar wird. Dies gelingt, wenn die Bewertungsinstanz nach Innen verlegt wird und sich nicht an den äußeren Normen beruflicher Karrierevorstellungen orientiert. Nicht Oktroyiertes soll das berufliche Selbstbild bestimmen, sondern aus einer neu gewonnenen Erfahrung von Einheit und Harmonie, die akzeptierend und durchschauend Potenzialität wahrnimmt, entsteht so etwas wie eine freundliche Offenheit gegenüber der beruflichen Grundrichtung, in die die eigene Zukunftskraft zieht. Viele beschreiben dies auch als ihre berufliche Mission, die als Grundrichtung orientierend wirkt und aus der heraus weitere Zukunftsüberlegungen neu justiert werden. Berufliche Bilanzierung will dazu beitragen, mehr zu der beruflichen Persönlichkeit zu werden, die diese Person selbst ist. Berufliche Bilanzierung will dabei nicht typisierend auf Unveränderliches festlegen. Sie versteht vielmehr die Person selbst als einen Prozess, der seine Richtung neu findet, auf die sich dieses berufliche Profil zu bewegt. Durch eine auf-

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Bilanzierung im Beruf

nahmebereite Haltung gegenüber allem Bestehenden sortieren sich für die Person innere und äußere Komplexitäten. So entsteht eine Basis, um bewusst und frei wählen zu können. Die Person erlebt sich selbst als Förder:in ihrer beruflichen Entwicklung.

3 Indikation und Arbeitsweisen beruflicher Bilanzierung Im Phasenmodell eines beruflichen Werdegangs nach Edgar Schein (Schein 2005) ist das Format der beruflichen Bilanzierung in den Phasen 7 bis 10 zu verorten. Phase 10Ruhestand Phase 9Loslösung Phase 8 Phase 7 Phase 6

Schwung erhalten Krise der mittleren Jahre Dauerhafte Zugehörigkeit

Phase 5Akzeptanz Phase 4

Grundausbildung und Sozialisation

Phase 3

Eintritt in das Berufsleben

Phase 2

Lernen und Berufsausbildung

Phase 1

Wachsen, Fantasieren, Erkennen

Eigene Darstellung nach: Schein 2005, S. 18

In Phase 7 sind Personen dauerhaft im Beruf angekommen, verfügen über eine Identifikations- sowie Repräsentationsbereitschaft im Blick auf ihre Organisation und betreten nun einen Raum, der nach Neuorientierung verlangt. Während Phase 7 nach prägnanten Arbeitsfeldern und einer Neuorientierung in Bezug auf das Kernprofil der Person sucht, folgt in Phase 8 eine Konzentrationsphase in den jeweiligen Arbeitsfeldern. Die Ränder eigener Wirksamkeitserwartungen werden schärfer gezogen, bevor schließlich in Phase 9 die Loslösung aus dem Beruf unter der Frage der Generativität in den Blick kommt. Das Geschaffene soll an die nächste Generation weitergegeben werden. Die Phasen 1 bis 6 beschreiben dagegen den Ausbildungsweg und den Einstieg in den Beruf bis zur Konsolidierung durch eine Festanstellung. In diesen ersten Phasen ist das Format beruflicher Bilanzierung noch nicht angezeigt. In seiner Arbeitsform orientiert sich die berufliche Bilanzierung an einem integrativen Modell. Es bringt lebensphasenspezifische Qualitäten ins Bewusstsein. Carl Gustav Jung versteht Altersstufen als Lebenswenden (vgl. Jung 1983, S. 164). Dieses Modell wurde von Ingrid Riedel (2013) ausführlich dargestellt und als Bild der Lebensuhr weiter entfaltet und schließlich von Cornelia von Velasco (2017) für die Coachingpraxis umgesetzt.

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Lebensphasen nach Cornelia von Velasco; aus: Bernd Schmid/Oliver König (Hg.): Train the Coach: Konzepte. Modelle und Theorien für die professionelle Weiterbildung von Coachs, Teamcoachs, Change-Agents, Organisationsentwicklern und Führungskräften, Bonn 2017, S. 77

Berufliche Bilanzierung arbeitet im Zeitflur der Lebensmitte. Mit diesem Begriff des Zeitflurs wird ein Blickwinkel eingenommen, der auf das Lebensalter fokussiert und die darin sich zeigende Qualität erfasst. Im Zeitflur der Lebensmitte entsteht eine Bilanzierungsstimmung, denn wir »können den Nachmittag des Lebens nicht nach demselben Programm leben wie den Morgen« (Jung 1983, S. 158). In der ersten Lebenshälfte sind die Energien nach außen gerichtet: die Welt kennenlernen, eine Existenz gründen, seinen Platz im Beruf finden. In der zweiten Lebenshälfte wird die Innenseite der Dinge mit Energie geladen. Es geht um Qualität, Sinn und darum, das beruflich Wesentliche zu entdecken. Erfahrungen und eigene Einschätzungen gewinnen dabei an Gewicht. Sie suchen nach einer gestaltenden Auswertung. In der Lebensmitte »wird das seelische Betriebssystem der ersten Lebenshälfte bei laufendem Betrieb umgebaut« (von Velasco 2017). Die Fähigkeit, sich dieser Aufgabe in der Lebensmitte zu stellen, wird als eine Qualität verstanden. Ihr Erwerb wird auch in den nächsten Lebensphasen benötigt, um berufliche Richtungsentscheidungen fällen zu können. So sind alle Qualitäten der vorlaufenden Lebensphasen für die berufliche Entwicklung weiter wichtig und werden in einem Bilanzierungskurs bewusst noch einmal gehoben, um sie im mentalen Handlungsspektrum verfügbar zu halten. Das gilt etwa für die im Zeitflur der 20er-Lebensjahre angesiedelte und dort ausgebildete Kompetenz, Erwartungen in Entscheidungen transformieren zu können. Oder die Erfahrung aus dem Zeitflur der 30er-Lebensjahre, die zeigen, wie es gelingt, Plätze einzunehmen und Spuren zu legen, um ein Gefühl der Unverwechselbarkeit auszubilden. Die Aktivierung dieser Qualitäten hilft beispielsweise, um dem Gefühl der Auswechselbarkeit und Beliebigkeit mit innerer Gestaltungskraft begegnen zu können. Bilanzierung hat immer etwas Ernüchterndes. Die grandiosen Entwürfe aus dem Zeitflur der 20er-Lebensjahre begegnen jetzt dem Mut des ernüchterten Menschen, der sich allerdings einen produktiven Zugang zu dieser Erfahrung von Grandiosität bewahren muss, um in der jetzigen Lebensphase die Energie aufzubringen, gezielt und nüchtern große berufliche Entwicklungsschritte anzugehen. Neu ist im Zeitflur der 50er-Lebensjahre, dass das Schattenhafte der anderen nicht mehr entwertet werden muss, um sich selbst zu positionieren. Berufliche Bilanzierung verleiht Einblick in die Qualitäten der jeweiligen Lebensphasen, hebt ihre Potenziale und Herausforderungen und leitet dazu an, dies mit den eigenen Lebenserfahrungen zu verknüpfen. Jede Lebensphase besitzt einen Grundauftrag, dem sich der Mensch stellen muss. Gerade der Zeitflur der 60er-Lebensjahre hat sich unter dem Titel »Die letzte Dekade gestalten« als eine beruflich entscheidende Phase herausgestellt, in der das Format der beruflichen Bilanzierung nachgefragt wird. Hier entsteht der Auftrag, auf immer weniger beruflichen Bühnen das Wesentliche zu leben und zu gestalten. Die Essenz lebenslanger

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Bilanzierung im Beruf

Erfahrungen will im Auftrag der Generativität bewahrt und weitergegeben werden. Berufliche Bilanzierung hilft, den generationsübergreifenden Transfer aktiv zu gestalten. Ein Bewusstsein von Qualität statt Quantität verhilft, der nachkommenden Generation Raum zu geben und dabei gleichzeitig selbst Wesentliches weiter darzustellen. Berufliche Bilanzierung fördert die Akzeptanz, dass es an uns selbst liegt, wie wir der jeweiligen Lebensphase entsprechend unsere berufliche Entwicklung gestalten. Jede Phase setzt der eigenen Entwicklung Grenzen und sie stellt Anforderungen, an denen die Person reift. Dieser nach Carl Gustav Jung archetypische Individuationsprozess schafft eine Orientierung und bietet eine Struktur, um das, was durch die Person im Beruf gestaltbar ist, gezielt anzunehmen. Mit ihrem Modell der »Wellenkarriere« hat Erika Regnet »Empfehlungen für ein demographiebewusstes Personalmanagement« entwickelt (Regnet 2014, S. 678), die eine Verschränkung beruflicher und persönlicher Entwicklung mit Aspekten von Fach- und Führungskarrieren flexibler und individueller versteht. Dieses Modell stimuliert Überlegungen zu neuen Karrieremodellen. Es steuert für die berufliche Bilanzierung Aspekte bei, die helfen, das erreichte Karriereplateau für eine sinnerfüllte berufliche Wirksamkeit in seinen Möglichkeiten weiter auszugestalten. Als ein »demographiebewusstes« Modell (Regnet 2014, S. 683) ist dies für die Bedürfnisse sowohl der älteren als auch gerade der jüngeren Generation sehr attraktiv (vgl. Bruch/Kunze/ Böhm 2010, S. 51–86). Als »Ressourcen und Gestaltungsmerkmale guter Arbeit« hat Sonja Höhn (2017, S. 24) mit dem »Kraftrad«-Modell ein hilfreiches Instrumentarium entwickelt, um »übergreifende Ressourcen« für die Selbststeuerung zu strukturieren. Mit diesem Modell lassen sich die Ergebnisse der beruflichen Bilanzierung nachhaltig sichern. »Kraftrad«-Modell nach Sonja Höhn; aus: Höhn, Sonja: Führung und Psyche. Früherkennung, Handlungsansätze, Selbstschutz. Zentrale Erkenntnisse zum Umgang mit psychischen Gefährdungen und Gefährdeten am Arbeitsplatz, 2. Aufl., Bonn 2017, S. 25

4 Selbstorganisation und Responsivität Mit diesem Verständnis beruflicher Bilanzierung wird die reflexive Steuerung des eigenen Lebens als eine personale Kompetenz gestärkt. Berufliche Bilanzierung fördert mit ihrer Explorationsdynamik die narrative Kohärenz beruflicher Wirksamkeit. n. Welche Narration trägt meinen bisherigen und zukünftigen beruflichen Weg? o. Welche Aufbrüche und Grenzerfahrungen verleihen dieser Berufsbiografie eine besondere Kraft? p. Welche gelebten Werte werden sichtbar? q. An welche Organisationsgeschichte knüpft diese Narration an und wie führt sie diese weiter?

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Doch nun gilt gerade für Führungskräfte auch die Erkenntnis aus der Sozial- und Wirtschaftspsychologie, »dass im Rahmen einer geradezu perfekt organisierten Lebensführung die kreative Erschließung von Bedürfnissen und Handlungspotentialen vernachlässigt wird. Deshalb müssen wir zusätzlich berücksichtigen, ob und in welcher Weise sich Personen zur Autonomie ihrer Lebensführung selbst wiederum autonom verhalten können« (Sichler 2006, S. 314). Vor diesem aus der Wirtschaftspsychologie eingetragenen Hintergrund ist es zum einen schlüssig, wenn die berufliche Bilanzierung ihren Fokus auf den Aspekt der individuellen Entfaltung eigener Potenziale legt, weil sie damit die berufliche Kreativität stimuliert. Zugleich richtet sich der kritische Blick aber auch auf die Chancen einer Umsetzung dieser neu gewonnenen personalen Kompetenz in den beruflichen Alltag, der oftmals durch Routinen, Muster und etablierte Arbeitsweisen bestimmt ist. r. s. t. u.

Welche Routinen tragen mein Bild beruflicher Wirksamkeit? Welche Routinen widersprechen diesem Bild? Wo öffnen sich Spielräume für eine kreative Weitung meiner beruflichen Praxis? Wie können diese Spielräume Teil meiner Alltagsroutine werden?

Wenn im Berufsleben alles »immer stärker auf den Fluchtpunkt des Individuums zusammengezogen und dort auch entschieden« (Sichler 2006, S. 7) wird, fordert Ralph Sichler die Ausbildung einer »Autonomietriade«, die diese »personale Autonomie« durch die »Autonomie der alltäglichen Lebensführung« mit der »Autonomie des gesellschaftlichen Systems (einschließlich ihrer Subsysteme)« verbindet (Sichler 2006, S. 314). Über den Begriff der »Responsivität« rückt Sichler (2006, S. 315–333) dabei auch den Aspekt der Verantwortung »vor einer Instanz, die nicht mit dem Adressaten identisch sein muss, gemäß bestimmter Kriterien« (S. 320) in den Blick. Er fordert, dass die Person »ihre Bedürfnisse und Antriebe vor dem Hintergrund übergeordneter Überzeugungen, Werte und Prinzipien evaluiert und transformiert« (Sichler 2006, S. 19). v. Vor welchen Referenzpunkten will mein Verständnis sinnstiftenden Wirkens im Beruf bestehen? w. Woher leiten sie sich ab? Worauf weisen sie hin? x. Stehe ich in einem lebendigen und responsiven Verhältnis zu diesen Referenzen?

Für Führungskräfte in Kirche und Diakonie ist dieser Aspekt der Responsivität von existenzieller Bedeutung. Die Repräsentanz für Responsivität differenziert sich dabei in einen inhaltlichen und einen strukturellen Aspekt. Auf der inhaltlichen Ebene stehen die Fragen nach den eigenen Werten und ihrem lebensgeschichtlichen Wandel, der theologischen Ethik und ihrer handlungssteuernden Kraft, wie etwa die Bindung an das Ordinationsversprechen, im Mittelpunkt. Auf struktureller Ebene sind es vor allem die Menschen, die im eigenen Verantwortungsbereich tätig sind, sowie Rahmensetzungen, wie etwa »Leitbilder«, die Organisationsziele strategisch bündeln, die in den Blick kommen. Das berufliche Bilanzierungsformat kann diese Responsivität ins Bewusstsein bringen. Der Aspekt der Lebensführung legt sich für eine vertiefende Weiterarbeit nahe. Da-

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Bilanzierung im Beruf

für eignet sich methodisch vor allem die szenische Darstellung des inneren kreativen Dialogs mit der Außenwelt. Dabei erweist sich das Modell des »Inneren Teams« (Schulz von Thun 2016, S. 79–136) für Führungskräfte als aussagekräftig, wenn die Dimension des »Hausherren« besonders herausgearbeitet wird (vgl. Hammers 2009). In der Hausherrenfunktion kommt die Aufgabe der inneren Leitung und Führung zur Darstellung. Wie steuert die Person ihren inneren Dialog, damit die neu entdeckten personalen Ressourcen mit den Alltagsroutinen verschränkt werden? Mit diesen weitergehenden Überlegungen wird die Autonomie der ganzen Lebensführung gestärkt.

Autor Tilman Kingreen, Pastor, Lehrsupervisor (DGfP) und Coach (GwG), ist Leiter der Arbeitsstelle für Personalberatung & Personalentwicklung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers sowie Studienleiter an der Führungsakademie für Kirche und Diakonie, Berlin. [email protected]

Literatur Bruch, Heike/Kunze, Florian/Böhm, Stephan: Generationen erfolgreich führen. Konzepte und Praxiserfahrungen zum Management des demographischen Wandels, Wiesbaden 2010, S. 51–86. Cordemann, Claas: Gestärktes Personal für die Kirche in einer Gesellschaft der Singularitäten. Agilität – Selbstwirksamkeit – Haltung, in: Wege zum Menschen 73/2021, S. 99–115. Hammers, Alwin J.: Der Hausherr und die Seinen. Ein personzentrierter Weg zur »inneren Weisheit«, in: Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 3/2009, S. 151–161. www.gwg-ev.org/fileadmin/ user_upload/Verlag___Shop/GwG-Verlag/ZS_3-09/GPB-3-2009-hammers.pdf, abgerufen am 01.04.2021. Höhn, Sonja: Führung und Psyche. Früherkennung, Handlungsansätze, Selbstschutz. Zentrale Erkenntnisse zum Umgang mit psychischen Gefährdungen und Gefährdeten am Arbeitsplatz, 2. Aufl., Bonn 2017. Jung, Carl Gustav: Die Lebenswende, in: Das C. G. Jung Lesebuch, ausgewählt von Franz Alt, Olten 1983, S. 144–164. Regnet, Erika: Ageing Workforce. Herausforderung für die Unternehmen, in: Lutz von Rosenstiel/Erika Regnet/Michel E. Domsch (Hg.): Führung von Mitarbeitern. Handbuch für erfolgreiches Personalmanagement, 7. Aufl., Stuttgart 2014, S. 686–698. Riedel, Ingrid: Träume. Wegweiser in neue Lebensphasen, Freiburg i. Br. 2013. Schein, Edgar: Karriereanker. Die verborgenen Muster in ihrer beruflichen Entwicklung, 10. Aufl., Frankfurt a. M. 2005. Schnabel, Norbert: Abenddämmerung oder Morgensonne? Caspar David Friedrichs Rückenfigur im Essener Museum Folkwang, 08.11.2017. http://syndrome-de-stendhal.blogspot.com/2017/11/abenddammerung-oder-morgensonne-caspar.html, abgerufen am 10.10.2021. Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden 3. Das »Innere Team« und situationsgerechte Kommunikation, 21. Aufl., Hamburg 2016, insb. S. 79–136. Sichler, Ralph: Autonomie in der Arbeitswelt (Psychologie und Beruf 6), Göttingen 2006. von Velasco, Cornelia: Lebensphasen, in: Bernd Schmid/Oliver König (Hg.): Train the Coach: Konzepte. Modelle und Theorien für die professionelle Weiterbildung von Coachs, Teamcoachs, Change-Agents, Organisationsentwicklern und Führungskräften, Bonn 2017, S. 70–80.

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Dienstrecht Ein Überblick Michael Ahme und Renate Schulze Î Auf welche Vorschriften kommt es für Ephoren im Spannungsfeld zwischen Dienstaufsicht und Seelsorge an? Î Welche Erfahrungen in der täglichen Beratung und Begleitung leitender Geistlicher der mittleren Ebene lassen sich weitergeben?

Pröpst:innen, Dekan:innen, Superintendent:innen oder Kreispfarrer:innen, kurz: Ephoren, üben den leitenden geistlichen Dienst in ihrem Kirchenkreis oder Dekanat aus (vgl. z. B. Art. 65 Abs. 1 Verfassung der Nordkirche). Um diese Aufgabe verantwortlich erfüllen zu können, sollten folgende Unterscheidungen und Anforderungen vor Augen sein: – Unterschied zwischen dienstaufsichtlichem Handeln und seelsorgerlicher Begleitung So heißt es in Art. 65 Abs. 4 Verf. Nordkirche bei den Aufgaben der Pröpst:innen: »8. sie führen die Dienstaufsicht über die Pastorinnen und Pastoren; 9. sie begleiten die Pastorinnen und Pastoren sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seelsorgerlich und tragen Sorge für die Personalentwicklung« – Wahrnehmung, Identifikation und Einordnung von Störungen; Kenntnis des dienstrechtlichen Handlungsinstrumentariums – Differenzierte Haltung gegenüber Pfarrer:innen, Ehrenamtlichen und Mitarbeiter:innen im eigenen Verantwortungsbereich – Einbettung des eigenen Handelns in das Geflecht der ebenfalls verantwortlichen Personen, Organe und Instanzen: Bischöf:innen, Kirchenkreisrat und -synode, Dezernate des Landeskirchenamtes Ähnliche Bestimmungen finden sich in den Kirchenverfassungen anderer Landeskirchen.

1 Unterscheidung von Dienstaufsicht und Seelsorge Eine Befragung aus jüngerer Zeit hat gezeigt, dass zwei Anforderungen von Ephoren als belastend bzw. unangenehm empfunden werden (vgl. Häder/Hermelink 2016, S. 28–29): a. Die Kommunikation von Planungen und Entscheidungen der landeskirchlichen Leitungsorgane an die Pfarrpersonen im eigenen Verantwortungsbereich. b. Die Bearbeitung von Konflikten mit einzelnen Pfarrpersonen oder in einem Pfarrteam. Im Umgang mit Konflikten sind Ephoren nicht frei, sondern an Vorgaben bzw. Pflichten gebunden

In unserem Zusammenhang sind die Einsichten wichtig, dass die Empfindungen hinsichtlich der unter a. genannten Anforderung vielleicht verständlich sein mögen, ein Ausweichen vor der Bearbeitung eines Konflikts (b.) jedoch Folgen auch für die eigene

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Dienstrecht

berufliche Existenz haben kann. Denn: Im Umgang mit Konflikten sind Ephoren nicht frei, sondern an Vorgaben bzw. Pflichten gebunden. Im Pfarrdienstgesetz der EKD (PfDG.EKD)1 heißt es: § 58 PfDG.EKD Dienstaufsicht »(1) 1Die Dienstaufsicht soll sicherstellen, dass Pfarrerinnen und Pfarrer ihre Pflichten ordnungsgemäß erfüllen. 2Sie umfasst auch die Aufgabe, Pfarrerinnen und Pfarrer in ihrem Dienst zu unterstützen und Konflikten rechtzeitig durch geeignete Maßnahmen im Sinne des § 26 Absatz 5 zu begegnen. (2) 1Die mit der Dienstaufsicht Beauftragten können dienstliche Anordnungen treffen. 2 Diese sind für die Pfarrerinnen und Pfarrer bindend. (3) Wer die Dienstaufsicht ausübt, hat darauf zu achten, dass das Handeln im Rahmen der Dienstaufsicht von der Seelsorge an Pfarrerinnen und Pfarrern unterschieden wird. (4) 1Die mit der Dienstaufsicht Beauftragten teilen der disziplinaraufsichtführenden Stelle gemäß § 6 Abs. 2 des Disziplinargesetzes der Evangelischen Kirche in Deutschland Anhaltspunkte, die den Verdacht einer Amtspflichtverletzung rechtfertigen, mit und unterstützen sie in Disziplinarangelegenheiten. 2Sie ziehen aus festgestellten Amtspflichtverletzungen die erforderlichen Konsequenzen zur Vermeidung vergleichbarer Pflichtverletzungen im jeweiligen Verantwortungsbereich.«

Von großer Bedeutung ist die in § 58 Abs. 4 Satz 1 PfDG.EKD ausgesprochene Pflicht: Die verantwortliche Leitungsperson ist gegenüber der »disziplinaraufsichtsführenden Stelle« (das ist die oberste kirchliche Verwaltungsbehörde) auskunftspflichtig, wenn ein Konflikt mit dem Verdacht auf eine Amtspflichtverletzung einhergeht. Diese Bestimmung hat weitreichende Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen der ephoralen Leitungsperson und den Pfarrpersonen im eigenen Verantwortungsbereich. Die seelsorgerliche Begleitung der Pfarrpersonen ist durch diese Bestimmung begrenzt (→ Kap. 23 Seel­sorge und Dienstvorgesetztenverhältnis). Sie verpflichtet die Leitungsperson, in einem Gespräch Grenzen zu markieren; ggf. muss auf die Bindung an die Mitteilungspflicht hingewiesen werden (weiterführend: Grimm/Lammer/Raatz 2020). Der Inhalt des § 58 Abs. 4 PfDG. EKD wird in § 6 Abs. 2 Disziplinargesetz der EKD (DG.EKD)2 aufgenommen. Die Mitteilungspflicht hat also einen hohen Rang. 1 Die zitierten rechtlichen Regelungen sind im frei zugänglichen Fachinformationssystem Kirchenrecht (FIS-Kirchenrecht, vgl. https://www.wbv.de/fis-kirchenrecht.html, abgerufen am 22.05.2022) bei den Regelungen der EKD (https://www.kirchenrecht-ekd.de/, abgerufen am 22.05.2022) oder bei der jeweiligen Gliedkirche der EKD, sofern im FIS-Kirchenrecht vertreten, abrufbar. 2 § 6 Abs. 2 DG.EKD: »(2) 1Alle vorgesetzten und aufsichtführenden Personen, Organe und Stellen einer Person im Geltungsbereich dieses Kirchengesetzes sind verpflichtet, der disziplinaraufsichtführenden Stelle Anhaltspunkte, die den Verdacht einer Amtspflichtverletzung rechtfertigen, mitzuteilen und sie in Disziplinarangelegenheiten zu unterstützen. 2Dasselbe gilt für a) die disziplinaraufsichtführende Stelle der Gliedkirche, in deren Bereich eine ordinierte Person ohne regelmäßigen Dienstauftrag im Sinne des § 4 Abs. 3 wohnt, b) die disziplinaraufsichtführende Stelle eines Nebenamtes gemäß § 5 sowie für Personen, Organe und Stellen, die im Rahmen des Nebenamtes Vorgesetzte oder Aufsichtführende sind, und c) die vorgesetzten und aufsichtführenden Personen, Organe und Stellen einer beurlaubten, freigestellten, abgeordneten oder zugewiesenen Person im Sinne des § 5 Abs. 3.«

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In diesem Zusammenhang sind zudem die einschlägigen Bestimmungen der Präventionsgesetze zu beachten, die eine Meldepflicht bei jedweder Form sexuell übergriffigen Handelns festlegen3 (→ Kap. 24 Sexualisierte Gewalt). Aus der Einsicht in diese Bestimmungen resultiert die Empfehlung, sich als dienstaufsichtsführende Person rechtzeitig mit der:dem Personalreferent:in im Landeskirchenamt auszutauschen. Damit wird der Mitteilungspflicht in einem ersten Schritt Genüge getan. Gemeinsam kann es dann zur Analyse und Einordnung des Vorfalls kommen. Die Rechte der betroffenen Pfarrperson werden dadurch nicht beschnitten. Ihr wird selbstverständlich zu gegebener Zeit die Möglichkeit der Anhörung und zur Stellungnahme gegeben. Zur Veranschaulichung sollen einige Themen genannt werden, die gelegentlich vorkommen und die dienstaufsichtliches Handeln erfordern: 1. Ausfälle infolge einer möglichen Suchterkrankung, 2. eine außereheliche Beziehung, 3. verbale Entgleisungen, z. B. in Form sexuell übergriffiger Sprache, 4. Teamkonflikte, die mit Lähmungen und Minderleistungen einhergehen, 5. Unklarheit im Umgang mit anvertrauten Finanzmitteln oder kirchlichen Immobilien bzw. Sachwerten, 6. Nichteinhaltung von Ordnungen, die z. B. für die Arbeit des Kirchengemeinderats oder Kirchenvorstands gelten.

2 Wahrnehmung, Identifikation und Einordnung von Störungen und adäquate Reaktionen Die im vorangegangenen Abschnitt genannten Beispiele bedürfen der Einordnung. Was steckt unter Umständen hinter dem jeweiligen Fehlverhalten? Ein Umgang mit »Genussmitteln«, der schon eine pathologische Qualität hat? Konflikte in Ehe und Familie? Ein Leiden an bzw. eine Unzufriedenheit mit den gegebenen Verhältnissen, z. B. der Dienstwohnung? Eine Teamkonstellation, die von nicht auszugleichenden Temperamentsunterschieden der Mitglieder negativ belastet wird? Im Austausch mit der:dem zuständigen Ansprechpartner:in in der Personalabteilung des Landeskirchenamts wird man zu einer gemeinsamen Deutung und Strategie kommen: Welches Maß an Intervention ist sinnvoll bzw. notwendig? Welches Instrumentarium steht der dienstaufsichtsführenden Person zur Verfügung? Hierzu bietet das Dienstrecht Möglichkeiten, Abhilfe oder Besserungen zu erreichen. Zum Katalog der Handlungsoptionen gehören die im Folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit dargelegten Maßnahmen: – Gespräch der ephoralen Leitungsperson mit der betreffenden Pfarrperson. Ein solches Gespräch sollte stets genutzt werden, um die größtmögliche Klarheit über den zugrunde liegenden Sachverhalt zu gewinnen. In einfachen Konstellationen mag schon ein Gespräch mit »Engelszungen« die Lösung sein. – Formelle Anhörung zu einem konkreten Sachverhalt, der der betreffenden Pfarrperson zuvor in der Regel schriftlich übermittelt worden ist. Eine solche mündliche oder schriftliche Anhörung erfolgt in der Regel durch das Landeskirchenamt zu Beginn eines formellen Verfahrens. Die diesbezügliche Stel-

3 Vgl. etwa § 6 Kirchengesetz zur Prävention und Intervention gegen sexualisierte Gewalt in der Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland; § 6 Abs. 4 Kirchengesetz zur Prävention, Intervention, Hilfe und Aufarbeitung im Hinblick auf sexualisierte Gewalt in der Ev.-Luth. Kirche in Bayern.

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Dienstrecht









lungnahme der Pfarrperson wird zur vom Landeskirchenamt geführten Personalakte genommen. Erlass einer dienstlichen Anordnung (§ 58 Abs. 2 PfDG.EKD). Zu den hier möglichen Gegenständen zählen z. B. die Anordnung einer Teamsupervision bei Konflikten zwischen den in einer Pfarrei oder Kirchengemeinde tätigen Pfarrer:innen oder die Anordnung, eine bestimmte Fortbildung zu machen. Die verbindliche Verabredung therapeutischer Maßnahmen kann mittels dienstlicher Anordnung dokumentiert werden. Ermahnung/Rüge: Eine Ermahnung oder Rüge bedeutet eine missbilligende Äußerung im Rahmen der Dienstaufsicht. Da sie in der Personalakte abgelegt wird, erfolgt sie durch die ephorale Leitungsperson nur nach Rücksprache mit den Zuständigen im Landeskirchenamt. Begrifflich abzugrenzen ist die Ermahnung von einem Verweis, mit dem als schriftlicher Tadel eines bestimmten Verhaltens und mildeste Disziplinarmaßnahme gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1, § 10 DG.EKD ein Disziplinarverfahren enden kann. Personalgespräch der:des Personalverantwortlichen im Landeskirchenamt mit der Pfarrperson. In einem solchen Gespräch kann auch die Option eines Stellenwechsels besprochen werden, um einen Neuanfang an anderem Ort zu ermöglichen, einen Konflikt zu vermeiden oder zu beenden. Denn Pfarrer:innen können gemäß § 79 Abs. 2 Satz 1 PfDG. EKD um der Unabhängigkeit der Verkündigung willen nur versetzt werden, wenn sie sich um die andere Verwendung bewerben oder der Versetzung zustimmen oder wenn ein besonderes kirchliches Interesse an der Versetzung besteht. Ein besonderes kirchliches Interesse liegt gemäß § 79 Abs. 2 Satz 2 PfDG.EKD insbesondere (also keine abschließende Aufzählung) vor, wenn 1. die befristete Übertragung einer Stelle oder eines Auftrages im Sinne des § 25 PfDG. EKD endet, 2. die Wahrnehmung eines Aufsichtsamtes endet, das mit der bisherigen Stelle oder dem bisherigen Auftrag im Sinne des § 25 PfDG.EKD verbunden ist, 3. aufgrund verbindlich beschlossener Stellenplanung ihre Stelle aufgehoben wird, unbesetzt sein oder einen anderen Dienstumfang erhalten soll, oder wenn ihr Dienstbereich neu geordnet wird, 4. es zur Sicherung einer ordnungsgemäßen Gesamtbesetzung der Stellen im Bereich ihres Dienstherrn notwendig ist, 5. in ihrer bisherigen Stelle oder ihrem bisherigen Auftrag eine nachhaltige Störung in der Wahrnehmung des Dienstes gemäß § 80 Abs. 1 und 2 PfDG.EKD festgestellt wird, 6. sie wegen ihres Gesundheitszustandes in der Ausübung ihres bisherigen Dienstes wesentlich beeinträchtigt sind. Feststellung der nachhaltigen Störung: Eine nachhaltige Störung in der Wahrnehmung des Dienstes im Sinne des § 79 Abs. 2 Satz  2 Nummer  5 PfDG.EKD liegt gemäß § 80 Abs. 1 Satz  1 PfDG.EKD vor, wenn die Erfüllung der dienstlichen oder der gemeindlichen Aufgaben nicht mehr gewährleistet ist. Das ist insbesondere der Fall, wenn das Verhältnis zwischen der Pfarrperson und nicht unbeträchtlichen Teilen der Gemeinde zerrüttet ist oder das Vertrauensverhältnis zwischen der Pfarrperson und dem Vertretungsorgan der Gemeinde zerstört ist und nicht erkennbar ist, dass das Vertretungsorgan rechtsmissbräuchlich handelt. Ist ein Konfliktgeschehen trotz Einsatzes geeigneter Mittel wie Dienst- und Gemeindeaufsicht, Visitation, Mediation, Gemeindeberatung oder Supervision derart weit fortgeschritten, dass eine Lösung des Konflikts nicht erreichbar erscheint, bleibt dem Landeskirchenamt regelmäßig nur die Durchführung des Verfahrens der nachhal-

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tigen Störung, um die Pfarrperson versetzen zu können. Denn die Kirchengemeinde kann naturgemäß nicht an einen anderen Ort verpflanzt werden. Dass die Gründe für die nachhaltige Störung nicht im Verhalten oder in der Person der Pfarrperson liegen müssen (§ 80 Abs. 1 Satz 3 PfDG.EKD) und es gerade nicht um den Nachweis von Schuld geht, ist den Beteiligten in diesem Stadium eines Konflikts allerdings oft nicht mehr einsichtig zu machen. – Vorläufige Untersagung der Dienstausübung: Pfarrer:innen kann die Ausübung des Dienstes gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 PfDG.EKD aus wichtigen dienstlichen Interessen ganz oder teilweise untersagt werden. Wer für diese Entscheidung zuständig ist, regeln die gliedkirchlichen Ergänzungs- oder Ausführungsgesetze zum PfDG.EKD unterschiedlich. In der Ev.-Luth. Kirche in Bayern kann das Verbot der Dienstausübung in dringenden Fällen durch die ephorale Person ausgesprochen werden, bedarf aber der Bestätigung durch den Landeskirchenrat (vgl. § 24 Abs. 2 und 3 Pfarrdienstausführungsgesetz). – Eröffnung eines Disziplinarverfahrens durch die disziplinaraufsichtführende Stelle: Liegen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vor, die den Verdacht einer Amtspflichtverletzung begründen, so ist die disziplinaraufsichtführende Stelle gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 DG.EKD verpflichtet, ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Solche Verfahren führt die oberste kirchliche Verwaltungsbehörde. Sie liegen nicht bei der die Dienstaufsicht innehabenden Person. Letztere ist gemäß § 6 Abs. 2 DG.EKD nur verpflichtet, Anhaltspunkte, die den Verdacht einer Amtspflichtverletzung rechtfertigen, mitzuteilen und die disziplinaraufsichtführende Stelle in Disziplinarangelegenheiten zu unterstützen.

3 Einbettung des eigenen Handelns in das Geflecht der ebenfalls verantwortlichen Personen, Organe und Instanzen Die vorangegangenen Abschnitte haben deutlich gemacht, dass dienstaufsichtliches Handeln sich in der Regel nicht isoliert vollzieht. Ephorale Praxis entfaltet sich in einem Geflecht. Jede ephorale Leitungsperson sollte sich im Klaren darüber sein, unter wessen Dienstaufsicht sie steht. Dies ist in den Gliedkirchen der EKD unterschiedlich geregelt: In manchen Landeskirchen führt der:die (Regional-)Bischöf:in die Dienstaufsicht über die Mitglieder der mittleren Leitungsebene, in anderen obliegt dies dem:der Personaldezernent:in im Landeskirchenamt. Jede:r muss klären, über welche Themen er:sie mit wem spricht. Personalangelegenheiten der Pfarrpersonen sind dem Strang ephorale Leitungsperson/Landeskirchenamt – Bischöf:in zuzuordnen. Kirchengemeinderäte bzw. Kirchenkreisräte haben mit dem Dienst der Ordinierten und der Aufsicht über diese direkt nichts zu tun. Dennoch gibt es Berührungspunkte, deren Relevanz sich alle Ephoren klarmachen sollten: Mitglieder von Kirchengemeinderäten bzw. Kirchenvorständen sitzen teilweise wieder in der Kirchenkreis- bzw. Dekanatssynode und vielleicht sogar im Kirchenkreisrat bzw. Dekanatsausschuss. Die ephorale Leitungsperson ist in diesen Gremien auf die konstruktive Zusammenarbeit mit den Ehrenamtlichen angewiesen. Unter Umständen ist sie – je nach gliedkirchlicher Regelung des Stellenbesetzungsverfahrens – nach Ablauf einer Berufungsperiode im Falle einer Wiederwahl auf ihre Stimme angewiesen. Dieses Beziehungsgeflecht darf sich nicht auf das dienstaufsichtliche Handeln gegenüber einzelnen Pfarrpersonen auswirken. Die Qualität der Gemeinschaft der Pfarrer:innen im Pfarrkonvent und der Beziehung zwischen ihnen und der ephoralen Leitungsperson hängen wesentlich von der guten Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen ephoraler Person und ehrenamtlichen Leitungskräften ab. Mangelnde Sensibilität oder gar defizitäre Loyalität gegenüber den Pfarrer:innen können zu destruktiven Verkrampfungen führen.

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4 Begleitung Eine der vornehmsten Aufgaben ephoralen Leitungshandelns ist die (Für-)Sorge für möglichst gute Arbeitsbedingungen der Pfarrpersonen. Eine Quelle vielfachen Unbills sind die Residenz- und die Dienstwohnungspflicht. Das Leben der Pfarrperson mit ihrer Familie in einem Pfarrhaus hat bis heute aus der protestantischen Tradition heraus eine ekklesiale Qualität und eine rechtliche Begründung. In § 38 PfDG.EKD heißt es: § 38 Residenzpflicht, Dienstwohnung »(1) 1Gemeindepfarrerinnen und Gemeindepfarrer sind verpflichtet, am Dienstsitz zu wohnen. 2Eine für sie bestimmte Dienstwohnung haben sie zu beziehen. 3Ausnahmen können in besonders begründeten Fällen genehmigt werden. (2) 1Pfarrerinnen und Pfarrer mit einer allgemeinen kirchlichen Stelle oder einem allgemeinen kirchlichen Auftrag oder in einem kirchenleitenden Amt haben ihre Wohnung so zu nehmen, dass sie in der ordnungsgemäßen Wahrnehmung ihres Dienstes nicht beeinträchtigt werden. 2Sie können angewiesen werden, eine Dienstwohnung zu beziehen.«

Die Gliedkirchen der EKD haben zwar in ihren Ergänzungs- oder Ausführungsgesetzen manche Variation eingeführt, aber im Grundsatz gilt EKD-weit die Residenz- und Dienstwohnungspflicht. In städtischen Ballungsräumen wird ihre bleibende Sinnhaftigkeit zwar öfter hinterfragt, aber eine Tendenz zu einer breiten Abkehr zeichnet sich nicht ab. Der starke Anstieg der Immobilienpreise in den zurückliegenden Jahren hat vielmehr dazu geführt, dass vermehrt von einem Dienstwohnungsrecht gesprochen wird. Pfarrstellen in städtischen Räumen ließen sich nicht mehr besetzen, wenn nicht eine angemessene Dienstwohnung gestellt würde. Nun ist es fast überall so, dass die Pfarrhäuser sich im Besitz der Kirchengemeinden befinden und diese für deren Ausstattung und Zustand verantwortlich sind. Hier geht es um Geld und häufig schnell um Neid oder die Unterstellung einer unangemessenen Anspruchshaltung. Ephorale Aufmerksamkeit auf diesem Feld zahlt sich aus. Für eine Kultur der Angemessenheit des Wohnens und Lebens im Pfarrhaus zu sorgen, minimiert Konflikte und steigert die Arbeitszufriedenheit. In allen Gliedkirchen der EKD vollziehen sich in den 2020er-Jahren erhebliche Pensionierungsschübe. Die Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge treten in den Ruhestand, und die Gesamtzahl der im aktiven Dienst befindlichen Pfarrpersonen wird überall im Schnitt um ein Drittel sinken. Das ist ein facettenreicher Veränderungsprozess, der in allen Landessynoden diskutiert und gestaltet wird. Die kirchenpolitischen Entscheidungen werden vor allem von den Pfarrer:innen der jüngeren und mittleren Generation aufmerksam beobachtet. Die Sorge vor einer sich vergrößernden Arbeitslast steigt. Aufgabe der Ephoren ist angesichts dieser Situation, für Neuordnungen und verlässliche Absprachen z. B. durch das Aushandeln von Dienstvereinbarungen bzw. Dienstordnungen zu sorgen. Visitationen bieten die Möglichkeit, mit Kirchengemeinderäten bzw. Kirchenvorständen darüber zu sprechen, was von einer kleineren Zahl an Pfarrer:innen noch zu erwarten ist und was eben nicht mehr. Ephoren führen mit ihren Pastor:innen in verlässlichem Rhythmus Jahresgespräche. In diesen wird das Thema der Arbeitszufriedenheit eine besondere Rolle spielen. Eine

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besondere Aufmerksamkeit sollte dabei auch die Bestimmung des »regelmäßigen Stellenwechsels« spielen, dem das Pfarrdienstgesetz der EKD eine besondere Bestimmung gewidmet hat: § 81 PfDG.EKD Regelmäßiger Stellenwechsel »Die Evangelische Kirche in Deutschland, die Gliedkirchen und gliedkirchlichen Zusammenschlüsse können durch Kirchengesetz ein besonderes Verfahren regeln, nach dem Gemeindepfarrerinnen und Gemeindepfarrer (§ 27), die mindestens zehn Jahre in derselben Gemeinde tätig sind und das 57. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, versetzt werden können.«

Zu dieser Bestimmung gibt es im Pfarrdienstgesetzergänzungsgesetz der VELKD4 sowie in gliedkirchlichen Ergänzungs- und Ausführungsgesetzen – mit einzelnen Ausnahmen wie in der Ev. Landeskirche in Württemberg und derjenigen von Westfalen – weitere Regelungen. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass ephorale Begleitung immer auch den Aspekt der individuellen Personalentwicklung im Blick hat. Mit den Pfarrpersonen sollte bei diesen Gelegenheiten darüber gesprochen werden, wo sie sich in fünf oder zehn Jahren sehen bzw. welche Station oder welches Ziel sie zu erreichen hoffen. Dazu gehört dann die Klärung, welche Fortbildungen sinnvoll wären und welche Optionen es gibt, vielleicht auch die Inhaberschaft als »exotisch« empfundener Stellen anzustreben (z. B. eine Stelle bei der Bundespolizeiseelsorge). Ephorale Begleitung hat immer auch die individuelle Personal­entwicklung im Blick

Natürlich muss nicht jede ephorale Person alle Optionen kennen; aber sie sollte rechtzeitig Beratungsgespräche mit den zuständigen Personen oder Einrichtungen der jeweiligen Landeskirche vermitteln. Durch den starken Personalrückgang der kommenden Jahre steigern sich die »Bewegungsmöglichkeiten«. Eine im Vergleich zu den letzten zwanzig Jahren bessere Kultur des Stellenwechsels hat in den kommenden Jahren eine echte Chance. Ein frühzeitiges Sprechen über reizvolle Veränderungen minimiert die Gefahr von Verhärtungen oder Innovationsschwächen. Denn es gibt natürlich auch ein »Zuspät«. Das kann langfristig negative Folgen für die Person, eine Kirchengemeinde und eine ganze Region haben. Der Wortlaut des § 81 PfDG.EKD lässt vermuten, es gebe eine praktikable Möglichkeit der Versetzung. Tatsächlich ist das Recht dahingehend schwach ausgeprägt. Stellenwechsel funktionieren mehr oder weniger nur auf der Basis von Freiwilligkeit. Deshalb hat die frühzeitige und sich regelmäßig vollziehende Beratung hinsichtlich der individuellen Personalentwicklung ihre besondere Bedeutung. 4 § 7 PfDGErgG.VELKD (zu § 81 PfDG.EKD): »(1) 1Gemeindepfarrer und Gemeindepfarrerinnen, die eine Stelle innehaben, können auf Antrag versetzt werden, wenn sie mindestens zehn Jahre in derselben Gemeinde tätig sind und das 57. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. 2Einen Antrag auf Einleitung des Versetzungsverfahrens können das für die Besetzung der Stelle zuständige Leitungsorgan der Gemeinde und der Visitator oder die Visitatorin stellen. 3Das Versetzungsverfahren kann auch von Amts wegen eingeleitet werden, soweit das gliedkirchliche Recht dieses vorsieht. (2) 1Wird nicht innerhalb einer Entscheidungsfrist von drei Monaten nach Ablauf der Frist gemäß Absatz 1 Satz 1 ein Versetzungsverfahren eingeleitet, kann ein erneutes Versetzungsverfahren erst nach Ablauf einer weiteren Frist von mindestens fünf Jahren eingeleitet werden. 2Das Recht der Gliedkirchen kann den Beginn der Entscheidungsfrist nach Satz 1 an besondere Verfahrensvoraussetzungen knüpfen. (3) 1Die Frist gemäß Absatz 1 beginnt mit der Übertragung der Stelle. 2Neuordnungen des mit der Stelle verbundenen Dienstbereichs (§ 27 Abs. 1 PfDG.EKD) bleiben für die Berechnung der Fristen nach Absatz 1 und 2 unberücksichtigt. (4) Das Nähere zu den Voraussetzungen und zum Verfahren einer Versetzung können die Vereinigte Kirche und die Gliedkirchen je für ihren Bereich regeln.«

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Dienstrecht

Tritt der negative Fall ein, dass ein Verbleiben eines:einer Stelleninhabenden in einer Gemeinde nicht mehr tolerabel ist, bietet das Recht in manchen Gliedkirchen der EKD dem Kirchengemeinderat im Rahmen des sogenannten »10-Jahres-Gesprächs« die Möglichkeit, die Pfarrperson aufzufordern, sich auf eine andere Stelle zu bewerben.5 So bestimmt beispielsweise das Pfarrdienstgesetzergänzungsgesetz der Nordkirche: § 31 PfDGErgG Regelmäßiger Stellenwechsel (zu § 81 PfDG.EKD, § 7 PfDGErgG.VELKD) »(1) Bei Gemeindepastorinnen und Gemeindepastoren, denen unbefristet eine Pfarrstelle übertragen wurde und die das 57. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, wird zehn Jahre nach Übertragung der Pfarrstelle beraten, ob der Dienst weiter in der bisherigen Stelle fortgesetzt oder ob ein Versetzungsverfahren eingeleitet werden soll. (2) 1Sechs Monate vor Ablauf der Frist nach Absatz 1 weist das Landeskirchenamt die Pastorin bzw. den Pastor, die zuständige Pröpstin bzw. den zuständigen Propst und den Kirchengemeinderat bzw. Verbandsvorstand auf die Möglichkeit der Versetzung hin. 2Der Kirchengemeinderat bzw. Verbandsvorstand berät unter dem Vorsitz der zuständigen Pröpstin bzw. des zuständigen Propstes und in Gegenwart der Pastorin bzw. des Pastors über die gemeinsame Arbeit. 3Die Erörterung des Ergebnisses dieser Beratung findet in Abwesenheit der Pastorin bzw. des Pastors statt. 4Der Kirchengemeinderat bzw. Verbandsvorstand kann in geheimer Abstimmung einen Antrag auf Einleitung eines Versetzungsverfahrens beschließen. 5Dieser Beschluss bedarf der Mehrheit von zwei Dritteln der zum Zeitpunkt des Beschlusses dem Kirchengemeinderat bzw. Verbandsvorstand angehörenden Mitglieder und des Einvernehmens der zuständigen Pröpstin bzw. des zuständigen Propstes.«

Diese Bestimmung ist ein durchaus »scharfes Schwert«. In der Praxis ist es so, dass bei einer Zerrüttung des Verhältnisses zwischen einem:einer Stelleninhaber:in und dem Kirchengemeinderat schon ein Jahr vor dem sogenannten »10-Jahres-Gespräch« ein Sig­ nal gegeben wird, die Zusammenarbeit nicht für einen weiteren 10-Jahres-Zeitraum zu verlängern. In so einem Fall hat die betreffende Pfarrperson ein Jahr Zeit, Bewerbungs­ aktivitäten zu entfalten. Bleiben diese erfolglos, haben die Landeskirchen oft über das In­strument der Versetzung auf eine besondere Stelle die Möglichkeit, der Pfarrperson einen Auftrag für einen Dienst an einem anderen Ort zu erteilen. Damit verlässt ein:e Pfarrer:in den Dienstaufsichtsbereich des:der bisher zuständigen Propsts:Pröpstin. Das Landeskirchenamt übernimmt dann die Begleitung und sorgt im negativen Fall nach Ablauf einer gewissen Frist für die Versetzung in den Wartestand (§§ 83–86 PfDG.EKD). Dass eine derartige Eskalationsstufe selten erreicht wird, liegt an der bei guter Abstimmung mit den Zuständigen im Landeskirchenamt in aller Regel gelingenden Personalbegleitung der Ephoren.

5 In der Ev.-Luth. Kirche in Bayern hat der Kirchenvorstand nach 15 Jahren diese Möglichkeit (vgl. § 35 Abs. 3 Satz 1 Pfarrdienstausführungsgesetz).

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Michael Ahme und Renate Schulze

Autor:innen Dr. theol. Michael Ahme, Oberkirchenrat, war bis zum 1. März 2022 Personalreferent im Dezernat Dienst der Pastorinnen und Pastoren im Landeskirchenamt Kiel. Dr. iur. Renate Schulze ist Kirchenrechtsdirektorin im Referat Dienstrechtliche Neben­ gebiete sowie stellvertretende Leiterin der Personalabteilung im Landeskirchenamt München.

Literatur Grimm, Angela/Lammer, Kerstin/Raatz, Georg (Hg.): Self-Management in role? Seelsorge und Dienstvorgesetztenverhältnis. Texte aus der VELKD Nr. 185/2020, Hannover 2020. Häder, Michael/Hermelink, Jan: Wie konfliktträchtig ist das ephorale Leitungsamt?, in: Erfahrung – Entscheidung – Verantwortung. Auswertung der Befragung der mittleren Leitungsebene in der Evangelischen Kirche in Deutschland. TU Dresden, Gemeindeakademie Rummelsberg und Universität Göttingen 2016, S. 26–29.

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Digitalisierung Vernetzung gestalten Christina Costanza Î Was bedeutet der digitale Wandel in Gesellschaft und Kirche für die Kommunikation des Evangeliums? Î Vor welche Herausforderungen ist das kircheneitende Handeln im digitalen Raum gestellt? Welche Chancen zur Gestaltung gibt es? Î Wo finde ich Praxisleitfäden, Anregungen, Hilfsmittel im Internet? Die Links in diesem Text finden Sie hier: https://führen-leiten-kirche.de/digital/1

1 Kirche im digitalen Raum: Orientierungspunkte für eine Erkundung im eigenen Kontext Die Krisenjahre 2020/2021 haben für den Digitalisierungsprozess in der Gesellschaft einen Schub bedeutet – das gilt auch für die Kirche. Auffallend ist die starke Zunahme von Verkündigungsformaten im Internet und die wachsende Präsenz von kirchlichen Mitarbeiter:innen in Social Media. Weniger sichtbar und doch von zunehmender Bedeutung sind Unterricht und Seelsorge sowie Vernetzung und Zusammenarbeit mithilfe digitaler Kommunikationsmittel. Was in Sozialen Medien wie Instagram als #digitalekirche bezeichnet wird, entwickelt sich über diese besonderen Plattformen hinaus: Kommunikation des Evangeliums im digitalen Raum, in den verschiedenen Facetten von A wie Austausch über F wie Feiern und I wie Inspiration bis hin zu Z wie Zusammenarbeit. Die soziokulturellen und medialen Veränderungen im Zusammenhang mit Digitalisierung verändern sowohl die Praxis als auch die Theorie kirchenleitenden Handelns. In diesem Text verzahne ich deshalb konkrete Beobachtungen, Hinweise zur kirchenleitenden Praxis und theoretische Reflexionen. Dabei bringt der sogenannte Digitalisierungsschub in der Kirche mit sich, dass das hier bearbeitete Feld in der allgemeinen Wahrnehmung von einem Nebenschauplatz, dessen Besprechung vor 2020 häufig begründungspflichtig war, zu einem Feld geworden ist, welches die Realität der Kirche in der Welt im Ganzen umfasst. Einschätzungen der Digitalisierung polarisieren derzeit häufig. Auf der einen Seite finden sich diejenigen, die die neuen Entwicklungen euphorisch begrüßen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die 1 Links in diesem Kapitel wurden abgerufen am 18.12.2021.

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Wahrnehmen, verstehen und (mit-)gestalten: Erkundung der digitalen Kirche in den eigenen Kontexten

Dort präsent sein, wo Menschen miteinander kommunizieren – und dies medienethisch reflektiert gestalten

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aus verschiedenen Gründen vor jenen Entwicklungen warnen und insbesondere im Bereich von Religion und Kirche digitale Kommunikation pessimistisch sehen. Gegenüber den Einseitigkeiten von Euphorie und Widerstand wird hier eine kritisch-­konstruktive und ambiguitätssensible Umgangsweise empfohlen. Wahrnehmen, verstehen und (mit-)gestalten – das ist eine Reihenfolge kirchenleitenden Handelns im digitalen Raum, die vorschnelle Abwertungen ebenso wie unkritischen Aktionismus verhindern kann. Konkret schlage ich deshalb vor, im Bereich der eigenen Leitungsverantwortung zunächst eine Erkundung zu unternehmen: Wie sehen Vollzüge und Formen digitaler Kirche in den eigenen Kontexten jeweils aus? Am Beispiel der mittleren kirchlichen Leitungsebene kann sich dies wie eine Visitation der digitalen Kirche im eigenen Kirchenkreis oder Dekanatsbezirk vorgestellt werden, deren Ziel es ist, die handelnden Personen, die Arbeitsbereiche, die Strukturen und die Gestaltungsweisen kennenzulernen, um von hier aus gemeinsam mit den Akteur:innen die Herausforderungen kirchenleitenden Handelns auszuloten. Die folgenden Orientierungspunkte sind übertragbar auf andere Bereiche kirchlichen Leitungshandelns, z. B. im Kontext der Diakonie. Kirchliche Kommunikation im digitalen Raum ist derzeit mit einem grundsätzlichen Dilemma konfrontiert: Immer wieder steht das kommunikative Interesse an Beziehung, Information, Vernetzung und Präsenz mit medienethischen Interessen in Konflikt. Denn aktuell sind dominante Plattformen und Anwendungen digitaler Kommunikation im Besitz und unter der (Nicht-)Kontrolle privatwirtschaftlicher Unternehmen, welche ökonomische Interessen höher gewichten als ethische und rechtliche Fragen. Beim Thema »Datenschutz« helfen bei manchen Anwendungen Einzelentscheidungen weiter (so findet sich z. B. zum Terminfindungstool »Doodle« die datenschutzkonforme Anwendung »Dudle«, siehe Abschnitt 3).

Bei anderen medienethisch fragwürdigen Plattformen wie Facebook und dem MetaKonzern zugehörenden Instagram und WhatsApp ist die Problematik für den:die Einzelne:n und für die einzelne kirchliche Einrichtung aktuell nicht lösbar, weil alternative Plattformen nicht zur Verfügung stehen. Wer dort präsent sein möchte, wo Menschen miteinander kommunizieren, wird dies auch auf den genannten Plattformen tun müs-

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Digitalisierung

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sen. Erforderlich ist eine politische Lösung, die eine ethisch und rechtlich begründete Regulierung der sich mehr und mehr verselbständigenden Plattformen erwirkt, und kirchenpolitisches Engagement in diesen Fragen. Für die Praxis der Kirchenleitung bleiben als Anforderungen: – das eigene Bewusstsein und das anderer Mitarbeiter:innen für aktuelle medienethische Probleme zu schärfen, – die eigenen Medienkompetenzen und die anderer gerade im digitalen Bereich weiterzuentwickeln (wozu entsprechendes Wissen über die Technologien gehört), – und an einer menschenwürdigen Gestaltung der Kommunikationskultur und -sprache mitzuarbeiten. Grimm, Petra/Keber, Tobias O./Zöllner, Oliver (Hg.): Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten, 2. Aufl., Stuttgart 2019. Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Freiheit digital. Die Zehn Gebote in Zeiten des digitalen Wandels. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Leipzig 2021. https://www.ekd.de/freiheit-digital-63984.htm, abgerufen am 23.12.2021. Ait Si Abbou, Kenza: Keine Panik, ist nur Technik. Warum man auf Algorithmen super tanzen kann und wie wir ihnen den Takt vorgeben, München 2020. Hope-Speech-Projekt der Evangelischen Akademie in Berlin: www.netzteufel.eaberlin.de

2 Digitale Schaukästen und Kirchtürme »Es geht, seit es die Digitalisierung gibt, nicht mehr um Vervielfältigung, es geht um Vielfalt, um Beziehungen und Interaktionen, um Netzwerke und Solidaritäten.« (Leitlein 2017) Dieser Satz kann als Überschrift über allen weiteren Punkten stehen und gilt auch für das schon klassische Medium kirchlicher Präsenz im Internet, für die Website. Sie wird oft auch »Homepage« genannt, welche strenggenommen aber die Startseite einer meist mehrere »Webseiten« umfassenden »Website« ist. Eine Website ist wie ein Anker innerhalb digitaler Beziehungssysteme, weshalb hier die Erkundung beginnt – und damit in dem Bereich digitaler Kirche, der am deutlichsten Überscheidungen zur kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit hat (→ Kap.  15 Öffentlichkeitsarbeit). Dass die Kirche im digitalen Raum vor allem Beziehungsarbeit bedeutet, sollte nicht die Aufmerksamkeit für eine professionelle Gestaltung von Websites als »digitalen Kirchtürmen«2 und dynamischen Schaukästen abziehen. Denn für die Pflege der Beziehungen zur Öffentlichkeit und zu einzelnen Menschen ist aktuell eine professionell gestaltete Website ein wichtiger Ausgangspunkt. Dabei gilt auch für Websites, dass sie in eine digitale Kommunikationskultur eingebunden sind, welche durch Interaktion und Partizipation gekennzeichnet ist. Dies wird besonders im Bereich der sozialen Medien deutlich. Menschen haben im Unterschied zu herkömmlichen Massenmedien die Möglichkeit, selbst Inhalte zu veröffentlichen und von anderen geteilte Inhalte zu kommentieren (durch Likes, Kommentare, Verlinken und Teilen). Nutzer:innen digitaler Medien werden auf diese Weise von Konsument:innen zu Produzent:innen, wie es in der Bezeichnung als »Prosumer« (producer + consumer) oder »Produser« (producer + user) angezeigt ist. Dies eröffnet zugleich neue Möglichkeiten der Identitätskonstruktion und Selbstdarstellung, was im Abschnitt 5 hinsichtlich personaler Kommunikationspraktiken in der digitalen Kirche reflektiert wird.

2 Vgl. das EKD-Projekt »Digitale Kirchtürme«; siehe grüner Kasten auf S. XX.

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Websites als Ausgangspunkte für Beziehungspflege im digitalen Raum

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Kommunikationspraktiken entwickeln sich also vom herkömmlichen Modell des absenderorientierten Übermittelns von Botschaften zum Modell des Austauschs und des Diskurses »auf Augenhöhe«. Schon bei der Website ist deshalb zu fragen, ob die Kommunikation nur in die eine Richtung von der Institution zu den Rezipierenden geht oder auch umgekehrt eröffnet wird (z. B. durch entsprechend aufbereitete Kontaktmöglichkeiten oder die Verbindung mit einem Auftritt in sozialen Netzwerken). Wenn die Website wie ein Schaukasten oder ein Leuchtturm vorgestellt werden kann, die beide eine örtliche Verankerung haben, stellt sich die Frage: Finden sich im Kontext der Internetpräsenz einer Gemeinde oder Einrichtung auch Elemente, die eine Gehbewegung darstellen? Hier ist nach wie vor an Newsletter zu denken. Einen Newsletter-Dienst zu etablieren, ist technisch leicht praktikabel und hilfreich, um jene Menschen in »Mitteldistanz« zu erreichen, die nicht regelmäßig eigeninitiativ die Website besuchen, jedoch an aktuellen Informationen interessiert sind. Einige Gemeinden und Einrichtungen machen gute Erfahrungen, diese Newsletter auch mit geistlichen Impulsen zu verbinden. Bei alledem gilt: Allzu häufig erscheinende und inhaltlich redundante Newsletter sind nicht attraktiv.

Die Perspektive der Gästin:des Gastes einnehmen, die:der sich über die Website informiert, und angesprochen werden soll

Es bewährt sich, die Internetpräsenzen im eigenen Bereich nach bestimmten Fragen auszuwerten (siehe Checkliste) und dabei stets die Perspektive der Gästin:des Gastes einzunehmen, die:der die entsprechende Einrichtung noch nicht kennt. Dabei ist selbstverständlich, dass nicht die Leitungsperson jede Website ihres Bereichs selbst optimieren muss. Für die »eigene« Website sind die hierfür zuständigen Personen zu beauftragen. Für die anderen Websites im Zuständigkeitsbereich (z. B. die einzelner Kirchengemeinden) dienen die folgenden Fragen als Orientierungspunkte für Visitationen oder Veranstaltungen, welche die digitale Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis zum Thema machen (z. B. entsprechende Pfarrkonvente und Schulungen). Empfehlenswert ist die Inanspruchnahme von Diensten und Technologien, welche von übergeordneten Stellen wie den Landeskirchen zur Verfügung gestellt werden (z. B. Website-Baukästen). Es ist insbesondere im Blick auf Aktualität und Relevanz sinnvoll, wenn verschiedene Personen unkompliziert Inhalte auf die Website stellen können, wie z. B. im blogähnlichen Hauptteil der Präsenzen auf www.wir-e.de der Landeskirche Hannovers. Wenn eine Pflege der Website in abgesprochener und evaluierter Weise durch ein

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Digitalisierung

Team geschieht, steigert dies die Lebendigkeit und Persönlichkeit der Internetpräsenz, beides wichtige Faktoren in der digitalen Öffentlichkeitsarbeit. Dabei ist als Perspektive angesichts des schieren Übermaßes an digitalen Tools und Herausforderungen hilfreich: Nie ist alles perfekt – es geht darum, an einer Stelle anzufangen und von hier aus die Internetpräsenz weiterzuentwickeln. Checkliste für kirchliche Websites Grundfragen, z. B. für Visitationen:

1. Wie ist der erste Eindruck? Fühle ich mich positiv angesprochen? 2. Sind die Veranstaltungstermine aktuell und leicht auffindbar? Sind sie ggf. in den Terminkalender der Landeskirche oder einer anderen Ebene eingebunden? 3. Sehe ich, am besten auf der ersten Ebene, die Ansprechpartner:innen? (Hier sind vor allem Gemeindepfarrer:innen oft zu »bescheiden«, obwohl sie häufig die gesuchte Kontaktperson sind. Sie sollten auf der Startseite direkt auffindbar sein.) 4. Sind die Adress- und Kontaktdaten aktuell und leicht zugänglich, auch für »Externe«? (Z. B. müssen alle Veranstaltungsorte, auch die Kirchengebäude, mit vollständiger Adresse, nicht mit Abkürzungen genannt sein. Die Telefonnummern sind stets mit Ortsvorwahl aufzuführen.) 5. Finden Menschen, die ein Seelsorge- oder Kasualanliegen haben, schnell die nötigen Informationen und Ansprechpersonen? Gibt es Antworten auf die am häufigsten gestellten Fragen (FAQs)? Weitergehende Fragen, z. B. zur Weitergabe an Beauftragte für Öffentlichkeitsarbeit:

6. Gibt es digitale Anmeldemöglichkeiten z. B. für Kasualien oder den Konfirmand:innenunterricht? 7. Sehe ich Bilder, auch von Menschen (beides macht die Website ansprechender)? Sind die Urheber- und Bildrechte gewahrt? Bildersuche: z.  B. www.unsplash.com, www.pixabay.com (freie Lizenzen) oder www.istockphoto.com/de (kostenpflichtige Lizenzen) Thema Bildrechte: https://gemeindebrief-magazin.evangelisch.de/rubrik/medienrecht/fotos-rechtssicher-der-kirchengemeinde-verwenden

8. Wird der Website-Baukasten der Landeskirche genutzt und/oder orientiert sich die Gestaltung am Corporate Design des Kirchenkreises, der Landeskirche o. Ä. (und wenn nein, warum nicht)? 9. Ist die Website für Mobilgeräte optimiert (kann ich sie z. B. auf einem Smartphone uneingeschränkt lesen und nutzen)? https://kirchen-kommunikation.de/mobile-first-fuer-gemeindehomepages/

10. Wie ist es um die Suchmaschinenoptimierung (SEO) bestellt? https://www.ekd.de/digitale-kirchturme-fur-bessere-suchergebnisse-53303.htm

11. Wie ist es um die Barrierefreiheit bestellt? https://www.einfach-fuer-alle.de/vorteile-barrierefreie-website/

12. Wird die Website durch Präsenzen auf Social-Media-Plattformen ergänzt und sind diese verlinkt (Facebook-Seite, YouTube-Kanal, Account bei Twitter oder Instagram)? 13. Sind die auf der Website verzeichneten Orte auch über die gängigen Kartendienste wie v. a. Google Maps auffindbar? Und sind die dort angezeigten Informationen richtig und sinnvoll? https://www.fundraising-evangelisch.de/my-business

14. Wird die Website durch einen Newsletter ergänzt? https://www.ekd.de/newsletter-der-unterschatzte-helfer-55522.htm

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Nie ist alles perfekt – an einer Stelle anfangen und von dort aus weiterentwickeln

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3 Digitale Kommunikationswege Zu den Merkmalen von Medien überhaupt zählt, dass sie das menschliche Sein und Handeln erweitern (vgl. McLuhan 1964) und Reichweiten in räumlicher und zeitlicher Hinsicht vergrößern. Mithilfe digitaler Technik ist es möglich, relativ unkompliziert große räumliche Distanzen gleichsam in Echtzeit (instantan) zu überbrücken und auf zeitlich zurückliegende Geschehen und Daten zuzugreifen, weil diese in leicht zugänglicher Form gespeichert sind. Welche Möglichkeiten für das Feiern von Gottesdiensten hierdurch eröffnet werden, hat der kirchliche Digitalisierungsschub im Jahr 2020 in besonders auffallender Weise gezeigt (vgl. Abschnitt 4). Aber auch die binnenkirchliche Kommunikation und Kollaboration erfahren durch digitale Medien eine Erweiterung. Im Folgenden liegt der Fokus auf der Kommunikation zwischen haupt-, neben- und ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen. Auf die Zugänglichkeit von relevanten Informationen und Austauschwegen für Letztere ein besonderes Augenmerk zu richten, ist wichtig, aber noch keinesfalls selbstverständlich.

Die interne Kommunikation gehört zur digitalen Kirche dazu – es lohnt sich, sie zu evaluieren und bewusst zu gestalten

Die interne Kommunikation als eigene Dimension von digitaler Kirche wird häufig nicht wahrgenommen. Sie ist aber in kybernetischer Hinsicht nicht zu vernachlässigen. Im Praxisbereich ist digitale Kommunikationstechnologie seit Jahrzehnten angekommen, und es lohnt sich, die Kanäle und Abläufe im eigenen Kontext daraufhin zu evaluieren, ob sie den eigenen Zielen entsprechen. Dabei gehe ich auf jene Technologien und Kommunikationsmittel ein, welche nicht nur in quantitativer Hinsicht besonders verbreitet sind, sondern aufgrund ihrer Eigenschaften und der damit einhergehenden Praktiken die zwischenmenschliche Kommunikation qualitativ besonders stark beeinflussen. Daneben gibt es unzählige weitere Einzelanwendungen, die für das kirchliche Leitungshandeln von hohem praktischen Interesse sind, wie z. B. Tools für die Terminfindung (vom bekannten Doodle bis hin zu datenschutzkonformen Anwendungen wie Dudle, das von der TU Dresden entwickelt wurde und von der Landeskirche in Württemberg für den kirchlichen Bereich genutzt wird). https://dudle.elk-wue.de

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Die insbesondere in beruflichen Kontexten nach wie vor dominante digitale Kommunikationstechnologie ist die E-Mail. Sie ermöglicht zügigen Austausch von Informationen und niedrigschwellige Absprachen, auch unter mehreren Personen. Neben die Chancen dieser Technologie treten die Probleme, die den meisten Menschen aus ihrem Arbeitsalltag bekannt sind und Stoff für populärwissenschaftliche Literatur zum Thema liefern – Stichwort »E-Mail-Flut«. Die mit der E-Mail-Kommunikation verbundenen Probleme sollten aber weniger Anlass zur kulturpessimistischen Klage als vielmehr zur bewussten Gestaltung dieser Kommunikationsform sein. Zu dieser bewussten Gestaltung gehört als Erstes die eigene Praxis und zwar zunächst im Blick auf die eingehenden E-Mails: Fragen zur Reflexion a. An welchen Stellen im Tagesablauf checke ich E-Mails und wann nicht? Ist es sinnvoll, sie auf mein Smartphone weiterzuleiten oder gerade nicht? b. Wie organisiere ich die eingehenden E-Mails und die mit ihnen verbundenen Aufgaben?

Sodann ist die eigene Praxis des E-Mail-Schreibens in den Blick zu nehmen, wobei vor allem folgende Fragen wichtig sind: c. Ist der Gegenstand der Kommunikation für eine E-Mail geeignet? (Z. B. führt das Ansprechen konfliktbehafteter Fragestellungen nicht selten zu Missverständnissen oder einem Antreiben der Konfliktspirale. In diesem Zusammenhang ist besonders darauf hinzuweisen, dass es hilfreich sein kann, vor dem Absenden einer E-Mail einige Zeit verstreichen zu lassen, wenn ich mit ihr stärkere Emotionen verbinde. Bei manchen praktischen Fragestellungen ist eine mündliche Absprache zielführender als ein mehrfacher Mailaustausch.) d. Wer muss wirklich ins cc oder ins bcc genommen werden, und werden die Adressat:innen jeweils informiert, was sie mit der Mail anfangen sollen? e. Wie kann ich den Nachrichtentext kurz halten? (Längere Informationen können ggf. als Datei in den Anhang aufgenommen werden) f. Werden Anwendungen für E-Mail-Verteilerlisten genutzt, die sowohl die Arbeit erleichtern als auch verhindern, dass Adressat:innen aus einem per Hand kopierten Mailverteiler herausfallen? (Die Anwendungen für entsprechende Listen sind in den meisten Mailprogrammen integriert. Für bestimmte Zwecke und bei umfänglichen Verteilern eignen sich u. U. Newsletter-Dienste.)

Es empfiehlt sich, die Regulation der E-Mail-Kommunikation auch einmal explizit zum Thema zu machen und sich in Arbeitskontexten wie Team, Abteilung oder Konvent gemeinsam auf eine E-Mail-Netiquette zu verständigen. Die gängigen, für Wirtschaftsunternehmen empfohlenen E-Mail-Regeln können anregend sein. https://www.fuer-gruender.de/blog/e-mail-flut/

Ein wichtiger Teilbereich digitaler Kommunikation ist der Datenschutz. Im Zusammenhang der E-Mail-Kommunikation betrifft dies vor allem die Weitergabe vertraulicher Informationen sowie den Umgang mit zur Verfügung gestellten E-Mail-Adressen und

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Für eine bewusste Gestaltung der E-Mail-Praktiken

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weiteren Kontaktdaten. In der Infothek der EKD sind Informationen zu häufig gestellten Fragen zusammengestellt. https://datenschutz.ekd.de/infothek/

Das Thema »Datenschutz« spielt eine besondere Rolle in der Nutzung sogenannter Messenger-Dienste, welche in der internen Kommunikation gerade im Bereich der Konfirmand:innen- und Jugendarbeit eine wichtige Funktion haben. Menschen, die mit Konfirmand:innen oder anderen Jugendlichen arbeiten, wissen: Per E-Mail sind diese kaum zu erreichen, da ihre bevorzugten Kommunikationsmedien derzeit WhatsApp und die Messenger-Anwendungen von Social-Media-Diensten wie Instagram sind.3 Diese Nutzungspraxis und das Interesse, jene Zielgruppe zu erreichen, stehen in Konflikt mit aktuell geltenden Datenschutzregelungen: »Kirchliche Stellen, die Messenger-Dienste einsetzen, die personenbezogene Daten ihrer Nutzer:innen kommerziell verwerten, verstoßen gegen den datenschutzrechtlichen Grundsatz der zweckgebundenen Datenverarbeitung.« (EKD-Datenschutzbeauftragter 2018)

Kommunikationsanliegen und Datenschutz sind in Balance zu halten

Dazu kommt die Altersbeschränkung entsprechender Dienste, die auch durch eine Einverständniserklärung der Eltern nicht aufgehoben werden kann (z. B. WhatsApp: aktuell ab 16 Jahre). Allerdings wird häufig beklagt, dass Versuche zur Etablierung von datenschutzsensibleren Diensten wie derzeit Threema, Signal oder KonApp nicht immer erfolgreich sind, weil sich unter Umständen nicht alle Mitarbeitenden oder Konfirmand:innen registrieren bzw. auch die, die sich registrieren, in der Nutzung bei ihren im Alltag etablierten Diensten bleiben. An dieser Stelle kann keine einfache Lösung angeboten werden, da sich alltägliche Medienpraxis und Datenschutz de facto im Konflikt befinden. »Verzicht auf eine allzu engherzige Auslegung der Bestimmungen des Datenschutz3 Zur Frage, welche Kommunikationsmedien aktuell von bestimmten Altersgruppen verwendet werden, finden sich in der jährlich stattfindenden ARD/ZDF-Onlinestudie hilfreiche Informationen, vgl. https:// www.ard-zdf-onlinestudie.de/ (abgerufen am 22.05.2022).

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rechts« (Mainusch 2018, S. 101) ist hier ebenso zu empfehlen wie eine explizite Verständigung in den betreffenden Kontexten. Vor Ort können kreativere Lösungen gefunden werden, als sie in einem Buch niederschreibbar sind. Dabei sollten alle, die im betreffenden Kommunikationskontext einbezogen sind, sich zu folgenden Fragen äußern können: g. Wie ist zu gewährleisten, dass alle betroffenen Personen alle für sie relevanten Nachrichten erhalten und sich auf für sie gute Weise in den Kommunikationsprozess einbringen können? h. Wie ist dieser Prozess so zu gestalten, dass nicht gegen wesentliche Aspekte des Datenschutzes, insbesondere nicht gegen die Datenautonomie der Beteiligten verstoßen wird?

Entsprechende Fragen stellen sich in einem weiteren Bereich interner Kommunikation. Während in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren Internetforen gängiger Ort zum Austausch waren, haben sich die Nutzungszahlen in Richtung sozialer Netzwerke wie Facebook verschoben. Facebook-Gruppen sind in den Altersgruppen der über 30-Jährigen die nach wie vor am deutlichsten verbreitete Anwendung für überregionalen themenund aufgabenbezogenen Austausch von kirchlichen Mitarbeiter:innen. Es gibt große und aktive Gruppen zu den Themen »Predigt«, »Gottesdienst«, »Konfirmand:innenarbeit« etc. Die sogenannte Schwarmintelligenz ermöglicht es, auf viele Fragen der kirchlichen Praxis zeitnah Antworten zu erhalten, einander kollegial zu beraten und Impulse für kreatives Tun auszutauschen. Immer wieder strittig sind dabei Fragen, die an das Seelsorgegeheimnis rühren (z. B. »Wie schreibe ich über Erfahrungen in der Kasualpraxis so, dass sie nicht auf konkrete Personen rückführbar sind?«), sowie die Netiquette der Interaktion (z. B. »Wie ist der wertschätzende Ton und der konstruktive Austausch in großen Gruppen zu bewahren?«). Sie bedeuten (Selbst-)Leitungsherausforderungen und sollten möglicherweise zum Thema in Konventen, Konferenzen oder im Supervisionsgespräch werden. Dabei ist stets das Potenzial eines gelungenen Austauschs im Blick zu behalten, nämlich Interaktion, Kollaboration und Kreativität zu fördern. Diese Potenziale liegen auch in anderen Diensten für die interne Kommunikation, nämlich Projekt- und Filesharing-Tools, wie sie von privatwirtschaftlichen Unternehmen oder durch kirchliche Stellen wie Landeskirchen zur Verfügung gestellt werden. Die innerkirchliche Nutzung solcher Dienste hat seit 2020 deutlich zugenommen und ist im Blick auf viele interne Arbeitsabläufe wie z. B. Projekt- oder Gremienarbeit ausbaubar. Als aktuelle Beispiele entsprechender digitaler Tools für Zusammenarbeit und Austausch (auch von Dokumenten) seien Dienste wie Padlet oder Trello genannt sowie Anwendungen des Dienstes Intern-e der Landeskirche Hannovers, dessen Basis jetzt auch in anderen Landeskirchen verwendet wird und anders als die erstgenannten Dienste nicht erst auf die datenschutzkonforme Nutzbarkeit geprüft werden muss. Hier gilt wie im Blick auf Websites bereits hervorgehoben: Leitende können und sollten in der Etablierung neuer Tools aus arbeitspragmatischen Gründen auf die Kompetenzen und Zuständigkeiten von Mitarbeiter:innen und von allgemeinkirchlichen Stellen zurückgreifen. Und für fast alle Tools gilt: Es ist hilfreich, diese erst in kleinem Rahmen auszuprobieren, ehe sie in größeren Kontexten eingeführt werden.

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Kollegialer Austausch im Internet: die Schwarm­intelligenz nutzen, Inspirationen suchen und geben – und auf Netiquette achten

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Einen Boom haben seit 2020 Videokonferenzen erlebt, im kirchlichen Bereich vor allem über Zoom, für welches über einen Rahmenvertrag der EKD datenschutzkonforme Lizenzen erworben werden können. EKD-Zoom-Lizenz: https://www.wgkd.de/rahmenvertrag/connect4video-c4v.html

Gerade für die Gremienarbeit, für Absprachen zwischen Menschen, die physisch nicht am selben Ort sind sowie für die Einführung und Diskussion von Sachthemen eignen sich Videokonferenzen. Dass sie darüber hinaus auch theologisch spannende Potenziale für die religiöse Praxis bieten, wird im Abschnitt 4 im Blick auf »Zoom-Gottesdienste« thematisiert. Videokonferenzen: Acht Tipps zur Erfolgsvermeidung 1. Den Link zur Videokonferenz lasse ich nur einmal, mindestens zwei Wochen vorher im Anhang einer Mail versenden. Die Eingeladenen werden ihn schon so ablegen, dass sie ihn rechtzeitig wiederfinden. 2. Ohne dass ich das überprüfen muss, weiß ich: Die Kamera und das Mikro meines Dienstlaptops reichen völlig aus, um gut zu sehen und zu hören zu sein. 3. Zwei Minuten vorher logge ich mich ein, dann ist noch genügend Zeit alle Teilnehmer:innen aus dem Warteraum hereinzulassen. (Ich merke dann ohnehin, dass ich die Warteraumoption gar nicht ausgewählt hatte – die meisten Teilnehmer:innen sind ohnehin schon da, einige kommen leider viel zu spät, weil sie den Kenncode nicht gefunden haben.) 4. Für den Fall, dass ich doch zehn Minuten vorher im Meeting bin, mache ich keinen Small Talk, weil dies oberflächlich ist. Besser erledige ich in der Zeit noch andere Dinge, z. B. E-Mails. 5. Zu Beginn sage ich wie üblich, dass ich es sehr schade finde, dass wir uns nicht »live«, »in Präsenz« oder »in echt« treffen können. 6. Da Teilnehmer:innen gerade bei Videokonferenzen auch länger zuhören können, weil sie bequem zu Hause oder im Büro sitzen, dürfen meine eigenen Wortbeiträge und auch die eventueller Referent:innen länger ausfallen als bei Vor-Ort-Konferenzen. Dafür machen wir kürzere Pausen; es gibt ja ohnehin keinen Kaffee. 7. Mit Fragen wie »Zoom-Bombing« oder anderen Störungen von außen befasse ich mich nicht; wird schon nichts passieren. 8. Natürlich dauert die Konferenz länger als anberaumt. Es war dann doch mehr zu besprechen als erwartet, und die Angelegenheiten waren wichtig und dringend. Dass einige zum Schluss nur noch mit abgeschalteter Kamera dabei sind und sich nicht verabschieden, wundert mich deshalb sehr.

Wer es doch anders machen möchte: https://www.medienpaedagogik-praxis.de/2021/09/28/was-sind-gute-videokonferenzen/

Eine für die nähere Zukunft wichtige Entwicklung ist die zunehmende Hybridisierung, das heißt das Zugleich von Vor-Ort-Teilnehmer:innen und digital zugeschalteten Teilnehmer:innen. Für kleinere, informelle Treffen ist dies schon mit der gängigen Technik eines externen Mikrofons und gegebenenfalls einer zusätzlichen externen Kamera sowie einer Videoprojektion auf einem größeren Bildschirm oder Leinwand zu bewerkstelligen. Sollten hybride Konferenzen häufiger stattfinden, empfiehlt sich die Anschaffung von entsprechender Technik (z. B. Rundumkamera und -mikrofon), die zum jeweiligen

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Digitalisierung

Raum passt. Für die Leitung kommt hier als wesentlich neuer Punkt hinzu, dass die Teilnehmer:innen vor Ort und digital gleichberechtigt einzubeziehen sind, was vorab zu reflektieren und den Medieneigenschaften entsprechend zu gestalten ist. In den Bereich der internen digitalen Kommunikation fallen schließlich Anwendungen im Verwaltungsbereich, die für viele Menschen unsichtbar sind, gerade von Leitenden aber einmal bewusst wahrgenommen werden sollten, weil sie den Rahmen der eigenen Arbeit mitgestalten. Vor allem im Meldewesen, Personalwesen und im Finanzwesen strukturieren sich nicht nur die Arbeitsabläufe und die Interaktion unter den Mitarbeiter:innen entsprechend der digitalen Hintergrundtechnologie. Diese bietet zugleich Instrumentarien für die Reflexion und Neujustierung der eigenen (Leitungs-)Arbeit, z. B. durch eine Analyse der Mitgliedschaftszahlen im eigenen Bereich. Auch solche Anwendungen gehören in den Bereich dessen, was der Begriff »digitale Kirche« umschreibt.

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Auch Verwaltung gehört zur digitalen Kirche

4 Kommunikation des Evangeliums im digitalen Raum Digitale Medien und Technologien sind nicht allein ein Instrument des Austauschs und der Kollaboration, sondern durch ihren Gebrauch eröffnet sich ein Raum der Kommunikation. Besser noch wäre von Kommunikationsräumen im Plural zu sprechen. In diesen Räumen halten sich Menschen auf, dort begegnen sie einander. Dies gilt umso mehr für jene Menschen (vor allem, aber nicht mehr nur jüngerer Generationen), die von sich sagen: »Wir benutzen das Internet nicht, wir leben darin und damit.« (Czerski 2012) Kirche und Internet sind deshalb nicht mehr wie zwei einander gegenüberstehende Größen zu verstehen, von denen in missionaler Perspektive die erste Größe auf die zweite zugeht, um im »Neuland« (Angela Merkel 2013) klassische kirchliche Angebote umzusetzen. Vielmehr sind digitale Kommunikationsräume Räume, in denen Menschen Sinnfragen stellen, spirituelle Erfahrungen machen, einander in Krisen begleiten. Es sind also Räume, in denen das geschehen kann und immer wieder das geschieht, was Ernst Lange (1981, S. 101) als »Kommunikation des Evangeliums« bezeichnet hat. Dieser Begriff hat eine breite Rezeption bis in die Gegenwart erfahren, unter anderem auch deshalb, weil er den klassischen Begriff der Verkündigung erweitert: Evangelium wird nicht allein in der Sonntagspredigt von der Kanzel verkündigt, sondern in vielfältigen anderen Zusammenhängen kirchlichen Lebens, im Unterricht, in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, in der Seelsorge, im Miteinanderleben vor Ort, im diakonischen Handeln etc. Von »Kommunikation des Evangeliums« zu sprechen, stellt zudem ausdrücklich den Anschluss an aktuelle Kulturen des Digitalen her. Denn »Kommunikation« spielt hier sowohl auf der Ebene des Erlebens als auch auf der Ebene des Beschreibens eine zentrale Rolle (z. B. in den sogenannten Kommunikationswissenschaften). Nichts in der Welt erschließt sich dem Menschen ohne Vermittlung. Wahrnehmung und Ausdruck sind auf Medien angewiesen, sodass jede Kommunikation über Medien geschieht. »Unmittelbarkeit« ist in kommunikationstheoretischer Perspektive ein Trug. Dabei ist nicht erst das Buch oder das Radio ein Kommunikationsmedium – schon das Wort ist es, als akustisches oder grafisches Phänomen. Selbst die menschliche Haut ist einem weiten Verständnis zufolge ein Medium,

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In den Kommunikationsräumen des Internets halten sich Menschen auf und begegnen einander

In digitalen Räumen geschieht Kommunikation des Evangeliums

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Immer wieder haben sich Christ:innen für die Kommuni­ kation des Evangeliums der neuesten Medien bedient

Resonanz ist in jeder Kommunikation letztlich unverfügbar

Botschaft und Medium stehen in Wechselwirkung

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nämlich ein solches, über das sich dem Menschen Eindrücke vermitteln und über das er sich anderen mitteilen kann. Auch für die Kommunikation des Evangeliums spielen Medien von Anfang an eine zentrale Rolle. Mehr noch: Ohne Medien keine christliche Religion und keine Kirche. Von »Unmittelbarkeit« ist auch in Blick auf Gotteserfahrung nicht sinnvoll zu sprechen – vielmehr lässt sich zeigen, wie Erfahrung und Rede von Gott immer auf Medien angewiesen sind. Dem christlichen Gottesverständnis gemäß vermittelt Gott sich selbst durch verschiedene Medien. Schöpfungstheologisch kann die Welt als Medium Gottes verstanden werden, christologisch Jesus der Christus und soteriologisch die sogenannten media salutis, die Heilsmittel, als die vor allem das Verkündigungswort und die Sakramente zu verstehen sind. Die Christentumsgeschichte ist also insgesamt zugleich Mediengeschichte. Zu allen Zeiten haben sich Christ:innen verschiedener und wiederholt der neuesten Kommunikationsmedien bedient, um das Evangelium weiterzusagen und Gottes Gegenwart zu feiern. Allgemein kulturgeschichtlich und speziell christentumsgeschichtlich ist eine fortlaufende Weiterentwicklung von Medien zu beschreiben, die in der Regel mit technischen Entwicklungsschritten einhergeht. Für den Protestantismus bezeichnend ist, dass seine Anfangszeit durch einen einschneidenden Technik- und Medienwandel, den Buchdruck, begleitet ist, den die Reformator:innen, allen voran Martin Luther, beherzt für ihre Anliegen nutzten. Schon deshalb empfiehlt es sich, die Entwicklung neuer Technologien und parallel dazu neuer Medien nicht von vornherein kulturpessimistisch einzuschätzen, sondern als neue Chance für die Kommunikation des Evangeliums konstruktiv-kritisch aufzugreifen. Hierfür sind zwei Gedanken wesentlich: Erstens: Kein Medium kann garantieren, dass die intendierte Vermittlung stattfindet – erst recht nicht, dass sie so, wie sie intendiert ist, geschieht. Im Blick auf die kirchliche Praxis heißt das konkret: Der Einsatz von Medien, auch der professionelle und qualitativ gelungene, kann nicht garantieren, dass die Kommunikation des Evangeliums gelingt, das heißt, ein Resonanzgeschehen ermöglicht. Dies gilt freilich sowohl für neuere digitale Medien als auch für ältere Medien wie die Sonntagspredigt in einem Kirchengebäude vor Ort. Mit dem Soziologen Hartmut Rosa (2018) ist hier von der »Unverfügbarkeit« medial vermittelter Resonanzereignisse zu sprechen. Zweitens, mit einem berühmten Diktum des Medientheoretikers Marshall McLuhan (1964, S. 7) gesprochen: »The medium is the message.« Kommunikation bedeutet nicht, etwas vorher Aufgefasstes, Gedachtes, Geglaubtes zu transportieren. Vielmehr ergibt sich der Gehalt des Kommunizierten im komplexen Vermittlungsgeschehen. Botschaft und Medium stehen also in Wechselwirkung miteinander, sind nur auf abstrahierende Weise überhaupt sprachlich voneinander zu unterscheiden und in Wirklichkeit ebenso untrennbar verbunden wie Form und Inhalt, beispielsweise der Predigt. Dies kann an Entwicklungen im Jahr 2020 konkretisiert werden: Spezifische Charakteristika digitaler Übertragungsmedien haben vielfach dazu geführt, dass Verkündigungsformate nicht nur kürzer wurden, sondern auch von Orten außerhalb der Kirche gesendet wurden. Es konnte beobachtet werden, dass sich damit auch die Inhalte verändert haben, z. B. ausdrück­licher mit Alltagsthemen verschränkt und persönlicher erzählt wurden (vgl. Schwier 2021, S. 8–9). Außerdem gilt: Schon die Verwendung oder Nicht-Verwendung eines Mediums für die Kommunikation des Evangeliums ist eine Botschaft.

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Digitalisierung

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Bibeltexte zum Thema Johannes 1,1–18

Der Logos als Medium Gottes in der Welt und die Kommunikation des Evangeliums durch Menschen – wie geschieht es, dass Menschen Christus als Licht der Welt erkennen? Apostelgeschichte 17,16–28

Gottes Wirklichkeit verschränkt sich mit menschlicher Wirklichkeit; Gott ist dort, wo Menschen ihn suchen – auch in digitalen Räumen?

Christian Grethlein hat als Sehhilfe für die Wahrnehmung christlich-religiöser Kommunikationsereignisse drei Modi unterschieden: Kommunikation des Evangeliums geschieht im Zusammenhang des Lehrens und Lernens, im gemeinschaftlichen Feiern und im Helfen zum Leben (vgl. Grethlein 2016, §§ 13–15). Diese drei Modi eignen sich auch als Sehhilfen für eine Erkundung digitaler Evangeliumskommunikation in den eigenen Kontexten. a) Lehren und Lernen im digitalen Raum: Beispiel Konfirmand:innenunterricht In Phasen des Lockdowns fand der Konfirmand:innenunterricht analog zum Schulunterricht vielfach über digitale Kommunikationsmittel, z. B. als Videokonferenz, statt. Demgegenüber wird im Zusammenhang der Konfirmand:innen- und Jugendarbeit immer wieder betont, dass Erlebnisse in physischer Kopräsenz ein wichtiger Faktor religiöser Sozialisation sind und Kontrasterfahrungen zu Homeschooling und digitaler Freizeitgestaltung ermöglichen. Allerdings sollte im Blick behalten werden, dass gerade im Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (dies ist auf Bildungsarbeit im Erwachsenenbereich übertragbar) die Integration digitaler Medien chancenreich ist. Und zwar nicht nur um Ersatzangebote zu schaffen, wenn »analoge« Begegnungen nicht möglich sind, sondern als Ergänzung des religionspädagogischen Medienensembles. Der Einsatz digitaler Medien geht deshalb weit über die Videokonferenz als Ersatz für analogen Unterricht hinaus und weist auf eine zunehmende Hybridisierung. Eine kleine Typisierung mit konkreten Beispielen soll als Anregung dienen, diesen Bereich digitaler Evangeliumsverkündigung im eigenen Kontext wahrzunehmen und seine Vielfältigkeit auszubauen – durch entsprechende Begleitung der hiermit beauftragten Mitarbeiter:innen und ihre Fortbildung, durch Themensetzung z. B. bei Konventen. – Digitale Medien werden bei »analogen« Treffen vor Ort in das Veranstaltungsdesign integriert. Beispiel: Konfirmand:innen drehen mit Smartphones kleine Kurzfilme. Anregung: ONEMINUTESKY als Miniaturvideo, https://www.rpi-loccum.de/material/pelikan/pel2_21/2_21_Liedtke

– Digitale Medien dienen als Katalysator für Erlebnisse in physischer Kopräsenz. Beispiel: Konfirmand:innen und/oder Teamer:innen entwickeln digital eine analog stattfindende Schnitzeljagd, bei der Smartphones eingesetzt werden, z. B. über die digitale Lernanwendung »Actionbound«. Lizenzen für »Actionbound« sind in vielen Landeskirchen kostenfrei zu beantragen, z. B.: https://rpz-heilsbronn.de/arbeitsbereiche/evangelische-medienzentrale-bayern-emz/medienpaedagogik/actionbound/

– Über digitale Medien wird ein virtueller Begegnungsraum gestaltet. Beispiel: Gemeinsame Entwicklung eines Minecraft-Szenarios wie der Aufbau des Doms in Halle durch Jugendliche für den St. Martinstag 2020: https://www.youtube.com/watch?v=S9RudryqXE8 © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht | Brill Deutschland GmbH https://doi.org/10.13109/9783666630668 | CC BY-NC-ND 4.0

Integration digitaler Medien in die Kinder- und Jugendarbeit – nicht nur als »Ersatzprogramm«

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Digitale Medien haben eine hohe lebensweltliche Bedeutung für Kinder und Jugendliche und stellen zugleich vor medienethische Herausforderungen

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Zwei Gründe sprechen dafür, digitale Kommunikationsräume für die kirchliche Bildungsarbeit wahrzunehmen, zu erkunden und mitzugestalten: zum einen die hohe lebensweltliche Bedeutung digitaler Medien für Kinder und Jugendliche, zum anderen die Herausforderungen, die digitale Kulturen in medienethischer Hinsicht gerade für Heranwachsende darstellen. Dabei ist es für die kirchenleitende Perspektive wichtig, diesen Themenbereich nicht vorschnell durch die Frage zu verengen, wie digitale Medien so eingesetzt werden können, dass Kinder und Jugendliche an die Kirche gebunden werden können. Da digitale Medien und das Internet sich auf vielfältige Weise mit den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen verschränken, ist zunächst für die Wechselwirkung von medialer und religiöser Sozialisation zu sensibilisieren (vgl. Nord 2021). Gerade für die betreffenden Altersgruppen stehen Online-Kommunikationen nicht neben herkömmlichen Sozialisationskontexten wie Familie und Peers, sondern Letztere finden (auch) innerhalb der Online-Kommunikationen statt, vor allem in Social Media und im Gaming. Entsprechend ist davon auszugehen, dass religiöse Sozialisation und damit auch religiöse Bildung im »life mix« (Turkle 2011, S. 160–161) aus Online- und Offline-Kontexten stattfindet. Im Anschluss an eine internationale Studie zu »Digital Media, Young Adults and Religion« bieten sich als Leitaspekte für eine mediensensible Bildungsarbeit (nicht nur) für Kinder und Jugendliche folgende drei Punkte an (vgl. Nord 2021, S. 275–276): – Identität: Wer bin ich angesichts vielfältiger Selbstinszenierungsoptionen im Internet? – Verbundenheit und Konnektivität: Wo gehöre ich hin angesichts der unübersehbaren Verbindungsmöglichkeiten und gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse in digitalen Kulturen? – Autorität und Vertrauenswürdigkeit: Wem kann ich glauben angesichts der vielen Kanäle und Akteur:innen im Kontext digitaler Kommunikation? In der kirchlichen Bildungsarbeit verweisen diese Fragen zum einen darauf, digitale und hybride Räume gelebter Religion zu eröffnen, und zum anderen darauf, Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien zu fördern. Kirchenleitende haben die Aufgabe, die verschiedenen Akteur:innen und Träger:innen kirchlicher Bildungsarbeit vor allem durch geeignete Fort- und Weiterbildungsangebote in beiden Bereichen zu unterstützen.

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Digitalisierung

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b)  Gemeinschaftliches Feiern: Beispiel Gottesdienste Vor Corona waren Online-Gottesdienste ein Nischenphänomen. Es sollte allerdings nicht in Vergessenheit geraten, dass Menschen bereits viel früher Erfahrungen hiermit gemacht haben, an die in den Lockdown-Phasen angeknüpft werden konnte. Auch über die Tradition des Fernsehgottesdienstes stehen gegenwärtige Online-Formate in Kontinuität zu Vorhergehendem. Wirklich neu war in den Jahren 2020/21 deshalb zunächst die quantitative Ausweitung von Online-Gottesdiensten, wie z. B. in der von der EKD in Auftrag gegebenen und von midi durchgeführten Studie »Digitale Verkündigungsformate während der Corona-Krise« für April bis Juni 2020 festgestellt wurde (vgl. außerdem das internationale und ökumenische Forschungsprojekt contoc). Zudem wurde in der midi-Studie eine »disruptive digitale Transformation« beschrieben (Hörsch 2020, S. 22). Der Begriff »disruptive Transformation« meint hier einen Wandel im Gottesdienstangebot und in der Gottesdienstgestaltung, welcher vorhergehende Praktiken unterbricht, die bestehende Gottesdienstlandschaft verändert und insofern »stört«, als manche Änderungen auf den traditionellen Gottesdienst vor Ort rückübertragen werden (z. B. schlankere Liturgien und kürzere Predigten sowie Momente der Interaktivität). Zwar wurde in der Diskussion der midi-Studie vielfach darauf abgehoben, dass nicht einfach von den Zugriffszahlen mancher Plattformen wie YouTube auf das tatsächliche Rezeptionsverhalten geschlossen werden könne und die Zahl der Aufrufe eines Videos nicht mit der Zahl von Gottesdienstbesucher:innen vor Ort direkt vergleichbar seien. Doch wird kaum zu bestreiten sein, dass zumindest vom Angebot und vielfach auch von der Nutzung her Online-Gottesdienste »zur ›neuen Normalität‹ in außergewöhnlichen Zeiten« wurden (Hörsch 2020, S. 4). Es ist davon auszugehen, dass diese Gottesdienstformate auch in Zukunft Bedeutung haben und in Richtung hybrider Formate weiterentwickelt werden.

Digitale Gottesdienste – quantitative Ausweitung und qualitative Veränderung

https://www.mi-di.de/materialien/gottesdienstliches-leben-waehrend-der-pandemie https://contoc.org/de/contoc/

Für die kybernetische Wahrnehmung und Würdigung von Online- und hybriden Gottesdiensten schlage ich zwei aus unterschiedlichen Richtungen laufende Bewegungen vor: Zum einen kann die Evaluation dieser Gottesdienste im Verhältnis zur Tradition evangelischer Gottesdienste aufzeigen, inwiefern sich Kontinuitäten herausbilden. Z. B. könnte man fragen, wie die sieben Gestaltungskriterien, welche im Evangelischen Gottesdienstbuch formuliert werden, in bestimmten digitalen Gottesdienstformaten zur Geltung kommen (vgl. auch Brok/Reimann 2007). Zum anderen empfiehlt es sich, das Neue, welches Online-Formate im Verhältnis zu bisherigen Gottesdiensttraditionen bringen, eigens wahrzunehmen und von dort aus wiederum nach Impulsen für eine gute Gestaltung auch für Gottesdienste vor Ort zu fragen. In der Praxisbeobachtung und Visitation sollte dabei die Frage erörtert werden, inwiefern und weshalb ein spezifischer Gottesdienst eher als Transfer klassischer Formate in neue Medien entworfen ist (z. B. eine Videoübertragung eines Vor-Ort-Gottesdienstes) oder als Transformation gottesdienstlicher Vollzüge entsprechend der Eigenschaften, Kulturen und Ästhetiken des Mediums (z. B. eine Andacht auf Instagram, die als Story gestaltet ist). »Die Frage nach dem Gottesdienst im digitalen Zeitalter bedeutet […] nicht die Frage, wie man Gottesdienste möglichst gut im Internet platziert, sondern weit grundlegender, wie sich Gottesdienst mit dem Medium in seiner kommunikativen Praxis und seinen Inhalten verändert.« (Deeg 2019, S. 18) Eine Überlegung zum Sprachgebrauch: Gottesdienste, die vor Ort gefeiert werden, sollten nicht in Abgrenzung zu digital gefeierten Gottesdiensten als »Präsenzgottesdienste« bezeich-

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Es geht nicht darum, einen Gottesdienst im Internet zu platzieren, sondern ihn für das Medium und mit dem Medium zu gestalten

Auch Gottesdienste im Internet sind Gottesdienste in Präsenz

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Auch an den Bildschirmen von Laptops und Smartphones feiern Menschen in körperlich-­seelischer Verfasstheit Gottesdienst

Christina Costanza

net werden, sondern z. B. als »Gottesdienste vor Ort«. Denn auch die Gottesdienste, die mithilfe digitaler Medien gestaltet werden und bei denen die Mitfeiernden nicht an demselben Ort versammelt sind, sind Gottesdienste in Präsenz: sowohl in der Kopräsenz der miteinander feiernden Menschen als auch in der geglaubten Gegenwart Gottes. Die Dichotomie zwischen »echter« Präsenz und Begegnung vor Ort und »nur digitaler« Präsenz und Begegnung, welche alltagspraktisch und medientheoretisch seit Langem überholt ist, verfehlt die Erfahrungen, die Menschen im digitalen Gottesdienst machen. Schon länger wird in der medientheologischen Diskussion hervorgehoben, dass Virtualität der Realität nicht entgegensteht, sondern eine spezifische Form von Realität ist (vgl. Nord 2008). Dies gilt ebenso für digitale Kommunikationspraxis. Aufschlussreich für eine differenzierte Betrachtung der spezifischen Wirklichkeit digitaler Kommunikation ist die Beobachtung, dass es gerade im Bereich der Religion und der kirchlichen Praxis verschiedenartige Beispiele für die Realität des Virtuellen gibt. So sind die religiöse Sonntagswelt, der Kirchenraum oder das Kommunikationsgeschehen des Gottesdienstes solche religiöse Zeichenwelten, die mit virtuellen Medienwirklichkeiten zu vergleichen sind (vgl. Nord 2008, die entsprechend von »Realitäten des Glaubens« spricht). In diesem Kontext ist die Verwendung der Raummetapher hilfreich: Schon die Struktur des Internets hat auf einer bildlichen Ebene räumlichen Charakter; die virtuellen Welten von Computerspielen veranschaulichen dies auch grafisch. Sowohl in der medienwissenschaftlichen als auch in der alltäglichen Sprache wird entsprechend der Raumbegriff verwendet, wenn die Wirklichkeiten benannt werden, die durch digitale Kommunikation entstehen. In den Räumen, die durch digitale Kommunikation entstehen, treffen Menschen aufeinander, die wie in ihren Vor-Ort-Kontexten in der Einheit aus Geist und Körper oder aus Leib und Seele agieren, welche für Menschen spezifisch ist. In anderen Worten: Auch an den Bildschirmen von Laptops und Smartphones feiern Menschen in körperlich-seelischer Verfasstheit Gottesdienst, sie machen sinnliche Erfahrungen und erleben echte Emotionen. Einen unkörperlichen Mediengebrauch gibt es nicht (vgl. Merle 2019, S. 90). Die hier skizzierten Aspekte, insbesondere das Thema der Leiblichkeit, treten in den neuesten Abendmahlsdebatten hervor, welche 2020 zu den Möglichkeiten und der theologischen Würdigung des Online-Abendmahls geführt wurden. Wie unter einer Lupe werden hier wesentliche Fragen deutlich, die im Blick auf digitale Gottesdienste ebenso wie im Blick auf Gottesdienste vor Ort zu stellen sind: Was ist Gemeinschaft? Wie zeigt sich Gottes Gegenwart? Was also ist unter zwischenmenschlicher und göttlicher Präsenz im Gottesdienst zu verstehen? Wie ist der Gottesdienst so zu gestalten, dass diese Präsenz erfahrbar wird? (Vgl. hierzu Costanza 2021.) Als Kirchenleitende:r diese Fragen ausdrücklich zum Thema zu machen, bedeutet, nach dem Sinn und den Gelingensbedingungen des Gottesdienstes überhaupt zu fragen – auch des Gottesdienstes vor Ort in physischer Kopräsenz.

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Was schon mal funktioniert hat: Gemeinsame Zoom-Agapefeier mit 30 Minuten Vorbereitungszeit Sollte der geistliche Abschluss von Klausurtagungen oder ähnlichen Projekten im digitalen Raum stattfinden, stellt sich häufig ein zweiseitiges Problem: Zum einen ist es gerade bei Videokonferenzen in Blick auf die Atmosphäre nicht förderlich, wenn nur eine Person spricht. Zum anderen ist oft wenig Vorbereitungszeit vorhanden, um gemeinsam eine Abschlussfeier vorzubereiten. Ein stimmungsvoller gemeinsamer Gottesdienst kann in einer Videokonferenz auf unkomplizierte Weise gelingen, wenn die einzelnen Passagen (Texte und Handlungen) vorab als Textdatei zur Verfügung gestellt und in einer kurzen Absprache verteilt werden. So können viele bis alle Teilnehmer:innen einen Teil der gemeinsamen Feier »niedrigschwellig« übernehmen. Dabei sollte ein wenig Zeit gegeben werden, um den eigenen Feier-Raum am Schreiboder Esstisch vorzubereiten. Hierfür reichen einfache Dinge wie Kerze, Brot und Wein und ggf. eine »Segensschnur« aus. Eine Vorlage für solch eine Agapefeier finden Sie unter: http://führen-leiten-kirche.de/wp-content/uploads/2022/08/Agapefeier-online-Ablauf.pdf Weitere hilfreiche Praxisanregungen, auch zur Segensschnur und zum Thema »Musik im Zoom-Gottesdienst«: https://www.michaeliskloster.de/in-zeiten-von-corona/material-zoom-gottesdienste

c)  Helfen zum Leben: Beispiel Seelsorge Ein auch für religiöse Praktiken und kirchliches Leitungshandeln relevantes Charakteristikum von digitalen (und manchen herkömmlichen) Medien wird medientheoretisch als »Telepräsenz« bezeichnet (vgl. Costanza 2012). Menschen werden mithilfe digitaler Kommunikationsmedien für andere fernanwesend, das heißt, sind einander kopräsent, ohne körperlich zur selben Zeit am selben Ort zu sein. Dies ermöglicht Begegnung und Austausch mit nicht körperlich Anwesenden. Das ist nicht nur in pandemischen Zeiten des physical distancing, sondern auch in Blick auf größere räumliche Distanzen oder körperliche Immobilitäten für kirchliche Kommunikationspraktiken bedeutsam. Gerade in kirchlichen Kontexten wird oft beklagt, dass der computervermittelten Kommunikation die körperliche Dimension fehle und »wirkliche« Begegnung, auf die gerade Seelsorge angewiesen ist, nicht möglich sei. Aus medienwissenschaftlicher Perspektive ist nicht von defizitärer Realität, sondern von einer spezifischen Weise der »Kanalreduktion« zu sprechen (Nußbeck 2019, S. 81). So stehen im Gebrauch digitaler Kommunikationsmedien in der Begegnung mit anderen Menschen derzeit taktile oder olfaktorische Kanäle nicht zur Verfügung. Kanalreduktion auf der Sinnesebene muss aber nicht mit Defiziten auf der psycho-sozialen Ebene einhergehen. Im Gegenteil kann sie sogar Begegnung fördern, wie gerade am Beispiel digitaler Seelsorge sichtbar wird (z. T. analog zu den bereits jahrzehntelangen Erfahrungen mit Telefonseelsorge): Seit 2003 gibt es z. B. ein regelmäßiges Online-Seelsorge-Angebot der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers und der Evangelischen Kirche im Rheinland, welches an drei Abenden in der Woche zuverlässig und datenschutzrechtlich sicher einen offenen Chat in Kombination mit der Möglichkeit des Privatchats mit einer:einem Seelsorger:in und der Mailseelsorge anbietet. www.chatseelsorge.de

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»Telepräsenz«: in digitalen Räumen werden Menschen einander fernanwesend

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Für viele Menschen stellt gerade das Internet einen geeigneten Raum dar, ihre Anliegen einzubringen und Seelsorge­angebote wahrzunehmen

Christina Costanza

Erfahrungen aus dem Kontext dieses Angebots zeigen, dass es viele Menschen mit einem Seelsorgeanliegen gibt, die gerade die kanalreduzierenden Eigenschaften des Mediums schätzen. Diese Menschen wollen unter Umständen nicht in einem Amtszimmer einer:einem Seelsorger:in gegenübersitzen, die:den sie sehen, riechen und hören können und von der:dem sie gesehen, gerochen und gehört werden können. Die Anonymität der Chatseelsorge, welche aufseiten der Nutzer:innen gesichert ist (die Seelsorger:innen sind als Personen mit Klarnamen ausgewiesen und ansprechbar), gehört für sie zu den Aufbaumomenten eines Begegnungsraums, in welchem sie ihre Anliegen geschützt vorbringen können. Dazu kommt das Moment der Niederschwelligkeit (vgl. Reimann 2016, S. 2): Einen offenen Chatraum als Gast oder mit einem Nickname zu betreten, ist noch leichter möglich als der Anruf bei der Telefonseelsorge: Wenn ich nichts sagen oder schreiben möchte, kann ich zuhören und mitlesen und jederzeit genauso still wieder gehen, wie ich den Raum betreten habe – oder aber doch die Gelegenheit nutzen, mein Anliegen auszusprechen.

Seit den letzten Jahren gibt es zudem eine im Verhältnis zur Chatseelsorge weniger deutlich organisierte, aber sich ausweitende Landschaft der Online-Seelsorge in Social Media. So zeigt beispielsweise auf Instagram der Hashtag #ansprechbar an, was für viele der hier aktiven hauptberuflichen Seelsorger:innen gilt: Sie teilen nicht nur eigene Inhalte, welche z. T. seelsorgerliche Verkündigung und Lebensbegleitung bedeuten, sondern sind über die diversen Rückkanäle, vor allem private Direktnachrichten, erreichbar für Seelsorgeanliegen. https://www.pro-medienmagazin.de/christen-bieten-auf-instagram-seelsorge-an/ https://www.kirche-und-digitaler-wandel.de/josephine-teske-587.php

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Für die Reflexion der verschiedenen Formate von Online-Seelsorge auf kirchenleitender Ebene sind zwei Aspekte zentral: Erstens, Online-Seelsorge ist »in der Nachfrage sowie in ihrer Überörtlichkeit schwer planbar, was Frequenzen der Ratsuchenden und auch die sozialräumliche Verortung der Nutzer angeht« (Merle 2020, S. 213). Wie in den anderen Bereichen digitaler Evangeliumskommunikation werden die Grenzen von Parochie und Kirchenmitgliedschaft überschritten. Dies ist einerseits ein Vorzug digitaler Seelsorge, weil auch Menschen erreicht werden, die nicht zu den eng verbundenen Gruppen von Kirchenmitgliedern gehören. Doch mit Blick auf die zeitlichen und kräftemäßigen Ressourcen der Seelsorger:innen stellen sich zwei Aufgaben an das kirchenleitende Handeln: Zum einen ist in geeigneten Settings wie der Supervision und im kollegialen Austausch zu fragen, wie der:die einzelne Seelsorger:in mit einer möglicherweise überhöhten Arbeitsbelastung zum eigenen Wohl umgeht. Zum anderen ist es unerlässlich, die strukturelle Seite in den Blick zu nehmen und zu gestalten: Welche Möglichkeiten im eigenen Bereich gibt es, Arbeitsüberlastungen Einzelner zu vermeiden, indem Arbeitsteilungen abgesprochen (z. B. analog zu Verfahren im Bereich der Notfallseelsorge) oder Stellenanteile geschaffen werden (vgl. hierzu Abschnitt 5)? Ein wichtiger Schritt hierfür ist die Bedarfsanalyse, die eine Befragung derjenigen Seelsorger:innen voraussetzt, welche im Bereich der Online-Seelsorge besonders aktiv sind. Zweitens, auch im Bereich der Online-Seelsorge ist immer wieder zu thematisieren, wie das Seelsorgegeheimnis gewahrt bleibt. Dazu treten Fragen des Datenschutzes. Wie bereits in Abschnitt 3 angeführt, entsteht gerade im Bereich der Social Media in Blick auf den Datenschutz die Notwendigkeit, Balance zu halten: Die Niederschwelligkeit der digitalen Medien ist zu nutzen, das heißt, Menschen, die über eine privatwirtschaftliche Plattform Seelsorgeanliegen einbringen, sollten Resonanz erfahren und Antwort bekommen. Ein Wechsel auf eine datenschutzkonforme Plattform wäre nach dem Erstkontakt datenschutzrechtlich geboten, bedeutet jedoch unter Umständen den Kommunikationsabbruch (vgl. Reimann 2020, S. 217–218). Online-Seelsorger:innen stehen vor der Herausforderung, mit diesen Problemen verantwortlich umzugehen, das heißt, sie müssen die Vertraulichkeit der Kommunikation und die Datenautonomie der Seelsorgesucher:innen schützen, sofern es in ihren Möglichkeiten liegt. In diesem Feld helfen nicht Kontrolle und Verbote, sondern Information, Unterstützung und (kollegiale) Beratung. Merle, Kristin: Seelsorge als öffentlichkeitsrelevante Funktion der Kirche. Erinnerung an eine poimenische Grundbestimmung im Zuge der Digitalisierung, in: Wege zum Menschen 72/2020, S. 203–215. Reimann, Ralf Peter: Digitalisierung als Herausforderung für die seelsorgerliche Kommunikation. Veränderungen in der Seelsorge durch Social Media, in: Wege zum Menschen 72/2020, S. 216–228.

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Online-Seelsorge bedeutet Planungsherausforderungen – individuell und strukturell

In der Online-Seelsorge ist das Seelsorge­geheimnis zu wahren und die Balance zwischen Datenschutz und Nieder­schwelligkeit zu halten

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Christina Costanza

5 Personen im Social Web

Die Digitalisierung verändert die Praktiken und das Selbstverständnis von Menschen

Durch die Digitalisierungsprozesse hat der Medienwandel eine Phase erreicht, die medienwissenschaftlich als »tiefe Mediatisierung« oder »tiefgreifende Mediatisierung« beschrieben werden kann (Hepp 2020). Dies bedeutet, dass alle Elemente der sozialen Welt in komplexer Weise auf digitale Medien und die ihnen zugrundeliegenden Infrastrukturen bezogen sind. Medien beruhen zunehmend auf Computertechnologie und können mittels Algorithmen automatisiert werden. Dabei fungieren Gegenstände, die zuvor nicht allgemein als Medien wahrgenommen wurden, aufgrund ihres neuen digitalen Eingebundenseins deutlich als solche (z .B. das Auto), und Medien, die zuvor nicht digital aufgebaut waren, werden digitalisiert (z. B. das Radio). In anthropologischer Hinsicht ist entscheidend, dass sich im Prozess der tiefen Mediatisierung die Praktiken von individuellen und kollektiven Akteur:innen zunehmend mit digitalen Medien und ihren Infrastrukturen verschränken. Dies betrifft alle gesellschaftlichen Teilbereiche. Praktiken, die vormals nicht als mediale wahrgenommen wurden, werden zu solchen (wie am Alltagsprozess des Kochens von der Rezeptsuche über den Einkauf bis hin zur Kommunikation des Ergebnisses in sozialen Medien anschaulich gemacht werden kann; vgl. Hepp 2020, S. 92–93). Die Prozesse tiefer Mediatisierung verändern über die Praktiken auch das Selbstverständnis von Menschen. Mit der Digitalisierung steht »in Frage, was der Mensch als Mitmensch und Privatmensch, als Teilnehmer der Öffentlichkeit und seines Privatlebens ist. Die Digitalisierung gestaltet um, was es heißt Subjekt zu sein« (Pilz 2019, S. 71). Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit den sozialen Medien, in denen Menschen eigene Inhalte veröffentlichen, die Veröffentlichungen anderer Menschen rezipieren und sich über Funktionen des Teilens, des Likens und des Kommentierens vernetzen. Was in der Medientheorie als »Identitätsmanagement«, »Beziehungsmanagement« und »Informationsmanagement« bezeichnet wird (Schmidt 2011, S. 74–103), geschieht auch in Diskursräumen, die haupt-, neben- oder ehrenamtliche kirchliche Mitarbeiter:innen (mit-)gestalten. Menschen thematisieren sich selbst, ihr Leben und ihren Glauben und verbinden sich mit anderen Menschen, die hieran Interesse haben. Besonders deutlich wird dies an den Accounts sogenannter christlicher »Sinnfluencer:innen«, wie in Analogie zu ökologischen und gesellschaftskritischen Influencer:innen jene Menschen genannt werden, die als Christ:innen in Social Media mit einiger Reichweite kommunizieren. Für eine erste Orientierung siehe das Contentnetzwerk Yeet: https://yeet.evangelisch.de/ Für die Unterscheidung von »Christfluencer:innen«, wie aktuell jene Accounts genannt werden, die christliche Inhalte in Verbindung mit einer stark konservativen oder biblizistischen Frömmigkeit und Ethik teilen, siehe z. B. https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/christfluencer-influencer-im-namen-gottes

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Digitalisierung

Kommunikation des Evangeliums in Social Media ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet, die auf genuin mit dem Evangelium verbundene Anliegen zurückverweisen: – Persönliche Kommunikation: Es sind nicht nur, aber eher Einzelpersonen als Institutionen, die im Social Web Resonanz erwirken. Sie tun dies auf persönliche Weise, das heißt, indem sie als individuelle Menschen sichtbar werden. – Lebens- und insbesondere Alltagsnähe: Über Social Media werden Menschen als Individuen sichtbar, indem sie ihre eigenen Lebenserfahrungen teilen, und zwar nicht allein in herausgehobenen, besonderen Situationen, sondern aus der Alltäglichkeit des Lebens heraus. – Verschieben der Grenzen zwischen privat und öffentlich: Durch das Teilen der eigenen, auch der alltäglichen Lebenserfahrungen kommen Aspekte zur Sprache, die in früheren Medienkulturen als »privat« gekennzeichnet worden wären. Zugleich wird bewusst ausgewählt, was aus den privaten Bereichen gezeigt wird; das Private wird inszeniert. – Narrative Texte in Verbindung mit Bildern: Es dominieren Texte, die (Lebens-)Geschichten erzählen, und zwar in Verbindung mit Bildern in ästhetisch bewusster Gestaltung. Häufig adressieren diese Text-Bild-Kombinationen nicht allein das Denken, sondern auch das Fühlen. – Wechselseitige Kommunikation: Menschen teilen nicht nur ihre eigenen Inhalte, sondern geben anderen die Möglichkeit, auf verschiedenen Rückkanälen von Likes über Kommentare bis hin zu Direktnachrichten zu reagieren – und reagieren wiederum auf diese Rückmeldungen. – Vernetzung und Gemeinschaftsbildung: Sowohl durch diese wechselseitige Kommunikation als auch durch Features wie das Verlinken bilden sich Netzwerke und Communities heraus, die teilweise bewusst weiterentwickelt und gestaltet werden. – Kooperationen und Lebensbegleitung: In diesen Netzwerken und Communitys, zu denen sowohl Aktive als auch ausschließlich Rezipierende gehören, ereignet sich wechselseitiger Austausch, Kooperation und Lebensbegleitung. Aus diesen Merkmalen heraus ergeben sich folgende Aufgaben für das kirchliche Leitungshandeln: – Die personal-persönliche Struktur der Kommunikation in Social Media hinterfragt traditionelle Autoritätsstrukturen. In diesen Kommunikationsräumen wird gesteigert deutlich, dass nicht das Amt die Person legitimiert, sondern umgekehrt die Person das Amt plausibilisiert. Entsprechend ist nicht kirchenleitende Autoritätsausübung gefordert, sondern Kommunikation auf Augenhöhe, die das kirchenleitende Handeln in diesem Bereich zu einem begleitenden Handeln macht. – Die Alltagsnähe der Kommunikation sollte nicht dazu verführen, sie als banal abzuwerten. Es gilt vielmehr, über die humorvollen und spielerischen Aspekte hinaus die alltagshermeneutische Kompetenz wertzuschätzen und zu fördern, die sich in etlichen der hier angesprochenen Kommunikationsprozessen zeigt. – Die Grenze zwischen öffentlich und privat ist nicht durch scheinbar objektive Maßstäbe zu bestimmen, sondern im Gespräch (z. B. einer Supervision oder im kollegialen Austausch) individuell zu justieren. Dabei sind Selbststeuerungskompetenzen und Inszenierungswissen zu erfragen und zu fördern. – Die narrative Struktur vieler Text-Bild-Inhalte sowie die emotive Ausrichtung leben von Subjektivität – doch zugleich sind sie theologisch zu reflektieren und aus dieser Reflexion heraus verantwortlich zu gestalten. Hier können Kirchenleitende Räume für den kritisch-wertschätzenden Diskurs eröffnen und zur Weiterentwicklung theologischer Kompetenzen für diesen spezifischen Verkündigungsbereich beitragen. – Die Möglichkeit der wechselseitigen Kommunikation kann gerade bei hoch Aktiven

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Merkmale der (Evangeliums-) Kommunikation in Social Media

Kommunikation in Social Media: Aufgaben für das kirchliche Leitungshandeln

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zu einer Überstrapazierung der eigenen zeitlichen Ressourcen führen. Da die Kommunikation des Evangeliums in Social Media besonders im Blick auf die Ansprache sogenannter Kirchendistanzierter und Menschen außerhalb kirchlicher Mitgliedschaftssysteme chancenreich ist, sollte hier strukturelle Entlastung und Förderung stattfinden, z. B. durch entsprechende Dienstvereinbarungen (Gleichberechtigung von Kommunikationsformen in Social Media mit anderen pastoralen Aktivitäten) oder Stellen(anteile). In Blick auf Pfarrer:innen in Social Media zeigt sich dabei aktuell, dass gerade die Verbindung aus analogem Pfarrdienst und Social-Media-Kommunikation für Follower:innen attraktiv ist. Pfarrer:innen, die aus ihrem Leben als Gemeindepfarrer:in erzählen und dies mit Social-Media-Formaten verbinden, erzielen verhältnismäßig hohe Reichweiten – es ist noch zu erproben, ob z. B. eine eigene volle Pfarrstelle für Social Media im Kirchenkreis dies in ähnlicher Weise könnte.

– Die sich herausbildenden Netzwerke in Social Media sind Anlass, in kybernetischer Perspektive nach den Netzwerken im eigenen Kontext zu fragen und die Stärke und zugleich die Herausforderungen von Vernetzung wahrzunehmen (vgl. hierzu Abschnitt 6). Kybernetisch weiterführend ist zu untersuchen, wie sich digitale Netzwerke und analoge Netzwerke in den eigenen Kontexten gegenseitig bereichern können. – Kooperation und wechselseitige Lebensbegleitung in Social Media erinnern an das Priestertum aller Getauften, welches nach Luther zuvorderst in der wechselseitigen geistlichen Fürsorge besteht (vgl. z. B. »Von der Freiheit eines Christenmenschen« 1520). Kirchenleitende Herausforderung ist, in Social Media nicht allein die Aktivitäten hauptamtlicher Pfarrpersonen wahrzunehmen und zu fördern, sondern zu fragen, wie die Kommunikation durch andere kirchlichen Professionen und durch Menschen, die nicht hauptamtlich im kirchlichen Dienst arbeiten, gefördert werden kann (z. B. durch Stellenanteile auch im Bereich anderer kirchlicher Berufe, durch Weiterbildung Ehrenamtlicher in diesem Bereich und durch den Hinweis auf entsprechende Fördermöglichkeiten). Müller, Sabrina: Öffentliche Kommunikation digitaler Sinnfluencer:innen. Medienethische und kirchentheoretische Beobachtungen, in: Pastoraltheologie 111/2022, S. 203–218. Innovationsfonds zur Förderung evangelischer und evangelikaler Medienprojekte: https://www.gep.de/medienfonds.shtml Digitalinnovationsfonds der EKD: https://www.ekd.de/mitmachen-digital-innovationsfonds-50627.htm

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Digitalisierung

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i. Gibt es Menschen in meinem Umfeld, die besonders viel Zeit in die digitale Kirche investieren? Erzielen sie eine relativ hohe Reichweite? Erweitern sie das Spektrum kirchlicher Arbeit? j. Erfahren diese Menschen hierfür Unterstützung (von verbaler Anerkennung über Fortbildungs- und Supervisionsangebote bis hin zu zeitlichen oder finanziellen Ressourcen)? Welche weitere Unterstützung ist hier möglich? k. Sollte eine Stelle oder ein oder mehrere Stellenanteile für die Arbeit im digitalen Bereich vorgesehen werden? l. Können Vernetzungsmöglichkeiten der digital Aktiven unterstützt werden? Und kann ihre Expertise genutzt werden?

6 Kirche in sozialen Netzwerken – Kirche als soziales Netzwerk Durch die Wahrnehmung und die Gestaltung kirchlichen Lebens in digitalen sozialen Netzwerken kommt die Kirche selbst als Netzwerk in den Blick. Die Netzwerkperspektive auf kirchliches Leben kann dabei an verschiedene Netzwerktheorien vor allem der Social Anthropology und der Soziologie anknüpfen. Diese wurde lange vor der breitenwirksamen Einführung des Internet entwickelt, mit Grundlagen bereits bei dem Psychiater und Soziologen Jacob L. Moreno (1889–1974). Beziehungen von Menschen sind auch in analogen Kontexten als Netzwerke wahrnehmbar; religiöse und kirchliche Netzwerke sind schon in prädigitalen Zeiten beschreibbar. In digitalen Kommunikationsräumen intensivieren sich netzwerkartige Gestalten der Kirche, und dies wirkt wiederum auf die Kirche in analogen Kontexten zurück. Dabei kann der Begriff des Netzwerks sowohl als Metapher und Leitbild als auch als Theorie und Methode verwendet werden (vgl. Hörsch/Pompe 2018, S. 9–10). Netzwerke werden in beiden Verwendungsweisen als Systeme verstanden, die durch Beziehungen zwischen ihren Elementen entstehen – im Fall der Kirche also durch die Beziehungen der einzelnen Akteur:innen oder Einrichtungen. Als Metapher und Leitbild wird der Netzwerkbegriff verwendet, um mit seiner Hilfe Bilder einer Kirche zu entwerfen, die angesichts gegenwärtiger Transformationsherausforderungen in ihren Strukturen und in ihrer Praxis reformiert wird (vereinfacht gesagt: die Kirche soll netzwerkförmiger werden). Als Theorie und Methode bedeutet die Netzwerkperspektive eine bestimmte Sichtweise auf kirchliche Organisation und Praxis (vereinfacht gesagt: alle kirchlichen Systeme kann man auch als Netzwerke verstehen und untersuchen). Veränderungen im Medienensemble einer Organisation stehen oft in Wechselwirkung mit Veränderungen in der Organisation (vgl. Hepp 2020, S. 100–114). Vonseiten digitaler Medienlogiken, besonders des Social Web – wie der gesteigerten Interaktion und Partizipation –, treten besondere Merkmale von Netzwerken in den Blick, die für die Gestaltung kirchlicher Strukturen und Gemeinschaftsbildungen attraktiv sind (vgl. insgesamt Hörsch/Pompe 2018): In der Netzwerkperspektive wird der Fokus von kirchlichen Institutionen auf die Beziehungen zwischen den Akteur:innen innerhalb der Kirche verschoben, wobei sich diese entsprechend einer gängigen Unterscheidung in der Netzwerktheorie nicht nur als starke Bindungen, sondern auch als schwache Bindungen mit einer spezifischen Eigenqualität zeigen. – Die Netzwerkperspektive hebt auf dezentrale und nichthierarchische Strukturen ab. Dass sich gerade hier die deskriptive Sicht in Richtung einer normativen Sicht ausprägt, dürfte deutlich sein. Dabei werden auch die Ränder kirchlicher Strukturen wahrnehmbar, konkret kommen beispielsweise in einer Parochie nicht nur Pfarr­

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»Netzwerk« kann Metapher und Leitbild sein – oder Theorie und Methode

Merkmale von Netzwerken, die für die Gestaltung kirch­ licher Strukturen und Gemeinschaftsbildung attraktiv sind

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person und Kerngemeinde, sondern auch Menschen und Gruppen mit weniger oder wie im Fall von Kasualien singulären Kirchenkontakten in den Blick. – Die Netzwerkperspektive ermöglicht eine Erweiterung von Kirchentheorie und Kirchenentwicklung hinein in den Sozialraum, mit dessen Netzwerken kirchliche Netzwerke bereits verwoben sind oder noch zu vernetzen sind. – Und schließlich akzentuiert die Netzwerkperspektive, dass kirchliche Gemeinschaftsstrukturen in dynamischer Entwicklung begriffen sind, eher fluide als starre Gebilde darstellen. Entsprechend wird Netzwerken in kirchlichen Zusammenhängen oft zugeschrieben, dass diese flexibel, innovativ und kreativ seien. Leitende haben in Netzwerken eher kommunikative als kontrollierende Aufgaben. Sie gestalten Vernetzungsmöglichkeiten nach innen und nach außen mit, moderieren die Kommunikation zwischen den einzelnen Akteur:innen im Netz und die netzwerkinterne Regelbildung.

Für das kirchliche Leitungshandeln im Bereich der Gemeinden und Einrichtungen kommt die Herausforderung hinzu, dass Zugehörigkeiten in der Netzwerkperspektive dynamischer definiert werden als über ein klares Ja oder Nein. Parochiale und Mitgliedschaftsprinzipien treten zugunsten personaler und projekthafter Verbindungen in den Hintergrund. Jenseits kirchenrechtlicher Probleme regt die Netzwerkperspektive dazu an, Akteur:innen und potenzielle Adressat:innen kirchlicher Praxis von ihren Beziehungen her in den Blick zu nehmen. Empfehlenswert ist die Erstellung von Netzwerkkarten für bestimmte Kontexte, ein einfach anzuwendendes analytisches Hilfsmittel als Schritt zu Um- und Neugestaltungen von Systemen in den eigenen Kontexten. Hörsch, Daniel: Sichtbarmachung von Netzwerken vor Ort. Arbeit mit Netzwerkkarten, in: Hörsch/Pompe 2018, S. 133–137. Die Vorlagen und die Anleitung für die Erstellung von Netzwerkkarten finden Sie hier:  https://führen-leiten-kirche.de/wp-content/uploads/2022/08/Hoersch-Arbeit-mit-Netzwerkkarten_Vorlage.pdf https://führen-leiten-kirche.de/wp-content/uploads/2022/08/Hoersch-Arbeit-mit-Netzwerkkarten_Anleitung.pdf

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Digitalisierung

In zweierlei Hinsicht ist die gegenwärtige Netzwerkperspektive in Anwendung auf kirchliche Praxis insbesondere dann zu hinterfragen, wenn sie zu einem »Netzwerkfieber« führt (Stäheli 2021, S. 223 u. ö.): Zum einen entstehen durch Netzwerke nicht nur neue Formen der Inklusion, wie oben im Blick auf kirchendistanzierte Menschen skizziert. Es entstehen auch neue Formen der Exklusion, da sich auch Netzwerke gegen Verknüpfungen abschließen können. Die je spezifische Art der Beziehungen, durch die ein Netzwerk entsteht, können bestimmte potenzielle Akteur:innen ausschließen. Im Blick auf digitale Netzwerke ist hier auf den sogenannten »digital gap« hinzuweisen, der nach wie vor Menschen von einer Teilnahme an digital kommunizierten Prozessen exkludiert. Aufgabe kirchlichen Leitungshandelns ist die Analyse von Netzwerken auf Exklusionsproblematiken hin und eine entsprechende Intervention zugunsten von Inklusion, die je nach Kontext unterschiedlich ausfallen kann. Zum anderen ist festzustellen, dass gerade in digitalen Kulturen mit ihrem hohen »Konnektivitätsethos« ein Vernetzungsdruck entstehen kann (vgl. Stäheli 2021). Dies kann sich auf verschiedenen Ebenen zeigen, von der individuellen Erschöpfung durch Kommunikationsüberforderungen (z. B. die Anforderung permanenter Erreichbarkeit) bis hin zu organisationalen Überhitzungen durch Hyperkonnektivität (wie sie sich schon am einfachen Beispiel von einer überhohen Zahl von Meetings und Gremiensitzungen zeigen kann). Aufgabe kirchenleitenden Handelns ist hier – zunächst die Sichtbarmachung der angesprochenen Phänomene und der damit einhergehenden Entnetzungssehnsucht, – sodann die Ermöglichung eines Austauschs über (temporäre) Entnetzungstaktiken (vgl. Zurstiege 2019) – und schließlich sowohl die Förderung der Selbstregulierungskompetenzen Einzelner (z. B. durch Fortbildung und kollegialen Austausch) als auch die Schaffung von Strukturen, die dem Kommunikationsstress entgegenwirken (z. B. durch Dienstvereinbarungen und Kommunikationsnetiquetten).

Präsenz im digitalen Raum – Ideen für Kirchenkreiskonferenz oder Pfarrkonvent – Wechselnde Dreiergruppen zu folgenden Fragen (je 5 Minuten): 1. Digitale Kommunikation – wie erlebe ich sie in meinem beruflichen Alltag? 2.  Habe ich schon einmal eine enge Verbindung zu Menschen erlebt, mit denen ich (nur) über digitale Medien kommuniziert habe? Wie war das? 3.  Kirche im digitalen Raum – da denke ich an … – Impulsreferat aus medientheoretischer oder medientheologischer Perspektive zu »Präsenz im digitalen Raum« (max. 30 Minuten) Es gibt mittlerweile viele Theolog:innen, gerade auch Nachwuchswissenschaftler:innen, die sich mit dem Thema befassen. Für ein Referat empfehle ich einen medientheoretischen Schwerpunkt, um dann den praktischen Transfer gemeinsam zu erarbeiten und hier die verschiedenen Erfahrungen der Konferenzteilnehmenden einzubeziehen. Ein Ausgehen bei Best-Practice-Beispielen von Kirche im digitalen Raum kann dagegen zur Verhärtung von eher ablehnenden Haltungen führen und zudem die eigene Kreativität, die freie Sicht auf das im jeweiligen Kontext Mögliche hindern. Praxisbeispiele sollten in das Referat einfließen. Fragen und Themenstichpunkte für das Referat: � Was bedeutet die Rede vom digitalen Raum? Inwiefern ist der digitale Raum als ein realer Raum zu bezeichnen? � Was bedeutet Präsenz im digitalen Raum?

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Netzwerke können neue Exklusionen bedeuten, und sie können Vernetzungsdruck erzeugen

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� Wie verhält es sich mit Körperlichkeit im digitalen Raum? � Was sind die besonderen Merkmale und Logiken digitaler Kommunikation? � Was heißt das für die Kommunikation des Evangeliums (exemplarisch)? Rückfragen und Kommentare (max. 15 Minuten) Pause Kleingruppen nach Neigung zu folgenden Fragen (Ergebnissicherung ggf. vorher verabreden, ideal wäre die Nutzung eines Padlet oder eines ähnlichen kollaborativen Tools): 1.  Liturgische Präsenz im digitalen Raum: Wie erlebe ich mich selbst als Liturg:in in Online-Gottesdiensten? Wie erlebe ich andere als Liturg:innen in Online-Gottesdiensten? Was habe ich hier schon gelernt? Was heißt das für die zukünftige Gestaltung von Gottesdiensten? 2.  Öffentlichkeitsarbeit als Beziehungsarbeit: Welche Chancen und Grenzen bieten digitale Medien für die Kommunikation der Kirchengemeinde/des Kirchenkreises in Dorf, Stadtteil, Stadt? 3.  Pfarrer:in/Kirchenmusiker:in/Diakon:in in der digitalen Kirche sein: Was erlebe und mache ich hier schon selbst bzw. sehe ich bei anderen? Was will ich von mir persönlich über digitale Medien teilen? Wie sorge ich für mich selbst angesichts der besonderen Herausforderungen digitaler Medien (ständige Verfügbarkeit der Medien, ständige Erreichbarkeit der Nutzer:innen, Informationsflut, Vernetzungsdruck o. Ä.)? 4.  Gemeinschaft und Gemeinde online: Wie verändern sich Vorstellungen von Gemeinschaft durch digitale Medien? Was heißt Gemeinschaft eigentlich? Beeinflusst die digitale Transformation auch unsere Kulturen von Gemeinschaft im analogen Raum? Was bedeutet das für Gemeindearbeit und Gemeindeaufbau? Ergebnissicherung und Verabredungen für die Weiterarbeit Alternative 1: Von den Themenfeldern 1–4 können Sie eines als spezielles Thema für die Konferenz aussuchen (oder für eine Folgekonferenz). Alternative 2: Konferenz zum Thema »Datenschutz und Urheberrecht in der digitalen Kirche« Datenschutzbeauftragte aus Landeskirche o. ä. einladen oder Informationen zum Urheberrecht z. B. über die entsprechenden Materialien der EKD selbst aufbereiten bzw. ein Mitglied der Konferenz damit beauftragen (siehe Links im Text oben).

Autorin Pfarrerin Dr. Christina Costanza, 2010 promoviert in Systematischer Theologie, seit 2011 befasst mit dem Themenfeld »Theologie und Digitalität«, ist seit 2014 Studienleiterin im Theologischen Studienseminar der VELKD in Pullach. [email protected]

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Digitalisierung

Literatur Ait Si Abbou, Kenza: Keine Panik, ist nur Technik. Warum man auf Algorithmen super tanzen kann und wie wir ihnen den Takt vorgeben, München 2020. Brok, Tom O./Reimann, Ralf Peter: Gottesdienst und Gemeinde im Internet? Eine Zwischenbilanz, in: Zeitschrift der Gemeinsamen Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen der Evangelischen Kirche in Deutschland, 21/2007, S. 14–25. http://www.ekd.de/internet/vortraege/070610_brok_reimann.html, abgerufen am 21.02.2021. Castells, Manuel: The Rise of the Network Society (The Information Age: Economy, Society and Culture 1), Cambridge u. a. 1996; dt.: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Wiesbaden 2003. Costanza, Christina: Fernanwesenheit. Personsein im Social Web im Lichte der Theologie, in: Christina Costanza/Christina Ernst (Hg.): Personen im Web 2.0. Kommunikationswissenschaftliche, ethische und anthropologische Zugänge zu einer Theologie der Social Media (Edition Ethik 11), Göttingen 2012, S. 127–145. Costanza, Christina: Von Fernanwesenheit, Communio und Sehnsucht. Nachdenken über digitale und andere Abendmahlsfeiern, in: Evangelisches Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik Hildesheim (Hg.): Für den Gottesdienst 92/2021, S. 34–38. Czerski, Piotr: Wir, die Netz-Kinder, in: Die ZEIT 09/2012, 23.02.2012. https://www.zeit.de/digital/internet/2012-02/wir-die-netz-kinder/komplettansicht, abgerufen am 22.12.2021. Deeg, Alexander: Einführung, in: Alexander Deeg/Christian Lehnert (Hg.): Liturgie – Körper – Medien. Herausforderungen für den Gottesdienst in der digitalen Gesellschaft (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 32), Leipzig 2019, S. 9–28. Deeg, Alexander/Lehnert, Christian (Hg.): Liturgie – Körper – Medien. Herausforderungen für den Gottesdienst in der digitalen Gesellschaft (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 32), Leipzig 2019. Der Beauftragte für den Datenschutz der EKD: Ergänzende Stellungnahme zum Einsatz von MessengerDiensten vom 24.10.2018. https://datenschutz.ekd.de/infothek-items/ergaenzende-stellungnahme-zumeinsatz-von-messenger-diensten/, abgerufen am 08.12.2021. Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Freiheit digital. Die Zehn Gebote in Zeiten des digitalen Wandels, Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Leipzig 2021. https://www.ekd.de/freiheit-­ digital-63984.htm, abgerufen am 23.12.2021. Grethlein, Christian: Praktische Theologie, 2. Aufl., Berlin 2016. Grimm, Petra/Keber, Tobias O./Zöllner, Oliver (Hg.): Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten, 2. Aufl., Stuttgart 2019. Hepp, Andreas: Deep Mediatization (Key Ideas in Media and Cultural Studies), London 2020. Hörsch, Daniel/Pompe, Hans-Hermann (Hg.): Kirche aus der Netzwerkperspektive. Metapher – Methode – Vergemeinschaftungsform, Leipzig 2018. Hörsch, Daniel: Digitale Verkündigungsformate während der Corona-Krise. Eine Ad-hoc-Studie im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2. Aufl., Berlin 2020. https://www.mi-di.de/materialien/digitale-verkuendigungsformate-waehrend-der-corona-krise, abgerufen am 11.12.2021. Lange, Ernst: Aus der »Bilanz 65«, in: Ernst Lange: Kirche für die Welt, München u. a. 1981, S. 63–160. Leitlein, Hannes: Und wie wir wandern im finstern Digital, in: Christ & Welt vom 23.03.2017. https://www. zeit.de/2017/13/digitalisierung-medien-martin-luther-kirchen-reformation-netz, abgerufen am 08.12.2021. Mainusch, Rainer: Die kirchenrechtliche Perspektive. Netzwerke und Kirchenordnung, in: Daniel Hörsch/ Hans-Hermann Pompe (Hg.): Kirche aus der Netzwerkperspektive. Metapher – Methode – Vergemeinschaftungsform, Leipzig 2018, S. 79–101. McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964, MIT Press edition 1994. Merle, Kristin: Kulturelle Adaptionen. Religiöse Rituale im (Medien-)Wandel, in: Alexander Deeg/Christian Lehnert (Hg.): Liturgie – Körper – Medien. Herausforderungen für den Gottesdienst in der digitalen Gesellschaft (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 32), Leipzig 2019, S. 77–94. Merle, Kristin: Seelsorge als öffentlichkeitsrelevante Funktion der Kirche. Erinnerung an eine poimenische Grundbestimmung im Zuge der Digitalisierung, in: Wege zum Menschen 72/2020, S. 203–215. Müller, Sabrina: Öffentliche Kommunikation digitaler Sinnfluencer:innen. Medienethische und kirchentheoretische Beobachtungen, Pastoraltheologie 111/2022, S. 203–218. Nord, Ilona: Realitäten des Glaubens. Zur virtuellen Dimension christlicher Religiosität (Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs 5), Berlin u. a. 2008. Nord, Ilona: Religiöse Sozialisation von Jugendlichen in mediatisierter Welt. Ausgangsfragen und Zielsetzungen, Freiburg i. Br. 2021, S. 257–280. Nußbeck, Susanne: Einführung in die Beratungspsychologie, 4. Aufl., München 2019. Pilz, Dirk: Das Spiel mit dem Leib. Theater, Präsenz und Medien, in: Alexander Deeg/Christian Lehnert (Hg.): Liturgie – Körper – Medien. Herausforderungen für den Gottesdienst in der digitalen Gesellschaft (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 32), Leipzig 2019, S. 65–75.

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Reimann, Ralf Peter: Ganz nah dran und doch weit weg. Online-Lebensberatung und Online-Seelsorge, Online-Beichte – nichts ist unmöglich?, Vortrag auf der Tagung »Hilfe aus dem Netz. Chancen und Grenzen von Online-Medizin und Online-Psychologie«, 14.–16.10.2016, Evangelische Akademie Tutzing. https:// theonet.de/2016/12/09/ganz-nah-dran-und-doch-weit-weg-online-lebensberatung-und-online-seelsorge-online-beichte-nichts-ist-unmoeglich/, abgerufen am 12.12.2021. Reimann, Ralf Peter: Digitalisierung als Herausforderung für die seelsorgerliche Kommunikation. Veränderungen in der Seelsorge durch Social Media, in: Wege zum Menschen 72/2020, S. 216–228. Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit, Wien u. a. 2018. Schmidt, Jan: Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0, 2. Aufl., Köln 2011. Schwier, Helmut: Digitale Gottesdienste. Kairos zur erneuerten Predigt, in: epd Dokumentation 4, 26.01.2021. Digital – parochial – global?! Ekklesiologische Perspektiven im Digitalen (1), Workshopreihe der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Kooperation mit der Evangelischen Akademie im Rheinland und der Evangelischen Akademie der Pfalz, Workshop I – Gottesdienst, Liturgie und Verkündigung, 16.10.2020, S. 7–9. Turkle, Sherry: Alone Together. Why We Expect More from Technology and Less from Each Other, New York 2011. Zurstiege, Guido: Taktiken der Entnetzung. Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter, Berlin 2019.

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Ehrenamt Mit Freiwilligen arbeiten Daniel Dietzfelbinger Î Zahlen, Daten, Fakten Î Beispiele Î Charakteristika Î Einige Tipps

1 Zahlen, Daten, Fakten Knapp 1,1 Millionen ehrenamtliche Mitarbeiter:innen in Deutschland weist die EKD laut eigener Statistik im Jahr 2019 auf (EKD 2021). Die Zahl dürfte sich in den zwei Jahren seit Erscheinen der Statistik nicht entscheidend geändert haben – eine durchaus beachtenswerte Zahl. Ehrenamtliche Mitarbeiter:innen, das ist ein Schatz, auf den die Kirchen zugreifen können, ebenso wie viele andere Organisationen und Vereine. Insgesamt sind über 17 Millionen Menschen in Deutschland ehrenamtlich tätig – das ist fast jede:r Vierte (Statista 2021). Die Motive für Menschen, sich ehrenamtlich zu engagieren, sind unterschiedlich. Eine Grafik (vgl. DFB 2015) fasst mögliche Motive übersichtlich zusammen:

Eigene Darstellung nach DFB 2015

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Bezogen auf kirchliches Engagement könnten hinter den in Schlagworte gefassten Motiven folgenden Grundaussagen stecken: – Organisieren: »Ich habe Freude daran (und die Kompetenz dazu), etwas in meiner Kirchengemeinde auf die Beine zu stellen. Ich mag es, wenn etwas gut funktioniert, aber dazu braucht es Planung und Übersicht – hier will ich mich einbringen, weil ich aus meinem beruflichen/aus anderen Kontexten die Erfahrung XY mitbringe.« … – Sich kümmern: »Andere Menschen brauchen meine Hilfe, ich möchte, dass es anderen Menschen auch gut geht. Ich kann mich in der Kirchengemeinde einbringen, weil ich Mittel/ein offenes Ohr/XY habe, die/das ich anderen Menschen gern zur Verfügung stelle.« … – Ansehen: »Ein Vorstandstitel, auch wenn es nur in einem ehrenamtlich geführten Verein ist, klingt einfach gut. Es stärkt mich in meiner sozialen Gruppe, wenn ich mich bei XY ehrenamtlich engagiere.« … – Einflussnahme: »Wenn ich die Jugendarbeit bei der Kirche anders/moderner/neu gestalten will, kann ich nicht nur von außen nörgeln – dann muss ich mich engagieren und das System von innen heraus ändern, wenigstens es versuchen.« … – Wissenserweiterung: »Wenn ich mir bei XY mehr Kompetenzen erarbeiten will, dann bietet die Jugendarbeit Raum.« … – Wettkampf: »Bei dem Verein kann ich meine sportlichen Fähigkeiten einbringen – da will ich mich auch mit anderen im Verein/mit anderen Vereinen messen.« … – Anerkennung: »In der Kirchengemeinde – da bin ich endlich wer und werde für voll genommen – nicht wie bei meinem Arbeitgeber, bei dem ich nur als Rädchen im großen System funktionieren muss.« … – Persönliche Beziehungen: »Schön, wenn man eine Gruppe hat, mit der man abends auch mal grillen/ein Bier trinken kann. Die anderen Gemeindeglieder sind schon richtige Freund:innen geworden.« … – Soziale Gerechtigkeit: »Ich will etwas an dieser Welt verändern – sie etwas gerechter machen, deshalb engagiere ich mich bei der Kirchengemeinde.« … Motiv Sinnsuche, das sich aus verschiedenen Einzelmotiven ergibt

Aus der Grafik und Liste wird deutlich, dass es innere wie äußere Gründe für ehrenamtliches Engagement gibt. Meist ist es nicht ein Grund, sondern ein Mix aus verschiedenen Motiven. Oft kommt – insbesondere in sozialen Organisationen wie auch bei der Kirche – das Motiv der Sinn-Suche dazu, das als Überschrift oder Zusammenfassung verschiedener Einzelmotive angesehen werden kann, zugleich erst in solchen Einzelmotiven sprachfähig wird. Auch kann ehrenamtliches Engagement eine Kompensation sein, wenn z. B. das menschliche Bedürfnis nach Wertschätzung in anderen Lebenskontexten (beruflich/privat) nicht ausreichend oder gar nicht befriedigt werden kann. Das Wissen um die Motive ehrenamtlichen Engagements ist wichtig, wenn es darum geht, Ehrenamtliche zu führen – ein Unterfangen, das nicht immer so leicht ist, wie es häufig auf den ersten Blick scheint. Zunächst: Zur Gestaltung der Rahmenbedingungen und zur Ausgestaltung des Verhältnisses von Hauptamtlichen zu Ehrenamtlichen gibt es im Internet viele gute Broschüren und Handreichungen. Nachfolgend eine Liste mit Links, die keineswegs vollständig ist. Gegebenenfalls findet man von diesen Seiten den Absprung zu weiteren Seiten – hier sind die Zugangsweisen eines jeden Menschen bekanntermaßen unterschiedlich. Haus kirchlicher Dienste: Materialien zu »Gute Rahmenbedingungen«. Ehrenamtlichenkoordination. Standortbestimmung, online unter: https://www.ehrenamt-kirche.de/unterstuetzung/materialien/materialien-gute-rahmenbedingungen1 Haus kirchlicher Dienste: ehrenamt kirche, online unter: https://www.ehrenamt-kirche.de/ 1 Links in diesem Kapitel wurden abgerufen am 29.11.2021.

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Ehrenamt

Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens: Handeln. Ehrenamt in der Kirchengemeinde, online unter: https://www.evlks.de/handeln/ehrenamt-in-der-kirchgemeinde/ Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern: ehrenamt evangelisch engagiert. Ehrenamt in der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, online unter: https://www.ehrenamt-evangelisch-engagiert.de/aktuelles/ Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland: Engagiert im Ehrenamt, https://www.nordkirche.de/ dazugehoeren/im-ehrenamt

Eine besonders ausführliche und praktische Handreichung findet sich unter: Haus kirchlicher Dienste: 12 Standards für das Ehrenamt. Checkbögen und Material, 4. Aufl., Hannover 2013, online unter: https://www.gemeinde-leiten.de/damfiles/default/gemeinde-leiten/material/2496_12-Standards_ INNENSEITEN_NACHDRUCK_web_komplett-08472b1f25270909030336c1b27a2c5d.pdf

Gemeinsam ist diesen Broschüren, Ratgebern und Handreichungen, dass sie aktiv für die ehrenamtlich Arbeit werben. Auch aus dem nichtkirchlichen Bereich gibt es viele Hinweise und Tipps, wie man gut mit ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen umgeht – auch hier nur einige Beispiele: IFK: Kommunikation mit Ehrenamtlichen. Der Verbandsstratege 35/2014, online unter: https://agentur-adverb.de/download/201407-verbandsstratege-ehrenamtliche.pdf forum ehrenamt: Zur Motivation Ehrenamtlicher, online unter: https://www.forum-ehrenamt.net/attachment/1e49c0515a2490e9c0511e4a14b5fdca589f3d8f3d8/1e4d3ac4ea4ed90d3ac11e49da499041e6f4df24df2/ tipps_fur_trager.pdf 3s media: Fünf Tipps im Umgang mit Ehrenamtlern im Sport, 24.07.2019, online unter: https://www.d3s-media.de/2017/07/24/fuenf-tipps-im-umgang-mit-ehrenamtlern-im-sport/

Fragen zur Reflexion a. Weiß ich, wie viele ehrenamtliche Mitarbeiter:innen sich in meiner Gemeinde/Organisation engagieren? b. Frage ich die ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen in meiner Gemeinde nach ihren Motiven? c. Setze ich die ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen nach ihrer Kompetenz ein oder danach, wo es eben gerade Unterstützung braucht, egal welches Motiv und welche Kompetenzen der:die Mitarbeiter:in hat? d. Bei welchen Motiven, wenn ich sie denn kenne, muss ich vorsichtig sein? Was passt in unsere Gemeinde/Organisation, was eher nicht? e. Bin ich darauf eingestellt, dass es auch mit ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen Probleme geben kann – habe ich Strategien dafür?

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2 Einige Beispiele, bunt aus dem Leben gegriffen Meist funktioniert es mit den Ehrenamtlichen

Im Folgenden soll es nicht darum gehen, was alles mit ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen beachtet werden muss, welche Regeln und Vereinbarungen im Vordergrund stehen. Es soll vielmehr darum gehen, was man als Führungskraft im kirchlichen Kontext tut, wenn es nicht funktioniert mit dem:der ehrenamtlichen Mitarbeiter:in. Was gibt es für Möglichkeiten, sich in schwierigen Führungs- und Kommunikationssituationen zu verhalten? Anhand von fiktiven Beispielen werden Fälle dargestellt, die nicht selten sind im Zusammenhang mit ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen. Dazu sei vorbemerkt: In den meisten Fällen funktioniert ehrenamtliche Mitarbeit gut. Kirchen wie Vereine und viele andere Organisationen sind auf ehrenamtliche Mitarbeiter:innen angewiesen. Es geht also im Folgenden nicht darum, ehrenamtliche Mitarbeiter:innen in irgendeiner Weise zu diskreditieren, sondern vielmehr darum, einige nicht ganz untypische Problemkonstellationen ans Licht zu heben und beispielhaft daran zu arbeiten, wie man als kirchliche Führungskraft darauf reagieren kann.

  Beispiel 1  

Die geschäftsführende Pfarrerin Verena M. will in ihrer Gemeinde einen Segnungsgottesdienst einführen und sucht dafür ehrenamtliche Mitarbeiter:innen. Verena schreibt das Angebot auf der kircheneigenen Website aus und hängt zudem »Stellenanzeigen« am neu geschaffenen »Ehrenamtsportal« neben der Kirchentür aus. Schnell melden sich Gemeindeglieder bei Verena. Verenas Wunsch ist, dass nicht nur sie als Geistliche segnet, sondern auch die Ehrenamtlichen als Zeichen der gemeinschaftlichen Verbundenheit. Zwei der ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen, Anneliese und Steffi, kennt Verena gut – sie sind aktive Mitglieder der Gemeinde, die schon bei anderen Projekten mitgearbeitet haben. Den dritten Freiwilligen, Winfried, kennt sie nicht näher. Ein paar Mal hat Verena Winfried im Gottesdienst wahrgenommen, ein Hinterbänkler, der aber stets aufmerksam wirkte, soweit sie das im Gottesdienst wahrnehmen konnte. Um zu wissen, mit wem sie es zu tun hat, trifft sich Verena mit Winfried im Pfarrbüro, um ihm ihre Hintergründe zu erklären, auch, um wahrzunehmen, wer Winfried ist und warum er sich gerade bei einem Segnungsgottesdient engagieren will. Winfried zeigt sich als frommer, auf gut lutherischem Boden stehender Alltagschrist, ohne große Auffälligkeit. Er arbeitet als Ingenieur bei einer Maschinenbaufirma, ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder. Als sich Verena anschließend mit allen dreien trifft, um Details des Gottesdienstes und die jeweiligen Aufgaben zu besprechen, läuft alles wunderbar. Aufgaben und Dauer des Engagements der Ehrenamtlichen sind gut geklärt, sogenannte »Mitarbeitsverträge für Ehrenamtliche« sind unterzeichnet, alles nach den üblichen Standards durchgecheckt, der Gottesdienst vorbereitet – alles gut. Auch der Gottesdienst läuft, der Gottesdienstbesuch ist außergewöhnlich hoch, viele lassen sich segnen, es gibt auch keine »Run« auf die Pfarrerin, sondern alle Aktiven haben ungefähr die gleiche Anzahl von Gemeindegliedern, die sich segnen lassen wollen. Das Feedback aus Gemeinde und Kirchenvorstand ist positiv, Verena lädt Anneliese, Steffi und Winfried zum Essen ein, überreicht ihnen eine Kerze und eine Dankeskarte und macht klar, dass das Engagement der Ehrenamtlichen im Blick auf dieses Projekt für den Augenblick beendet sei. Zum Abschluss spricht Verena die Einladung aus, dass im kommenden Jahr gern wieder Beteiligung erwünscht sei, das aber sei ein neues Projekt. Anneliese, Steffi und Winfried verabschieden sich – weiterhin alles gut. Drei Monate später bittet Winfried um ein Gespräch. Verena freut sich drauf, sie hofft, einen Hinterbänkler aktiver in die Gemeinde eingebunden zu haben, doch das Gespräch

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nimmt eine unangenehme Wendung: Nach dem üblichen Small Talk, äußert sich Winfried: »Weißt du, Verena« – sie waren durch die Zusammenarbeit aufs Du übergegangen – »so geht das alles nicht! Künftig muss ich doch eine wichtigere Rolle bei solchen Veranstaltungen haben.« Verena hat keine Ahnung, worauf Winfried hinauswill, und fragt: »Warum?« – »Warum?«, antwortet Winfried, »warum? Da stehen drei Frauen vorne, und die Gemeinde besteht hauptsächlich aus Männern. Die wollen sich doch nicht von einer Frau segnen lassen! Hast du nicht gesehen, dass die meisten zu mir gekommen sind beim Segnungsgottesdienst? Die wollten sich nur von mir segnen lassen.« Verena, gewohnt, dass es immer noch alte weiße Männer gibt, die der Welt, und insbesondere den Frauen, alles erklären wollen, bleibt gelassen. »Hm«, sagt sie lakonisch, »habe ich nicht so wahrgenommen. Ich verstehe nicht so ganz, was du mir sagen willst.« »Ich will dir sagen, dass in dieser Gemeinde, in der zwei Frauen Pfarrerinnen sind, es einfach auch, gerade beim Segnen, einen Mann braucht. Die Männer in der Gemeinde wollen das auch so, haben sie mir gesagt.« Verena bleibt gelassen, im Grunde langweilt sie das Gerede, aber irgendwie muss sie es hinbiegen. »Also, Winfried, ich sehe das anders. Ich, wir haben viele positive Rückmeldungen bekommen auf den Gottesdienst, die meisten waren berührt von der Segnung, bei mir waren Männer wie Frauen, ich habe nicht mitgezählt, aber auch Anneliese und Steffi haben nichts davon erzählt, dass die Männer einen Bogen um sie gemacht hätten.« »Typisch, typisch Frau, dachte ich mir schon, dass du das nicht gesehen hast, aber ich werde das auch so weitergeben in die Gemeinde.« Der Konflikt eskaliert, am Ende verlässt Winfried wütend das Pfarrbüro und knallt dabei sämtliche Türen, die ihm in die Quere kommen, laut zu. Verena bleibt ärgerlich zurück.

Stellen Sie sich vor, Sie wären Kolleg:in von Verena und sie würde Ihnen diese Geschichte erzählen. Was wären Ihre Wahrnehmungen?

Wenn Verena Sie fragte, was Sie in der Situation machen würden, was würden Sie ihr sagen?

Welche(s) Motiv(e) vermuten Sie beim ehrenamtlichen Engagement von Winfried?

Welche Möglichkeiten Verena hat – einige Ideen: 1. Verena kann die ganze Geschichte ignorieren, Winfried reden lassen und ihn nicht mehr für ehrenamtliche Aufgaben berücksichtigen. 2. Verena kann Winfried erneut zum Gespräch bitten und ihm erklären, dass es so nicht geht. Sie kann ihm zugleich erklären, dass sie mit solchen Leuten wie ihm keine Lust mehr hat zusammenzuarbeiten.

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3. Verena kann im Gespräch gegen den Sexismus von Winfried vorgehen und ihre Meinung dagegenhalten. Wenn er keine Einsicht zeigt, kann sie ihm sagen, dass sie ihn nicht mehr zu ehrenamtlichen Aufgaben heranziehen wird. 4. Verena kann in den Ehrenamtlichenkreis gehen und dort eine Diskussion zum Thema »Frauen und Beruf, Sexismus und verbale Gewalt« halten. Sie hofft, dass Winfrieds Aussage, die meisten Ehrenamtlichen würden so denken, nicht stimmt. 5. …? Defensiv oder offensiv?

Die defensive erste Lösung birgt die Gefahr in sich, dass Winfried seine frauenfeindliche Einstellung weiterverbreitet. Zudem müsste sich Verena den Vorwurf gefallen lassen, konfliktscheu zu sein. Schließlich droht sie dadurch, weitere ehrenamtliche Mitarbeiter:innen zu verlieren, wenn Winfried in seinem Ärger Koalitionen bildet. Deutlich klärender wäre der zweite Weg, allerdings bleibt – neben dem Verlust eines ehrenamtlichen Mitarbeiters – die Gefahr bestehen, dass Winfried weiterhin seine Meinung jedem:jeder erzählt, der:die es hören will oder nicht. Mit der dritten Variante hält Verena die Tür offen, dass Winfried Einsicht zeigt und darüber nachdenkt, seine Meinung zu ändern – auch wenn die Hoffnung gering sein mag. Immerhin würde Verena so den Konflikt angehen und eine aktive Rolle einnehmen. Die vierte Lösung ist vermutlich nur hilfreich, wenn vorher ein Gespräch mit Winfried stattgefunden hat. Andernfalls läuft Verena unter Umständen in die Falle einer stillen Koalitionsbildung zugunsten Winfrieds, wenn tatsächlich die Mehrheit der Mitglieder des ehrenamtlichen Kreises solch frauenfeindlichem Gedankengut anhängt. Eine gute Lösung wäre also, Winfried mit seinen Aussagen zunächst im Zweiergespräch zu konfrontieren, ihm vielleicht noch die Möglichkeit zum Überdenken zu geben und ihm zugleich anzubieten, dass Verena als Pfarrerin einen Abend in den Ehrenamtlichenkreis kommt, um über diese Themen zu diskutieren.

  Beispiel 2  

Dekanin Katharina G. hat ihr ländlich geprägtes Dekanat im Griff. Seit zehn Jahren leitet sie das Dekanat, es gibt keine Probleme, das Pfarrkapitel arbeitet gut zusammen, es macht Spaß mit ihren Kolleg:innen. Eines Nachmittags – Katharina bereitet gerade die nächste Teambesprechung vor – klingelt ihr Telefon. Der langjährige Kirchenvorsteher Christoph M. ist dran, aus der kleinen Dorfgemeinde Dorfhausen. Dorfhausen, sortiert sich Katharina, das ist die Gemeinde, in die im Jahr zuvor ein junger Pfarrer gekommen ist, Tom R. Er scheint gute Arbeit zu machen und Gemeindeglieder aller Altersgruppen durch seine freundliche, zugleich klare Art in der Gemeinde zu aktivieren. Für den jungen, durchaus gutaussehenden Pfarrer ist es die erste Pfarrstelle nach Vikariat und Probezeit. Katharina freut sich jedes Mal, wenn sie mit ihm spricht, weil er, durch und durch theologisch fundiert, Impulse für Gemeinde und Dekanat bringt, von denen andere in Dekanat profitieren können und wollen. »Wissen Sie«, sagt Christoph am Telefon, »ich wollte Ihnen nur erzählen, dieser junge neue Pfarrer, also wenn Sie wüssten …«. »Was?«, fragt Katharina, »was soll ich wissen?« »Naja«, sagt Christoph, »das ganze Dorf spricht schon darüber!« »Worüber?« »Der Pfarrer hatte«, Christoph druckst herum, »der Pfarrer hatte neulich Abend die Christa zu Gast im Pfarrhaus!« »Ja, und?« »Ja, und die Leute sagen, sie sei erst am nächsten Morgen wieder aus dem Pfarrhaus gekommen.« »Hm«, sagt Katharina, »das sagen also die Leute.« »Ja, ja, man zerreißt sich schon das Maul darüber, weil die Christa, die ist doch mit dem Albert zusammen, der immer auf Geschäftsreise ist, so ein reicher Schnösel, mit einem dicken Auto

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und der Villa in der Siedlung! Das macht schon die Runde hier, und ich sag’ Ihnen, nicht nur am Stammtisch!« Was Katharina, aber nicht Christoph weiß: Der junge Pfarrer Tom ist homosexuell, trägt das aber nicht offen zur Schau und will das auch in der Gemeinde nicht bekannt geben, weil er das für seine Privatangelegenheit hält – was es auch ist. Es liegt in seiner persönlichen Freiheit, ob und wann er das der Gemeinde mitteilt. »Also«, versucht Katharina Christoph zu beruhigen, »ich kann mir das bei Pfarrer R. nicht vorstellen«, outen will und darf sie ihn nicht, »er ist wirklich ein guter Mann und schafft so viel Aktivität in der Gemeinde«. »Ja, Aktivität«, sagt Christoph, »Aktivität ist richtig, aber die ganze Gemeinde ist in Aufruhr. Die Hälfte des Kirchenvorstandes will eine Aussprache mit Pfarrer R. Es kann doch nicht sein, dass unser Dorf in Verruf gerät wegen dieses jungen Weiberhelden! Ein Mann Gottes soll das sein, ich pfeif’ drauf!« Grußlos beendet Christoph das Gespräch.

Stellen Sie sich vor, Sie wären Kolleg:in von Katharina und sie würde Ihnen diese Geschichte erzählen. Was wären Ihre Wahrnehmungen?

Wenn Katharina Sie fragte, was Sie in der Situation machen würden, was würden Sie ihr sagen?

Welche(s) Motiv(e) vermuten Sie beim ehrenamtlichen Engagement von Christoph?

Welche Möglichkeiten Katharina hat – einige Ideen: 1. Auch hier könnte Katharina die Geschichte aussitzen und abwarten, was passiert. Schließlich ist Pfarrer R. alt genug, Konflikte einzugehen. 2. Katharina könnte Tom anrufen und bitten, dass er die Sache vor Ort klärt; er wird wissen, wie er das am besten machen könnte, schließlich kennt er die Leute besser als sie, auch wenn er erst kurz in der Gemeinde ist. 3. Sie könnte Christoph im Vertrauen von der sexuellen Orientierung von Tom erzählen mit der Bitte, dies absolut vertraulich zu behandeln. 4. Katharina kann mit Tom reden und fragen, ob er sich in der Gemeinde outen will. Der Kirchenvorstand hatte bisher nicht danach gefragt, auch Katharina ist der Meinung, dass dies eine Privatangelegenheit von Tom ist. 5. Katharina kann versuchen, Christa zu kontaktieren. 6. …?

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Katharinas Dilemma

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Katharina steckt in einem Dilemma: Die Macht der Ehrenamtlichen wie der Gemeindeglieder in Dorfhausen ist groß. Schon der Vorgänger von Tom hatte nach kurzer Zeit entnervt das Handtuch geworfen und sich wegbeworben wegen der Sturheit der älteren Gemeindeglieder, die im Dorf immer noch das Sagen haben. Christoph etwas im Vertrauen mitzuteilen, ist ausgeschlossen, weil es schnell unter dem Siegel der Verschwiegenheit die Runde machen würde. Aussitzen scheint ebenso nicht angeraten, weil Katharina ahnt, dass der Kirchenvorstand ernst machen und Tom zur Aussprache verpflichten würde. Das wäre für Tom nicht einfach, denn es ist nicht abzusehen, was ein Outing für das Gerede im Dorf bedeuten würde. Zwar bestünde die Möglichkeit, dass die Dorfgemeinschaft sich daraus gar nichts machen würde, zugleich aber könnte es genauso gut anders ausgehen, und das Gerede noch mehr anheizen: Ein schwuler Pfarrer in Dorfhausen! f. Wo mache ich Unterschiede in der Führung von hauptamtlichen und ehrenamtliche Mitarbeiter:innen? g. Warum mache ich diese Unterschiede? h. Was würde passieren, wenn ich beide Gruppen auf gleiche Art und Weise führen würde?



  Beispiel 3  

Die Gemeinde Neustadt hat ein aktives Gemeindeleben. Die beiden Pfarrer Martin und Jörg managen die Gemeinde seit Jahren, die üblichen Themen, die üblichen Probleme, die üblichen Dinge, die gut laufen. Viele Ehrenamtliche sind engagiert in der Gemeinde, sie sind gut organsiert – es gibt den Kreis der Ehrenamtlichen, der sich einmal im Monat trifft und immer gut besucht ist. Nun steht das Thema »Selbstverständnis und Aufgaben im Ehrenamt« auf der Tagesordnung des Kreises. Sebastian, der ehrenamtliche Jugendhelfer, bringt seine neueste Entdeckung aus dem Internet mit: Die »12 Standards für das Ehrenamt«, wie sie von seiner Landeskirche veröffentlicht und von den beiden Pfarrern fröhlich an alle Ehrenamtlichen verschickt wurden. »Darin steht,«, sagt Tom, »dass wir als Ehrenamtliche Anrecht auf ein Mitarbeiter:innengespräch mit dem Pfarrer haben. Eine gute Sache. Ich mag das, wenn man Feedback bekommt, das kenne ich aus meiner Firma.« »Heißt das, wir sollten uns alle so ein Feedbackgespräch geben lassen?«, fragt Nora. »Ja, warum denn nicht, ich rufe da nächste Woche an wegen eines Gesprächs, das tut gut!«, sagt Sebastian. In den kommenden zwei Wochen bekommen Pfarrer Martin und Jörg zehn Anrufe von Ehrenamtlichen, die gerne eine Feedbackgespräch hätten, natürlich sobald es geht. Bei der nächsten Dienstbesprechung und den Blick in die Kalender kommen Martin und Jörg ins Schwitzen.

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Ehrenamt

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Stellen Sie sich vor, Sie wären Kolleg:in von Martin und Jörg und sie würden Ihnen diese Geschichte erzählen. Was wären Ihre Wahrnehmungen?

Wenn die beiden Sie fragten, was Sie in der Situation machen würden, was würden Sie ihnen sagen?

Welche(s) Motiv(e) vermuten Sie beim ehrenamtlichen Engagement von Sebastian?

Welche Möglichkeiten Martin und Jörg haben – einige Ideen: 1. Ehrenamt ist wichtig, selbstverständlich haben alle ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen das Recht auf ein Feedbackgespräch. Martin und Jörg räumen ihre Kalender frei und verteilen die zwölf Termine brüderlich auf die kommenden zwei Wochen. 2. Martin und Jörg wiegeln die Ehrenamtlichen ab und bieten an, dass einer der beiden einen Abend in den Ehrenamtlichenkreis kommt, und ihnen allen ein Gruppenfeedback gibt. 3. Martin und Jörg machen die Feedbackgespräche zu einer gestreckten Kasualie und arbeiten die Termine in den kommenden Monaten ab, auf die Gefahr hin, dass das bei den Ehrenamtlichen zu Verstimmungen führt. 4. …? Martin und Jörg haben ein Luxusproblem, das sich auf den zweiten Blick etwas kniffliger zeigt als es zunächst scheint. Klar ist, dass die beiden nicht alle Termine zugunsten der Feedbackgespräche verschieben können. Gleichwohl müssen sie darauf achten, dass sie die Ehrenamtlichen nicht verärgern, wenn sie die Gespräche auf die lange Bank schieben. Eine Lösung könnte sein, das Anliegen der Ehrenamtlichen zu würdigen (auch das ist ein Akt der Wertschätzung ehrenamtlicher Mitarbeit) und bei diesen um Verständnis werben, dass es nicht sofort geht, sondern einen gewissen Zeitraum braucht.

  Beispiel 4  

Pfarrer Helmut lädt – wie immer am Ende des Gottesdienstes – die Besucher:innen zum Kirchencafé ein. Er geht in die Sakristei, legt den Talar ab und macht sich auf in den Nebenraum der Kirche, wo das Kirchencafé stattfindet. Schon auf dem Weg von der Sakristei zum Nebenraum hört Helmut laute Stimmen. Die Seniorin Elfie, die sich schon seit Jahren um das Kirchencafé kümmert, ist mit Irmgard, die erst zum zweiten Mal als Helferin dabei ist, in heftigen Streit geraten.

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Luxusprobleme

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Worum es geht, versteht Helmut nicht, wohl war der Kaffee zu dünn oder zu stark, letztlich eine Lappalie, vermutet er. Der Streit zwischen den beiden ist es gleichwohl nicht. Die beiden sind nicht zu trennen, auch die Gottesdienstbesucher:innen, die zum Kirchencafé gekommen sind, bringen die beiden nicht auseinander. Schließlich schmeißt Elfi die Kaffeetasse zu Boden und verlässt eilig den Raum: »Nie wieder mache ich hier Kaffee, nie wieder! Da kommt diese Dame daher, macht zum zweiten Mal Kaffee und glaubt, mir sagen zu können, wie man Kaffee kocht und wie man die Tische zu decken hat. Das habe ich ja noch nie erlebt – nie wieder!« Helmut versucht noch, Elfie einzufangen, mit ihr zu sprechen, schließlich ist er auf sie angewiesen, weil sie sich bisher zuverlässig und selbstständig um alles gekümmert hat. Doch nichts zu machen, Elfie rauscht davon und ward nicht mehr gesehen.

Stellen Sie sich vor, Sie wären Kolleg:in von Helmut und er würde Ihnen diese Geschichte erzählen. Was wären Ihre Wahrnehmungen?

Wenn Helmut Sie fragte, was Sie in der Situation machen würden, was würden Sie ihm sagen?

Welche(s) Motiv(e) vermuten Sie beim ehrenamtlichen Engagement von Irmgard und Elfie?

Welche Möglichkeiten Helmut hat – einige Ideen: 1. Helmut lässt die Sache auf sich beruhen und hofft, dass sich die beiden beim nächsten Kirchencafé wieder einig werden. Logisch, es braucht Zeit, bis sich das neue System stabilisiert. 2. Helmut nimmt sich, nachdem Elfie nicht mehr einzufangen war, Irmgard zur Brust und weist sie darauf hin, dass Elfie sich hier in der Gemeinde seit Jahren um das Kirchencafé kümmert. Es sei schön, dass Irmgard sich auch engagieren will, aber das Sagen habe in diesem Fall schon Elfie. Es könne ja nicht angehen, dass »die Neue« das bewährte System durcheinanderbringe. 3. Helmut geht auf Irmgard zu, entschuldigt sich für das Verhalten von Elfie, und bittet darum, dass die beiden sich doch wieder vertragen mögen. 4. Helmut ruft Elfie an, sucht das Gespräch mit ihr und wiegelt ab: Natürlich würde Irmgard künftig nicht mehr zusammen mit ihr das Kirchencafé machen, das müsste getrennt werden.

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Ehrenamt

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5. Helmut bittet Elfie und Irmgard zum gemeinsamen Gespräch und versucht, nach Einzelgesprächen, gemeinsam mit den beiden in Form einer kleinen Mediation den Konflikt auszuräumen. 6. …? Auf eine selbständige Heilung des Konflikts zu hoffen, dürfte schwierig sein. Zumindest, wenn Helmut das Interesse hat, beide Ehrenamtlichen zu halten, sollte er darauf achten, dass beide – Elfie und Irmgard – so aus der Situation herauskommen, dass beide ihr Gesicht wahren können. Wenn Helmut nur mit einer Partei – sei es Elfie oder Irmgard – Kontakt aufnimmt, läuft er Gefahr, dass er mindestens eine ehrenamtliche Mitarbeiterin verliert. Insofern scheint es angeraten, mit beiden ein kleines Mediationsverfahren anzustreben, denn Helmuts Ziel sollte sein, beide für die ehrenamtliche Mitarbeit zu halten.



  Beispiel 5  

Gregor ist der neue Lektor in der Gemeinde. Vor drei Wochen wurde er in einem Gottesdienst von Pfarrerin Sabine eingeführt. Nun steht sein erster Gottesdienst an, den er allein halten darf. Am Samstag vor seinem »großen Tag«, wie er es nennt, kommt er in die Kirche, um alles vorzubereiten. Mesner Johann ist zufällig in der Kirche, die beiden begrüßen sich freundlich. Nach einem kurzen Gang durch die Kirche ruft Gregor Mesner Johann zu sich: »Schauen Sie sich das mal an, das ist ja ein Chaos hier! Die Stühle stehen nicht in einer Reihe, da hinten liegen noch die Gesangbücher rum, so geht das doch nicht! Machen Sie das mal sauber! Und da hinten, beim Eingang, da brauche ich morgen die Gottesdienstzettel, die verteilen Sie dann bitte, wenn der Gottesdienst beginnt. Ich erwarte, dass das morgen alles reibungslos läuft und hier alles blitzblank ist, klar?« Am Montag klingelt Mesner Johann bei Pfarrerin Sabine, obschon sie ihren freien Tag hat. Mesner Johann möchte sich beschweren …

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Wenn möglich: Keine Verlierer:innen schaffen!

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Stellen Sie sich vor, Sie wären Kolleg:in von Sabine und sie würde Ihnen diese Geschichte erzählen. Was wären Ihre Wahrnehmungen?

Wenn Sabine Sie fragte, was Sie in der Situation machen würden, was würden Sie ihr raten?

Welche(s) Motiv(e) vermuten Sie beim ehrenamtlichen Engagement von Gregor?

Welche Möglichkeiten Sabine hat – einige Ideen: 1. Sabine könnte Mesner Johann beruhigen und ihm zugleich mitteilen, dass es seine Aufgabe ist, für einen reibungslosen Ablauf des Gottesdienstes zu sorgen. Zwar könnte sie einräumen, dass sich Gregor vielleicht im Ton vergriffen, aber in der Sache Recht habe. 2. Sabine könnte – aufgrund der Schilderung von Mesner Johann – Gregor anrufen und ihm bis auf Weiteres verbieten, Gottesdienste zu halten. 3. Sabine könnte die Sache einfach zur Kenntnis nehmen und auf sich beruhen lassen. 4. Sabine könnte Johann bitten, auf Gregor zuzugehen und ihm mitzuteilen, dass er sich so nicht behandeln lassen solle. Schließlich, so hat es Sabine doch im Seminar zum Konfliktmanagement gelernt, müsse man Konflikte zwischen Mitarbeiter:innen erst einmal rückdelegieren und die Konfliktbeteiligten auffordern, zunächst gemeinsam eine Klärung herbeizuführen, ohne dabei den:die Vorgesetze:n einzuschalten. 5. Sabine könnte beide zu einem Gespräch bitten und versuchen, die Situation gemeinsam zu klären. 6. … Wahrscheinlich empfiehlt es sich, die beiden zu einem Gespräch zu bitten. An eine Rückdelegation an die beiden, die manchmal sinnvoll und gut sein kann, ist in diesem Fall eher nicht zu denken, da weder Gregor noch Johann eine ausgeprägte Konflikt(lösungs) fähigkeit haben. Vermutlich wären sie mit der Rückdelegation überfordert. i. Wo ziehe ich Grenzen bei ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen? Was lasse ich mir (noch) gefallen, was nicht? j. Welche Strategie habe ich, wenn ehrenamtliche Mitarbeiter:innen untereinander in Konflikt geraten und Hilfe bei mir suchen? k. Habe ich im Zweifelsfall – bei einem Konflikt zwischen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – Präferenzen?

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Ehrenamt

l. Was tue ich, wenn sich ein:e hauptamtliche:r Mitarbeiter:in offensichtlich nicht richtig gegenüber einer:einem ehrenamtlichen Mitarbeiter:in verhält? m. Wie stelle ich sicher, dass ich aus meinen Erfahrungen – guten wie schlechten – mit ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen lerne? Dokumentiere ich meine Erfahrungen, gehe ich in den Austausch mit Kolleg:innen, zum Beispiel in Form von Kollegialen Beratungen?

3 Klärungen im Vorfeld Unterschiede im Führen von Ehrenamtlichen Was unterscheidet das Führen von Ehrenamtlichen vom Führen von Hauptamtlichen? Hauptamtliche

Ehrenamtliche

Motivation

intrinsisch/extrinsisch

siehe Liste oben (Abschnitt 1)

Arbeitsverhältnis

rechtsverbindlicher Vertrag

ehrenamtlicher Vertrag

Entlohnung

vertraglich fixiert

fällt weg (»Gotteslohn«)

fachliche Aufsicht

ja

bedingt

Sanktionsmaßnahmen

rechtlich verbrieft (wenn auch nicht einfach)

im Wesentlichen freihändig

Arbeitszeitregelung

fixiert

muss genau geregelt werden

Fürsorgepflicht

rechtlich geregelt

keine Regelung

Kommunikation

im Zweifelsfall hierarchisch

im Zweifelsfall hierarchisch (allerdings fraglich, ob wirksam)

Umgang mit Konflikten

im Zweifelsfall rechtliche Maßnahmen möglich; Arbeits-/ Dienstrecht

keine rechtliche Grundlage

Gerade weil kirchliche und diakonische Arbeit auf ehrenamtliche Mitarbeit angewiesen ist, sind Hauptamtliche im kirchlichen Kontext häufig schnell freudig und offen gestimmt, wenn sich eine oder mehrere Personen zur freiwilligen Mitarbeit bereit erklären, in welcher Form auch immer. Die Begeisterung überwiegt anfangs meist, doch manchmal, wie die Beispiele oben zeigen, verpufft diese Anfangsbegeisterung und man hat – manchmal –

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mit ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen mehr Aufwand, als man es zunächst vorhatte. Um dies zu vermeiden, helfen einige Tipps. Der Nasenfaktor Die meisten Broschüren und Ratgeber (s. o.) geben gute Tipps für die Arbeit mit Ehrenamtlichen – also dann, wenn die Ehrenamtlichen bereits an Bord sind. Gleichwohl lohnt es sich, wenn Sie sich vorab einige Fragen stellen und beantworten: 1. Wollen Sie diesen Menschen tatsächlich als ehrenamtliche:n Mitarbeiter:in? 2. Können Sie sich vorstellen, dass dieser Mensch, der sich für die Gemeindearbeit/für ein Projekt/für was auch immer anbietet, für einen definierten Zeitraum mit Ihnen oder Mitgliedern aus Ihrem Team zusammenarbeitet? 3. Können Sie sich vorstellen, dass diese Person regelmäßig in Ihrem oder dem Umfeld des Teams auftaucht, mitredet, mitgestaltet? Diese letzte Frage ist nicht banal, sondern letztlich die Grundfrage bei allen Personalentscheidungen (neben fachlicher Qualifikation und Referenzen etc.). Drei Grundfragen mit Blick auf Berater:innen 1. Ist der Mensch, der hier vor mir sitzt, fachlich qualifiziert, sodass er die Kompetenz hat, das Problem, zu dem ich mir Beratung hinzuziehe, zu lösen? 2. Versteht er:sie mein Problem und hat er:sie eine Lösungsidee/ein Konzept/einen Zugang, von dem ich mir vorstellen kann, dass diese Idee tatsächlich hilfreich ist? 3. Kann ich mir vorstellen, dass diese Person im kommenden Zeitraum X soundso oft in meinem Bereich/in meinem Umfeld/in meinem Büro auftaucht und mit mir sprechen/diskutieren will?

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Ehrenamt

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Dabei ist die Antwort auf die letzte Frage (»Nasenfaktor«) bei Personaler:innen diejenige, die über das Zustandekommen eines Berater:innenvertrages entscheidet, da fachliche Qualifikation und Kompetenz selbstverständlich sein sollten. Die Antwort auf diese Frage sollte auch bei der Auswahl von ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen gelten. Klärungen im Vorfeld bei allgemeiner Bereitschaft Neben dieser grundsätzlichen Frage ist es legitim, eine Person, die ihre freiwillige Mitarbeit anbietet, genauer kennenzulernen. Wenn sich eine Person bei Ihnen meldet und ihre ehrenamtliche Mitarbeit allgemein anbietet (also nicht projektbezogen): – Grundsatzklärung 1: Für was brauchen Sie überhaupt ehrenamtliche Mitarbeit? Was müsste der:die Mitarbeiter:in können/mitbringen, wenn Sie es sich wünschen dürften? Das sollte im Hintergrund das weitere Gespräch leiten. – Grundsatzklärung 2: Machen Sie der Person klar, dass Sie sich über ehrenamtliche Mitarbeit freuen, dass es aber zugleich in der ehrenamtlichen Arbeit darum geht, dass das Miteinander im Vordergrund steht und Sie deshalb die nachfolgenden Punkte ansprechen müssen/wollen. – Motivklärung: Welche(s) Motiv(e) hat die Person, sich ehrenamtlich zu engagieren? Bohren Sie nach – ein einfaches »Weil ich ein Christenmensch bin und meiner Kirche helfen will!« sollte Sie nicht zufriedenstellen. – Vorerfahrungen: Welche Erfahrungen bringt die Person in ehrenamtlicher Mitarbeit mit? Wenn die Person Erfahrungen hat, klären Sie den Kontext und Rahmen ab, in dem die Person ihre frühere ehrenamtliche Mitarbeit eingebracht hat. Fragen Sie nach möglichen Konflikten. Warum ging die ehrenamtliche Mitarbeit in der Vorerfahrung zu Ende – wer hat sie beendet und warum? – Kompetenzen: Welche Kompetenzen kann (und will) die Person einbringen? – Referenzen: Kann die Person Referenzen (Ehrenamtszeugnissen o. Ä.) vorweisen? – Hintergründe und Lebenskontext: Fragen Sie – ohne indiskret zu werden –, ob und wo die Person arbeitet, welche Erfahrungen aus dem beruflichen Kontext sie mitbringt. Hintergrund: Eine selbstbewusste Top-Führungskraft, die im beruflichen Kontext Erfahrung mit Führung von Mitarbeiter:innen hat, geht mit einer anderen Haltung in ehrenamtliche Arbeit als ein angestellter Verwaltungsexperte ohne Führungsverantwortung. – Teamfähigkeit: Welche Erfahrungen hat die Person mit Teamarbeit? – Zeitumfang: Wie viel Zeit kann (und will) die Person einbringen? – Spezifikation: Hat die Person bereits ein konkretes Projekt/einen bestimmten Arbeitsbereich etc. im Blick? Warum gerade diesen? – Erwartungen: Was erwarten Sie sich von ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen? Auch das muss offengelegt werden. – Absprachen/Regeln: Teilen Sie der Person mit, welche Absprachen/Regeln im Miteinander in Ihrer Gemeinde/Organisation gelten. Sollte es in Ihrer Gemeinde/Organisation ungeschriebene, unausgesprochene Regeln geben, weisen Sie die Person darauf hin. – Hindernisse: Sollte es bei dem Projekt/bei dem Arbeitsbereich, für das bzw. für den sich die Person engagieren will, Hindernisse/Schwierigkeiten/Probleme geben oder in der Vergangenheit gegeben haben, sprechen Sie offen mit der Person darüber. Lassen Sie den:die potenzielle:n Ehrenamtliche:n nicht in Fallen tappen oder gar in offene Messer laufen! – Zeit nehmen: Machen Sie der Person nicht sofort eine Zusage, sondern schlafen Sie eine Nacht darüber, ob die Person Ihnen tatsächlich eine Hilfe/Unterstützung sein kann.

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Einige Hinweise

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Um das klarzustellen: Es geht nicht um eine Gewissens- oder Gesinnungsprüfung, sondern um eine Klärung für Sie und für die Person, die sich engagieren will, mit wem man es gegenseitig zu tun hat – das ist professioneller Umgang mit Ehrenamtlichen! Klärungen im Vorfeld bei projektbezogener Mitarbeit Wenn sich eine Person bei Ihnen für ein konkretes Projekt meldet, empfiehlt es sich, schließlich zusätzlich folgende Punkte anzusprechen: – Projektfokussierung: Warum will die Person genau bei diesem Projekt mitarbeiten (und nicht bei einem anderen)? Welche Erfahrungen bringt die Person in diesem Bereich mit? – Ideen/Lösungsvorschläge: Welche Ideen/Lösungsvorschläge/Konzepte hat die Person? – Stakeholderorientierung: Welche Erfahrungen hat die Person mit der betroffenen oder angesprochenen Klientel (Jugendliche sind eine andere Klientel als Senior:innen)? Im Konfliktfall Möglichkeiten im Umgang mit ehren­amtlichen Mitarbeiter:innen

Klarheit und Fingerspitzengefühl

Schwierig wird es häufig, wenn Ehrenamtliche Mitarbeiter:innen in Konflikt geraten – untereinander, mit anderen Ehrenamtlichen oder mit hauptamtlichen Mitarbeiter:innen. Im Unterschied zu hauptamtlichen Mitarbeiter:innen befindet sich die Führungskraft in einer anderen Position. Zwar werden kirchliche Führungskräfte auch in einem Konfliktfall mit Ehrenamtlichen mit ähnlichen Argumenten konfrontiert (»Von der Kirche hätte ich mir das nicht erwartet!«, »Aber die Kirche muss doch …«, »Aha, und ihr nennt euch Christ:innen!«, »Ihr seid ja auch nicht besser als die in der Wirtschaft/draußen/in der Welt!« etc.), gleichwohl fehlt die rechtliche Bindung und im Zweifelsfall die Sanktionskarte, die eine Führungskraft in einem Konfliktfall mit ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen ziehen kann. Deswegen sind Klarheit und Fingerspitzengefühl gefragt – viele Regeln und Tipps, die für ein Konfliktgespräch mit Hauptamtlichen Mitarbeiter:innen gelten (→ Kap.  13 Her damit! – Konflikte), gelten auch im Umgang mit Ehrenamtlichen, jedoch sind die Rollen ungeklärter, was auch die Konfliktbearbeitung schwieriger macht. Hilfreich ist der Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation nach den Ideen von Marshall Rosenberg (Rosenberg 2017). In einer Kurzzusammenfassung lassen sich die Schritte folgendermaßen charakterisieren: – Erster Schritt: Meine Wahrnehmungen Beschreiben Sie das beobachtete Verhalten Ihres Gegenübers mit Daten, Fakten und Informationen so konkret wie möglich: ☐ »Ich habe (am Mittwoch) gehört, gesehen, dass …« Keine Bewertungen, keine Interpretationen, keine Gerüchte, keine Verallgemeinerungen (»Immer sagen Sie …«, »Nie tun Sie …«)! – Zweiter Schritt: Mein Gefühl Welches Gefühl hat das bei Ihnen ausgelöst? Klare Ich-Botschaft. Gefühl benennen, nicht ausagieren. ☐ »Ich fühle mich dabei …« ☐ »Das hat bei mir ausgelöst …« ☐ »Das empfinde ich als …« Keine Analysen oder scheinbar objektive Bewertungen (»Das ist für alle ärgerlich …!«)! – Dritter Schritt: Meine Bedürfnisse, Werte Welches Bedürfnis ist bei Ihnen berührt? Welchem Bedürfnis wollen Sie Beachtung verschaffen?

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Ehrenamt

☐ »…, weil mir wichtig ist …« ☐ »Mir ist es ein Bedürfnis, ein Anliegen …« Keine Vereinnahmungen (»Uns liegt doch allen daran …«)! – Vierter Schritt: Mein Wunsch, meine Bitte, Konsequenz Worum möchten Sie die:den andere:n bitten? Positiv und konkret formuliert. ☐ »Ich bitte Sie …« ☐ »Deshalb bitte ich Sie, mir folgende Frage zu beantworten …« ☐ »… und deshalb bitte ich dich/Sie … zu tun …« Keine vagen oder abstrakten Formulierungen (»Man sollte in Zukunft mal darauf achten …«)! So einfach das auf den ersten Blick klingt, es bedarf der Vorbereitung – gerade im Gespräch mit Ehrenamtlichen, bei denen die emotionale Ebene meist diejenige ist, auf der sie als Erstes reagieren. Deswegen ist es sinnvoll (die Grundregel gilt auch bei Konflikt-/Feedbackgesprächen mit hauptamtlichen Mitarbeiter:innen), sich gut auf das möglicherweise konflikthaltige Gespräch mit dem:der ehrenamtlichen Mitarbeiter:in vorzubereiten – verabschieden Sie sich von dem Gedanken, dass Sie das schon können. Jedes Feedback- oder Konfliktgespräch ist eine neue Situation, weil Sie es jeweils mit einem anderen Menschen zu tun haben, von dem Sie nicht wissen, wie er:sie emotional reagiert.

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4 Zum Schluss

  Beispiel 6  

               Sie sehen hier viel Freiraum – vielleicht mögen Sie hier Ihr positives Beispiel eintragen – wo ist Führung im Umgang mit ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen gut gelungen?

Folgende Leitfragen: – Fassen Sie für sich die Situation noch einmal in Stichworte: Was war, wer war beteiligt, was war der Anlass für die schwierige Gesprächssituation? – Wer war außer Ihnen noch beteiligt? Wie waren die Rollen? – Was war Ihr Beitrag, dass das Gespräch gelungen ist? – Was war der Beitrag Ihres Gegenübers, dass das Gespräch gelungen ist? – Hand aufs Herz: Wo waren Stolpersteine, an welchen Stellen ging Ihr Puls nach oben? Warum? – Wenn Sie aus dem Gespräch berichten müssten: Was sind die Tipps, die Sie einem:einer Kolleg:in aus Ihrer Gesprächsführung weitergeben würden? – Welche Leitfrage ist hier nicht formuliert und was wäre Ihre Antwort darauf?

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Ehrenamt

10 Tipps, wie es mit ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen schiefgeht 1. Machen Sie einer Person, die ihre ehrenamtliche Mitarbeit anbietet, klar, dass Sie alles allein schaffen. 2. Wenn sich die Person trotzdem engagieren will: Machen Sie klar, dass Sie der:die Boss:in sind – Mitarbeit heißt, sich Ihrer Autorität zu fügen! 3. Wenn der:die ehrenamtliche Mitarbeiter:in Sie um ein Gespräch bittet: Vertrösten Sie diese Person immer wieder aufs Neue – schließlich reden Sie auf der Leitungsebene nur mit Ihresgleichen! 4. Nutzen Sie den:die Ehrenamtliche:n aus, solange Sie können. Das ist eine Ressource, die keine Kosten verursacht! 5. Fragen Sie die Person nicht, welche Kompetenzen sie hat. Ein:e Hausmeister:in, ein:e Kaffeekocher:in wird immer gebraucht! 6. Verlangen Sie vom dem:der ehrenamtlichen Mitarbeiter:in einen täglichen Statusbericht, was er:sie geleistet hat. 7. Wenn das alles nicht klappt – springen Sie von der anderen Seite des Pferdes: Überlassen Sie eine:r ehrenamtlichen Mitarbeiter:in alle Schlüssel zu Amtsräumen und Kirche – Vertrauen ist Basis für alles! 8. Sagen Sie allen hauptamtlichen Mitarbeiter:innen: Schont die Ehrenamtlichen, wir brauchen sie, wo immer sie wollen! Samthandschuhe sind im Umgang mit Ehrenamtlichen die neue Maskenpflicht. 9. Lassen Sie die Ehrenamtlichen frei entscheiden, wann und wo sie mitarbeiten wollen, geben Sie ihnen alle Freiheiten, egal, wie kompetent sie an welchen Stellen sind. 10. Rufen Sie ehrenamtliche Mitarbeiter:innen zu unmöglichen Tageszeiten an (um 6:30 Uhr morgens, am Wochenende, am besten zur Tatort-Sendezeit) und besprechen Sie mit ihm:ihr die nächsten Schritte, schließlich muss er:sie ja wissen, wie es weitergeht!

Autor Dr. Daniel Dietzfelbinger ist Pfarrer sowie Systemischer Coach, Organisationsentwickler und Geschäftsführer des Instituts persönlichkeit+ethik GbR, Augsburg. www.persoenlichkeitundethik.de, [email protected]

Literatur Deutscher Fußball-Bund e. V. (DFB): Motive für ein ehrenamtliches Engagement, 27.04.2015. https://www. dfb.de/vereinsmitarbeiter/abteilungsleiterin-fussball/artikel/motive-fuer-ein-ehrenamtliches-engagement-1663/, abgerufen am 15.09.2021. Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Hauptamt und Ehrenamt. Statistik zur Evangelischen Kirche in Deutschland. https://www.ekd.de/statistik-haupt-und-ehrenamt-44292.htm, abgerufen am 28.08.2021. Statista: Anzahl der Personen in Deutschland, die ehrenamtlich tätig sind, von 2017 bis 2021. https://de.statista. com/statistik/daten/studie/173632/umfrage/verbreitung-ehrenamtlicher-arbeit/, abgerufen am 28.08.2021. Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens, Paderborn 2016.

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Führen mit Werten Daniel Dietzfelbinger Î Was Werte ausmacht und Ansätze aus der Theorie Î Das eigene Wertebild formieren Î Haltungslehre: Einblick in die Transaktionsanalyse Î Perspektiven der Führungsethik Î Rollen der Führung

1 »Mein Haus, mein Auto, mein Boot« Sandkastenspiele

Zwei alte Schulkameraden, mittlerweile sichtbar erfolgreiche Männer mit sonnengebräuntem Teint, gewelltem, fülligem Haar, gekleidet in feinem Zwirn, begegnen sich zufällig in einem offensichtlich teuren Restaurant. Nach einer kurzen Small-Talk-Salve startet das Sandkastenspiel: Der eine blättert dem anderen hintereinander drei Bilder auf den Tisch mit den Worten »Mein Haus, mein Auto, mein Boot«. Sein Gegenüber guckt für eine Sekunde irritiert, anscheinend von Neid und Ehrfrucht zerfressen. Millisekunden vergehen, gefühlt Minuten, wie wird er reagieren? Pokerface – dann wandelt sich die Mimik in triumphales Augenblitzen. Ein kurzer Griff in die Jacketttasche – und er blättert ebenfalls drei Bilder hin mit einem noch größeren Haus, einem noch größeren Auto und einem noch größeren Boot: »MEIN Haus, MEIN Auto, MEIN Boot«, um von dort dann auf die Anlageberatung bei dem Bankhaus abzubiegen, was hier nun keine Rolle mehr spielen muss Manch eine:r kennt noch diese zum Zitat gewordene Werbung einer Bank (siehe Sparkasse Passau 2020).1 Die Werte, mit denen die beiden Herren ihr Sandkastenspiel und damit ihren Bedeutungsvergleich betreiben, sind materieller Art: das Haus, das Auto, das Boot. Gleichwohl – und das ist eine Frage des Blickwinkels – lassen sich mit den Bildern auch immaterielle Werte verbinden: Das Bild des Hauses mit den Werten Heimat, Familie, Gebundenheit, Vertrautheit; das Bild des Autos mit Freiheit, Ungebunden-Sein; das Bild des Boots mit Lebensfreude, vielleicht sogar Naturliebe … Alles eine Frage des Blickwinkels! Die unterschiedlichen Deutungen des Wertbegriffs in materieller und immaterieller Hinsicht haben eine lange Geschichte, implizit taucht diese bereits bei Aristoteles auf, wenn er zwischen der intrinsischen und der extrinsischen Funktion eines Schuhs unterscheidet. Die intrinsische Funktion ist die Tatsache, dass man den Schuh tragen kann und er die Füße schützt. Die extrinsische Funktion ist, dass man den Schuh eintauschen kann gegen Geld oder eine andere Sache. Das eine, so könnte man deuten, wäre der immaterielle Wert des Schuhs, der Verkaufsgedanke der materielle. Führungsethik hat es mit Werten zu tun, aber wie sind die Zusammenhänge genau? Wie kommt man zu einer persönlichen Führungsethik, wie lässt sie sich entwickeln und prägen? Das ist die Leitfrage für dieses Kapitel. 1 Werbung aus dem Jahr 1995 auf Youtube unter https://youtu.be/itFkfbs_hUc, abgerufen am 15.07.2021.

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Führen mit Werten

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Fragen zur Reflexion a. b. c. d.

Habe ich mich schon jemals nach meiner Führungsethik gefragt? Was leitet mich im Blick auf die Führung von Menschen? Welche Wertebilder, welche Werte immaterieller Art sind mir wichtig? Kann ich meine Werte in Worte fassen? Und wie spiegeln sie sich in meinem alltäglichen Führungshandeln wider? e. Wissen meine Mitarbeiter:innen um die Werte, die mich leiten?

2 Begriffsvielfalt: einige Definitionen Als Einstieg helfen zunächst einige Definitionen, die verdeutlichen, worum es in der Führungsethik, beim Führen mit Werten geht. Den Begriff »Wert« zu definieren, ist nicht banal. Das etwas verstaubte, ein bisschen nach hinten im Regal gerutschte »Wörterbuch der Philosophischen Begriffe« bleibt in der eigenen Blase: »Wert [ist] im allg[emeinen] die zwischen einem Gegenstand und einem Maßstab durch den wertenden Menschen hergestellte Beziehung.« (Hoffmeister 1955) Man könnte Werte auch Glaubenssätze nennen – Glaubenssätze haben eine für das Handeln des Menschen steuernde Funktion, zugleich müssen sie immer wieder hinterfragt werden, ob sie in der jeweiligen Situation, in der gehandelt werden muss, passend sind. Die Grenze zwischen Glaubenssätzen und Ideologie ist durchlässig.

Werte und Wertvorstellungen Bei Werten ist zwischen immateriellen Werten (Wahrheit, Vertrauen, Liebe etc.) und materiellen Werten (Geld, Haus etc.) zu unterscheiden. Vereinfacht ausgedrückt, sind ethische Werte immaterieller Natur, während ökonomische Werte materieller Natur sind. Das gilt gleichwohl nur bedingt, denn für viele Menschen sind Ansehen und

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Werte und Glaubenssätze

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Es gibt keine homogene Werteskala

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Ruhm (scheinbar immaterielle Werte) von großer Bedeutung. Ansehen und Ruhm aber können unterschiedlich definiert werden, je nachdem, welche weiteren Wertvorstellungen man hat: Sie können von Geld oder Reichtum hergeleitet werden (materieller Wert) oder aber zum Beispiel von geistigen, sportlichen oder sonstigen immateriellen Leistungen. Werte hängen in beiden Perspektiven von der subjektiven Einschätzung ab. So ist dem:der einen ein teures und schnelles, modernes Auto von größter Wichtigkeit und damit von Wert, während ein:e andere:r alles für bestimmte sportliche Leistungen investiert. Die Festlegung der Hierarchie der Werte ist subjektiv: Es können ethische oder religiöse Werte über ökonomische oder politische gestellt werden, anderseits können ökonomische oder politische Werte als wichtiger angesehen werden als rein gewissensbezogene. Dies macht den Wertbegriff relativ. Werte sind darüber hinaus auch kontext- und kulturabhängig. In einer globalen, pluralen Welt wäre es vermessen, von weltweit homogenen Werten zu sprechen; denn die Werte hängen unmittelbar mit dem Umfeld, den sozioökonomischen Gegebenheiten, mit religiösen Prägungen wie auch – und das wird häufig unterschätzt – mit der den Menschen umgebenden unmittelbaren Umwelt zusammen. Ein Mensch, der in der Stadt lebt, hat – mindestens bei den Sekundärwerten – meist ein anderes Wertegefüge als ein:e Landwirt:in, der:die auf Natur und Klima in ganz anderer Weise angewiesen ist als der:die Städter:in. Der Wertbegriff – ökonomisch und ethisch ökonomisch: Wert im ökonomischen Sinne ist die Bedeutung, die man Gütern im Hinblick auf ihre Fähigkeit, als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung zu dienen, beimisst. Bestimmend sind dabei der Nutzen, den sie durch die Bedarfsdeckung gewähren, und der Grad der Knappheit im Verhältnis zum Bedarf. Unterschieden wird nach dem Verwendungszweck zwischen Gebrauchswert und Tauschwert. ethisch: Wert kennzeichnet im ethischen Sinne eine Idee, eine Norm oder eine Verhaltensweise, die dem:der Einzelnen, einer Gruppe, Institution, Gemeinschaft als wichtig und erstrebenswert gilt (subjektiver Wert). Je verallgemeinerbarer eine solche Idee, Norm, Vorstellung oder Verhaltensweise ist, desto objektiver wird ein Wert (Gesundheit, Wohlstand, Umweltqualität).

Der Zusammenhang von Ethik, Ethos, Moral und Werten Die Begriffe »Ethik«, »Ethos«, »Moral« und »Sittlichkeit« liegen in ihrer Bedeutung nahe zusammen. Gerade in dieser Abfolge spiegelt sich ein Stück abendländischer Kultur- und Geistesgeschichte wider: Denn das griechische Wort ethos kann im Lateinischen mit mos übersetzt werden. Das deutsche Lehnwort Moral leitet sich wiederum von dem lateinischen mos ab und entspricht dem deutschen Wort »Sittlichkeit«. Gleichwohl: Trotz ihrer sprachlichen Verwandtschaft unterscheidet die theoretische Diskussion zwischen den Begriffen. Der Begriff »Moral« bezeichnet das, was an Werten existiert und was im Menschen an traditionellen Vorstellungen über die Frage nach dem guten oder schlechten Handeln existiert. Moral bezeichnet das sittliche Bewusstsein, das Bewusstsein für Werte, die noch nicht reflektiert sind, sondern aus der Umwelt als geltend und gültig akzeptiert werden. Der:die Einzelne hat also das Wertegefüge, das ihn:sie umgibt und nach dem er:sie sein:ihr Leben auszurichten versucht, noch nicht hinterfragt.

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Führen mit Werten

Oft entspricht ein moralisches Leben einem anständigen Leben, mithin einem Leben, das sich nach den allgemeinen Regeln der Gesellschaft ausrichtet. Moralische Urteile sind als solche nicht näher begründbar. Man beruft sich allenfalls auf den Anstand, den man als Ausdruck einer gesellschaftlichen Übereinkunft zur Rechtfertigung dieses oder jenen Handelns oder Unterlassens beschwört. Das bedeutet nicht, dass moralische Sätze und Urteile falsch sind. Ihr Begründungszusammenhang ist nur ein anderer als bei ethischen Sätzen. Moral ist nichts Feststehendes, sondern sowohl im einzelnen Menschen als auch in einer Gesellschaft kontinuierlich im Wandel. Moral erweist sich als fähig, auf äußere politische wie gesellschaftliche Veränderungen reagieren zu können und diese zugleich aktiv zu gestalten. Das hängt davon ab, wie sich Werte und die Einstellungen zu ihnen verändern. So herrschte zum Beispiel noch in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine konservativ geprägte Sexualmoral in Deutschland. Unabhängig davon, wie die:der Einzelne diese Moral lebte (oder nicht), galten strenge moralische Vorschriften, die das Sexualverhalten des Individuums mehr oder minder stark beeinflussten. Mittlerweile hat sich die Gesellschaft von manchen Zwängen befreit und damit das moralische Reglement geändert. Das heißt: Moral reagiert sensibel auf die Veränderungen im Bewusstsein einer Gesellschaft. Definition Moral (von lat.: mos, mores = die Sitte[n]); der Begriff Moral umfasst alle tatsächlich geltenden Normen und Regeln in einer Gesellschaft, wie sie geschichtlich entstanden sind und wie sie die Gesellschaft im Konsens akzeptiert. Entscheidend dabei ist, dass die:der Einzelne diese Regeln zunächst weitgehend unreflektiert übernimmt. Im Unterschied zum Recht ist die Moral zu begreifen als ein geschichtlich gewachsenes Instrumentarium; sie wird nicht vorgegeben (wie z. B. die Setzung des Rechtes durch den Staat), noch ist sie in jedem Fall mit Sanktionen (Strafen oder Anreizen) verbunden. Für die Moral ist der Hinweis auf den tatsächlich gelebten Konsens, die allgemeine Übereinstimmung innerhalb der Gesellschaft über bestimmte Vorstellungen des gelungenen Lebens zunächst als Begründung ausreichend (»das macht man so«, »das gehört sich so«).

Führungsmoral wäre demnach die Orientierung an Werten, die die eigene Prägung, die Umwelt, die Organisation vorgibt und an die man sich anpasst, ohne dass diese hinterfragt werden. Ethik ist demgegenüber die theoretische Reflexion von Moral, die wieder auf die Praxis einwirkt. Stellt man sich ein Koordinatensystem aus fortscheitender Zeitleiste und Reflexionsstufe vor, so setzt Ethik auf beiden Linien einen deutlichen Schritt höher und weiter an. Kommt also ein Mensch aufgrund seiner Reflexion, aufgrund seines Nachdenkens über eine moralische Regel oder einem moralischen Wert zum Ergebnis, dass es gute Gründe gibt, eine Regel zu befolgen (zum Beispiel, dass man nicht lügen soll), ist das eine ethische, weil reflektierte Entscheidung auf Basis moralischer Werte. Der Mensch macht mithin aus einem moralischen Gebot oder Wert, durch Reflexion und Begründung eine ethische Regel (Norm). Ethik überführt also das Handeln, das sich nach emotional besetzten Werten und manchmal auch Affekten richtet, in den Raum des Nachdenkens, um von dort wieder in die Praxis zu kommen. Denn das Handeln erwartet aus dem Prozess des Nachdenkens Vorgaben.

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Ethik hat es demnach zunächst mit Werten zu tun, über die sie reflektiert und aus denen sie Regeln ableitet. Ethik ist damit die Theorie der Moral, die wieder in die Praxis einfließen muss. Die Leitfrage dabei ist: Was soll ich tun? Definition Ethik (von griech.: ēthikē [epistēmē] = das, was die Sittlichkeit betrifft, Sittenlehre); Ethik geht von einer Diskrepanzerfahrung zwischen dem Ist und dem Sollen aus und fragt zunächst nach den Wertvorstellungen des Menschen. Sie reflektiert diese Wertvorstellungen und leitet daraus (vernünftig) begründbare Regeln und Normen ab, die für ein gelingendes Leben des:der Einzelnen wie einer Gruppe/Gemeinschaft wünschenswert sind.

Führungsethik ist demnach der reflektierte Umgang mit den eigenen Werten und Haltungen im Blick auf Zielsetzung und Motivation von Menschen. Ethos schließlich bezeichnet die individuelle Ausgestaltung der Regeln für einen einzelnen Menschen oder für eine Gruppe von Personen. Ethos ist die einzel- oder gruppenspezifische Ethik: Wie gehe ich mit den reflektierten und begründeten Normen um, wie lebe ich sie im Alltag? Folge ich dem Grundsatz »Du sollst nicht lügen!«, erlaube mir aber in der einen oder anderen Situation – in der Kindererziehung, in manchen Führungssituation oder in der schwierigen Frage im Umgang mit lebensbedrohlich Erkrankten – im Zweifelsfall eine Notlüge? Ethos beschreibt also die persönliche Haltung, wie ich als Person mit den moralischen Werten, die mich prägen, mit den reflektierten Normen, denen ich vielleicht rational (und manchmal kategorisch) zustimme, im Alltag umgehe, wie ich reflektierte Werte lebe. Definition Ethos (von griech.: ethos = gewohnter Ort des Lebens, Sitte, Charakter); Ethos bezeichnet die Lebens- oder Arbeitsform, die man zunächst subjektiv als wohlgelungen bezeichnet. Ein Mensch, der eine bestimmte Form von moralisch anerkannten Regeln und Maßgaben für sich beansprucht, darüber reflektiert hat und nach ihnen lebt, hat ein Ethos. Dieses setzt beim Menschen die Fähigkeit voraus, über sein eigenes Handeln nachdenken zu können, also moralisch entscheidungsbefugt zu sein. Das Ethos unterliegt, wie auch die Wertentwicklung, dem Einfluss von Kultur und Erziehung und ist demnach entsprechend wandelbar.

Das Führungsethos einer Führungskraft ist demnach die aktive Gestaltung des in der eigenen Führungsethik reflektierten, gewünschten Verhaltens. Im Einzelfall kann das auch bedeuten, dass eine Führungskraft in bestimmten Situationen – aus welchen Gründen auch immer – von den in der eigenen Führungsethik definierten Regeln abweicht, ohne sie grundsätzlich zu verwerfen.

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Führen mit Werten

Der Zusammenhang der Begriffe

Bei dem Zusammenhang von Moral, Ethos und Ethik handelt es sich um eine dynamische Entwicklung. Denn ändert sich die Moral in einer Gesellschaft, hat dies Rückwirkungen auf die Ethik. Diese dynamische Wechselwirkung muss beachtet werden, insbesondere dann, wenn man sich mit Ethik in verschiedenen Kulturen befasst. In einem interkulturellen Zusammenhang wird deutlich, dass Moral, Religion, Wirtschaftsform und Gesellschaft immense Rückwirkungen auf das Verständnis von Ethik haben. Setzt der Mensch aufgrund bestimmter Wertvorstellungen Regeln, nach denen er sein Handeln ausrichtet, hat er Normen (von lat.: norma = Richtschnur). Normen prägen das Alltagsleben in unterschiedlicher Form. Moralische Normen dienen als Richtschnur für alltägliches Handeln. Eine oberste ethische Norm, eine wichtigste Richtschnur kann verschiedene Begründungen haben (religiös, philosophisch, lebensrealistisch, ökonomisch etc.). Definition Norm (von lat.: norma = Richtschnur, Regel); Norm kann Regel, Maßstab, Vorschrift sein. Man kann unterscheiden zwischen dem, was der Normalität entspricht und zwischen einem Normbegriff, der einen Idealtypus beschreibt. Schließlich kann Norm in einem moralisch-juristischen Sinne als Vorschrift, die unbedingt zu erfüllen ist, angesehen werden. Im Grunde genommen ist jede Handlungsregel Norm; sie beschreibt den Rahmen dessen, was in der Ordnung, was »normal« ist. Normen haben im gewissen Sinne entlastende Funktion, weil sie für Handlungssituationen, Problem- oder Konfliktfälle bereits vorbedachte und vorüberlegte Handlungsalternativen beschreiben und unter Umständen auch schon ermöglichen.

Vertiefende Literatur: Dietzfelbinger, Daniel: Praxisleitfaden Unternehmensethik. Kennzahlen, Instrumente, Handlungsempfehlungen, 2. Aufl., Wiesbaden 2015.

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3 Führungstheoretische Ansätze Ruth Seligers Schneise im »Dschungelbuch der Führung« Um die Frage, wie man zu einer eigenen verlässlichen Führungsethik kommt, zu beantworten, ist es hilfreich, sich neben den oben dargestellten Definitionen einige wenige Theorieansätze zum Zusammenhang von Führung und Ethik vor Augen zu führen (→ Kap.  1 Agiles Führen). Eine erste Annäherung liefert das Modell von Ruth Seliger (→ Kap. 1 Agiles Führen, in dem ebenfalls auf das Seliger-­ Modell zurückgegriffen wird). Nach Ruth Seliger (2008, S. 40– 41) hat Führung in der Praxis drei Dimensionen: Führung heißt Menschen führen, Führung heißt Organisationen führen und Führung heißt, sich selbst zu führen. Leitend dabei sind die inneren Prinzipien, die inneren Werte. Eigene Darstellung nach: Dr. fritz Führungskreise 2017

Menschen führen heißt z. B.: – Ziele für die Mitarbeiter:innen, für das Team zu bestimmen und sie den Mitarbeiter:innen zu erläutern – das Team, die Menschen zu motivieren – sich mit den mir in der Führungssituation anvertrauten Menschen auseinanderzusetzen, ohne ihnen dabei zu nahe zu kommen – die Instrumente im Blick auf Kommunikation und Konfliktmanagement zu beherrschen – etc. Organisationen führen heißt: – sich der Ziele der Organisation bewusst zu sein – die Ziele für die jeweils eigene Arena (Team, Abteilung, Gemeinde, Dekanat etc.) zu übersetzen – die Kultur der Organisation ernst zu nehmen und sie zu gestalten – den Erfolg des Ganzen sicherzustellen – etc. Sich selbst führen heißt: – – – –

sich seiner Werte und Haltungen bewusst zu sein immer wieder dazuzulernen und sich nicht für die geborene Führungskraft zu halten offen zu sein für neue Ansätze, neue Theorien und vor allem für neue Menschen die Reaktionen zu kennen, die schwierige emotionale Führungssituationen bei einem selbst hervorrufen – die Vorbildrolle an- und ernst zu nehmen und mit gutem Beispiel voranzugehen – sich seiner eigenen Grenzen bewusst zu sein und diese auch zu achten – sich nicht aufzuopfern und das eigene Leben zu vergessen

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Führen mit Werten

Dazu schreibt Ruth Seliger (2008, S. 199): »Führung ist ein Spiegel der Zeit, der Kultur und der Wertorientierungen der gesamten Gesellschaft. Führung wird nicht nur von Instrumenten und Theorien geprägt, sondern von den Werten, dem Menschenbild, der Haltung der Führungskräfte und den Werthaltungen der Organisation, in der sie stattfindet.« Werte, so das Fazit, sind demnach entscheidend im Blick auf den Umgang mit Menschen, denn es sagt etwas über die Führungsperson aus, wie Werte in der Praxis zum Tragen kommen.

f. Bin ich mir bewusst, was es bedeutet, mich, andere Menschen, eine Organisation (Gemeinde, Dekanat, Einrichtung …) zu führen? g. Wo ziehe ich Grenzen, wo gerate ich in Konflikt mit verschiedenen Ansprüchen, die an mich herangetragen werden? h. Wieviel Raum lasse ich meinen eigenen Gefühlen, Stärken und Schwächen? Wo gestehe ich mir Defizite zu, was will ich dagegen tun? i. Wo hole ich mir umgekehrt Stärke aus den verschiedenen Herausforderungen? Was motiviert mich immer wieder neu, Führung zu übernehmen, Menschen gern zu führen?

Josef Wielands Werte-Charta Josef Wieland (1999) hat in seinem Buch »Die Ethik der Governance« hilfreiche Unterscheidungen getroffen: Neben der – gängigen – Unterscheidung in moralische und nichtmoralische Werte unterscheidet er die nichtmoralischen Werte noch einmal in Leistungs-, Kommunikations- und Kooperationswerte.

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Daniel Dietzfelbinger

Leistungswerte sind dabei solche, die am stärksten die persönliche Einsatzbereitschaft in den Vordergrund rücken. Sie sind individualorientiert und haben noch nicht das Du im Blick. Damit decken sie sich von der Ausrichtung – je nach Verständnis – auch mit den moralischen Werten, die zuallererst das Individuum in den Blick nehmen. Im ökonomischen Kontext, also als Führungskraft in der Wirtschaft, sind dies eher die »klassischen« Werte, wie sie vor allem früher in standardisierten Anforderungsprofilen für Führungskräfte in der Wirtschaft zu lesen sind. Doch auch hier hat es einen Wandel gegeben und die anderen Werte rücken zunehmend in den Vordergrund. Kooperationswerte nehmen das Du in den Blick: Was braucht es, um als Führungskraft gut mit anderen auszukommen und zugleich als Organisation (Team, Abteilung, Unternehmen etc.) erfolgreich zu sein? Nicht mehr allein das Ich steht im Mittelpunkt, sondern wie die Führungskraft das sie unmittelbar umgebende System in den Blick nimmt und mit ihm interagiert. Damit eng verknüpft sind die Kommunikationswerte, gewissermaßen als Teilmenge und zugleich dann auf ihre Weise auch wieder eigenständig. Während die Kooperationswerte das System als Ganzes in den Blick nehmen, konzentrieren sich die Kommunikationswerte auf das Wie der Beziehungsgestaltung. Die Führungskraft definiert damit die Art und Weise, wie sie mit den ihr anvertrauten Personen umgeht. Die moralischen Werte sind schließlich solche, die als Grundhaltung tragen. Sie sind hier beispielhaft bei Wieland im ökonomischen Kontext formuliert, gelten aber gleichwohl auch für den Führungskontext in anderen Bereichen, mithin auch im kirchlichen Milieu. Edgar Scheins Werte-Ebenen Wer über Werte in der Führung spricht, kommt nicht an Edgar Schein vorbei. In seinem Buch »Organisationskultur« unterscheidet er im Blick auf Unternehmenskultur drei Ebenen (Schein 2003, S. 31–32): 1. Die Ebene der Artefakte: Das sind sichtbare Organisationsstrukturen und -prozesse, nach Schein »schwer zu entschlüsseln«. Hier geht es um das Äußere, begonnen von Kleidung, unausgesprochenen Regeln einer Organisation wie auch um die berühmten »Tabus« (was darf auf keinen Fall angesprochen werden?). 2. Die Ebene der öffentlich propagierten Werte: Das sind die Strategien, Ziele, Philosophien in einer Organisation; Schein nennt sie auch »propagierte Rechtfertigungen«. Das können Leitbilder, Wertechartas, allgemein verbindliche Regeln und Agenden sein. 3. Die Ebene der grundlegenden, unausgesprochenen Annahmen: Das sind die unbewussten, für selbstverständlich gehaltenen Überzeugungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle; nach Schein letztlich die Quelle der Werte und des Handelns. In einer Organisation kann das unterschiedlich sein. Im kirchlichen Kontext wäre das zum Beispiel das – letztlich zwar auch unterschiedlich auszulegende, doch aber irgendwie verbindlich geglaubte – christliche Menschenbild, tradierte und formulierte Glaubensgewissheiten etc.

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Führen mit Werten

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Wissen, Kenntnisse

Beispiel Mitarbeiter:innen­ gespräch (MG): Ich weiß, wie ein MG zu führen ist, welche Fragen, welche Methoden etc.

Bei Schein: Symbolsystem einer Kultur: sichtbare, aber inter­ pretations­bedürftige »Artefakte« (Sprache, Rituale, Umgangs­formen etc.)

Kompetenzen, Erfahrungen

Ich habe schon etliche MG geführt, Erfahrungen gemacht (mit gelungenen und misslungenen Gesprächen) und weiß langsam, worauf es ankommt …

Bei Schein: Die teilweise sichtbaren, teilweise unsichtbaren Normen und Standards in der Organisation: Maximen, Richtlinien, Verbote … was man erst mit der Zeit mitbekommt.

Basisüberzeugungen, Werte, Grund­ einstellungen, Haltungen

Ich denke im Grunde, dass Mitarbeiter:innen … (z. B. kontrolliert und angetrieben werden müssen, von sich aus motiviert und leistungswillig sind)

Bei Schein: Die meist unsichtbaren Basisannahmen in einer Organisation über Menschen, menschliches Handeln, soziale Beziehungen, Wahrheit, Zeit etc.

Wurzelgrund

Mitte

Oberfläche

Dieses bei Schein als Kulturebenen-Modell vorgestellte Analysewerkzeug wird häufig in Form des »Seerosenmodells« tradiert:2

Das heißt: Wenn man sich mit Werten beschäftigt und die Frage stellt, inwieweit sie das Führungshandeln von Menschen leiten, muss man in die Tiefe gehen und von dort aus fragen, wie das, was in der Tiefe liegt, was geprägt ist durch frühe Kontexte, durch Erziehung und Erfahrungen, im alltäglichen Handeln sichtbar wird. j. Bin ich mir meiner Werte bewusst und kann sie benennen? k. Woran merken meine Mitarbeiter:innen, welche Werte mich leiten? Woran wird das sichtbar, an welchen Verhaltensweisen und Handlungen? l. Wo passen meine Werte zu meinem Arbeitsumfeld, zu der Organisation, in der ich arbeite? Wo komme ich immer wieder an Grenzen?

4 Werte sichtbar machen Führungsethik hat es mit Werten zu tun. Aber, so viel über Werte in der Führung gesprochen und geschrieben wird: Wie macht man sie konkret im Alltag? Wie werden sie sichtbar im alltäglichen Handeln, in der Führung, wie kann man sich selbst im Wertegefüge dieser Welt verorten? Nicht alle Werte, die eine Person hat, sind gleich wertvoll, sondern man setzt nolens volens eine Hierarchie (vgl. Scheler 2004).3 2 Leider ist mir der Ursprung dieser Metapher nicht bekannt – auf Edgar Schein geht der Begriff unmittelbar nicht zurück; sachdienliche Hinweise, wann und durch wen diese Verbildlichung stattfand, sind herzlich willkommen! 3 Wer sich intensiver mit dem Thema »Werthierarchien« befassen will, dem sei eine Beschäftigung mit Max Scheler (1874–1928) anempfohlen, der eine objektive Wertlehre entwickelt hat – freilich stets umstritten und angezweifelt.

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Was sind Ihre Kernwerte?

Daniel Dietzfelbinger

Es gibt dazu eine einfache Übung, deren Grundidee von den Schweizer Unternehmensberater:innen Iris und Manfred Schwarz sowie Maja Härri publiziert wurde (Schwarz/Schwarz/Härri 2011): das sogenannte Wertetableau. Im Folgenden ist die Übung bearbeitet. Die Übung funktioniert einfach. Vor Ihnen liegt eine Liste mit hundert Begriffen, die in irgendeiner Weise Werte beschreiben, Werthaltungen ausdrücken, mit etwas Wertvollem zu tun haben. Zu jedem Begriff könnte man diskutieren, ob sich dahinter tatsächlich ein Wert verbirgt – das aber ist nicht Sinn der Übung. Die Idee ist: Aus diesem Wertetableau sollen zunächst etwa die Hälfte der Begriffe angestrichen werden, die Ihnen wichtig erscheinen, von denen Sie sagen: »Ja, das passt in mein Wertgefüge.« In einem zweiten Schritt geht es dann darum, aus diesen ca. 50 Begriffen die fünf Werte herauszunehmen, von denen Sie glauben, sie gehören zu Ihrem inneren Wertgefüge. Im dritten Schritt suchen Sie sich im Idealfall eine zweite Person, mit der Sie ins Gespräch kommen über das, was Ihnen wertvoll ist, woran das in Ihrem Alltagshandeln aus Ihrer Wahrnehmung sichtbar wird, mindestens aber werden sollte. Die Übung als Arbeitsblatt: Achtung

Einfachheit

Hilfsbereitschaft

Selbstbestimmung

Anerkennung

Engagement

Höflichkeit

Seriosität

Anständigkeit

Entgegenkommen

Inspiration

Sorgfältigkeit

Arbeitsfreude

Entschlossenheit

Integrität

Souveränität

Aufgeschlossenheit

Erfolg

Kollegialität

Stabilität

Aufmerksamkeit

Ergebnis

Kontrolle

Strebsamkeit

Ausgewogenheit

Fairness

Kooperation

Sympathie

Authentizität

Familie

Korrektheit

Toleranz

Autonomie

Fleiß

Leidenschaft

Treue

Begeisterung

Flexibilität

Leistung

Unabhängigkeit

Beharrlichkeit

Freiheit

Liebe

Verlässlichkeit

Bescheidenheit

Freundlichkeit

Loyalität

Verständigung

Besonnenheit

Freundschaft

Macht

Verständnis

Bodenständigkeit

Fürsorglichkeit

Menschenliebe

Vertrauen

Dankbarkeit

Geduld

Menschlichkeit

Wahrhaftigkeit

Demut

Gelassenheit

Mut

Weitherzigkeit

Dialog

Gemeinsamkeit

Nachhaltigkeit

Wertschätzung

Direktheit

Gemeinwohl

Nachsicht

Wettbewerb

Dynamik

Gerechtigkeit

Objektivität

Wirksamkeit

Echtheit

Glaubwürdigkeit

Offenheit

Wirtschaftlichkeit

Effektivität

Großmut

Optimismus

Wohlwollen

Ehrlichkeit

Großzügigkeit

Partnerschaftlichkeit

Würde

Eigeninitiative

Güte

Pragmatismus

Zielstrebigkeit

Eigenständigkeit

Harmonie

Redlichkeit

Zugewandtheit

Eigenverantwortung

Herzlichkeit

Respekt

Zuverlässigkeit

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Führen mit Werten

1.  Schritt: Einzelarbeit Markieren Sie ca. 50 von den dargestellten 100 Begriffen, die für Sie persönlich wichtig sind. 2. Schritt Wenn Sie 50 Begriffe markiert haben, fragen Sie sich: Was sind davon meine wichtigsten fünf Werte? Sollten Sie dabei einen Wert vermissen, dann schreiben Sie Ihren neuen Wert auf. 3.  Dialog zu zweit Stellen Sie sich gegenseitig Ihre fünf wichtigsten Werte vor. Leitfrage: Woran können andere (Mitarbeiter:innen, Kolleg:innen) konkret merken, dass Ihnen diese Werte wichtig sind? In welchen Situationen? Wo werden diese bei Ihrer Führung sichtbar?

m. Wenn ich an Führungssituationen denke: Welche Werte sind mir dabei wichtig? n. Welches Bild vom Menschen habe ich in Führungssituationen und darüber hinaus? o. Wenn ich gegenüber einem:einer Dritten meinen Führungsstil beschreiben müsste, welche Kernbegriffe würde ich nutzen? p. Wie würde eine andere Person meine Führungsstil beschreiben, z. B. meine Mitarbeiter:innen, mein:e Vorgesetzte:r, meine Kolleg:innen? q. Gibt es vielleicht Vorbilder (positiv wie negativ), an denen ich mich orientiere oder von denen ich mich bewusst abgrenze? Warum sind diese Personen Vorbilder bzw. warum grenze ich mich von ihnen ab?

Mit diesem ersten Schritt, der Beschäftigung mit dem Wertetableau und der Filterung der Werte, die einem persönlich wichtig sind, und wie sie im täglichen Handeln zum Tragen kommen (sollten), ist das Material gefunden, aus dem sich Ihre Führungsethik bildet. Es kommt nun darauf an, dieses Material zu formen und zu reflektieren. Vertiefende Literatur: Schwarz, Manfred/Schwarz, Iris/Härri, Maja: Der ExpressoCoach für Führungskräfte. 111 Coaching-Karten für die Führungspraxis, München 2011.

5 Vier Perspektiven der Führung mit Werten Hinsichtlich des jeweils eigenen Wertgefüges lassen sich – auch als Reaktion auf klassische ethische Positionen – vier Grundperspektiven unterscheiden, die im Blick auf die Werthaltungen in Führungssituationen tragend sein können:

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Daniel Dietzfelbinger

Typ 1: Regel- und normorientiert

Typ 2: Situations- und beziehungsorientiert

»Ich bin in meinem Handeln voll und ganz der Qualität und Professio­ nalität verpflichtet. Entscheidend sind klare Verfahren und Regeln. Nur wenn sich alle an gemeinsame Normen halten, kommen nachhaltige Ergebnisse zustande.«

»Mir liegen die Menschen am Herzen, für die ich verantwortlich bin. Management lebt von Wertschätzung. Ich versetze mich in die Perspektive der anderen und achte auf die jeweilige Situation.« Mein Ethik-Kriterium: Wie werde ich dem:der anderen in seiner:ihrer Situation gerecht?

Mein Ethik-Kriterium: Was wäre, wenn diese Regel für alle gelten würde? Typ 3: Ziel- und güterorientiert »Ich bin dafür verantwortlich, dass Ziele gesetzt und effizient verfolgt werden. Jemand muss im Blick haben, dass etwas bewirkt wird.« Mein Ethik-Kriterium: Wie gelingt es, eine Lösung zu entwickeln, die den Nutzen für alle erhöht?

Typ 4: Visions- und tugendorientiert »Ich habe große Ideale. Mir geht es um eine bessere Welt und wie wir sie mitgestalten können. Von meiner Aufgabe bin ich so überzeugt, dass es mir leichtfällt, andere zu begeistern.« Mein Ethik-Kriterium: Kann ich in den Spiegel schauen? Was will ich gestalten und inspirieren?

Die Perspektive der Normen und Regeln (deontologischer Ansatz, Pflichtethik, formale Ethik): Hier stehen Recht und Ordnung im Mittelpunkt. Es gibt Gesetze, es gibt Regeln, an die man sich halten muss. Der Führungsstil ist entsprechend ordnungs- und regelorientiert, die Führungskraft achtet auf die Einhaltung der Regeln und gibt selbst ein gutes Vorbild ab. Das eigene Verhalten wird stets so angepasst, dass es – im kantischen Sinne – universalisierbar wäre. Beziehungsfragen und persönliche Befindlichkeiten der Führungskraft wie der Mitarbeiter:innen treten in den Hintergrund. Der Führungsstil ist entsprechend sachlich (ohne dabei unmenschlich zu werden). Die Perspektive der Situation und der Beziehung (Ethik der Liebe, Situationsethik, Care-Ansatz): Leitend ist hier, was dem:der anderen guttut. Nicht was ich allein will, ist entscheidend, sondern wie gelingt es, mit dem:der anderen das Ziel zu erreichen, sodass es dem:der anderen dabei auch gut geht und er:sie nicht »leiden« muss. Wenn zwischenmenschliche Themen auftreten, dann werden diese zuerst geklärt, weil über allem Führungshandeln die Maxime steht, dass es dem:der anderen gut gehen muss. Entsprechend ist das Führungsverhalten »sozial« in dem Sinne, dass die menschliche Perspektive sowie die Beziehungsebene wichtiger sind als die Erreichung von Zielen; auch manche Regel oder Norm tritt gegebenenfalls in den Hintergrund, wenn zwischenmenschliche Störungen in den Führungsalltag treten. Die Perspektive der Ziele und Güter (teleologischer Ansatz, Güterethik): Ziele und Ergebnisse sind essenziell für Führung. Ohne Ziele und (geplante) Ergebnisse lassen sich weder Menschen noch Organisationen gut führen, so der Ansatz. Diese Grundhaltung setzt darauf, die eigene Führung strikt an dem auszurichten, was als Ziel vor Augen schwebt oder von der eigenen Führungskraft vorgegeben wurde (»Sandwichposition«). Die Mitarbeiter:innen werden auf diese Ziele eingeschworen, je größer das Commitment zu den Zielen, desto effizienter arbeitet das Team. Im Führungsverhalten sind deswegen

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Führen mit Werten

immer wieder auch die Ziele und der Gesamtsinn des Handelns im Blick und werden als leitend für das Miteinander gesehen. Die Perspektive der Visionen und der Tugend (Tugendethik): Hier rückt die eigene Werthaltung in den Vordergrund. Ziele und Strategien der Organisation sind im Zweifel nicht primär, sondern das eigene Wertgerüst, die eigenen Werthaltungen, eingebettet in die große Vision, werden im kritischen Fall zur Entscheidungsmaxime. Der Führungsstil ist entsprechend immer wieder auf den Beitrag fixiert, den die Mitarbeiter:innen und man selbst zum großen Ganzen beitragen kann. Es überrascht nicht, dass im kirchlichen Kontext die situations- und beziehungsorientierte Perspektive am häufigsten anzutreffen ist. Das ist zunächst nicht negativ zu bewerten, gleichwohl ist auch klar, dass dieser Führungsansatz nicht immer zum Erfolg führt, weil schnell Ziel und Sinn von bestimmten Projekten und Prozessen aus dem Blick geraten. Die im Wesentlichen beteiligungsorientierten Aufbau- und Ablauforganisationen im kirchlichen Kontext erschweren zudem Entscheidungen oder den Fortgang von Prozessen, weil man der Vielfalt der Meinungen gerecht werden will, was in der Praxis unmöglich ist. Gerade dann, wenn man es allen recht machen will, wenn man Konflikte vermeiden will, ist die Gefahr für Führungskräfte groß, am Ende selbst zwischen den vielstimmigen Gremien und Organen kirchlicher Organisation zerrieben zu werden. Besonders hinderlich ist diese Grundhaltung, wenn Situationen konflikthaft sind oder wenn man als Führungskraft einem:einer Mitarbeiter:in negatives Feedback geben oder sich – aus welchen Gründen auch immer – von einem:einer Mitarbeiter:in trennen muss. Dabei ist es nicht immer sinnvoll – auch nicht immer fair –, »nur« auf die Beziehungsebene zu achten. So wichtig ein gutes Miteinander im Arbeitskontext ist – ein:e Mitarbeiter:in geht zuallererst ein Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitgeber ein und wird dafür bezahlt. Es ist weder ein Therapie- noch ein Beratungsverhältnis, das dabei im Vordergrund stehen sollte.

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Kirchliche Beteiligungsorganisation

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Daniel Dietzfelbinger

Tabuthema »Underperfomer:in«

Umgang mit überforderten Führungskräften

Es lässt sich häufig im kirchlichen Kontext beobachten, dass Menschen, die nicht die gewünschte Leistung erbringen, über Monate, manchmal gar Jahre mitgezogen werden. Im wirtschaftlichen Kontext spricht man hier etwas zweifelhaft von »Underperformer:innen«, also Menschen, die auf Dauer nicht die Leistung erbringen, die sie sich per Arbeitsvertrag zu erbringen verpflichtet haben. Man kann den Begriff als unmenschlich oder gar böse empfinden, es ändert nichts an der Tatsache, dass es Menschen auch in allen Stellen der Kirche gibt, die mit ihrer Aufgabe überfordert sind und sich das nicht eingestehen. Unter allen in der Kirche Beschäftigten gibt es sie, die »Underperformer:innen« – entweder Personen, die ihre Aufgabe nicht erfüllen, oder Führungspersonen, die mit ihrer Führungsverantwortung nicht umgehen können. Leider ist das insbesondere beim theologisch/religionspädagogisch/diakonisch ausgebildeten Fachpersonal meist ein Tabuthema. Es mag manchmal akut Gründe geben, warum ein:e Mitarbeiter:in nicht die gewünschte Leistung erbringt. Ist das eine Episode, so lässt sich das gut verkraften, und es ist nur fair, diese:n Mitarbeiter:in über einen gewissen Zeitraum mitzutragen, bis sich etwa eine persönliche Krise gelöst hat oder überwunden wurde. Wenn das gleichwohl zum Dauerzustand wird, ist die Frage, ob ein solches dauerhaftes Mitnehmen des:der nicht leistungsbringenden Mitarbeiters:Mitarbeiterin – egal auf welcher kirchlichen Hierarchieebene – im führungsethischen Sinne ist. Denn eine solche Person kann die Dynamik in einem Team belasten, insbesondere dann, wenn andere auf Dauer die Nicht-Leistung des:der Underperformers:Underperformerin miterbringen müssen. Was tun mit einem:einer Pfarrer:in, der:die so von sich selbst überzeugt ist, dass er:sie niemanden neben sich duldet? Was tun mit einem:einer Religionspädagog:in, der:die sich für den:die bessere Pfarrer:in hält? Was tun mit einem:einer Diakon:in, der:die Konfirmand:innen mit Kinderglauben beschwatzt und keine kritische Auseinandersetzung zulässt? Was tun mit einem:einer Dekan:in, der:die seiner:ihrer Führungsaufgabe nicht gerecht wird und Konflikte einfach aussitzt? Was tun mit einem:einer Sekretär:in, der:die am liebsten noch auf der Schreibmaschine Formulare ausfüllt oder sich jedes Mal vor kirchlichen Festen, wenn es in der Gemeinde richtig stressig wird und viel vorbereitet werden muss, krankschreiben lässt. Was heißt da führungsethisches Handeln? Zum einen belastet man damit die anderen Mitarbeiter:innen im Team, in der Gemeinde, im Pfarrkapitel, die für den:die Wenigleister:in mitarbeiten müssen. Das führt auf Dauer zu Konflikten, die anzugehen sind. Es ist ein Missverständnis zu glauben, in der Kirche sei alles möglich. Grenzen ziehen heißt auch, diejenigen in den Blick zu nehmen, die unter dem Verhalten einer Person leiden. Da hilft auch nicht das Argument, als Kirche müsse man eine soziale Arbeitgeberin sein. Sozial heißt in diesem Zusammenhang nicht, dass sich Mitarbeiter:innen im kirchlichen Kontext – egal an welcher Position – alles erlauben können, nur weil die Kirche als Arbeitgeberin sozial sein muss oder soll. Werteorientiert, führungsethisch reflektiert zu handeln, heißt im Zweifelsfall auch, Konflikte einzugehen und Personen, die ihre Leistung, die an sie gestellten Anforderungen nicht erfüllen, damit zu konfrontieren und gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen. Exkurs: Biblische Tradition und ökonomisches Handeln (dazu Teuffel 2002) Schon die Akteur:innen der Bibel arbeiten gern mit ökonomischen Beispielen und Kontexten. Die Propheten wie die alttestamentliche Weisheitsliteratur etwa unterscheiden zwischen gerechtem und ungerechtem Gewinn, ohne dabei zu definieren, was ungerechter Gewinn ist (v. a. Buch der Sprüche [Spr 1,19; 11,18; 15,27 u. ö.]; bei den Propheten z. B. Jes 33,15; Jer 6,13; 22,17; Hes 22,13; Hab 2,9 u. ö.). Zumindest lässt sich daraus schließen, dass es auch gerechten Gewinn gegeben hat. Was im

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Führen mit Werten

Alten Testament der ungerechte Gewinn, ist im Neuen Testament der »schändliche« Gewinn (vgl. Tit 1,7 u. ö., 1 Petr 5,2). »Schändlich« ist der Gewinn, der durch das Betrügen von anderen Menschen gewonnen wird. Nach den Beschreibungen der Evangelien weiß Jesus um die ökonomische Grundhaltung des Menschen und nutzt die Erwartung, um Menschen für seine göttliche Mission zu gewinnen. Die Geschichte von den Talenten ist geläufig. Dann gibt es das Gleichnis vom reichen Mann, den Jesus zur Nachfolge auffordert (Mk 10,21–22): Dafür soll er all sein Hab und Gut veräußern. Der Clou: Die Verheißung, der Nutzen, der Gewinn ist ein Schatz im Himmelreich. Da kann kein weltlich Hab und Gut mithalten. Jesus spielt mit der ökonomischen Grundhaltung, auf künftigen Mehrwert zu setzen. Im anschließenden Wort vom Kamel und dem Nadelöhr (Mk 10,25) spielt Jesus bewusst auf eine ökonomistische, nicht ökonomische Grundhaltung des Menschen an: Wer sich nicht lösen kann vom Mammon, wer sich abhängig macht vom Reichtum, der hat keinen Sinn, kein Gespür für das Reich Gottes. Es geht um die innere Haltung, also um all die manisch vom Geld besetzten Dagobert Ducks, für die der Zugang ins Himmelreich schwer wird. Jesus verdammt nicht grundsätzlich, dass Leistung Gegenwert hat, dass sie belohnt werden kann: Wer die Bot:innen Jesu aufnimmt, kann mit Lohn rechnen, auch die Gabe eines Bechers Wassers hat ihren Nutzen (Mt 10,40–42). Wer Arme speist, sichert sich seinen Platz an der Himmelstafel (Lk 14,12–14). Petrus kann mit hundertfacher Vergütung seines Besitzes rechnen, wenn er Jesus nachfolgt, dazu gibt es die Zusage ewigen Lebens (Mk 10,28–30). Mehr Nutzen geht kaum. Akte der Nächstenliebe werden von Jesus verhandelt, nach den ökonomischen Gesetzen des Minimal- und Maximalprinzips und unter der Fragestellung, wie und wo mehr Nutzen für den Menschen zu erzielen ist. Wenn es in der Bergpredigt heißt: »Liebt eure Feinde; tut Gutes und leiht, wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft. So wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Kinder des Allerhöchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen« (Lk 6,35), so wird deutlich, dass das, was an Transaktions- und Opportunitätskosten für jesusgemäßes Handeln anfällt, Ausgleich durch die Ökonomie des Himmelreichs erfährt. Am Ende geht die Rechnung also auf! Zwei andere prominente Beispiele: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11– 32) und die Arbeiter im Weinberg (Mt 20,1–16). Bei der Geschichte vom verlorenen Sohn werden Treue und Verbundenheit, die unternehmerische Loyalität, die der brave Sohn einbringt, nicht honoriert. Stattdessen beschenkt der Vater den Lebemann und Prasser, den Blender und Poser. Hier wird bewusst mit einer ökonomischen Erwartungshaltung des Menschen gespielt, der nach ökonomischem Kalkül und TunErgehens-Zusammenhängen mit einem anderen Ausgang der Geschichte rechnet. Ebenso bei den Arbeitern im Weinberg: Während die Frühaufsteher zunächst für normalen Lohn arbeiten, bekommen diejenigen, die nur zwei Stunden arbeiten, einen Luxustarif. Nach einer Aufwands-Nutzen-Rechnung machen die LastminuteArbeiter einen prima Schnitt, aber auch die Frühaufsteher haben sich auf den Vertrag mit dem Weinberg-Besitzer eingelassen und bekommen dafür den Mindestlohn. So überraschend die Geschichte immer wieder daherkommt: Sie spielt ebenfalls mit der ökonomischen Erwartungshaltung der Hörer:innen und Leser:innen. Gleichzeitig ist die Geschichte eine schöne Geschichte im Blick auf den Wert der Vertragstreue und Ehrlichkeit. Zusammengefasst lässt sich festhalten: Die biblische Tradition nutzt die haushalterische Grundeinstellung des Menschen und das ökonomische Gewinnparadigma, um Handeln in Nächstenliebe zu motivieren. Dem irdischen, materiellen Profit wird Nutzen im Blick auf das Reich Gottes gegenübergestellt. Das heißt: Der im umfas-

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senden Sinne ökonomisch kluge Mensch handelt so, dass er den Nutzen im Blick auf das Reich Gottes nicht aus den Augen verliert. Damit gelangt man auch zur Frage, ob diakonisch-kirchliches Handeln immer nur sozial und an den Schwachen ausgerichtet sein muss: Die jüdische wie die frühchristliche Ethik – soweit man von Ethik als Theorie der Lebensführung zur damaligen Zeit reden kann – baut auf das Almosenwesen. Eine solche dienende – diakonische – Moral ist der Hintergrund, auf dem Jesus seine Gleichnisse erzählt und seine Aussagen zu Geld und Reichtum formuliert. Dieser auf den ersten Blick sympathische Zug ist aber in sich zweischneidig, ambivalent. Denn um Geld für andere zu geben, muss ich es erst erwirtschaften, und zwar in einem solchen Maß, das ich guten Gewissens bereit bin, davon etwas abzugeben. Würde jemand sein ganzes Hab und Gut für andere spenden, so wäre er – paradoxerweise – auf das Almosen anderer angewiesen, die wiederum in der gleichen Ausgangssituation wären: Auch die anderen müssten sich dafür erst ökonomische Voraussetzungen schaffen. Diakonie und Kirche sind nicht der Samariter, der dem unter die Räuber gefallenen Leviten hilft, sie sind vielmehr der Wirt, der von dem Samariter Geld dafür erhält, dass er den Leviten pflegt.

Vertiefende Literatur: Dietzfelbinger, Daniel/Teuffel, Jochen (Hg.): Heils-Ökonomie. Zum Zusammenwirken von Kirche und Wirtschaft, Gütersloh 2002.

6 Das Haltungsmodell der Transaktionsanalyse Um den führungsethischen Ansatz zu verfeinern, hilft es, sich in die Tiefen der eigenen Prägungen zu begeben. Die Transaktionsanalyse bietet dazu eine Vielzahl von Methoden und Modellen an, von denen hier eines vorgestellt werden soll, das zur Verdeutlichung der eigenen Handlungsmuster und Werthaltungen gegenüber anderen Menschen hilfreich ist.

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Die Grundidee Die Transaktionsanalyse ist eine komplexe psychoanalytisch motivierte und theoretisch fundierte Zugangsweise, um zwischenmenschliche Handlungen sowie die Kommunikation zwischen Menschen besser zu verstehen und zu erklären. Ursprünglich von dem Amerikaner Eric Berne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt, wird das Modell in der aktuellen Kommunikations- und Führungstheorie konsequent weiterentwickelt und unterlegt (Stewart/Vann 2015). So komplex die Theorie ist, so einfach und hilfreich sind manche Modelle, die den Blick auf die eigene Wert- und Führungshaltung erläutern. Ein solches einfaches Modell ist der sogenannte »Ich-bin-o. k.-Ansatz« – von Thomas Harris (2013) in den 1980er-Jahren vertieft und auch in kirchlichem Kontext oft und gern verwendet. Das Ich-bin-o. k.-Modell der Transaktionsanalyse geht davon aus, dass wir als kleine Kinder zunächst die Haltung erleben: Ich bin nicht o. k. – der:die andere ist o. k. Die Eltern/die großen Geschwister, die Großeltern, die ersten Bezugspersonen, die alles besser wissen, und einen ständig gängeln. Diese Haltung wird, wenn sie bei Erwachsenen in der Kommunikation mit anderen zum Tragen kommt, als Opferhaltung bezeichnet. Wenn das Kind heranwächst, schon in den ersten Trotzphasen, entwickelt sich die Haltung: Ich bin o. k. – der:die andere ist nicht o. k. Trotz, das erste Schreien im Supermarkt, wenn man als Kind den Süßkram nicht bekommt, Aufstand gegen die Autoritäten, die anderen haben eben nicht immer recht: die sogenannte Täterhaltung. Die dritte emotionale Haltung: Ich bin nicht o. k. – der:die andere ist nicht o. k. wird als Defektiererhaltung bezeichnet. Sie ist – Gott sein Dank – nur bei wenigen Menschen emotional verankert. Denn diese Haltung entspricht letztlich einer Selbst- und Weltverleugnung, und nimmt meist wie auch immer geartete psychopathische Formen an. Diese drei Haltungen sind höchst emotional, erst mit der Zeit und der kognitiven Fähigkeit, seine Emotionen einzuordnen und mit ihnen umzugehen, entwickelt sich die sogenannte Erwachsenenhaltung mit der Grundannahme: Ich bin o. k. – der:die andere ist o. k.

Eigene Darstellung nach: Nowak 2020

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Wer ist hier o. k.?

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Daniel Dietzfelbinger

In Kommunikationssituationen, insbesondere wenn sie spannungsgeladen sind – so die Transaktionsanalyse – ist es wichtig, bewusst in der Erwachsenenhaltung zu agieren, weil nur auf dieser Ebene eine wirkliche Kommunikation auf Augenhöhe möglich ist. Doch Vorsicht: Erwachsenenhaltung heißt nicht, Gefühle zu unterdrücken. Häufig liest man in Büchern zu Konfliktmanagement: »Kommen Sie einfach auf die Sachebene, verlassen Sie die emotionale Ebene.« So einfach ist das leider nicht, denn zur Grundkonstitution von Konflikten gehört es, dass Emotionen im Spiel sind, andernfalls wären es »nur« Probleme oder Missverständnisse. Auf der Erwachsenenebene im Sinne der Transaktionsanalyse geht es aber vielmehr darum, die Gefühle, die Emotionen in erwachsener Weise zum Ausdruck zu bringen: »Ich ärgere mich …«, »Mich verletzt, …!« (Die berühmten Ich-Botschaften!) Dieser Schritt in die Erwachsenenhaltung ist ein kognitiver Schritt, der die bewusste Selbstwahrnehmung der eigenen Emotionen voraussetzt.4 Übung Stellen Sie sich vor, ein:e Mitarbeiter:in kommt auf Sie zu und berichtet Ihnen, dass er:sie den Auftrag, den Sie ihm:ihr erteilt haben, komplett an die Wand gefahren hat. Versuchen Sie in den vier verschiedenen Weisen zu reagieren. Der:die andere ist o. k. +

Der:die andere ist nicht o. k. −

Ich bin o. k. +

+/+

+/−

Ich bin nicht o. k. −

−/+

−/−

Mögliche Antworten (Beispiele) Der:die andere ist o. k. +

Der:die andere ist nicht o. k. −

Ich bin o. k. +

Vielen Dank, dass Sie mir das so offen sagen – ich ärgere mich sehr darüber. Lassen Sie uns nun nach vorne sehen, was Sie, was ich daraus lernen kann und wie wir es künftig besser/anders/erfolgreicher gestalten.

Das war mir klar, dass Sie das wieder in den Sand setzen. Ist nicht das erste Mal bei Ihnen!

Ich bin nicht o. k. −

Es war auch mein Fehler, ich habe das nicht gut vorbereitet. Es ist meine Schuld, allein hätten Sie das bestimmt besser gemacht.

Wissen Sie was? Das interessiert weder mich noch irgendeinen anderen Menschen! Was Sie machen, was ich mache, das ist doch hier ohnehin alles Arbeit für den Papierkorb. Mit der Kirche geht es sowieso den Bach hinunter …

4 Ähnlich geht auch die »Gewaltfreie Kommunikation« nach Marshall B. Rosenberg in ihren vier Schritten vor, vgl. Rosenberg 2016.

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Führen mit Werten

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Das Faszinierende dabei: Selten hält man in einer Kommunikationssituation konsequent eine Haltung bei – man wechselt innerhalb von Sekundenbruchteilen die Haltung, je nachdem, was mein Gegenüber gerade bei mir triggert. So könnte ein Dialog zum Thema beispielhaft ablaufen (F = Führungskraft, M = Mitarbeiter:in):    M: Leider ist das Projekt komplett in die Hose gegangen, ich hab’s mal wieder vergeigt. (Opferhaltung)    F: Das ist sauärgerlich, ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie da genau hinschauen sollen. (Täterhaltung)    M: Ja, das hatte ich schon verstanden, das habe ich auch gemacht. (Emotionaler Wechsel in die Täterhaltung) Sie hätten mir das aber auch noch etwas besser erklären können. Vor allem haben Sie mir kaum Zeit gelassen, das Projekt sauber zu planen.  (Täterhaltung)    F: Ich? Wieso ich? Sie müssen doch wissen, was ich meine, wenn ich sage, Sie sollen das so schnell wie möglich machen. (Täterhaltung)    M: Wissen Sie, das ist immer das Thema, es muss bei Ihnen immer alles »schnelli schnelli« gehen – da macht man halt Fehler, ist doch klar, ich komme da einfach nicht mit, ich bin eben manchmal langsamer …  (Von der Täter- in die Opferhaltung) … Außerdem geht mir das hier eh alles auf den Senkel, das ist alles viel zu churchy hier, interessiert doch niemanden. Ich habe da keinen Bock mehr drauf, mit der Kirche ist das vorbei. (Abrutschen in die Defektiererhaltung)    F: Naja, manchmal bin ich wirklich etwas zu hektisch, ich war eben auch unter Druck. Das tut mir jetzt leid, dass das so schiefgegangen ist. (Opferhaltung)    M: Ja, es tut Ihnen leid, das soll ich Ihnen jetzt glauben. Trotzdem lassen Sie es am Ende wieder an mir raus, Schuld sind immer die anderen. (Täterhaltung – Opferhaltung – Täterhaltung)    F: Nun machen Sie aber mal einen Punkt, so habe ich das nicht gesagt! Ich bin hier immerhin noch Ihr:e Vorgesetzte:r! (Täterhaltung) …

Man kann den Dialog beliebig fortsetzen, eine Lösung werden die beiden auf diesem Gesprächsniveau nicht finden. Denn Täter-, Opfer- und Defektiererhaltung sind emotionale Zustände, die aus Kindheitssituationen bekannt und eingeübt sind, und in ihrer Emotionalität das rationale (und damit lösungsorientierte) Handeln des Menschen massiv einschränken. Wie lässt sich aus einem solchem Dialog aussteigen und zu einer Lösungsorientierung gelangen? Es gelingt nur, wenn eine Person die Haltung bewusst ändert und versucht, auf Augenhöhe mit dem:der anderen zu kommunizieren und diese Person als Mensch und Gegenüber ernst zu nehmen. Das gelingt, in dem man sich sachlich auf die Haltung Ich bin o. k. – Du bist o. k. begibt und somit dem:der anderen mit Wertschätzung begegnet.

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Raus aus der Dauerschleife

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Daniel Dietzfelbinger

Beispielhaft in der oben genannten Situation:    M: Ok, das ist klar. Hilft nichts, wenn wir uns gegenseitig Vorwürfe machen.    F: In der Tat. Lassen Sie uns einen Schritt zurückgehen, schauen wir mal von oben drauf, was eigentlich passiert ist – wie schätzen Sie das ein, Herr:Frau XY, warum ist das schiefgegangen und was können wir daraus lernen?

Dieser Schritt muss immer wieder neu vollzogen werden. Es ist ein kognitiver Akt, der bewusst aus den emotionalen Haltungen (Opfer – Täter – Defektierer) herausgeht. Die emotionalen Haltungen trüben jeweils das Erwachsenen-Ich – deswegen muss dieser Akt sehr bewusst vollzogen werden. r. Wenn ich mich selbst ehrlich einschätzen müsste: Welche Haltung überwiegt bei mir? s. Was sagen andere über mich und meine Führungshaltung?

Vertiefende Literatur zur Transaktionsanalyse: Berne, Eric: Was sagen Sie, nachdem Sie ›Guten Tag‹ gesagt haben? Psychologie des menschlichen Verhaltens, Frankfurt a. M. 1996. Berne, Eric: Spiele der Erwachsenen. Psychologie der menschlichen Beziehungen, Hamburg 2005. Hagehülsmann, Ute: Transaktionsanalyse: Wie geht denn das?, Paderborn 2002. Harris, Thomas: Ich bin o. k. Du bist o. k., 55. Aufl., Hamburg 2013.

7 Selbsteinschätzung mit einem Test Aufbau des Tests Um einen Blick auf sich selbst zu richten, welcher Grundhaltung man selbst am ehesten zuneigt, dient ein Selbsttest (Kälin/Michel-Adler/Schmid-Keller 1999, S. 23 ff. – Hinweis: Die Autor:innen haben einen Fragebogen mit 140 Fragen für verschiedene Aspekte der Transaktionsanalyse entwickelt [S. 23 ff.] mit unterschiedlichen Auswertungen; hier wurden die Fragen zum OK-Modell herausgezogen, die Auswertung findet sich im Buch S. 44–45), der in verschiedenen Varianten in Büchern oder im Internet zu finden ist. Klar ist: Man muss solchen Tests mit Vorsicht begegnen, sie sind kein Ersatz für eine tiefergehende Analyse, sondern geben nur ein erstes Bild ab, was gegebenenfalls in einem Coaching oder einer Begleitung genauer betrachtet werden muss. Schauen Sie sich die folgenden 40 Aussagen bezogen auf Ihre Berufswelt an und geben Sie möglichst spontan eine Wertung von 0 (das heißt: trifft gar nicht zu) und 4 (= trifft voll und ganz zu) ab. Dazwischen liegen 1 = trifft kaum zu, 2 = trifft etwas zu, 3 = trifft ganz zu). Spontan heißt: Denken Sie nicht lange nach (sonst sind Sie bereits zu stark auf der kognitiven Ebene), sondern bewerten Sie die Aussagen nach dem ersten Bauchgefühl, das sich bei Ihnen regt.

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Führen mit Werten

Antworten Sie jeweils von 0 und 4, dabei ist: 0 = gar nicht, 1 = kaum, 2 = etwas, 3 = ganz, 4 = voll und ganz 1.

Ich meine, dass die meisten Leute sich doch eher zu positiv sehen.

2.

Small Talk liegt mir: Da brauche ich nichts von mir preiszugeben.

3.

Offenheit und Ehrlichkeit anderen gegenüber lohnen sich.

4.

Bis jetzt habe ich noch nicht viel geleistet in meinem Leben, auf das ich wirklich stolz sein könnte.

5.

Mehr als ich möchte, fühle ich mich gehemmt.

6.

Manchmal habe ich Lust, einfach etwas völlig Blödsinniges zu machen.

7.

Ich bin der Überzeugung, dass Menschen fähig sind, sich selbst zu führen und zu kontrollieren und damit sich selbst zu entwickeln.

8.

Ich bin der Überzeugung, dass alle Menschen grundsätzlich gut sind.

9.

Ich bin fantasievoll und habe eine Menge guter Ideen.

10. Einmal über mich hinauswachsen, das möchte ich gern. 11. In Konfliktsituationen habe ich die Tendenz, recht zu behalten. 12. Ordnung, das ist etwas für andere. 13. Lieber Klassenprimus als Klassendepp. 14. Ich weiß, dass ich sehr viel gute Qualitäten habe. 15. Wenn es darauf ankommt, bin ich multitaskingfähig. 16. Ich komme mit allen Leuten gut aus. 17. Mehr als viele andere mir bekannten Leute suche ich bei anderen Ideen, Meinungen und Haltungen, die sich von meinen eigenen unterscheiden. 18. Aufgrund meiner Erfahrungen sind die meisten Menschen eher stur. 19. Ich betrachte mich als eine selbstsichere Person. 20. Es gibt keine echten Cowboys/Cowgirls mehr! 21. Ich meine: In Wirklichkeit brauchen die Menschen eine starke, führende Hand! 22. Ich bin in der Lage, Aufgaben so gut zu lösen, wie die meisten mir bekannten Personen. 23. Wenn jemand wirklich Hilfe braucht, dann bin ich da.

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Antworten Sie jeweils von 0 und 4, dabei ist: 0 = gar nicht, 1 = kaum, 2 = etwas, 3 = ganz, 4 = voll und ganz 24. Ich bin mit mir zufrieden. 25. Wenn mich jemand für dumm verkauft, werde ich wütend. 26. Wenn ich jemandem den kleinen Finger reiche, nimmt er:sie meist die ganze Hand. 27. Regeln – das ist etwas für Weicheier! 28. Ich habe eher wenig Selbstvertrauen. 29. Ich bin sehr neugierig und probiere viele Dinge aus. 30. Das, was andere fühlen und denken, erachte ich als besonders wichtig. 31. Ein bisschen Humor hilft durch jede schwierige Situation. 32. Ab und zu denke ich, dass ich nicht gut genug bin. 33. In vielen Situationen fühle ich mich anderen gegenüber unterlegen. 34. Notlügen müssen auch mal erlaubt sein. 35. Ich würde mich als einen eher optimistischen Menschen bezeichnen. 36. Ich fühle mich besonders bei Leuten wohl, die andere Ansichten haben als ich. 37. Ich finde die Schwachpunkte der anderen schnell heraus. 38. Ab und zu fühle ich mich nutzlos. 39. Es scheint, dass ich andere Menschen im Vergleich zu anderen mehr bemitleide. 40. Ich kritisiere andere mehr, als dass ich sie lobe.

Auswertung Für die Auswertung übertragen Sie die von Ihnen gegebene Wertung zwischen 0 und 4 zu den jeweiligen Fragen in die untenstehende Tabelle. Beispiel zur ersten Zeile: Sie haben bei Aussage 9 die Bewertung »3« gegeben, dann tragen Sie »3« in die Spalte ein, bei Aussage 14 haben sie eine »0« gegeben, also tragen Sie die »0« ein etc. Am Ende bei Summe 1 rechnen Sie die Bewertungspunkte zusammen und es kommt eine Zahl zwischen 0 und 28 heraus. So dann auch in den weiteren Zeilen.

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Führen mit Werten

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Noch ein Hinweis: Nicht alle 40 Aussagen fließen in die Bewertung ein! Meine Haltungsmuster

ICH bin O. k.-Haltung

9

14

19

22

24

29

35

Summe 1

ICH bin NICHT O. k.Haltung

4

5

28

32

33

38

39

Summe 2

DU bist O. k.-Haltung

3

7

8

16

17

30

36

Summe 3

DU bist NICHT O. k.Haltung

1

11

18

21

26

37

40

Summe 4

Übertragen Sie nun die Zahlen in das Spinnennetz-Diagramm und verbinden Sie die Zahlen mit Geraden. Sie sehen, welchen der Quadranten sie am stärksten ausfüllen, das heißt, welchen Haltungen Sie tendenziell mehr, welchen weniger zuneigen.

Du bist o. k. (Summe 3)

Sich zurückziehen von … (den anderen, dem Problem). Für mich bin ich nicht o. k., und für mich bist du o. k. Nachgebende Position (Opfer)

Konstruktiv umgehen mit … (den anderen, dem Problem). Für mich bin ich o. k., und für mich bis du o. k. Kooperative Position (Erwachsene:r)

30 25 20

10 5 30

25

20

15

10

5

0

5

10

15

5 10

20

25

30

Ich bin o. k. (Summe 1)

Ich bin nicht o. k. (Summe 2)

15

15

Nirgends hinkommen, steckenbleiben … (in Bezug auf den:die andere:n, das Problem). Für mich bin ich nicht o. k., und für mich bist du nicht o. k. Depressive Position (Defektierer:in, Defaitist:in)

20 25 30 Du bist nicht o. k. (Summe 4)

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Abschieben, loswerden (den:die andere:n, das Problem) Für mich bin ich o. k., und für mich bist du nicht o. k. Autoritäre Position (Täter:in)

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  Beispiel: Der:die Erwachsene mit Hang zum Täterverhalten  

Diese Person hat bei der Auswertung Summe 1 (»Ich bin o. k.«) 25, in der Summe 2 (»Ich bin nicht o. k.«) 10, in der Summe 3 (»Du bist o. k.«) 21 und in der Summe 4 (»Du bist nicht o. k.) 17. Du bist o. k. (Summe 3)

Sich zurückziehen von … (den anderen, dem Problem). Für mich bin ich nicht o. k., und für mich bist du o. k. Nachgebende Position (Opfer)

Konstruktiv umgehen mit … (den anderen, dem Problem). Für mich bin ich o. k., und für mich bis du o. k. Kooperative Position (Erwachsene:r)

30 25 20

10 5 30

25

20

15

10

5

0

5

10

15

5 10

20

25

30

Ich bin o. k. (Summe 1)

Ich bin nicht o. k. (Summe 2)

15

15

Nirgends hinkommen, steckenbleiben … (in Bezug auf den:die andere:n, das Problem). Für mich bin ich nicht o. k., und für mich bist du nicht o. k. Depressive Position (Defektierer:in, Defaitist:in)

20 25 30 Du bist nicht o. k. (Summe 4)

Abschieben, loswerden (den:die andere:n, das Problem) Für mich bin ich o. k., und für mich bist du nicht o. k. Autoritäre Position (Täter:in)

Eine schnelle Auswertung würde besagen, dass diese Person eine gute »erwachsene« Grundhaltung hat (grün, 25/21), durchaus mit gesundem Selbstbewusstsein. Allerdings gerät die Person in emotionalen Situationen in Gefahr, in die Täterhaltung (»Ich bin o. k. – Du bist nicht o. k.«) zu verfallen (orange). In näherer Betrachtung (Selbstreflexion oder mithilfe eines:einer Coaches/Berater:in wäre tiefer zu fragen, welches Menschenbild, welche Grundhaltung diese Person in hochemotionalen Zuständen entwickelt, und wie man unter Umständen daran arbeiten könnte, diese entweder latente oder offen praktizierte Haltung »Du bist nicht o. k.« positiv zu beeinflussen. Für die Selbstreflexion könnte auch hilfreich sein: »Achtung, ich reagiere in emotionalen Führungssituationen rasch in der Täterhaltung. Was hilft mir, in kritische Situationen aus dieser heraus in eine erwachsene Haltung zu wechseln?«

Es gibt bei der Auswertung keine Idealperformance. Das Auswertungsviereck ist je nach Prägung und Erziehung unterschiedlich: Es ist Ihr persönliches Haltungsviereck! Ein solches Auswertungsviereck kann, wenn Sie das Thema weiter vertiefen wollen, dann z. B. Grundlage eines Führungs- und Haltungscoachings sein, um auf Basis des-

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sen zu analysieren, an welchen Punkten Sie bei bestimmten Verhaltensweisen vorsichtig sein müssen. Vertiefende Literatur: Schmale-Riedel, Almut: Der unbewusste Lebensplan. Das Skript in der Transaktionsanalyse, 3. Aufl., München 2016.

8 Das Rollenmodell der Führung Um ein Schneise für die eigene Führungsethik zu schlagen, hilft es, sich zum Abschluss der unterschiedlichen Rollen klar zu werden, die man als Führungskraft hat. In einem einfachen Modell, ebenfalls von Iris und Manfred Schwarz sowie Maja Härri (Schwarz/ Schwarz/Härri 2011) in dieser Form vorgelegt, geht es um sechs grundlegende Rollen, die man als Führungskraft beherrschen sollte: 1. Vorgesetzte:r Als Vorgesetzte:r vereinbart man Ziele und Aufgaben, trägt Entscheidungsverantwortung, plant, organisiert und kontrolliert, stellt die Kommunikation sicher und veranlasst gegebenenfalls disziplinarische Maßnahmen. 2. Fachexpert:in In der Rolle als Expert:in hat und vermittelt die Führungskraft Fachkenntnisse. 3. Moderator:in Als Moderator:in fördert man Teamerleben und Identifikation. Man ermöglicht Beteiligung, vermittelt, managt Konflikte. Dabei bleibt die Führungskraft stets allparteilich. 4. Coach/Berater:in Man begleitet die Entwicklung des:der Mitarbeitenden, hilft bei der Entfaltung persönlicher Ressourcen. Man fördert und fordert, berät, reflektiert und gibt Feedback. 5. Unternehmer:in Als Unternehmer:in hat man die gesamte Organisation im Blickfeld, man gibt Visionen und Mission vor. Man beobachtet das, was außen herum passiert – was andere Gemeinden, Dekanate, die Landeskirche machen. Man hat – im kirchlichen Kontext – das kirchliche Wirken in der Gesellschaft gut im Blick. 6. Mitarbeiter:in In der Funktion als Mitarbeiter:in erfüllt man vereinbarte Ziele in Rücksprache mit der eigenen Führungskraft.

  Beispiel: Rollenwechsel  

Sie sind geschäftsführende:r Pfarrer:in in einer Gemeinde. Dienstagmorgen haben Sie ein Gespräch mit Ihrem:Ihrer Dekan:in: »Wir müssen den Dekanatshaushalt bis Ende der Woche aufgestellt haben, die Zahlen aus Ihrer Gemeinde fehlen noch.« Sie nehmen den Auftrag an (Rolle des:der Mitarbeitenden), versammeln noch am Dienstagnachmittag Ihr Team und teilen ihm mit, dass jede:r bis zum Ende der Woche die Zahlen zu liefern hat (Vorgesetztenrolle). Sie koordinieren die Terminkalender und fragen, steuern die Diskussion im Team (Rolle des:der Moderierenden). Der:die Kirchenpfleger:in, neu im Amt, fragt Sie, welche Zahlen Sie genau

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brauchen – sie erklären es ihm:ihr (Rolle des:der Fachexpert:in). Der:die Sekretärin jammert, die Woche sei ziemlich schlecht, die Schwiegermutter:der Schwiegervater brauche dringend Pflege und der Sohn:die Tochter Unterstützung in der Schule und überhaupt. Sie wenden sich ihm:ihr zu, und fragen, was er:sie denn beitragen und wo ihm:ihr vielleicht geholfen werden könne (Rolle des:der Coaches/Beratenden). Schließlich, als alles geklärt ist, rufen Sie voller Freude: »Und nächstes Jahr werden wir sogar ein bisschen mehr Geld übrig haben für den Kindergarten, wenn wir hier gut wirtschaften!« (Rolle des:der Unternehmers:Unternehmerin) Innerhalb kurzer Zeit hatten Sie die verschiedenen Rollen inne und müssen diese in der jeweiligen Situation gut beherrschen, wenn Sie wirksam führen wollen.

Das Rollenmodell kann sowohl als Spiegel für das eigene Verhalten genutzt werden, als auch im Blick darauf, welche Mitarbeiter:innen wann und in welcher Situation welche Rolle besonders benötigen oder erwarten. Der:die eine Mitarbeiter:in benötigt enge Führung und genaue zeitliche Vorgaben: Dann ist es sinnvoll, bei ihm:ihrvor allem (nicht ausschließlich!) die Rolle des:der Vorgesetzten einzunehmen; ein:e andere:r junge:r Mitarbeiter:in ist an vielen Stellen noch nicht mit den Fachaufgaben vertraut – er:sie erwartet von der Führungskraft insbesondere fachliche Expertise und Coaching. Hier hilft das Rollenmodell, um die eigene Führung mitarbeiter:innengerecht im guten Sinne anzupassen. Die Idee bei diesem Rollenmodell ist, dass Führungskräfte nicht eine Rolle bevorzugt einnehmen (und vielleicht eine andere Rolle gar nicht), sondern dass sie sich im Gefüge der Rollen gut zurechtfinden und sie flexibel einnehmen können. Zunächst ist es hilfreich, sich mit den verschiedenen Rollen vertraut zu machen – und sich klarzumachen, welche der Rollen einem als Führungskraft näher liegt und welche Rolle(n) eher ferner. Dabei helfen vier Schritte: 1. Wenn Sie dieses Modell in Verbindung mit Ihren Werthaltungen bringen, lohnt es sich, den Blick darauf zu richten, für welche Rolle Sie welche Werthaltungen und Kompetenzen jeweils mitbringen: Vorgesetzte:r Meine Kompetenzen

Unternehmer:in Meine Kompetenzen

Meine Werte

Meine Werte

Coach/Berater:in Meine Kompetenzen

Expert:in Meine Kompetenzen

Meine Werte

Meine Werte

Moderator:in Meine Kompetenzen

Mitarbeiter:in Meine Kompetenzen

Meine Werte

Meine Werte

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Führen mit Werten

2. Überlegen Sie, zu welcher Rolle Sie die größte Distanz haben – warum? 3. Was können Sie tun, um diese Distanz möglichst gering zu halten, vielleicht sogar, sie zu überwinden? 4. Alles in allem: Passt mein Wertgefüge zu den Rollen? Vertiefende Literatur: Schwarz, Manfred/Schwarz, Iris/Härri, Maja: Der ExpressoCoach für Führungskräfte. 111 Coaching-Karten für die Führungspraxis, München 2011. Hofbauer, Helmut/Kauer, Alois: Einstieg in die Führungsrolle. Praxisbuch für die ersten 100 Tage, 3. Aufl., München 2014.

9 Gibt es eine ideale Führungsethik? Um für sich selbst und Ihr Führen mit Werten ein rundes Bild zu bekommen, lohnt es sich gleichwohl, die verschiedenen Ergebnisse der Erkenntnisse und Übungen aus diesem Artikel nebeneinanderzulegen: Schritt 1: Welche fünf Kernwerte waren für Sie aus dem Wertetableau die wichtigsten? Wo werden diese in Ihrem Führungshandeln sichtbar? Schritt 2: Welcher Grundhaltung neigen Sie nach dem Ansatz der Transaktionsanalyse im Umgang mit Menschen mehr zu – wie passt das mit Ihren Werten zusammen? Wo sehen Sie bei sich selbst Differenzen, Spannungen, vielleicht sogar Widersprüche? Hier könnten Sie für sich noch einmal mit dem Wertequadrat von Friedemann Schulz von Thun5 arbeiten: Wo kippen bei Ihnen Werte, wo werden sie überstrapaziert und wo sind sie ausgewogen? Schritt 3: Bezogen auf die Perspektiven der Führungsethik: Welcher Perspektive neigen Sie am ehesten zu, welcher am wenigsten? Warum ist das so, und wohin wollen Sie sich vielleicht mehr entwickeln? Schritt 4: Beziehen Sie die bisherigen Ergebnisse noch einmal auf das Rollenmodell: Wie kann es gelingen, die verschiedenen Hintergründe, Prägungen und Werte in den jeweiligen Rollen aktiv und für den:die Mitarbeiter:in motivierend in die Tat umzusetzen? Damit zurück zur Frage: Gibt es eine ideale Führungsethik? Die Antwort ist nein. Auch aus der Perspektive der Ethik – als die auf die Werte und Moral bezogene Reflexion des Handelns – gibt es »die« Ethik des Führens so wenig, wie es eine allgemein verbindliche und allzeit gültige Ethik gibt. So wie sich Ethik immer wieder anpassen muss, weil sie auf sich veränderte Werte und Moralvorstellungen reagiert, so individuell ist auch eine Ethik des Führens, insbesondere deshalb, weil es Führung mit der Selbstführung und der Führung von Menschen zu tun hat. Beides sind die größeren Variablen in der Führung als das Führen von Organisationen. Bibeltexte zum Thema Im Blick auf Führungsgestalten ist die Bibel reich an Beispielen. Meist sind es ambivalent handelnde Personen. Es lohnt sich, den einzelnen Führungsgestalten einmal nachzugehen. In diesem Zusammenhang legen wir eine bewusst knappe, eher reißerisch zu verstehende Charakteristik vor, die Sie zum Nachdenken anregen soll – der Einfachheit halber und um einer Wertung in irgendeiner Weise vorzubeugen, in alphabetischer Reihenfolge:

5 → Kap. 1 Agiles Führen.

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Amos

hat den leidenschaftlich kritischen Blick, der Gut und Böse zu unterscheiden weiß. Sein unbestechlicher Gerechtigkeitssinn meldet sich stets unbarmherzig zu Wort. Das Verstummen der Zwischentöne, die auch einmal das Schöne und Gute zur Sprache bringen könnten, ist der Preis für ihn selbst und für andere. »Denn ich kenne eure Frevel, die so viel sind, und eure Sünden, die so groß sind, wie ihr die Gerechten bedrängt und Bestechungsgeld nehmt und die Armen im Tor unterdrückt. Darum muss der Kluge zu dieser Zeit schweigen; denn es ist eine böse Zeit.« »Es ströme das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach!«  (Am 5,12–13 und 5,24) Debora

ergreift Initiative und Führungsverantwortung, um Freiheit inmitten von Abhängigkeiten, Unbeweglichkeiten und Sachzwängen zu verwirklichen. Nichts darf beim Alten bleiben. Dass sie dabei über Leichen geht, ist der Preis für sie selbst und für andere. »Debora aber sprach zu Barak: Auf!« 

(Ri 4,14) Hiob

findet sich nicht ab und lässt sich nicht abfinden mit dem Lauf der Welt. Er ergibt sich nicht, leistet voller Leidenschaft Widerstand gegen das, was ihm das Leben nimmt. Verbissene Selbstbehauptung und verzweifelte Beharrlichkeit sind der Preis für ihn selbst und für andere.



»An meiner Gerechtigkeit halte ich fest und lasse sie nicht. Mein Gewissen beißt mich nicht.« »Gott möge mich wiegen auf rechter Waage, so wird er meine Unschuld erkennen.« (Hiob 27,6 und 31,6) Jeremia

erfüllt treu große Aufgaben, an denen er mit Leidenschaft leidet. Dass er vor lauter Selbstzweifel den Mut verliert und resigniert, ist der Preis für ihn selbst und für andere. »›Ach Herr, ich bin zu jung, ich tauge nicht zum Reden.‹ – ›Sage nicht: Ich bin zu jung, sondern geh‹, wohin ich dich sende. Fürchte dich nicht!‹« »›Wenn es dich ängstlich und müde macht, mit Fußgängern zu gehen, wie wird es dir gehen, wenn du mit Rossen laufen sollst? Und wenn du schon im Lande, wo keine Gefahr ist, Sicherheit suchst, was willst du tun im Dickicht des Jordans?‹«  (Jer 1,6–7 und 12,5)

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Führen mit Werten

Jesus

im besten Sinne sich selbst gewiss. Will andere überzeugen, mitnehmen, sich ihnen zuwenden. Sein Wissen um das Gute und Wahre machen ihn zum Lehrer und Vorbild. Dann: Momente des Zweifelns und der Angst, der Wut und der Vorwürfe. Im Wissen, welches Ende Gott mit ihn vorgesehen hat. In der Hoffnung, dass dies nicht Gottes letztes Wort ist. »Da fragte er sie und sprach: Wer, sagen die Leute, dass ich sei? Sie antworteten und sprachen: Sie sagen, du seist Johannes der Täufer; einige aber, du seist Elia; andere aber, es sei einer der alten Propheten auferstanden. Er aber sprach zu ihnen: Wer, sagt ihr aber, dass ich sei? Da antwortete Petrus und sprach: Du bist der Christus Gottes!«  (Lk  9,18 ff.) »Und er ging weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst! … Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist’s nicht möglich, dass dieser Kelch an mir vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!«  (Mt 26,39.42) Josef

Der treue Ehemann, der Maria nicht zu Schanden kommen lässt, obschon sie schwanger ist, nicht von ihm. Der am Ende loyal bleibt, um des Kindes und der Frau willen. Der das Findlingskind vor den Mördern des Herodes’ schützt und bei sich aufzieht. Dass er dennoch zur biblischen Randfigur wird, ist der Preis für ihn. »Josef aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in Schande bringen, gedachte aber, sie heimlich zu verlassen.« »Als sie aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: ›Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.‹«  (Mt 1,19 und 2,13) Judas

der Eiferer, ganz von Jesu Sache besetzt. Kämpft für ihn. Wird enttäuscht – Jesus ist kein Revolutionär. Aus Enttäuschung wird Verrat mit einem Kuss. Der Käufliche verschwindet aus dem Leben, sein Leben ist der Preis. »Da antwortete Judas, der ihn verriet, und sprach: Rabbi, doch nicht ich?« »Als nun Judas, der ihn verraten hatte, sah, dass er verurteilt war, reute es ihn; und er brachte die dreißig Silberlinge den Hohenpriestern und den Ältesten zurück.«  (Mt 26,25 und 27,3) Maria Magdalena

nimmt sensibel und voller Liebe wahr, was andere wollen und brauchen. Sie ist ganz selbstlose Hingabe.

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Dass sie sich selbst vergisst und ausbeuten lässt, ist der Preis für sie selbst und für andere.



»Diese Frau hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Sie hat viel Liebe gezeigt.« (Lk 7,44) Moses

das Findlingskind, das seine Heimat neu entdeckt, und dabei über Leichen geht. Der charismatische, von Gott erwählte Anführer, dem Gott sich offenbart. Der Konflikt, Zweifel, Anfechtung mutig, wütend, traurig übersteht. Dass er das gelobte Land nicht betreten darf, ist der Preis, den er bezahlen muss. »So redete der Herr mit Mose und Aaron und befahl ihnen, zu den Israeliten zu gehen und zum Pharao, dem König von Ägypten, um die Israeliten aus Ägypten zu führen.« »Und der Herr zeigte ihm das ganze Land: Gilead bis nach Dan. … So starb Mose, der Knecht des Herrn, daselbst im Lande Moab nach dem Wort des Herrn.  (Ex 6,13, Dtn 34,1 und 35,5) Petrus

steht alles andere als felsenfest auf dem Boden der Tatsachen und träumt davon, die Sterne vom Himmel zu holen. Seine Begeisterungsfähigkeit kennt keine Grenzen, auch nicht die eigenen. Selbstüberschätzung und mangelndes Durchhaltevermögen sind der Preis für ihn selbst und für andere. »›Und wenn sie alle Ärgernis nehmen, Herr so doch ich nicht,‹ – ›Wahrlich, ich sage dir, Petrus, heute, in dieser Nacht, ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verraten.‹«  (Mk 14,29) Rut

reagiert klug und flexibel auf das Gebot der Stunde und der Situation. Die Kunst des Überlebens beherrscht sie meisterhaft. Dass sie dabei (Doppel-)Spiele treibt, ist der Preis für sie selbst und für andere.



»Wo du hingehst, da will ich auch hingehen. Wo du bleibst, da bleibe ich auch.« (Rut 1,16)

10 Tipps, wie Sie wertfrei führen 1. Bleiben Sie bei Ihrer Überzeugung, dass Sie die geborene Führungskraft sind, frei von Eitelkeit, perfekt im Umgang mit Menschen, von Gott ins Amt gerufen und deswegen mit einem perfekten Wertetableau ausgestattet. 2. Machen Sie Mitarbeiter:innen unmissverständlich klar, dass Sie der:die Chef:in sind und immer recht haben. Verweisen Sie auf die Last Ihres wichtigen Amtes!

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Führen mit Werten

3. Machen Sie Ihren Mitarbeiter:innen klar, dass diese Erfüllungsgehilf:innen sind und keine eigene Meinung zu vertreten haben. Behandeln Sie sie auch so. 4. Widerspricht Ihnen ein:e Mitarbeiter:in, setzen Sie eine Abmahnung auf. 5. Seien Sie unehrlich – erzählen Sie jedem:jeder Mitarbeiter:in etwas anderes. Das schafft Verwirrung und sichert Ihre Macht! 6. Zwischenmenschliche Kommunikation sollte von Ihnen strikt unterbunden werden. Die Menschen sollen arbeiten! 7. Wenn jemand einen Fehler bei der Arbeit macht, machen Sie ihn fertig. 8. Diskussionen sind unnütz, als Geistliche:r verkündigen Sie! 9. Feedback ist nicht erwünscht, es sei denn es kommt von Ihnen und ist negativ! Lob ist etwas für Weicheier. 10. Bekennen Sie öffentlich, dass Sie von Arbeitsrecht, Arbeitszeiten und sonstigen Arbeitnehmer:innenrechten nichts halten. Bei Betriebsräten, Gewerkschaften und sonstigem linken Gedöns reagieren Sie aggressiv.

Autor Dr. Daniel Dietzfelbinger ist Pfarrer sowie Systemischer Coach, Organisationsentwickler und Geschäftsführer des Instituts persönlichkeit+ethik GbR, Augsburg. www.persoenlichkeitundethik.de, [email protected]

Literatur Dr. fritz Führungskreise: Was ist Führung nach Rosenstiel?, 7.11.2017. https://www.fritz.tips/was-ist-fuehrung/, abgerufen am 09.01.2021. Harris, Thomas: Ich bin o. k. Du bist o. k., 55. Aufl., Hamburg 2013. Hoffmeister, Johannes (Hg.): Wörterbuch der Philosophischen Begriffe, 2. Aufl., Hamburg 1955. Kälin, Karl/Michel-Adler, Elisabeth/Schmid-Keller, Silvia: Sich selbst managen. Die eigene Entwicklung im beruflichen und privaten Umfeld gestalten, Ott 1999. Nowak, Barbara: Ich bin OK – du bist OK, oder etwa nicht?, 16.11.2020. https://barbaranowak.de/ich-binok-du-bist-ok/, abgerufen am 15.07.2021. Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens, 12. Aufl., Paderborn 2016. Schein, Edgar: Organisationskultur, 3. Aufl., Bergisch-Gladbach 2003. Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Halle 2004. Schwarz, Manfred/Schwarz, Iris/Härri, Maja: Der ExpressoCoach für Führungskräfte. 111 Coaching-Karten für die Führungspraxis, München 2011. Seliger, Ruth: Das Dschungelbuch der Führung. Ein Navigationssystem für Führungskräfte, Heidelberg 2008. Sparkasse Passau: »Mein Haus, mein Auto, mein Boot«. 30 Jahre erfolgreiche Sparkassen-Werbegeschichte, 22.07.2020. https://passau.sparkasseblog.de/2020/07/22/mein-haus-mein-auto-mein-boot-30-jahre-erfolgreiche-sparkassen-werbegeschichte/, abgerufen am 15.05.2021. Stewart, Ian/Vann, Joines: Die Transaktionsanalyse. Eine Einführung, 12. Aufl., Freiburg i. Br. 2015. Teuffel, Jochen: Mein Lohn ist, dass ich darf. Ökonomisches Verhalten im Neuen Testament, in: Daniel Dietzfelbinger/Jochen Teuffel (Hg.): Heilsökonomie? Zum Zusammenwirken von Kirche und Wirtschaft, Gütersloh 2002, S. 68–84. Wieland, Josef.: Die Ethik der Governance, Marburg 1999.

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Gespräche führen – Führen durch Gespräche Stefan Reimers Î Wie kann ich offen und zugleich mit Haltung in ein Gespräch gehen? Î Wie lassen sich Entscheidungen gut kommunizieren? Î Wie kann ich mit unterschiedlichen Kommunikationskanälen umgehen? Î Was sollte ich in der Gesprächsvorbereitung beachten? Î Und was ist mit den zufälligen Begegnungen im Alltag?

1 Gesprächs-Führung als offener Dialog

Grundlegende inhaltliche Herausforderungen müssen zu intensiver Kommunikation führen

Im Februar 2021 lud der Landeskirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) zum ersten Mal zu einem Gespräch mit allen hauptamtlich bei der ELKB Beschäftigten per Videokonferenz ein. Ziel dieses Gesprächs war es, die wichtigsten strategischen Themen miteinander zu diskutieren, die den Landeskirchenrat als Teil der Kirchenleitung genauso wie die Mitarbeiter:innen auf allen Ebenen der ELKB beschäftigen: die konstant rückläufige Entwicklung der Mitgliederzahlen, die herausfordernde mittelfristige Finanzplanung sowie die Auswirkungen der stark zurückgehenden Zahlen an Mitarbeiter:innen (v. a. durch hohe Ruhestandseintritte in den kommenden 15 Jahren) auf die kirchlichen Gestaltungsprozesse und die Arbeitsumstände aller Betroffenen. Zu diesem anderthalbstündigen Gespräch waren die Mitarbeiter:innen aller Berufsgruppen eingeladen, von Mesner:innen bis zu Dekan:innen, Mitarbeiter:innen in der Verwaltung bis Kinderpfleger:innen. Fünf Mitglieder des Landeskirchenrats nahmen teil, neben drei Abteilungsleitern zwei Regionalbischöfe. Zur großen Überraschung aller wählten sich zu dieser Videokonferenz bis zu 720 Personen ein und nahmen zum allergrößten Teil stabil über 90 Minuten teil. Eine vergleichbare Kommunikation der Leitungsebene mit Mitgliedern aller möglichen Berufsgruppen gab es in der ELKB vor dieser Videokonferenz nicht. »EinBlick in die Zukunft der Kirche – im Dialog mit dem Landeskirchenrat« war die Veranstaltung überschrieben. Neben dem hohen Anspruch des Einblicks in die Zukunft der Kirche, die Mitarbeiter:innen wegen des Interesses an der Zukunft ihres Arbeitsplatzes berührt, ist »Dialog« der zweite leitende Begriff. Der Ansatz dieses neuen Instruments der Kommunikation von Kirchenleitung mit Mitarbeiter:innen liegt nicht in der Information über oder in der Weitergabe von schon getroffenen Entscheidungen (top down), sondern in der Wahrnehmung unterschiedlicher Zugänge, gemeinsamer Fragestellungen oder Überzeugungen zu grundlegenden Themen, die alle Mitarbeiter:innen und Verantwortlichen der ELKB miteinander beschäftigen. Der Dialog mit dem Landeskirchenrat war als offenes Forum gedacht, das allen Beteiligten ein Gespräch darüber ermöglichte. Der offene Dialog als eine Kernform des Gesprächs zwischen verantwortlicher Leitungsebene und der Mitarbeiter:innenschaft ist eine hochaktuelle Führungsaufgabe. Das offen-dialogisch aufgebaute Gespräch zwischen Verantwortlichen und Mitarbeiter:innen im Sinne der gemeinsamen Verantwortung für das Gesamtsystem von Kirche ist ein Füh-

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Gespräche führen – Führen durch Gespräche

rungsinstrument, das Zusammenhalt wachsen lässt, Verständnis für die Situation und füreinander vertieft und damit die Loyalitäten stärkt. Diese Form der Führung durch den Dialog lässt sich unter vier Augen genauso gestalten wie in großen Gruppen und kann in kleinen Einrichtungen ebenso genutzt werden wie in sehr großen regionalen oder überregionalen Zusammenhängen. Gerade in herausfordernden Zeiten ist dieser Gesprächstyp entscheidend, um Kraft, Motivation und Vertrauen wachsen zu lassen, gemeinsame Themen zu identifizieren, hierarchische Mauern zu überwinden und miteinander die Fähigkeit zu entwickeln, mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten, Rollen und Qualifikationen trotzdem gemeinsame Aufgaben zu bewältigen und Ziele zu klären. Aufgrund der sehr guten ersten Erfahrungen in der ELKB wird dieser »Dialog mit dem Landeskirchenrat« kontinuierlich fortgesetzt und weiterentwickelt.

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Kommunikative Offenheit stärkt die Motivation und die Akzeptanz tiefgreifender Entscheidungen

Fragen zur Reflexion a. Welche Themen in meinem Verantwortungsbereich entwickle ich im Dialog, um Vertrauen und Motivation zu stärken? b. Bin ich selbst offen für einen Dialog, der auch zu anderen Ergebnissen führen kann, als ich es mir vorstelle? c. Nutze ich den Dialog, um selbst nicht entscheiden zu müssen – oder um selbst besser entscheiden zu können?

2 Verlässliche Gesprächs-Führung in offener Situation Wie wir miteinander Gespräche führen (und dadurch Führungsverantwortung wahrnehmen), ist in der Zeit nach dem Jahr 2020 anders zu beantworten als in den Jahren zuvor. Die Erfahrungen eines weitgehenden (zeitlich sicherlich befristeten) Zusammenbruchs der bisherigen, vor allem auf direkten, persönlichen Begegnungen beruhenden Gesprächskultur in Kirche und Gesellschaft durch die Coronapandemie verknüpfen sich mit der parallel steigenden Notwendigkeit bzw. dem individuell und gemeinschaftlich wachsenden Bedürfnis, verlässlich und zugewandt zu kommunizieren. Gleichzeitig hat gerade in den Kirchen der Verlust an Möglichkeiten der direkten, personalen Begegnung zu einem Schub technischer Entwicklung in der digitalen Kommunikation geführt. Dieser Schub wird langfristig konzeptionell noch angemessen verarbeitet werden müssen, gerade auch in der Perspektive des Führens und Leitens. Grundsätzlich ist gleichwohl festzuhalten, dass die schnell implementierten digitalen Wege der Kommunikation in ihren Möglichkeiten und Begrenzungen erst in der Erprobung stecken, und bei intensiver Nutzung durchaus zu Ermüdungserscheinungen und Bindungsverlusten führen können. Nicht zu unterschätzen ist allerdings die durch die Coronapandemie noch einmal vertieft wahrgenommene Krisensituation für die Kirchen in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung bzw. in ihrem Wert für die je individuelle Lebensgestaltung. Diese Krise ist weit über Corona hinaus eine grundlegende Erfahrung, die auch in den Jahren zuvor bzw. in den kommenden Jahrzehnten die beherrschende Perspektive allen kirchlichen Handelns darstellt (vgl. die vielfältigen analytischen und perspektivischen Betrachtungen des Themas allein in den ersten 20 Jahren des 21. Jahrhunderts, unter anderem auf Ebene der EKD). Sie drückt sich äußerlich und organisatorisch genau in den Fragestellungen aus, die in der Videokonferenz des Landeskirchenrats mit den Mitarbeiter:innen der ELKB behandelt wurden.

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Digitale Kommunikation und persönliche Begegnungen müssen sinnvoll miteinander verknüpft und voneinander unterschieden werden

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Stefan Reimers

»Es liegt auf der Hand, dass diese Prognosen die Kirchenleitungen vor große Herausforderungen stellen. […] Die Landeskirchen sind im Blick auf diese schwerwiegenden und in jedem Fall Enttäuschung hervorrufenden Entscheidungen nicht zu beneiden.« (Anselm/Karle 2021, S. 383)

Wenn schwierige Entscheidungen mit erwart­ baren Enttäuschungen verbunden sind, müssen Entscheidungen in sich umso konsequenter sein und nach außen umso transparenter kommuniziert werden

Die Dynamik harter Schnitte und des mutigen Aufbruchs führt zu tiefer Verunsicherung

Allerdings sind nicht nur die Kirchenleitungen, und damit auch nicht nur die Führungspersonen auf allen Ebenen, aufgrund der gesamtkirchlichen Situation in besonderer Weise herausgefordert, vielfach sicherlich auch überfordert, sondern gerade auch die Mitarbeiter:innen. Wenn davon auszugehen ist, dass Entscheidungen der Kirchenleitungen bei Betroffenen zu »Enttäuschung« führen, dann wird deutlich, dass die Kommunikation zwischen der Führungsebene einerseits und den Mitarbeiter:innen andererseits anders aussehen muss als über lange Jahre des Wachstums eingeübt. In diesen Jahren wurde die Absurdität des Kleiner-Werdens der Kirchen bei gleichzeitig wachsenden Ressourcen trotz aller mehr oder weniger lauten Zweifel und Sorgen akzeptiert und das strukturelle Wachstum vorangetrieben. Die bei vielen Mitarbeiter:innen und Führungspersonen schon seit langer Zeit gewissermaßen »subkutan« vorhandene Sorge, dass Wachstum (gegen den Trend) keine angemessene Strategie sein könne, wurde nicht wirklich behandelt, ist aber nun eine immer konkreter werdende Herausforderung. Die Coronasituation kann in diesem Sinn als »disruptiver Impuls« angesehen werden, der in der ohnehin notwendigen Transformation von Kirche überraschend schnell in die Phase eines »Veränderns und Experimentierens« führt – und damit die grundlegend vorhandene Verunsicherung der Mitarbeiter:innenschaft vertieft. Die aktuelle Chance, jetzt »etablierte Formen und Formate stärker zu hinterfragen«, führt bei vielen Mitarbeiter:innen zu einer vertieften Krise und der Sorge, möglicherweise keinen eigenen Ort mehr zu finden oder den beruflichen Boden unter den Füßen zu verlieren. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Führen durch Gespräche einen ekklesiologischen und existenziellen Horizont, der in Wachstumszeiten nicht gegeben war. Die gleichzeitigen Veränderungen der Gesprächskultur und der technischen Möglichkeiten gehören deshalb nicht nur zu einer »disruptiven Ekklesiologie« (Bils 2021, S. 19), sondern führen zu einer veränderten Kommunikationsherausforderung in Führungsverantwortung. Wenn die nun durch die Coronapandemie und andere Krisen (hier spielt z. B. auch der

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Gespräche führen – Führen durch Gespräche

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sexuellen Gewalt in den Kirchen eine große Rolle) hervorgerufene Dynamik zu wesentlich schnelleren Entwicklungen des Abbaus bzw. Umbaus kirchlicher Strukturen bzw. der damit verbundenen Veränderungen der Rollen und Aufgaben der Mitarbeiter:innen führt, dann ist die Notwendigkeit des verlässlichen Gesprächs zwischen Führungsebene und denjenigen, die eine Richtungsangabe für ihr Selbstverständnis und ihr Tun benötigen, umso relevanter und dringender. d. Welche besonderen Herausforderungen erkenne ich in dem System, für das ich Verantwortung trage? Mit wem muss ich darüber sprechen? e. Wie kann ich mit Enttäuschungen produktiv umgehen, die durch Entscheidungen in Veränderungsprozessen entstehen werden? f. Wie kann ich Verlässlichkeit im Gespräch kommunizieren, auch wenn ich Entwicklungen voranbringen muss?

3 Gesprächs-Führung mit Haltung Das Hinterfragen des Bisherigen geschieht auf eine häufig sehr unangenehme Weise: Menschen verlassen die Kirche und kündigen ihre Mitgliedschaft. Andere bleiben, finden aber allzu häufig kein gutes Haar an den Kirchen, ihrer Arbeit und ihren Mitarbeiter:innen. Dies führt, nicht nur hinsichtlich der Zahlen, sondern auch im Blick auf das Selbstverständnis und den Wert des eigenen Tuns, bei vielen Mitarbeiter:innen zu tiefgehenden professionellen wie persönlichen Krisen. Sie drücken sich ganz unterschiedlich aus, sind aber in jedem Fall bei aller Kommunikation der Führungspersonen mit ihren Mitarbeiter:innen zu bedenken. Die ausgesprochene oder unausgesprochene Frage »Kirche – wohin?« verknüpft sich häufig mit der konkreten individuellen Herausforderung: Wohin kann es mit mir gehen? Beide Fragestellungen spielen in allen möglichen Gesprächsformen im Angesicht der uns

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Kirche – wohin? Und wo bleibe ich? Gelingende Führungs­ kommunikation ist sich des Zusammenhangs beider Fragestellungen bewusst

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Führungsqualität zeigt sich auch im gemein­samen Suchen und Fragen

Stefan Reimers

prägenden Transformationsprozesse eine entscheidende Rolle. Antworten bzw. Perspektiven werden zuallererst von der Führungsebene der Kirchen bzw. von den jeweiligen direkten Vorgesetzten erwartet und sind damit ein selbstverständlicher Bestandteil aller Führungskommunikation. Dies ist allerdings mit Blick auf die Führung von unterschiedlichsten Gesprächsformen nicht unbedingt als ein depressiver oder negativer Ansatz zu verstehen. Grundsätzliche Fragestellungen können auch zu positiven Weichenstellungen führen, für eine große Organisation genauso wie für einen individuellen beruflichen Lebenslauf. Ein guter Teil der Verantwortung dafür, dass aus dem Grundsätzlichen etwas konkret Positives bzw. Weiterführendes werden kann, liegt innerhalb eines differenzierten Systems von Verantwortlichkeiten bei denjenigen, die eine Führungsverantwortung für das System und die im System wirkenden Mitarbeiter:innen haben. Mit Blick auf mögliche Sorgen oder Verunsicherungen der Mitarbeiter:innen ist die Haltung der Führungspersonen bzw. -gremien entscheidend, mit der sie ihre Gespräche führen. »Je krisenhafter eine Gegenwart und je ungewisser eine Zukunft erfahren wird, desto wichtiger ist es, suchend und fragend vorzugehen.« (Anselm/Karle 2021, S. 391) Suchend und fragend miteinander im Gespräch unterwegs zu sein, nimmt das Bedürfnis der Gesprächspartner:innen auf, in unsicheren Zusammenhängen zusammenzugehören und gemeinsam nach Antworten zu suchen. Führung in unübersichtlichen Zeiten verantwortungsvoll zu übernehmen und in der Kommunikation mit Mitarbeiter:innen wirksam werden zu lassen, benötigt eine klar definierte und zuversichtlich entschiedene Grundhaltung, die für die Gesprächspartner:innen erkennbar ist. Eigene Fragen und Unsicherheiten dürfen ehrlich benannt werden, aber dabei darf es nicht bleiben. In diesem Sinne hat beispielsweise der Landeskirchenrat der ELKB mit Blick auf seine Führungsverantwortung für das Gesamtsystem seiner Landeskirche, aber auch für alle in dieser Landeskirche beschäftigten Mitarbeiter:innen, mit den drei Perspektiven »Ehrlichkeit, Offenheit, Vertrauen« eine Haltung formuliert, die das gemeinsame Suchen und Fragen im Gespräch prägen soll. Bei jeder Form von Führungskommunikation und auf allen Führungsebenen ist dies eine Grundvoraussetzung für gelingende Kommunikation, nicht nur in unsicheren Zeiten. Die intensive Klärung der eigenen, begründbaren Haltung zu Gesprächspartner:innen, zu gemeinsamen Themen und zu vor Augen stehenden Herausforderungen und Möglichkeiten ist ein wichtiges Qualitätsmerkmal gelingender Führungskommunikation. g. Wie verstehe ich als Führungsperson die Situation meiner Kirche? Wie schätze ich deshalb die tatsächliche bzw. empfundene Situation meiner Mitarbeiter:innen ein? h. Kann ich mit meiner eigenen Unsicherheit umgehen und sie zum Teil des Gesprächs werden lassen? i. Habe ich eine eigene Perspektive auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Person, mit der ich reden muss, im Rahmen der Gesamtsituation meines Verantwortungsbereichs?

4 Gesprächs-Führung mit fördernder Perspektive Die Kirchen »stehen nicht mehr für die Normalität und den allgemeinen Lauf der Dinge. […] Sie sind fürs Besondere da, fürs Durchbrechen des Normalen, für die Unterbrechung der Routinen, an denen entlang gemeinhin das Leben verläuft.« (Drobinski 2021, S. 29) So lässt sich die Chance der Kirchen im Leben der Menschen, und damit auch die Aufgabe der Mitarbeiter:innen dieser Kirchen in der Begegnung mit den Menschen beschreiben.

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Gespräche führen – Führen durch Gespräche

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Nicht nur die Coronapandemie macht deutlich, wie sehr schon über Jahrzehnte die Kirchen die Rolle »als Hüterinnen der Normalität« (Drobinski 2021, S. 29) verlieren und nach dem eigenen, anderen Besonderen suchen müssen. Grundlegend ist festzuhalten, dass inzwischen weder die Mitgliedschaft in einer Kirche noch die Inanspruchnahme kirchlicher Angebote oder die Hochschätzung von Kirchen als Bestandteil des gesellschaftlichen Gesamtgefüges als Selbstverständlichkeit oder »Normalität« verstanden werden können. Dies führt zu einer weiteren Perspektive, ohne die Führungskommunikation mit Mitarbeiter:innen nicht (mehr) gelingen kann: die Ermöglichung des Erprobens als konstitutives und motivierendes Merkmal angemessenen Führungshandelns.

Beispielhaft wird dies an den vielen, durch organisatorische Zusammenhänge bedingten Stellenplänen und Planungsvorgängen in den Landeskirchen deutlich, die nicht mehr nur durch logische Zahlenkonstrukte zu erklären sind (wie viele Stellen werden für wie viele Gemeindeglieder berechnet?), sondern mehr und mehr mit Erprobungsregelungen, also Gestaltungsperspektiven verbunden werden. Die Landesstellenplanung 2020 der ELKB verknüpft in diesem Sinn beispielsweise die notwendige Kürzung aller Stellen um 10 Prozent mit einem Erprobungsgesetz, das viele neue Spielräume bei der Besetzung der verbleibenden Stellen und ihrer inhaltlichen Festlegung eröffnet und damit die konzeptionelle Verantwortung in regionaler Vielfalt stärkt. Dass dabei Erprobungen auch nicht gelingen können, ist kirchenleitend einkalkuliert und akzeptiert. Wer das Besondere, das zu Menschen, Situationen und Regionen Passende entwickeln möchte, benötigt Freiräume des Ausprobierens mit der ausdrücklichen »Erlaubnis«, scheitern zu dürfen ohne den Verlust des Ansehens oder der Funktion. In einer Kirche, in der die gleichförmige, konstante Normalität als Merkmal von Qualität zu gelten schien, ist das nicht möglich – in einer Situation des Veränderns, Suchens und Aufbrechens ist das unbedingt nötig. Die Unterstützung individueller Entwicklungs- und Erprobungsmöglichkeiten wird in Zukunft eine tragende Rolle spielen. Dem müssen die unterschiedlichen Formen von Gesprächen, Anlässen und Zielen dienen, um den Mitarbeiter:innen motivierend ihre Chancen der Gestaltung und Entwicklung in sich verändernden Situationen und Rahmenbedingungen aufzuzeigen.

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Der Verlust an Selbstverständlichkeit fordert die Selbstverständlichkeit des Erprobens

»Freisprüche« und eine gelebte Kultur reflektierter Fehlerfreundlichkeit sind Kerngeschäft jeder Führungskommunikation.

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Stefan Reimers

j. Bin ich auf der Suche nach den Defiziten? Oder möchte ich die Potenziale einer Person hervorheben? Woran merkt mein:e Gesprächspartner:in meine Entscheidung in dieser Frage? k. Bin ich selbst bereit, neue Wege auszuprobieren und gegebenenfalls zu korrigieren? Und stehe ich auch hinter meinen Mitarbeiter:innen, wenn es um mögliche Fehlschläge geht? l. Ist der Kern meiner Führungsaufgabe die Bewahrung des sicheren Rahmens oder die Ermutigung zum Aufbruch?

5 Gesprächs-Führung mit klarer Entscheidung

Es gibt genug Themen und genügend Möglichkeiten, um miteinander kontinuierlich im Gespräch zu sein

Wer Mitarbeiter:innen führt, benötigt für »ständig wechselnde Situationen […] eine Vielzahl von inneren Möglichkeiten, zu reagieren und zu agieren, die fast übermenschlich erscheinen will« (Schulz von Thun 2008, S. 13). Gleichzeitig ist Personalführung die Kunst, mit Menschen angemessen zu kommunizieren und sie zu überzeugen, auf einen Weg zu schicken, in Entwicklungen einzubeziehen, Anteil an der Verantwortung zu übertragen, sie zu motivieren oder sie zurechtzuweisen. Aus Sicht der Mitarbeiter:innen selbst werden Fragen zur eigenen Rolle, zum wachsenden Zeitdruck in der konkreten Arbeit oder zur Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns angesichts gesellschaftlicher und innerkirchlicher Prozesse eine entscheidende Rolle spielen. Die unterschiedlichen Führungstätigkeiten, die sich aufgrund dieses großen Themenspektrums ergeben können und zum Beispiel mit der Definition von gemeinsamen Zielen oder mit der klärenden Herstellung von Arbeitsfähigkeit verknüpft sind, geschehen vor allem in der Kommunikation. Sei es in der persönlichen Begegnung unter vier Augen, im Team oder in der größeren Öffentlichkeit, per Telefon oder E-Mail, schriftlich oder online. Den vielfältigen Zielen der Führungsperson steht eine große (und kontinuierlich wachsende) Vielzahl von Kommunikationswegen gegenüber, sodass tatsächlich immer die Aufgabe besteht, für das anzugehende Thema den richtigen kommunikativen Weg zu finden. Beispielsweise sind Konfliktgespräche per E-Mail allzu häufig Grund für sich verschärfende Konflikte, weil das Geschriebene weitergeleitet oder falsch interpretiert wird und sich damit ein Konflikt sogar noch verschärfen und auf weitere Beteiligte übertragen kann. Eine klare inhaltliche Frage oder ein unkomplizierter Arbeitsauftrag lässt sich hingegen per Mail schnell und effektiv an den:die gewünschte:n Ansprechpartner:in weiterleiten. Gleichzeitig eröffnen digitale Kommunikationswege bisher ungenutzte Wege der visuellen Begegnung, die viele Reisen ersparen mögen, aber nicht die Überlegung, in welchen Fällen trotz allen technischen Fortschritts die direkte, persönliche Begegnung in einem Raum oder an einem Tisch der angemessene oder notwendige Weg ist.

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Gespräche führen – Führen durch Gespräche

Entscheidungen sind also zu treffen über den Inhalt und das Ziel eines Gesprächs zwischen Führungsperson und Mitarbeiter:in, genauso wie über den entsprechend zu wählenden Weg der Kommunikation. Auch wenn in allen Landeskirchen die Situationen und die konkreten Rahmenbedingungen unterschiedlich ausgeprägt sind, gilt doch überall, dass Führungspersonen und ihre Mitarbeiter:innen sich gegenseitig bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen, einander transparent informieren und vertrauensvoll zusammenarbeiten sollen (vgl. die Grundsätze zur Zusammenarbeit zwischen Dienststellenleitung und Mitarbeitervertretung gemäß EKD 2019, § 33). Dafür steht eine Vielfalt an konkreten Gesprächswegen zur Verfügung, die entsprechend ihres Typus klar zu verwenden sind. Hier sind vor allem die regelmäßig wiederkehrenden Gesprächstypen im Blick: Mitarbeiter:innen-Jahresgespräche (MJG); Beurteilungsgespräche und Gespräche zur Erstellung bzw. Überarbeitung von Dienstordnungen; regelmäßige Dienstbesprechungen unter vier Augen oder im Team etc. Hinzu kommen eher singuläre oder durch einen konkreten Anlass erforderte Formen der Kommunikation: Konfliktgespräche unter vier Augen oder im Team; Zusammenkünfte in Projektteams oder fachlicher Austausch unter vier Augen; Vor- oder Nachbereitungsgespräche zu Veranstaltungen, Sitzungen, Projekten; Tür-und-Angel-Gespräche etc. Wenn die Entscheidung über Ziel, Thema und Gestalt der Kommunikation klar ist und konsequent umgesetzt wird, wird dadurch eine erfolgreiche Führungskommunikation wahrscheinlich. Hingegen entsteht fast immer ein verunsichernder Schaden, wenn die Führungsperson unausgesprochen während eines Gesprächs die Gesprächstypen wechselt und damit Unsicherheit über das eigene Führungshandeln erkennen lässt. Diese Unsicherheit wird sich auf die weiteren gemeinsamen Gestaltungs- und Arbeitsprozesse auswirken.

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Klare Entscheidungen sind die Grundlage gelingender Kommunikation mit Mitarbeiter:innen

Meine eigene Unsicherheit als Führungs­person wird meine:n Mitarbeiter:in unsicher machen; meine eigene Sicherheit wird ihn:sie stabilisieren!

m. Schaffe ich es, mein Gespräch mit dem:der Mitarbeiter:in auf das vereinbarte Thema zu konzentrieren? Wie vermeide ich es, andere Themen »nebenbei« mitzuverhandeln? n. Wie kann ich in einem Konfliktgespräch deutlich machen, dass ich den:die Mitarbeiter:in grundsätzlich unterstütze? o. Kann ich selbst vor mir und dem:der Gesprächspartner:in klar und knapp formulieren, worum es genau jetzt geht?

6 Der große Wert des Zufälligen Im Rahmen der komplexen Vielfalt von Gesprächsformen nehmen die sogenannten »Türund-Angel-Gespräche« eine besondere Rolle ein. Es sind im Grunde Zufallsbegegnungen im Umfeld des Zusammenarbeitens, die bei entsprechender Nutzung des Zufalls der Gestaltung von Regelkommunikation oder verabredeten Begegnungen den Boden bereiten. In diesen Begegnungen wird eine zwischenmenschliche Nähe möglich, die der inhaltlichen Kooperation, auch jenseits von hierarchischen Einordnungen, dadurch dient, dass ganz grundsätzlich das Interesse des:der einen (Führungsperson) an dem:der anderen (Mitarbeiter:in) erlebbar wird. Die Erwartung von Mitarbeiter:innen gegenüber Vorgesetzten ist in diesem Sinne häufig ganz schlicht: »Grüßen Sie sie höflich. Reden Sie immer ein paar Worte mit ihnen. […] Bilden Sie sich nichts auf Ihre Position ein. […] Interessieren Sie sich für private Angelegenheiten Ihrer Mitarbeiter.« (Pöhm 2004, S. 209–210) Insgesamt zeigen diese Erwartungen nichts anderes, als dass eine ganz alltägliche, den:die Mitarbeiter:in als Menschen »wie du und ich« anerkennende Kommunikation die Grundlage für alle Gesprächsführung im Spezifischen darstellt.

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Führungsperson und Mitarbeiter:in sind ganz schlicht Menschen, die sich in ihrem Berufsalltag begegnen

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Als Führungskraft nutze ich alle mir zur Verfügung stehenden Wege, mit meinen Mitarbeiter:innen ins Gespräch zu kommen!

Stefan Reimers

Diese alltägliche, zufällige, unvorbereitete Kommunikation zwischen Führungsperson und Mitarbeiter:in benötigt grundsätzlich eine klare Entscheidung, ein solches Gespräch als Teil der vielfältigen dienstlichen Gesprächswege anzuerkennen und zu etablieren, also aus der reinen Zufälligkeit in eine »geplante Zufälligkeit« zu überführen. »Tür- und Angel­ gespräche« werden damit zu einem selbstverständlichen Bestandteil zielgerichteter, verlässlicher und personalbindender Kommunikation. Sie unterliegen neben der Gefahr durch fehlende Zeit aktuell vor allem der Gefahr einer wachsenden Arbeitswelt im Home­office. Zufallsbegegnungen werden immer seltener und dadurch gleichzeitig in ihrem Wert als systemstabilisierend, teambildend und die psychische Gesundheit fördernd überdeutlich. Es werden auch alle weiteren Kommunikationswege für Führungspersonen zu ihren Mitarbeiter:innen hin dauerhaft erschwert, wenn sie ihre Kommunikation aus Gründen der finanziellen oder zeitlichen Effektivität zu sehr in den digitalen Raum verlagern und damit der direkt erfahrbaren »Zwischen-Menschlichkeit« Tor und Tür verschließen. Deshalb ist als Grundlage für das Gelingen aller spezifischen Formen von Führungskommunikation (vgl. Punkt 5) die Hochachtung für die schlichte zwischenmenschliche Begegnung eine unbedingte Voraussetzung. Die Ermöglichung bzw. aktive Nutzung solcher Begegnungen ist eine Führungsaufgabe, wann immer Führung auch Personalführung umfasst. Insofern ist nicht nur in der inneren Planung dafür Zeit einzuräumen, sondern auch der ermöglichende Rahmen in der Organisation des Teams, der Abteilung, der Einrichtung oder Kirchengemeinde bzw. des Dekanats/der Superintendentur/des Kirchenkreises für solche Momente zu schaffen. Bestenfalls kann dies real vor Ort passieren, im Falle vom zukünftig wahrscheinlich stärker ausgeprägten Homeoffice oder seltenerer Begegnungen in der Region sind solche zwanglosen Momente aber auch per Videochat möglich. Viele Einrichtungen oder Teams praktizieren schon erfolgreich die zwanglose digitale Begegnung zum Kaffee am Ende der Mittagspause oder ein Feierabendbier zum Ende des Tages – mit dem:der Vorgesetzten, aber ohne gezielt dienstliche Themen besprechen zu müssen.

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Gespräche führen – Führen durch Gespräche

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p. Welche Rolle spielen die zufälligen Begegnungen und Gespräche in ihrer eigenen persönlichen und beruflichen Entwicklung? q. Nehmen Sie sich genug Zeit für die Begegnungen und Gespräche auf dem Weg, im Gang, beim Essen …? r. Wie sieht eigentlich mein Interesse an der Persönlichkeit meines Mitarbeiters:meiner Mitarbeiterin genau aus?

7 Achtsamkeit in der Vielfalt des Möglichen Vor diesem Horizont grundsätzlicher Überlegungen, die mit Blick auf alle Formen der Kommunikation und der Gespräche zwischen Führungspersonen und ihren Mitarbeiter:innen wichtig sind, sollen nun einige ausgewählte und auf Erfahrung beruhende konkrete Hinweise zur Gestaltung von Gesprächen mit Mitarbeiter:innen gegeben werden. Im Mittelpunkt dieser Hinweise stehen Aspekte, die auf unterschiedliche Gesprächstypen angewandt werden können, aber immer von einer längerfristigen professionellen Zusammenarbeit ausgehen, also vor allem wiederkehrende und/oder regelmäßige Gesprächssituationen vor Augen haben. Grundsätzlich ist vorausgesetzt, dass eine Führungsperson mit Personalverantwortung eine sorgfältige und durchaus zeitlich aufwendige Gesprächskultur pflegt und als einen entscheidenden Bestandteil ihrer Führungsaufgabe versteht, gerade in Zeiten tiefgreifender Veränderungs- und Transformationsprozesse. Was für ein Gespräch führen wir? Zum Gelingen eines Gesprächs ist die Klärung des Gesprächstypus unbedingte Voraussetzung. Das ist dann umso wichtiger, wenn die Gesprächspartner:innen in langfristigen und vielfältigen Bindungen miteinander verknüpft sind. Beispielsweise ist es gar nicht so einfach, ein Mitarbeiter:innen-Jahresgespräch (MJG) »sortenrein« zu führen, wenn gleichzeitig bei der:dem Mitarbeiter:in ein Konflikt im Hintergrund steht, der gerade jetzt mit großer Aufmerksamkeit zu bearbeiten ist. Deshalb ist es Aufgabe der Führungsperson, darüber zu entscheiden, welches Gespräch zu führen ist, und ob beispielsweise das schon lange festgesetzte MJG angesichts einer konkreten und aktuellen Konfliktlage auch zum geplanten Zeitpunkt tatsächlich geführt werden kann. Zur Pflege der »Sortenreinheit« gehört aber auch, die auf reiner Arbeitsebene angesetzten Dienstbesprechungen oder die regelmäßig wiederkehrenden Beurteilungsgespräche und -begegnungen von seelsorglichen oder personalentwicklerischen Perspektiven freizuhalten und gegebenenfalls parallel andere Gesprächsformen durchzuführen. Entscheidend für jede Form von Gesprächen mit Mitarbeiter:innen ist der beiderseits geklärte und anerkannte Typ des jeweiligen Gesprächs. Diese Klärung ist unbedingt vor dem geplanten Gespräch herbeizuführen, um Unsicherheiten zu vermeiden, die ein Gespräch von Anfang an erschweren können. Sorgfalt bei den Rahmenbedingungen Ist der Gesprächstypus klar, ergeben sich daraus auch die Klärungen der weiteren Rahmenbedingungen: Zeitraum, Gesprächsort und Teilnehmer:innen. In aller Regel handelt es sich nicht um »Tür-und-Angel-Gespräche«, sondern um dienstliche Gespräche. Deshalb sind klare Zeitrahmen mit pünktlichem Beginn und pünktlichem Ende ein Garant

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Wenn Umstände es erfordern, müssen auch langfristige Planungen angepasst werden, um angemessen mitei­ nander zu kommunizieren

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Ordnung und Kleinigkeiten machen einen Großteil des gelingenden Gesprächs aus!

Stefan Reimers

für die Sicherheit aller Teilnehmer:innen, genauso wie ein geklärter, mit dem Dienst verbundener Gesprächsort. Gespräche im Freien, in Cafés oder Restaurants bzw. im Wohnzimmer des:der Vorgesetzten bzw. Mitarbeiter:in sind in der Regel kontraproduktiv, weil sie den dienstlichen Charakter verwässern, eine falsche Privatheit suggerieren und damit Unsicherheit schaffen. Gleichzeitig ist ganz banal darauf zu achten, dass der Ort des Gesprächs sich z. B. nicht durch Unordnung auszeichnet, sondern aufgeräumt und einladend ist. Schon dadurch zeigt sich die Wertschätzung der Führungsperson für den:die Mitarbeiter:in bzw. alle Gesprächsteilnehmer:innen und die Sorgfalt in der Gestaltung von Kommunikation. Kleinigkeiten können manchmal ausschlaggebend sein: Der ständige Blick des:der Vorgesetzten auf Uhr oder Mobiltelefon oder die regelmäßige Störung durch den:die Sekretär:in geben den Gesprächspartner:innen das Gefühl, nur ein »Thema« des:der Vorgesetzten unter mehreren zu sein, die gleichzeitig bearbeitet werden. Übrigens ist gerade bei Onlinegesprächen die Gefahr groß, sich neben dem Gespräch mit den eingehenden Mails zu beschäftigen und dabei den Faden und den Kontakt zu verlieren. Entscheidend für jede Form von Gespräch mit Mitarbeiter:innen ist die bewusste Gestaltung von Raum und Zeit und die erkennbare Konzentration auf genau dieses Gespräch bzw. die dadurch für die beteiligte(n) Person(en) spürbare Wertschätzung.

Einladung und Dank Zu jeder gelingenden Kommunikation zwischen Menschen gehören Einladung und Dank. Gespräche zwischen Führungspersonen und Mitarbeiter:innen unterscheiden sich darin in keiner Weise von anderen Gesprächsformen. Schon in einer freundlichen, klaren und rechtzeitigen Einladung unter klarer Benennung des Gesprächstyps wird die Wertschätzung des:der Vorgesetzten für den:die Mitarbeiter:in deutlich. Dies kann z. B. für das MJG bedeuten, dass schon zu Beginn eines Jahres ein Termin ausgemacht wird, auch wenn dieser erst Monate später stattfindet. Das deutliche Zeichen dabei ist: Dieses Gespräch – und damit die Person des:der Eingeladenen – hat besonderes Gewicht. Auch bei einem kurzfristig

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Gespräche führen – Führen durch Gespräche

angesetzten Konfliktgespräch Form und Freundlichkeit bei aller Klarheit durchzuhalten, kann wichtig für die Haltung sein, mit der alle Beteiligten in das Gespräch hineingehen. Für das Ende eines Gesprächs herrscht weitgehend der Irrtum vor, dass es in der Regel mit klaren Vereinbarungen oder Verabredungen abschließt. Dies ist wichtig – aber das Ende des Gesprächs, welchen Typs auch immer, ist der Dank der Führungsperson an den:die Gesprächspartner:in. Mit diesem Dank, gerade auch bei schweren oder kontroversen Themen, wird die Spur zum nächsten Gespräch gelegt und die Motivation, im Gespräch zu bleiben, wesentlich erhöht. Mag auch der Dank aus inhaltlichen oder persönlichen Gründen manchmal schwerfallen, wird er perspektivisch die Möglichkeit, im Gespräch zu bleiben, wesentlich erhöhen.

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Der Ton macht die Musik – gerade bei konfliktträchtigen Themen oder schwierigen Persönlichkeiten

Transparenz und Konsequenz Der weiteren Zusammenarbeit über die konkrete Gesprächssituation hinaus dienen die Protokollierung der Ergebnisse oder die genaue Vereinbarung von nächsten Schritten. Dies gilt für jeden relevanten Gesprächstyp mit Blick auf das weitere Zusammenarbeiten, wird aber bei Personalgesprächen wie z. B. dem MJG besonders relevant. Wenn die Führungsperson während des Gesprächs Notizen macht und damit wichtige Punkte festhält, ist es nicht nur wichtig, dies gleich zu Beginn der:dem Gesprächspartner:in deutlich mitzuteilen, sondern auch den Zugang zu diesen protokollarischen Notizen zu klären. Im Sinne der Transparenz kann es bei einem MJG sinnvoll sein, diese Notizen nach dem Gespräch dem:der Gesprächspartner:in zu kopieren und mitzugeben. Damit wird deutlich, dass beide Gesprächspartner:innen auf demselben Wissensstand bleiben und keine Themen nachträglich hinzugefügt werden können, von denen der:die andere nichts weiß. Dies von Anfang an zu verabreden, erhöht das Vertrauen zueinander und in eine geklärte Situation. Am größten sind die Gefahren der Nichtbeachtung bei den in solchen Gesprächen getroffenen Verabredungen. Gleichzeitig garantiert deren Ernstnehmen nicht nur, dass Gespräche einen konkreten Wert an sich gewinnen, sondern auch die Wahrnehmung, dass die Arbeitsbeziehung zwischen Führungsperson und Mitarbeiter:in konkret und verlässlich ist. Deshalb müssen Verabredungen nicht nur protokolliert werden, sondern auch in ihren konkreten Schritten deutlich werden: Wann wird jemand an eine Vereinbarung erinnert? Wann wird das Ergebnis präsentiert? Wann kommt eine:r auf die:den andere:n zu, falls etwas zu verändern ist? Diese konkreten Schritte in die Zukunft sind mit den modernen Möglichkeiten von Kalendern, die alle Beteiligten an Aufgaben erinnern können, leicht zu organisieren. Solche Terminierungen (und deren konsequente Einhaltung) erhöhen die Verlässlichkeit gemeinsamer Schritte in die Zukunft erheblich. Sie führen übrigens gerade bei nur einmal jährlich auftretenden Gesprächsformaten (wie dem MJG) dazu, dass weder Inhalte oder Verabredungen übersehen werden, noch der Eindruck entstehen kann, Vorgesetzte:r und Mitarbeiter:in würden nur einmal im Jahr miteinander im Gespräch sein. Eine klar vereinbarte und terminierte Ergebniskontrolle ist in diesem Sinn ein wichtiger Baustein verlässlicher, kontinuierlicher Kommunikation.

Verabredungen sind schnell getroffen – die Ernsthaftigkeit zeigt sich in der gegenseitigen Verlässlichkeit der Umsetzung

Sorgfalt in der Vorbereitung Schließlich gehört zu Gesprächen mit Mitarbeiter:innen eine gründliche Vorbereitung aufseiten der Führungsperson. Dies hat sowohl mit der Wertschätzung der zum Gespräch eingeladenen Person zu tun als auch mit dem Ziel, der Person und ihrer Situation sowie den Zielen bzw. der Situation der Führungsperson gerecht zu werden. Diese gründliche

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Zu einem Mitarbeiter:innengespräch gehört immer die sorgfältige Wahrnehmung und Einschätzung von Person und Situation!

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Vorbereitung bezieht demnach neben der konkreten Person die Situation ihres Aufgabengebiets und ihres Arbeitsumfeldes genauso mit ein wie die Gesamtsituation von Kirche und Gesellschaft oder das explizite Interesse der Führungsperson aus ihrer Verantwortung heraus. Dies wird nicht immer im gleichen Maß möglich oder notwendig sein, gehört aber gerade in Zeiten grundsätzlicher Unsicherheiten oder Transformationsprozesse unbedingt zu den zu beachtenden Umständen. Diese Vorbereitung umfasst nicht nur eine Gesamtwahrnehmung der Situation, sondern auch die Vergewisserung, welche Erfahrungen, Begegnungen, Wahrnehmungen in den Wochen oder Monaten vor dem Gespräch passiert sind. Auch der Einblick in Protokolle oder Aufzeichnungen vorhergehender Gespräche (z. B. beim MJG) sind notwendig, um im geplanten Gespräch die bisherige gemeinsame Geschichte bzw. Arbeitsbeziehung vor Augen zu haben. Gleichzeitig dient im dialogischen Sinne jedes Gespräch auch der Reflexion des Handelns der Führungsperson. Insofern gehört zur Vorbereitung nicht nur der Blick auf die Wahrnehmung der eingeladenen Person, sondern auch auf die Wahrnehmungen, Fragen oder Unsicherheiten der Führungsperson selbst. Nur dann kann die Kommunikation zwischen Führungsperson und Mitarbeiter:in zu einem lebendigen Weg gegenseitiger Stärkung und vertiefter Zusammenarbeit werden. Insofern ist es (gerade mit Blick auf das MJG, aber durchaus auch in Konfliktsituationen) entscheidend, dass neben der Führungsperson auch der:die Mitarbeiter:in sich anhand eines konkreten Fragenkatalogs auf die gemeinsame Kommunikation vorbereitet, und dies klar miteinander vereinbart ist.

8 Ehrlichkeit, Offenheit und Vertrauen Führung kann ohne Kommunikation und Gespräch nicht gelingen. Dies gilt grundsätzlich immer. Es wird aber vor allem dann deutlich, wenn Menschen oder Institutionen sich in Umbruchphasen befinden, die nicht nur durch Freude am Aufbruch, sondern auch durch Sorge um die (eigene oder gemeinsame) Zukunft gekennzeichnet sind. Genau in solchen Situationen geht es um eine Führungskommunikation mit höchsten Ansprüchen: Dialogfähigkeit, ehrliche Wertschätzung, klare Ziele, sorgfältige Gestaltung, Konzentration und Konsequenz.

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Gespräche führen – Führen durch Gespräche

Ehrlichkeit, Offenheit und Vertrauen – eine auf solchen oder anderen, individuell oder gemeinsam erarbeiteten Begriffen aufbauende Haltung ist der Anfang allen Gesprächs der Führungsebene mit den zugeordneten Einrichtungen bzw. der Führungsperson mit den ihr zugeordneten Mitarbeiter:innen. Ohne eine Haltung für sich geklärt zu haben, kann eine Führungsperson nicht in das Gespräch mit den Menschen eintreten, für die sie die Verantwortung trägt. Verantwortung für Menschen, unabhängig ob es sich um professionelle oder private Beziehungen handelt, gründet immer in der Haltung des Verantwortlichen und in der konsequenten Umsetzung dieser Haltung in die konkrete Kommunikation hinein. Deshalb ist die grundlegend und immer zu beantwortende Frage für jede Führungsperson mit Personalverantwortung und der sich daraus ergebenden Fülle an Kommunikationswegen mit den Mitarbeiter:innen die Frage nach der eigenen Haltung. Sie ist nicht unabhängig von den Rahmenbedingungen kirchlicher und gesellschaftlicher Entwicklungs- und Gestaltungsprozesse zu entwickeln, sondern passt mit diesen im besten Fall zusammen. Insofern ist das »Führen durch Gespräche« ebenfalls eine sich entwickelnde und stets verändernde Perspektive jedes Führungshandelns und benötigt die klare Offenheit der Führungspersonen, ihr eigenes Verständnis und ihr eigenes Tun kontinuierlich zu reflektieren, weiterzuentwickeln und ihren Mitarbeiter:innen gegenüber transparent zu erklären.

Autor Oberkirchenrat Stefan Reimers, Pfarrer, ist Ständiger Vertreter des Landesbischofs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) und leitet seit 2018 die Personalabteilung der ELKB.

Literatur Anselm, Rainer/Karle, Isolde: Kirche – wohin?, in: Evangelische Theologie 80/2021, S. 383–391. Bils, Sandra: Vom Kern her denken. Wie sich die Kirche in und durch Corona-Zeiten entwickelt, in: Zeitzeichen 22/2021, S. 18–20. Drobinski, Matthias: Eine Chance auch für die Zeit nach Corona. Die Kirchen sind da gut, wo sie Hoffnung und Lebensmut versprühen, in: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 1/2021, S. 28–30. Evangelische Kirche in Deutschland: Kirchengesetz über Mitarbeitervertretungen in der EKD. In der Bekanntmachung der Neufassung vom 1. Januar 2019. https://www.kirchenrecht-ekd.de/pdf/28404.pdf, abgerufen am 27.11.2021. Pöhm, Matthias: Nicht auf den Mund gefallen. So werden Sie schlagfertig und erfolgreicher, 5. Aufl., München 2004. Schulz von Thun, Friedemann/Ruppel, Johannes/Stratmann, Roswitha: Miteinander reden. Kommunikationspsychologie für Führungskräfte, 8. Aufl., Hamburg 2008.

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Die eigene Haltung entsteht aus der Zusammenschau der am Gespräch beteiligten Personen und Personengruppen, der eigenen Ziele der Führungsperson sowie der Situation von Kirche, Gemeinde oder Arbeitsfeld

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Grenzen Umgang mit Grenzen und Abstand im kirchlichen Umfeld Anne Grohn und Heidrun Miehe-Heger Î Wie schütze ich meine Grenzen? Î Wie erkenne ich die Grenzen anderer Menschen? Î Wie hängen Neinsagen und Grenzen der Belastbarkeit zusammen? Î Wie können Grenzen theologisch reflektiert werden? Î Wie schütze ich Mitarbeitende vor Grenzverletzungen Dritter? Î Welche Hilfen gibt es bei sexualisierter Gewalt? Î Wie lässt sich eine grenzsensible Kultur in der Gemeinde schaffen?

1 Einstieg: Kirchliches Leben und Umgang mit Grenzen

Quasi familiärer (Körper-) Kontakt im kirchlichen Kontext ist für manche Menschen schön, für andere abstoßend

Du oder Sie? Mit dieser Frage fängt es bei einem kirchlichen Arbeitsplatz oft an: Es ist schwer, wenn man als Einzige:r beim Sie bleibt, in einer Kultur, in der sich alle mit Du anreden. Es geht weiter mit der Umarmung bei der Begrüßung. Wie kann ich das vermeiden? Wie nahe sitzen wir im Stuhlkreis? Darf sich die Leitung extra setzen? Darf sie mehr Raum beanspruchen? Corona hat für Abstand und neue Grenzen gesorgt, die für viele Menschen durchaus angenehm sind. Kirchliche Milieus haben in Bezug auf die Bindungswünsche der Akteur:innen oft familiären Charakter (vgl. Böhmer 1995, S. 290–307). Verglichen mit professionellen Milieus sind sie semiprofessionell und haben bezüglich der Tätigkeiten oft Freizeitcharakter. Viele Menschen sind genau deshalb in der Kirche, weil sie diese Art von Kontakt, Nähe und Aktivität suchen. Menschen können verschiedenen Lern- und Wahrnehmungstypen zugerechnet werden. Ein sogenannter haptischer Lerntyp braucht für seine Wahrnehmung von Nähe und Vertrauen oft mehr Körperkontakt als sogenannte visuelle Typen, denen dafür ein ehrliches Lächeln genügt. Nicht jeder ungefragt vollzogene Körperkontakt ist als sexualisierte Grenzverletzung intendiert (→ Kap. 24 Sexualisierte Gewalt). Aber schon bei solchen Berührungen fängt das Thema »Grenzen« an. Eines der ersten Kinderbücher zur Prävention von sexualisierter Gewalt hieß »Kein Küsschen auf Kommando« (Mebes 2020). Denn es geht bei Grenzen auch schon um das Küsschen für die Oma oder den Onkel, das einem Kind nicht angenehm ist. Ein:e Pfarrer:in trifft ihre:n Superintendent:in zufällig im Yogastudio oder beim Sport. Beide möchten jetzt einfach mal so tun, als ob sie gleichgestellt seien. Vielleicht duschen sie zusammen. Oder sie erzählen

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Grenzen

sich hinterher in einem Lokal noch private Geschichten. Am nächsten Morgen gibt es wieder die berufliche Hierarchie. Geht das? Grenzen spielen nicht nur im Kontext von körperlichen Berührungen eine Rolle. Ein:e Chef:in, der:die beim Jahresgespräch der:dem Untergebenen von seinen eigenen Problemen erzählt und damit die kostbare Zeit für seine Bedürfnisse nutzt, überschreitet klar eine Grenze. Nämlich die hierarchische Grenze, die in dem System von Vorgesetzten und Untergebenen dazu dient, dass erstere für letztere sorgen und nicht umgekehrt. Ebenso ist es bei der Missachtung der Grenzen zwischen den Generationen, wenn sich im Familiensystem die Rollen von Eltern und kleinen Kindern umkehren. Man spricht dann in der Familientherapie von der Parentifizierung der Kinder. Das Gleiche geschieht, wenn Leitende sich das Vertrauen von Ehrenamtlichen erschleichen und deren Hingabe für ihre Bedürfnisse ausnutzen. Durch die besondere Organisation der Evangelischen Kirche – die gemeinsame Leitung von Haupt- und Ehrenamtlichen – kann es auch passieren, dass Hauptamtliche die Intervention von Ehrenamtlichen in ihren professionellen Bereich als Grenzüberschreitung erleben. Die Aufgabengebiete der Akteur:innen in Gemeinden sind nicht starr festgelegt und werden an jedem Ort individuell ausgehandelt. Man stelle sich eine:n Jurist:in mit Zweitem Examen vor, dem:der ständig eine fachunkundige Person in ihre Tätigkeit hineinregieren will. So kann es den Pfarrer:innen durchaus mit ehrenamtlich Leitenden ergehen. Die besondere Leitungsform der Evangelischen Kirchen erfordert also klare Grenzsetzungen. Bei Konflikten sind dann oft die Superintendent:innen gefragt. Es geschieht viel um das Thema »Grenzen« herum. Und es lohnt sich, dieses Thema positiv zu konnotieren. »Kontakt findet an Grenzen statt« ist ein Satz aus der Gestalttherapie. Zu einer echten Wertschätzung gehört gerade auch das deutliche Aufzeigen von eigenen Grenzen und die Auseinandersetzung über gemeinsame Räume. Fragen zur Reflexion a. Welche persönlichen Bedürfnisse nach Nähe lebe ich in meinem Beruf aus? b. Was für ein Typ bin ich in Bezug auf Berührungen: Suche ich sie? Meide ich sie? c. Kenne ich meine Mitmenschen bezüglich deren Empfinden von Grenzen? d. Gibt es in der Gemeinde Teamregeln zum Du/Sie, zu Nähe und Distanz?

2 Ingroup, Outgroup, Grenzen und Angst Menschen sind soziale Wesen. Wir brauchen andere Menschen, um uns wohlzufühlen. Wir haben in unserem evolutionären Erbe eine Neigung zur Kleingruppenmoral (vgl. de Waal 2019). Menschen können Gruppen von 30 bis 50 Personen gut überblicken. Wir sind hochsozial und unterstützend zu den Mitgliedern unserer Bezugsgruppe, unserer Familie oder unserer Gemeinde. Weniger sozial sind wir oft schon gegenüber der Nachbargemeinde gestimmt. Eine Gemeinde soll zwar einladend für alle sein, doch leicht und ohne bewusstes Handeln werden Gemeinden zu Ingroups von wenigen Aktiven, die sich wie zu Hause fühlen und damit ungewollt andere ausgrenzen. Zu einer Ingroup zu gehören, fühlt sich schön an: Meine Gemeinde! Es ist unserem Charakter als soziale Wesen gemäß, dass wir das genießen. Wir sollten gleichwohl darauf achten, auch einladend und inklusiv zu bleiben. Die Neigung, von Herzen und mit Elan für unsere Nächsten zu sorgen, führt in Gemeinden leider auch zu Strukturen, die von außen wie Vorteilsnahme oder Korruption

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aussehen können. Die günstige Wohnung wird an eine Ehrenamtliche vermietet, die zugleich auch die Schwester der Vorsitzenden des Gemeindekirchenrats ist. Der Minijob geht an die Frau des Kantors. Der Gemeindesaal wird ohne Mietzahlungen für die runden Geburtstage aller genutzt, die sich in der Gemeinde engagieren. Wegen dieser leicht verschiebbaren Grenzen der Anständigkeit sind formale Verfahren gerade auch in Gemeindeteams, die sich gut verstehen, wichtig. Da Menschen entwicklungsgeschichtlich betrachtet nur in Kleingruppen überleben konnten, fühlt sich auch im 21. Jahrhundert der Verlust der Zugehörigkeit zur Ingroup bedrohlich an. Das sehen wir an den psychischen Folgen von Mobbing, z. B. am Arbeitsplatz. Mobbing führt zu Angst und Schlaflosigkeit, Unsicherheitsgefühl. Auch in Gemeinden wird bewusst oder unbewusst mit Liebesentzug gedroht. »Wenn du so bist, gehörst du nicht zum engsten Kreis!« Für Hauptamtliche ist die Gemeinde ein sozialer Nahraum auf Zeit. Für die Gemeindemitglieder ist die Gemeinde oft ein Lebensort für die gesamte Biografie, oft schon der vorherigen Generationen ihrer Familien. Genau aus diesem Grund wurden in den Landeskirchen die Berufungen auf Pfarrstellen zeitlich begrenzt.

3 Superintendent:in – Leiten ohne Grenzen? Für die Entwicklung einer Kultur freundlicher Grenzen birgt die Ephoralebene besondere Chancen und Aufgaben. Superintendent:innen wirken auf der mittleren Ebene der kirchlichen Organisationsstruktur und haben damit eine Scharnierfunktion. Als Bindeglieder zwischen der gemeindlichen Basis und der Kirchenleitung bieten sie einen wesentlichen Ermöglichungsraum für eine Kulturveränderung. Wie kann ein:e Superintendent:in Vorreiter:in für grenzsensibles Arbeiten werden? Wie kann ein:e Superintendent:in grenzsensibel leiten? Es beginnt bei der persönlichen Arbeitshaltung. Ist der persönliche Umgang mit den eigenen Ressourcen und Grenzen achtsam oder ist der eigene Arbeitsstil von Rast- und Ruhelosigkeit getrieben? Es braucht mehr Führungskräfte in der kirchlichen Arbeitswelt, die mit gutem Gewissen von Zeit zu Zeit fröhlich den »Pause-Button« drücken und nicht stattdessen weithin sichtbar den Arbeitsstil »Ich bin immer im Dienst« ausleben. Es geht weiter mit einer Kultur, die Gelassenheit und Mut zum Risiko kennt. Nicht nur für die mittlere, sondern auch andere kirchliche Ebenen wäre die Entwicklung einer Gelassenheit wünschenswert, die es erlaubt, Fehler zu machen. Kirche wird so ein Erfahrungsraum, in dem gewagt wird, Dinge auszuprobieren, und in dem Fehler als Erkenntnisgewinn gelten und nicht als Problem, das es um jeden Preis zu vermeiden gilt.

  Ein Beispiel  

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Frau L. wurde gerade zur Superintendentin gewählt. Sie ist mit 41 Jahren vergleichsweise jung für dieses Amt. In ihrer Antrittsrede sagt sie: »Ich bin unerfahren in diesem Amt und freue mich über Ihre Unterstützung. Ich werde sicher Fehler machen. Ich wünsche mir eine fehlerfreundliche Kirche, in der wir miteinander Erfahrungen machen, mit denen wir uns weiterentwickeln.«

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Grenzen

Wer sich keine Fehler erlaubt und pausenlos arbeitet, ist als Berater:in für Menschen, die Schutz und Begleitung in einem überfordernden und unbegrenzten Arbeitsalltag suchen, wenig überzeugend. Nicht nur das fehlende Vorbild und die damit bewusst oder unbewusst gesetzte Norm sind ein Problem. Ein:e Superintendent:in, der:die selbst am Rand der Erschöpfung arbeitet und mit seinen:ihren persönlichen Ressourcen nicht nachhaltig umgeht, wird schwerlich den inneren Freiraum und die nötige Kraft aufbringen, die ihm:ihr anvertrauten Menschen proaktiv zu leiten. Bestenfalls reagiert sie auf die Probleme, wird jedoch nicht präventiv und geplant vorgehen, weil ihre eigene Arbeitsweise sie daran hindert. Sie ist viel zu beschäftigt und erschöpft. Wer aber nur auf Ereignisse reagiert und erst eingreift, wenn es Schwierigkeiten gibt, wird Menschen nicht so in ihrer beruflichen Entwicklung fördern, dass sie befähigt werden, ihren Neigungen und Gaben entsprechend zu arbeiten. Ein hilfreiches Geländer für proaktive Leitung bieten jährliche Orientierungs- bzw. Jahresgespräche oder Personalentwicklungsgespräche an. Werden sie als ein regelmäßiges und damit selbstverständliches Mittel der Personalentwicklung genutzt, dienen diese Gespräche nicht nur der Rechenschaft über Geleistetes und der Formulierung von Zielen, sondern sind ein nützlicher Sensor zur Wahrnehmung der Arbeits- und Lebenssituation der Pfarrer:innen und somit eine Möglichkeit, Überforderung frühzeitig entgegenzutreten. Diese Gespräche sollte idealerweise nicht nur eine Person verantworten. In einem Kirchenkreis könnten z. B. der:die Superintendent:in und die Stellvertretung gemeinsam beraten, wer das geeignetere Gegenüber für eine bestimmte Person oder ein bestimmtes Thema ist. Material für Jahresgespräche, Orientierungsgespräche, Personalentwicklungsgespräche online unter: https://führen-leiten-kirche.de/grenzen, abgerufen am 10.08.2022.

Die zunehmende Verlagerung von Aufgaben und Zuständigkeiten aus der Ebene der Landeskirche in die Kirchenkreise hat viele Aufgaben und damit auch Macht auf die mittlere Ebene verlagert. Diese Entwicklung und ein steigendes Bewusstsein für Rollen und Positionen lässt Superintendent:innen im Kreis ihrer Pfarrkonvente nicht mehr als primus inter pares erscheinen. Von ihnen wird in der Regel erwartet, dass sie klar Führung übernehmen. Das allerdings ist nicht leicht. Das presbyterial-synodale System der Evangelischen Kirche setzt der konkreten Handhabung dieser Führung klare Grenzen. So sind Superintendent:innen zwar die Dienstvorgesetzten der Pfarrer:innen, haben aber im kirchlichen Alltag weniger Möglichkeiten dienstrechtlich zu agieren als dies in einem mittleren Wirtschaftsunternehmen selbstverständliche Praxis ist. Das gilt für Themen der Dienstaufsicht ebenso wie für die der Fürsorge. Auch in anderen Bereichen ist das herausfordernd. Die eine Gemeinde wünscht sich mehr Hierarchie, den »starken Mann« oder die »starke Frau« an der Spitze, der:die sagt, wo es langgeht, die andere empört sich über die Einmischung von oben. Umso mehr sind kirchliche Leitungspersonen darauf angewiesen Soft Skills zu beherrschen, zu lernen mit ihrer Persönlichkeit zu führen und auf diese Weise Menschen, für die sie Verantwortung tragen, einen klaren und sicheren Rahmen zu bieten, der Grenzüberschreitungen erschwert und innovatives, selbstständiges und kreatives Arbeiten erleichtert. Persönlichkeit sticht Hierarchie.

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  Ein Beispiel  

16. Dezember 2020: Die Bundesrepublik geht in Verschärfung des zweiten Covid-19-Lockdowns. Eine Superintendentin eines Berliner Kirchenkreises mit besonders vielen Neuinfektionen schreibt an alle Gemeinden einen Brief mit der dringenden Bitte, in den nächsten Wochen auf sämtliche Präsenzgottesdienste zu verzichten. Mehr als eine dringende Bitte kann die Superintendentin nicht äußern. Ihre Kirche baut sich von unten auf, ist synodal verfasst. Die letzte Entscheidung liegt bei der Gemeinde. Trotzdem wird der Brief zu einer wichtigen Orientierungshilfe und einer hilfreichen Rückenstärkung für Pfarrer:innen, die durch ihre Gemeinde unter großem Druck stehen, weiterhin analoge Gottesdienste zu halten, die Gottesdienstbesucher:innen und sich selbst dieser Gefahr aber nicht aussetzen wollen.

Zum Thema »Führung im kirchlichen Raum« vgl. Müller-Weißner, Ulrich: Chef sein im Hause des Herrn. Führen und Leiten in der Kirche, Gütersloh 2003, S. 92 ff.

Es gibt viele Chancen, neue Modelle von Führung zu entwickeln. Die in den letzten Jahren vielerorts schon geschehene Aufwertung der Position des Amtes des:der stellvertretenden Superintendent:in sollte ausgebaut werden hin zu einem System, das geteilte Leitung ganz selbstverständlich etabliert. Wer braucht heute noch »einsame Entscheider«? Die gleichberechtigt geteilte Leitung könnte ein guter Weg sein, der typischen Überlastung von Menschen in kirchlichen Führungspositionen entgegenzutreten. Eine solche Doppelspitze könnte sich gegenseitig beraten, entlasten und Grenzen setzen, gabenorientierter leiten und Wissenstransfer garantieren, der oft nicht gelingt, wenn eine Person nach jahrelanger Leitung ihr Amt abgibt. Bibeltexte zum Thema »Leiten ohne Grenzen« Galater 5,1

Auch Führung braucht Pause: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!« Matthäus 7,3

»Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?« Matthäus 18,20

Macht geschwisterlich geteilt : »Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.«

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e. Ist mein Leitungsstil eindeutig und klar, aber trotzdem respektvoll und transparent? f. Sind meine Entscheidungen für andere nachvollziehbar? g. Sorge ich für eine Arbeitsatmosphäre, die Raum lässt für Menschen, die mit kirchlicher Organisationskultur nicht vertraut sind, um Abläufe und Strukturen zu erläutern?

4 Der Pfarrberuf – Berufung ohne Grenzen? Pfarrer:innen sind Grenzgänger:innen. Das Ausbalancieren von Grenzen ist eine Herausforderung und macht zugleich einen großen Teil der Attraktivität dieses Berufes aus. Gerade durch seine »biegsamen« Grenzen birgt er große Chancen für ein Leben mit hohem Sinngehalt. Das Unbegrenzte ist anstrengend, aber auch verführerisch, weil es Macht verleiht. Unter diesen Bedingungen eines gefüllten, überfüllten Lebens gesunde Grenzen zu ziehen, will gelernt sein und braucht Unterstützung. Wie kann diese Unterstützung aussehen? Welche Schutzräume kann die Kirche mit dem Ziel einer grenzsensiblen Kultur neu erfinden oder wiederentdecken? Die Mitarbeitenden einer Kirchengemeinde bilden in Bezug auf ihre Funktion, ihre Rolle, ihre Position und ihre Ziele einen Flickenteppich. Neben wenigen Hauptamtlichen agiert eine größere Zahl von Ehrenamtlichen, verschieden ausgestattet mit Verantwortung, Macht und Kompetenz, mit differierenden Interessen und Erwartungen an kirchliches Leben. Es ist ein System, das zu verwischten Grenzen neigt, weil Hierarchien oft unklar bleiben, weil formale und informelle Ebenen ineinanderfließen. Pfarrer:innen sind auf verschiedenen Ebenen in der Gemeinde mit Führung betraut: Die geistliche Leitung durch Seelsorge, die Sakramentsverwaltung und Verkündigung, die Führung der Mitarbeitenden; dazu die persönliche Lebensführung, da sich privates und berufliches Leben im Pfarrberuf häufig ineinander verschränken. Pfarrer:innen stehen als Leitende in der Regel einer komplizierten Gemengelage gegenüber. Es bedarf eines professionellen Umgangs mit der eigenen Position und Rolle, um in diesem Mitarbeitenden-Flickenteppich und im System der Gemeinde einen passenden Platz einzunehmen und angemessen zu agieren. Zur psychologischen Reflexion der Pfarrer:innenrolle: Grohn, Anne: Position, Rolle, Identität, Professionalität. Klarheit in Rollenkonflikten durch den richtigen Abstand, in: Self-management in role? Seelsorge und Dienstvorgesetztenverhältnis. Texte aus der VELKD 185/2020, S. 3‒9, online unter: https://führen-leiten-kirche. de/wp-content/uploads/2022/08/Seelsorge-und-Dienstvorgesetztenverhaeltnis.pdf, abgerufen am 10.08.2022.



  Ein Beispiel: Christliches Arbeitsrecht  

Pfarrerin S. ist zuständig für die Personalführung in ihrer Kirchengemeinde. Die neu eingestellte Gemeindesekretärin ist mit der Komplexität der Arbeit in einem Gemeindebüro überfordert. Briefe bleiben ungeöffnet liegen. Die Kasse weist Ungenauigkeiten auf. Rechnungen kommen in der kirchlichen Verwaltung nicht an. Mitarbeitendengespräche führen nicht zu einer Verbesserung der Arbeitsleistung. Pfarrerin S. votiert im Personalausschuss der Gemeinde für die Entlassung der Sekretärin. Die Mitglieder des Ausschusses halten dagegen mit dem Argument, so könne man in einer Kirchengemeinde nicht miteinander umgehen.

Dies ist ein typischer Fall für verwischte Grenzen zwischen dem organisatorischen und dem institutionellen Charakter der Kirche – oder anders gesagt: zwischen der Verpflich-

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tung zu christlicher Nächstenliebe und der Verpflichtung, die Arbeitsfähigkeit einer Kirchengemeinde sicherzustellen. Professionelle Distanz und seelsorgliches Fingerspitzengefühl sind gefragt. Beides gleichwertig zu entwickeln, ist eine hohe Kunst, die der Sozialraum, in den die Pfarrer:innen häufig gestellt sind, erschwert. Kirche als Organisation und Institution: Böhmer, Annegret/Klappenbach, Doris: Mit Humor und Eleganz. Supervision und Coaching in Organisationen und Institutionen, 21. Aufl., Paderborn 2007, S. 143 ff.

Private Grenzen zu ziehen, ist schwer. Die Dienstwohnung im Gemeindehaus, das Pfarrhaus neben der Kirche, das Kind in der gemeindeeigenen Kita verunmöglichen eine Trennung des privaten und beruflichen Sozialraums. Der:die Pfarrer:in wohnt auch heute oft noch »mitten im Dorf«. Die Gemeinde hat im Blick, wie man in der Pfarrfamilie miteinander umgeht, nicht selten kommt es zu einer Delegierung von Werten für ein christliches Miteinander in der Gemeinde auf das Pfarrhaus. Wenigstens da soll die Welt noch in Ordnung sein.

  Ein Beispiel: Glaubenskrise in der Pfarrfamilie  

Die 15-jährige Tochter von Pfarrer T. hat sich vom Religionsunterricht abgemeldet. Der Religionslehrer spricht ihn auf dem Elternabend an, wie enttäuscht er sei, dass er als Pfarrer den Religionsunterricht nicht unterstütze. Die Tochter haftet für den Missionsauftrag des Vaters: »Machet zu Jüngern alle Völker …« Verwischte Grenzen zwischen der Mission von T. als Pfarrer und seiner Rolle als Vater.

Bibeltexte zum Thema »Pfarrberuf und Grenzen« Matthäus 28,19

Die Pfarrfamilie predigt mit: »Darum gehet hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Apostelgeschichte 2,43–44

Großfamilie: »Es kam aber Furcht über alle, und es geschahen viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam.« Apostelgeschichte 6,2

Ganze Sache – geteilte Verantwortung : »Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen.«

Wenn eine Kirchengemeinde stark zur Familiarisierung neigt, droht zudem die Verwechslung zwischen der Aufgabe, eine Halt gebende christliche Gemeinschaft zu sein,

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Grenzen

mit dem Halt, den Menschen in privaten Freundschaften suchen und finden. Wenn enge freundschaftliche Beziehungen die Kerngemeinde prägen, stehen Pfarrer:innen vor der Frage, ob sie ein Teil dieses Freundeskreises werden müssen, um Teil der Gemeinde sein zu können. Trifft eine solche Gemeinschaft von Freund:innen auf das Wohnen »mitten im Dorf«, dann stellen sich zwei Fragen: Î Wie positioniere ich mich zur Erwartungshaltung der Gemeinde? Î Wie lebe ich mein eigenes menschliches Bedürfnis nach einem guten Kontakt mit den Menschen um mich herum?

Denn die Menschen in der Gemeinde sind zugleich Nachbar:innen. Man trifft sich beim Bäcker, im Fitnessstudio oder im Tanzkurs. Zur emotional qualitativen Grenzenlosigkeit kommt die beruflich quantitative. Die Reduzierung von Pfarrstellen und Stellen anderer kirchlicher Berufsgruppen hat zur Erweiterung des Aufgabenspektrums und einer Verdichtung der Arbeit im Pfarramt geführt. Das missionarische Feld ist weit, die möglichen Aufgaben schier unbegrenzt. Die Arbeitszeiten verteilen sich auf alle Tages- und Wochenzeiten. Der Zwölf-Stunden-Tag ist für viele Normalität. Abnehmende Mitglieder:innenzahlen tun ein Übriges, um den Druck zu erhöhen. Ein:e Pfarrer:in führt unter diesen Bedingungen nicht nur ein Leben, in dem die Grenzen zwischen Privatem und Beruf, zwischen Freundschaft und Arbeit verschwimmen, sondern auch ein Leben mit grenzenloser Aufgabenfülle. Für Pfarrerinnen hat das häufig immer noch mehr Konsequenzen als für Pfarrer. Wenn Pfarrerinnen durch Kinder besondere familiäre Verpflichtungen haben, ist dieses »grenzenlose« Leben oft eine so große Belastung, dass ein nächster Karriereschritt nicht geplant wird. Dabei geht es weniger darum, dass die Pfarrerinnen sich nicht trauen, wie oft auf kirchenleitender Ebene vermutet wird. Es ist schlicht unattraktiv, wenn der Preis für einen Karriereschritt bedeutet, noch grenzenloser als bisher zu arbeiten. So äußert sich Ulrike Trautwein (2015), Generalsuperintendentin des Sprengels Berlin, zu der Frage, warum die mittlere Leitungsebene in ihrer Landeskirche so wenige Frauen aufweise, und kritisiert, in der Kirche herrsche eine Arbeitskultur, die durchweg den ganzen Menschen verlange. Sie gibt zu bedenken, es täte der Kirche gut, wenn die in ihr engagierten Menschen in ihrem Leben auch noch andere Sozialräume unserer Gesellschaft kennen würden, indem sie Freundschaften und persönliche Interessen (außerhalb der Gemeindefamilie) pflegten. Wenn jemand zwölf Stunden am Tag arbeitet und dann erschöpft und liebesbedürftig auf Kolleg:innen oder Ehrenamtliche trifft, kann es leichter zu Grenzverletzungen kommen. »Lass uns noch einen Wein trinken gehen«, »Erzähl doch mal, wie es dir geht«. Solche Einladungen sind oft der freundlich aussehende Anfang von Grenzüberschreitungen, die dem kirchlich-geistlichen Kontext nicht guttun. Die Gefahren liegen auf der Hand, nicht nur für den:die Pfarrer:in selbst, sondern auch für die Menschen, für die sie:er Leitungsverantwortung trägt oder die ihr:ihm in der Seelsorge anvertraut sind. Denn wer selbst keine Grenzen setzen will oder kann, hat auch wenig Sensibilität für die Grenzen anderer, ist versucht, andere zu missbrauchen, um seine eigene Grenzenlosigkeit zu bedienen. Arbeits- und Lebenszusammenhänge, die Grenzen sprengen, sind eine Gefährdung für das menschliche Miteinander. In diesem Zusammenhang hat die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg- schlesische Oberlausitz (EKBO) mit ihrem aktuellen Leitfaden zur Erstellung von Dienstvereinbarungen einen großen Schritt getan. Sie gibt als flexible, aber auf das Jahr bezogen, durchschnittliche Wochenarbeitszeit für das Pfarramt vierzig Stunden als Orientierung vor. Bischof Stäblein drückt das Ziel in seinem Grußwort prägnant aus: »Nur wer Grenzen zu setzen vermag, kann von der Freiheit des Evangeliums reden und sie weiter sagen.« (EKBO 2020, S. 4).

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5 Das Ehrenamt – Ehre ohne Grenzen? Das protestantische Priestertum aller Gläubigen gehört zu den Grundpfeilern der reformatorischen Theologie. Die Synoden, denen mehrheitlich Ehrenamtliche angehören, leiten die Kirche. Das Engagement von Ehrenamtlichen ist theologisch und kirchenrechtlich Basis kirchlicher Arbeit. In einer personell und finanziell kleiner werdenden Kirche kommt die praktische Notwendigkeit dazu: Ehrenamtliche übernehmen immer mehr Aufgaben, für die es in der jüngeren volkskirchlichen Vergangenheit kirchliches, ausgebildetes und bezahltes Personal gab. Bibeltexte zum Thema »Ehrenamt und Grenzen« 1. Korinther 12,4

»Es sind verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist.« 1. Petrus 2,5.9

»Ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause … Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht.«

Die Motivation für ehrenamtliche Mitarbeit hat sich auch in der Kirche gewandelt. Ehrenamtliche sind heute in der Regel nicht mehr die von christlichem Ethos durchdrungene altruistische Helfer:innen der Pfarrer:innen. Sie möchten sich mit ihren eigenen Kompetenzen und Ideen einbringen und nicht als Lückenfüller:innen eingesetzt werden. Sie möchten an Entscheidungen beteiligt sein. Ehrenamt darf heute Spaß machen und der persönlichen Entwicklung dienen. Gelingt es nicht, der aktuellen Krise der Kirche mit einem tiefgreifenden strukturellen Wandel zu begegnen, ist Missbrauch des ehrenamtlichen Engagements vorprogrammiert. Ehrenamtliche werden als Lückenbüßer:innen für Aufgaben genutzt, die durch Professionelle nicht mehr ausgeübt werden. Ihr Einsatz geschieht nicht aufgrund ihrer persönlichen Kompetenzen und Ideen, sondern im Blick darauf, welche Posten gerade unbesetzt sind. Eine doppelte Grenzüberschreitung kann die Folge sein. Menschen übernehmen die falschen Arbeiten, für die ihnen die Kompetenz oder die Ausbildung fehlt, und sie nehmen zu viele Aufgaben an, weil sich kein:e andere:r findet. Respekt vor den Möglichkeiten und Grenzen der ehrenamtlichen Arbeit sieht anders aus.

  Ein Beispiel  

In einem Berliner Kirchenkreis wurden im Zusammenhang mit den radikalen Kirchensteuereinbrüchen in den 1990er-Jahren in fast allen Gemeinden die Gemeindepädagogik-Stellen abgebaut. Stattdessen wurden viele hoch motivierte Ehrenamtliche gewonnen, die nun die Kindergruppen leiten sollten. Für die meisten war dies eine inhaltliche Überforderung, weil sie nicht dafür ausgebildet waren. Die vorhandenen Fortbildungsangebote wurden geschätzt, als bereichernd und hilfreich empfunden, aber trotzdem kaum genutzt, weil neben dem Ehrenamt für die Kindergruppe dafür die Zeit fehlt. Die Folge: Gemeindepädagogische Gruppen, die Theologie und christliche Lebenshilfe für Kinder anbieten, werden rar.

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h. Welches Bild von Kirche und Gemeinde hat mich geprägt? i. Wie sehe ich die Kooperation zwischen Haupt- und Ehrenamt? j. Was ist mein Traum von einer idealen Kirche? k. Wieviel Kraft und Zeit kann ich einbringen? l. Wo sage ich freundlich »nein«? m. Wo ist bei mir die Grenze zwischen Gemeinde- und Privatleben?

Viele Landeskirchen stellen Praxishilfen und Material für das Ehrenamt zur Verfügung, in denen auch die geistliche Stärkung Thema ist, z. B. EKBO: Praxishilfe Ehrenamt. Für eine qualifizierte (Zusammen-)Arbeit mit Ehrenamtlichen in der EKBO, Berlin 2012, S. 89–90., online unter: https://akd-ekbo.de/wp-content/uploads/Praxishilfe_Ehrenamt_ EKBO_Onlineversion.pdf, abgerufen am 29.11.2021. Es gibt aber auch Ehrenamtliche, die aus einem klaren Machtmotiv heraus in der Kirche aktiv sind. Einige von ihnen agieren so, als müssten sie die Kirche vor den Hauptamtlichen retten. Sie entwickeln gegenüber den Pfarrer:innen einen kontrollierenden Arbeitsstil, der von diesen als grenzverletzend empfunden werden kann. Beruflich und ehrenamtlich Arbeitende können in der Kirche ein Problem mit Abgrenzung haben. Neben den bekannten praktischen Hilfsmitteln wie Supervision, Fortbildung und Kollegialer Beratung, neben der Notwendigkeit der Reform kirchlicher Strukturen, möchten wir im nächsten Gedankenschritt auf die Theologie als Ressource hinweisen.

6 Theologie des Kreuzes als Beispiel für eine grenzsensible Theologie Zu Beginn des 1. Korintherbrief kritisiert Paulus, die Gemeinde orientiere sich sehr an menschlichen Maßstäben von Ehre und Macht. Dagegen stellt er das »Wort vom Kreuz«. In 1. Korinther 1,26–2,5 erinnert er die Gemeindeglieder, dass sie, obwohl sie aus niedrigen Verhältnissen stammen, von Gott berufen sind. Er verweist auch auf sich selbst. Er sei von Gott zum Apostel berufen, obwohl er nicht über die Gabe der Eloquenz verfüge. Elian Cuvillier (2002) reflektiert in einem Aufsatz über die Kreuzestheologie im Markusevangelium, wie Jesu Aufruf gemeint sei, der direkt auf seine Leidensankündigung folgt: »Wer mir nachfolgt, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach« (Mk 8,34b). Das sei nicht zwangsläufig eine Aufforderung zum Mar­ tyrium. Es gehe darum, Jesus ganz zu vertrauen und sein eigenes Kreuz zu tragen. Mit der je eigenen Schwäche, dem je eigenen Mangel, sollen Christ:innen Jesus nachfolgen. In weiten Kreisen der Kirche herrscht jedoch heute eine Arbeitsmoral, die auf äußerer Stärke basiert und wenig Raum für Schwäche lässt. Der Pfarrdienst und das Ehrenamt sind oft nur noch mit Multitalenten und Hochleistungspower zu schaffen. Doch gerade das Paradox des Kreuzes enthält das Potenzial für eine grenzsensible Theologie, eine Theologie, die einen sich in der Tiefe, in Schwäche und Leid, selbst in der Erniedrigung offenbarenden und damit radikal begrenzenden Gott predigt. Wenn der Glaube an die Auferstehung vor Augen hält, dass diese Schwäche, dieses Leid, diese radikale Grenze der paradoxe Weg zum Heil ist, dann kann eine solche Theologie eine Hilfe sein, die Angst vor eigenen und fremden Leistungsgrenzen zuzulassen. Sie kann ermutigen, die eigenen Grenzen nicht als Zeichen der Schwäche zu unterdrücken, die Grenzen anderer nicht als bedrohlich zu empfinden und deren Grenzsetzungen nicht als Kränkung zu werten. Stattdessen ist es möglich, eigene Grenzsetzungen und die Grenzen anderer als Quelle von Kraft, Kreativität und Zufriedenheit neu zu definieren.

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Wir müssen in Gemeinden nicht grenzenlos arbeiten. Kirche ist nicht in erster Linie ein Sozialverein. Die ›theologische Brille‹ hilft bei der Priorisierung der Arbeitsaufgaben

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Bibeltexte zum Paradox »Grenzsensibel sein mit dem eigenen Kreuz« Markus 8,34b

»Wer mir nachfolgt, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.« 1. Korinther 1,18

»Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber ist’s eine Gotteskraft.« 2. Korinther 12,9

»Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.« Matthäus 9,36

»Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter.«

Wenn Sie zu diesen theologischen Überlegungen an der Analogie in der aktuellen Psychologie und Traumatherapie interessiert sind, dann empfehlen wir: Wirtz, Ursula: Stirb und werde. Die Wandlungskraft traumatischer Erfahrungen, Ostfildern 2018.

n. Welche Theologie prägt mein Bild von Kirche und Gemeinde? o. Welche meiner Tätigkeiten werden diesem Bild gerecht? p. Zu welchen Grenzsetzungen fordert mich diese Theologie auf? q. Zu welchen Grenzüberschreitungen lädt sie mich ein? r. Wie könnte ein geistliches Leben in meinem kirchlichen Umfeld aussehen, in dem diese Theologie lebendig ist? s. Welche geistliche Übung hilft mir, Segen zu erkennen?

7 Grenzverletzung in Machtverhältnissen Umgang unter Erwachsenen

Wer Macht hat, hat in der Biologie mehr Fortpflanzungschancen

Abschließend soll ein selbstkritischer Blick auf unsere Natur das Thema »Grenzen« beleuchten. In der Verhaltensbiologie ist es eine allgemeine Beobachtung, dass dominante Männchen und Weibchen die besseren Fortpflanzungschancen haben. Auch beim Homo sapiens gilt: Macht macht attraktiv. Die Zuwendung von mächtigen Menschen ist für die meisten Menschen etwas sehr Reizvolles. Untergebene buhlen nicht selten förmlich um die Zuwendung der Mächtigen. Hier liegt für Leitungskräfte in allen menschlichen Bereichen eine große Versuchung, die besonders gefährlich und dann kriminell in pädagogischen Kontexten ist. Leitende haben daher immer die Pflicht zur Selbstkontrolle, damit sie nicht eigene Bedürfnisse an Untergebene herantragen.

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Kirchliche Kulturen sollen nicht lustfeindlich sein. Aber: Findet die:der Pfarrer:in seine:ihre Partner:innen, die:den zukünftigen Ehefrau:Ehenmann in der Gemeinde? Das wäre vor einigen Jahrzehnten kein Thema gewesen. Heute wird das kritisch diskutiert. t. In welchen Momenten finde ich meine Macht erregend? u. Wer sucht meinen persönlichen Kontakt, weil ich eine hohe Position habe? v. Wie gehe ich damit um? w. Wie halte ich den Sicherheitsabstand ein? x. Mit wem kann ich über die Versuchungen zur Grenzüberschreitung reden?

Pädagogischer Kontext Zur Differenzierung zwischen Grenzverletzungen, Übergriffen und strafrechtlich relevanten Formen der Gewalt im pädagogischen Alltag findet sich eine informative Aufstellung auf der Homepage von Zartbitter e. V. Köln: Zartbitter e. V.: Zur Differenzierung zwischen Grenzverletzungen, Übergriffen und strafrechtlich relevanten Formen der Gewalt im pädagogischen Alltag, Köln 2010, online unter: https://www.zartbitter.de/gegen_sexuellen_missbrauch/Fachinformationen/6005_missbrauch_in_der_schule.php, abgerufen am 29.11.2021.

In pädagogischen kirchlichen Kontexten ist die Pflicht eines Führungszeugnisses für hauptund ehrenamtliche Mitarbeitende inzwischen Standard. Nicht immer ist die Umsetzung schon perfekt. Es finden sich online viele gute Texte zum grenzwahrenden Umgang in der Pädagogik aus der Kita-Arbeit, von Pfadfinder:innen und von vielen pädagogischen und diakonischen Einrichtungen. Diakonie Deutschland: Auf Grenzen achten – Sicheren Ort geben, 20.09.2017, online unter: https://www.diakonie.de/broschueren/auf-grenzen-achten-sicheren-ort-geben, abgerufen am 29.11.2021. Ein Standardwerk ist Enders, Ursula: Grenzen achten. Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen. Ein Handbuch für die Praxis, Köln 2012.

Die Bibel enthält etliche Stellen, in denen die sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder als Normalität thematisiert wird. Biblische Geschichten sind Schilderungen aus einer patriarchalen Gesellschaft. Wie wir heute damit religionspädagogisch oder theologisch umgehen wollen, wird im Diskurs der feministischen und gendergerechten Theologie diskutiert.

8 Ziel: Eine grenzsensible würdevolle Kirche Abschließend möchten wir Sie einladen, ihren eigenen kirchlichen Arbeitsort zu betrachten und dort Schritte zu gehen, um noch mehr eine Grenzen respektierende Kirche zu werden. Vielleicht können Sie die nachstehenden Anregungen in ihren Kontext übersetzen, um sie bei Seminaren, Konventen etc. einzusetzen. Auflockernd ist es, mit der sogenannten Kopfstandmethode zu beginnen.

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10 Tipps zur Grenzüberschreitung 1. Nennen Sie jede:n, der:die ihnen begegnet, Schwester oder Bruder, und umarmen sie:ihn herzlich. Bestehen Sie auf dem Du als Anrede. 2. Verbringen Sie Ihre gesamte Lebenszeit in der Gemeinde. Suchen Sie sich Ihre besten Freund:innen und Ehepartner:innen aus dem Nahraum der Gemeinde. 3. Wenn in der Gemeinde Stellen zu besetzen sind, sorgen Sie dafür, dass gute Freund:innen sie bekommen. Das erleichtert die Zusammenarbeit. 4. Machen Sie Ihren Familienurlaub immer mit der Gemeinde bei Familienrüstzeiten. 5. Erzählen Sie allen von Ihren privaten Problemen, seien Sie schonungslos ehrlich. Demütige Transparenz ist spirituell wichtig. 6. Sagen Sie nie nein, wenn jemand Ihre Unterstützung anfragt. 7. Laden Sie für Seelsorgegespräche zu sich nach Hause ein, idealerweise ins Wohnzimmer 8. Führen Sie Dienstgespräche, vor allem schwierige Konfliktgespräche, am besten in der Pizzeria bei Rotwein. 9. Feiern Sie Ihre Geburtstage immer in der Gemeinde. 10. Bei jedem Gottesdienst soll man die Nebenfrau:den Nebenmann umarmen oder zumindest lange an den Händen halten.

Grenzüberschreitung für Ephor:innen Planen Sie bei Konventsfahrten bewusst Möglichkeiten ein, sich auf der menschlichen Ebene näherzukommen (Schwimmbad, Sauna). Das wird die Atmosphäre in Ihrem Kirchenkreis positiv beeinflussen. Seien Sie als leitende:r Geistliche:r immer Seelsorger:in für Ihre Pfarrer:innen und Mitarbeitenden. Feuern Sie die eitle und narzisstische Seite Ihrer Pfarrer:innen bestmöglich an! Zeigen Sie ihnen, wie großartig Sie sie finden! Sprechen Sie in deren Gegenwart etwas abfällig über andere. Versprechen Sie nur bestimmten Pfarrer:innen die bestmögliche Unterstützung bei ihrer Karriere. Dann können Sie sie optimal für eigene Ziele einsetzen. Vertrauen Sie Personalia aus Ihrem Kirchenkreis immer anderen Ephor:innen an. Dann können sich Pfarrer:innen sicher sein, dass sie bei einem Stellenwechsel niemals einen echten Neuanfang haben.

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Grenzen

Praxishilfe: Elemente für einen Pfarrkonvent oder ein Gemeindeseminar

Grenzen achten in Gemeinden Plenum: Kurzvortag- Auswahl aus diesem Artikel, ggf. aktuelle Bezüge Auflockernder Input: 10 Tipps zur Grenzüberschreitung Gruppenarbeit: Ergänzung um weitere 10 Tipps zur Grenzüberschreitung. Welche Probleme erlebe ich mit dem Thema? Was sind die größten Tabus, No-Gos in meiner Gemeinde? Welche guten Ansätze werden bei uns praktiziert? Plenum: – Zwei Mindmaps mit Risiken und Schutzfaktoren zum Thema »Grenzverletzungen« – Fragen zum Austausch: Was ist die Gemeinde, wenn sie keine »Familie« und kein »Verein« ist? Gibt es andere »spirituelle« Metaphern? – »Corporate Governance Codex«, Teamregeln zum Umgang mit Grenzen – Welche positiven Ziele im Umgang miteinander wollen wir verfolgen? a.  z. B. Würde (vgl. Hüther 2018) b.  z. B. Wertschätzung (vgl. Haller 2019) – Infoblock über die Rechtslage zu sexualisierter Gewalt, sexueller Belästigung, speziell für jeweilige Arbeitsfelder, Beratungsstellen, Gewaltschutzrichtlinie mit Tipps für die Umsetzung in einer Gemeinde

Autorinnen Dr. Anne Grohn ist Professorin für Psychologie an der Evangelischen Hochschule Berlin, Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin (DGSv) und Coach (dvct). Sie leitet seit 2006 Coaching-Ausbildungen für Pfarrer:innen und Leitungskräfte im Non-Profit-Bereich. Heidrun Miehe-Heger ist Pfarrerin und stellvertretende Superintendentin in Berlin Steglitz sowie Coach (dvct).

Literatur Böhmer, Annegret: Arbeitsplatz evangelische Kirche, in: Annemarie Bauer/Katharina Gröning (Hg.): Institutionsgeschichten, Institutionsanalysen, Tübingen 1995, S. 281–307. Cuvillier, Elian: Die »Kreuzestheologie« als Leseschlüssel zum Markusevangelium, in: Andreas Dettwiler/ Jean Zumstein (Hg.): Kreuzestheologie im Neuen Testament (WUNT 151), Tübingen 2002, S. 107–150. De Waal, Frans: Der Mensch, der Bonobo und die 10 Gebote. Moral ist älter als Religion, Stuttgart 2019. EKBO: Den Pfarrdienst Beschreiben – Gestalten – Begrenzen. Leitfaden zur Erstellung von individuellen Dienstvereinbarungen für Gemeindepfarrerinnen und Gemeindepfarrer und ordinierten Gemeindepädagoginnen und Gemeindepädagogen, Berlin 2020. https://akd-ekbo.de/wp-content/uploads/2020_Leitfaden-Pfarrdienst_DV-1.pdf, abgerufen am 29.11.2021. Haller, Reinhard: Das Wunder der Wertschätzung. Wie wir andere stark machen und dabei selbst stark werden, München 2019. Hüther, Gerald: Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft, 6. Aufl., München 2018. Mebes, Marion: Kein Küsschen auf Kommando, 5. Aufl., Köln 2020. Trautwein, Ulrike: Verengter Blick. Damit mehr Frauen bereit sind, kirchliche Leitungsämter zu übernehmen, braucht es eine Reform der Arbeitskultur, in: Die Kirche 10/2015, S. 3.

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Kirchenleitung Zwischen allen Stühlen, aber frei – Typen von Kirchenleitung Horst Gorski Î In welcher Tradition evangelischer Leitungsmodelle stehe ich? Î Wer beansprucht Leitung und wem kommt sie nach der Rechtsordnung zu? Î Wenn Leitung unklar ist und viele sich um den Ball rangeln: Was ist meine Chance?

1 Die Mischung macht’s Der Ort, an dem Sie arbeiten, hat eine Tradition. In diese Tradition treten Sie ein und wandern in ihr weiter

Liegt die Leitung beim geistlichen Amt? Beim Landeskirchenamt bzw. Oberkirchenrat? Bei synodalen Gremien? Episkopal, konsistorial, synodal ‒ mit diesen Markern werden verschiedene Leitungstypen bezeichnet, die sich im Laufe der Geschichte der reformatorischen Kirchen entwickelt haben. Man kann die Leitungsstrukturen der 20 Landeskirchen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aus diesen Traditionen zusammengesetzt verstehen. Die einzigartige Mischung macht das Leitungsmodell der jeweiligen Landeskirche aus. Deshalb sind die Leitungsämter mit unterschiedlichen Befugnissen, aber auch unterschiedlichen »inneren Bildern« verbunden. Das ist der Kontext, der vorgegeben ist.

Synode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern, 2020 in Geiselwind

Als ich 1999 Propst eines kleinen Kirchenkreises in Hamburg wurde, fand ich eine seltsame Mischung vor: einerseits eine starke synodal-basisdemokratische Orientierung, andererseits eine starke Steuerung durch einzelne Pastor:innenpersönlichkeiten. Für mich bedeutete das einen doppelten Nachteil: Die synodale Ausrichtung ließ dem Propst-

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Kirchenleitung

amt wenig Spielraum. Die starken Pastor:innen wollten erst recht keinen starken Propst. Gleichzeitig gab es viele Konflikte, zu denen ich gerufen wurde und deren Lösung man von mir erwartete. Ich habe damals zunächst recht stark gelitten. Heute würde ich sagen: Unsere Kirche kann auf keines der Elemente – synodal, episkopal, konsistorial – verzichten, auch wenn sie häufig in Spannung zueinander stehen. Solche Spannungen auszuhalten und zu moderieren, wird auf die eine oder andere Weise nahezu überall dazugehören. Fragen zur Reflexion a. b. c. d.

In welcher Tradition steht mein Leitungsamt? Wie ist meine Kirche aufgebaut? Welches Leitungsmodell hat in meiner Kirche, an meinem Ort Tradition? Wem überträgt die Rechtsordnung meiner Kirche welche episkopalen, konsistorialen oder synodalen Aufgaben und Befugnisse? e. Welche Aufgaben und Befugnisse habe ich jeweils? f. Welche Spielräume habe ich mit meinem Amt?

2 Leitung in der Kirche entwickelt sich koevolutionär zur Gesellschaft Die Berufung auf frühchristliche Traditionen oder auf die Reformatoren ist immer nur ein Baustein der Begründung kirchlicher Leitungstypen. Daneben geschieht eine koevolutio­ näre Entwicklung zur Gesellschaft, das heißt: Gesellschaftliche Entwicklungen einer bestimmten Zeit prägen das Bild, das wir von der Kirche und ihren Strukturen haben, jeweils mit. Die Leitungsvorstellungen der Reformatoren waren von der Ständegesellschaft ihrer Zeit geprägt. Fürsten, Amtsleute, Hausväter hatten ihre Rollen, denen das geistliche Leitungsamt angeglichen wurde. Für viele hundert Jahre, bis 1918, wurde das Leitungsamt offiziell sogar den Fürsten als summus episkopus übertragen. Das »Priestertum aller Getauften« ist zwar bei Luther angelegt, kam aber zu seinem Namen und seiner Wirkung erst, als sich in der Gesellschaft demokratische Leitungsmodelle zu etablieren begannen. Erst seit dem frühen 19. Jahrhundert sind in den Synoden regelmäßig Lai:innen beteiligt. Diese Erkenntnis hilft, die Gegenwart zu verstehen. In der alten Bundesrepublik hat die 68er-Bewegung gesellschaftliche Autoritäten hinterfragt. Das ging am Verständnis des ordinierten Amtes nicht spurlos vorbei. »Pfarrherrlichkeit« war nun verpönt. In meiner nordelbischen Kirche, die 1977 gegründet wurde, gehörte ein anti-pastörlicher (und anti-episkopaler) Affekt zu den Gründungsimpulsen, die sich lange bemerkbar machten. Als ich 2014 Vertretung in einer mecklenburgischen Gemeinde machte, erlebte ich den Unterschied wie Tag und Nacht. Hier war der:die Pastor:in jemand! Denn eine antiautoritäre Bewegung hatte es in dieser Form in der DDR nicht gegeben. Ein anderes Beispiel für den Einfluss gesellschaftlicher Entwicklungen auf die Kirche: Die funktionale Ausdifferenzierung von Recht, Gesundheitswesen, Finanzwesen, Kunst usw. ist in den letzten 30 Jahren enorm vorangeschritten. Überall, wo sich die Kirche auf diesen Feldern engagiert, wird dem Handeln eine hohe Professionalität abverlangt. Andernfalls werden im Arbeitsrecht Fehler gemacht, der Datenschutz nicht beachtet, wird Vermögen ungünstig angelegt, das betriebliche Gesundheitsmanagement vernachlässigt. Diese funktionale Ausdifferenzierung führt zur Zentralisierung und Verhauptamt­lichung von Leitung. Davon profitiert das konsistoriale Element. Gleichzeitig entsteht für geistliche Leitungsämter ein Bedarf an Beratung oder Fortbildung. Nur so ist die nötige Professio-

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nalität zu gewährleisten. Letztes Beispiel für aktuelle Einflüsse auf die Kirche ist die Digitalisierung mit ihrem Potenzial, weit überregional Netzwerke zu schaffen: Die Entstehung von kirchlichen Netzwerken in der digitalen Welt führt zu erhöhter Partizipativität und Selbstermächtigung. Davon profitiert das synodal-ehrenamtliche Element. Die Veränderungen, die sich dadurch für die Kirchenleitung eröffnen, sind noch gar nicht abzusehen. Bibeltexte zum Thema 2. Korinther 1,24

»Nicht dass wir Herren wären über euren Glauben, sondern wir sind Gehilfen eurer Freude; denn ihr steht im Glauben.« Wir können nicht immer zur Freude anderer wirken; aber ein innerer Perspektivwechsel in diese Richtung kann in verfahrenen Situationen wohltun. Offenbarung 21,21

»Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen, ein jedes Tor war aus einer einzigen Perle, und die Straße der Stadt war aus reinem Gold wie durchscheinendes Glas.« Die Strukturen der evangelischen Kirche sind nicht heilig, sondern nüchtern und pragmatisch und sollten zeitgemäß sein. Aber sie müssen für die Augen des Glaubens durchsichtig bleiben für eine andere Wirklichkeit, auf die sie verweisen.

3 Das ordinierte Amt ragt aus der Ständegesellschaft in die funktional ausdifferenzierte Moderne Das ordinierte Amt ragt aus der Ständegesellschaft in die funktional ausdifferenzierte Moderne hinein. Das mag etwas steil klingen, aber ich finde es hilfreich, sich dies vor Augen zu führen. Denn es erklärt manche Schwierigkeiten und eröffnet zugleich Chancen. Man wird Sie immer ein wenig hofieren, im ursprünglichen Wortsinn: Sie behandeln wie eine:n Monarch:in am Hofe. Aber auf dem Podest, auf das man Sie stellt, stehen Sie wackelig. Ich wurde mit der Zeit misstrauisch, wenn ich allzu akzentuiert als »Herr Propst«

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angesprochen wurde. Dann war der Königssturz nicht weit. Aber ein Stück weit gehört das höfische Zeremoniell zu unseren geistlichen Leitungsämtern dazu. Ich habe versucht zu lernen, dies zu bedienen und mich doch innerlich davon nicht abhängig zu machen. Gleichzeitig funktioniert kirchliches Leben heute als Teil der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft mit professionalisierten Fachgebieten. Darin kennt man sich als Theolog:in höchstens zufällig hier und da aus. Allerdings ist mit vielen Leitungsämtern die Moderation dieser Fachgebiete verbunden. Ich war mehrere Jahre Vorsitzender des Anlageausschusses, in dem über die Anlage von über 100 Millionen Euro entschieden wurde. Ich hatte null Ahnung – salopp gesagt. Dann bleibt nur: Die Fachkompetenz anderer anerkennen, sich beraten lassen und trotzdem Schneisen des Verständnisses für sich und die anderen schlagen. So oder so lässt es sich nicht vermeiden, dass man in einem kirchlichen Leitungsamt gelegentlich ein wenig dysfunktional wirkt und belächelt wird. Tragen Sie es mit Fassung. Was schon mal funktioniert hat Ein erfahrener Kollege gab mir den Rat: Wenn du gerufen wirst, um einen Konflikt zu lösen, dann sag dir: »Ich vertrete die Rechtsordnung.« Das fand ich zunächst befremdlich, weil es die geistliche Dimension meines Amtes außen vor lässt und ziemlich formalistisch klingt. Ich wollte doch als netter Mensch und genialer Konfliktlöser gesehen werden. Dann aber habe ich den Rat sehr zu schätzen gelernt, weil er in das Wirrwarr vieler Rollen und Erwartungen eine heilsame Reduktion bringt. Ich bin kein Supervisor, in dieser Situation auch nicht vorrangig Seelsorger, und ich bin nicht allmächtig. Die Rechtsordnung zu vertreten, gibt der Situation einen tragfähigen Boden, bringt ein Stück Klarheit und begrenzt meine Fantasien.

4 Chancen der Kommunikation Ihre große Chance als Leitende:r ist die Kommunikation. Die »Kommunikation des Evangeliums« sowieso. Nutzen Sie die Freiheit Ihres Amtes, anderen zuzuhören, Wertschätzung auszudrücken, Seelsorger:in zu sein. Gehen Sie auf andere zu, schreiben Sie, bedienen Sie, wenn es Ihnen liegt, auch die sogenannten sozialen Medien. Wenn Sie hierin gut sind, werden Sie manches ausgleichen, was Ihnen im funktionalen Leitungsbetrieb unbefriedigend erscheint. Nutzen Sie Ihre professionelle Kompetenz, als Theolog:in die Zeit mit ihren Entwicklungen, Verunsicherungen und Chancen zu deuten. Theologie kann einen Beitrag zur Kontingenzbewältigung des Lebens leisten. Sie können Ihre Rolle nutzen, auch das Sosein der Kirche in dieser Zeit zu deuten und verstehen zu helfen. Die darin angelegten Spannungen in sich auszuhalten, zu verstehen und für andere nachvollziehbar zu machen, das ist die hohe Kunst Ihres Amtes. Meine Erfahrung ist, dass in der Kirche – wohl nicht nur dort, aber dort ganz besonders – Entscheidungen über Beziehungen laufen. Es lohnt sich, viel Zeit und Kraft für die Beziehungskommunikation aufzuwenden.

5 Unklarheit gehört zum System. Das hat Vor- und Nachteile Die Kirchen der Reformation haben nie ein einheitliches Kirchenbild ausgearbeitet wie etwa die katholische Kirche. Auch der berühmte Artikel VII des Augsburgischen Bekenntnisses, wonach Kirche da ist, wo das Evangelium rein verkündigt und die Sakramente recht verwaltet werden, liefert allenfalls die Andeutung eines Kirchenbildes. Zur

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Wir erschließen uns die Koordinaten des Raumes, in dem wir uns bewegen

Horst Gorski

Kirche gehört ihr Handeln in Wort und Tat, also auch die Diakonie, gehören die vielfältigen Lebensäußerungen der Kirchengemeinden, Kirchenkreise und Landeskirchen. Es gehört zur evangelischen Kirche dazu, dass sie episkopale, konsistoriale und synodale Elemente mitführt; dass sie koevolutionär auf gesellschaftliche Entwicklungen reagiert; und dass nicht zuletzt die konkrete Ausgestaltung von einzelnen Personen mit Stärken und Schwächen abhängt. Die daraus entstehenden Unklarheiten können den Alltag im Leitungsamt mühsam machen und Hilflosigkeit und Kränkungen verursachen. Sie bieten aber auch die Chance, sich mit den eigenen Stärken und Schwächen darin zu bewegen. Zwei Erfahrungen, die für mich wichtig waren, möchte ich weitergeben: Beginnen Sie mit viel Geduld und Respekt. Es passt nicht, zu Beginn die Zügel stark anzuziehen. Die andere Erfahrung: Die Zeit spielt für mich! Gerade in allen strukturellen Unklarheiten kommt dem Leitungsamt eine hohe Kraft zu, die ihm in der Regel umso mehr zuwächst, je länger man ein Amt innehat. Irgendwann sind all die Unklarheiten und Unebenheiten in Ihrer Person vereint! Das könnte dann allerdings auch der Zeitpunkt für einen Stellenwechsel sein! Um sich im Gefüge verschiedener, teilweise unklarer, teilweise konkurrierender Rollen sicher bewegen zu können, bedarf es der Vergewisserung der eigenen Rolle. Dazu gehören Kenntnisse über die Theologie und historische Hintergründe des geistlichen Amtes und über die rechtlichen Regelungen meiner Kirche. Dazu bedarf es aber auch der sensiblen Wahrnehmung der eigenen Umgebung und der eigenen Person. Theorie und Praxis werden nicht immer deckungsgleich sein, aber das ist auch nicht zu erwarten. Aus den verschiedenen Elementen der Tradition, des Rechts und des Selbstverständnisses ergeben sich die Koordinaten eines Raumes, der vermessen und beschritten werden kann. 10 Tipps für die Praxis 1. Machen Sie sich mit dem Leitungsmodell an Ihrem Ort vertraut. 2. Versuchen Sie, seine Geschichte und seine aktuellen Bedingungen (inkl. der vorhandenen Personen) zu verstehen. 3. Werden Sie sich über Ihren eigenen Leitungsstil klar und integrieren Sie sich damit im Leitungsmodell Ihres Ortes. 4. Setzen Sie auf Respekt, Vertrauen und Zeit. Die Zeit spielt für Sie. 5. Berücksichtigen Sie, dass in Ihrer Rolle funktionale Elemente der Moderne und geistlichhierarchische Elemente der Vergangenheit zum Tragen kommen. Beides zu moderieren, ist eine hohe Anforderung. 6. Unterscheiden Sie klug, welche funktionalen Aufgaben Sie selbst beanspruchen müssen und welche Sie getrost anderen überlassen können, die davon mehr verstehen. 7. Beobachten Sie, welche gesellschaftlichen Veränderungen sich wie auf kirchliche Leitung auswirken: Rechtliche Komplexität z. B. fördert Zentralisierung; die Digitalisierung fördert Partizipation. 8. Die geistlich-hierarchischen Elemente können Sie als Ihre große Stärke ausspielen, wenn Sie gut kommunizieren. Kommunikation ist das A und O Ihrer Aufgabe. 9. Es gehört zu Ihrem Leitungsamt, Spannungen und Unsicherheiten, die durch Strukturen und Rollen entstehen, auszuhalten. Beklagen Sie sich darüber nicht, sondern seien Sie ein Vorbild darin, mit Spannungen und Unsicherheiten gelassen umzugehen. 10. Geben Sie Zeit und Energie in die Kommunikation des Evangeliums. Auch Seelsorge ist Kommunikation des Evangeliums.

Die folgenden Kopiervorlagen können etwa für einen Pfarrkonvent verwendet werden.

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Kirchenleitung

Wertschätzende Erkundung zur Ordination Sie haben 30 Minuten Zeit für einen Walk-to-Talk mit einer:einem Kolleg:in. 15 Minuten stellt der:die eine die folgenden Fragen und der:die andere achtet auf die Zeit, hört zu und bedankt sich. Danach wechseln die Rollen. – Was bedeutet mir meine Ordination für mein Rollenverständnis? – Wie sehe ich mich in meiner Rolle im Verhältnis zu den Laien und zur Kirchenverwaltung? – Was mache ich am liebsten allein oder mit Kolleg:innen zusammen? – Was mache ich gerne mit Laien gemeinsam? – Was erwarte ich von der Kirchenverwaltung?                   Vervielfältigung dieser Seite mit Quellenangabe erlaubt: Gorski, Horst: Zwischen allen Stühlen, aber frei – Typen von Kirchenleitung, in: Detlef Dieckmann/Daniel Dietzfelbinger/Kristina Kühnbaum-Schmidt/Christoph Meyns (Hg.): Führen und Leiten in der Kirche. Ein Handbuch für die Praxis, Göttingen 2022.

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Aus der Taufe gekrochen – alle gleich? (Gruppe 1) Lesen Sie in Ihrer Gruppe die Luther-Texte aus »An den christlichen Adel deutscher Nation« (1520; WA 6, 407–408), die Sie auf den folgenden beiden Seiten finden. »Man hat sich ausgedacht, dass Papst, Bischöfe, Priester und Klostervolk der geistliche Stand genannt werden, Fürsten, Herren, Handwerks- und Ackerleute der weltliche Stand. Das ist eine sehr feine Erdichtung und Trug. Doch soll niemand deswegen eingeschüchtert werden, und das aus folgendem Grund: Alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes, und es ist unter ihnen kein Unterschied außer allein des Amts wegen, wie Paulus 1. Korinther 12,12 ff. sagt, dass wir alle gemeinsam ein Leib sind, obwohl doch ein jedes Glied sein eigenes Werk hat, womit es den anderen dient. Das alles kommt daher, dass wir eine Taufe, ein Evangelium, einen Glauben haben und auf gleiche Weise Christen sind. Denn die Taufe, Evangelium und Glauben, die machen allein geistlich und ein Christenvolk.«  (Jung 2017, S. 35) »Man hats erfunden / das Bapst / Bischoff / Priester / Kloster volck wirt der geystlich stand genent / Fursten / Hern / handtwercks und ackerleut der weltlich stand / wilchs gar ein feyn Comment und gleyssen ist / doch sol niemant darumb schuchter werden / vnnd das ausz dem grund: Dan alle Christen sein warhafftig geystlichs stands / vnnd ist vnter yhn kein vnterscheyd / denn des ampts halben allein / wie Paulus.i. Corint. xij. sagt / das wir alle sampt eyn Corper seinn / doch ein yglich glid sein eygen werck hat / damit es den andern dienet1 / das macht allis / das wir eine tauff / ein Euangelium / eynen glauben haben2 / vnnd sein gleyche Christen / den die tauff / Euangelium und glauben / die machen allein geistlich vnd Christen volck.«  1. Korinther 12,11–26; Epheser 4,5

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Kirchenleitung

Aus der Taufe gekrochen – alle gleich? (Gruppe 1)



»Weil nun die weltliche Obrigkeit gleich uns getauft ist, denselben Glauben und dasselbe Evangelium hat, müssen wir sie Priester und Bischöfe sein lassen und ihr Amt als ein Amt ansehen, das der christlichen Gemeinde gehöre und nützlich sei. Denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei, obwohl es nicht einem jeden ziemt, ein solches Amt auszuüben. Denn weil wir alle gleichermaßen Priester sind, darf sich niemand selbst hervortun und sich vornehmen, ohne unser Bewilligen und Erwählen das zu tun, wozu wir alle gleiches Recht haben. Denn was allgemein ist, kann niemand ohne Wille und Befehl der Gemeinde an sich nehmen. Und wo es geschähe, dass jemand zu einem solchen Amt erwählt und danach wegen Missbrauchs abgesetzt würde, so wäre er gleich wie vorher. Darum sollte ein Priesterstand in der Christenheit nicht anders sein als ein Amtmann: Während er im Amt ist, geht er vor; wo er abgesetzt ist, ist er ein Bauer oder Bürger wie die anderen. Ebenso wahrhaftig ist ein Priester nicht mehr Priester, wenn er abgesetzt wird. Aber nun haben sie die »unzerstörbaren Merkmale« erdichtet und schwätzen, dass ein abgesetzter Priester dennoch etwas anderes sei als ein schlichter Laie. Ja, ihnen träumt, es könne ein Priester nimmermehr etwas anderes als ein Priester, er könne kein Laie werden. Das sind alles von Menschen erdichtete Reden und Gesetze.« (Jung 2017, S. 36) »Die weyl dan nu die weltlich gewalt ist gleych mit vns getaufft / hat den selben glauben vnnd Euangely / mussen wir sie lassen priester vnd Bischoff sein / vnd yr ampt zelen als ein ampt / das da gehore und nutzlich sey der Christenlichen gemeyne. Dan was ausz der tauff krochen ist / das mag sich rumen / das es schon priester / Bischoff und Bapst geweyhet sey / ob wol nit einem yglichen zympt / solch ampt zu- uben. Dan weyl wir alle gleich priester sein / musz sich niemant selb erfur thun vnd sich vnterwinden / an vnszer bewilligen vnd erwelen das zuthun / des wir alle gleychen gewalt haben / Den was gemeyne ist / mag niemandt on der gemeyne willen vnd befehle an sich nehmen. Vnd wo es geschehe / das yemandt erwelet zu solchem ampt und durch seinen miszprauch wurd abgesetzt / szo were ehr gleich wie vorhyn. Drumb solt ein priester stand nit anders sein in der Christenheit / dan als ein amptman: weil er am ampt ist / geht er vohr / wo ehr abgesetzt / ist ehr ein bawr odder burger wie die andern. Alszo warhafftig ist ein priester nymmer priester / wo er abgesetzt wirt. Aber nu haben sie ertichtet Caracteres / indelebiles / und schwetzen / das ein abgesetzter priester dennocht etwas anders sey / dan ein schlechter leye / Ia sie trewmet / Es mug ein priester nymmer mehr anders den priester odder ein ley werden: das sein alles menschen ertichte rede vnd gesetz.«

– Versetzen Sie sich in die damalige Zeit: Wie muss dieser Text in damaligen Ohren geklungen haben? – Wie klingt er heute in unseren Ohren? – Welche Entwicklungen (z. B. Bildung von Kirchenvorständen und Synoden) liegen dazwischen? Vervielfältigung dieser Seite mit Quellenangabe erlaubt: Gorski, Horst: Zwischen allen Stühlen, aber frei – Typen von Kirchenleitung, in: Detlef Dieckmann/Daniel Dietzfelbinger/Kristina Kühnbaum-Schmidt/Christoph Meyns (Hg.): Führen und Leiten in der Kirche. Ein Handbuch für die Praxis, Göttingen 2022.

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Allein durch Gottes Wort (Gruppe 2) Das bischöfliche Leitungsamt soll »sine vi humana sed verbo« – »ohn menschliche Gewalt, sondern allein durch Gottes Wort« ausgeübt werden (CA XXVIII, 21). – Was bedeutet das für »geistliche Leitung« in der Kirche? – Was erwarte ich von geistlicher Leitung?                     Vervielfältigung dieser Seite mit Quellenangabe erlaubt: Gorski, Horst: Zwischen allen Stühlen, aber frei – Typen von Kirchenleitung, in: Detlef Dieckmann/Daniel Dietzfelbinger/Kristina Kühnbaum-Schmidt/Christoph Meyns (Hg.): Führen und Leiten in der Kirche. Ein Handbuch für die Praxis, Göttingen 2022.

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Kirchenleitung

Geistlich und rechtlich (Gruppe 3) In vielen Kirchenverfassungen findet sich die Bestimmung: »Leitung wird im Hören auf Gottes Wort geistlich und rechtlich in unaufgebbarer Einheit ausgeübt.« – Wie verstehe ich diese Bestimmung? – Habe ich Erfahrungen, wie dieses Zusammenwirken in der Praxis geschieht? – Welche Spannungen tun sich in den Erfahrungen auf?                     Vervielfältigung dieser Seite mit Quellenangabe erlaubt: Gorski, Horst: Zwischen allen Stühlen, aber frei – Typen von Kirchenleitung, in: Detlef Dieckmann/Daniel Dietzfelbinger/Kristina Kühnbaum-Schmidt/Christoph Meyns (Hg.): Führen und Leiten in der Kirche. Ein Handbuch für die Praxis, Göttingen 2022.

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Autor Dr. Horst Gorski ist Vizepräsident im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). [email protected]

Literatur Jung, Martin: Luther lesen. Die zentralen Texte. Hg. vom Amt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), 2. Aufl., Göttingen 2017. Luther, Martin: An den christlichen Adel deutscher Nation (1520), WA 6, S. 407–408.

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Kirchentheorie Den Überblick behalten – Theorien zur Wahrnehmung der Wirklichkeit des kirchlichen Lebens Christoph Meyns Î In welcher Situation kann welche Theorie meine Perspektive hilfreich verändern? Î Wie kann eine hilfreiche Theorie mein Handeln beeinflussen? Î Wo liegen Grenzen beim Anwenden einer Theorie? Î Wo liegen Grenzen beim Anwenden von Theorien?

Wer in der Kirche Leitungsaufgaben wahrnimmt, muss sich in die Aufgaben, Abläufe und Arbeitsweisen einarbeiten, die sich damit verbinden. Darüber hinaus bedarf es einer Vorstellung von der Wirklichkeit, auf die man Einfluss nimmt: – Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse, Gaben und Grenzen einzelner Menschen und Gruppen, – Einblicke in Geschichte, Selbstverständnis und Struktur der Körperschaften, Einrichtungen und Arbeitsfelder, für die man Verantwortung trägt, – Kompetenzen im Umgang mit Rechtsvorschriften und Finanzen. Zusätzlich zu all dem ist es hilfreich, sich eine Gesamtschau über das zu erarbeiten, was das Wesen des kirchlichen Lebens insgesamt ausmacht und die darin wirksamen Kräfte. Wer die Herausforderungen vor Ort in den Kontext einer gesamtkirchlichen Perspektive hinsichtlich gesellschaftlicher Entwicklungen einordnet, dem:der erschließen sich wichtige Zusammenhänge und er:sie erkennt, wo Handlungsspielräume liegen und wo nicht. Darauf aufbauend lassen sich nachhaltige Strategien entwickeln.

1 Theorien als geistige Landkarten Wer beim Wandern das Ganze in den Blick nehmen will, greift zu einer Landkarte. Sie stellt die Wirklichkeit vereinfacht dar und lenkt die Wahrnehmung auf ausgewählte Merkmale der Landschaft. Eine Wanderkarte sagt nichts über Anzahl der Bäume, Pflanzen- und Tierarten oder die Bebauung aus. Aber sie zeigt Höhenlinien, Wege, mögliche Ziele und Rastplätze. Dadurch bietet sie Fußgänger:innen Orientierung. Für Autofahrer:innen ist sie hingegen nur bedingt geeignet. Eine Seekarte wiederum beschränkt sich auf Küstenlinien, Fahrrinnen, Wassertiefen, Seezeichen und Leuchtfeuer und blendet dafür das Binnenland aus. Gut gemachte Karten vereinfachen die Landschaft auf intelligente Weise. Sie bilden die Wirklichkeit weder zu simpel noch zu detailreich ab. Gleichzeitig darf man sich nie frag-

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Gute Theorien richtig angewandt können unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit gestaltend beeinflussen

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los auf sie verlassen, sondern muss sie mit eigenen Wahrnehmungen abgleichen, denn sie können veraltete oder fehlerhafte Angaben enthalten. Umgekehrt führt manchmal sogar eine falsche Landkarte ans richtige Ziel. So fand einer wahren Geschichte zufolge eine Einheit der österreichischen Armee im Ersten Weltkrieg, die sich auf einer Patrouille im Hochgebirge der Alpen verirrt hatte, ihren Weg zurück ins Tal mithilfe einer Karte der Pyrenäen (vgl. Simon 2006, S. 30–31). Theorien sind geistige Landkarten. Sie reduzieren die Unübersichtlichkeit und Vielschichtigkeit der Wirklichkeit mithilfe begrifflicher Modelle. Auf diese Weise fokussieren sie die Aufmerksamkeit auf ausgewählte Zusammenhänge und geben so Orientierung bei der Lösung von Problemen. Deshalb ist nichts so praktisch wie eine gute Theorie. Ohne die Allgemeine Relativitätstheorie gäbe es keine satellitengestützte Navigation. Zugleich erzeugt jede Theorie durch ihren Fokus zwangsläufig blinde Flecke. Ihre Erklärungskraft hat Grenzen und Nebenwirkungen, um die man wissen muss. Im Idealfall entwickelt sich eine Spirale der Erkenntnis. Aus der Anwendung einer Theorie erschließen sich Einsichten, die dazu führen, dass sie bestätigt, präzisiert, erweitert, eingeschränkt oder verworfen wird. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit, die zu neuen Rückfragen an die Theorie führt usw. Deshalb sollten Theorien widerlegbar sein. Im schlechtesten Fall wird die Erklärungskraft einer Theorie überschätzt, sie wird auf Sachverhalte angewendet, für die sie nicht geeignet ist oder sie sperrt sich ihrer Widerlegung. Dann wird daraus eine Ideologie. So entstanden etwa im 19. Jahrhundert durch eine unzulässige Übertragung evolutionsbiologischer Einsichten auf soziale Verhältnisse sozialdarwinistische und rassistische Ideen. Jede Wahrnehmung der Wirklichkeit ist durch Theorien geleitet. Das geschieht in der Regel jedoch, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Es gehört zur Verantwortung in gemeinde- und kirchenleitenden Ämtern, sich darüber Rechenschaft zu geben, durch welche »Brille« hindurch man selbst das kirchliche Leben betrachtet, und sich mit anderen Perspektiven auseinanderzusetzen.

2 Botschaft und Ordnung Theorien für die Praxis kirchlicher Arbeit zu entwickeln, ist Aufgabe der Theologie. Konkrete Handlungsfelder werden in der Teildisziplin der Praktischen Theologie im Gespräch mit Psychologie, Soziologie, Pädagogik und anderen Human- und Sozialwissenschaften durchdacht. Daraus ergeben sich Konzepte und Methoden für die Gestaltung der täglichen Praxis. Der Schwerpunkt von Forschung und Lehre liegt auf den Aufgaben von Pfarrer:innen in Gottesdienst, Unterricht und Seelsorge. Hinzu kommen die Diakoniewissenschaften. Im Blick auf das kirchliche Leben in seiner Gesamtheit hat sich die Theologie bis in die jüngste Zeit hinein hauptsächlich mit Fragen der geistlichen Identität auseinander­gesetzt. So spricht das Nizänische Glaubensbekenntnis von der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche. Das Augsburger Bekenntnis beschreibt die Kirche in Artikel VII als »Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut des Evangelii gereicht werden.« In den Schmalkaldischen Artikeln formuliert Martin Luther das Wesen der Kirche folgendermaßen: »Denn es weiß gottlob ein Kind von 7 Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und ›die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören‹; denn also beten die Kinder: ›Ich glaube [an die] heilige christliche Kirche‹. Diese Heiligkeit besteht nicht

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in Chorhemden, Platten, langen Röcken und anderen ihren Zeremonien, die sie über die heilige Schrift hinaus erdichtet, sondern im Wort Gottes und rechtem Glauben.« (Teil III, Artikel XII »Von der Kirche«, zitiert nach BSLK: 459,20–460,5). Die Reformatoren gaben dem kirchlichen Leben ausgehend von diesem Kirchenverständnis eine neue Gestalt auf der Grundlage von Kirchenordnungen. Im weiteren Verlauf der Geschichte lagen Ordnungs-, Struktur-, Leitungs- und Machtfragen aufgrund der engen Verbindung von Kirche und Staat bis 1919 in der Hand von Juristen und wurden im Rahmen des Kirchenrechts diskutiert. Eine Ausnahme bilden die Vorlesungen von Friedrich Schleiermacher zur Praktischen Theologie Anfang des 19. Jahrhunderts (Schleiermacher 1850). Aufgrund dieser Tradition wurden Botschaft und Ordnung der Kirche bis vor Kurzem wissenschaftlich getrennt voneinander bearbeitet. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg fragten Rechtswissenschaftler:innen, wie sich das Kirchenrecht theologisch begründen lässt (Dombois 1961; Heckel 1950; Wolf 1960/1961). Erst 1997 wurde ein erster Ansatz veröffentlicht, der das Kirchenrecht umgekehrt in ein theologisches Verständnis von Kirche einordnet (Reuter 1997). Die Kybernetik als Teilbereich für Fragen des kirchlichen Leitungshandelns führt an den theologischen Fakultäten bis heute ein Schattendasein.

3 Ökonomische Theorien Seit Anfang der 1990er-Jahre standen kirchliche Leitungsorgane wiederholt vor der Herausforderung, den Umfang der Arbeit an sinkende Einnahmen anpassen zu müssen. Weil es damals keine theologisch durchdachten Ansätze zur Gestaltung der äußeren Gestalt des kirchlichen Lebens gab, griff man pragmatisch auf Methoden der Managementlehre zurück. Dabei fand vor allem die Idee des Führens durch Ziele (Management by Objectives) Anwendung. Hier stehen die Grundsätze der Wirksamkeit und der Wirtschaftlichkeit des unternehmerischen Handelns im Vordergrund. Wirtschaftlichkeit bedeutet, Güter mit möglichst wenig Rohstoffen, Arbeit und Energie herzustellen. Die Wirksamkeit orientiert sich in der Regel an Maßstäben wie Umsatz, Gewinn, Kund:innenzufriedenheit oder Marktanteilen. Betrachtet man die Kirche aus einer solchen Sicht, rückt die Frage nach den beabsichtigten Wirkungen der kirchlichen Arbeit in den Fokus der Aufmerksamkeit. Wie müssen Leistungen in Umfang und Qualität beschaffen sein, um diese Wirkungen zu erzielen? Welche Ressourcen müssen eingebracht werden, um diese Leistungen zu erbringen? Wie können die Kosten dafür niedrig gehalten werden? Das sind für Teilbereiche der kirch­ lichen Arbeit wichtige Fragen, vor allem dort, wo Erlöse erwirtschaftet werden. Das betrifft etwa Friedhöfe, Tagungsstätten, Medienanstalten oder Kindertagesstätten. Auch für die Bewirtschaftung von Immobilien und Finanzen ergeben sich daraus viele Anregungen. Eine betriebswirtschaftliche Landkarte eignet sich indes nicht als Gesamtperspektive. Denn zentrale Bereiche der kirchlichen Arbeit werden nicht an beabsichtigten Wirkungen ausgerichtet. Sie zielen vielmehr auf die verständliche und glaubwürdige Bezeugung des Evangeliums in Treue zur biblischen Überlieferung. Was dadurch in Menschen bewirkt wird oder nicht, liegt allein in Gottes Hand. Friedrich Schleiermacher hat von dieser Einsicht ausgehend zwischen dem darstellenden und dem wirksamen Handeln der Kirche unterschieden. Die Praktische Theolo-

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Kirchliches Handeln balanciert zwischen den ökonomischen Strukturen, in die es notwen­ digerweise eingebunden ist, und einem diesen wider­ sprechenden Menschenbild

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gie folgt ihm bis heute darin, wenn auch teilweise mit anderer Begrifflichkeit. So spricht Dietrich Rössler (1986, S. 14) davon, dass das kirchliche Handeln seinen Sinn in sich selbst habe und nicht als Funktion seiner Resultate zu begreifen sei. Es sei von Grundsätzen bestimmt, nicht von dem, was es bewirke oder nicht bewirke. Reiner Preul (1997) unterscheidet vom kommunikativen das disponierende Handeln der Kirche. Handlungen sind darstellender Natur, wenn sie ihren Zweck in sich selbst haben. Wirksame Handlungen zielen dagegen auf einen Zweck außerhalb ihrer selbst. Die Zielrichtung der Arbeit eines Orchesters liegt in der Aufführung eines Werkes der klassischen Musik. Es soll in möglichst großer Nähe zu den Klangvorstellungen des:der Komponist:in zu Gehör gebracht werden. Gleichzeitig stehen im Hintergrund der Orchesterarbeit viele Handlungen wirksamer Natur, die die Aufführung ermöglichen. Eine Hochschule bildet Musiker:innen aus, eine Stadt unterhält das Konzerthaus, kauft Noten und Instrumente, schafft Stellen, besetzt sie, bezahlt das Personal und verkauft Karten. Die Musik in Spielfilmen, TV-Serien oder Werbespots dagegen zielt unmittelbar darauf, bestimmte Emotionen bei den Hörer:innen auszulösen. Sie hat keinen Selbstwert. Ähnliches gilt für die Kunst. Ein:e Bildhauer:in schafft aus einem Stück Holz eine Skulptur, die für sich selbst spricht. Ein:e Handwerker:in dagegen bearbeitet Holz, damit am Ende ein Stuhl entsteht, auf dem Menschen sitzen. Der Sinn liegt nicht in dem Stuhl an sich. Beide Handlungsformen können zusammenkommen. Ein:e Dirigent:in mag ein Werk für die Aufführung aussuchen, weil er:sie vermutet, dass es Zuhörer:innen auf eine bestimmte Weise anrührt. Zugleich ist diese Wirkung nicht garantiert. Die eine wird durch eine Brahms-Sinfonie tief beglückt, den anderen macht sie depressiv. Umgekehrt kann etwa ein Stuhl gleichzeitig ein künstlerisches Objekt sein, das um seiner selbst willen ansprechend ist. So baute Marcel Breuer den berühmten Bauhaus-Stuhl 1928 als Muster für Experimente mit verschiedenen Materialien. Er war nicht für den praktischen Gebrauch gedacht. Trotzdem kaufen ihn heute Menschen, weil er sie als Kunstobjekt anspricht, obwohl man eher unbequem darauf sitzt. In ähnlicher Weise wie Musik und Kunst ist das Evangelium von Jesus Christus um seiner selbst willen interessant und wirkt aus sich selbst heraus. Die Aufgabe der Kirche besteht darin, Menschen damit im Gottesdienst durch Wort und Sakrament, in der Kinder- und Jugendarbeit, im Unterricht, in Seelsorge, in Kirchenmusik und im diakonischen Handeln in Kontakt zu bringen. So kann es die ihm innewohnende Kraft entfalten. Welche Wirkungen diese Kraft im Leben von Menschen entwickelt, entzieht sich dem menschlichen Urteil. Sie können nicht gemessen, sondern müssen – manchmal gegen den Augenschein – erglaubt werden. Der dänische Philosoph und Theologe Søren Kierkegaard hat daran erinnert, dass eine solche Haltung ihren Ursprung in der besonderen Logik der Liebe hat: »Der Liebende setzt voraus, dass die Liebe in des anderen Menschenherzen ist; und eben durch diese Voraussetzung baut er die Liebe in ihm auf von Grund aus, sofern er sie ja liebend im Grunde voraussetzt.« (Kierkegaard 1924, S. 223) Gleichzeitig ist vieles nötig, damit sich das Grundgeschehen, das die Kirche zur Kirche macht, vollziehen kann. Dazu gehört die Bereitstellung von Finanzmitteln, Gebäuden und Personalstellen, die Gewinnung und die Aus- und Fortbildung von Mitarbeiter:innen u .v. m. Hier liegt oftmals der Schwerpunkt der Tätigkeit von Menschen, die gemeinde- und kirchenleitende Verantwortung tragen. Für diesen Aspekt des kirchlichen Lebens ist eine betriebswirtschaftliche Perspektive hilfreich. Zugleich muss man um die normativen Voraussetzungen der Methoden wissen. Denn hinter vielen ökonomischen Ansätzen steht ein Menschenbild, das dem christlichen Glauben widerspricht, nämlich das ökonomische Verhaltensmodell mit seiner Vorstellung des Menschen als Homo oeconomicus. Es beschreibet wirtschaftliche Zusammenhänge mithilfe der Vorstellung eines Menschen, der auf Grundlage seiner Vorlieben den eigenen Nutzen steigert. Vorlieben lassen sich nicht verändern. Trotzdem kann man seine Ent-

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Kirchentheorie

scheidungen durch das geschickte Setzen von äußeren Anreizen beeinflussen. Dabei geht es nicht um einzelne Menschen, sondern um den Einfluss auf breite Bevölkerungskreise. Wer keine Erdbeermarmelade mag, den wird kein Marketing der Welt vom Gegenteil überzeugen. Vegetarier:innen gehen achtlos an der Werbung für Schweinekoteletts vorbei. Aber in Kombination mit vorhandenen Vorlieben wirken Sonderangebote, die auffällige Präsentation von Produkten oder eine geschickte Wegführung durch den Laden als Anreize, die dazu führen, dass Menschen mehr Waren kaufen, als sie es ohne diese Maßnahmen getan hätten. Ein solches Denken kann für Teilbereiche des kirchlichen Handelns hilfreich sein. So sind Werbemaßnahmen für Konzerte sinnvoll, um das Defizit so gering wie möglich zu halten. Regeln für die Verteilung von Finanzen lassen sich in einer Weise gestalten, die ein sparsames Wirtschaften fördert. Zuschüsse für Kinder- und Jugendfreizeiten lassen sich an Bedingungen knüpfen, um etwa bestimmte pädagogische Konzepte oder die Prävention sexualisierter Gewalt zu fördern. Interessante Einsichten ergeben sich darüber hinaus, wenn man nach Anreizen fragt, die den Kirchenaustritt wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen. So war es nach dem Ersten Weltkrieg in Preußen zunächst möglich, per Postkarte aus der Kirche auszutreten. Daraufhin stieg die Zahl der Kirchenaustritte enorm an. Ernst Troeltsch, damals als parlamentarischer Staatssekretär im Wissenschaftsministerium für Kirchenfragen zuständig, reagierte mit einer Gesetzesänderung. Jetzt musste man persönlich auf dem Standesamt erscheinen und eine Gebühr entrichten. Daraufhin sank die Zahl der Kirchenaustritte. Umgekehrt haben Erhöhungen der Einkommensteuer in den letzten fünf Jahrzehnten immer wieder als ungewollte Anreize zum Kirchenaustritt gewirkt. Steuersenkungen lassen die Zahl der Kirchenaustritte dagegen zurückgehen. Italien, Spanien und Ungarn haben die Kirchenfinanzierung deshalb auf eine Mandatssteuer umgestellt. Jede:r Steuerpflichtige wählt selbst, ob er:sie die Steuer einer Kirche, dem Staat oder einer gemeinnützigen Einrichtung zukommen lassen will. Auf diese Weise besteht kein finanzieller Anreiz, aus der Kirche auszutreten. Daneben spielt die Glaubwürdigkeit des kirchlichen Handelns als positiver oder negativer Anreiz eine große Rolle. Das diakonische Handeln der Kirche ist für viele Menschen ein starkes Mitgliedschaftsmotiv. Umgekehrt haben das Bekanntwerden der Missbrauchsfälle 2010 die Ausritte (nicht nur) aus der katholischen Kirche stark ansteigen lassen. Negative Erfahrungen vor Ort spielen aufs Ganze gesehen dagegen nur eine untergeordnete Rolle, denn 75 Prozent aller Kirchenmitglieder nehmen kaum aktiv am kirchlichen Leben teil. Inspirierend sind darüber hinaus Ansätze aus dem Marketing für Vertrauensgüter. Vertrauensgüter sind Produkte oder Dienstleistungen, deren Qualität sich anders als etwa das Obst auf dem Marktstand nicht überprüfen lassen. Das klassische Beispiel ist der Gebrauchtwagen. Als Käufer:in kann man nicht nachprüfen, ob der Wert des Autos dem geforderten Preis entspricht. Man muss dem:der Verkäufer:in vertrauen. Zugleich ist bekannt, dass in diesem Bereich oft betrogen wird. Deshalb arbeiten Autohäuser mit vertrauensstiftenden Maßnahmen wie Qualitätssiegeln, Garantien oder Kulanz. Ähnliches gilt für Finanzdienstleister und Versicherungen. Noch schwieriger wird die Lage bei Wirtschaftsgütern, die der Mitwirkung des Käufers:der Käuferin bedürfen, wie z. B. bei Bildungsangeboten, Diätprogrammen, medizinischen Leistungen, Psychotherapien

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Ökonomisch betrachtet bietet die Kirche vor allem öffentliche Vertrauensgüter an

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oder Beratungsleistungen. So gesehen sind die Bücherwand in der Arztpraxis oder der Rechtsanwaltskanzlei, der Doktortitel, die Tafeln an der Wand mit Bildungsabschlüssen oder der weiße Kittel Symbole, mit denen um Vertrauen geworben wird. Eine weitere hilfreiche ökonomische Unterscheidung ist die zwischen privaten und öffentlichen Gütern. Für private Güter zahlt, wer sie nutzt: die Brötchen in der Bäckerei, den Haarschnitt im Friseursalon, das Recht, auf einer digitalen Plattform Filme zu schauen. Wer nicht zahlt, wird ausgeschlossen. Öffentliche Güter kommen dagegen allen zugute, ohne dass jemand davon ausgeschlossen werden kann oder soll, wenn er:sie nicht zahlt, z. B. Leuchttürme, Straßen, Schulen, öffentliche Sicherheit, Rechtsprechung. Sie werden deshalb allgemein über Steuern und Abgaben finanziert. Das Grundproblem öffentlicher Güter besteht im Trittbrettfahren. Menschen nehmen Leistungen in Anspruch, weichen aber den dafür notwendigen Zahlungen aus, etwa durch Steuerhinterziehung. Viele Leistungen der Kirche sind als öffentliche Güter konzipiert. Das geschieht aus theologischen Gründen, um die dem christlichen Glauben innewohnende Logik des Schenkens zur Darstellung zu bringen. Niemand muss den:die Pfarrer:in für Gottesdienste oder Amtshandlungen bezahlen oder wird vor der Kirchentür nach seiner Mitgliedschaft gefragt. Kirchenkonzerte, Kindertagesstätten oder Friedhöfe sind dagegen im Kern als privates Gut gestaltet. Wer nicht zahlt, kann sie nicht nutzen. Auch die Kirche hat mit dem Trittbrettfahrer:innenproblem zu kämpfen. Regelmäßig tritt die:der besser verdienende Ehepartner:in aus, die Familie nimmt kirchliche Leistungen aber dennoch weiter in Anspruch. Ökonomisch betrachtet lässt sich die Kirche also als eine Organisation verstehen, die mit dem Evangelium ein öffentliches Vertrauensgut anbietet. Sie ist darauf angewiesen, dass Menschen der Wahrheit, für die sie steht, vertrauen. Ihre zentralen Leistungen finanziert sie als öffentliche Güter. Das gilt nicht nur für eine Finanzierung über Kirchensteuer. Auch Freikirchen erheben ihre Beiträge nicht nach Nutzungsintensität, sondern solidarisch in Orientierung an der Wirtschaftskraft ihrer Mitglieder. Aus dieser Perspektive rücken vertrauensstiftende Maßnahmen als zentraler Punkt der kirchlichen Arbeit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dazu gehören verlässliche Erreichbarkeit, Zugänglichkeit, Ansprechbarkeit und Freundlichkeit im Umgang mit anderen Menschen, vor allem aber die Glaubwürdigkeit von Mitarbeiter:innen sowie das diakonische Handeln. Im Hintergrund ökonomisch inspirierter Kirchenreformvorschläge der letzten 15 Jahre steht jedoch regelmäßig die Vorstellung von der Kirche als Dienstleistungsunternehmen. In diesem Bereich des Wirtschaftslebens ist die gleichbleibende Qualität der Leistungen die zentrale Herausforderung für die Kund:innenbindung. Niemand geht in einen Friseursalon, bei dem das Ergebnis mal besser, mal schlechter ausfällt. Niemand bucht bei einem Reiseunternehmen, von dem man nicht sicher sagen kann, ob die Qualität der Urlaubsangebote wie versprochen ausfällt. Übertragen auf kirchliche Verhältnisse wird dann vorschnell von sinkenden Mitgliederzahlen auf das unzureichende Niveau von Leistungen, die mangelnde Zielgruppenorientierung oder den fehlenden Einsatzwillen von Mitarbeiter:innen geschlossen. Das entspricht, trotz mancher Einzelprobleme, aufs Ganze gesehen nicht der Realität. Zudem steht im Hintergrund eines solchen Denkens eine Tauschlogik. Menschen sind bereit, im Tausch für Dienstleistungen Beiträge zu leisten. Das widerspricht wiederum der Logik des Schenkens und dem Charakter kirchlicher Leistungen als öffentlicher Güter. Zugleich ist das Setzen von Anreizen nicht ohne Risiko. So wird von einem britischen Kolonialbeamten im 19. Jahrhundert in Indien

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Kirchentheorie

berichtet, er habe die Zahl der von Kobras verursachten Todesfälle vermindern wollen. Deshalb führte er eine Prämie für jede getötete Schlange ein. In der Folge nahm die Zahl der Todesfälle stark zu, weil die Menschen anfingen, Kobras zu züchten, um die Prämie zu erhalten (vgl. Siebert 2001). Im Raum der Kirche ist vor wenigen Jahren etwas Ähnliches passiert. Die Umstellung des Verfahrens zur Erhebung von Kirchensteuer auf Einkommen aus Kapitalerträgen vergrößerte das Kirchensteueraufkommen. Zugleich erhöhte sich dadurch aber ungewollt die Zahl der Kirchenaustritte. Insgesamt ist ein an der Gestaltung von äußeren Anreizen orientiertes Denken nicht in der Lage, die zentralen Aspekte des kirchlichen Lebens zu erfassen. Der Schwerpunkt liegt hier in der Arbeit am inneren Halt von Menschen, ihrer Lebens- und Weltanschauung und ihrer ethischen Haltungen. Dazu braucht es langfristig angelegte Identifikations-, Bildungs- und Lernprozesse. Das ist ein mühsames Geschäft. Die Arbeit lebt neben den Inhalten, die vermittelt werden, von vertrauensvollen Beziehungen. Sie ist verbunden mit überraschenden Erfolgen, aber auch mit Vergeblichkeitserfahrungen und Rückschlägen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Wer Wirtschaftstheorien im Rahmen seiner Leitungspraxis anwendet, legt damit den Fokus auf bestimmte Aspekte der Wirklichkeit des kirchlichen Lebens. Das kann hilfreich sein, birgt indes zugleich Grenzen, Risiken und Nebenwirkungen, um die man wissen muss.

4 Systemtheoretische Ansätze In kritischer Auseinandersetzung mit betriebswirtschaftlichen Ansätzen wurden im Bereich der Theologie in den letzten 15 Jahren neue kirchentheoretische Konzepte entwickelt. Sie wollen dazu beitragen, den Überblick über das kirchliche Leben zu gewinnen. Die für seine Vitalität und Stabilität wichtigen Punkte sollen in den Blick kommen. Daraus ergeben sich mögliche Spielräume, Zielrichtungen und Handlungsschritte. Entsprechende Ansätze sind nicht ganz leicht zu verstehen. Sie sind zwar nicht komplizierter als ökonomische Theorien, aber ihr Blickwinkel ist ungewohnt. Man braucht eine Weile, um sie zu verstehen. Es ist ähnlich wie beim Studium einer thematischen Karte mit einer Vielzahl spezieller Symbole. Man muss sich einarbeiten. Aber es lohnt sich. Denn mit ihrer Hilfe lassen sich die eigenen Wahrnehmungen weiten. Im Hintergrund aktueller Veröffentlichungen zum Thema steht die neuere Systemtheorie. Sie wurde ursprünglich in der Biologie entwickelt und fragt nach den Beziehungen zwischen den Abläufen in einer Zelle und ihrer Umwelt. Aus einer solchen Sicht betrachtet ist der Mensch kein Einzelwesen mit bestimmten Eigenschaften, sondern Schnittpunkt von Austauschprozessen mit drei Umwelten: biochemischen Abläufen des Körpers im Austausch mit der Natur, seelischen Prozesse des Denkens und Fühlens im Austausch mit kulturell überliefertem Gedankengut und sozialen Beziehungen im Austausch mit anderen Menschen. Diese drei Dimensionen des Menschseins funktionieren nach je eigener Logik. Zugleich setzen sie einander voraus und sind eng miteinander gekoppelt. Jeder dieser Prozesse reicht für sich allein nicht aus, um das Überleben sicherzustellen. Aber in ihrer Kombination wirken sie ausreichend stabilisierend. Diese mehrschichtige Beschreibung des menschlichen Lebens hat gegenüber einer alltagsweltlichen Sicht viele Vorteile. Sie lenkt den Blick auf den Zusammenhang körperlicher, seelischer und sozialer Vorgänge. Sie erlaubt, den Einfluss körperlicher Empfindungen auf das Erleben und umgekehrt den von Gedanken und Gefühlen auf den Körper zu erkennen. Sie zeigt die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen für das körperliche und seelische Wohlbefinden auf und die Auswirkungen von Krankheiten auf die Seele und das Verhältnis zu anderen Menschen. Daraus ergeben sich Ansät-

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Die Kirche lebt von der Logik des Schenkens, nicht von der Logik des Tauschens

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ze zur Behandlung von Krankheiten und psychischen Störungen sowie zur Bearbeitung sozialer Probleme. Auf dieser Vorstellung aufbauend hat der Soziologe Niklas Luhmann gesellschaftliche Zusammenhänge beschrieben und analysiert. Er versteht die Gesellschaft als Gefüge aufeinander bezogener Systeme menschlicher Kommunikation. Dabei unterscheidet er zwischen Interaktion, Organisation und Gesellschaft. Mit dem Begriff der Interaktion bezeichnet Luhmann die Kommunikation unter Anwesenden. Sie bildet die Basis der Gesellschaft, z. B. das gemeinsame Mittagessen in der Familie, die gottesdienstliche Versammlung oder die Sitzung eines Kirchenvorstands. Diese Form der Kommunikation beginnt, wenn Menschen sich begegnen. Sie bricht zusammen, wenn sie sich trennen (vgl. Luhmann 2009, S. 9–24). Die Erfindung der Schrift ermöglichte darüber hinaus eine Form der Kommunikation, die unabhängig davon funktioniert, ob Menschen anwesend sind oder nicht. Mit den Hochkulturen des alten Orients entstanden vor 6.000 Jahren zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte Kommunikationszusammenhänge, die über Begegnungen vor Ort hinausreichen. Lebens- und Weltanschauungen, Normen, Werte, Denkmuster und Kommunikationsstrukturen weiteten sich sowohl örtlich als auch zeitlich enorm aus. Die europäische Kultur verdankt sich einer ununterbrochenen schriftlichen Überlieferungskette, die zurückreicht bis hin zu Menschen, die ihre Gedanken vor 2.600 Jahren in Israel und Griechenland aufschrieben. Die Erfindung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert führte zu einer Intensivierung dieser Art übergreifender Kommunikation. In ihrem Gefolge entstanden mehr und mehr formal organisierte Kommunikationsformen. Sie knüpfen Eintritt und Austritt an Regeln über Ziele, Abläufe, Strukturen und Rollenerwartungen. Dadurch entstehen langfristige Handlungsketten, die unabhängig von der Präsenz einzelner Menschen funktionieren. So hört etwa eine Kirchengemeinde nicht auf, zu existieren, wenn ein:e Pfarrer:in sie verlässt. Denn es wird zwischen Stelle und Person unterschieden. In der Folge wird die Stelle nach formalen Regeln neu besetzt. Von dem:der neuen Pfarrer:in wird erwartet, dass er:sie sich an den gleichen Rollenerwartungen orientiert wie der:die Vorgänger:in. Im Laufe der letzten fünf Jahrhunderte wurden immer mehr gesellschaftliche Aufgaben im Rahmen formal organisierter Kommunikationszusammenhänge erfüllt: Parlamente, Ministerien, Verwaltungsämter, Gerichte, Armeen, Schulen, Universitäten, Unternehmen, Verbände, Medienanstalten, Kirchen, Theater, Vereine u. v. m. Nicht alles lässt sich organisieren. Die Weitergabe von Welt- und Lebensanschauungen, Haltungen, Werten und Traditionen gelingt nur im Rahmen enger interaktionaler Kommunikationsprozesse innerhalb einer Familie im Kontext eines von persönlichen Beziehungen geprägten Gemeinwesens. Was dort nicht geschieht, können Kindertagesstätten, Schulen oder Kirchengemeinden kaum ausgleichen. Die Verlagerung von immer mehr ursprünglich in der Familie wahrgenommenen Aufgaben auf formal organisierte Institutionen hat jedoch die Stabilität der Familie erodiert (Gabriel 1999, S. 28). In der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft sieht die Religionssoziologie den Hauptgrund für die Traditionsabbrüche, die wir seit etwa fünf Jahrzehnten nicht nur im Bereich des christlichen Glaubens erleben. In Anknüpfung an diese Beschreibung der Gesellschaft lässt sich die Kirche als Schnittstelle von drei aufeinander bezogenen Kommunikationsprozessen mit Bezug zu drei Umwelten verstehen. In der Literatur begegnen verwirrenderweise unterschiedliche Begriffe für den gleichen Sachverhalt. So spricht Hans-Richard Reuter (1997) von der Kirche als Glaubensgemeinschaft, Lebensgemeinschaft und Rechtsgemeinschaft. Isolde Karle (2008) nennt als Bezeichnungen Religion, Interaktion und Organisation. Jan Hermelink (2011) beschreibt die verschiedenen Dimensionen des kirchlichen Lebens als Institution, Interaktion und Organisation und fasst sie unter dem Begriff der Inszenierung

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als Grundfunktion der Kirche zusammen. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong (2014) unterscheiden zwischen der Kirche als Institution, Bewegung und Organisation. Gemeint ist im Großen und Ganzen jedoch das Gleiche: – eine inhaltliche Dimension des kirchlichen Lebens im Sinne der religiösen Kommunikation in Gottesdienst, Gebet, Kirchenmusik, sakraler Kunst und Architektur. Sie bezieht sich auf die biblische Tradition und die Theologie als ihrer Umwelt. Diese Grundfunktion steht regelmäßig in Verbindung mit anderen Zwecken wie Erziehung, Kinderbetreuung, Unterhaltung, Freizeitgestaltung, Krisenintervention, Erwachsenenbildung, Kulturarbeit oder Politik. – eine menschliche Dimension der Kommunikation in der Begegnung persönlich Anwesender, die damit verbundenen psycho-sozialen Dynamiken mit Familien, Nachbarschaften, Freundeskreisen und Netzwerken als Umwelt. – eine organisatorische Dimension im Sinne der verfassungsrechtlich, gesetzlich, vertraglich und kirchenrechtlich geregelten, entscheidungsförmigen Kommunikation über Mitgliedschaft, Inhalte, Ziele, Strukturen, Personal und Finanzen. Die Umwelt dazu bilden andere Organisationen. Mit der Unterscheidung zwischen inhaltlicher, menschlicher und organisatorischer Dimension bleibt das kirchliche Leben als Ganzes im Blick. Zugleich erschließen sich verschiedene Ebenen in ihrer jeweiligen Eigenlogik und in ihrem komplexen Zusammenspiel. Keine davon kann die andere ersetzen. Keine kann allein für sich das kirchliche Leben stabilisieren, sondern nur im Zusammenwirken mit den anderen. Die drei Dimensionen mischen sich in der Praxis auf unterschiedliche Weise. So können Gebete sowohl im Rahmen eines von der Kirche organisierten Gottesdienstes stattfinden, auf einem Feuerwehrfest oder einer Schulabschlussfeier als auch in einem Hauskreis, zu Hause am Tisch im Kreise der Familie oder allein im Bett vor dem Einschlafen. Im Leben eines Kirchenchors mischen sich Funktionen religiöser Kommunikation mit kulturellen Zwecken und Bedürfnissen nach Freizeitgestaltung. Es entstehen persönliche Freundschaften, die auch abseits von Proben und Auftritten bis ins Privatleben der Sänger:innen reichen. Dahinter stehen organisatorische Entscheidungen über die Verteilung von Finanzmitteln, die Einrichtung und Besetzung von Stellen, über die Planung von Gottesdiensten und Konzerten u. v. m. Bei der Pfadfinder:innenarbeit kommt das Ziel religiöser Bildung mit Zwecken der Freizeitgestaltung, der Kinderbetreuung und Umwelterziehung zusammen. Sie findet interaktiv in Form von Gruppenstunden und Freizeiten statt. Sie ist zugleich formal organisiert mit Regeln über Ein- und Austritt, Regeln des Zusammenlebens, Kleidung, Verhaltenszumutungen, Leitungsstrukturen und Finanzen. Aus dieser Perspektive betrachtet sind Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit nur begrenzt sinnvolle Kriterien. Die Kirche ist vielmehr dann vital und stabil, wenn die drei Dimensionen des kirchlichen Lebens gut aufeinander bezogen wirken. Sie wird schwächer, wenn sie auseinanderfallen oder die Beziehung zwischen ihnen gestört ist. So waren Kirchengemeinden Anfang der 1990er-Jahre gezwungen, aufgrund der Einführung der Pflegeversicherung ihre Einrichtungen der ambulanten Altenpflege organisatorisch auszugliedern, regional zu bündeln und betriebswirtschaftlich zu professionalisieren.

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Die Kirche als Organismus verstanden existiert ebenso in den drei Dimensionen von körperlichen, seelischen und sozialen Prozessen wie der Mensch als Individuum

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Systemtheoretische Ansätze führen zu anderen Handlungs­ empfehlungen als ökonomische, weil sie menschliche Begegnungen einbeziehen

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Damit gingen auf der Ebene der Interaktion jedoch gewachsene Beziehungen verloren. Die Gemeindeglieder erlebten die Altenpfleger:innen nicht mehr als Teil der Gemeinde, sondern als Dienstleister:innen unter vielen. Auf diese Weise wurde der Zusammenhang von Glaube und Tat geschwächt und damit ein Stück der Glaubwürdigkeit der Kirche. Pfarrer:innen verloren die Übersicht darüber, wer pflegebedürftig war. Die Angestellten der Einrichtungen nahmen kaum noch am kirchlichen Leben teil. In den Kirchenvorständen verschwand das Thema »Diakonie« von der Tagesordnung. Seit einigen Jahren arbeiten Gemeinden deshalb verstärkt daran, das diakonische Handeln wieder stärker vor Ort zu verankern. Umgekehrt bildet die Einführung von Hauskreisen eine Strategie, um das kirchliche Leben zu stärken. Menschen begegnen sich im kleinen Kreis in Privathäusern mit einem hohen Anteil informeller Kommunikation. Religiöse Fragen sind eingebettet in andere Lebensthemen und in das gesellige Miteinander. So kann Vertrauen wachsen. Zugleich müssen Hauskreise organisiert und mit anderen Bereichen des kirchlichen Lebens vor Ort koordiniert werden. Ähnliches gilt für andere Formen des zwanglosen, geselligen Zusammenseins, wie z. B. Kirchcafés oder Gemeindefeste. Man sieht an diesen Beispielen, dass eine systemtheoretisch ausgerichtete Sicht andere Dinge in den Blick nimmt als ökonomische Theorien und zu anderen Handlungsempfehlungen führt (vgl. Stöber 2008). Es kommt wie bei Landkarten auf den Zweck an, für den man sie verwendet. Betriebswirtschaftliche Karten bieten Orientierung bei Fragen von Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit. Das ist in Teilbereichen der kirchlichen Arbeit hilfreich. Zugleich geraten damit das Wesen des christlichen Glaubens und die Ebene menschlicher Begegnungen aus dem Blick. Insgesamt scheinen mir deshalb systemtheoretisch informierte Ansätze als Grundperspektive für Menschen in gemeinde- und kirchenleitender Verantwortung besser geeignet zu sein. Sie bieten wie topografische Karten einen weiten Gesamtblick. Sie machen aber auch bescheiden. Denn sie zeigen das kirchliche Leben als kompliziertes Geflecht, das sich einer direkten Steuerbarkeit größtenteils entzieht. Zusammenfassend gesagt, erweitert eine theoriegeleitete Sicht auf das kirchliche Leben ähnlich wie eine Landkarte den Horizont der eigenen Wahrnehmungen ungemein. Sie konzentriert den Fokus der Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte der Wirklichkeit und kann so dazu beitragen, Probleme zu lösen, vor denen Menschen im Rahmen ihrer gemeinde- und kirchenleitenden Aufgaben stehen. Zugleich ersetzt keine Theorie die eigene Wahrnehmung. Wie beim Wandern muss man sie laufend an praktischen Erfahrungen abgleichen, um Stärken und Schwächen, Reichweite und Grenzen einschätzen zu können.

5 Theorielos glücklich Im Alltag wursteln sich Menschen in kirchlicher Leitungsverantwortung in der Regel pragmatisch durch. Sie gehen kleine Schritte, achten darauf, was sie bewirken und steuern gegebenenfalls nach. Das kann auch aus grundsätzlichen Erwägungen heraus ein sinnvolles Vorgehen sein. In der europäischen Tradition des Denkens fest verankert ist das Konstruieren von Wirklichkeit in gedanklichen Modellen. Diese nutzt man als begriffliche Orientierung in der Praxis, um darauf aufbauend Pläne zu machen, die man dann konsequent umsetzt. Die Tradition reicht zurück bis zu den antiken Philosophen Griechenlands. Anderen Kulturen ist ein solches Vorgehen fremd. So fragt das chinesische Denken nach dem Potenzial einer Situation, nach den Faktoren, die es erlauben, sich von ihr tragen zu lassen. Man »segelt« sozusagen im Wind der Umstände, um mit möglichst wenig eigener Kraft

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den eigenen Nutzen zu mehren. Wenn die Umstände nicht günstig sind, wartet man lieber ab, bis sich die Situation ändert, als sich zu verkämpfen (vgl. Jullien 2006). Die wichtigste Eigenschaft eines Menschen in gemeinde- oder kirchenleitender Verantwortung liegt dann nicht darin, Herausforderungen zu analysieren, sich darauf bezogene Ziele zu setzen und dafür zu sorgen, dass sie konsequent umgesetzt werden. Viel wichtiger ist die Fähigkeit, die in einer Situation liegenden Potenziale zu erkennen und daran zu arbeiten, die ihr zugrunde liegenden Faktoren so zu verändern, dass ein Gefälle entsteht, das den eigenen Interessen zugutekommt. Ziele stehen nicht fest, sondern werden im Lichte dessen, was im Moment erreichbar ist, immer wieder überprüft und gegebenenfalls angepasst. Herausforderungen werden eher gemieden als gesucht, um die eigene Organisation nicht unnötig zu gefährden. Es geht eher um langsame, unmerkliche Entwicklungen als um große, heroisch erkämpfte Erfolge. Diese Vorstellung gleicht der Arbeit eines Gärtners:einer Gärtnerin, der:die nicht ständig an den Pflanzentrieben zieht, um sie zum Wachsen anzuregen. Er:sie wartet geduldig, arbeitet aber zugleich an den Rahmenbedingungen, die Wachstum fördern, indem er:sie den Boden lockert, ihn bewässert, Unkraut jätet und düngt. Es geht darum, dem zu helfen, was von allein kommt, um ein indirektes, diskretes Begleiten der Situation.

Man kann also auch ohne eine theoretische Landkarte der Wirklichkeit glücklich sein. Schließlich finden Fliegen, die im Zimmer wild hin- und hersausen, nicht selten den Weg nach draußen. Man sollte jedoch auf jeden Fall vermeiden, immer wieder an der gleichen Stelle mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Wenn etwas nicht funktioniert, probiert man etwas Neues aus. Und wenn gar nichts mehr hilft, kann man es immer noch mit einer guten Theorie versuchen.

Autor Dr. Christoph Meyns, Pfarrer, Kirchenmusiker, Organisationsentwickler und Geistlicher Begleiter ist seit 2014 als Landesbischof in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig tätig. [email protected]

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Literatur Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 10. Aufl. Göttingen 1986. Dombois, Hans: Das Recht der Gnade. Ökumenisches Kirchenrecht, Witten 1961. Gabriel, Karl: Modernisierung als Organisierung von Religion, in: Michael Krüggeler/Karl Gabriel/Winfried Gebhardt (Hg.): Institution, Organisation, Bewegung. Sozialformen der Religion im Wandel, Opladen 1999. Hauschildt, Eberhard/Pohl-Patalong, Uta: Kirche, Gütersloh 2014. Heckel, Johannes: Initia iuris ecclesiastici Protestantium, München 1950. Hermelink, Jan: Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktisch-theologische Theorie der evangelischen Kirche, Gütersloh 2011. Jullien, François: Vortrag vor Managern über Wirksamkeit und Effizienz in China und im Westen, Berlin 2006. Karle, Isolde: Religion – Interaktion – Organisation, in: Jan Hermelink/Gerhard Wegner (Hg.): Religion – Interaktion – Organisation. Paradoxien kirchlicher Organisation. Niklas Luhmanns frühe Kirchensoziologie und die aktuelle Reform der evangelischen Kirche, Würzburg 2008, S. 237–257. Kierkegaard, Søren: Leben und Walten der Liebe. Einige christliche Erwägungen in Form von Reden, Kopen­ hagen 1847, übersetzt von Albert Dorner und Christoph Schrempf, Jena 1924. Luhmann, Niklas: Interaktion, Organisation, Gesellschaft, Soziologische Aufklärung 2, Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, 6. Aufl., Wiesbaden 2009. Preul, Reiner: Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der evangelischen Kirche, Berlin 1997. Reuter, Hans-Richard: Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, in: Gerhard Rau/Hans-Richard Reuter/ Klaus Schlaich (Hg.): Das Recht der Kirche 1. Zur Theorie des Kirchenrechts. Gütersloh 1997, S. 23–75. Rössler, Dietrich: Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin 1986. Schleiermacher, Friedrich: Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von Jacob Frerichs, Berlin 1850. Siebert, Horst: Der Kobra-Effekt. Wie man Irrwege der Wirtschaftspolitik vermeidet, Stuttgart 2001. Simon, Fritz B.: Gemeinsam sind wir blöd. Die Intelligenz von Unternehmen, Managern und Märkten, 2. Aufl., Heidelberg 2006. Stöber, Anna: Kirche gut beraten? Betrachtung einer Kirchengemeinde aus betriebswirtschaftlicher und funktionalistisch-systemtheoretischer Perspektive, Heidelberg 2005. Wolf, Erik: Ordnung der Kirche. Lehr- und Handbuch des Kirchenrechts auf ökumenischer Basis, Frankfurt a. M. 1960/1961.

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Konflikte Her damit! Andreas Herrmann Î Was erfordern Konflikte von Führungskräften? z Konflikte erfordern Umdenken z Konflikte erfordern Führung z Konflikte erfordern Selbstreflexion z Konflikte erfordern Haltung z Konflikte erfordern Öffentlichkeit

1 Die guten Chancen der bösen Konflikte Schon wieder hat es geknallt. Der geschäftsführende Pfarrer und die neue junge Kollegin im Hauptamtlichenteam der Kirchengemeinde geraten in jeder Dienstbesprechung aneinander. Es geht um Fahrtkosten, Kopiergelder und die Kaffeemaschine. Lässt sich das nicht sachlich klären? Sind das nicht Lappalien? Bei näherem Hinsehen geht es auch um Amtsverständnis, Arbeitsmoral und Informationsweitergabe. Beiden ist nicht klar, was zwischen ihnen immer wieder eskaliert. Der Rest des Teams schweigt betreten oder genervt vom Dauerclinch. Die Dekanin hat nach einigen Vermittlungsversuchen aufgegeben und vermeidet, so gut sie kann, den Kontakt zu beiden oder schaltet sich durch Bemerkungen ein, die sie in ihrer Position stärken, aber zur Konfliktlösung nichts beitragen. Konflikte in Kirchengemeinden und anderen kirchlichen Institutionen sind normal. Gleichzeitig will niemand sie haben, sie werden zuweilen als »böse« diffamiert. Nicht in den Konflikt Involvierte attestieren den Beteiligten mitunter Unfähigkeit, sodass Konflikte oft ignoriert, ausgesessen oder geleugnet werden. Dadurch wachsen sie an, nähren sich durch Konfliktvermeidung, Unehrlichkeit und Schuldgefühle. So verständlich die Frage nach einem Patentrezept, dem richtigen Umgang mit Konflikten, den entscheidenden Tools zur Konfliktbearbeitung ist: Es gibt sie nicht. Dazu sind Konfliktlagen zu divergent, Situationen zu spezifisch, wir Menschen als Beteiligte zu individuell und komplex. Der folgende Artikel möchte daher zu einem Perspektivwechsel in Blick auf Konflikte beitragen: Mithilfe meiner durch Seminare und in Fallarbeiten an konkreten Konflikten gewonnenen Erkenntnisse möchte ich dazu ermutigen, Konflikte als Hauptaufgabe von Führung zu sehen und beherzt anzugehen. Sie zu klären und die darin liegenden Entwicklungsmöglichkeiten zu nutzen. Dies wird nur gelingen, wenn Sie Konflikte als Chancen deuten, sie möglichst gut analysieren und Ihre eigenen Konfliktmechanismen genau reflektiert haben. Natürlich kann dieser Artikel eine Fallarbeit in Seminaren nicht ersetzen. Aber er kann für die zugrundeliegenden Mechanismen und Alternativen sensibilisieren oder bereits gewonnene Erfahrungswerte vertiefen.

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Umdenken Konflikte sind zu wichtig, als dass sie über Schuld und Recht allein den Jurist:innen überlassen werden können

Kirche und Konflikte – das ist kein Liebespaar, im Gegenteil: Vielfach gelten Konflikte als böse. Unter Christ:innen sollte es anders zugehen. Im Milieu kirchlicher Organisationen fallen schnell Begriffe wie Nächstenliebe, Verzicht, Opferbereitschaft und Harmonie, die es aber oft verunmöglichen, divergierende Interessen und Bedürfnisse wahrzunehmen und zur Sprache zu bringen. Die andere Wange hinzuhalten und klug nachzugeben, steht hoch im Kurs. Wenn es Konflikte gibt, dann hat jemand etwas falsch gemacht. Es ist üblich, bei Schwierigkeiten Schuldige und Unschuldige zu suchen. Oft wird auch innerhalb kirchlichen Handelns aus dem Umgang mit Konflikten die Suche nach Schuldigen. Dies gilt es voneinander zu trennen. Konflikte sind Beziehungsmuster, bei denen die Schuldfrage so obsolet ist wie die Frage nach dem Erstauftreten von Henne und Ei. Konflikte sind zu alltäglich und zu wichtig, als dass sie über Schuld und Recht den (Kirchen-)Jurist:innen und ihrem Handwerkszeug überlassen werden können.

Wie in allen lebendigen Systemen (von der Paarbeziehung bis zur global agierenden Organisation) gibt es auch in der Kirche unterschiedliche Interessen und damit Konflikte auf allen Ebenen: zwischen Mitarbeiter:innen, Gemeindemitgliedern, im Kirchenvorstand, in den Ausschüssen, in den Hierarchieebenen u. v. a. Wenn Menschen interagieren, treffen dabei unterschiedliche Wahrnehmungen, Haltungen, Bedürfnisse und Wertungen aufeinander. Diese sind oft konfliktträchtig. Von was ist die Rede, wenn wir von Konflikt sprechen? Diskurs ja, Differenzen, meinetwegen, aber Konflikt? Ein sozialer Konflikt ist nach Friedrich Glasl (2004) eine Interaktion zwischen Individuen, Gruppen, Institutionen oder Organisationen, in der wenigstens eine beteiligte Partei eine Unvereinbarkeit im Denken, Wahrnehmen, Fühlen oder Wollen mit anderen Beteiligten auf eine Art erfährt, die sie als Beeinträchtigung für das eigene Wollen und Handeln erlebt. Das setzt Beziehung voraus (die Konfliktparteien haben miteinander zu tun) und fokussiert auf die empfundene Beeinträchtigung im Handeln.

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Konflikte

Anders gesagt: Der Dissens wirkt sich konkret auf das Handeln aus. Deswegen entbrennt um den Konflikt häufig die verbale Auseinandersetzung, der Streit. Streit ist ebenso normal wie die Tatsache, dass Menschen im Konflikt oft heftige Emotionen haben, sich verunsichert fühlen und an ihre Grenzen stoßen. Knoten und Kreisbewegungen im Denken entstehen, die Wahrnehmung engt sich ein, rigide Vorstellungen (»So muss es sein.« – »So darf es nicht sein.«) wachsen an und vermengen sich mit einem Dringlichkeitsgefühl zu heftigen Emotionen. Ärger, Ohnmacht, Traurigkeit und Angst steigen auf, wenn der Dialog ins Stocken gerät, unfruchtbar wird, erlischt oder destruktives Agieren die Oberhand gewinnt. Niemand will nachgeben, verlieren, erst recht nicht das eigene Gesicht. Einfach die Stelle wechseln, das Amt aufgeben, die Situation auf sich beruhen lassen, keine Entscheidungen treffen, erscheint wie Flucht oder Niederlage. Konflikte haben das Potenzial, unangenehm zu werden. Sie können Verletzungen mit sich bringen, Energie und Zeit binden und stellen in ihrer Bearbeitung oft eine Zumutung dar. Kein Wunder, dass wir versucht sind, den Kopf in den Sand zu stecken. Hilft aber nicht. Konflikte sollten angesprochen werden, nur dann kommt Bewegung in eine festgefahrene Sache oder Beziehung. Konflikte als selbstverständlich und besprechbar, als Chance und Entwicklungsweg zu sehen und möglichst rasch zu behandeln, wäre eine Haltung, die Konflikte schon entschärft, entpathologisiert und damit normalisiert. Führungskräfte, die ein solche Haltung einnehmen, tragen dazu bei, dass Konflikte frühzeitig geklärt und in konstruktive Energie umgewandelt werden können. Denn Konflikte weisen nicht nur auf Probleme hin, sondern fördern Innovation, Umdenken, kreative Lösungen, Selbsterkenntnis und Differenzierungen. Neue Perspektiven und Handlungsspielräume werden sichtbar und lösen Veränderungen aus. Um es auf die Spitze zu treiben: Wo Menschen aufeinandertreffen, entstehen Konflikte, sie sind Lebensantrieb, befördern Veränderungen. Sie sind das Benzin im Motor der Veränderung. Sie gehören deswegen zu den Urgeschichten des Lebens (in vielen Schöpfungsmythen steht am Anfang der Konflikt), durchziehen die hebräische Bibel ebenso wie das Neue Testament, sie prägen außerchristliche Mythen. Manchmal kann es scheinen, dass ich mich im Leben von Konflikt zu Konflikt hangele, ahnend, dass hinter jedem Konflikt ein weiterer liegt. Wenn Konflikte aber allgegenwärtig und unvermeidlich sind und so viel Potenzial bzw. Energie haben, warum sie also nicht gleich packen und nutzen? Konflikte sind kein Zeichen für Führungsschwäche oder dafür, dass jemand »seinen Laden« nicht im Griff hat. Umgekehrt könnte man aber auch sagen: Konflikte zu bearbeiten, ist eine Hauptaufgabe von Führung.

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Eine Unvereinbarkeit im Denken, Wahrnehmen, Fühlen oder Wollen, die als Beeinträchtigung für das eigene Wollen und Handeln erlebt wird

Konflikte sind das Benzin im Motor der Veränderung

Fragen zur Reflexion a. Welche Bedeutung gebe ich Konflikten? b. Woran erkennen meine Mitarbeitenden diese Bedeutungsgebung?

2 Konflikte erfordern Führung »Organisationen sind rund um ihre Aufgabe organisierte Kommunikation und ›bestehen‹ in ihrem Kern aus Kommunikation.« (Seliger 2008, S. 32) Zugespitzt ließe sich sagen, dass Organisationen komplexe Gebilde um Konflikte herum darstellen. Egal, ob es sich um einen Konflikt zwischen Bewahren und Verändern, Fordern und Fördern oder um den Konflikt zwischen Vertrieb und Produktion handelt, um nur einige grundlegende Konflikte zu nennen: Erst wenn Regelabläufe in Verwaltung, Produktion, Forschung, Vertrieb etc. nicht von allein laufen, wenn Ziele nicht erreicht werden, wenn der Absatz nicht stimmt,

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Ohne Konflikte bräuchte es gar keine Führung

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Andreas Herrmann

Wege uneindeutig werden, also erst wenn Entscheidungsnotlagen, erst wenn Konflikte auftauchen, braucht es bestimmte Leitungsqualitäten: Es braucht die Fähigkeit, sich auf den Konflikt zu fokussieren und die Bearbeitung von Konflikten zu fördern, um das Veränderungspotenzial für die Organisation freizusetzen und diese beweglich zu halten. Die zentralen Führungsaufgaben bestehen zum einen darin, Kommunikation aufrecht zu erhalten, zum anderen, Komplexität zu bearbeiten (Seliger 2008, S. 33). Dies gelingt durch die permanente Produktion von Entscheidungen. Dadurch entstehen vorübergehend Orientierung und Sicherheit. Dabei geht es keinesfalls darum, den Konfliktparteien Entscheidungen vorzulegen oder abzunehmen. Vielmehr sollte die Leitungsperson das Gespräch so moderieren, dass sie aus dem Gesagten heraus eine hypothetische Entscheidung formulieren kann, mit der sich die Konfliktparteien wiederum auseinandersetzen müssen. Insofern kann eine Entscheidung als ein weiterer Tropfen Benzin verstanden werden, das den Motor antreibt. (Und selbst wenn ich als Leitungsperson Teil einer Konfliktpartei bin, kann ich entscheiden, die Rolle des:der Mediator:in abzugeben.) »Der Konflikt erzeugt die Entscheidung – und die Entscheidung erzeugt den erneuten Konflikt. Man kommt aus der Ambivalenz nicht heraus. Ein zukunftsfähiges Unternehmen beruht mithin nicht auf der Suche nach Übereinstimmung, sondern übt schöpferische Auseinandersetzung, hält das Unternehmen in produktiver Spannung. Der Umgang mit strukturellen Konflikten wird zur Königsdisziplin für Führungskräfte.« (Sprenger 2020, S. 295) Kirche im evangelischen Sinne hat mit zusätzlichen Schwierigkeiten und Konfliktpotenzialen zu kämpfen. Im Gegensatz zu anderen Organisationen durchdringen sich in ihr spannungsreich drei unterschiedliche Strukturen. Zum einen kommt Kirche nicht um eine hierarchisch-administrative Struktur herum (die in ihrer Form der öffentlichen Verwaltung ähnlich ist). Gleichzeitig dient die synodal-demokratische Struktur der Meinungsbildung und Mehrheitsentscheidung und steht der Hierarchie entgegen. Schließlich werden in der charismatischen Struktur die geistliche Freiheit und Entscheidung des:der Einzelnen in seiner:ihrer Selbstverantwortung vor Gott betont (Böhmer/Klappenbach 2007, S. 150–172). Immer mehr Hierarchiebildung und Bürokratisierung hier, unproduktive und überlastete Ausschüsse und Gremien, die in langwierigen Debatten Entscheidungsschwierigkeiten entwickeln, dort, und charismatische Amtsträger:innen, die nach geistlichen Kriterien und eigenem Gewissen ihr »Ding« verfolgen, bilden eine konfliktträchtige Melange. Selbst wenn niemand überlastet ist und alle perfekt ihre Aufgaben erfüllen, gibt es Spannungen zwischen den drei Strukturen, weil sie nach unterschiedlichen Prinzipien arbeiten und unterschiedliche Dynamiken haben. Die eine Struktur bottom up, die andere top down. Wie sollen hier Entscheidungen getroffen werden, da zusätzlich kirchliche Hierarchien oft mit wenig Entscheidungsbefugnissen ausgestattet sind? Mit dem Amt einhergehende Ambivalenzen (z. B. die Spannung zwischen Dienstaufsicht und Seelsorge) machen es Führungs-

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Konflikte

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kräften zusätzlich schwer und wären einen eigenen Beitrag wert. Wie also den Konflikten begegnen? Potenziell und konkret müssen sich Führungskräfte mit drei Konfliktmöglichkeiten auseinandersetzen: 1. Sie haben mit jemandem/mehreren/strukturell einen Konflikt (Konfliktbeteiligte:r). 2. Sie werden von anderen, die einen Konflikt miteinander haben, als Vermittler:in angesprochen (Vermittler:in) 3. Sie werden aufgefordert, ihre hierarchische Position zu nutzen und den Konflikt zu entscheiden (Entscheider:in) Alle drei Möglichkeiten sind herausfordernd. Strukturelle oder Intrapersonale Konflikte (im Extrem auch psychische Störungen) kommen hinzu und stehen oft im Hintergrund eines sozialen oder interpersonalen Konflikts. Hier kann nicht im Detail der Unterschiedlichkeit aller Konfliktszenarien Rechnung getragen werden. Aus dem Bisherigen sollte jedoch deutlich werden, dass Konflikte zu zentral und komplex sind, als dass man sie einfach laufen lassen könnte. Früher oder später gelangen die Konflikte ohnehin zur Führungsetage. Konflikte erfordern und fordern Führung, und zur Führung im Konflikt gehört immer auch das Führen der eigenen Person. c. Welche Rolle wird mir zugeschrieben und welche will ich einnehmen? Bin ich Konfliktbeteiligte:r – Vermittler:in – Entscheider:in? Kann ich meine Rollen überhaupt klar voneinander trennen? d. Gibt es strukturelle Hintergründe? Oder vermute ich intrapersonale Konflikte?

3 Führung erfordert Selbstreflexion Was leitet die Leitenden? Konflikte erfordern ebenso wie andere zwischenmenschliche Kommunikationssituationen schnelle Reaktionen. Hier sehen sich Führungskräfte damit konfrontiert, dass ihre Handlungsweisen retrospektiv betrachtet eine gewisse Selbstbefremdung hervorrufen und sie sich selbst als impulsgeleitet verstehen. Sätze wie »Wie konnte ich mich nur dazu hinreißen lassen …?« oder »Warum bin ich an der Stelle verstummt und ist mir partout nicht eingefallen, wie ich Herrn:Frau X …?« sind vielen bekannt. Im Nachhinein spielt das Gehirn das vergangene Szenario wieder und wieder mit anderen Dialog- und Reaktionsmöglichkeiten durch. Was passiert da und was gilt es, für die Selbststeuerung zu reflektieren? Die drei großen Ks (Katastrophen, Krisen, Konflikte) lösen im Menschen einen Bedrohungs- und damit Stressmodus aus. Heftige Emotionen (Wut, Ohnmacht, Traurigkeit, Angst) führen zu Verunsicherung. Zusätzlich engt sich die Wahrnehmung ein, rigide und einfache Denkmuster (schwarz – weiß, gewinnen – verlieren, dazugehören – ausgeschlossen werden, geschätzt – entwertet) nehmen überhand, die Handlungskompetenz schmälert sich. Gleichzeitig schaltet der Körper in Alarmbereitschaft um: Herz- und Atemfrequenz beschleunigen sich, andere Körperaktivitäten werden heruntergefahren (z. B. die Verdauung) und die Zeit scheint sich zu verkürzen. Gefühlte Dringlichkeit mahnt zur schnellen Reaktion, während man sich gleichzeitig hilflos, gelähmt und fremdgesteuert fühlt. Die Reiz-Reaktionskette (Reiz – Wahrnehmung – Bedeutungsgebung und Interpretation – Gefühlsreaktion – Re-Aktion) läuft schneller ab als sonst. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass ich im Konflikt verletzt und beschädigt werden kann. Uralte, auf das Überleben fixierte Mechanismen übernehmen die Steuerung, ich nenne es »mein Reptiliengehirn«.

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Wie reagiere ich auf Katastrophen, Krisen, Konflikte?

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Das ist auf der einen Seite schnell und sichert mir bei wirklichen Bedrohungen das Leben, es reagiert aber eingeschränkt und kennt nur Ja/Nein, Hin/Weg, Fight/Flight. Wenn beides nicht geht, folgt Lähmung, Freeze, der Totstellreflex. Natürlich tragen Menschen alle drei Möglichkeiten in sich: kämpfen, fliehen und sich totstellen bzw. sich unterwerfen. Tatsächlich aber liegt meist eine Strategie im Konflikt näher. Jemand flieht in Konflikten z. B. eher oder geht schneller in den Angriffsmodus als eine andere Person. Das ist normal, gleichwohl wenig hilfreich. Die Kenntnis gewohnter Verhaltensmuster in Bezug auf den Umgang mit Konflikten, das was basal reagiert, ist der erste Schritt, um das beschleunigte Reiz-Reaktions-Muster zu verlangsamen oder sogar zu unterbrechen. Welchen »Stil« verfolgen Sie häufiger? – Stil 1 – Resignieren: Rückzug, Vermeidung und Verdrängung – Stil 2 – Sich anpassen: starkes Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Harmonie – Stil 3 – Konkurrieren: starkes Bedürfnis nach Selbstverwirklichung – Stil 4 – Kompromisse schließen: starkes Bedürfnis nach schnellen Lösungen und geordneten Verhältnissen, damit jede:r weiterarbeiten kann, funktional – Stil 5 – Kooperieren: Bedürfnis nach Integration, Verhandlung und Zusammenarbeit Gute Konfliktklärung erfordert ein »antiintuitives Verhalten« (Simon 2010, S. 8). Konflikte bringen uns in Problemlagen, die mit altvertrauten Strategien nicht zu bewältigen sind. Es gilt, zu verlangsamen. Inne(n)zuhalten. Das ist schwer, denn es existieren Spannungen und ich möchte möglichst spannungsfrei leben. Da sind Einschränkungen und ich möchte möglichst frei sein. Da sind Bedeutungsgebungen, die kognitive Dissonanz erzeugen, und ich möchte nicht verrückt werden. Da sind Gefühle und ich möchte ruhig bleiben. Da sind Assoziationen, Hypothesenketten, Mindsets, Szenarien und ich möchte auch wieder abschalten können von so viel Denken. Da sind Bedürfnisse und ich merke, sie passen nicht zu den Bedürfnissen anderer.

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Konflikte

Wie geht verlangsamen? 1. Wahrnehmung Es gilt, die Aufmerksamkeit von all dem, was um mich herum ist und so viel Gewicht bekommen hat, auf mich selbst zu lenken. Erden und zentrieren könnte man das nennen. Was passiert da gerade in mir? Wie ist meine Wahrnehmung schon verzerrt durch Ängste, Erfahrungen, Bedürfnisse? Der Wahrnehmungsverengung gilt es entgegenzuwirken, indem ich bewusst mich selbst wahrnehme, meine Antennen wieder auf Empfang stelle und nicht permanent sende. Ich nehme neue Wahrnehmungsperspektiven ein. 2. Bedeutungsgebung Die schnelle Bedeutungsgebung wird verlangsamt, indem ich mehr Hypothesen bilde, wie sich ein Verhalten, eine Situation deuten lässt. Wenn ich nur (m)eine Hypothese habe, verwechsle ich sie schnell mit der Wahrheit. Ich deute das eigene Verhalten nicht mehr nur als Reaktion auf das Verhalten des:der anderen. Ich sehe, dass der:die andere auf mich reagiert. Ich deute zirkulär und verabschiede mich von richtig und falsch. Ich vergegenwärtige mir persönliche Sichtweisen, ethische Grundhaltungen und Glaubenssätze, die sich auf den Konflikt auswirken (wie z. B. meine Einstellung zu Streit und Aggression etc.). 3. Emotionen Ich verlangsame, indem ich mir meine Gefühle bewusst mache. Wenn jemand sagt: »Jetzt lassen Sie uns mal sachlich bleiben!«, ist das in aller Regel ein Hinweis darauf, dass es um alles andere geht, aber nicht um die Sache. Unter den Emotionen liegen die nicht erfüllten Bedürfnisse und die brauche ich für eine Konfliktklärung. So sind die Emotionen wunderbare Hinweise und Transporter zu den eigentlichen Bedürfnissen. Wie reagiere ich auf den Konflikt? Ängstlich und hilflos oder stelle ich mich ihm mutig? Was befürchte ich? Viele Menschen wollen verstanden, nicht belehrt werden. Was in mir will gesehen, gehört und verstanden werden, was bei dem:der anderen? 4. Aus der Linie treten Handeln verlangsamen heißt hier: aus der Linie treten – mich nicht treffen lassen und erkennen, welche Handlungsimpulse ich habe. Will ich den Konflikt aktiv, offen und kooperativ angehen oder weiche ich aus, wehre ab, reagiere aggressiv? Geht es mir um Interessensausgleich, um Regelungen und Recht oder Macht? Konfliktklärung ist leichter in dieser Verlangsamung. Denn vor der Situations-, System- und Interaktionsklärung hilft die Selbstklärung (und Rollenklärung) für ein gutes Standing. Neben der Störungsklärung (Wer/Was ist beeinträchtigt, gestört, lahmgelegt? Nicht: Um was geht es?) geht es im Handeln um Klarheit. Klarheit im Benennen. Klarheit in der Betonung der Veränderung. Klarheit in der Verdeutlichung meines Wollens als Führungskraft. Klarheit in der Darstellung der divergierenden Bedürfnislagen. Klarheit in der Zielbeschreibung (nicht Klarheit in den Ursachen!).

4 Führung durch Haltung Superintendent:innen, Pröpst:innen, Dekan:innen oder Kirchenrät:innen und andere Leitungsverantwortliche sind in aller Regel nicht als Mediator:innen oder Konfliktspezialist:innen ausgebildet. Sie können zwar auf Fachleute zurückgreifen. Gleichzeitig erwarten Mitarbeiter:innen aber zu Recht gerade in Konflikten Führung. Wenn Vorgesetzte allerdings mit väterlicher:mütterlicher Geste Konfliktparteien zum Gespräch bitten (zi-

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Es lohnt sich, anstatt vorschnell zu reagieren, sich für die Reflexion Zeit zu nehmen

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tieren), Versöhnung anmahnen, und wenn dies nicht gelingt, wenn autoritäre und nicht den Konflikt wahrnehmende Entscheidungen drohen, vertiefen sich meist die Konfliktgräben. Wird die Entscheidung auf eine dritte, strukturell übergeordnete Instanz verlagert, kann schnell die Verantwortung für das weitere Miteinander von den eigentlichen Konfliktbeteiligten auf diese Person übertragen werden, sodass sich der Konflikt nur verschärft. Insofern wäre ein solcher Eingriff als inadäquat zu deuten. Was bleibt dann? Erstens nehmen Führungskräfte mit einer grundsätzlich bejahenden Haltung gegenüber Konflikten großen Einfluss auf deren Entwicklung und Besprechbarkeit. Zweitens gilt es, statt auf eine Konfliktlösung zu beharren, Konfliktklärungsprozesse anzuregen. Es geht darum, sich selbst, die eigene Rolle mit daraus erforderlichen oder nicht erforderlichen Positionierungen sowie die damit verbundenen Interessen, die Situation und mögliche nächste Schritte zu klären. Und dies in einer Weise, die es allen Beteiligten ermöglicht, trotz aller Differenzen, den Konfliktpartner:innen mit Achtung zu begegnen. Dieser Shift vom Lösungs- oder Beseitigungszwang hin zur Konfliktklärung eröffnet Verständigung, Entspannung, Kreativität, Interesse und würdigt die Bedeutsamkeit des Konflikts und der damit verbundenen divergierenden Bedürfnisse. Für Klärungsprozesse kann die Führungskraft ihr gesamtes Kommunikationsinstrumentarium nutzen (Ich-Botschaften, Aktives Zuhören, zwischen Inhalt und Beziehung und Sache und Person unterscheiden, Metakommunikation initiieren, Gewaltfreie Kommunikation etc.). Ebenso wie in einer Mediation oder Supervision müssen die Hintergründe eines Konflikts aufgedeckt werden, also Motive wie Anerkennung, Angst vor Prestigeverlust, mangelndes Zutrauen in die Verlässlichkeit des:der jeweils anderen etc., bevor strukturelle Klärungen oder inhaltliche Vereinbarungen gelingen. Dafür gibt es hilfreiche Ansätze bzw. Linien, hinter die Leitung nicht zurückfallen sollte. Einige, grundsätzliche Linien werden hier gezeichnet.

1. Das (systemisch-konstruktivistische) Wirklichkeitsverständnis Klärungsgespräche gehen davon aus, dass es viele Wirklichkeiten gibt (sonst wäre ja schon allen alles klar), und suchen nicht nach Recht und Wahrheit, sondern nach Hypothesen und Ideen, die möglichst viel Verständigung erzeugen und die sowohl Sichtweisen wie Interessen der Beteiligten berücksichtigen. Das gelingt nicht ohne die Bereitschaft, etwas zu lernen, über sich, den:die andere:n und die Situation. Erst wenn auf beiden Seiten das Verständnis wächst, wird aus einer Konfliktklärung eine Konfliktlösung und sogar eine tragfähige Vereinbarung.

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2. Das systemische Verständnis Konflikte sind Beziehungs- und Interaktionsmuster und stellen immer auch Beziehung her oder halten sie aufrecht. (Manche Eheleute sagen übereinander: »Das Einzige, was uns verbindet, ist der Streit.«) Durch Analyse der Interaktionsmuster im Konflikt ergeben sich andere Sichtweisen und Fragestellungen. So muss z. B. der:die Symptomträger:in eines Konflikts nicht zum:zur schwierigen Mitarbeiter:in deklariert werden. Die Konfliktdynamik ist wesentlicher als eine Fokussierung auf individuellen Kompetenzmangel oder verurteilende Schuldzuschreibungen (nach dem Motto: »Immer willst du mit mir streiten!«). Welche Wechselwirkungen der Konfliktbeteiligten lassen sich beobachten? Welche strukturellen Schwierigkeiten oder Divergenzen stehen im Hintergrund oder schieben ihn zusätzlich an? Das ganze System, Teufelskreise, Konfliktspiralen und die Beteiligung der Konfliktparteien rücken in den Fokus und die Veränderung des Interaktionsmusters wird wesentlicher als eine personenorientierte Problemfokussierung. Um es banal auszudrücken: Die Katze und der Hund sind vollkommen in Ordnung. Nur wenn sie zusammenkommen, dann entsteht eine Wechselwirkung, die es zu verstehen und zu verändern gilt. 3. Das diagnostische Verständnis Um Konflikte zu bearbeiten, ist es wichtig, sie einzuordnen und darüber verstehbarer zu machen. Dies gelingt durch vielfältige Fragestellungen und damit Unterschiedsbildung. Eine Konfliktanalyse in sieben Schritten/Fragen finden Sie im folgenden Kasten. Weitere wesentliche Fragen zur Unterschiedsbildung finden Sie am Schluss dieses Beitrages (die Columbotechnik). Konfliktanalyse in 7 Schritten 1. Wer ist beteiligt? 2. Emotionale Beweggründe, Bedürfnislagen, Werte, Regeln, die eine Rolle spielen? 3. Konfliktgeschichte? Entwicklung? Dynamik? Wie hat sich der Konflikt bisher gezeigt und ausgewirkt? Was beeinflusst den Konflikt von außen (Ressourcen, andere Personen …)? 4. Um welche Art von Konflikt handelt es sich? Wie wurde der Konflikt bisher gedeutet, die Situation erklärt? 5. Was sind die zentralen Regelkreise des Konflikts? Was macht A, wenn B … und wie reagiert dann C? Welche wiederkehrenden Verhaltensmuster lassen sich erkennen? 6. Welche Funktion hat der Konflikt? Ventilthema? Stellvertreter:inkonflikt? Um was geht es wirklich? Worüber wird im Konflikt nicht gesprochen? 7. Was ist der vermutete Konfliktgewinn? Was passiert, wenn nichts passiert? Wer entscheidet eigentlich?

Ein wesentlicher Schritt zum Verständnis des Konflikts ist die Frage nach den Konfliktarten. Geht es um Konkurrenz, Überschneidung von Kompetenzen, unklare Verteilung der Arbeitsgebiete, die Beliebtheit in der Gemeinde, den besseren Draht zum Kirchenvorstand …? Durch Hypothesenbildung, um welchen Konflikt es tatsächlich geht, schärft sich die Wahrnehmung und das Verständnis für den Konflikt. Um die Komplexität anzudeuten, sind hier die wichtigsten Konfliktarten benannt. Wir unterscheiden substanzielle von affektiven, latente von manifesten Konflikten, symmetrische von asymmetrischen, heiße von kalten Konflikten, formgebundene von formlosen, Ziel- von Methodenkonflikten, Sach- von Beziehungskonflikten, Werte- von Rollenkonflikten. Daneben gibt es Beteiligungs-, Konkurrenz- und Rivalitätskonflikte, Rang- und Autoritätskonflikte, Zugehörigkeits- und Loyalitätskonflikte, Normkonflikte, Konflikte über Rituale, Belohnungs- oder Sanktionsmecha-

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nismen und so genannte perceived conflicts (vorgestellte Konflikte). Besondere Beachtung verdienen in Zeiten knapper werdender Ressourcen sicherlich auch Verteilungskonflikte. Die meisten Konflikte sind Mischformen. Gleichzeitig lassen sich bei allen Konfliktformen vier Ebenen betrachten: rationale Ebene (Sache) –emotionale Ebene (Personen und ihre Gefühle) – soziale Ebene (Beziehung der Konfliktparteien untereinander und Auswirkungen des Konflikts ins soziale Feld) – systemische Ebene (Funktion und Relevanz des Konflikts im und für das System und die Struktur z. B. des Unternehmens). Zu den bedeutsamen Phasen der Konfliktentwicklung bzw. Eskalationsstufen (es gibt immer eine Konfliktgeschichte) sei auf Friedrich Glasl (2004) verwiesen. Ein anderes psychologisch interessantes Modell findet sich als »Fieberkurve der Konfliktentwicklung« bei Christoph Thomann (2004). Im Konfliktgespräch Für das Konfliktgespräch (ob Sie es nun moderieren oder Beteiligte:r sind) haben sich mehrere Vorgehensweisen als hilfreich herausgestellt: 1. Vertrauen, Gesprächsbasis herstellen – durch klare Gesprächsstruktur und Regeln – Moderation – Gefühle respektieren – Bereitschaft signalisieren, zuhören und verstehen zu wollen 2. Den Konflikt klären (jetzt ist allen klar, um was es geht) – Raum geben, den Konflikt in allen Ebenen (Sache/Person/Interaktion/Struktur) zu beleuchten – Interesse zeigen, die Sichtweise des:der anderen verstehen zu wollen (verstehen heißt nicht, einverstanden zu sein), durch ruhiges Nachfragen und nicht kommentieren – Erklärungshilfen geben, sich selbst klar äußern – Übergeordnete Interessen benennen 3. Den Konflikt eingrenzen – Abklären, wo Positionen übereinstimmen und wo sie divergieren; es ist leichter, Gegensätze zu bearbeiten, wenn bestehende Gemeinsamkeiten benannt werden. – Was ist unstrittig? – Fehler, Missgeschicke eingestehen 4. Ziele/Konsequenzen benennen – Ziel des Gesprächs wertschätzend benennen – Überprüfen, ob gemeinsames Ziel gefunden werden kann – Konsequenzen miteinander bedenken: Was passiert, wenn kein gemeinsames Gesprächsziel gefunden wird? – Was passiert, wenn der Konflikt bestehen bleibt? Sich klärt? 5. Etwas anders machen – »Wenn etwas nicht funktioniert, mach etwas anderes.« Nicht mehr von dem ausgehen, was vorher schon nicht funktioniert hat. Systemisch gesehen ist jeder Konflikt Ergebnis eines Interaktionsgeschehens. Potenziell kann also auch jede Bewegung innerhalb des Systems zu vertieftem Verständnis und stärkender Interaktion beitragen. – Veränderung der Wahrnehmungsperspektive – Ich-Position (mir bekannt): »Ich sehe ein Dreieck.« – Du-Position (mir nur vermittelt bekannt): »Ich sehe ein Viereck mit 2 Kreuzdiagonalen.« – Meta-Position (aus Abstraktion gewonnen): »Ich erkenne eine Pyramide.« – Veränderung der eigenen, subjektiven Konfliktdeutung. Eine starke menschliche Umdeutungsfähigkeit ist der Humor. Hier ist jedoch im Konflikt Vorsicht geboten, da Humor auf eine ähnliche Konstitution des Gegenübers angewiesen ist.

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– Veränderung der sozialen Regeln (z. B. nicht jede:r darf aussprechen, sondern jede:r hat Redezeit) – Veränderung des eigenen Verhaltens in Konfliktregelkreisen (z. B. Konfliktpartner:in um Unterstützung bitten, klar Position beziehen, das Gleiche machen wie der:die Konfliktpartner:in, auf Distanz gehen …) – Veränderung der Systemumwelt (z. B. würden mehr Ressourcen viele Konflikte entschärfen) – Veränderung der Ressource Zeit (z. B. erst mal »vom Gas« gehen)

Wie kann es gehen, dass Konflikte nicht einfach erlitten werden oder zu den berühmten »faulen Kompromissen« führen, mit denen die Bedürfnislagen aller Beteiligten kaum befriedigt werden können und die dazu beitragen, dass der Konflikt nicht befriedet wird, sondern allzu oft nur in den Untergrund abwandert, um wo und wann anders wieder an die Oberfläche zu schwappen. Bewusst wurde oben von drei Verständnislinien (Wirklichkeitsverständnis, systemisches Verständnis, diagnostisches Verständnis) gesprochen. Denn Konflikte erfordern ein Mehr an Verständigung und Verständnis. Erst wenn die sich hinter den Konfliktpositionen verbergenden Interessen, Bedürfnisse, Verletzungen, Enttäuschungen herausgefunden werden, dann entsteht Verständnis – eine Art Verstehensbrücke, über die eine für die Konfliktparteien nachvollziehbare Klärung herbeigeführt werden kann, bei der alle ihr Gesicht wahren. Wenn sich alle Konfliktparteien auf solch einen Klärungsprozess einlassen und akzeptieren, dass es nie nur um die Sache geht, wenn sie die Bereitschaft aufbringen, auf Vergeltung zu verzichten, und in der gegenseitigen Wahrnehmung, des Handelns und der je eigenen Anteile am Konflikt auch das Verständnis füreinander wächst, können sowohl Perspektiven in die Zukunft hinein möglich sein wie auch Veränderungsprozesse angestoßen werden.

Denn Konflikte erfordern ein mehr an Verständigung und Verständnis

5 Konflikte und Öffentlichkeit Kirche als lebendiges System ist andauernden Veränderungsprozessen unterworfen. Hauptamtlichenteams, Aufgabengebiete, Kirchenvorstände verändern sich, Gemeinden werden umstrukturiert, Personal und Sachzuwendungen eingespart oder aufgestockt, und gleichzeitig korrespondieren manche innerkirchlichen Prozesse mit gesellschaftlichen Bewegungen: Kirchenaus- und -eintritte, neue politische Bewegungen, Veränderung spiritueller Angebote, gesellschaftliche Krisen etc. In all diesen Herausforderungen und Entscheidungslagen suchen Menschen nach zukunftsorientierten Konzepten. Veränderungen brauchen eine Zielrichtung, über diese muss man auch streiten können. Es geht nicht darum, Kirche zur konfliktfreien Zone zu erklären, sondern den Konflikt zu nutzen und im Blick zu haben, dass manche Sachentscheidungen gleichzeitig auch Weichenstellungen für Glaubensausrichtungen und Werthaltungen einer Gemeinde sind. Werden solche »Richtungskonflikte« nicht offen ausgetragen, werden sie zum Schwelbrand, der Arbeitsatmosphäre und Arbeitsresultate dauerhaft beeinträchtigt und irgendwann Feuer fängt. Konflikte werden immer »laut«. Sie bleiben nicht im stillen Kämmerlein verborgen. Sie werden wahrgenommen. Konflikte haben deswegen mit Öffentlichkeit zu tun. Ein Konflikt z. B. zwischen Kirchenvorstand und geschäftsführender Pfarrperson kann nicht unter dem Teppich gekehrt werden. Dadurch gewinnt die Frage der Transparenz an Gewicht. Wie transportiert sich der Konflikt in die Gesamtgemeinde, in die politische Gemeinde, wenn er nicht kommuni-

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In welche Richtung kann die durch den Konflikt angestoßene Veränderung zielen?

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ziert wird? Wie lässt er sich nach außen hin darstellen, ohne dass eine:r der Beteiligten das Gesicht verliert? Welche Konfliktkultur wird dabei deutlich? Es geht nicht um die Frage, ob gestritten wird. Menschen beäugen kritisch, wie in der Kirche gestritten wird. Es geht nie nur um die Klärung eines einmaligen Konflikts, sondern gleichzeitig darum, wie ich im Umgang mit diesem Konflikt einen Stil in meiner Gemeinde prägen kann, der an dem konkreten Ort stellvertretend für die Konfliktkultur einer ganzen Organisation wahrgenommen werden kann. Letztlich geht es um die Wertschätzung des Konflikts, um Personalverantwortung und Fürsorgepflicht, sowohl für die einzelnen Mitarbeiter:innen wie auch die Gesamtgemeinde, und welche Außenwahrnehmungen die damit verbundenen Haltungen und Interaktionen auslösen. Gleichwohl sollte nicht jedem Arbeitskonflikt eine solche öffentlichkeitswirksame Bedeutung zugeschrieben werden. Hier gilt es, selbst ein Gespür für das Gewicht des Konflikts zu entwickeln. Was aber, wenn die Reibungsverluste schwerer wiegen als der Konfliktgewinn?

Dass auch mit den besten Strategien und Interventionen nicht immer das gelingt, was man sich erhofft, liegt auf der Hand und nährt vielleicht auch das Unbehagen im Blick auf Konfliktsituationen. Gehen Sie nie in den Konflikt, wenn Sie die Trennung als potenzielle Möglichkeit nicht in Kauf nehmen, denn sie ist immer eine Option. Schon in jeder Paarbeziehung wird deutlich, dass niemand die Entwicklungen zielgerichtet steuern kann. Wie dann erst in noch komplexeren Systemen? Jede:r kann allerdings etwas beitragen, indem er:sie das kreative Potenzial des Konflikts nutzt. Wenn dies unmöglich erscheint, dann gilt es, die Eskalation des Konflikts zu verhindern. Gerade im Zeichen der Geschwisterlichkeit sollten wir Konflikte offen bearbeiten und nicht durch Vermeidungs- und Verschleppungstaktiken eine nachhaltige Belastung der Atmosphäre und des menschlichen Miteinanders und damit eine Beeinträchtigung von Glaubwürdigkeit und Effizienz kirchlicher Arbeit in Kauf nehmen. Wir brauchen keine Harmonie im Außen hochzuhalten, der im Innern keine Wirklichkeit entspricht. Jesu Kritik von den übertünchten Gräbern, die im Innern voll Totengebein sind, dürfen wir getrost auch auf eine innerkirchlich weitverbreitete Konfliktscheu beziehen.

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Also: Her mit dem Konflikt! Denn die Harmonie kommt nach dem Konflikt. Nicht davor. Davor nennen wir sie »Friedhöflichkeit« (Schulz-von Thun 2006, S. 48). Was als Eskalationsprophylaxe gut funktioniert 1. Gehen Sie mindestens einmal im Jahr mit Ihrem Team in Klausur. Sprechen Sie moderiert (von einem:einer unabhängigen Moderator:in) über verschiedene Rollen, Bezüge, Interaktionen und Widersprüche. Tauschen Sie sich über gelingende und nicht effektive Kommunikation und Kooperation aus. Laden Sie explizit dazu ein, auf den Tisch zu legen, wo es Irritationen, Versäumnisse, Ärgernisse, Ängste, Enttäuschungen etc. gibt und welche Bedürfnisse mehr Beachtung brauchen. Moderiert und unter Beachtung einiger Spielregeln (z. B. »No Blame Approach«, Thema ist das Team und explizit nichts Organisatorisches) und mit dem Ziel, Zukunft für alle möglichst gut zu gestalten, ist das Gold wert. 2. Werten Sie Widerstand, Gegenwind und Kritik positiv (man kann sich nur auf etwas stützen, das Widerstand leistet!) und laden Sie dazu ein: »Danke, dass Sie mein Augenmerk auf dieses Problem/diesen Fehler/diese Unstimmigkeit richten …«; »Welche Ideen haben Sie dazu, dass mein Vorhaben/diese Strategie etc. misslingen wird?« … 3. Lassen Sie sich supervidieren. 4. Suchen Sie sich eine kollegiale Intervisionsgruppe (Menschen in ähnlichen Strukturen mit ähnlichen Aufgaben wie Sie, mit denen Sie aber in keinem Arbeitskontext verbunden sind) und bringen Sie Ihre Fälle ein. 5. Holen Sie sich Feedback! 6. Es wird viel zu wenig gefragt (vielleicht aus Erleichterung, dass der erste Brand gelöscht ist): Wie erhalten sich Konflikte aufrecht? Die Prozesse der Konfliktbewältigung sind viel wichtiger als deren Resultate.

Fragen für die Praxis 1. Wie wird Entstehung und Verlauf des Konflikts beschrieben? 2. Wer sind für wen relevante Akteur:innen? 3. Was gibt es für Handlungsoptionen? Was sind die Szenarien der möglichen Folgen welcher Entscheidungen? Wie sind die Kosten-Nutzen-Rechnungen, materiell, ideell, emotional, sozial, in der Öffentlichkeit? 4. Wie kommen Entscheidungen im Konfliktsystem zustande? Unter welchen Voraussetzungen? Wer muss einbezogen werden? Wer trägt die Verantwortung? Was passiert, wenn keine Entscheidungen getroffen werden? 5. Stellen Sie sich vor, der Konflikt ist gelöst bzw. entschieden: Was ist dann alles anders als jetzt? Was wird unverändert sein? Wer tut was, was er:sie jetzt (noch) nicht macht? Wer macht etwas nicht mehr, was er:sie jetzt (noch) macht? 6. Wie lange will ich mir Zeit geben, um diesen Konflikt zu lösen? Wenn ich ihn nicht löse, welche Folgen wird das haben? Sachlich, beziehungsmäßig, emotional? 7. Wer beobachtet außerhalb der Konfliktparteien den Konflikt? Wer wird sich wann wie einmischen, wenn die jetzigen Konfliktparteien den Konflikt nicht lösen? 8. Welche Zukunftsszenarien lassen sich fantasieren: Wenn alles denkbar schlecht läuft? Wenn es gerade so erträglich läuft? Wenn es optimal läuft? Welches Szenario davon halten Sie für am wahrscheinlichsten? 9. Wenn Sie wollten, dass Ihr Gegenpart auf keinen Fall tut, was Sie von ihm:ihr wollen, wie könnten Sie das am ehesten schaffen? Wie war seine:ihre »Opposition« in der Vergangenheit am leichtesten zu erreichen? Was bringt ihn:sie am schnellsten auf die Palme? Welche konkreten Schritte könnten Sie unternehmen, wenn Sie die Eskalation anheizen wollen?

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10. Wenn Sie Ihre:n Gegner:in kränken oder ihm:ihr seine:ihre Ehre nehmen wollen, worauf würde er:sie am zuverlässigsten reagieren? Wie könnten Sie ihn:sie schnell von friedlichen Gedanken abbringen? Was denken Sie, sind die Minimalziele Ihres Gegenübers, von denen er:sie nicht abrücken wird, ohne das Gefühl zu haben, das Gesicht zu verlieren? Welchen minimalen Gewinn braucht er:sie, um aus dem Konflikt aussteigen zu können? Wenn es das Ziel wäre, gemeinsam in den Abgrund zu gehen, wie könnte dies am schnellsten, schmerzvollsten, teuersten etc. erreicht werden? Wer müsste was wann wie tun? Wie könnte hier am besten kooperiert werden?

Autor Andreas Herrmann, Systemischer Therapeut (DGSF), Supervisor (DGSv), Mediator (BAFM) und Diplomreligionspädagoge, ist in eigener Praxis tätig und seit 2004 Mitarbeiter in der Abteilung Pastoralpsychologie des Evangelischen Beratungszentrums München. [email protected] und [email protected]

Literatur Baumann-Habersack, Frank H.: Führen mit transformativer Autorität. Die neue Praxis wirksamer Konfliktbearbeitung, Göttingen 2020. Benien, Karl: Schwierige Gespräche führen. Modelle für Beratungs-, Kritik- und Konfliktgespräche im Berufsalltag, Hamburg 2003. Böhmer, Annegret/Klappenbach, Doris: Mit Humor und Eleganz. Supervision und Coaching in Organisationen und Institutionen, Paderborn 2007. Glasl, Friedrich: Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater, Bern 2004. Kellner, Hedwig: Konflikte verstehen, verhindern, lösen. Konfliktmanagement für Führungskräfte, München 1999. Pohl, Dieter: Konflikte in der Kirche – kompetent und kreativ lösen, Neukirchen-Vluyn 2003. Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Differentielle Psychologie der Kommunikation, Hamburg 2006. Schwarz, Gerhard: Konfliktmanagement. Konflikte erkennen, analysieren, lösen, Wiesbaden 2010. Seliger, Ruth: Das Dschungelbuch der Führung, Ein Navigationssystem für Führungskräfte, Heidelberg 2008. Simon, Fritz B.: Einführung in die Systemtheorie des Konflikts, Heidelberg 2010. Sprenger, Reinhard K.: Magie des Konflikts. Warum ihn jeder braucht und wie er uns weiterbringt, München 2020. Thomann, Christoph/Schulz von Thun, Friedemann: Klärungshilfe 1. Handbuch für Therapeuten, Gesprächshelfer und Moderatoren in schwierigen Gesprächen, Hamburg 2003. Thomann, Christoph: Klärungshilfe 2. Konflikte im Beruf: Methoden und Modelle klärender Gespräche, Hamburg 2004. Thomann, Christoph: Klärungshilfe 3. Das Praxisbuch, Hamburg 2007.

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Leiten im Geist Leiten als Geistliche:r

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Detlef Dieckmann Î Welche Ansätze verbinden sich mit dem Begriff der »Geistlichen Leitung«? Î Wie kann sich kirchenleitendes Handeln am Auftrag der Kirche orientieren? Î Kann in Entscheidungsprozessen dem Geist Raum gegeben werden? Î Welche Perspektiven eröffnet die biblische Rede vom Geist für das Leitungshandeln?

1 Unsichtbar und äußerst wirksam: der gute Geist »In jeder menschlichen Gemeinschaft gibt es etwas, das sie wie ein inneres Band zusammenhält«, sagt der Neurobiologe Gerald Hüther (2017, S. 129; Hervorhebungen D. D.): »Ähnlich wie die […] inneren Haltungen und Einstellungen, die das Denken, Fühlen und Handeln eines einzelnen Menschen bestimmen, wird all das, wofür sich die Mitglieder einer menschlichen Gemeinschaft einsetzen, was ihnen wichtig und bedeutsam ist, was sie im Innersten zusammenhält, durch etwas bestimmt, das genauso unsichtbar ist wie diese inneren Einstellungen. Es ist der Geist, von dem die betreffende Gemeinschaft getragen ist. […] Normalerweise wird das Denken, Fühlen und Handeln einer Gemeinschaft durch diesen gemeinsamen Geist so gelenkt, dass die betreffende Gemeinschaft genau das zu leisten und weiterzuführen imstande ist, was sie zusammengeführt hat, aus welchem Grund und zu welchem Zweck sie sich herausgebildet hat.«

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Der Geist, von dem eine Gemeinschaft getragen ist …

… hält zusammen, lenkt, beseelt, bewegt …

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Detlef Dieckmann

Der »gute Geist«, den Gerald Hüther (2017, S. 130) hier beschreibt, ist sozusagen das Herz einer Gemeinschaft: Dieser Geist stiftet die Gemeinschaft, »beseelt« und bewegt diejenigen, die ihr angehören. Fragen zur Reflexion a. Habe ich diesen guten Geist schon einmal erlebt? Wo? Wie hat sich das angefühlt? Welche Rolle habe ich dabei gespielt? Hat mich das verändert, hat dies meine Haltungen und inneren Einstellungen beeinflusst? b. Wenn ich morgen früh aufwachen würde und in meiner Familie, an meiner Arbeitsstelle oder/und in einem anderen Bereich meines Lebens würde ein guter Geist herrschen, wie sähe das konkret aus?

2 Wenn der gute Geist verschwindet Aber es gibt nicht nur den guten Geist:

Schwindet der gute Geist, verkümmert die Gemeinschaft

Manchmal »verschwindet der gute Geist dieser Gemeinschaft und sein Platz wird von einem anderen Geist besetzt […]. Er beginnt, das Klima […] zu beherrschen, und die Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft machen dann die Erfahrung, dass sie nur noch verwaltet, umhergeschoben und ausgenutzt werden. Aufgrund der dabei gemachten Erfahrungen verfestigen sich in ihrem Frontalhirn dann genau solche Haltungen und inneren Einstellungen, die zu diesem eigenartigen Geist passen […]. Wenn es eine Gemeinschaft so weit gebracht hat, mag sie vielleicht noch eine Zeit lang überleben. Sie funktioniert dann jedoch nur noch und entwickelt sich nicht weiter. […] Sie wird zu einer Kümmerversion dessen, was sie ursprünglich einmal war und was aus ihr in Zukunft noch werden könnte« (Hüther 2017, 130–131; Hervorhebungen D. D.).

c. Habe ich diesen »anderen Geist« schon einmal erlebt? Wo? Wie hat sich das angefühlt? Welche Rolle habe ich dabei gespielt? Hat mich das verändert, hat dies meine Haltungen und inneren Einstellungen beeinflusst? d. Wenn ich diesen anderen Geist schon einmal erlebt habe, woran habe ich ihn erkannt? e. Welchen Namen könnte dieser andere Geist tragen? Misstrauen, Funktionalisierung, Geringschätzung, Dominanz, Desinteresse …? f. Was sind meine Kriterien, um den guten von dem anderen Geist zu unterscheiden?

Auch in der Bibel, so werden wir uns im siebten Abschnitt dieses Kapitels vor Augen führen, wird von sehr unterschiedlichen Auswirkungen des Geistes (bzw. der Geister) gesprochen: von positiven, aber auch von den ambivalenten und destruktiven Wirkweisen.

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3 »Geistliche Leitung« Wer von »Geistlicher Leitung« im Raum der Kirche spricht, bezieht den Geist, von dem biblische Texte und Bekenntnisse sprechen, den Geist Gottes bzw. den »Heiligen Geist«, eng auf das Handeln führender und leitender Menschen. Der Begriff »Geistliche Leitung« sagt letztlich aus, dass das Leiten selbst eine geistliche Qualität besitzt bzw. besitzen soll. Im Folgenden werden verschiedene Ansätze dargestellt, die entweder den Geist und das Führen und Leiten von Menschen positiv aufeinander beziehen (Böhlemann/Herbst 2011 und Hartmann/Knieling 2018) oder dazu raten, den Begriff »Geistliche Leitung« nicht zu verwenden und stattdessen von ethischen Führungsgrundsätzen (Müller-Weißner 2011) sprechen oder die geistliche Aufgabe der Kirchenleitung vom Auftrag der Kirche her bestimmen (Härle 2010; Meyns 2020). Zu jedem dieser Ansätze finden sich Literaturhinweise zum Weiterlesen. »Geistliche Leitung« ist ein »Alleinstellungsmerkmal« der Kirche, so heißt es im Vorwort zu dem 2011 erschienenen Buch: Böhlemann, Peter/Herbst, Michael: Geistlich leiten. Ein Handbuch, Göttingen 2011.

»Geistliche Leitung« verstehen die beiden Autoren als »Leitung durch den Heiligen Geist« und »Verzicht auf eigene Macht und Führung« (Böhlemann/Herbst 2011, S. 20). Dabei gehöre es »zu den vornehmsten Aufgaben von Geistlicher Leitung, die Verbindung zu Gott und den Menschen zu halten und zu fördern«, erläutert Peter Böhlemann (2011, S. 4; Hervorhebung D. D.) in einem kurzen Artikel in dem Heft des Gemeindekollegs Neudietendorf »Leiten mit Geist«, der den Ansatz des Buches prägnant zusammenfasst: Böhlemann, Peter: Verbindung zu Gott und den Menschen halten. Geistliche Leitung und Gemeindeentwicklung, in: Gemeindekolleg in der VELKD (Hg.): Kirche in Bewegung, Mai 2011, Leiten mit Geist, Neudietendorf 2011, S. 4–6.

»Geistliche Leitung« geschieht nach Böhlemann und Herbst (2011) in drei Dimensionen, nämlich als: – person-orientierte partizipatorische Geistliche Leitung (pastoral-begleitend) – theologisch-kompetente Geistliche Leitung (prophetisch-deutend) – verheißungsorientiert-visionäre Geistliche Leitung (spirituell-führend) Wegen dieser vielfältigen Anforderungen benötigt Geistliche Leitung »mindestens drei Personen« in Leitungsverantwortung (Böhlemann 2011, S. 5).

Nach: Böhlemann/Herbst 2011, S. 90

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Böhlemann/Herbst: »Geistliche Leitung« als Verzicht auf eigene Macht

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g. Wenn ich mir die Kennzeichnungen dieser drei Dimensionen anschaue: Wo sehe ich meine Stärken? Was würde ich gern einbringen? h. Was davon decken andere Personen ab, die mit mir zusammen leiten? i. Wenn Sie das Buch von Böhlemann und Herbst (2011) zur Hand haben, empfiehlt es sich, dass Sie die Fragebögen ausfüllen (S. 211–218).

Der Heilige Geist lässt sich nicht operationalisieren

»Geistliche Leitung« – Begrenzung oder Über­höhung menschlicher Macht?

Pastoralmacht kann subtil Abhängigkeit befördern

Im ersten Teil des Buches entfalten Böhlemann und Herbst (2011) diesen von den Leitungspersonen ausgehenden kybernetischen Ansatz und nehmen dabei den Gemeindeaufbau und die Mission in den Blick. Der zweite Teil widmet sich der praktischen Anwendung: Er beginnt mit einem Abschnitt über das Gebet, das »kein Instrument im Sinne eines Werkzeugs, wohl aber die Grundlage aller Geistlicher Leitung« sei (Böhlemann/Herbst 2011, S. 123). Darüber hinaus geschehe »Geistliche Leitung« durch eine bestimmte Kommunikations- und Feedbackkultur, durch Geistliche Begleitung (→ Kap. 23 Seelsorge und Dienstvorgesetztenverhältnis), durch Visitation zwischen Besuchsdienst und Aufsicht (→ Kap.  38 Visitation als Leitungshandeln), durch Unterstützungssysteme für Mitarbeitende, Zeitmanagement, Sitzungsleitung, Konfliktmanagement (→ Kap. 13 Her damit! – Konflikte), Veränderungsmanagement (→ Kap. 27 Veränderung gestalten), Gemeindeentwicklung und eine missionarisch-diakonische Leitung (Böhlemann/Herbst 2011, S. 123–205). Geschätzt wird dieses Buch von Menschen, denen beim Leitungshandeln die geistlichen Vollzüge wie das Gebet und das Hören auf das Wort Gottes wichtig sind und die auch im Blick auf Leitungsmethoden Orientierung suchen. Kritisiert wurde allerdings eine »unkritische Identifikation von Geistlicher Leitung und Heiligem Geist« (aus der Au 2012, S. 17). Zudem könnte durch den Begriff der »Geistlichen Leitung« der Eindruck entstehen, der Geist lasse sich durch bestimmte Methoden oder Kulturen operationalisieren. Dies widerspräche der Überzeugung, wonach der Geist wirkt, »wo und wann Gott will« (Confessio Augustana V: ubi et quando visum est Deo). Mit dieser Kritik verbindet sich eine pastoral-theologische Anfrage: Böhlemann und Herbst (2011) schreiben die »Geistliche Leitung« groß, weil sie deutlich machen wollen, dass »Geistliche Leitung« »durch Menschen geschieht, aber zugleich darauf angewiesen ist, vom Geist Gottes her gewirkt zu sein« (S. 11). Diese Verweise auf die letztliche Leitung durch Gott und die einfache Dienstbarkeit auch der Leitungspersonen lassen sich gegensätzlich deuten: Einerseits ließe sich argumentieren, dass dadurch die Bedeutung des menschlichen Anteils an der »Geistlichen Leitung« relativiert und ein Gegengewicht zu der Macht Geistlicher geschaffen werde. Andererseits besteht die Befürchtung, dass eine enge Verknüpfung der göttlichen »Geistlichen Leitung« mit dem Handeln kirchlicher Verantwortungsträger:innen menschliches Handeln theologisch bzw. geistlich auflade oder gar überhöhe. Und darum kann durch ein solches Verständnis des Leitens als wahres Dienen und pastorale Fürsorge sogar eine Pastoralmacht (Foucault 1987/1994) entstehen, die den Geführten eine Abgrenzung gegenüber den Leitenden erschwert, eine subtile Abhängigkeit befördert, die Mächtigkeit der Macht verdeckt und letztlich auch die Leitenden selbst überfordert (→ Kap. 10 Umgang mit Grenzen und Abstand). Als »einzige Religion, die sich als Kirche organisiert hat«, so schreibt Michel Foucault, »vertritt das Christentum prinzipiell, daß einige Individuen kraft ihrer religiösen Eigenart befähigt sind, anderen zu dienen, und zwar nicht als Prinzen, Richter, Propheten, Wahrsager, Wohltäter oder Erzieher usw, sondern als Pastoren.« Deren »eigentümliche Form von Macht« ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: a. »Sie ist eine Form von Macht, deren Endziel es ist, individuelles Seelenheil in einer anderen Welt zu sichern.

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b. Pastoralmacht ist nicht bloß eine Form von Macht, die befiehlt; sie muss auch bereit sein, sich für das Leben und Teil der Herde zu opfern. […] c. Sie ist eine Machtform, die sich nicht nur um die Gemeinde insgesamt, sondern um jedes einzelne Individuum während seines ganzen Lebens kümmert. d. […] Sie impliziert eine Kenntnis des Gewissens und eine Fähigkeit, es zu steuern.« (Foucault 1987, S. 24) So zeigt das Konzept von Böhlemann und Herbst (2011) exemplarisch die Chancen und Grenzen des Konzepts des »Geistlichen Leitens« auf, die implizit oder explizit auch in anderen Veröffentlichungen zum »Geistlichen Leiten« deutlich werden. Viele Theolog:innen vermeiden den Begriff der »Geistlichen Leitung« nicht zuletzt aufgrund der damit verbundenen theologischen und pastoral-theologischen bzw. -psychologischen Schwierigkeiten. So plädiert z. B. der frühere Landeskirchenrat und Organisationsentwickler Ulrich Müller-Weißner (2011, S. 7–8) dafür, stattdessen von ethischen Führungs- und Leitungsgrundsätzen zu sprechen, die vom christlichen Bild vom »leistungslosen Selbstwert« des Menschen ausgehen. Müller-Weißner macht deutlich, dass diese Grundsätze durchaus (auch in nichtkirchlichen Unternehmen) üblichen Menschenund Ergebnisorientierungen entsprechen können. Müller-Weißner (2011, S. 9) resümiert: »Zur Profilierung eines spezifisch kirchlichen Führungs- und Leitungsverständnis ist die Forderung nach einem ›geistlichen‹ Leiten überflüssig. Als Kennzeichen einer persönlichen Haltung und eines individuellen Glaubenslebens ist das ›Geistliche‹ sicherlich unverzichtbar und konstitutiv.« Müller-Weißner, Ulrich: Gesetzt den Fall, es gäbe geistliche Leitung. Eine nachdenkliche Annäherung, in: Gemeindekolleg der VELKD (Hg.): Kirche in Bewegung, Mai 2011, Leiten mit Geist, Neudietendorf 2011, S. 7–9. online unter: https://führen-leiten-kirche.de/leiten_im_geist/

Dieser Einspruch von Müller-Weißner gegen den Begriff der »Geistlichen Leitung« läuft auf das Konzept einer Führungsethik hinaus, wie sie in → Kap. 8 Führen mit Werten skizziert wird. j. Von welchem Menschenbild gehe ich als Leitende:r aus? k. Ist mir der Begriff des »Geistlichen Leitens« für meine Tätigkeit wichtig oder verzichte ich auf diesen Begriff? Warum?

4 Orientierung am Auftrag der Kirche Zu denen, die wie Ulrich Müller-Weißner dem Begriff des »Geistlichen Leitens« kritisch gegenüberstehen, gehört auch der emeritierte Heidelberger Professor für Systematische Theologie und Ethik Wilfried Härle. »Alles, was über Führen und Leiten in der evangelischen Kirche zu sagen ist, hat sich am Wesen und Auftrag der Kirche zu orientieren« – mit diesen Worten macht Härle (2012, S. 45; Hervorhebung D. D.) in einem Gutachten für die EKD zum Führen und Leiten in der Kirche deutlich, welchen Zugang er stattdessen zu diesem Thema wählt. Weiter führt er aus: »Es ist das Ziel und Kriterium für rechte, also auftragsgemäße Leitung und Führung in der evangelischen Kirche … das Evangelium von Jesus Christus durch Verkün-

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Härle: Kirchenleitung muss sich am Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums durch Wort und Sakrament orientieren

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digung und Sakramente, durch Wort und Tat, durch Struktur und Ordnung zu bezeugen. Deswegen bildet die Feier des christlichen Gottesdienstes – mit Predigt und Sakrament – […] das Zentrum auftragsgemäßer kirchlicher Arbeit und zugleich das äußere Kennzeichen. […] Leitung und Führung in der evangelischen Kirche erfolgen durch Auslegung der Lehre, in der die Kirche das Evangelium von Jesus Christus so, wie es sich ihr als wahr erschlossen hat, unter wechselnden geschichtlichen und sozialen Bedingungen als mit sich identisches, verlässliches Wort Gottes bezeugt.« (Härle 2012, S. 45–46; Hervorhebungen D. D.)

Alle Christ:innen haben an der Kirchenleitung im weiteren Sinne teil

Das Zeugnis für das Evangelium ist also das »Ziel und Kriterium« für die Kirchenleitung, die »Auslegung der Lehre« das erste Instrument von Kirchenleitung. Im theologischen Zentrum steht das Wort Gottes, an dem sich das kirchenleitende Handeln letztlich ausrichtet (vgl. dazu auch CA XVIII). Daraus ergibt sich für Kirchenleitende die Aufgabe, dem, was dem Evangelium bzw. dem Wort Gottes widerspricht bzw. nicht dient, keinen Platz zu geben und das, was dem Evangelium Gottes dient, zu fördern (Härle 2012, S. 46). Freilich sind uns das »Wort Gottes«, »das Evangelium« und die »Lehre« immer nur in bestimmten, vom Verstehenskontext beeinflussten Deutungen zugänglich. Insofern ist hinzuzufügen, dass insbesondere die Amtsinhaber:innen zwei Aufgaben haben: zum einen immer wieder das eigene Verständnis des Wortes Gottes zu reflektieren; und zum anderen für Diskurse zu sorgen, in denen alle an der Kirchenleitung Beteiligten gemeinsam erarbeiten, wie sie das Evangelium von Jesus Christus verstehen und was in der Kirche insofern zu fördern ist und was nicht (vgl. dazu auch Härle 2010, S. 26). Was im Blick auf das Zusammenwirken von Ordinierten und Nicht-Ordinierten bzw. von Haupt- und Ehrenamtlichen besonders interessant ist: Härle (2012) erweitert den Begriff der Kirchenleitung, indem er nicht nur diejenigen in den Blick nimmt, die aufgrund einer äußeren Berufung und aufgrund ihres Amtes in einer kirchlichen Organisation leitend tätig sind und/oder andere Personen führen. Vielmehr berücksichtigt er auch die »überwiegend Empfänglichen« (nach Schleiermacher), die z. B. als Gemeindeglieder oder als nichtangestellte Mitarbeitende ohne besonderes Amt die Lehre beurteilen, Pfarrer:innen ein- und absetzen, Anfragen stellen oder Impulse geben. Zudem zählt Härle zur Kirchenleitung diejenigen, die zwar keine äußere, wohl aber eine innere Berufung erhalten

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haben und »anregen« und »warnen« können. Das Recht und die Pflicht, zu »ordnen« und zu »beschränken« (Härle 2012, S. 46), also den Rahmen des kirchlichen Lebens zu setzen, haben allerdings die Kirchenleitenden aufgrund ihrer äußeren Berufung. Dabei ist zu beachten, dass mit den im engeren Sinne Kirchenleitenden neben Ordinierten und Hauptamtlichen ausdrücklich auch leitende Ehrenamtliche wie z. B. Synodale gemeint sind. l. Wie verständigen wir uns in dem Bereich, für den ich zuständig bin, darüber, wie wir als Einzelne und als Gemeinschaft das Wort Gottes und das Evangelium verstehen? m. Wie verständigen wir uns darüber, was daraus für unsere kirchliche Arbeit folgt? n. Sind in meinem Bereich die Bedingungen dafür gegeben, dass die Amtsinhaber:innen die kirchliche Arbeit (nur) insoweit »ordnen« und »beschränken« (Härle 2012, S. 46) können, als es dem Evangelium dient? o. Haben alle Gemeindeglieder die Chance, insoweit Anregungen zu geben und gegebenenfalls zu »warnen« (Härle 2012, S. 46), als es dem Evangelium dient? Falls nicht: Welche Instrumente könnten dafür genutzt werden? (Befragungen, Gemeindeversammlungen)

Ähnlich wie Wilfried Härle rückt auch der Braunschweiger Landesbischof Christoph Meyns bei der Frage nach Aufgabe und Ziel von Kirchenleitung den Auftrag der Kirche in den Mittelpunkt, indem er dieses Thema in seine Kirchentheorie einzeichnet. Meyns (2020) geht davon aus, dass Wort und Glaube die Grundrelationen der Kirche sind und letztlich auf Vertrauen zielen. So nimmt Meyns in einem Workshop auf dem Zukunftsforum II der EKD im November 2020 Bezug auf die folgenden Artikel in den Bekenntnisschriften: Confessio Augustana, Art. VII. De Ecclesia Item docent, quod una sancta ecclesia perpetuo mansura sit. Est autem ecclesia con­ gregatio sanctorum, in qua evangelium recte docetur et recte administrantur sacramenta. Es wird auch gelehret, daß alle Zeit musse ein heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente lauts des Evangelii [= dem Evangelium gemäß] gereicht werden. (Bekenntnisschriften, 61,1–7; Hervorhebung D. D.)

Schmalkaldische Artikel, Von den Kirchen [D]enn es weiß gottlob ein Kind von 7 Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und ›die Schäflin, die ihres Hirten Stimme hören‹; denn also beten die Kinder: ›Ich gläube [an die] eine heilige christliche Kirche.‹ Diese Heiligkeit stehet nicht in Chorhembden, Platten, langen Rocken und andern Zeremonien, durch die sie uber die heilige Schrift ertichtet, sondern im Wort Gottes und rechten Glauben. (Bekenntnisschriften 459,20–460, 5; Hervorhebung D. D.)

Großer Katechismus, Das erste Gepot Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben […]. Worauf Du nu […] Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott. (Bekenntnisschriften 560, 10–15.22–24; Hervorhebung DD).

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Damit, so Christoph Meyns, ist die verbale und nonverbale Kommunikation des Evangeliums der zentrale Vollzug des kirchlichen Lebens. Ein solches Kirchenverständnis impliziert keine Ausbildung von Hierarchien, keine Kultur der Pastoralmacht, richtet sich nicht auf den Erhalt der Kirche als sakramentaler Heilsanstalt aus, sondern begreift Kirche im weitesten Sinne als »Bildungsinstitution« (Preul 2002), die der Herzens- und Gewissensbildung des:der Einzelnen in Ausrichtung auf das Evangelium von Jesus Christus dient. Wird an der fundamentalen Unterscheidung zwischen der Kirche und Jesus Christus als ihrem Grund festgehalten, verhindere dies, dass die Kirche als Institution oder Organisation zu sehr in den Mittelpunkt gerät. Von dort aus ergibt sich als eine Grundaufgabe kirchlicher Leitung, darauf zu achten, dass die Kirche bei ihrem Auftrag und beim Geist Jesu Christi bleibt. Aufgabe nicht nur der kirchenleitend Verantwortlichen, sondern Auftrag der ganzen Kirche ist letztlich die Verkündigung, wie es z. B. Elisabeth Gräb-Schmidt (1999, S. 72) formuliert: »Der Gedanke der Effektivität, dem Leistungsstreben Genüge zu leisten, sollte Anspruch auch kirchlichen Handels sein, aber doch ganz anders als in der Wirtschaft. […]. Die Leistung bemisst sich […] am geglückten Entsprechungsverhalten gegenüber dem kirchlichen Auftrag. […] Der Auftrag ist nicht primär die Gewinnung möglichst aller oder vieler für die Heilsbotschaft. Primärer Auftrag ist die Verkündigung selbst.«

Halt – Haltung – Verhalten: Diese Trias prägt auch das Leiten Geistlicher

Christoph Meyns (2020) hält es für wichtig, dass kirchenleitend Verantwortliche geistliche Unterbrechungen einhalten, um z. B. in Exerzitien (→ Kap.  26 Stress) immer wieder neu das Wort Gottes und einen Halt für ihr Tun zu suchen. Dies könne zu einer Grundhaltung führen, die in die Selbstwirksamkeit des Wortes auch gegen den Augenschein vertraut und in mancher Hinsicht Gelassenheit ermöglicht. Auf der Handlungsebene gehe es darum, aus dieser geistlichen Grundhaltung heraus a. mit seelsorglicher Professionalität Gespräche zu führen, Gemeinschaft zu pflegen und zu verbinden (→ Kap. 9 Gespräche führen; → Kap. 23 Seelsorge und Dienstvorgesetztenverhältnis), b. Spannungen zwischen unterschiedlichen Logiken in der Kirche als Organisation, Ort von Interaktion und gelebter Religion zu erkennen und synergetisch aufeinander zu beziehen, c. für Ziele zu sorgen, zu entscheiden, zu koordinieren, zu kontrollieren, d. zu repräsentieren und zu verändern (→ Kap. 27 Veränderung gestalten), e. eine Balance jenseits von Machbarkeitswahn und Resignation zu finden (→ Kap.  19 (Un-)Steuerbarkeit und (Un-)Verfügbarkeit) f. und dies in aller Nüchternheit, mit gesundem Menschenverstand und Professionalität in organisatorischen Fragen effizient und effektiv zu tun. Ora et labora – bete und arbeite, mit diesem Motto der Benediktiner:innen könnte man diesen Ansatz auf den Punkt bringen: »Beten« würde in diesem Zusammenhang bedeuten, selbst kontinuierlich geistlichen Halt zu suchen, »arbeiten« hieße dabei, professio-

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nell, effizient und effektiv zu arbeiten, wie es auch Menschen außerhalb der Kirche tun, und zwar aus einer geistlichen Grundhaltung heraus. p. Wo kümmern wir uns stärker um den Selbsterhalt der Organisation Kirche als um die Kommunikation des Evangeliums in Wort und Tat? q. Wo finde ich Halt im Wort Gottes, z. B. in geistlichen Auszeiten? r. Beeinflusst mein geistlicher Halt auch meine Grundhaltung und mein Verhalten?

Indem Härle (2012) und Meyns (2020) die Aufgabe der Kirchenleitung vom Auftrag der Kirche zur Kommunikation des Evangeliums her bestimmen, vermeiden sie jene theologischen Schwierigkeiten und Ambivalenzen, die sich mit dem Begriff des »Geistlichen Leitens« verbinden. Während beim »Geistlichen Leiten« schon begrifflich unklar ist, ob hier eigentlich Gott oder ein Mensch leitet und wie beides unterschieden werden kann, differenziert der Ansatz beim Auftrag der Kirche sprachlich und gedanklich zwischen dem Wort Gottes und dessen Verkündigung durch die Menschen sowie dem menschlichen Leitungshandeln, das dem Evangelium dienen soll. Das Leitungshandeln und den Geist miteinander in Beziehung zu setzen, ist in den dogmatischen Überlegungen von Härle (2012) nicht das Ziel. Vielmehr möchte er die Kirchenleitung auf den Auftrag der Kirche beziehen. Bei Meyns (2020) wird deutlich, dass der geistliche Halt und eine geistliche Grundhaltung, also die persönliche Religiosität, dem kirchenleitenden Handeln vorausliegen können. Dies schließt ein, dass Kirchenleitende immer wieder um den Geist für ihr gesamtes Handeln und das der anderen bitten.

5 Räume für den Geist Welche Potenziale stellt »die christliche Pneumatologie für das Wahrnehmen und Handeln in Komplexität bereit«? Das fragen Isabel Hartmann und Reiner Knieling in ihrem Buch »Gemeinde neu denken« (2018, S. 84), in dem sie nach Wegen suchen, dem Geist z. B. in Veränderungsprozessen Raum zu lassen. Hartmann, Isabel/Knieling, Reiner: Gemeinde neu denken. Geistliche Orientierung in wachsender Komplexität, 3. Aufl., Gütersloh 2018.

Komplexität ist für Hartmann und Knieling (2018) ein zentrales Stichwort, weil die beiden Autor:innen mit anderen Theolog:innen die Kirche als komplexes System begreifen, bei der die Dimensionen Gemeinschaft, Bewegung, Organisation und Institution einander durchdringen (vgl. S. 25 ff.). Die Komplexität der Kirche wird weiterhin dann deutlich, wenn man allein die drei Strukturebenen der Kirche mit ihren Arbeitsformen betrachtet:1 1. Die geistlich-theologische Ebene (vor allem Gottesdienste, Kasualien, Schriftauslegung), 2. Die hierarchisch-administrative Ebene (Verwaltung, Leitung durch Personen und Gremien), 3. Die synodal-demokratische Ebene (Wahl des Kirchenvorstands durch die Gemeindeglieder, Kreissynode, Landessynode, Synoden der EKD, UEK und VELKD). 1 Dieses Modell ist Böhmer und Klappenbach (2007, S. 154), entnommen, wo die geistlich-theologische Strukturebene »charismatische Struktur« genannt wird.

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Leitungspersonen sind besonders stark in die komplexe Struktur der Kirche eingebunden

Komplexität wahr-nehmen, modellhaft reduzieren und ins Handeln kommen

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Wie die von Hartmann und Knieling (2018) genannten Dimensionen, so unterscheiden sich auch diese drei Strukturebenen der Kirche in ihren Logiken, Kulturen, ihren Mechanismen von Macht und Kontrolle, in ihrer Entscheidungsfindung, der Transparenz, ihren Normvorstellungen und Zielen zum Teil erheblich, wie jede:r Haupt- und Ehrenamtliche weiß. Weil die Kirche auf keine der drei Strukturebenen bzw. Arbeitsformen verzichten kann, ist sie bleibend komplex. Auch weil Leitungspersonen besonders stark in alle drei Strukturebenen eingebunden sind, ist ihre Tätigkeit in hohem Maße herausfordernd.2 Umso anspruchsvoller ist die auch von Hartmann und Knieling genannte Aufgabe, »in concreto auszutarieren, wie die Logiken produktiv nebeneinander existieren können, anstatt sich gegenseitig zu schwächen« (Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, S. 218). Aber nicht nur die Gestalt und die Arbeitsweisen der Kirche sind komplex. Vielmehr steigern die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen an die Kirche noch die Komplexität, wie Hartmann und Knieling (2018) ausführlich und eindringlich darstellen. Wie können wir uns im komplexen Feld bewegen und welche Möglichkeiten ergeben sich aus einem christlichen Verständnis von Geist für den Umgang mit Komplexität? Die ersten beiden Schritte im komplexen Feld führen Hartmann und Knieling (2018) implizit dadurch vor, dass sie erstens die Komplexität der Struktur und Situation der Kirche anerkennen und zweitens Modelle, die außerhalb von Kirche und Theologie entstanden sind, nutzbar machen, um Komplexität zu begreifen, punktuell zu reduzieren und Räume für ein »emergentes« Handeln im komplexen Feld zu finden, das heißt, für ein Handeln, das Neuartiges, Unableitbares entstehen lässt. Das erste Modell, das Hartmann und Knieling (2018) einführen, ist das Cynefin-Framework von Dave Snowden3, eine Art »Landkarte« mit vier Feldern, in denen auch die Komplexität verortet wird:

2 Andere Bereiche, in denen Leitende mit verschiedenen Logiken und Zielen konfrontiert sind, sind die Diakonie, das Gesundheitswesen oder das Bildungswesen. 3 Das walisische Wort cynefin bedeutet »Lebensraum« oder »Terrain«.

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– Im simplen Terrain gibt es einfache Lösungen, auf A folgt B, die optimale Lösung nennen wir best practice (z. B. neue Glühlampen kaufen, wenn die alten im Kirchraum zu dunkel sind und zu viel Strom verbrauchen). – In komplizierten Bereichen brauche ich vertieftes Wissen und bestimmte Kompetenzen, ich muss die verursachenden Faktoren analysieren und oft verschiedene gute Lösungen (good practice) gegeneinander abwägen, z. B. wenn eine Veranstaltung von deutlich weniger Menschen besucht wird als erwartet. – Im komplexen Feld, z. B. bei sozialen Systemen oder bei Organismen brauchen Vorgänge eine ganz »neue Aufmerksamkeit«, da »interne und externe Interaktionen und Wechselwirkungen nicht einfach analysiert und dann planvoll gestaltet werden können« (Hartmann/Knieling 2018, S. 17.15). Lösungen sind nicht vorhersagbar, weil die Grenzen des Machbaren und Kontrollierbaren hier schnell erreicht werden. Verzweifelter Aktionismus oder Resignation und Gefühle von »Hilflosigkeit und Ohnmacht« (S. 17) können Reaktionen auf diese Grenzen sein. Ein Ausweg wäre es nach Dave Snowden die »emergent practice«, eine »dem Prozess erwachsende Lösung« (S. 16). Vieles in diesem Feld wird erst im Nachhinein verständlich. »Ist es ›nur‹ kompliziert oder schon komplex?«, so könnte die Frage zur Abgrenzung zwischen diesen beiden Bereichen lauten. Wenn etwas »nur« kompliziert ist, dann führen Fachwissen und das Drehen an Stellschrauben zu den gewünschten Ergebnissen. Unter den Bedingungen von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (→ Kap. 27 Veränderung gestalten und → Kap. 19 (Un-)Steuerbarkeit und (Un-)Verfügbarkeit) aber sind andere Vorgehensweisen nötig, um die es Hartmann und Knieling (2018) hier geht. Wenn ich also Komplexes mit den Werkzeugen für Kompliziertes zu lösen versuche, dann kann es sein, dass ich mich vergeblich abmühe. – Im Chaos z. B. einer Naturkatastrophe, eines Krieges oder in Nachkriegssituationen, wenn ordnende Strukturen verloren gegangen sind, handeln Menschen oft besonders spontan, zufällig und unberechenbar. Sie müssen unmittelbar handeln und neuartige Lösungen (novel practice) finden (vgl. Hartmann/Knieling 2018, S. 17). Ein Beispiel für ein zunächst chaotisches Geschehen ist die sogenannte Pfingstgeschichte in Apostelgeschichte 2, die von der Entstehung einer neuen, ethnisch, sozial und religiös entgrenzten geistlichen Gemeinschaft erzählt. Die neuartige Praxis ist in dieser Lesart das neue gemeinsame Leben der Getauften (Apg 2,42–47).

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s. Welche Herausforderungen in meinem Verantwortungsbereich könnten einfach zu lösen sein, was müsste man einfach mal machen? t. Was ist zwar kompliziert, aber noch nicht komplex, was könnte, womöglich mithilfe von außen, voraussichtlich geplant und gelöst werden? u. Was ist dagegen komplex, wo brauchen wir eine neue Herangehensweise? v. Wo ist bereits Chaos ausgebrochen, und was könnte ich dort für ordnende Strukturen tun?

Das Cynefin-Framework dient zunächst dazu, Komplexität vom Simplen, Komplizierten und Chaotischen abzugrenzen und diesen vier Feldern spezifische Praktiken zuzuweisen. Damit bietet diese Methode ein analytisches Modell mit ersten Hinweisen auf sinnvolles Handeln. Das zweite Modell, das Hartmann/Knieling (2018) einführen, ist die Theorie U von Otto Scharmer (2019), die in der nichtkirchlichen, zum Teil aber auch kirchlichen Organisationsentwicklung und Beratungsarbeit angewendet wird. Dieses Modell könnte man auch »Methode U« nennen, weil es eine Reihe von konkreten Handlungsmöglichkeiten im komplexen Feld benennt, die u-förmig abgeschritten werden. Erklären lässt sich die Theorie gut im Anschluss an das Cynefin-Framework: Der einfache und schnelle Weg von der Herausforderung zur Lösung, der im simplen Terrain gegangen werden kann, ist ebenso wenig zielführend wie die komplizierte Lösung über die Analyse, das Vermehren von Wissen und Kompetenzen im komplizierten Terrain. Daher ist nach Scharmer (2019) ein Prozess, eine Bewegung nötig, die verlangsamt und in die Tiefe führt, als würde man ein U abschreiten: Verlangsamung und Vertiefung machen den Kern der Theorie U aus. Nachdem die Herausforderung oder die Frage »heruntergeladen« wurde – wie ein Text oder ein Bild aus dem Internet –, kann es sinnvoll sein, zunächst einmal innezuhalten, genau hinzusehen, die Perspektive auf die offene Frage zu wechseln bzw. die Herausforderung von verschiedenen Seiten aus zu betrachten (»umwenden«) oder die eigenen Erwartungen, Absichten oder sogar das Problem selbst loszulassen. Diese Stationen können auch andere4 sein oder in einer anderen Reihenfolge durchschritten werden. Durch sie haben wir nach Scharmer (2019) die Chance, uns nach der Öffnung des Denkens, des Fühlens und des Willens immer weiter zu vertiefen, bis wir schließlich an den Punkt gelangen, an dem wir nach unseren eigenen Quellen suchen. »Was will ich wirklich?« oder auch »Was ist mein Ding?« sind Fragen, die nach Scharmer zu diesen eigenen Quellen führen. Es gehe darum, sich mit diesen Quellen zu verbinden und ganz anwesend zu sein – Presencing nennt Scharmer das, was hier geschieht, eine Mischung aus Fühlen (sensing) und Gegenwärtig-Sein (presence). Dieses Presencing kann der Umschlagpunkt in einem Prozess sein, 4 Prinzipiell sind hier alle Methoden denkbar, die die Wahrnehmung erweitern und vertiefen, die »Erweiterung des Gespürs zum Beispiel auf Emotionen, Stimmungen, Motivationen und Atmosphären in Beziehungen und in einer Gemeinschaft. Vor diesem Hintergrund gewinnen spirituelle Übungen und eine kontemplative Lebenshaltung neue Relevanz« (Hartmann/Knieling 2018, S. 152). Solche Praktiken der Achtsamkeit können dabei helfen, »den Geist zu öffnen für Erkenntnis, Einsicht und zunehmende Realisierung der Verbundenheit mit der Welt und das dadurch entstehende Mitgefühl« (Hänsel 2012, S. 41, zitiert Hartmann/Knieling 2018, S. 152).

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Leiten im Geist

in dem neue Lösungen aufkommen und sich verdichten, um dann hervorgebracht, erprobt und schließlich verkörpert zu werden. Spätestens bei der Frage nach den Quellen wird deutlich, warum dieses strukturell offene und leicht adaptierbare Modell »Theorie U« nicht nur im außerkirchlichen Consulting-Bereich erfolgreich ist, sondern auch in der Kirche als anschlussfähig betrachtet wird. Quellen für die Arbeit von Theolog:innen und/oder Geistlichen in den Gemeinden, Ämtern, Schulen oder Beratungsstellen können z. B. sein: die Bibel, tragende theologische Texte, das Gebet, die Gemeinschaft der Glaubenden und Zweifelnden, die Dienstgemeinschaft, die Besinnung auf die eigene Berufung, die Erinnerung an ein Vorbild im Glauben, das Vertrauen darauf, dass vor Gott die Sünder:innen gerechtfertigt sind, oder die Hoffnung darauf, dass dank Gottes Geist ungeahnte Neuanfänge möglich sind. Die Theorie U ist eine von vielen Möglichkeiten, mit Komplexität umzugehen, sie punktuell zu reduzieren und zu einem emergenten Handeln in Komplexität zu kommen, ohne die Komplexität zu verleugnen. Was haben aber nun Komplexität und Emergenz mit dem Geist zu tun? Hartmann und Knieling (2018) arbeiten in ihrem theologischen Abschnitt im Anschluss an Michael Welker (2013, S. 101) heraus: Was der Heilige Geist zunächst in Gang setzt, sind »[n]icht erwartbare, nicht voraussehbare Prozesse, Unterbrechungen der Lebensvollzüge und Routinen, individuelle und kollektive Situationen der Schwebe«. Emergenz ist also eine häufige Wirkweise des Heiligen Geistes, der die Komplexität keineswegs meidet, sondern eher noch steigern kann. Das Programm von Hartmann und Knieling (2018) ist, den Geist »einzuladen«, das heißt, Räume für seine Wahrnehmung zu öffnen und gleichzeitig Wege zu finden, dass sich Neues bilden und verdichten kann – z. B. durch eine Adaption der Theorie U, durch das Konzept der Kollegialen Begleitung, durch das Herzensgebet5, durch ein »Pro Action Café«6 oder durch Ansätze, die durch die ignatianischen Exerzitien inspiriert sind.

  Beispiel: Eine Pfarrerin und ihr Kirchenvorstand  

Wie könnte z. B. eine Pfarrerin, deren Kirchenvorstand bei ihrem neuen Konzept für die Gemeindearbeit nicht richtig mitzieht, im Geist der ignatianischen Exerzitien vorgehen? Sie könnte nach Hartmann und Knieling (2018, S. 110–114) … 1. die Freiheit annehmen, zum Beispiel durch ein bis zwei Nächte mit gutem Schlaf, 2. alle inneren Regungen offen und aufmerksam wahrnehmen, mit ihren Gefühlen, mit ihrem Selbstzweifel, mit ihrer Sehnsucht, mit ihrer Enttäuschung und Angst, 3. die Geister unterscheiden, bei sich und anderen, 4. die Alternativen durchspielen, 5. das »Mehr« der Liebe wählen: »Welcher Weg hilft mir, Gott mehr zu lieben? Welche Entscheidung fördert meine Beziehung, ›mit Gott eins, fröhlich und lustig‹ zu sein? Wo kann ich ihm besser ›in freier Liebe‹ umsonst dienen?« (S. 114)

5 Die Elemente des Herzensgebets sind: 1. Schauen, ohne zu bewerten; 2. Auszeit vom Leistungsdruck; 3. Auszeit von der Selbstrechtfertigung; 4. Loslassen und leer werden; 5. Ausrichtung auf Gott; 6. Bereitschaft zum Erleiden (Hartmann/Knieling 2018, S. 155–163). 6 Das Pro Action Café stellen Hartmann und Knieling (2018, S. 182–193) als eine Kombination aus World Café und Open Space vor: 1. Runde: Was ist die Frage hinter der Frage? 2. Runde: Was fehlt noch? Pause; 3. Runde: Ist es realistisch? – Geht es eleganter? 4. Ernte und Dank.

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Oder ein anderes Beispiel: Wie könnte ein kirchliches Gremium vorgehen, wenn es eine schwierige Entscheidung zu treffen hat? Hartmann und Knieling (2018) verweisen hier auf das Buch »Gemeinsam entscheiden« von Bernhard Waldmüller (2008). Darin beschreibt der Autor die ignatianische Methode der »Unterscheidung in Gemeinschaft«, bei der ein Gremium diese elf Fragen für sich beantwortet:

  Beispiel: Gemeinsam entscheiden  

1. »Verstehen wir uns als Gemeinschaft im Glauben? 2. Gibt es in unserem Gremium eine Kultur des Hinhörens? 3. Bemühen wir uns um eine hinreichende innere Freiheit? 4. Nehmen wir uns die nötige Zeit für einen gemeinsamen spirituellen Prozess? 5. Sind die Betroffenen genügend einbezogen? 6. Stimmt die Informationsbasis? 7. Brauchen wir eine Begleitung von außen? 8. Finden wir zur Einmütigkeit? 9. Erfahren wir Trost? 10. Trägt unsere Entscheidung zu einem Mehr an Leben, Freiheit usw. für alle bei? 11. Sind Zuständigkeiten und Aufgaben klar?«  (Waldmüller 2008, S. 75–78)

Waldmüller, Bernhard: Gemeinsam entscheiden (Ignatianische Impulse 27), Würzburg 2008.

Theorie U, intensive und bewusste individuelle oder gemeinschaftliche Entscheidungsprozesse wie die »Unterscheidung in Gemeinschaft« – einige der hier dargestellten Möglichkeiten, Raum für den Geist zu lassen, setzen stark auf Verlangsamung und Vertiefung, Achtsamkeit für sich und andere und brauchen daher ein bestimmtes Maß an Zeit. Daher eignen sie sich für wichtige und schwierige Entscheidungsprozesse in Leitungsgruppen, Ausschüssen, Kirchenvorständen, Kirchenkreiskonferenzen und Synoden oder für Bildungsprozesse, also für solche Prozesse, für die genügend Zeit eingeplant ist – oder eingeplant werden sollte –, um zu wohl abgewogenen Entscheidungen zu kommen. Aber nicht alle Methoden erfordern viel Zeit: Wertschätzende Erkundung, World Café, Pro Action Café oder Open Space – mit solchen Arbeitsformen kann ein Leitungsgremium, eine Synode, eine Kirchenkreiskonferenz oder eine Bildungsveranstaltung auch in kurzer Zeit einen deutlichen Schritt weiterkommen. Insofern zählt es zu den Aufgaben von Leitungspersonen, jeweils zu entscheiden, wann Verlangsamung und Vertiefung nötig sind und wann schnellere Prozesse, auch mit agilen Methoden (→ Kap.  1 Agiles Führen), einen guten Fortschritt versprechen. w. Gibt es persönliche oder dienstliche Fragen, die ich gern mit der Theorie U bearbeiten würde? x. Was will ich wirklich? Was ist »mein Ding«? Passt es zu dem, was ich gerade mache? y. Wenn ich an einen Entscheidungsprozess in der Vergangenheit denke – wie hätte es ihn möglicherweise beeinflusst, wenn er so abgelaufen wäre, wie es oben im Beispiel der Pfarrerin oder nach der »Unterscheidung in Gemeinschaft« beschrieben ist? z. Gibt es in der Zukunft Prozesse, in denen ich eine der hier dargestellten Methoden anwenden möchte? Wen oder was brauche ich dazu?

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Leiten im Geist

Im Folgenden soll die Theorie U auf das Thema »Geist in der Bibel« angewendet werden, indem teilweise Bekanntes in Erinnerung gerufen wird. Dabei werden biblische Texte in der Nahaufnahme betrachtet, um im zweiten Schritt Schlussfolgerungen für ein Führen und Leiten zu beschreiben, das sich auf die biblische Rede vom Geist zurückbezieht.

6 Heilig oder böse: der Geist Gottes im Alten Testament Wer sich mit dem Thema »Geistlich leiten« bzw. »Leiten im Geist« oder »Leiten als Geistliche:r« beschäftigt, dürfte dabei an den guten, wenn nicht gar Heiligen Geist denken und nicht an den unguten Geist, von dem am Anfang dieses Kapitels ebenfalls die Rede war. Demgegenüber kennt die Bibel, vor allem das Alte Testament, durchaus die ambivalente und auch destruktive Wirkung sogar des Geistes Gottes. Gleich zu Beginn des ersten biblischen Buches ist vom Geist Gottes die Rede, jedenfalls in den meisten Übersetzungen, in denen es ähnlich wie in der Luther-Übersetzung heißt: »… und der Geist Gottes schwebete über dem Wasser …« (Gen 1,2b nach Luther 1545) ‫ל־ּפ ֵ֥ני ַה ָּֽמיִ ם‬ ְ ‫ֹלהים ְמ ַר ֶ֖ח ֶפת ַע‬ ִ֔ ‫וְ ֣ר ַּוח ֱא‬ e ä e w ruach lohim m rachäfät al-penej hammajim

Ein schwebender Geist – wer nicht sogleich an den Heiligen Geist denkt, den christliche Deutungen hier hineingelesen haben, mag diese Stelle als rätselhaft empfinden. Schauen wir uns die Stelle näher an: Das Wort, das Luther und andere mit »Geist« übersetzen, lautet im Hebräischen ruach (‫רּוח‬, ַ grammatisch meist weiblich) und kann Verschiedenes bezeichnen: die bewegte Luft vom Hauch bis zum Sturm; das, was die Körper von Menschen und Tieren belebt, das Agens bzw. Movens; Aspekte des Innenlebens, wie Sinn und Geist in der Bedeutung von Gemüt oder als eine Einstellung; Geist im Sinne von Einsicht oder Wissen; den Willen, Entschluss und schließlich auch die ruach Gottes wie in Genesis 1,2. ְ Partizip PräVon dieser ruach wird nun gesagt, sie sei »flatternd« (merachäfät, ‫מ ַר ֶ֖ח ֶפת‬, sens) wie der Adler über seinen Jungen, nachdem er sie aufgestört und zum Fliegen bewegt hat (Dtn 23,11) oder »schlotternd« wie die Gebeine des Propheten, dem das Herz gebrochen ist und der sich wie ein Betrunkener fühlt (Jer 23,9) – nur dreimal kommt dieses Verb im Alten Testament vor. Ziehen wir auf der Ebene des kanonischen Textes die Bedeutungen des Verbes in Deuteronomium 23,11 bzw. Jeremia 23,9 mit Genesis 1,2 zusammen, so entsteht ein dynamisches Bild: Die ruach Gottes schwebt nicht ruhig über allem, sondern ist »flatternd über den Wassern«, wie der Adler über seinen in die Tiefe stürzenden Jungen, oder unruhig, »zitternd« wie die Glieder, die einem Menschen nicht mehr gehorchen. Vielleicht ist die Vorstellung in Genesis 1,2, dass der Wind hin- und hergeht oder wie eine sogenannte Windhose kreist. »… und der Wind Gottes flatternd über den weiten Wassern.« (Gen 1,2b nach Jacob 1934, S. 25)

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Die ruach ist im Alten Testament eine dynamische, ja ambivalente Größe

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So wird den Rezipient:innen der vorliegenden hebräischen Bibel schon am Anfang deutlich: Die ruach Gottes ist eine dynamische Größe. Dazu passt, dass die ruach Menschen wie Simson umtreiben (vgl. Ri 13,25), sie in Bewegung setzen oder verwandeln kann (vgl. 1. Sam 10,6). In Ezechiel 37 schafft die ruach sogar neues Leben. Dabei gehen die Bewegungen der ruach nicht immer in eine positive Richtung. Die ruach Gottes verleiht Leitenden nach Meinung der biblischen Schriftsteller:innen zwar kognitive, theologische, charismatische, ethische und sogar körperliche und handwerkliche Fähigkeiten, um etwas zu gestalten oder zu verändern (vgl. dazu ausführlicher Dieckmann 2014, S. 92–93). Doch die ruach Gottes kann auch zerstörerisch wirken: als eine Macht, die Simson 30 Männer töten lässt (Ri 14,19), als ein böser Gottesgeist, der Saul zornig macht (1. Sam 11,6), in Angst und Schrecken versetzt (1. Sam 16,14.15), ihn depressiv werden lässt (1. Sam 16,16.23; 18,10) und schließlich zu Gewalttaten treibt (1. Sam 18,10–11). Angesichts dieser Ambivalenzen stellt sich besonders die Frage: Welcher Geist leitet mich (oder andere) gerade und in welchem Geist leite ich?

7 Die Wirklichkeit des Geistes im Neuen Testament Die Septuaginta übersetzt das hebräische Nomen ruach mit dem griechischen Wort pneuma (πνεῦμα). Fast überall, wo im Neuen Testament von diesem pneuma die Rede ist, wird an jene alttestamentlichen Überlieferungen angeknüpft, die im Geist eine Macht mit eindeutig positiver Wirkung sehen. Der böse Geist spielt im Neuen Testament nur am Rande eine Rolle und dann nicht als der göttliche Geist, sondern als ein anderer Geist, der durch Jesus überwunden wird (vgl. z. B. Mk 16,9; Joh 10,20). In der Darstellung der Evangelien war der Geist Gottes in Person und Wirken Jesu anwesend (vgl. Mt 1,8.10.18.20; Lk 1,15.35). Nach Jesu Tod wird der Geist bzw. Paraklet verstanden als Stellvertreter Jesu und als Beistand für kommende Anfechtungen bei den Menschen (vgl. Joh 14,15‒17.25‒26 u. ö. bzw. Mk 13,11). Somit behaupten die Evangelien: Jesus selbst bleibt durch den Geist bei den Menschen gegenwärtig. Wird in den Evangelien die Jesus-Geschichte eng mit dem göttlichen Geist verbunden, so bringt in der Pfingstgeschichte in Apostelgeschichte 2 umgekehrt Petrus jenes ungewöhnliche Geistgeschehen mit Jesus in Verbindung. Denn als alle zusammenkamen, die zu Jesus gehörten, waren – so die atemberaubende Erzählung – nur ein raumgreifendes Rauschen und züngelnde Flammen auf den Köpfen der Versammelten wahrnehmbar, die auf wunder­ Andrea del Verrocchio, Leonardo da Vinci: Taufe Christi (Battesimo di Cristo), um 1475 same Weise in fremden Sprachen zu reden begannen

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Leiten im Geist

(Apg 2,2–4). Dass alle »vom Heiligen Geist erfüllt« waren und auch das Fremdsprechen vom Geist veranlasst war, teilt die Erzählstimme nur uns Lesenden mit. In der erzählten Welt ist es Petrus, der dieses Geschehen im Rückgriff auf die Ankündigung des Geistes in Joel 3,1–5 zu deuten vermag und den anwesenden »Leuten von Israel« eröffnet (Apg 2,22): Hier geht es um Jesus! Genauer gesagt: Um den Wiederauferweckten, der zur Rechten Gottes sitzt. Denn ihm hat Gott jenen Geist geschenkt, der über die Jünger:innen Jesu nun ausgegossen wurde (Apg 2,32–33). Der Heilige Geist, das betont Apostelgeschichte 2, kann also nicht nur Einzelnen, sondern einer ganzen Gemeinschaft gegeben werden, die sich Jesus zugehörig fühlt. Wer sich taufen lässt wie die Anwesenden in der Pfingstgeschichte, dem oder der wird der Heilige Geist von Gott geschenkt (Apg 2,38). In der johanneischen Pfingsterzählung in Johannes 20,19–23 haucht Jesus selbst den Seinen den Geist zu und verbindet dies mit dem Auftrag der Sündenvergebung. Dass Gott den Geist in der Taufe gibt, dass dieser Geist der Gemeinschaft in Christus gegeben ist und dass der Geist in enger Verbindung zum Auferstandenen steht – diese drei Überzeugungen, die in Apostelgeschichte 2 sichtbar werden, durchziehen auch die paulinischen Briefe: Wer getauft ist, sei mit dem Heiligen Geist getränkt, sagt Paulus in 1. Korinther 12,13. Alle Getauften sind für Paulus also »Geistliche«. Daher konnte Paulus die Galater mit »ihr, die Geistlichen!« ansprechen (Gal 6,1) – selbst wenn er ihr Verhalten heftig kritisiert hat. Nach Paulus leben alle, die getauft sind und an den Auferstandenen glauben, in der Einfluss-Sphäre, in der Wirklichkeit des Geistes (vgl. Blank 1991, S. 161), die gleichbedeutend mit der Wirklichkeit Christi oder Wirklichkeit Gottes ist (vgl. Wolter 2011, S. 162). Christ:innen leben in der Dimension des Geistes, wie umkehrt der Geist in ihnen wohnt (Röm 8,9). Und dieser Geist hat Auswirkungen auf ihr Leben: Jener Geist, aus dem heraus Gott Jesus wiederauferweckt und zu seiner Rechten erhöht hat (Röm 1,3), schenkt im Glauben die Kraft zur Hoffnung (Röm 15,13, vgl. Röm 5,5; 8,23‒24; 15,13; Gal 5,5). Jedoch: Auch wenn die Menschen in der Taufe und im Glauben Anteil am Geist gewinnen, gibt es für Paulus noch eine Gegenmacht, die er Macht des Fleisches nennt und die sich als »anthropologischer Nährboden von ›Leidenschaften und Begierden‹ (Gal 5,24)« (Wolter 2011, S. 176) verstehen lässt, als die Triebhaftigkeit, die Laster. In Galater 5 stellt Paulus ausführlich die Gefahren dar, die diese Gegenspielerin zum Geist in sich birgt: Egoismus, Maßlosigkeit, sexuelle Übertretungen, Götzendienst, Streitsucht, das Anzetteln von Intrigen, Parteienstreit und Spaltungen, Missgunst und Neid, Ausschweifungen in Essen und Trinken. Vor alledem schützt nach Paulus der Geist: »Führt euer Leben im Geist«, ermahnt Paulus die Galater (5,16). Denn die Frucht des Geistes seien »Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Güte, Rechtschaffenheit, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung. […] Wenn wir im Geist leben, wollen wir uns auch am Geist ausrichten« (5,22*–23*.25). Wie sich das in der Gemeinde und insbesondere bei Leitungsaufgaben zeigt, erläutert Paulus in 1. Korinther 12. Es lebten zwar alle aus demselben Geist, doch seien den Getauften unterschiedliche Geistesgaben (pneumatikoi – πνευματικοί, vgl. 12,1) bzw. Charismen (12,4) zugeteilt, durch die stets Gott wirke (12,6): Lebensweisheit lehren, theologisch reden (12,8); glauben, heilen (12,9); Wunderkräfte wirken, prophetisch reden, Geister unterscheiden, in Zungen oder in fremden Sprachen reden bzw. dies übersetzen (12,10). Die Gemeinschaft, die der Geist auf solche Weise schafft, vergleicht Paulus mit dem Organismus eines Leibes, der letztlich der Leib Christi ist und dessen Glie-

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Nach Paulus leben Getaufte in der Einfluss-Sphäre des göttlichen Geistes

Ein Geist – unterschiedliche Geistesgaben

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der in ihrer jeweiligen Funktion unverzichtbar sind und die daher einander brauchen (1. Kor 12,12–21). Eine der möglichen Geistesgaben ist die Begabung für Leitungsaufgaben (kybernäseis – κυβερνήσεις). Auf diesen Text in 1. Korinther 12 bezieht sich Martin Luthers bekanntes Wort über das Priestertum aller Getauften von 1520: »[…] alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes und ist unter ihnen kein Unterschied außer allein des Amts halber, wie Paulus I. Kor. 12, 12 ff. sagt, […] Das alles macht, daß wir eine Taufe, ein Evangelium, einen Glauben haben und [auf] gleiche [Weise] Christen sind, denn die Taufe, Evangelium und Glauben, die machen allein geistlich und Christenvolk« (Luther 1520, WA VI 407, Hervorhebung D. D.). Damit ist der Geist in biblischer Darstellung, wie bei Gerald Hüther (2017), oft eine dem Menschen äußerliche Größe, ein Kraft- und Machtzentrum, das aber nach innen wirken kann. Während im Alten Testament die ruach Gottes selbst ambivalent und damit auch destruktiv sein kann, weist Paulus diese Negativität einem bestimmten menschlichen und geradezu widergöttlichen Bereich zu. Dadurch wird aus der Ambivalenz der ruach letztlich eine anthropologische Ambivalenz. Dieser Blick auf die biblische Theologie des Geistes, insbesondere im zweiten Kanon­ teil der Bibel, macht deutlich, wie naheliegend es ist, in christlicher Perspektive den Geist und das Leitungshandeln aufeinander zu beziehen. Die paulinischen und die alttestamentlichen Aussagen über den Zusammenhang zwischen dem Geist und dem verantwortlichen Handeln von Menschen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Leitung und Geist im Spiegel biblischer Texte 1. Alle Getauften sind Geistliche. Leiten (ordinierte oder nicht ordinierte) Getaufte, tun sie dies nach christlichem Verständnis als Geistliche. 2. (Mindestens) alle Geistlichen leben im Wirkbereich des göttlichen Geistes und können ihr Handeln an ihm ausrichten. 3. Der Geist kann nach biblischem Verständnis bestimmte Fähigkeiten verleihen, auch und besonders im Blick auf Leitungsaufgaben. Früchte des Geistes sind mit modernen Worten: Wertschätzung, Kommunikation auf Augenhöhe, Integrität, Beachtung von Grenzen, Zuverlässigkeit, Verzicht auf Manipulation sowie auf Zwang und Gewalt, Impulskontrolle. 4. Weil sich derselbe Geist in verschiedenen Geistesgaben zeigt, haben Menschen unterschiedliche Funktionen in der Gemeinde bzw. der Kirche. Nicht jede:r ist zur Leitung begabt. 5. Weil auch mit dem destruktiven Geist bzw. der »Macht des Fleisches« zu rechnen ist, gilt es, bei sich und anderen, die Geister zu unterscheiden und zu prüfen, ob man etwa durch Missgunst und Neid, Selbstsucht, Maßlosigkeit, Eitelkeit oder Streitlust gesteuert wird. Lutherisch gesprochen: Auch Geistliche sind gleichzeitig Gerechtfertigte und Sünder:innen.

8 Leiten im Geist – leiten als Geistliche:r In diesem Kapitel schlage ich vor, das Verhältnis von Leitung und Geist als »Leiten im Geist« und »Leiten als Geistliche:r« auf den Begriff zu bringen. Im Anschluss an die paulinische Theologie soll damit zum Ausdruck kommen, dass Leiten wie das gesamte Leben im Wirkbereich des göttlichen Geistes geschieht, und zwar durch Menschen, die in diesen Wirkbereich hineingetauft und mit unterschiedlichen Geistesgaben befähigt sind.

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Leiten im Geist

Wenn Geistliche im Geist leiten, dann wird damit noch nicht behauptet, dass das Leiten selbst stets ein geistliches ist. Der Heilige Geist wird zwar als eine Kraft benannt, die Menschen in Dienst nehmen kann; zugleich unterscheidet der Begriff »Leiten im Geist« deutlicher zwischen Gottes Geist und menschlicher Leitung als der Begriff der »Geist­ lichen Leitung«. Auch Geistliche können in die Irre gehen. Geistliche, d. h. Getaufte können sich aber auf Gott ausrichten (vgl. Gal 5,25) und können hoffen und Gott darum bitten, dass er mit seinem Geist ein professionelles, menschenfreundliches und zugleich ergebnisorientiertes Führen und Leiten stärkt. Besonders wichtig bei dem Ausdruck »Leiten als Geistliche:r« ist mir der Hinweis darauf, dass nach paulinischem und lutherischem Verständnis alle Kirchenleitenden aufgrund ihrer Taufe Geistliche sind, seien sie ordiniert oder nicht, seien sie Ehren- oder Hauptamtliche – auch wenn viele Menschen nach wie vor eher ordinierte Hauptamtliche als »Geistliche« betrachten und nur deren Führen und Leiten als »Geistliche Leitung« verstehen. Das heißt: In allen theologischen, diakonischen, synodalen und administrativen Arbeitsbereichen der Kirche sind auf allen Verantwortungsebenen haupt- oder ehrenamtliche Getaufte als Geistliche tätig, was für die Mitarbeitenden einen Zuspruch und einen Anspruch mit sich bringt. Und nicht nur in der Kirche, auch in Unternehmen, an jedem Arbeitsplatz, auch an den unbezahlten Arbeitsstellen in Sorge-Zusammenhängen wirken getaufte Geistliche, die Verantwortung für andere tragen. Und selbstverständlich sind in diesen Kontexten auch Nicht-Getaufte tätig, die freundlich, verantwortungsvoll und hochprofessionell führen, leiten und für andere sorgen. Menschenfreundliche Leitung ist kein Alleinstellungsmerkmal der Kirche, und ein guter Geist kann auch an Orten herrschen, an denen Menschen nicht an den Heiligen Geist glauben. Es versteht sich, dass auch Menschen, die nicht von christlichen Vorstellungen geprägt sind oder sie zum Teil ablehnen, durch eine Werteorientierung (→ Kap.  8 Führen mit Werten) und durch andere religiöse, philosophische oder persönliche Überzeugungen, zum Beispiel mit einem humanistischen Menschenbild, zu ähnlichen ethischen Grundhaltungen gelangen können. Umgekehrt können Menschen außerhalb wie innerhalb der Kirche von unguten Geistern getrieben sein; auch diese Tatsache führen uns bereits biblische Texte vor Augen. Wie ist das Leiten im Geist aus christlicher Perspektive zu profilieren? Geistliche in kirchlichen und anderen Kontexten können sich von solchen christlichen Überzeugungen leiten lassen, die besagen, – dass jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist und deshalb vor Gott eine unverlierbare Würde besitzt, die auch von den Menschen stets zu achten ist; – dass jede:r einen Anspruch auf Seelsorge hat (→ Kap. 23 Seelsorge und Dienstvorgesetztenverhältnis); – dass Christ:innen für das sorgen, was der:die Nächste braucht – unabhängig davon, welcher Lebensanschauung, Herkunft oder gesellschaftlichen Gruppe er:sie zugerechnet wird; – dass wir Orientierung erhalten durch die von Paulus genannten Tugenden: »Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Güte, Rechtschaffenheit, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung« (Galater 5,22) – bzw. mit dem Vokabular der Führungskultur: Wertschätzung, Kommunikation auf Augenhöhe, Integrität, Beachtung von Grenzen, Zuverlässigkeit, Verzicht auf Manipulation sowie auf Zwang und Gewalt, Impulskontrolle; – dass wir immer Sünder:innen bleiben, möglicherweise mehr auf uns selbst bezogen als auf andere sind, und doch von Gott nicht bei unserem Sünder:in-Sein behaftet werden; dass wir in die Irre gehen und danach wieder neu anfangen können; – dass Gott der Grund unseres Daseins ist, die Taufe der Grund unserer geistlichen Existenz, und wir uns die Berechtigung für unser Dasein und unsere Anerkennung vor Gott nicht erst erarbeiten müssen;

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Um den Geist bitten

Geistliche:r sein – ein Zuspruch und ein Anspruch

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– dass der Grund der Kirche ihr und uns vorausliegt, und wir uns das Ziel, das Reich Gottes, nicht erst suchen müssen; – dass diese Überzeugungen aus den biblischen Texten abzuleiten sind, die, zusammen mit den jeweiligen Bekenntnissen, von der christlichen Gemeinschaft als immer wieder neu zu deutende und neu zu übersetzende Grundlagen betrachtet werden (vgl. auch den folgenden Abschnitt 9). Prüfet alles, das Gute behaltet. (1. Thess 5,21)

Die Geister unterscheiden (1. Kor 12,10)

Diese Überzeugungen, so die Hoffnung, können Halt geben, eine Grundhaltung prägen und Einfluss auf ein Leitungsverhalten haben, das geistlich geprägt ist. Wie kommen wir von jenem Halt und jenen Grundhaltungen zu einem entsprechenden Verhalten? Für das Thema Leiten im Geist bzw. Leiten als Geistliche:r habe ich oben skizziert: Natürlich lässt sich der Heilige Geist nicht operationalisieren, nicht einfach anwenden. Doch scheint es Arbeitsweisen zu geben, die viele Menschen als »geistoffener« erfahren haben als andere, wie zum Beispiel die »Unterscheidung in Gemeinschaft« oder auch die »Theorie U«. An diesen beiden Beispielen wurde oben (in Abschnitt 5) deutlich, dass es zur Rolle von Kirchenleitenden gehört, zu prüfen, welche Methoden und Haltungen aus dem kirchlichen oder weltlichen Bereich den genannten paulinischen Tugenden am besten entsprechen und aller Voraussicht nach die besten Ergebnisse ermöglichen. Außerdem ist Aufgabe von kirchenleitend Verantwortlichen, jenen guten Geist zu fördern, von dem am Anfang des Kapitels die Rede war, und unguten Geistern wie Geringschätzung, Zynismus oder den Verführungen des Machtgebrauchs zu wehren.

9 Leiten durch das Wort – geleitet werden durch das Wort Der Geist allein könnte zum Spiritualismus, zu einem modernen Schwärmertum führen, das sich von den biblischen Traditionen und der raum- und zeitübergreifenden kirchlichen Gemeinschaft löst. Deswegen halten die lutherische und andere Theologien daran fest, dass der Geist eine Entsprechung im Wort findet, und zwar im Wort Gottes, das in der Bibel als historischem und religiösen Text begegnet, zum Beispiel im zufälligen Vers der Tageslosung oder im vorgegebenen Predigttext des nächsten Sonntags. Dass biblische Texte in der christlichen Auslegungsgemeinschaft und damit auch für Kirchenleitende privilegierte Texte sind, hat seinen inneren Grund darin, dass Christ:innen in diesen Texten die Anrede durch Gott erfahren, und seinen äußeren Grund darin, dass die Kirche selbst ein Ergebnis der Wirkungsgeschichte dieser Texte ist.7 Bei der Rezeption dieser biblischen Texte können Menschen das, was sie als »Wort« vernehmen, auf sich beziehen, können sich selbst vor dem Text verstehen, wie Paul Ricœur gesagt hat (1974, S. 33). In manchen Kontexten, zum Beispiel bei Lesungen, werden biblische Texte auch als »heilige Texte« (vgl. Assmann 2007, S. 94) gehört und stehen ohne jede Auslegung oder Erklärung für sich. Ist bei der individuellen Lektüre die christliche Interpretationsgemeinschaft (zwar implizit anwesend, aber) nicht sichtbar, entsteht in Gottesdiensten bei Lesungen oder in Predigten, bei Andachten, Workshops und in anderen Veranstaltungen eine auch äußerlich erfahrbare Gemeinschaft des Hörens und Mitteilens. Diese Gemeinschaft zu fördern, ist eine der wichtigsten Aufgaben von Kirchenleitenden. 7 Die biblischen Texte stehen damit noch vor den Bekenntnistexten, die durch die Auseinandersetzung mit biblischen Texten in bestimmten Situationen entstanden sind und, anders als die kanonischen biblischen Texte, von der Kirche neu gefasst bzw. ergänzt werden können. Biblische Texte als (Heilige) »Schrift« und Bekenntnis legen einander wechselseitig aus.

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Leiten im Geist

Insbesondere für die mit dem Predigtdienst beauftragten Haupt- und Ehrenamtlichen (→ Kap. 22 Predigen im kirchenleitenden Amt) gehört es zur Kirchenleitung, die jeweils eigene Interpretation des biblischen Textes anderen zur Anregung, Aneignung oder zum Widerspruch zur Verfügung zu stellen. Diejenigen, die theologisch aus- oder fortgebildet wurden, haben die Aufgabe, als ressource persons in einem geeigneten Rahmen und zum richtigen Zeitpunkt ihr Wissen über die Texte und die mit ihnen verbundenen theologischen Konzepte zur Verfügung zu stellen. Sie zeigen gewissermaßen, was hinter den Bibelübersetzungen steht, gewähren einen Blick auf die Deutungsvielfalt der biblischen Texte.

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Kirchenleitende: Lesende, Hörende, Diskutierende, Auslegende, Verkündigende

Durch den Geist und durch das Wort geleitet werden

Wie lassen sich Geist und Wort im Blick auf das Leiten ins Verhältnis setzen? Der gött­ liche Geist und das Wort Gottes haben nach biblischer Darstellung zunächst Gemeinsamkeiten: Sowohl der Geist Gottes als auch das göttliche Wort können Menschen ermächtigen, sie in Bewegung setzen, Dynamik für Veränderungen erzeugen und eine Rolle in emergenten Prozessen spielen, in denen überraschend Neues entstehen kann. Zugleich ergänzen der Geist und das Wort einander: Wo der Geist für das Wie, für das Kraftfeld und eine Dynamik steht, die Menschen ergreift, da deutet das Wort auf das Was, auf die Botschaft hin, die von außen auf Menschen zukommen und auch widerständig sein kann. Und schließlich kann das Wort gleichzeitig als Gegengewicht und Gegenhalt zu einem wirkmächtigen Geist verstanden werden. Denn der Geist in seinen vielfältigen Ausprägungen kann eine starke Eigendynamik entwickeln, kann sich verselbständigen und ist in seinen Auswirkungen manchmal schwer zu deuten. Dies beschreibt etwa die sog. Pfingstgeschichte in Apostelgeschichte 2 (vgl. oben) – und stellt gleichzeitig dar, in welcher Weise das Wort die Phänomene des Geistes für die junge christliche Erzähl­gemeinschaft deutet, indem nämlich Petrus eine Rede in den Mund gelegt wird, in der er das gemeinsame GeistErlebnis in die biblische Überlieferung einordnet und damit zum Teil der gemeinsamen Geschichte macht. So kann das Wort Menschen mit Geist-Erfahrungen wieder sammeln, zusammenführen, auf das Gemeinsame fokussieren und damit letztlich Gemeinschaft bewahren. Der Geist wiederum kann dem Wort Lebendigkeit zufügen. Geist und Wort – an beidem können sich Kirchenleitende orientieren, indem sie sich durch ihre Erfahrungen mit dem Geist und dem Wort leiten lassen und diese mit den Menschen teilen, mit denen sie zusammen leiten oder für die sie Leitungsverantwortung tragen. Dies verstehe ich als Leiten im Geist und Geleitet-Werden durch den Geist bzw. als Geleitet-Werden durch das Wort.

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Das Wort als Gegen­ gewicht zum Geist

Bete und arbeite

Ora et labora, bete und arbeite, mit diesem Motto der Benediktiner:innen lässt sich der in diesem Kapitel vertretene Ansatz von Leiten und Geleitet-Werden im Geist und durch das Wort zusammenfassen. Bete: sei ein:e Geistliche:r, schaffe für dich und andere geistliche Freiräume auch für die Begegnung mit den Texten der Bibel, richte dich zum Heiligen Geist und zu Gott hin aus, halte dir vor Augen, dass du getauft bist. Und arbeite: leite als Geistliche:r ebenso verantwortungsvoll, professionell, effektiv und effizient wie die besten Vorbilder (seien sie getauft oder nicht).

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ora et labora – bete und arbeite

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Pfarrkonvent zum Thema »Leiten im Geist« mit der Methode des Expertenpuzzles 1. Sie finden diese Handouts für einen Pfarrkonvent auch unter: https://führen-­ leiten-kirche.de/leiten_im_geist, abgerufen am 14.12.2021. 2. Vorbereitung: Bitte kopieren Sie in der Anzahl der Teilnehmenden die nachfolgenden Arbeitsanweisungen für die Gruppen 1 bis 6 mit der jeweils genannten Literatur. 3. Auf einem Büchertisch können Sie auslegen: Böhlemann, Peter/Herbst, Michael: Geistlich leiten. Ein Handbuch, Göttingen 2011. Dieckmann, Detlef/Dietzfelbinger, Daniel/Kühnbaum-Schmidt, Kristina/Meyns, Christoph (Hg.): Führen und Leiten in der Kirche. Ein Handbuch für die Praxis, Göttingen 2022. Geistlich leiten. epd-Dokumentationen 6/2012 Hartmann, Isabel/Knieling Reiner: Gemeinde neu denken. Geistliche Orientierung in wachsender Komplexität, 3. Aufl., Gütersloh 2018. Gemeindekolleg der VELKD (Hg.): Kirche in Bewegung, Mai 2011, Leiten mit Geist, Neudietendorf 2011, online unter: https://führen-leiten-kirche.de/leiten_im_geist/, abgerufen am 14.12.2021. Lauster, Jörg: Der Heilige Geist. Eine Biographie, München 2021. Scharmer, Otto C.: Essentials der Theorie U. Grundprinzip und Anwendungen, Heidelberg 2019. Texte aus der VELKD 154, 26.10.20210, online unter: https://www.velkd.de/publikationen/ download.php?ef0d3930a7b6c95bd2b32ed45989c61f, abgerufen am 14.12.2021. Waldmüller, Bernhard: Gemeinsam entscheiden (Ignatianische Impulse 27), Würzburg 2008. Welker, Michael: Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, 5. Aufl., Neukirchen-Vluyn 2013.

4. Sie beschriften ein Flipchart mit den Einzelthemen für die Gruppen:

»Leiten im Geist« – Neigungsgruppen: 1.  »Geistlich Leiten« (Böhlemann/Herbst) 2.  Ethische Führungsgrundsätze (Müller-Weißner) 3.  Das Evangelium als Ziel für Kirchenleitung (Härle) 4.  Halt, Haltung, Verhalten (Meyns) 5.  Entscheidungen im Geist (Hartmann/Knieling) 6.  Sich vom Geist bestimmen lassen (Paulus)

5. Einführung: In den nächsten zwei Stunden haben Sie Gelegenheit, sich mit dem Thema »Leiten im Geist« oder »Leiten durch das Wort« zu beschäftigen. Ich stelle Ihnen zunächst kurz die Inhalte der Neigungsgruppen vor, damit Sie sich für eine dieser Gruppen entscheiden können. Danach kommen die verschiedenen Gruppen miteinander in den Austausch. Wie das ablaufen kann, erkläre ich Ihnen dann. 1.  »Geistliche Leitung« heißt Leitung durch den Heiligen Geist und Verzicht auf eigene Macht, mit dieser These arbeiten Peter Böhlemann und Michael Herbst in ihrem Buch »Geistlich leiten« (2011). In Gruppe 1 können Sie eine dreiseitige Zusammenfassung dieses Konzepts lesen und sich darüber austauschen. 2. Ich halte »Geistlich leiten« für einen schwierigen Begriff, kaum fassbar, schillernd, gleichzeitig wird er aber auch bedeutungsschwanger verwendet, so lässt sich ein Einspruch von Ulrich Müller-Weißner (2011) zusammenfassen. Müller-Weißner plädiert dafür, stattdessen von ethischen Führungsgrundsätzen zu sprechen. Lesen und besprechen Sie seinen ebenfalls drei Seiten kurzen Text in Gruppe 2. 3. Das Zeugnis für das Evangelium ist das Ziel und Kriterium für die Kirchenleitung, das ist die Quintessenz eines Textes von Wilfried Härle (2012). Einen Ausschnitt aus seinem Text lesen Sie in Gruppe 3.

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Leiten im Geist

4. Ein geistlicher Halt führt zu einer ebensolchen Grundhaltung, die sich im professionellen Führen und Leiten zeigt, sagte Christoph Meyns (2020) in einem Online-Workshop auf dem Zukunftsforum II der EKD. Lesen Sie in Gruppe 4, wie Meyns das Thema »Leitung« in seine Kirchentheorie im Anschluss an die Bekenntnisschriften einzeichnet. 5. Wie können Einzelne oder Gruppen zu Entscheidungen im Geist der ignatianischen Exerzitien kommen? Lernen Sie in Gruppe 5 zwei Beispiele kennen, die Isabel Hartmann und Reiner Knieling in ihrem Buch »Gemeinde neu denken« (2018) vorstellen. 6. Wenn wir durch den Geist Gottes das Leben haben, wollen wir auch aus diesem Geist heraus unser Leben führen, heißt es in Galater 5,25. In Gruppe 6 können Sie mit Paulus überlegen, was es bedeuten könnte, das Leiten vom Geist bestimmen zu lassen. (Bei einem kleinen Konvent würden Sie 1–2 Gruppen weglassen.) Müssen Sie noch etwas über die Gruppen wissen, bevor Sie sich für eine entscheiden können? Abfrage der Gruppen Dann gebe ich Ihnen jetzt die Kopien. Sie erhalten die Kopien nicht nur für Ihre Gruppe, sondern auch für die anderen, falls Sie später in die Texte schauen wollen. Wir treffen uns hier wieder in 45 Minuten. 6. Während der Gruppenphase können Sie ausrechnen, wie viele Gruppen Sie in der nächsten Phase bilden müssen, damit die Gruppen möglichst gut gemischt sind. Dazu teilen Sie die Anzahl der Teilnehmenden durch die Anzahl der Gruppen in der ersten Phase, dann erhalten Sie die Zahl der neuen Gruppen. Bei 30 Teilnehmenden und 6 Gruppen in der ersten Phase z. B. erhalten Sie 5 Gruppen, die Sie nach Buchstaben benennen: A bis E. 7. Nach 45 Minuten (und ggf. einer Pause) mischen Sie die Gruppen etwa so: Es gibt jetzt die neuen Gruppen A bis E. Jetzt bitte ich eine Person aus Gruppe (1) in die neue Gruppe A, eine aus (1) in die Gruppe B, eine in C, eine in D, eine in E; eine Person aus Gruppe (2) in die Gruppe A, eine in B, usw. Sie haben jetzt 45 Minuten Zeit, einander von Ihren Erkenntnissen zu berichten. 8. Ein Zusammentragen der Ergebnisse im Plenum ist nicht nötig. Mit viel Zeit wäre denkbar, dass die Teilnehmenden anschließend in die ursprünglichen Gruppen (1) bis (6) zurückkehren und einander mitteilen, was sie von den anderen gehört haben.

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Gruppe 1: »Geistliche Leitung« (Böhlemann/Herbst) »Geistliche Leitung« heißt Leitung durch den Heiligen Geist und Verzicht auf eigene Macht, mit dieser These arbeiten Peter Böhlemann und Michael Herbst in ihrem Buch »Geistlich leiten. Sie können nun eine kurze Zusammenfassung dieses Konzepts lesen und sich darüber austauschen: Böhlemann, Peter: Verbindung zu Gott und den Menschen halten. Geistliche Leitung und Gemeindeentwicklung, in: Gemeindekolleg der VELKD (Hg.): Kirche in Bewegung, Mai 2011, Leiten mit Geist, Neudietendorf 2011, S. 4–6. online unter: https://führen-leiten-kirche.de/leiten_im_geist/

Gruppe 2: Ethische Führungsgrundsätze (Müller-Weißner) Ich halte »Geistlich leiten« für einen schwierigen Begriff, kaum fassbar, schillernd, gleichzeitig wird er aber auch bedeutungsschwanger verwendet, so lässt sich ein Einspruch von Ulrich Müller-Weißner (2011) zusammenfassen. Müller-Weißner plädiert dafür, statt von »Geistlicher Leitung« von ethischen Führungsgrundsätzen zu sprechen. Sie können nun den kurzen Text von Müller-Weißner lesen und sich darüber austauschen: Müller-Weißner, Ulrich: Gesetzt den Fall, es gäbe geistliche Leitung. Eine nachdenkliche Annäherung, in: Gemeindekolleg der VELKD (Hg.): Kirche in Bewegung, Mai 2011, Leiten mit Geist, Neudietendorf 2011, S. 7–9. online unter: https://führen-leiten-kirche.de/leiten_im_geist/

Gruppe 3: Das Evangelium als Ziel der Kirchenleitung (Härle) Das Zeugnis für das Evangelium ist das Ziel und Kriterium für die Kirchenleitung, das ist die Quintessenz eines Gutachtens von Wilfried Härle. Aus dem Text von Härle können Sie die kurze Zusammenfassung lesen und besprechen: 1. Härle, Wilfried: Führen und Leiten in der evangelischen Kirche, in: epd-Dokumentationen 6/2012, S. 26–53, online unter: https://www.w-haerle.de/texte/Fueh� ren_und_Leiten.pdf, abgerufen am 14.6.2022, S. 28–29 (Abschnitt 10: Zusammen� fassung der Ergebnisse).

Gruppe 4: Halt, Haltung, Verhalten (Meyns) Ein geistlicher Halt führt zu einer ebensolchen Grundhaltung, die sich im professionellen Führen und Leiten zeigt, sagt Christoph Meyns. Sie können lesen und besprechen, wie Meyns das Thema »Leitung« in seine Kirchentheorie im Anschluss an die Bekenntnisschriften einzeichnet. in diesem Buch: Dieckmann, Detlef: Leiten im Geist. Leiten als Geistliche:r, S. 229–231

Gruppe 5: Entscheidungen im Geist (Hartmann/Knieling) Wie können Einzelne oder Gruppen zu Entscheidungen im Geist der ignatianischen Exerzitien kommen? In dieser Gruppe können Sie ein Beispiel kennenlernen, auf das Hartmann/Knieling verweisen, und eines, das sich bei Bernhard Waldmüller findet:

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Leiten im Geist



  1. Beispiel: Eine Pfarrerin und ihr Kirchenvorstand  

(nach Hartmann/Knieling 2018, S. 110–114) Wie könnte z. B. eine Pfarrerin, deren Kirchenvorstand bei ihrem neuen Konzept für die Gemeindearbeit nicht richtig mitzieht, im Geist der ignatianischen Exerzitien vorgehen? Sie könnte nach Hartmann und Knieling (2018, S. 110–114) … 1. die Freiheit annehmen, zum Beispiel durch ein bis zwei Nächte mit gutem Schlaf, 2. alle inneren Regungen offen und aufmerksam wahrnehmen, mit ihren Gefühlen, mit ihrem Selbstzweifel, mit ihrer Sehnsucht, mit ihrer Enttäuschung und Angst, 3. die Geister unterscheiden, bei sich und anderen, 4. die Alternativen durchspielen, 5. das »Mehr« der Liebe wählen: »Welcher Weg hilft mir, Gott mehr zu lieben? Welche Entscheidung fördert meine Beziehung, ›mit Gott eins, fröhlich und lustig‹ zu sein? Wo kann ich ihm besser ›in freier Liebe‹ umsonst dienen?« (S. 114)

Wie könnte ein kirchliches Gremium vorgehen, wenn es eine schwierige Entscheidung zu treffen hat? Hartmann/Knieling (2018) verweisen hier auf das Buch von Bernhard Waldmüller: Gemeinsam entscheiden (Ignatianische Impulse 27), Würzburg 2008. Darin beschreibt der Autor die ignatianische Methode der »Unterscheidung in Gemeinschaft«, bei der ein Gremium diese elf Fragen für sich beantwortet:



  2. Beispiel: Gemeinsam entscheiden  

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 

»Verstehen wir uns als Gemeinschaft im Glauben? Gibt es in unserem Gremium eine Kultur des Hinhörens? Bemühen wir uns um eine hinreichende innere Freiheit? Nehmen wir uns die nötige Zeit für einen gemeinsamen spirituellen Prozess? Sind die Betroffenen genügend einbezogen? Stimmt die Informationsbasis? Brauchen wir eine Begleitung von außen? Finden wir zur Einmütigkeit? Erfahren wir Trost? Trägt unsere Entscheidung bei zu einem Mehr an Leben, Freiheit usw. für alle? Sind Zuständigkeiten und Aufgaben klar?« (Waldmüller 2008, S. 75–78)

Gruppe 6: Sich vom Geist bestimmen lassen (Paulus) Wenn wir durch den Geist Gottes das Leben haben, wollen wir auch aus diesem Geist heraus unser Leben führen, heißt es in Galater 5,25. In dieser Gruppe können Sie mit Paulus überlegen, was es bedeuten könnte, das Leiten vom Geist bestimmen zu lassen: Galater 5,13–6,5

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Detlef Dieckmann

Autor Detlef Dieckmann, Dr. theol., ist Rektor des Theologischen Studienseminars der VELKD in Pullach, Privatdozent für Altes Testament und zertifizierter Coach. [email protected]

Literatur Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, Tübingen 2007. Aus der Au, Christina: Kirchenleitung durch den Geist Gottes. Ein Handbuch nach den Massstäben einer idealisierten Urgemeinde, in: Reformierte Presse 35, 31.08.2012, S. 13. https://doi.org/10.5167/uzh-117409, abgerufen am 14.12.2021. Blank, Josef: Art. Geist, Hl./Pneumatologie, A. Bibeltheologisch, in: Peter Eicher (Hg.): Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, München 1991, S. 153–162. Böhlemann, Peter/Herbst, Michael: Geistlich leiten. Ein Handbuch, Göttingen 2011. Böhlemann, Peter: Verbindung zu Gott und den Menschen halten. Geistliche Leitung und Gemeindeentwicklung, in: Gemeindekolleg der VELKD (Hg.): Kirche in Bewegung, Mai 2011, Leiten mit Geist, Neudietendorf 2011, S. 4–6. https://führen-leiten-kirche.de/leiten_im_geist/, abgerufen am 11.08.2022. Böhmer, Annegret/Klappenbach, Doris: Mit Humor und Eleganz. Supervision und Coaching in Organisationen und Institutionen, Paderborn 2007. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttinger theologische Lehrbücher, 10 Aufl., Göttingen 1986. Dieckmann, Detlef: Leiten im Geist, in: epd-Dokumentation 44/2014, S. 92–97. Foucault, Michel: Warum ich Macht untersuche : Die Frage des Subjekts. In : Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow (Hg.) : Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt am Main 1978, 243–259 Gräb-Schmidt, Elisabeth: Die Kirche ist kein Unternehmen! Die Rede vom »Unternehmen Kirche« in ekklesiologischer Sicht, in: Joachim Fetzer/Andreas Grabenstein/Eckart Müller (Hg.): Kirche in der Markgesellschaft, Gütersloh 1999, S. 65–80. Hänsel, Markus: Die spirituelle Dimension als sinnstiftender Möglichkeitsraum im Coaching, in: Markus Hänsel (Hg.): Die spirituelle Dimension in Coaching und Beratung, Göttingen 2012, S. 27–62. Hartmann, Isabel/Knieling Reiner: Gemeinde neu denken. Geistliche Orientierung in wachsender Komplexität, 3. Aufl., Gütersloh 2018. Härle, Wilfried: Leiten durch das Wort. Theologische Herausforderungen und Aufgaben für kirchenleitendes Handeln der Lutherischen Kirche in Gegenwart und in Zukunft, in: Texte aus der VELKD 154/2010, S. 22–32. https://www.velkd.de/publikationen/download.php?ef0d3930a7b6c95bd2b32ed45989c61f, abgerufen am 14.12.2021. Härle, Wilfried: Führen und Leiten in der evangelischen Kirche, in: epd-Dokumentationen 6/2012, S. 26–53. https://www.w-haerle.de/texte/Fuehren_und_Leiten.pdf, abgerufen am 14.6.2022 Hüther, Gerald: Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neuro-biologischer Mutmacher, 3. Aufl., Frankfurt 2017. Hauschild, Eberhard/Pohl-Patalong, Uta: Kirche. Lehrbuch Praktische Theologie 4, Gütersloh 2013. Jacob, Benno: Das Buch Genesis, Stuttgart 2000 (Nachdruck der ersten Auflage Berlin 1934). Lauster, Jörg: Der Heilige Geist. Eine Biographie, München 2021. Luther, Martin: An den christlichen Adel deutscher Nation (1520), vgl. WA VI, S. 407. Meyns, Christoph: Geistlich leiten? Workshop auf dem EKD-Zukunftsforum am 4.11.2020. Müller-Weißner, Ulrich: Gesetzt den Fall, es gäbe geistliche Leitung. Eine nachdenkliche Annäherung, in: Gemeindekolleg der VELKD (Hg.): Kirche in Bewegung, Mai 2011, Leiten mit Geist, Neudietendorf 2011, S. 7–9. https://führen-leiten-kirche.de/leiten_im_geist/, abgerufen am 11.08.2022. Preul, Reiner: Kirche als Bildungsinstitution, in: Friedrich Schweitzer (Hg.): Der Bildungsauftrag des Protestantismus, Gütersloh 2002, S. 101–123. Scharmer, Otto C.: Essentials der Theorie U. Grundprinzip und Anwendungen, Heidelberg 2019. Steinkamp, Hermann: Lange Schatten der Pastoralmacht. Theologisch-kritische Rückfragen (Diakonik 13), Berlin 2015. Ricoeur, Paul: Philosophisch und theologische Hermeneutik, in: Paul Ricoeur/Eberhard Jüngel: Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, Evangelische Theologie Sonderheft, München 1974, 24–44. Waldmüller, Bernhard: Gemeinsam entscheiden (Ignatianische Impulse 27), Würzburg 2008. Welker, Michael: Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, 5. Aufl., Neukirchen-Vluyn 2013. Wolter, Michael: Paulus. Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, S. 178.

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Öffentlichkeitsarbeit Raus in die Welt! Henrike Müller Î Was ist Öffentlichkeitsarbeit? Warum ist sie Leitungsaufgabe? Î Wie entsteht ein Konzept für Öffentlichkeitsarbeit? Welche Schritte sind zu bedenken? Î Was ist in Krisensituationen zu beachten? Wie kommuniziere ich Veränderungen?

1 Öffentlichkeitsarbeit – erkennbar evangelisch Warum Öffentlichkeitsarbeit? Die Kirche ist ihrem Wesen nach öffentlich – das ist eine ekklesiologische Grundbestim­ mung und entspricht ihrem Auftrag, das Evangelium aller Welt bekannt zu machen (Mk 16,15). Zur öffentlichen Kommunikation der Kirche gehört die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat. Dies geschieht durch die klassischen Verkündigungsformate wie Gottesdienste und Andachten, durch Diakonie, Seelsorge und Bildung. Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat bedeutet auch, in der Öffentlichkeit präsent zu sein, evangelische Positionen im gesellschaftlichen und politischen Diskurs zu vertreten, Orientierung in ethischen Fragen zu geben, zu einer öffentlichen Trauerkultur, zum friedlichen Miteinander der Religionen und Kulturen, zur Gestaltung des Festjahres der Stadtöffentlichkeit beizutragen und vieles mehr. Wie kann es gelingen, präsent zu sein, wahrgenommen zu werden und dabei den richtigen Ton für die vielen Kommunikationsanlässe zu treffen, von Schützenfest bis Totensonntag, von Strukturdebatten bis zur handfesten Krise? Kirchliche Öffentlichkeitsarbeit erfordert einen genauen Blick, eine sorgfältige Planung und ein kompetentes Team. In einer ständig wachsenden Vielfalt von Angeboten, Plattformen, Formaten ist die Kirche, sind ihre Vertreter:innen nur wenige unter vielen und deshalb herausgefordert, mit einem klaren evangelischen Profil erkennbar zu sein. Denn auch wenn die Selbstverständlichkeit, mit der die Kirche eine öffentliche Rolle spielt, weiter abnimmt, verliert doch der Auftrag der Kirche zur öffentlichen Verkündigung in Wort und Tat nicht an Relevanz. Deshalb ist die Kirche und sind diejenigen, die in ihr und für sie handeln und sprechen, gefragt, ihre öffentliche Kommunikation immer wieder kritisch zu prüfen (und sie gegebenenfalls aus gutem Grund unbeirrt fortzusetzen). Zu dieser kritischen Prüfung gehört es, die Ziele und Mittel sorgfältig und professionell abzuwägen und den Auftrag nicht aus dem Blick zu verlieren, der jenseits dessen liegt, was mit kommunikationswissenschaftlichen Methoden zu beeinflussen oder mit betriebswirtschaftlichen Mitteln zu steuern ist. Umfragen und Analysen in den zurückliegenden Jahrzehnten haben zwar gezeigt, dass große Institutionen – das betrifft Parteien, Verbände, Vereine ebenso wie Gewerkschaften und Kirchen – an Bindungskraft verloren haben. Gleichzeitig aber sind regionale, lokale, persönliche Bezüge von Bedeutung: Vertrauen in die Institution Kirche wächst dort, wo

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sie im Dorf, in der Stadt, in der Region präsent ist, das gesellschaftliche Leben mitgestaltet; wo sich ihre Botschaft als hilfreich, tröstend, bereichernd erweist, und nicht zuletzt da, wo Menschen persönliche und positive Erfahrungen mit den Personen machen, die die Institution repräsentieren. Fragen zur Reflexion a. Wie erlebe ich in meinem Arbeits- und Lebensumfeld die öffentliche Relevanz der Kirche? b. Wird die Kirche in der Stadt/im Ort als Teil der Öffentlichkeit wahrgenommen? c. Sind die Vertreter:innen der Kirche präsent, werden ihre Position gefragt und gehört? d. Ist die evangelische Kirche regelmäßig Teil der öffentlichen Berichterstattung? e. Welche Themenfelder sind von öffentlichem Interesse?

Der Begriff »Öffentlichkeitarbeit« gilt im allgemeinen Sprachgebrauch als Übersetzung des englischen Begriffs »Public relations« und geht auf Albert Oeckel zurück. Es gibt in der Literatur verschiedene Versuche, Öffentlichkeitsarbeit zu definieren. Eine Minimalbestimmung stammt von Grunig/Hunt (1984, S. 6): »Public Relations is the management of communication between an organization and its publics«; die Deutsche Public Relations-Gesellschaft definiert Öffentlichkeitsarbeit als »Pflege und Förderung der Beziehungen eines Unternehmens, einer Organisation oder Institution zur Öffentlichkeit; sie sind unternehmerische Führungsaufgabe« (Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik 2004, S. 39–40). An diesen Definitionen lässt sich erkennen: Organisationen sind – systemisch betrachtet – untrennbar mit ihrem sozialen Umfeld verbunden und darum per se Teil der Öffentlichkeit und der öffentlichen Kommunikation. Diese Öffentlichkeit differenziert sich in viele (Teil-)Öffentlichkeiten. Die Hauptaufgabe der Öffentlichkeitsarbeit besteht darin, die kommunikativen Beziehungen zwischen einer Organisation und ihren Teilöffentlichkeiten bzw. Bezugsgruppen1 (engl. stakeholder) so zu organisieren und zu regeln, dass diese Beziehungen der Organisation nützen und ihre Interessen fördern. Während die englische Bezeichnung »public relations« die Beziehungen zur Öffentlichkeit in den Vordergrund stellt, betont der deutsche Begriff »Öffentlichkeitsarbeit«, dass es sich bei diesem Themenfeld um Arbeit handelt – also um eine zielgerichtete, zweckmäßige, planerische, aber auch kreative Aufgabe. Wenn es gelingt, die Beziehungen einer Organisation im oben genannten Sinn zu organisieren, dann ist das weder Zufall noch Glück, sondern Ergebnis der professionellen Erledigung einer Aufgabe, die zugleich als Führungsaufgabe definiert ist. Öffentlichkeitsarbeit als Leitungsaufgabe Mittlerweile gibt es auf allen Ebenen kirchlicher Organisation Fachstellen oder Beauftragte für Kommunikation und Medien-/Öffentlichkeitsarbeit – von den Stabsstellen großer gesamtkirchlicher Organisationen und Werke bis zu Öffentlichkeitsbeauftragten in Kirchengemeinden. Auf Ebene der Kirchenkreise und Dekanate stehen üblicherweise 1 Für die Öffentlichkeitsarbeit eines Kirchenkreises lassen sich beispielhaft unterschiedliche Teilöffentlichkeiten oder Bezugsgruppen nennen: Mitglieder und Mitarbeitende; Kirchengemeinden und kirchliche Einrichtungen innerhalb des Kirchenkreises; Entscheidungsträger:innen in der Stadtöffentlichkeit; andere kirchliche, kulturelle oder soziale Anbieter; Medien; Tourist:innen; die allgemeine Öffentlichkeit; Nachbar:innen und Passant:innen. Die Regelung der kommunikativen Beziehungen zu diesen Bezugsgruppen ist abhängig von Kommunikationsanlass und -ziel.

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Öffentlichkeitsarbeit

(geringe) Stellenanteile für diese Aufgabe zur Verfügung. Die Folge ist, dass die Öffentlichkeitsarbeit im Zusammenspiel von Haupt- und Ehrenamtlichen, von Fachpersonen und Laien verantwortet wird. In Kirchengemeinden sind es oft ausschließlich Ehrenamtliche, die diese Arbeit gemeinsam mit dem:der Pfarrer:in oder Verwaltungsmitarbeiter:in leisten. Es ist ein Glücksfall, wenn professionelle Kommunikator:innen sich ehrenamtlich engagieren. Umso wichtiger ist es, dass Haushaltsverantwortliche Mittel zur Verfügung zu stellen, um Menschen für die Öffentlichkeitsarbeit zu qualifizieren oder für bestimmte Projekte die Dienstleistung von Drittanbietern in Anspruch nehmen zu können. Zudem ist es sinnvoll, dass Leitende Kirchenkreise und Gemeinden ermutigen, die unterstützenden Angebote der Gliedkirchen zu nutzen – zum einen wegen der entstehenden Synergieeffekte, zum anderen zur Förderung eines überregional wiedererkennbaren Erscheinungsbildes. f. »Brot für die Welt« hat 2019 2,5 Prozent der Mittel für Werbung und allgemeine Öffentlichkeitsarbeit aufgewendet (Brot für die Welt 2020), in großen Unternehmen kann das PRBudget 10 bis 20 Prozent des Jahresumsatzes umfassen. Welchen Anteil hat das Budget für Öffentlichkeitsarbeit in Ihrem Kirchenkreis oder Ihrer Kirchengemeinde?

Damit die Vielfalt der Kommunikationsanlässe und die vielen Maßnahmen nicht zum bunten Durcheinander unterschiedlicher Botschaften, Farben und Bilder führt, brauchen alle Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit eine gemeinsame Grundlage. Diese Grundlage basiert auf bestimmten Grundannahmen und Werten der Organisation, hat die Geschichte und Organisationskultur im Blick, weiß um die strategischen Ziele und Entscheidungen und berücksichtigt das Corporate Design. Idealerweise tragen die unterschiedlichen Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit dazu bei, die Organisation in der Öffentlichkeit erkennbar zu halten, ein positives Bild zu verankern, Vertrauen zu stärken, an Bekanntes anzuknüpfen – egal ob es sich um einen Stand auf der regionalen Hochzeitsmesse, eine Einladung zum Tauffest, die Kirchenzeitung, den täglichen Abendsegen auf Instagram oder das kirchenmusikalische Jahresprogramm der Stadtkirche handelt. Gute Öffentlichkeitsarbeit hat stets das Ganze im Blick und ist »Anwalt der kommunikativen Konsequenzen organisationspolitischer Entscheidungen« (Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik 2004, S. 42). Daher ist Öffentlichkeitsarbeit als teambasierte Leitungsaufgabe zu verankern: Die strategischen Entscheidungen im Blick auf Kommunikationsmaßnahmen werden mit der Leitung abgestimmt und von ihr mitgetragen. Denn die Leitungspersonen sind in der Regel das Gesicht nach außen, werden in der Stadt- oder Dorföffentlichkeit erkannt und angesprochen, sind erste:r Ansprechpartner:in, wenn es um öffentliche Kommentare, Grußworte, Medienanfragen geht. Gleichzeitig müssen diejenigen, die das operative Geschäft verantworten (Öffentlichkeitsausschuss, Internetbeauftragte, Social-Media-Verantwortliche, Pressesprecher:innen), den Rahmen kennen, innerhalb dessen sie agieren. Die Aufgabe der leitenden Personen besteht indes nicht darin, die Kommunikationsmaßnahmen allein zu steuern. Hier ist Teamwork von Kommunikationsfachleuten und Leitungsfachleuten gefragt. In der Regel lassen sich diese Strukturen am besten durch regelmäßig tagende Ausschüsse oder gemeinsame Jour fixes von PR-Beauftragten und Leitenden abbilden.

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Henrike Müller

Theologische Impulse Die Verkündigung des Evangeliums ist ein Kommunikationsgeschehen, christlicher Glaube ist von Anfang an medial vermittelter Glaube – Kommunikation ist also eine kirchliche Kernaufgabe. Damit diese gelingt, kann die Kirche ihren Auftrag zur öffentlichen Verkündigung nicht losgelöst von kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen verstehen, sondern agiert innerhalb der kulturellen Rahmenbedingungen und nutzt die Mittel und Wege, die ihrem Auftrag dienen. Den Verkündigungsauftrag des Auferstandenen (Mt 28,19–20; Mk 16,15), der sich an Menschen richtete, die zu Fuß unterwegs waren und das Evangelium mündlich weitertrugen, passte Paulus schon wenige Jahrzehnte später an die Notwendigkeiten seiner Zeit an, indem er den Kontakt zu den weit auseinanderliegenden Gemeinden im ausgedehnten römischen Reich durch theologische Briefe hält. In der Reformationszeit entwickelt sich durch die Nutzung des Buchdrucks für Flugblätter und Schriften, durch Disputationen, durch Texte und Lieder in deutscher Sprache eine bis dahin beispiellose kommunikative Dynamik. Im Zuge der Entwicklung der Massenpresse entstehen im 19. Jahrhundert erste Kirchenzeitungen, bereits 1910 wird der Vorläufer des heutigen »Evangelischen Pressedienstes« (epd) gegründet. Am 4. Dezember 1952 wird der erste evangelische Fernsehgottesdienst im öffentlich-rechtlichen Rundfunk übertragen, eine lebhafte und kontroverse Debatte begleitet die Ausstrahlung von Gottesdiensten. Heute ist es die digital vermittelte Kommunikation, die nahezu alle Lebensbereiche prägt und auch die Kommunikation der Kirche verändert: Neben den Gemeindebrief treten Homepage und Präsenz in sozialen Netzwerken, neben den Gottesdienst und das Treffen im Gemeindehaus tritt die virtuelle Gemeinschaft, neben die gezielte öffentliche Kommunikation einiger die Vervielfältigung der Stimmen durch breit gestreute Beteiligungsmöglichkeiten im digitalen Raum. Die vielfältigen Verkündigungsformate in den jeweiligen Medien ihrer Zeit tragen dazu bei, Botschaft und Empfänger:innen miteinander in Verbindung zu bringen. Dass dieser Weg keine Einbahnstraße ist, sondern dass Hörer:innen und Leser:innen zur Rezeption des Gehörten und Gesehenen beitragen, haben kommunikationstheoretische und rezeptionsästhetische Modelle gezeigt. Im Kontext der fortschreitenden Digitalisierung sind Themen wie das Verhältnis von Virtualität und Religion, Fragen nach Identität, Leiblichkeit und Körperlichkeit, aktuell auch die Frage nach Sakramentsfeiern in medial vermittelten Gottesdiensten theologisch immer wieder neu zu bestimmen – ebenso wie die Frage, wie kirchliche Organisationen und Strukturen sowie öffentliche Religionspraxis sich durch digitale Kommunikation weiter verändern werden (→ Kap.  6 Digitalisierung). Auch hier ist es Aufgabe von Leitungspersonen, die theologische Reflexion anzuregen, im theologischen Gespräch ebenso wie in der öffentlichen Debatte zur Orientierung und zur eigenen Positionsbestimmung beizutragen. (Zu den öffentlichen Äußerungen der Evangelischen Kirche und zur Geschichte und Bedeutung der Denkschriften → Kap. 18 Öffentliche Theologie.) Bibeltexte zum Thema Matthäus 5,14–15

»Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind.« Matthäus 10,27

»Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das verkündigt auf den Dächern.«

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Öffentlichkeitsarbeit

1. Korinther 9,20–22

Paulus schreibt: »Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen unter dem Gesetz bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, damit ich die unter dem Gesetz gewinne. Denen ohne Gesetz bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin im Gesetz vor Christus –, damit ich die ohne Gesetz gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise etliche rette.«

2 Zur Praxis der Öffentlichkeitsarbeit – mehr als nur Flyer Der erste Eindruck: Personen und Räume »Der Pressesprecher im Freizeitlook (oder gar ein Bischof bei einer Pressekonferenz in Jeans) mag ein schönes Foto ergeben. Aber für die Kirche und die Darstellung der Arbeit trägt das nichts aus […]. Journalistinnen und Journalisten […] reagieren in der Regel wie Konfirmandinnen und Konfirmanden, wenn sie einen Pastor/eine Pastorin sehen, der/die sich im Blick auf den Kleidungsstil den Jugendlichen anzupassen versucht: Sie […] entwickeln ein negatives Gefühl, so dass das, was der Pfarrer/die Pfarrerin zu sagen hat, noch weniger aufmerksam gehört wird.« (Schmidt-Rost/Dennerlein 2004, S. 27) Unterschiedliche Organisationskulturen, Anlässe und Themen erfordern und ermöglichen unterschiedliche Auftritte: Mal sorgt die Jeans für Irritation, mal der Lutherrock. Es gibt Branchen, Funktionen und Anlässe, für die ein explizit oder implizit kommunizierter Dresscode gilt. In der evangelischen Kirche ist das – abgesehen von liturgischer Kleidung – nicht der Fall: Protestantische Freiheit und Vielfalt in der evangelischen Kirche gelten auch für den öffentlichen Auftritt ihrer Repräsentant:innen. Jedoch gilt jenseits aller individueller Freiheit, dass eine Leitungsperson in der Öffentlichkeit nicht nur sich selbst, sondern immer auch die Organisation vertritt, für die sie steht. Darum ist es Teil der Öffentlichkeitsarbeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie Amt, Anlass und persönlicher Stil zu einem stimmigen und angemessenen Gesamteindruck führen. Dasselbe gilt für kirchliche Räume: Sie vermitteln eine eigene Botschaft, die im Idealfall zum kommunikativen Gesamtkonzept passt. Ist der Eingangsbereich der Kirche oder des Gemeindehauses einladend? Liegen aktuelle Informationen aus? Finden sich Ortsunkundige zurecht? Gibt es ein erkennbares Gestaltungsprinzip? Ist es warm genug? Der bauliche und energetische Zustand kirchlicher Gebäude hängt oft von äußeren Faktoren ab, die nicht einfach zu verändern sind; die wirtschaftlichen Möglichkeiten einer Kirchengemeinde oder eines Kirchenkreises setzen den (innen-)architektonischen Fantasien häufig Grenzen, und die Traditionen und Gruppen, die eine Gemeinde und ihre Gebäude prägen, hinterlassen Spuren, die weit in die Geschichte zurückreichen. Wenn jedoch Konsens darüber besteht, dass auch die Raumgestaltung zu einer professionellen Öffentlichkeitsarbeit beiträgt, können schon kleine Maßnahmen den ersten Eindruck verändern. g. Gehen Sie wie ein:e Fremde:r durch das Gemeindehaus: Was nehmen Sie als Erstes wahr? Was fehlt Ihnen? Fühlen Sie sich willkommen? Finden Sie sich zurecht? Sehen Sie nur, was Sie als Gast sehen sollten?

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Mit Wiedererkennungswert: Corporate Design Egal ob in Büsum oder Passau, in Dortmund oder Görlitz: Die Autos vom Pflegedienst in der Trägerschaft des Diakonischen Werkes tragen ein Kronenkreuz, das Zeichen der Diakonie Deutschland. Das sorgt trotz regionaler Verbandstruktur für ein hohes Maß an Wiedererkennbarkeit einer Marke, die auch Menschen außerhalb der Kirche als qualitätsvoll und vertrauenswürdig wahrnehmen. In der Evangelischen Kirche in Deutschland gibt es aufgrund ihrer föderalen Struktur kein bundesweit einheitliches Erscheinungsbild, jedoch haben alle Gliedkirchen und die gliedkirchlichen Gemeinschaften ein eigenes Corporate Design. Das Corporate Design besteht in der Regel aus einem Logo oder einer Wort-Bild-Marke, aus Schriften, Farben und Gestaltungselementen und umfasst das äußere Erscheinungsbild aller Kommunikationsmittel – Printprodukte und digitale Medien, Geschäftspapiere, Werbemittel u. v. m. Kirchliche Medienhäuser bieten Dienstleistungen an, um die Kirchenkreise und Kirchengemeinden bei der Gestaltung ihres Corporate Designs und ihrer Kommunikationsmedien zu unterstützen. Vielfach sind gute und professionelle Lösungen entwickelt worden, um die Struktur und das Corporate Design der Landeskirche mit individuellen Gestaltungen der regionalen Ebenen zu verbinden und damit zugleich ein hohes Maß an kommunikativer Professionalität auch in der Fläche zu gewährleisten. Die Stärke eines einheitlichen Auftritts besteht in der Wiedererkennbarkeit und der Verbindung mit der Gesamtorganisation, die die Menschen im Idealfall als vertrauensvoll und qualitätsvoll wahrnehmen. Sowohl als auch: analog und digital In der Kirche sind trotz der verbreiteten Nutzung digitaler Kommunikationsmedien weiterhin Druckerzeugnisse und analoge Medien wichtige Bestandteile kirchlicher Kommunikation: Gemeindebrief und Schaukasten, Mitgliederzeitschriften und Kirchenkreisführer, Flyer und Gottesdienstliederzettel sind aus dem kirchengemeindlichen Alltag (noch) nicht wegzudenken. Das mag daran liegen, dass statistisch unter Kirchenmitgliedern wie Leitenden die Generation stärker vertreten ist, die weniger selbstverständlich mit digitalen Medien umgeht; gewiss spielen auch Traditionstreue, Beharrungskraft und das Bedürfnis, alte Kulturtechniken zu schützen, eine Rolle. Gleichzeitig wächst die #digitalekirche mit der ihr eigenen Vielfalt der Handelnden, Plattformen und Formate. Das Jahr 2020 hat durch den erzwungenen Verzicht auf gewohnte Formate der Vergemeinschaftung einen Digitalisierungsschub ausgelöst, wie Untersuchungen zeigen (EKD 2020). Kirchliche Öffentlichkeitsarbeit steht damit vor der Herausforderung, traditionelle analoge Kommunikationswege und die Menschen, die ausschließlich auf diesem Weg erreichbar sind, nicht zu vernachlässigen und zugleich digitale und sich fortwährend weiterentwickelnde neue Kommunikationsmöglichkeiten zu nutzen.

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Öffentlichkeitsarbeit

Auf allen Kanälen: Instrumente der Öffentlichkeitsarbeit Kirche kommuniziert öffentlich und stellt durch bestimmte Formate selbst Öffentlichkeit her. Kirchliche Kommunikation nutzt die Instrumente der Presse- und Medienarbeit, Öffentlichkeitsarbeit und Publizistik und die öffentlich-rechtlichen und privaten Medien – im Einzelnen: – Personale Kommunikation: Grußworte, Podiumsdiskussionen, öffentliche Veranstaltungen/Messen, (Fest-)Gottesdienste, Events – Presse-/Medienarbeit: Pressemitteilung, Pressekonferenz, Pressegespräch, Andacht in der Lokalzeitung, Leitartikel/Kommentar zu aktuellen Fragestellungen, Hintergrundgespräch (→ Kap.  16 Pressearbeit) – Printprodukte/Publizistik: Gemeindebrief, kirchenkreisweite oder landeskirchenweite Mitgliederzeitung, Flyer, Plakat, Mitgliederschreiben, Schaukasten, Kampagnen (auch digital) – Digitale Kommunikation: Internetseite, Präsenz in sozialen Netzwerken, Newsletter, Apps, gestreamte oder medial übertragene Gottesdienste oder Andachten, Podcasts – Rundfunk/Fernsehen: Interview, Andacht im (Lokal-)Radio, Podcast etc. (→ Kap.  17 Sendungsbewusst – evangelische Rundfunkarbeit)

3 Öffentlichkeitsarbeit mit Konzept »Professionelle kirchliche Kommunikation im öffentlichen Raum setzt voraus, dass die handelnden Personen sich der ›Rolle‹, die die Kirche in der jeweiligen Situation und in ihrem jeweiligen Kommunikationszusammenhang spielt, bewusst sind. Jede Kommunikation setzt eine differenzierende Reflexion über Inhalt, Ziel und Verbreitungswege voraus.« (Haberer/Birgden 2007, S. 604) Ein Konzept im Sinne einer »differenzierende[n] Reflexion« ist Voraussetzung für erfolgreiche Kommunikation. Das Handwerkszeug für Konzeptentwicklung, das den Weg von Analyse über Strategie und Umsetzung zur Evaluation beschreibt, lässt sich in der Regel auf alle Kommunikationsanlässe anwenden – egal ob Sie eine Ausstellung mit Vernissage und Begleitprogramm planen, ein regionales Tauffest am Flussufer organisieren, eine Themenwoche zum interkulturellen Miteinander mit unterschiedlichen Projektpartner:innen entwickeln, einen Kirchgeldbrief schreiben oder grundsätzlich die Kommunikation Ihrer Gemeinde, Ihres Kirchenkreises neu aufstellen möchten. Zehn Schritte konzeptioneller Öffentlichkeitsarbeit Im Folgenden werden zehn Schritte konzeptioneller Öffentlichkeitsarbeit dargestellt, am Beispiel eines regionalen Tauffestes werden exemplarisch einzelne Fragen formuliert. Je komplexer das Projekt ist, je mehr Bezugsgruppen beteiligt sind, desto differenzierter wird das Konzept. Analyse

1. Was ist die Ausgangssituation? Hier geht es darum, Grundsätzliches über die Organisation festzuhalten (auf das immer wieder zurückgegriffen werden kann): Was macht die Organisation aus? Welche Kultur, Werte, welche Geschichte prägen sie? Dieser erste Analyseschritt ist von Bedeutung, wenn eine externe Agentur ein Konzept entwickelt und den:die Auftraggeber:in kennenlernen möchte.

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2. Problemanalyse: Mit einem Werkzeug wie der SWOT-Analyse lässt sich schnell ein Überblick über Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken des geplanten Projekts gewinnen. Dabei stehen Stärken und Schwächen für die internen Faktoren, Chancen und Risiken für die externen. Im Blick auf die Entwicklung eines Kommunikationskonzepts für ein regionales Tauffest könnte die Analyse beispielhaft Folgendes ergeben: – Stärken: Gemeinschaftserlebnis, Eventcharakter, Entlastung der Familien – Schwächen: geringe Möglichkeit für individuelle Ausgestaltung, kein Kirchraum, hoher Personalbedarf – Chancen: landschaftlich attraktiver Taufort, öffentliche Aufmerksamkeit – Risiken: Wetterlage, geringe Taufbereitschaft Bedenken Sie auch: Von welcher Seite können kritische Anfragen kommen? Im konkreten Fall: Wie antworten Sie auf Nachfragen zur Finanzierung eines Festes, das für die Teilnehmenden kostenfrei ist? Welches Umwelt- und Nachhaltigkeitskonzept liegt dem Fest in freier Natur zugrunde?

Stärken – Strengths

Schwächen – Weaknesses

– – – – –

– – – –

Welche Faktoren führen zum Erfolg? Worin sind wir besser als andere? Haben wir einzigartige Ressourcen? Welche Vorteile haben wir? Was ist unser USP?

Was können wir verbessern? Was sollten wir vermeiden? Welche Faktoren führen zum Misserfolg? Worin sehen andere unsere Schwächen?

Chancen – Opportunities

Risiken – Threats

– – – –

– Welche Risiken bestehen? – Was macht der Wettbewerb? – Haben wir Schulden oder finanzielle Probleme? – Stellen Schwachstellen eine Gefahr dar? – Ändern sich Qualitätsstandards?

Welche Chancen bestehen? Sind wir uns neuer Trends bewusst? Welche Gesetzesänderungen gibt es? Haben gesellschaftliche Entwicklungen Einfluss? – Bieten lokale Ereignisse neue Chancen? Eigene Darstellung nach: swot-analyse.net o. J.

3. Aufgabenstellung formulieren: Welche kommunikativen Probleme soll das Konzept lösen? Im Beispielfall könnte die Aufgabenstellung lauten, eine Kommunikationsstrategie zu entwickeln, um Familien mit noch nicht getauften Kindern einzuladen, für das Projekt um Akzeptanz im Kirchenkreis und in der Stadtöffentlichkeit zu werben und Unterstützer:innen und Sponsor:innen für die Veranstaltung zu gewinnen.

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Öffentlichkeitsarbeit

Strategie

4. Ziele definieren: Aus der Aufgabenstellung lassen sich nun Ziele für die zu entwickelnden Maßnahmen ableiten. Im Unterschied zu Wünschen sind Ziele realistisch, terminierbar und messbar.2 5. Zielgruppen benennen: Eine Organisation wie eine Kirchengemeinde oder ein Kirchenkreis steht immer in Beziehung zu verschiedenen Teilöffentlichkeiten, die oben als Bezugsgruppen beschrieben wurden. Wenn Bezugsgruppen für die Entwicklung kommunikativer Maßnahmen in den Blick kommen, werden sie zu Zielgruppen – in diesem Fall zum Beispiel Familien, die im Gebiet der Gemeinde/des Kirchenkreises wohnen und die mindestens ein nicht getauftes Kind bis 14 Jahre haben, oder mittelständische Unternehmen, die als Sponsoren angefragt werden. 6. Botschaften ableiten: Welche Botschaften sollen bei den Zielgruppen im Blick auf das Projekt nachhaltig im Kopf bleiben? Im Blick auf die einzuladenden Familien könnte die Botschaft lauten: »Taufe ist ein Fest in großer Gemeinschaft, das mir keine Arbeit macht« (eine Botschaft ist noch kein Claim, also noch nicht die kurze, einprägsame Formulierung, die dann im Zusammenhang mit den Maßnahmen verwendet wird). 7. Strategien beantworten die Frage, auf welche Weise die vorher formulierten Ziele erreicht werden und bilden das Dach, unter dem die einzelnen Maßnahmen verbunden werden.

Umsetzung

8. Maßnahmen: Jetzt beginnt der kreative Teil der Arbeit. Nun holen Sie konkrete Maßnahmen, die in den vorherigen Schritten schon im Raum standen, aus dem Themenspeicher hervor und prüfen, ob sie helfen, dass die Botschaften bei den Zielgruppen ankommen und zur Zielerreichung beitragen. 9. Der Zeit- und Kostenrahmen ist der weniger kreative, gleichwohl nicht weniger wichtige Teil eines Konzepts: Welche Mittel stehen zur Verfügung, welche müssen eingeworben werden? Wie sieht der Zeitplan aus, zurückgerechnet vom geplanten Durchführungszeitraum? Welche weiteren Faktoren (Jahresplanungen, Redaktionsschlüsse, Ferienzeiten, Einladungsfristen …) müssen bei der Planung berücksichtigt werden? 10. Evaluation: Nehmen Sie sich hinterher Zeit für die Evaluation. Haben wir unsere Ziele erreicht? Wenn nein: Warum nicht? Wenn ja: Was waren die Erfolgsfaktoren? Welche Erfahrungen im Blick auf Zusammenarbeit, Konzeptionsarbeit, Projektmanagement etc. haben Sie gemacht, die Sie für die Zukunft nutzen möchten? Puttenat, Daniela: Praxishandbuch Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Der kleine PR-Coach, 2. Aufl., Wiesbaden 2012, S. 11–21.

2 Zur Zieldefinition hat sich die sogenannte SMART-Formel etabliert: Ziele sollen spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und terminierbar sein (vgl. z. B. Wikipedia 2020).

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4 Nicht alltäglich? Krisen und Veränderungen Krisenkommunikation »Für den Bereich des Wirtschaftslebens definieren wir Krisen als Ereignisse oder Störungen, die nachhaltigen negativen Einfluss auf die Rentabilität oder die Reputation des Unternehmens haben (können) und zur Schadensminderung aktives Krisenmanagement benötigen. Jede Krisenreaktion hat demnach eine operative und eine kommunikative Komponente. […] Krisenkommunikation ist insofern stets zwingender Bestandteil des (operativen) Krisenmanagements und umgekehrt. Für die Kommunikation bedeutsam: Es kommt bei der Krisen-Wahrnehmung häufig nicht auf die Tatsachen an, sondern auf die (öffentliche) Meinung.« (Hofmann/Höbel 2013, S. 12) Ereignisse oder Störungen, die nachhaltigen negativen Einfluss auf die Reputation haben können, gibt es nicht nur in Wirtschaftsunternehmen, sondern natürlich auch in der Kirche. Sie sind nicht alltäglich, können aber täglich eintreten. Krisen stellen besondere Anforderungen an Leitungspersonen und Kommunikator:innen, erfordern schnelle Reaktion, klare Verfahrenswege, abgestimmte Botschaften und eine gute Vor- und Nachbereitung. Wie auch sonst ist in Krisensituationen professionelle Kommunikation gefragt – nun aber zeitlich, organisatorisch und thematisch konzentriert. Eine der größten Krisen in der evangelischen und katholischen Kirche in den zurückliegenden Jahren sind Wahrnehmung und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in kirchlichen Einrichtungen und Kirchengemeinden. Auch Finanz-, Vertrauens- und Personenkrisen, Krisen durch (angeordnete) Veränderungsprozesse, durch den Umgang mit historischem Erbe u. Ä. beschäftigen Kirchen und Kirchengemeinden. Krisen – ganz gleich, welcher Art – haben meist ein überraschendes Moment, weil das auslösende Ereignis oder die Geschwindigkeit, mit der es sich zur Krise entwickelt – schlimmstenfalls sogar beides – nicht abzusehen sind. In Krisensituationen müssen Entscheidungen getroffen werden, ohne dass es umfassende und ausreichende Informationen gibt; die Situation verändert sich schnell, die öffentliche und mediale Aufmerksamkeit ist in der Regel sehr hoch (Mast 2019, S. 473). Deshalb besteht in Krisen die Gefahr, dass die verantwortlichen Personen kurzsichtig oder gar nicht agieren, in Panik oder in Schweigen verfallen, die Kontrolle verlieren. Diese Gefahr vergrößert sich, wenn in Krisensituationen die Kommunikationsverantwortlichen unvorbereitet sind, die Leitungsverantwortlichen defensiv agieren oder zu viele unterschiedliche Personen die Krise mit unterschiedlichen Stimmen kommentieren. Vor der Krise

»Es ist nicht die Frage, ob eine Krise eintritt, sondern nur wann und welche« (Mast 2019, S. 473). Krisen können nicht grundsätzlich vermieden werden – deshalb ist es klug, sich rechtzeitig auf den Ernstfall einzustellen. Prozessabläufe, die in der Krise schnell greifen müssen, lassen sich schon im Vorfeld im Rahmen der alltäglichen Arbeitsorganisation besprechen, wenn sie nicht ohnehin durch Zuständigkeiten und Personalschlüssel festgelegt sind: Wer informiert wen, wenn Unvorhergesehenes eintritt? Wie sind verantwortliche Personen im Notfall zu erreichen? Wer entwirft die Kernbotschaften, wer gibt sie frei, wer gibt sie an wen weiter? Wer übernimmt im Notfall welche Aufgaben? Die Beobachtung des Umfelds und der Medienlage kann Hinweise auf drohende Krisen liefern. Im Nachbarkirchenkreis ist eine Glocke mit Symbolen aus der Zeit des Nationalsozialismus gefunden worden? Überprüfen Sie zur Sicherheit alle Glocken in Ihrem Bezirk. Auf dem Wochenmarkt werden Sie auf die geplante, bisher noch nicht öffentlich

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Öffentlichkeitsarbeit

gemachte Entwidmung eines Kirchengebäudes angesprochen? Bereiten Sie zügig eine Stellungnahme vor, falls die Lokalpresse schon davon erfahren hat. Kernbotschaften der Krisenmanager:innen 1. 2. 3. 4. 5.



Wir haben ein Problem. Wir haben es erkannt und arbeiten daran. Wir sind kompetent in der Problemlösung. Wir informieren umfassend und kontinuierlich. Und dann – wenn die Zeiten wieder ruhiger werden und die heiße Medienberichterstattung abgeflaut ist – gilt es, offensiv Themen zu besetzen, um eventuelle Reputationsschäden wieder auszugleichen. (Vgl. Mast 2019, S. 487)

In der Krise

Wenn eine Krise eingetreten ist, gilt das »Grundgesetz einer effizienten Krisenkommunikation«: »Schnell sein, konsistent und möglichst offen ohne Widersprüche mit einer Stimme sprechen.« (Mast 2019, S. 477) Gerade von der Kirche wird nicht nur – wie von anderen Unternehmen – Kompetenz, Schnelligkeit und Zuverlässigkeit erwartet, sondern in hohem Maß auch soziale Verantwortung, Fürsorge und Transparenz. Es kann ratsam sein, einen Krisenstab zusammenzustellen, dem die Leitungsperson und der:die Kommunikationsverantwortliche angehören sollten. Dieser Krisenstab legt die Botschaften fest und steuert die Maßnahmen. Das Ausmaß einer Krise wird auch durch ihre öffentliche Wahrnehmung bestimmt. Gute Krisenkommunikation trägt dazu bei, die öffentliche Wahrnehmung und die mediale Berichterstattung zu beeinflussen. Reagieren Sie daher schnell. Seien Sie erreichbar. Sprechen Sie mit einer Stimme. Seien Sie ehrlich. Verbreiten Sie Sicherheit. Zeigen Sie Verständnis für die von den Auswirkungen der Krise Betroffenen. Wenn Sie Ihre Kernbotschaft abgestimmt haben, gehen Sie mit dieser Botschaft an die Öffentlichkeit – in passgenauer Umsetzung für die unterschiedlichen Zielgruppen auf den unterschiedlichen Kanälen. Ein vorbereitetes schriftliches Statement für Medienanfragen transportiert die Botschaft auf andere Weise als kurze, grafisch aufbereitete Informationen für die Social-Media-Kanäle; diese wiederum sind weniger ausführlich als eine Zusammenstellung von Hintergrundinformationen auf der eigenen Webseite. Die Form variiert, der Kern der Botschaft bleibt. In jedem Fall ist es hilfreich, wenn die Botschaft einfach und ehrlich ist, wenn komplexe Sachverhalte allgemeinverständlich ausgedrückt werden. Nach der Krise Wenn die heiße Phase der Krise abgeklungen ist, besteht die Gelegenheit, die Prozessabläufe für das nächste Mal zu optimieren. Was ist gelungen, was nicht? Wo waren die Abläufe nicht flüssig, die Botschaften nicht eindeutig? Welche Themen müssen in der kommenden Zeit offensiv besetzt werden, um verlorenes Vertrauen wiederherzustellen? Beispiel für ein Konzept zur Krisenkommunikation aus dem Bistum Münster: Bischöfliches Generalvikariat im Bistum Münster: Krisenkommunikation im Bistum Münster. Unter Berücksichtigung des Vorgehens bei Fällen sexuellen Missbrauchs, online unter: https://www.bistum-muenster.de/fileadmin/user_upload/Website/Downloads/Seelsorge-Glaube/Unsere-Angebote-fuer/Junge-Menschen/Ferienfreizeiten/Leitfaden-Krisenkommunikation-Bistum-Muenster.pdf, abgerufen am 14.12.2021.

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Veränderungen kommunizieren Ecclesia semper reformanda ist eine Grundüberzeugung, die die Kirchen der Reformation teilen: Die Kirche ist eine, die beständig erneuert werden muss, um ihrem Auftrag gerecht zu werden. So leicht dieser Satz in den kirchlichen Sprachgebrauch Eingang gefunden hat, so schwer ist er umzusetzen. Wenn konkrete Veränderungen anstehen, treffen sie häufig auf Widerstände, Beharrungskräfte, auf Ängste – nicht nur in der Kirche: »Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen«, sagt ein chinesisches Sprichwort. Veränderungsprozesse zu gestalten – Changemanagement zu betreiben – bedeutet unter anderem, die Ursachen zu erkennen und ernst zu nehmen, die zum Mauerbau führen, und zugleich bei möglichst vielen Beteiligten die Begeisterung zum Windmühlenbau zu wecken. Das kann nur gelingen, wenn alle, die von der Veränderung betroffen sind, frühzeitig informiert, wenn ihre Ängste und Fragen ernst genommen werden und wenn diejenigen, die die Veränderung initiieren oder die einen Informationsvorsprung haben – in der Regel die Leitungspersonen –, direkt und klar kommunizieren. Wie die Krisenkommunikation stellt also auch die Kommunikation von Veränderungsprozessen einen Sonderfall der Öffentlichkeitsarbeit bzw. der (internen) Kommunikation dar.

Eigene Darstellung nach: Beckert o. J.

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Öffentlichkeitsarbeit

Die meistverbreitete grafische Darstellung von Veränderungsprozessen3 erinnert an die Phasen des Trauerprozesses, wie sie Elisabeth Kübler-Ross beschrieben hat.4 Der Tiefpunkt dieser Kurve wird gemeinhin als »Tal der Tränen« (engl. depression) bezeichnet. Beides macht deutlich, dass es sich bei Veränderungen um Prozesse mit einer hohen emotionalen Beteiligung handelt. Das hat Auswirkungen auf die Kommunikation von Veränderungsprozessen – ganz gleich, ob innerhalb eines Teams Aufgaben anders verteilt werden, ein neues Kalendertool eingeführt wird, drei Kirchengemeinden sich zu einer Region zusammenschließen oder eine Landeskirche einen breit angelegten Strukturprozess angeht. In jeder Phase des Change-Prozesses muss im Grunde unterschiedlich kommuniziert werden – das macht Veränderungskommunikation so anspruchsvoll. Auch die Neubesetzung einer Pfarrstelle ist ein Veränderungsprozess, der als solcher wahrgenommen und entsprechend begleitet werden sollte. Da in der Regel die Pfarrperson selbst Anlass für die mit der Veränderung einhergehenden euphorischen, ängstlichen oder ablehnenden Gefühle ist, liegt es in der Verantwortung der nächsthöheren Leitungsperson, diesen Prozess – nicht nur kommunikativ – zu begleiten. Weil Emotionen in diesen Prozessen eine wichtige Rolle spielen, sind die kommunikativen Methoden darauf auszurichten: Die persönliche Ansprache ist wirkungsvoller als ein Rundschreiben; eine Botschaft der Leitungsperson ist wichtiger als eine aus der zweiten Reihe; dialogische Formate sind hilfreicher als Einbahnstraßenkommunikation; Ehrlichkeit nützt mehr als leere Versprechungen; einfache Worte sind überzeugender als eine Aneinanderreihung von Fremdwörtern. Wie bei der Krisenkommunikation ist es auch in diesem Fall entscheidend, dass alle mit einer Stimme sprechen und keine sich widersprechenden Botschaften im Umlauf sind. Im Übrigen hilft auch in diesen Fällen das Handwerkszeug der Öffentlichkeitsarbeit (siehe Abschnitt 3 Öffentlichkeitsarbeit mit Konzept). 10 Tipps zur Erfolgsvermeidung 1. Verlassen Sie sich darauf, dass die Kirche mit ihren Angeboten automatisch von allen Menschen wahrgenommen wird und deshalb keine weiteren kommunikativen Anstrengungen notwendig sind. 2. Gehen Sie davon aus, dass Sie mit dem Theologiestudium das notwendige Know-how für die Öffentlichkeitsarbeit erworben haben. 3. Arbeiten Sie allein. 4. Lassen Sie auch alle anderen allein arbeiten, sodass möglichst wenig Zeit für Abstimmungen verschwendet wird. 5. Kommunizieren Sie spontan und intuitiv von Fall zu Fall. 6. Entwickeln Sie für jede Veranstaltung ein eigenes Logo. Malen Sie die Logos selbst. 7. Fühlen Sie sich frei von wirtschaftlichen Zwängen. 8. Gehen Sie unbedingt davon aus, dass alle Menschen Ihre Interessen teilen und die gleichen Medien nutzen wie Sie. 9. Orientieren Sie sich bei Ihren Kommunikationsmaßnahmen vor allem an den Personen, die so alt sind wie Sie oder älter. 10. Lehnen Sie sich entspannt zurück, wenn Sie ein Plakat in den Schaukasten gehängt haben. Sie haben alles erledigt. 3 Die Kurve geht zurück auf John P. Kotter und ist eine Weiterentwicklung eines Modells von Kurt Lewin. 4 Wie Trauerprozesse verlaufen auch Change-Prozesse nicht standardisiert, die Phasen gehen ineinander über, verlaufen zeitgleich, wiederholen sich, sind stärker oder weniger stark ausgeprägt. Die schematische Darstellung macht es dennoch leichter, ein Verständnis für diese Prozesse zu entwickeln.

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Haberer, Johanna/Birgden, Michael: Öffentlichkeitsarbeit, in: Wilhelm Gräb/Birgit Weyel (Hg.): Handbuch für Praktische Theologie, Gütersloh 2007, S. 602–613. Mast, Claudia: Unternehmenskommunikation, 7. Aufl., München 2019. Insbesondere: Konzeption, S. 107–151; Change Communication, S. 423–451; Vor der Krise – nach der Krise, S. 471–489).

Autorin Henrike Müller, Pastorin mit Weiterbildungen in Öffentlichkeitsarbeit, Kommunikationsmanagement und systemischer Beratung/Organisationsentwicklung, war von 2017 bis 2022 Referentin für Kommunikation im Amtsbereich der VELKD im Kirchenamt der EKD und leitet seit 2022 das Arbeitsfeld Gemeindeberatung/Organisationsentwicklung im Haus kirchlicher Dienste der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers. [email protected]

Literatur Beckert, Antoinette: Change Kurve. https://antoinette-beckert.de/wp-content/uploads/2015/07/change-kurve.png, abgerufen am 14.12.2021. Brot für die Welt: Corona-Pandemie bedroht Erfolge. Brot für die Welt warnt vor Hungerkrise und legt Jahresbilanz vor. https://www.brot-fuer-die-welt.de/fileadmin/mediapool/2_Downloads/Presse/Bilanz_ PK_2020/2020-08-27-Brot_fuer_die_Welt_warnt_vor_Hungerkrise_und_legt_Jahresbilanz_vor.pdf, abgerufen am 14.12.2021. Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Digitale Verkündigungsformate während der Corona-Krise. https://www.ekd.de/midi-studie-ergebnisse-kirche-digital-corona-56563.htm, abgerufen am 14.12.2021. Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (Hg.): Öffentlichkeitsarbeit für Non-Profit-Organisationen, Wiesbaden 2004. Haberer, Johanna/Birgden, Michael: Öffentlichkeitsarbeit, in: Wilhelm Gräb/Birgit Weyel (Hg.): Handbuch für Praktische Theologie, Gütersloh 2007, S. 602–613. Hofmann, Thorsten/Höbel, Peter: Krisenkommunikation, Köln 2013. Mast, Claudia: Unternehmenskommunikation, 7. Aufl., München 2019. Schmidt-Rost, Reinhard/Dennerlein, Norbert (Hg.): Kontrapunkt. Das Evangelium in der Medienwelt, Hannover 2004. swot-analyse.net: Swot-Analyse. Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken einfach analysieren. https:// swot-analyse.net/, abgerufen am 14.12.2020. Wikipedia: SMART (Projektmanagement). https://de.wikipedia.org/wiki/SMART_(Projektmanagement), abgerufen am 14.12.2021.

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Öffentlichkeitsarbeit Pressearbeit Günter Saalfrank Î Wie hat sich der Kontext für kirchliche Pressearbeit verändert? Î Wie wird die Pressearbeit zu einer guten Pressearbeit? Î Was gilt es bei Konfliktfällen zu beachten?

Als Theologe und Journalist habe ich beide Seiten erlebt: Zum einen die Kirche und zum anderen die Presse. In der Gemeinde ist mir als Pfarrer mitunter ein bestimmtes Bild von »der« Presse begegnet: Es sei nicht alles wahr, was da geschrieben oder gesendet wird. Als Chefredakteur einer Kirchenzeitung, die in einem privaten Verlag herausgegeben wurde, erschien Kirche oft in einem bestimmten Licht: Als drehe sie sich manchmal zu sehr um sich selbst und habe die Menschen zu wenig im Blick, denen sie die biblische Botschaft weitergeben solle. Als Wanderer zwischen Kirche und Presse will ich Tipps aus der Praxis für die Praxis weitergeben. Nach einer kurzen Beschreibung von Veränderungen in der Medienwelt und der Relevanz von Kirche folgen zehn Eckpunkte kirchlicher Pressearbeit. Zum Schluss gehe ich auf die Pressearbeit in Konfliktfällen ein.

1 Der Kontext kirchlicher Pressearbeit: Veränderungen in der Medienwelt und Relevanz von Kirche Ende September 2020: Ein nordbayerisches Dekanat lädt Medienvertreter:innen zu einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz ein. Anlass ist, dass erstmals aus Bayern ein Kirchenvorsteher nach Afghanistan abgeschoben werden soll. Der Fall wird zu einem Medienereignis: Der Bayerische Rundfunk (BR) kommt mit zwei Übertragungswagen, einen für die Berichterstattung im Hörfunk, einen für das Fernsehen. Die lokalen und regionalen Rundfunk- und TV-Sender sind anwesend. Die Regionalzeitung sowie kirchliche Medien (epd, Sonntagsblatt) nehmen an der Pressekonferenz teil. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) und die Deutsche Presse-Agentur (dpa) können zum Termin nicht kommen, informieren sich aber danach und berichten über den jungen Mann, der zum christlichen Glauben übertrat und nun in ein Land abgeschoben werden soll, in dem Konvertit:innen die Todesstrafe droht (vgl. u. a. Götz 2020). Zugegeben: Ein solch starkes Interesse an einer Pressekonferenz, zu dem ein Dekanat einlädt, ist selten. Der Normalfall sieht anders aus: Es kommen – wenn überhaupt – nur wenige Journalist:innen, weil sich zum einen die Medienlandschaft ändert und zum anderen die Bedeutung von Kirche abnimmt. Zum ersten: Insbesondere bei den Printmedien findet ein starker Konzentrationsprozess statt. Aufgrund starken Kostendrucks werden Personal und Seitenumfang reduziert. Es gibt weniger Platz für die Berichterstattung. Hinzu kommen konzeptionelle Verände-

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rungen. Verstanden sich Blattmacher:innen lange Zeit als Chronist:innen, die über all das berichteten, was geschah, so sehen viele sich inzwischen als Personen, die eigene Themen in den Vordergrund stellen und damit journalistische Akzente setzen. Zum zweiten: Dass immer weniger Menschen in Deutschland einer christlichen Kirche angehören – auch unter den Journalist:innen –, schlägt sich in der Berichterstattung nieder. Kirchliche Themen kommen in den Medien weniger vor. Im Lokalen mag dies vielleicht noch anders sein. Je überregionaler indes ein Medium ist, desto weniger werden Kirche und auf sie bezogene Themen Gegenstand der Berichterstattung Ausnahmen sind etwa Kirchenaustritte, Missbrauchsfälle, Veruntreuung von Geldern oder andere brisante Vorgänge (wie die geplante Abschiebung eines Kirchenvorstehers). Die beschriebenen Veränderungen bilden den Kontext kirchlicher Pressearbeit. Er ist beim Umgang mit der Presse in den Blick zu nehmen, damit realistisch, sachgerecht und passgenau kirchliche Themen »gespielt« werden. Um es konkret zu machen: Hinter der Terminabsage von Journalist:innen muss kein Desinteresse stecken. Vielmehr ist es vielleicht aus zeitlichen Gründen nicht möglich. Dann sind die Gegenüber meist dankbar, wenn ihnen schriftliche Informationen oder O-Töne zur Verfügung gestellt werden.

2 Zehn Eckpunkte kirchlicher Pressearbeit 1. Mediengesellschaft als Ausgangslage: Was nicht in Medien vorkommt, ist nicht geschehen. Im Neuen Testament wir berichtet, dass der Apostel Paulus dorthin ging, wo Menschen sich versammelten. In Athen zum Beispiel auf den Areopag: einen öffentlichen Ort, wo diskutiert, geschimpft und gelacht wurde. Heute sind die Medien der Areopag der Moderne. Hier heißt es, präsent zu sein. 2. Grundsätze der Pressearbeit Die nachfolgenden vier Grundsätze für den Umgang mit der Presse gelten zugleich für andere kirchliche Arbeitsfelder und Bereiche wie die Predigt oder den Religionsunterricht. Im Blick auf die Pressearbeit bedeuten die Grundsätze entfaltet: – Elementarisieren: Sachverhalte, Vorgänge, Strukturen und Funktionen möglichst einfach und verständlich erklären (z. B. Synode als Kirchenparlament). – Lokalisieren: Aussagen im Blick auf einen Ort oder eine Region verdeutlichen (z. B. Auswirkungen des landeskirchlichen Stellenplans auf ein bestimmtes Gebiet). – Personalisieren: Aussagen oder Auswirkungen an Personen aufzeigen (z. B. Folgen von gesellschaftlichen Megatrends wie der Individualisierung für den Dienst von Pfarrer:in XY). – Konkretisieren: Es nicht bei allgemeinen Aussagen und Absichtserklärungen belassen (»Pastoralpoesie«), sondern sagen, was es konkret bedeutet und welche praktischen Konsequenzen es hat (z. B. worauf eine Gemeinde sich zukünftig konzentriert und was nicht mehr oder nur noch reduziert angeboten wird).

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3. Kirche als lebendigen Organismus darstellen Kirche nicht in erster Linie als Institution oder Apparat darstellen, sondern als – biblisch gesprochen – Leib mit vielen Gliedern, in dem Menschen leben und sich engagieren. Beispiel: Bei einer Pressekonferenz, bei der es um die drohende Abschiebung eines Kirchenvorstehers nach Afghanistan ging, saß neben dem Dekan die ehrenamtliche Flüchtlingsbeauftragte des Dekanats. Sie berichtete aus ihrer Perspektive über den Fall, etwa die langjährige Begleitung des Mannes. 4. Glaubwürdigkeit als hohes Gut der Pressearbeit Konflikte und Probleme offen ansprechen und nicht versuchen, sie zu beschönigen oder unter den Teppich zu kehren. Die Salamitaktik, bei der die Wahrheit nur scheibchenweise ans Licht kommt, ist ein Irrweg. Denn Journalist:innen recherchieren weiter, beißen sich an einem Thema fest. Es ist dann länger in den Schlagzeilen. Wo dagegen offen und offensiv informiert wird, gibt es einmal einen Aufreger, aber kein Dauerthema. Beispiel »Griff in die Kirchenkasse«: Nachdem sich ein Verdacht erhärtet, wird die Staatsanwaltschaft eingeschaltet und zeitnah die Öffentlichkeit informiert (bei einer Pressekonferenz). 5. Kontakte zu Medienvertreter:innen aufbauen und pflegen Regelmäßige Kontakte (etwa in Form eines Essens mit Pressevertreter:innen) helfen, sich einander besser kennenzulernen und informell über Themen zu sprechen. Diese Kontakte müssen auch keine Einbahnstraße sein. Es kann sein, dass Journalist:innen anrufen, um Hintergrundinformationen zu Vorgängen zu erhalten (ohne dass diese in die Berichterstattung einfließen, sogenannte Hintergrundgespräche). Beispiel: Vor der Tagung der Landessynode in einer Stadt bittet ein Pressevertreter den zuständigen Dekan um seine Einschätzung zu bestimmten Fragen und Themen, die auf der Tagesordnung stehen. Das hilft dem Journalisten, besser zu verstehen, welche Themen brisant sind und welche eher nicht. 6. Agieren statt reagieren Nicht warten, bis Medienvertreter:innen kommen, sondern selbst aktiv werden und etwa zu Pressekonferenzen einladen oder Presseerklärungen veröffentlichen. Ziel ist, zu agieren und Medien gleichzeitig zu informieren. So wird vermieden, zu Getriebenen zu werden, die auf Vorgänge nur reagieren können. Beispiel »Missbrauch«: Bei einer Pressekonferenz über den Fall und die weiteren Schritte informieren (unter Beachtung der Persönlichkeitsrechte und der Unschuldsvermutung). 7. Kernbotschaften transportieren Gefragt sind meist keine ausführlichen Stellungnahmen, sondern einige wenige, zentrale Sätze. Es geht um prägnante Formulierungen, die Sachverhalte oder Themen gut auf den Punkt bringen. In der Kürze liegt die Würze – ohne dass es zu platt oder simpel klingt. Beispiel »biblische Botschaft« – die Kernaussage lautet: »Sie ist eine Frohbotschaft und keine Drohbotschaft.« 8. Antworten geben Gefragt sind vor allem Antworten auf Sinnfragen, ethische Fragen oder aktuelle politische Fragen. Nicht zu allem und jedem braucht es kirchliche Stellungnahme. Ganz abgesehen davon, dass diese sich auch abnützen würden. Insbesondere bei Grundfragen des Lebens ist es wichtig, wenn Kirchen und ihre Vertreter:innen sich äußern. Beispiel »letzte Lebensphase«: Gut, wenn dargestellt wird, dass ambulante und stationäre Palliativversorgung für Betroffene ein Segen sind.

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9. Etwas Eigenes/Spezifisches beitragen Nicht noch einmal das wiederholen, was Politiker:innen, Wirtschaftsvertreter:innen oder andere bereits gesagt haben, sondern überlegen, was die Kirche in die Diskussion beitragen kann oder welche Antworten vom Evangelium her möglich sind. Beispiel »Umgang mit Extremismus«: Der spezifische kirchliche Beitrag kann sein, zwischen den Auffassungen von Menschen und den Personen zu unterscheiden. Mit ihren Einstellungen gilt es, sich inhaltlich auseinanderzusetzen. So krude, problematisch und gefährlich diese auch sind, so handelt es sich bei diesen Personen auch um Geschöpfe Gottes. Anders ausgedrückt: Auch Frauen und Männer, die die Menschenwürde mit Füßen treten, haben eine eigene Würde. Die ist zu respektieren. 10. Klares Profil zeigen Deutlich Profil zeigen durch selbstbewusstes, offensives und glaubwürdiges Auftreten. Biblisch gesprochen: Sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Auch nicht die biblische Botschaft vom menschenfreundlichen Gott und der Nächstenliebe. Beispiel »Umgang mit Fremden«: Die biblische Weisung, auch für »den:die Fremde:n« da zu sein, ist immer wieder zu unterstreichen – durch Worte und Taten.

3 Pressearbeit in Konfliktfällen Gerade in Konfliktfällen braucht es geklärte und überlegte Pressearbeit. Neben den zehn Eckpunkten kirchlicher Pressearbeit sind folgende Gesichtspunkte zu beachten: 1. Klären, wer gegenüber der Presse Stellung nimmt Wer hat publizistisch den Hut auf? Diese Frage muss intern schnell geklärt werden, damit es eine abgestimmte Kommunikation gibt. Es müssen sich nicht verschiedene kirchlich Zuständige äußern. Es genügt, wenn eine Person gegenüber den Medien Stellung nimmt und andere bei Anfragen auf diese Person verweisen. 2. Klären, was gesagt wird Gemeinsames Wording vereinbaren. Sollten mehrere Personen sich äußern, so muss dies aufeinander abgestimmt sein, vor allem: Was wird gesagt und von wem? Je klarer und präziser die Absprachen, desto besser. Ziel ist, möglichst mit einer Stimme zu sprechen.

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3. Rasch, aber überlegt Stellung nehmen In der Regel braucht es ein schnelles Handeln – ohne allerdings in Hektik zu verfallen und unüberlegt zu agieren. Die Handelnden müssen sich – wenn irgend möglich – Zeit nehmen, um fundiert und reflektiert Stellung nehmen zu können. Übereiltes Vorgehen lässt sich meist nicht mehr rückgängig machen. 4. Beratung in Anspruch nehmen Sich bei Bedarf von Fachleuten (z. B. kirchlichen Presse- und Öffentlichkeitsarbeiter:innen, Berater:innen und/oder Jurist:innen) beraten lassen. Je komplexer und schwieriger eine Situation, desto mehr braucht es Begleitung von außen. Bei diffizilen Vorgängen die Fachleute auch in der Kommunikation nach außen zu Wort kommen lassen. 5. Konzentrierte Kommunikation nach außen Um einen Konfliktfall publizistisch nicht ausufern zu lassen, kommt es auf konzentrierte Pressearbeit an. Das heißt, die Medien gezielt bei einer Pressekonferenz zu informieren und zugleich Rede und Antwort zu stehen. Oder eine Pressemitteilung an alle Medien zu schicken, um nicht von Einzelanfragen überrollt zu werden. 6. Abgestimmte Kommunikation nach außen und innen Wenn die Presse über einen Konfliktfall informiert wird, braucht es gleichzeitig Kommunikation nach innen. Eine Pressemitteilung ist in CC auch an Dienstvorgesetzte und an Mitglieder von kirchlichen Gremien zu schicken. Das gilt auch für wesentliche Äußerungen bei einer Pressekonferenz. Dienstvorgesetzte und Mitglieder zuständiger und betroffener kirchlicher Gremien sollten nicht aus der Zeitung oder dem Radio über einen Konfliktfall erfahren. 7. Gegenüber Presse offensiv informieren Gegenüber der Presse offensiv informieren. Das heißt, deutlich zu machen, was aktuell gesagt werden kann und was noch nicht. Wenn es entsprechend begründet wird, ist es für Journalist:innen leichter nachvollziehbar. Auch benennen, wie die nächsten Schritte aussehen. Vor allem durch mangelnde Information entstehen Gerüchte – intern wie extern. 8. Auf Fürsorge gegenüber Mitarbeitenden achten So wichtig eine offensive Information ist, so sehr sind die Fürsorge von Mitarbeiter:innen und die Persönlichkeitsrechte Einzelner im Blick zu behalten. Auch wenn heftige Vorwürfe oder ein schwerer Verdacht im Raum stehen, gilt bis zum Beweis des Gegenteils die Unschuldsvermutung. Nicht nur bei Verdacht auf Missbrauch ist das eine Gratwanderung: Einerseits zu benennen, was einer Person vorgeworfen wird. Andererseits, sich vor einer Vorverurteilung zu hüten. 9. Bei neuem, substanziellem Sachstand erneut informieren Die Pressekonferenz oder die Pressemitteilung ist der erste publizistische Aufschlag in einer Konfliktsituation. Im Laufe der Zeit kann sich ein neuer Sachstand ergeben, der auch für die Öffentlichkeit bedeutsam ist. Dann braucht es eine erneute Information der Presse. Auf welche Weise dies geschieht – ob durch eine Pressemitteilung oder eine Pressekonferenz –, muss je nach Situation entschieden werden. 10. Bei Abschluss eines Falles zeitnah informieren Wenn ein Fall geklärt oder abgeschlossen ist, rasch informieren. In der Regel geschieht dies in Form einer Pressemitteilung. Ob und wie diese allerdings Beachtung findet, liegt nicht in kirchlicher Hand. Es ist Sache der Presse, wo und in welcher Form sie darüber berichtet.

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Autor Günter Saalfrank hat nach dem Theologiestudium ein Volontariat bei einer Nürnberger Zeitung absolviert. Anschließend war er – mit seiner Frau zusammen – als Gemeindepfarrer im Fichtelgebirge tätig. In dieser Zeit hatte er einen Zusatzauftrag als lokaler kirchlicher Hörfunkjournalist zur Betreuung von zwei privaten lokalen Rundfunksendern in Hof. Zehn Jahre war er anschließend als Chefredakteur des Evangelischen Sonntagsblattes aus Bayern in Rothenburg ob der Tauber tätig. Danach wechselte er als Dekan nach Hof. Anfang 2022 ging er in den Ruhestand.

Literatur Götz, Micha: Hofer Kirchenvorsteher aus Afghanistan droht Abschiebung – jetzt deutet sich ungewöhnliche Lösung an, Sonntagsblatt, 13.10.2020. https://www.sonntagsblatt.de/artikel/bayern/es-gibt-eine-konkrete-bleibeperspektive, abgerufen am 03.08.2022.

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Öffentlichkeitsarbeit Rundfunkarbeit – sendungsbewusst

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Oliver Vorwald Î Inwieweit betrifft mich als Leitende:r dieses Themenfeld? Î Welche Rezepte kennt die Rundfunkarbeit? Î Worauf kommt es bei einem Rundfunkgottesdienst an? Î Ich will nicht churchy klingen. Natürlich sprechen, wie geht das? Î Und wie ist das mit Social Media?

1 Manches kann. Nichts muss … Sendungsbewusst. Das »Moment mal« auf NDR 2, der Gottesdienst im Deutschlandfunk (DLF), »Das Wort zum Sonntag« in der ARD. Die evangelische Rundfunkarbeit läuft. Seit Jahrzehnten. Sie wird in den EKD-Mitgliedskirchen von Beauftragten und Medienhäusern realisiert. Heißt: Sie als Leitende:r sind frei vom »Müssen«. Denn in allen Bundesländern/Sendegebieten gibt es Rundfunkreferate (mit Hörfunkreferent:innen, Radiopastor:innen) sowie Kirchenfunkredaktionen (mit evangelischen Journalist:innen), welche die öffentlich-rechtlichen und privaten Sender mit Verkündigungsbeiträgen beliefern. Präzise, professionell, preisgekrönt.1 Sie könn(t)en diesen Beitrag also zunächst getrost überblättern und später wieder zur Hand nehmen: zum Beispiel, wenn die Anfrage nach einem Fernseh- oder Radiogottesdienst bei Ihnen eintrudelt.

Achtung, Sendebetrieb 1 Beispiel »ekn«: Redakteur:innen des Evangelischen Kirchenfunks Niedersachsen-Bremen heimsen seit vielen Jahren immer wieder Medienpreise ein. Chapeau, liebe Kolleg:innen!

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Rundfunkarbeit? Hier sind Sie als Leitende:r frei vom »Müssen« …

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Gleich weiterlesen sollten Sie, wenn Sie für Ihre Arbeit und öffentliche Präsenz von dem rundfunkjournalistischen Know-how in den Kirchenfunkredaktionen profitieren möchten (z. B.: Hörverständlich texten, wie geht das? Wie vermeide ich den salbungsvollen Kirchensound?). Und wenn Sie eine gute Schreibe sowie eine radiofone Stimme mitbringen (vgl. Rundfunkgottesdienstrezeptzutat 3 in Abschnitt 4), vor Mikro oder Kamera nicht in Ehrfurcht erstarren, auch dann sollten Sie jetzt schon dranbleiben. Denn dann bringen Sie vieles von dem mit, was im Radio und Fernsehen gefragt ist. Mit diesem Kapitel möchte ich Ihnen einen Einblick in die Grundlagen und Strukturen der evangelischen Rundfunkarbeit geben. Was sind die Grundsätze, nach denen wir arbeiten? Wie sind die Wege ins Radio oder Fernsehen – beispielsweise in einen der Autor:innenkreise für Radioandachten? Welche Angebote der evangelischen Rundfunkarbeit sind für meine Arbeit im Dekanat, als Präses der Kreissynode, als Superintendent:in oder als geschäftsführende:r Pfarrer:in interessant? Fragen zur Reflexion a. Warum will ich mich in den audiovisuellen Medien zu Wort melden? Es gibt viele Gründe. Hilfreich ist zu wissen: Was reizt mich? Erwartungshaltung versus mögliche Enttäuschungen. b. Einfach, eingängig. Kann ich das kirchliche Vokabular hinter mir lassen? Habe ich die Gabe, über Glaube, Kirche, Religion so zu reden, dass mich jede:r versteht? c. Was bringe ich mit für die Arbeit im Radio/Fernsehen? Z. B. Leidenschaft, schnelle und spitze Feder, rundfunkjournalistische Schreibe, radiofone Stimme (vgl. Rundfunkgottesdienstrezeptzutat 3 in Abschnitt 4), Kamerapräsenz …? Wie bewerten das andere? Kann ich mit einer Absage leben? d. Wie steht es grundsätzlich um meine Kritikfähigkeit? In den Medien gilt das Vier-AugenPrinzip. In der Regel werden alle Texte durch eine:n Redakteur:in lektoriert. Sie sollen Texte noch besser machen. Mag ich das zulassen?

2 Der Kinogeher:in-Effekt – Resonanz und Nachhall … Gottes Wort wirkt, wozu es gesandt wurde und trägt Frucht …

»Das ist nun bezeugt.« Diese Worte gehören zu den entscheidenden Sätzen am Beginn von Walker Percys Roman »Der Kinogeher«. Er spielt in New Orleans. Held der Geschichte ist Jack Bolling. Mit seiner Freundin Kate schaut er den Film »Panic in the Streets« mit Richard Widmark. In einer Szene ist die unmittelbare Umgebung des Kinos in der Tchoupitoulas Street zu sehen, in dem Kate und Jack sitzen. Ein elektrisierender Moment für den Helden. Nach der Filmvorführung wendet Jack sich an Kate, bewegt und berührt, spricht er vom »Kinogeher-Phänomen«. Dieser Effekt lässt Jack ganz im Hier und Jetzt ankommen. (Vgl. Percy 1986, S. 67) Relevanz erzeugt Resonanz. Solchen Nachhall spüren und erleben die evangelischen Autor:innen, die sich im Fernsehen und im Radio zu Wort melden. In Briefen, E-Mails, auf dem Anrufbeantworter, im Supermarkt – gerade dann, wenn ihre Verkündigungsbeiträge in die Zeit hineinsprechen, aktuelle Themen aufgreifen, diese theologisch und seelsorglich reflektieren. »Ich gehe schon lange nicht mehr zur Kirche. Aber, was Sie da gesagt haben … Vielen Dank für Ihre Worte. Haben mir gutgetan.« Gottes Wort kehrt eben nicht leer zurück. Sondern wirkt und trägt Frucht. Zwischen Weg, Fels und Land (vgl. Jes 55,11; Mk 4,1‒9; Lk 8,4‒8; Mt 13,1‒9). Radio und Fernsehen sind aktuell die Orte, Räume, Kontaktflächen, an denen die allermeisten Menschen religiösen Inhalten begegnen (hinzu kommen das Internet und

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die verschiedenen Social-Media-Plattformen).2 Der Sonntagsgottesdienst ist schon lange nicht mehr der zentrale Versammlungsort der Gemeinde, die Teilnehmer:innenzahlen am schulischen Religionsunterricht gehen immer weiter zurück, auch die Weitergabe des Evangeliums im Familienkreis hat sich verändert. Die christlichen Verkündigungsbeiträge im Rundfunk – in welcher Form auch immer – spielen somit eine entscheidende Rolle für den Auftrag Jesu und seiner Kirche (Mt 26,16‒20). Das heißt aber zugleich nicht, dass die Kirchen in den Medien zu allem etwas sagen müssen. Da braucht es einen guten Instinkt, wo ich als Theolog:in gefragt bin. Dieses Gespür muss sich entwickeln. Also: fail fast – Fehler machen erlaubt. Die evangelische Rundfunkarbeit in Deutschland ist vielfältig: Da sind die Kirchenfunkredaktionen und Medienhäuser für das Engagement im privaten Rundfunk. Die Verkündigungssendungen in den öffentlich-rechtlichen Radioprogrammen wiederum (z. B. NDR 1 Niedersachsen, Eins Live im WDR, Bayern 3) werden von Beauftragten, Hörfunkreferent:innen, Radiopastor:innen betreut und realisiert. Sie sind teils an die Landeskirchen angebunden oder aber an Trägervereine. Schließlich gibt es das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) in Frankfurt am Main – ein bundesweiter Player. Hier arbeiten weitere Beauftragte, die sich im Auftrag des Rates der EKD um die Verkündigungssendeplätze in der ARD, im ZDF, bei den Privaten wie VOX oder RTL sowie im Deutschlandfunk kümmern. Nicht zu vergessen die katholischen Kolleg:innen. Sie sind ähnlich aufgestellt. Im Sendegebiet des NDR treten wir nach außen sogar gemeinsam auf – als »Kirche im NDR«. On Air, im Web und in den Sozialen Medien. Kirche im NDR, online unter: www.radiokirche.de, www.fernsehkirche.de, www.ndr.de/kirche, abgerufen am 17.10.2022. @KircheimNDR, online unter: www.facebook.com/KircheimNDR, abgerufen am 17.10.2022. @Kirche_im_NDR, online unter: www.instagram.com/kirche_im_ndr, abgerufen am 17.10.2022. rundfunk.evangelisch.de – das medienportal der evangelischen kirche, online unter: www.rundfunk.evangelisch.de/, abgerufen am 17.10.2022.

3 Drittsenderecht – Sender und Kirchen als Partner:innen »Fernsehen und Radio sind nach wie vor die reichweitenstärksten und nutzungsintensivsten Medienangebote«, heißt es in der »ARD/ZDF-Massenkommunikation Langzeitstudie 2020« (Krupp/ARD-Werbung 2021; Kupferschmitt/Müller 2020). Trotz Internet, Social Media, Audio- und Mediatheken sowie Streamingdiensten bleiben die Flimmerkiste wie das gute, alte Radio Massenmedien. Hier sind evangelische Verkündigungsbeiträge sowie -sendungen integraler Bestandteil. Einmal ganz klassisch mit Morgenandachten und Gottesdiensten, dann in Form von Magazinen, Talkformaten, Feature-Sendungen und Reportagen. Grundlage dafür ist das sogenannte Drittsenderecht, das in Staatsverträgen und Landesmediengesetzen verankert ist. Dieses Drittsenderecht geht auf die Nachkriegszeit zurück (mehr dazu unter rundfunk.evangelisch.de 20213). Die Gesetzgeber:innen machen darin Sender und Kirchen zu Partner:innen in der Programmgestaltung.

2 Die kirchlichen Verkündigungsbeiträge in den Programmen des NDR erreichen laut aktueller Mediaanalyse (MA) täglich mehr als zweieinhalb Millionen Hörer:innen. 3 Unter »Rechtliche Grundlagen der Rundfunkarbeit«.

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»(2) Den Kirchen und den anderen über das gesamte Sendegebiet verbreiteten Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts sind auf Wunsch angemessene Sendezeiten für die Übertragung gottesdienstlicher Handlungen und Feierlichkeiten sowie sonstiger religiöser Sendungen, auch solcher über Fragen ihrer öffentlichen Verantwortung, zu gewähren. Für die Jüdischen Gemeinden gilt Entsprechendes. […] (4) Für Inhalt und Gestaltung der Sendungen ist derjenige oder diejenige verantwortlich, dem oder der die Sendezeit zugebilligt worden ist.« (NDR-Staatsvertrag, § 6 »Besondere Sendezeiten«) Ein Teil dieser Verkündigungsbeiträge (das gilt vor allem für viele Radioformate) produzieren die Rundfunkreferate, Kirchenfunkredaktionen und Medienhäuser selbst und liefern sie dann zu. Andere Formate – zum Beispiel »Das Wort zum Sonntag« oder »Die Morgenandacht« auf NDR Kultur – werden in den Studios der jeweiligen Funkhäuser aufgenommen, dort von den Mitarbeitenden sendefähig abgemischt und dann ausgestrahlt. Wer sich auf den evangelischen Sendeplätzen zu Wort melden will, muss in der Regel so etwas wie einen Schnupperkurs oder einen Rundfunkworkshop mit Schreibwerkstatt, Studio- und Kameratraining absolvieren. Abschließend entscheidet ein Auswahlgremium nach homiletischen und rundfunkjournalistischen Kriterien, wer in den Andachtssprecher:innenkreis aufgenommen wird. Autor:innen und Sprecher:innen sind meist Pfarrer:innen und Diakon:innen, aber auch Religionslehrer:innen, Studierende der Theologie und andere kirchliche Mitarbeitende. Neben den evangelischen Beauftragten, den Medienhäusern und den Kirchenfunkredaktionen haben viele Sender eigene Fachredaktionen für die Themenfelder Ethik, Religion, Glauben. Die Mitarbeitenden dieser Redaktionen machen ebenfalls Beiträge, Magazine, Gesprächsformate zum Themenfeld Religion. Aber während für die kirchlichen Mitarbeiter:innen die verkündigende Perspektive an erster Stelle steht, liegt in den Fachredaktionen der Fokus auf der journalistischen Berichterstattung. Die privaten und öffentlich-rechtlichen Sender machen ein Programm für ein breitgefächertes Publikum. Sie versuchen, verschiedene Zielgruppen bestmöglich und ihrem Auftrag entsprechend zu versorgen. Wer sein Radio oder den Fernseher einschaltet, tut das vor allem, um sich zu informieren und um sich unterhalten zu lassen4 – aber eben nicht in allererster Linie, um kirchliche Sendungen zu hören. Das ist wichtig zu wissen für alle, die sich auf den Verkündigungssendeplätzen zu Wort melden (vgl. 5). Etwas anders ist das bei den kirchlichen und christlichen TV- und Radiosendern. Dazu gehören beispielsweise BibelTV und das Domradio in Köln. Es sind sogenannte Spartenprogramme, die sich auf religiöse Themen spezialisiert haben und vorwiegend von einem kirchlich-affinen Publikum eingeschaltet werden.

4 Gottesdienst – Traumschiff der medialen Verkündigung Eine Stundensendung unter Live-Bedingungen. Damit lassen sich der Fernseh- und der Radiogottesdienst vergleichen. Das ist ein Format, das vor allem im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu Hause ist. Das ZDF überträgt jeden Sonntag um 9.30 Uhr einen Gottesdienst – im Wechsel evangelisch und katholisch. Im Hörfunk tun das der Deutschlandfunk sowie einige der Kultur- und Info-Wellen der ARD-Landesrundfunkanstalten (z. B. NDR Info, WDR 5, MDR Kultur, rbbKultur). Hinzu kommen weitere TV-Ausstrahlungen in der ARD und den dritten Programmen zu besonderen Anlässen oder Feiertagen.

4 Für Musik und Nachrichten.

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»Healing of Memories«, ökumenischer Fernsehgottes­dienst in der ARD zum Reformationsjubiläum am 11. März 2017 aus der Michaeliskirche in Hildesheim

Bei einem Fernsehgottesdienst ist es in der Regel so, dass die kirchlichen Beauftragten sich umhören, eine Auswahl treffen und gezielt auf Gemeinden zugehen. Wer wiederum an einem Radiogottesdienst interessiert ist, kann auch selbst aktiv werden und sich in den Referaten und Redaktionen der evangelischen Beauftragten melden. Radio- und Fernsehgottesdienste verlangen und eröffnen kreativen Freiraum. Sie fordern uns angesichts der Kameras, der Mikros und der Medienöffentlichkeit heraus, das Format Gottesdienst anders zu denken, Neues auszuprobieren. Die zur Verfügung stehenden 45 bis 60 Minuten sind eine enorme Fläche. Sie bieten uns die Chance, im TV und Hörfunk Themen nach vorn zu holen, die uns als Christ:innen wichtig sind – an denen andere vielleicht sogar vorbeigehen – und das auf einem guten Sendeplatz. Die Rundfunkgottesdienste sind so etwas wie das Traumschiff der medialen Verkündigung. Wir als »Evangelische Kirche im NDR« organisieren und begleiten im Jahr 30 Radiogottesdienste (auf NDR Info und im DLF) sowie bis zu drei Übertragungen im Fernsehen in der ARD. Die stärksten Rückmeldungen erfahren solche Gottesdienste, bei denen die Hörer:innen und Zuschauer:innen im Fokus stehen. Sie bilden bei dieser Feier die Gemeinde. Klingt banal, ist aber entscheidend. Ein Gottesdienst fürs Ohr oder für die Augen muss anders gestaltet werden. Thema, Musik, Stimmen sind die Faktoren, auf die wir in der Vorbereitungsphase ein besonderes Augenmerk legen. Rundfunkgottesdienstrezeptzutaten 1. Ein aktuelles, gesellschaftsrelevantes Thema, das in Liedern, Lesungen, Gebeten und Predigt wiedererkennbar anklingt und erkennbar bleibt. 2. Musik, Musik, Musik. Es dürfen unterschiedliche Stile und Instrumente vorkommen, die verschiedene Hörerwartungen ansprechen. Also eine Mischung aus Choral, Pop, Jazz, Rock und und und. An Orgel, mit Streicher:innen, Saxofon, Flügel, Gitarre, Cajón. Mit Niveau. Dabei hilft die Frage: Was wird sonst im Sender gespielt? An dieses Niveau sollte die Kirchenmusik herankommen (jedenfalls nicht deutlich dahinter zurückfallen). 3. Sprecher:innen mit wohlklingenden, runden, prägnanten Stimmen (= radiofon). Sympathische Akteur:innen ohne Scheu vor Mikro und/oder Kamera. 4. Eine erzählerische, bildreiche Predigtsprache (die Dramaturgische Homiletik liefert hierfür eine gute Vorlage). 5. Die Chancen und Möglichkeiten, die das jeweilige Medium anbietet, nutzen. Im Radio zum Beispiel durch den Einsatz sogenannter Atmosphären. Beim Rundfunkgottesdienst auf Borkum sind wir beispielsweise mit Meeresrauschen als Hinhörer/ear catcher in die Übertragung eingestiegen (Hörbeispiel siehe Link unten). Darüber hinaus sind noch viele andere Ideen denkbar. Lesungen auf Musik, kurze Hörspielszenen oder vorproduzierte Einspieler (z. B. eine zweiminütige Umfrage zum Thema des Gottesdienstes). Einen Radiogottesdienst mit Ablaufplan finden Sie unter: Theologisches Studienseminar Reisesegen, online unter: https://führen-leiten-kirche.de/rundfunk, abgerufen am 10.08.2022.

6. Die aktuellen Hörerwartungen berücksichtigen. Also weder zu lange Wort- noch zu lange Musikstrecken. Alle drei bis vier Minuten einen Wechsel stattfinden lassen (abgesehen von der Predigt). Wort und Musik sollten im Verhältnis 50:50 zueinanderstehen.

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7. Agende I? Von den Hörer:innen/Zuschauer:innen her denken, planen, inszenieren. Kreativ werden. Darauf schauen, was zum Thema passt. Eigene Formen entwickeln, statt an liturgischen Formeln zu kleben. 8. Gebete selbst schreiben. Zum jeweiligen Anlass. Sie klingen und wirken anders als ihre Geschwister aus den Vorlagen.

Die Vorbereitung eines Rundfunkgottesdienstes braucht Zeit. Sie erstreckt sich auf drei bis sechs Monate. Ablauf und Gestalt entstehen im Zusammenspiel zwischen Gemeinde und Beauftragter:Beauftragtem bzw. Radiopastor:in. Zentrales Element dieser Vorarbeit ist das Drehbuch (TV) beziehungsweise der Ablaufplan. Drehbuch und Ablaufplan haben eine tabellarische Gestalt. Alle Texte, die im Verlauf des Gottesdienstes vorkommen, werden darin eingetragen (Begrüßung, Lieder, Gebete, Predigt usw.). Außerdem führt der Ablaufplan Zeiten, Sprechpositionen und Mitwirkende auf. Für das Technikteam des Senders ist der Ablaufplan so etwas wie eine Landkarte, mit deren Hilfe sie die Sendung steuern. Radio- und Fernsehgottesdienste sind Koproduktionen, bei denen die Fachredaktionen der Sender und das Team der:des kirchlichen Beauftragten eng zusammenDer Ü-Wagen vor der VfL-Arena in Wolfsburg. arbeiten. Die Rundfunkbeauftragten kümmern sich dabei Radiogottesdienst am Finaltag der Fußball-Europa­ um die inhaltliche Seite, erarbeiten mit den Gemeinden meisterschaft 2016 das Konzept (Drehbuch bzw. Ablaufplan) und begleiten die Übertragung vor Ort als verantwortliche:r kirchliche:r Redakteur:in. Die Übertragung liegt in der Hand des jeweiligen Senders. Ein Technikteam reist an – mit einem Übertragungswagen und einem Satellitenfahrzeug. Mit dabei sind in der Regel ein:e Toningenieur:in oder ein:e Tonmeister:in, ein:e Producer:in (vergleichbar mit einem:einer Regisseur:in, verantwortlich für die Produktion) sowie mehrere Mediengestalter:innen (sie kümmern sich u. a. um den Aufbau der Technik). Es gibt eine Durchlaufprobe mit allen Beteiligten, die meist am Vortag der Übertragung stattfindet. Sie zeigt, ob alles im Drehbuch bzw. Ablaufplan wie angedacht funktioniert. Gelegentlich gibt es nach der Probe noch kleinere Veränderungen. Am Tag der Übertragung geht der Gottesdienst dann live über den Sender – mit allem, was dazugehört: Lampenfieber, Geistkraft, Selbstvertrauen. Dieser Aufwand lohnt sich. Liebevoll und leidenschaftlich vorbereitete Rundfunkgottesdienste nach den skizzierten Faktoren (s. o.) erhalten ein wertschätzendes und differenziertes Feedback, so unsere Erfahrung. Sie bereichern (wie ein Projekt) den Gemeindealltag. Baltruweit, Fritz/von Lingen, Jan: Gottesdienstportale. Neue Eingangsliturgien für das Kirchenjahr, Hannover 2007.

e. Was bringen wir mit? Haben wir ein gutes Thema? f. In Bildern und Tönen denken, planen, kreativ werden: Wo finde ich die richtigen Mitwirkenden? g. Medienarbeit ist Terminarbeit. Was lasse ich dafür, damit ich genügend Freiraum für die Vorbereitungen habe?

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5 Das A und O – hörverständlich texten Berichte, Kommentare, Nachrichtenmeldungen im Radio und im Fernsehen richten sich ans Ohr. Sie brauchen daher eine einfache, eingängige, bildreiche Sprache, sonst rauschen die Inhalte vorbei (zurückblättern funktioniert nicht). Deshalb haben diese Sprechtexte eine andere Gestalt als ihre Verwandten im Web, in der Zeitung, in Büchern. Kurze Sätze, viele Verben, gleich hinein ins Thema – so lauten einige der Kriterien für das hörverständliche Texten. Wer diese Regeln beherzigt, dessen Wortbeiträge verändern sich und erfahren mehr Aufmerksamkeit. Versprochen. Apropos Aufmerksamkeit: Darum geht es immer in den Medien, also im Gewimmel und Getöse der Neuigkeiten wahrgenommen, gehört zu werden. Die Dos and Don’ts für Ohrentexte 1. Starke Verben wählen – wie »sprühen«, »funkeln«, »wummern«. Sie werfen das Kino im Kopf an, starten ein Hörerlebnis, sind geräuschvoll, dynamisch. 2. Adverbien nutzen. Mit Adjektiven geizen, nichtssagende vermeiden (das grüne Gras) … Weniger ist mehr. Lieber verbal ausmalen, wie etwas ist. 3. Einfache und kurze Sätze bilden. Ein Sinnabschnitt sollte nicht mehr als acht bis zwölf Worte haben. 4. Dabei gilt: Schachtelsätze vermeiden. Nebensätze linear anbinden. Den Rhythmus von Subjekt – Prädikat – Objekt pflegen (SPO-Sätze), dies macht Sprache fürs Ohr eingängig. 5. Nicht zu viele Details und Fakten in einem Satz unterbringen (besser auf mehrere Sätze verteilen). Eine Hauptinformation pro Sinnabschnitt. 6. Das Wichtige steht am Satzende. 7. Wenig Fachterminologie. Wenn Fremdwörter, dann auch erläutern. 8. Alle Sinne ansprechen: Die Hörer:innen wollen sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken. So werden Texte sinnlich. 9. Statt in der Vergangenheit zu erzählen, lieber die Gegenwart wählen. So entwickeln sich Geschichten und Themen am Ohr. 10. Verneinungen vermeiden, positiv formulieren. 11. Aktiv und anschaulich formulieren. 12. Wörter auf »ung« vermeiden. Verbal auflösen. 13. Keine Floskeln oder stereotype Vokabeln verwenden. Sie langweilen. 14. Sätze in Sprechtexten müssen nicht vollständig sein. Vorbild ist die gesprochene Sprache. Gerne auch mal Ausrufe setzen, Seufzer, Signalworte. Sätze ohne Verben. Oder statt eines langen Satzes bloß ein Wort. Herrlich. 15. Weg mit der Einleitung! Gleich in die Geschichte springen, sofort das Thema aufmachen. Hinweis: Journalistische Texte beantworten zügig: Was ist wo und wann geschehen? Und wer ist daran beteiligt gewesen? (La Roche 1977, S. 76–97) 16. »Mit einem Erdbeben anfangen! Und dann langsam steigern.« Diesen Schreibtipp hat Henri Nannen seinen Journalist:innen für eine gute Reportage mitgegeben. Der Anfang muss Aufmerksamkeit schaffen. Die ersten Sätze entscheiden, ob jemand dranbleibt. Z. B.: Neugier wecken, träumen lassen, provozieren. 17. »Am Strand lauschte ich den Wellen. Da fiel mir die Geschichte von Jona ein …« Schluss mit der Geschichte in der Geschichte. Wirkt künstlich. Gleich mit der eigentlichen Story beginnen. 18. Storytelling: Also erzählen statt bloß Fakten und Daten aneinanderzureihen (das gelingt auch im Bereich der Nachrichten). Nackte Informationen werden schnell wieder vergessen, Geschichten hingegen bleiben haften. Storytelling meint, Aufmerksamkeit holen und Aufmerksamkeit halten. Wie? Z. B.: Themen in Erzählblöcken und Sachabschnitten aufbereiten. Mehr dazu im Buch »Storytelling für Journalisten« (Lampert/Wespe 2013).

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»Nicht Fakten, sondern Geschichten treiben uns um, lassen uns aufhorchen, betreffen uns und gehen uns nicht mehr aus dem Sinn.« Manfred Spitzer, Hirnforscher (2007)

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19. Und nicht churchy sprechen. Dieser Sound stellt sich ein, wenn Vokale unnatürlich in die Länge gezogen werden. Auf die Spitze getrieben wird diese Spreche (wie im »Wort zum Montag« von Otto), wenn alle Worte in einem Satz ähnlich stark betont werden.So entsteht ein merkwürdiger Singsang. Es sind aber nicht alle Worte gleich wichtig. Das ist falsch. In einem Satz trägt ein Wort die Hauptbedeutung (manchmal sind es vielleicht auch zwei). Im Sprechtraining geht es darum, diese auszumachen und stimmlich entsprechend zu akzentuieren.

Lampert, Marie/Wespe, Rolf: Storytelling für Journalisten, 3. Aufl., München 2013. Weiterführend: Schneider, Wolf: Deutsch für Profis, München 1986. Schneider, Wolf: Der vielstöckige Hausbesitzer, München 1996.

6 Ausblick – in den virtuellen Weiten Wir erleben im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gerade einen Podcast-Boom. Allein der NDR hat 2020 zig neue Formate gestartet. Zentraler Ausspielweg: die ARD-Mediathek. Hier will der Sender gerade die Zuschauer:innen und Hörer:innen ansprechen, die selten oder immer weniger die linearen Medien nutzen.

Margot Käßmann und NDR-Moderator Arne-Torben Voigts

Eines dieser neuen, erfolgreichen Podcast-Formate heißt »Mensch Margot!« – es handelt sich um eine Produktion von NDR Niedersachsen in Zusammenarbeit mit der HannsLilje-Stiftung und der »Evangelischen Kirche im NDR«. Theologin Margot Käßmann und

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NDR-Moderator Arne-Torben Voigts sprechen alle 14 Tage über Gott und die Welt; also die kleinen Fragen des Alltags und die großen Themen des Lebens. Die Folgen finden sich nicht nur in der ARD-Mediathek, sondern lassen sich auch über die Websites von NDR 1 Niedersachsen und der »Evangelischen Kirche im NDR« abrufen. Als »Kirche im NDR« haben wir zudem zwei eigene Podcast-Formate gestartet: Das sind »Gott und die Welt« sowie »SinnSuche«. Die Folgen lassen sich auf der dafür eigens geschaffenen Seite www.radiokirche.net anhören, »SinnSuche« ist auch auf Spotify abonnierbar. NDR 1: NDR 1 Niedersachsen Podcasts im Abo, online unter: www.ndr.de/ndr1niedersachsen/podcasts, abgerufen am 17.10.2022. Podcasts der »Kirche im NDR«, online unter: www.radiokirche.net. »SinnSuche« ist zudem auf den gängigen Podcastplattformen abonnierbar, u. a. auf Spotify.

Was im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu beobachten ist, findet auch innerhalb der Kirchen statt. Auch online bildet sich Gemeinde, wird Glauben gelebt: im Internet, in den sogenannten Sozialen Medien. Das geschieht beispielsweise über die Kanäle und Plattformen von Landeskirchen bei Instagram, Facebook, Twitter, Youtube. Kristallisationspunkt sind dabei vor allem Personen, zum Beispiel Pastorin Josephine Teske aus Meiendorf-Oldenfelde, Hamburg. Als @seligkeitsdinge_ ist sie auf Instagram aktiv. Inzwischen hat sie fast 40.000 Abonnent:innen (Stand: 17.10.2022). Hinter diesem Erfolg steckt keine große PR-Maschinerie. Josephine Teske erzählt von ihrem Alltag. Vom Gemeindebüro, den Konferstunden, Predigtvorbereitungen, Gottesdiensten, aber eben auch von zu Hause, der Einschulung, Kindergeburtstagen, Stress, Zweifeln. Immer wieder startet sie interaktive Aktionen, in denen sie mit ihren Follower:innen über Glaube, Hoffnung, Liebe spricht. Sie versucht, alle Fragen zu beantworten. Es lohnt sich, ihr zu folgen, da­ rüber zu staunen, mitzuerleben, wie spirituell – oder bodenständig gemeindlich – es auf ihrem Account zugeht. Interaktion, ein ganz entscheidendes Merkmal. Während Radio und Fernsehen nur in eine Richtung funktionieren, leben die sogenannten Sozialen Medien vom direkten, gleichberechtigten Austausch. Die Coronapandemie hat in dieser Hinsicht zu einem Kreativitätssprung innerhalb der Kirchen geführt. Gemeinden, Einrichtungen und Medienschaffende haben eigene Formate und Podcasts entwickelt. Die Kolleg:innen des Evangelischen Kirchenfunks Niedersachsen-Bremen (ekn) haben auf der Videoplattform Youtube die »BASIS:KIRCHE« gestartet. Es sind Online-Chöre entstanden, es wurden Abendmahl und Gottesdienst im Web gefeiert. Viele der Online-Gottesdienstbesucher:innen wünschen, dass diese Form der geistlichen Feier erhalten bleibt und weiterentwickelt wird. Das haben erste Ergebnisse einer im September 2020 veröffentlichten »Studie zu Online-Gottesdiensten« gezeigt, an der sich fünf Landeskirchen beteiligt haben (EKiR 2020). Das kann doch nur bedeuten, dass wir viel mehr in die #digitalekirche investieren sollten: Personal, Geld, Zeit und Ideen. Pastorin Josephine Teske auf Instagram, @seligkeitsdinge_, online unter: www.instagram.com/seligkeitsdinge_ BASIS:KIRCHE, @basiskirche, online unter: www.youtube.com/c/basiskirche

h. Stichwort »Digitalstrategie«. Wie könnte diese für meinen Verantwortungsbereich aussehen? i. Neues zu machen, bedeutet auch immer, Bisheriges sein zu lassen. Was könnte das bei uns sein? j. Erfolgsfaktoren setzen: Was sind die Kriterien, nach denen wir entscheiden, ob unser Digitalformat funktioniert oder floppt?

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7 Zum Schluss – »Video Killed the Radio Star …«

»Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat …?« (Lk 15,4)

1. August 1981. In den Vereinigten Staaten startet der Fernsehsender MTV sein Programm. Der erste Titel – eine Kampfansage: The Buggles mit »Video Killed the Radio Star«. Im Musikclip bestaunt ein Engel mit lila Haaren aus einer Glasröhre die Band, zwei Typen in Glitzeranzügen, die sich als Verstärkung den damals noch unbekannten Hans Zimmer am Synthesizer dazu geholt haben. Doch der Abgesang auf das Radio sollte sich nicht bewahrheiten. Stattdessen spielt das Musikfernsehen heute so gut wie keine Rolle mehr. Radio hingegen ist neben dem Fernsehen nach wie vor ein beliebtes Medium (vgl. 3). Das wird auch so bleiben. Zum einen, weil es – anders als die On-Demand-Angebote – von der Qual der Wahl befreit. Es hat nämlich einen Wert, dass ein lineares Hörfunkprogramm seine Nutzer:innen zu festen Zeiten mit bestimmten Inhalten verlässlich versorgt. Zudem treibt das Medium Radio derzeit in Gestalt unzähliger Podcasts viele, fantastische neue Blüten (vgl. 6). Das liegt an der vielleicht größten Stärke des Hörfunks – Hörer:innen schreiben ihm eine besondere Eigenschaft zu: Nähe. Radio gilt als ein besonders sinnliches Medium, geradezu intim. Wort, Musik, Sounds/Geräusche. Kommt das zusammen, entsteht eine dichte Atmosphäre. Dann wird’s Radio. Radio geht ins Ohr, unter die Haut, ins Herz. In seiner Konzentration auf das Wort ist es geradezu protestantisch. Außerdem kultiviert Radio den Takt der Freiheit. Wer die Augen schließt, eintaucht in Wort und Musik, der erlebt eigene Bildwelten. Radio regt die Fantasie an und ermöglicht jeder:jedem ihr:sein persönliches Kopfkino. Alles beginnt mit dem Hören, erzählt Hans Bemmann in seinem Märchenroman »Stein und Flöte« (Bemmann 1983, S. 27). Und alles endet damit. Das Hören ist einer der letzten Sinne, der stirbt. Die Macht der bewegten Bilder ist gewaltig, sie bleibt unangefochten. Aber sie haben ihren Platz eher in der zweiten Tageshälfte. Radio hingegen ist das Medium des Vormittags. Es begleitet Menschen beim Aufstehen, im Bad, auf dem Weg zur Arbeit. Als Andachtsautor:innen und Kirchenfunker:innen sitzen wir bei den Menschen am Frühstückstisch, begleiten sie im Auto (mit den Nachtgedanken bei NDR 1 Niedersachsen beschließen wir sogar den Tag mit ihnen). Aber egal, in welchem Medium wir uns als Verkündiger:innen zu Wort melden, am Beginn steht eine Herausforderung: Es geht darum, Aufmerksamkeit zu gewinnen. Diese Aufgabe stellt sich allen Medienschaffenden. Wie das gelingt? Storytelling! Storytelling ist vielleicht einer der besten Wege, um Gehör zu finden. Auch komplizierte und komplexe Themen lassen sich so darstellen und aufarbeiten. Im Journalismus geschieht das schon lange. Reportagen, Feature-Sendungen arbeiten mit erzählerischen Bausteinen, die sich mit erklärenden Passagen abwechseln. Das lässt sich gut hören und sehen. Marie Lampert und Rolf Wespe beschreiben das eingängig, packend

Motiv einer Plakatkampagne von NDR 1 Niedersachsen, das im Landesfunkhaus Niedersachsen in Hannover zu sehen ist

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und übersichtlich in ihrem oben bereits erwähnten Buch »Storytelling für Journalisten« (2013). Es ist ein geniales Praxisbuch für alle Textarbeiter:innen. Die Anschaffung lohnt sich. Denn Storytelling ist eine uralte Kunst der Religionen. In Jesus begegnet uns jemand, der seinen Hörer:innen mit kleinen Geschichten tiefe Wahrheiten über Gott vermittelt hat. Nehmen wir mal das Gleichnis »Vom verlorenen Schaf« (Lk 17,4–7). Wer dieses Gleichnis hört, kann es anschließend sofort nacherzählen. Es hat nicht einmal 600 Zeichen (inklusive Leerzeichen), liegt gesprochen bei etwa 40 Sekunden, und vermittelt ganz viel. Das ist die Kraft des Storytellings. Bibeltexte zum Thema »Rundfunkarbeit« Matthäus 26,18–20 – Missionsauftrag

»Lehret alle Völker« (V. 19). Also hinaus in alle Welt. Wie kann das gelingen? Mithilfe der Medien. Dieser Öffentlichkeitsauftrag spiegelt sich in den kirchlichen Verfassungen und Grundordnungen. Lukas 15,4–7 – Die Geschichten über das Verlorene. Storytelling

Besser erzählen statt lehren. Im Gleichnis vom verlorenen Schaf zeigt sich die Kraft des Storytellings. Eine pointierte, prägnante Episode. Und sie vermittelt trotz ihrer Kürze eine wichtige Eigenschaft Gottes. Ein Vortrag dazu hätte anders geklungen. Apostelgeschichte 17,16–34 – Paulus Rede auf dem Areopag

Bei dem ansetzen, was die Menschen bewegt und umtreibt. Ihre Sprache sprechen. »Dem unbekannten Gott« (V. 23). Paulus sucht nach einem Anknüpfungspunkt. Er packt die Athener:innen bei einer menschlichen Eigenart, der »Neugier« (V. 20–21). Und er greift auf bekannte Vorstellungen, Sprachmuster und vertraute Bilder zurück: »In ihm leben, weben und sind wir« (V. 28).

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Schreibwerkstatt Aufgabe – die gute Nachricht in 1:30 Minute 1. Entwickeln und verfassen Sie einen Beitrag mit spiritueller Tiefe im Umfang von 1.300 Zeichen (inkl. Leerzeichen) für eine Radiowelle/Zeitung Ihrer Wahl. 2. Berücksichtigen Sie dabei die »Dos and Don’ts für das hörverständliche Texten«.

Impulse – Ein Thema finden (Relevanz erzeugt Resonanz): Das können eigene Erlebnisse sein, der Aufreger der Woche in Ihrer Region, im Bundesland, in Deutschland, etwas aus dem Kalender kurioser Feiertage, ein Feiertag aus dem Kirchenjahr, die Tageslosung (ist manchmal der Hammer, manchmal eben aber auch nicht). – Die Formfrage klären: Story oder Kolumne? Erzählerischer Text (neutrale:r, beobachtende:r Erzähler:in, Ich-Perspektive) oder Meinungsbeitrag (Glosse, Kommentar …)?

Umfeld – In welchem Umfeld kommt mein Beitrag zum Stehen? Was passiert rund um diesen Sendeplatz (Nachrichten, Musik, andere Programmplätze)? Zeitung: Auf welcher Seite erscheint dieser Text? – Die Zielgruppe in den Blick nehmen: Für wen schreibe ich, zu wem spreche ich? Der Großteil der Zuschauer:innen und Hörer:innen schaltet ihren:seinen Sender nicht wegen der Kirche ein. Da geht es um Information und Unterhaltung. – Womit sind die Hörer:innen/Zuschauer:innen/Leser:innen aktuell beschäftigt? – Was für Themen spielen in meinem Medium eine Rolle? – Die Zielgruppe. In welchem Lebensabschnitt befinden sie sich? Was treibt sie um? Sorgen, Wünsche, Freuden …?

Im Ü-Wagen, der Autor und Radiopastor Oliver Vorwald

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Öffentlichkeitsarbeit

Autor Radiopastor Oliver Vorwald ist Hörfunkreferent der Evangelischen Kirche im NDR/Evangelisches Rundfunkreferat der norddeutschen Kirchen e. V. in Hannover. [email protected]

Literatur Bemmann, Hans: Stein und Flöte und das ist noch nicht alles, Stuttgart 1983. Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR): Studie: »Digitaler Kirchgang« auch nach Corona stark gefragt. Chance für Weihnachtsgottesdienste / Präses: Nah bei den Menschen sein, 18.09.2020. https://presse.ekir. de/presse/01D9D243A1344C07A72CA69C5C747D6C/studie-digitaler-kirchgang-auch-nach-coronastark-gefragt, abgerufen am 01.12.2021. Krupp, Manfred/ARD-Werbung: Media Perspektiven Basisdaten. Daten zur Mediensituation in Deutschland 2020, Frankfurt 2021. https://www.ard-werbung.de/fileadmin/user_upload/media-perspektiven/Basisdaten/Basisdaten_2020_Internet_mit_Verknuepfung.pdf, abgerufen am 01.12.2021. Kühn, Michael/von Waldenfels, Svea/Neuhoff, Heiko: Rechtsvorschriften des Norddeutschen Rundfunks, Stand 9/2017, S. 6‒20.24. Kupferschmitt, Thomas/Müller, Thorsten: Aktuelle Ergebnisse der repräsentativen Langzeitstudie, in: Media Perspektiven 7‒8/2020, S. 390‒409. Lampert, Marie/Wespe, Rolf: Storytelling für Journalisten, 3. Aufl., München 2013. La Roche, Walther: Einführung in den praktischen Journalismus, 11. Aufl., München 1988, S. 76‒97. NDR: Staatsvertrag über den Norddeutschen Rundfunk (NDR-Staatsvertrag), 04.–09.03.2021. https://www. ndr.de/der_ndr/zahlen_und_daten/staatsvertrag202.pdf, abgerufen am 01.12.2021. Percy, Walker: Der Kinogeher, Frankfurt a. M. 1986. rundfunk.evangelisch.de: Rechtliche Grundlagen der Rundfunkarbeit. https://rundfunk.evangelisch.de/wirueber-uns/rechtliche-grundlagen-der-rundfunkarbeit, abgerufen am 01.12.2021. Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg 2017. Theologisches Studienseminar: Reisesegen. https://führen-leiten-kirche.de/rundfunk, abgerufen am 24.08.2022.

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Öffentliche Theologie Heinrich Bedford-Strohm

1 Hinführung

Wie kann die Kirche eine relevante öffentliche Stimme sein?

Auf dem Höhepunkt der Coronakrise wurden Stimmen laut, die eine in der Öffentlichkeit wirklich vernehmbare Stimme der Kirchen vermissten. Vom »Schweigen der Bischöfe« (vgl. Löwe 2020; Finger 2020) war die Rede oder vom »Schweigen der Kirche« (vgl. Becker 2020) Trauergottesdienste hätten nicht stattgefunden oder seien in einem unerträglichen Maße reglementiert worden, die Seelsorge in Alten- und Pflegeheimen sei in einer nicht hinnehmbaren Art und Weise beschränkt worden, ohne dass die Kirche dagegen protestiert hätte. Damit sei sie der Gesellschaft etwas Wesentliches schuldig geblieben. Dieser Kritik muss sich eine Öffentliche Kirche, die sich als in die Gesellschaft hineinwirkend versteht, stellen. Unabhängig davon, ob sie berechtigt ist, kann in jedem Falle festgestellt werden, dass wohlreflektierte Kriterien Öffentlicher Theologie eine tragfähige Grundlage für eine wichtige Rolle der Kirche in den öffentlichen Diskussionen um die Pandemie bilden können. Mit Ronald Thiemann (1991, S. 19)1 ist zu fragen: Wie kann die Kirche im Rückgriff auf die biblischen Hoffnungsgeschichten und auf die gebotene Nächstenliebe die notwendigen Ressourcen erschließen, um eine öffentliche Stimme zu sein, die von gesellschaftlicher Relevanz ist? Im Folgenden wird versucht, den Ansatz der Öffentlichen Theologie in Zeiten der Pandemie auf seine Tauglichkeit hin zu überprüfen. Dabei wird zunächst kurz auf Begriff, Geschichte und Charakteristika der Öffentlichen Theologie eingegangen, um ein gemeinsames Grundverständnis zu erreichen.

2 Was ist »Öffentliche Theologie«? Im mittlerweile üblichen Sinne wurde der Begriff »Public Theology« zum ersten Mal von dem Chicagoer Theologen Martin Marty in den früher 1970er-Jahren verwendet und bekam im Zusammenhang mit der Debatte um Robert Bellahs Überlegungen zur »Civil 1 »Public theology is to show that a theology shaped by the biblical narratives and grounded in the practices of Christian community can provide resources to enable people of faith to regain a public voice in our pluralistic culture. Our challenge is to develop a public theology that remains based in the particularities of the Christian faith while genuinely addressing issues of public significance.« (Thiemann 1991, S. 19)

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Öffentliche Theologie

Religion« Bedeutung (vgl. Marty 1974). Später haben in den USA v. a. Ronald Thiemann (1991) und Max Stackhouse (1987) mit dem Begriff gearbeitet. In Deutschland verwendete neben Wolfgang Huber (1993) auch Jürgen Moltmann den Begriff (vgl. Moltmann 1997). Besonders intensiv wurde der Diskussionszusammenhang der Public Theology im Kontext Südafrikas rezipiert und weiterentwickelt (vgl. de Gruchy 2004; Smit 2007). Auch in anderen Transformationsgesellschaften wie Brasilien kommt der Public Theology wachsende Aufmerksamkeit zu (vgl. Lienemann-Perrin/Liene­mann 2006; zum Kontext Brasiliens: von Sinner 2012). Inzwischen spricht vieles dafür, dass das Paradigma der Public Theology in Zukunft zentrale Bedeutung für den internationalen Diskurs, insbesondere zwischen den Ländern des Südens und des Nordens gewinnt.2 Dabei ist in jüngster Zeit vor allem die Frage nach Kontextualität und Interkontextualität der Public Theology diskutiert worden.3 2007 wurde in Princeton das »Global Network for Public Theology« (GNPT) gegründet, in dem seitdem Institute aus aller Welt bei der Weiterentwicklung der Public Theology zusammenarbeiten. Die im Januar 2008 neu gegründete »Dietrich-Bonhoeffer-Forschungsstelle für Öffentliche Theologie« an der Universität Bamberg ist seitdem Basis für das GNPT im deutschsprachigen Raum. Seit 2007 erscheint die Zeitschrift »International Journal for Public Theology«, die sich zum wichtigsten Forum dieses theologischen Diskurszusammenhangs entwickelt hat. Mit dem 2017 vom dortigen Ethik-Lehrstuhlinhaber Torsten Meireis an der Humboldt-Universität gegründeten »Berlin Institute for Public Theology« ist ein weiterer wichtiger Akteur in der deutschen Diskussion um Public Theology entstanden und in das GNPT aufgenommen worden.4 Bei der Öffentlichen Theologie geht es darum, das Angebot der jüdisch-christlichen Tradition als hilfreichen Beitrag auf der Suche nach Antworten auf Fragen einzubringen, in denen die Öffentlichkeit nach Orientierung sucht. Die Wahrnehmung des Öffentlichkeitsauftrags des Evangeliums (dazu einschlägig Huber 1973) kann hier mit guten Gründen zugleich als Dienst an der Gesellschaft insgesamt gesehen werden. Öffentliche Theologie kann weder allein in theologischer Binnenrhetorik formuliert werden noch kann sie in ihrem Eingehen auf die Situation der Moderne kritiklos alles nachsprechen, was die säkulare Debatte hervorbringt. Vielmehr muss Öffentliche Theologie ein klares theologisches Profil mit einer Sprache verbinden, die für die Öffentlichkeit – und damit für säkulare Diskurse – verständlich ist. Zweisprachigkeit, also die Fähigkeit, biblisch-theologische Sprache und die Sprache der säkularen Vernunft gleichzeitig zu pflegen, gehört daher zum Kern Öffentlicher Theologie. Außerdem gehört zur Öffentlichen Theologie die Interdisziplinarität: Public Theology ist auf das Gespräch mit der Wirtschaftswissenschaft, der Politologie, der Soziologie, den Naturwissenschaften und anderen Disziplinen angewiesen, will sie substanziell zur öffentlichen Debatte beitragen. Im interdisziplinären Gespräch kommt es nicht in jedem 2 Zu den Anfängen der Debatte um »öffentlichen Theologie« vgl. Vögele 1994, S. 418–425. Seitdem ist eine Fülle von Publikationen erschienen. Für einen Überblick über den Stand der internationalen Diskussion vgl. Storrar/Morton 2004; Bedford-Strohm 2008 sowie 2009a. 3 Die Vorträge bei der zu diesem Thema an der Universität Bamberg veranstalteten internationalen Konferenz finden sich in: Bedford-Strohm/Höhne/Reitmeier 2013. 4 ür einen Überblick über Grundtexte und Entwicklung Öffentlicher Theologie vgl. Höhne/Van Oorschot 2015 und Höhne 2015.

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Die Wahrnehmung des Öffentlichkeitsauftrags des Evan­ geliums als Dienst an der Gesellschaft

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Öffentliche Theologie als Befreiungstheologie für demokratische Gesellschaften

Prophetische Kritik und Politikberatung brauchen einander

Dietrich Bonhoeffer: »Anerkennung des Faktischen und Widerspruch gegen das Faktische.«

Heinrich Bedford-Strohm

Falle darauf an, dass Öffentliche Theolog:innen von allen Fachgebieten Detailkenntnisse haben. Vielmehr geht es darum, schon die Kompetenz, auf Basis ethischer Reflexion die richtigen Fragen zu stellen, als wichtigen Beitrag zur Erarbeitung von Antworten zu sehen. Öffentliche Theologie erhebt zugleich den Anspruch, über die distanzierte Grundsatzkritik an gesellschaftlichen Verhältnissen hinaus Wegweisungen für die Politik zu geben. Man kann insofern von einer Dimension der Politikberatung sprechen, so wenig Theologie und Kirche selbst die entsprechenden Konzepte entwickeln oder gar politisch propagieren können. Die Befreiungstheologie konnte den Exodus ins gelobte Land thematisieren, ohne das gelobte Land genau beschreiben zu müssen. Heute sind die Befreiungstheolog:innen vielerorts selbst Verantwortungsträger:innen: In Südafrika etwa sind die, die einst gegen Apartheid kämpften, heute in der Pflicht und Schwierigkeit, selbst Macht zu haben und gestalten zu können. Damit verändert sich die theologische Frage: Wie ist etwa die Option für die Armen theologisch verantwortet aus Machtpositionen heraus umzusetzen? In der Notwendigkeit, auf solche Fragen eine Antwort zu geben, liegt das Element der Politikberatung begründet. Indem Öffentliche Theologie dieses Element einschließt, erweist sie sich als Befreiungstheologie für demokratische Gesellschaften. Öffentliche Theologie schließt prophetische Kritik ein. Wo das Element der Politikberatung zu stark betont wird, geht ein wesentliches Element biblischer Theologie verloren: die kritische Widerständigkeit, wie sie in der prophetischen Überlieferung so eindrucksvoll vor Augen tritt. Nicht jede Kritik muss gleich alternative Lösungswege vorweisen. Sie kann auch mit der Schärfe ihrer Worte zunächst nur das Ziel haben, zum Nachdenken anzuregen. Zugleich erhebt Öffentliche Theologie dieses prophetische Element nicht zum Prinzip. Sie spricht nicht jeder Macht die Legitimität ab, sondern leitet dazu an, auch im Hinblick auf Ausübung von Macht die Geister zu unterscheiden. Das heißt: Auch prophetische Kritik muss das Ziel haben, zu machbaren Lösungen zu gelangen.5 Prophetische Kritik und Politikberatung stehen daher nicht im Widerspruch zueinander, sondern brauchen einander, um weder im Bestehenden aufzugehen noch das Bestehende zu ignorieren. Dietrich Bonhoeffer hat in seiner Ethik diesen Zusammenhang so auf den Punkt gebracht: Der Begriff des Wirklichkeitsgemäßen – so schreibt er – »bedarf […] der näheren Bestimmung. Gänzlich und gefährlich mißverstanden wäre er als jene ›servile Gesinnung vor [dem] Faktum‹, von der Nietzsche spricht, die jeweils dem stärkeren Druck weicht, die den Erfolg prinzipiell rechtfertigt und das jeweils Opportune als das Wirklichkeitsgemäße wählte. ›Wirklichkeitsgemäßheit‹ in diesem Sinne wäre das Gegenteil von Verantwortlichkeit, nämlich Verantwortungslosigkeit. Ebenso wenig allerdings wie die Servilität gegenüber dem Faktischen kann prinzipieller Widerspruch, die prinzipielle Auflehnung gegen das Faktische im Namen irgendeiner höheren idealen Wirklichkeit den echten Sinn der Wirklichkeitsgemäßheit erfüllen. Beide Extreme sind vom Wesen der Sache gleich weit entfernt. Anerkennung des Faktischen und Widerspruch gegen das Faktische sind im echten wirklichkeitsgemäßen Handeln unlösbar miteinander verbunden.« (Bonhoeffer 1992, S. 260–261; Bedford-Strohm 2009b) Die besondere internationale Qualität des Public-Theology-Diskurses ist keine zufällige Dimension dieses sich entwickelnden theologischen Konzepts. Vielmehr kommt darin ein Charakteristikum zum Ausdruck, das diese Theologie kennzeichnet: ihre ökumenische Ausrichtung. In verschiedenen Teilen der Welt haben sich Public Theologies ent5 Dieses Kriterium verdankt sich den Diskussionen auf einer Konferenz in Pretoria im Oktober 2009. Dazu Bedford-Strohm 2011.

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wickelt, deren Kontextualität ein prägendes Merkmal ist. Diese Kontextualität steht nicht im Widerspruch zur Universalität, sondern ist notwendigerweise mit Interkontextualität verbunden. Das aus solcher Interkontextualität kommende Moment der Universalität trägt der Tatsache Rechnung, dass die zur Wahrnehmung und Berücksichtigung der jeweiligen Situation notwendige Kontextualität auf den universalen Horizont des »einen Glaubens, der einen Taufe, des einen Gottes« (Eph 4,5–6) bezogen bleibt. Sechs Charakteristika können für die inhaltliche Bestimmung des Begriffs der Öffentlichen Theologie festgehalten werden: Ihr biblisch-theologisches Profil (1), ihre Zweisprachigkeit (2), ihre Interdisziplinarität (3), ihre Politikberatungskompetenz (4), ihre prophetische Qualität (5) und ihre Interkontextualität (6).

3 Öffentliche Theologie in der Coronakrise Diese sechs Charakteristika Öffentlicher Theologie sollen auf ihre Wirksamkeit im Hinblick auf die Pandemie überprüft werden. Öffentliche Theologie hat ein biblisch-theologisches Profil Öffentliche Theologie muss öffentlich Rechenschaft abgeben über die Überzeugungen und Traditionen, aus denen sie lebt. Es geht nicht in erster Linie um apologetische Selbstbehauptung oder um ethische Profilierung um den Preis geistlicher Orientierung. Öffentliche Theologie ist keine ethische Theologie, sie säkularisiert sich nicht selbst (Huber 1998, S. 10.12–13). Im Gegenteil: Nur eine fest in ihren Wurzeln gegründete Theologie kann einen substanziellen und glaubwürdigen Beitrag zu einer öffentlichen Diskussion leisten. Eine Kirche, die sich ihrer eigenen Botschaft nicht sicher ist, ist für ihre Gesprächspartner:innen in Politik und Gesellschaft nicht hilfreich.6 Eine solche Botschaft war die Tageslosung vom 10. März 2020 aus 2. Timotheus 1,7: »Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.« Ein starkes Wort zu Beginn des ersten Lockdowns in Deutschland im März 2020. Die Bibel ist in einer pluralistischen Gesellschaft zwar nicht für alle gleichermaßen verbindlich und relevant, aber sie findet mit vielen ihrer Worte auch bei Nichtchrist:innen Resonanz. Natürlich spürten und spüren die Menschen während der Pandemie den »Geist der Furcht« in sich. Vor allem zu Beginn der Pandemie, als man noch wenig über das Virus wusste, wie gefährlich es ist, wie ansteckend und tödlich, griffen Angst und Unsicherheit um sich. Die zweite Welle im November 2020 verlangte einer durch Monate der Kontaktbeschränkungen verwundeten Gesellschaft viel Geduld ab. Viele Menschen sehnen sich nach dem, was das Bibelwort zum Ausdruck bringt: Kraft und Liebe – Ressourcen, die angesichts von gesundheitlicher und wirtschaftlicher Bedrohung, angesichts von Isolation und Tod (über-)lebenswichtig sind. Aber auch das 6 When communities »lose touch with their own traditions, they also undermine their ability to participate in and influence the public discussion. Communities that are undergoing a perpetual identity crisis do not make for interesting conversation partners« (Thiemann 1991, S. 40).

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»Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.« (2. Tim 1,7)

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Dritte, die Besonnenheit, erweist sich als entscheidend: Besonnenheit ist notwendig, um bei schwierigen Dilemmata, vor die die Coronasituation stellt, mit der nötigen Unaufgeregtheit klare Entscheidungen zu treffen – nach Abwägung aller Vor- und Nachteile. Besonnenheit basiert auf einer festen Überzeugung, wie auf einer möglichst breiten Informationsbasis, damit die richtige oder zumindest die am wenigsten falsche Entscheidung getroffen werden kann. Im Zusammenhang der Pandemie wurden und werden neben Fragen der eigenen Ressourcen wesentliche Grundsatzfragen der Theologie gestellt: So etwa die Frage danach, welche Rolle Gott beim Auftauchen des Virus spielt? Kann die Pandemie gar als Strafe Gottes verstanden werden? (vgl. z. B. Idea spektrum 2020) Gegenüber solchen Deutungen war und ist deutlicher Widerspruch zu artikulieren. Jesus hat nicht krank gemacht, sondern geheilt. Am ehesten könnte man mit Luther im Vergleich zur Pest im 16. Jahrhundert von einer Prüfung sprechen (Luther 1527).7 Sie stellt unseren Glauben auf die Probe. Gott gibt uns die Kraft, damit umzugehen. Eine andere theologische Frage ist die nach der Freiheit: In dem Jahr, in dem die Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« von Martin Luther 500. Geburtstag feiert, kam es zu Einschränkungen von Freiheitsrechten in Deutschland, wie man sie sich vorher schwer hätte vorstellen können. Wichtige Fragen stellen sich: In welchem Verhältnis steht die persönliche Freiheit zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit? Hat im Sinne der Menschenwürde die Freiheit oder die Gesundheit den höheren Rang? Öffentliche Theologie hat hier die besonderen Impulse des christlichen Freiheitsverständnisses in die öffentliche Debatte einzubringen, wie es Luther in seiner Freiheitsschrift entwickelt hat. Freiheit ist immer im Horizont der Nächstenliebe zu verstehen. Es geht nicht um eine vom Ergehen der anderen losgelöste persönliche Freiheit, sondern um eine Freiheit, die bereit ist zur Selbstzurücknahme um der anderen willen. In der Pandemie ging und geht es darum, die Freiheitsbeschränkungen anzunehmen, um das Leben der Risikogruppen nicht zu gefährden. Freiheit ist immer im Horizont der Nächstenliebe zu verstehen

7 Grundsätzlich diskutiert Luther in seiner Schrift nicht, ob die Pest, das Sterben oder die Krankheit eine Strafe Gottes ist, sondern wie sich der:die Glaubende dazu verhält. Das Sterben ist Folge der Sünde, aber es dient auch der Prüfung. Zur »Bestrafung« durch Gott kommt es erst durch das falsche Handeln der Menschen als Reaktion auf die Pest und das Sterben.

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Öffentliche Theologie ist zweisprachig Für Öffentliche Theologie ist es wesentlich, in der eigenen theologischen Sprache eloquent zu sein und die eigene Tradition angemessen zur Sprache bringen zu können. Es kommt aber in gleicher Weise darauf an, eine Sprache zu finden, die in der Öffentlichkeit verstanden wird. Dabei geht es darum, durch nachvollziehbare Erfahrungen und Erklärungen die biblisch-theologischen Perspektiven so zu versprachlichen, dass ihre Bedeutung und ihr Sinngehalt von denen, die mit der kirchlichen Tradition nicht oder wenig vertraut sind, verstanden werden können. Es geht um ein Verstehen, das auch außerhalb des Deutungsrahmens der Religion möglich sein muss. Das setzt allerdings voraus, dass die Gesellschaft bereit ist, Impulse aus der religiösen Tradition zur Kenntnis zu nehmen. Ein Beispiel dafür, wie christliche Grundüberzeugungen für die Pandemie relevant werden konnten, ist die Solidarität. Viele Menschen haben durch die Coronakrise ihre Arbeit verloren, vielerorts bangten und bangen Menschen um ihre Existenz. In Ländern, in denen die Armut der Menschen größer und die staatlichen Möglichkeiten zu helfen geringer sind, ist die Lage noch dramatischer und in Teilen sogar lebensbedrohlich. In diesem Kontext stellt die biblisch begründete Option für die Armen eine wichtige Grundorientierung dar, an der man sich gesellschaftlich ausrichten kann. Solidarität ist ein Mandat des Glaubens, oder mit dem Wort aus dem 2. Timotheus gesprochen, ein Gebot der Liebe. Um diese Grundorientierung im öffentlichen Diskurs plausibel zu machen, bedarf es der Sprache der Vernunft. Ausgangspunkt kann dabei die Goldene Regel aus der Bergpredigt Jesu sein: »Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.« (Mt 7,2) Ich versetze mich in die Rolle des:der anderen: Ich handle so, wie ich in einer vergleichbaren Situation behandelt werden möchte.8 Der Philosoph John Rawls hat diese religiös geprägte Haltung der Einfühlung und Empathie auf einer philosophischen Ebene analog ausformuliert. In seiner »Theorie der Gerechtigkeit« (Rawls 1975) hat er die Methode des »Schleiers des Nichtwissens« entwickelt. Es handelt sich um ein philosophisches Modell, in dem ein gerechtes Gesellschaftssystem entwickelt werden soll. Das geschieht in der Weise, dass diejenigen, die die Grundsätze der Gerechtigkeit entwickeln, nicht wissen, welche Position sie in dieser Gesellschaft einnehmen werden. Sie stehen im sogenannten Urzustand unter dem »Schleier des Nichtwissens«. Da sie sich nach der Hebung dieses Schleiers auch als Angehörige einer besonders verletzlichen Bevölkerungsgruppe vorfinden könnten, so Rawls, werden sie sich im Urzustand vernünftigerweise – schon aus Eigeninteresse – auf die Verbesserung der Situation der Schwächsten, das »Maximin-Prinzip« als Gerechtigkeitsgrundsatz verständigen. Die Konvergenz mit der Perspektive der Option für die Armen, die sich durch unterschiedliche Traditionen der Bibel hindurchzieht, ist unübersehbar (dazu Bedford-Strohm 2018). Für den öffentlichen Dialog in der Pandemie bedeutet das, der Perspektive der Risikogruppen immer einen zentralen Stellenwert bei den Schutzmaßnahmen einzuräumen. Es bedeutet auch, diejenigen besonders in den Blick zu nehmen, die durch die Coronamaßnahmen in besondere materielle Not geraten sind und für Solidarität mit ihnen einzutreten.

8 Vgl. den Perspektivwechsel bei dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37): »Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?« (V. 36)

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»Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.« (Mt 7,2)

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Heinrich Bedford-Strohm

Öffentliche Theologie ist interdisziplinär Auch für die Überlegungen Öffentlicher Theologie ist während der Pandemie die medizinische Forschung, und im Besonderen die Virologie und die Hygiene- und Intensivmedizin von besonderer Bedeutung. Für die Einschätzung von Entscheidungen, die staatlicherseits oder vonseiten der Kirche selbst getroffen werden mussten, ist der interdisziplinäre Austausch mit der Medizin unabdingbar. Um der Verantwortung gerade gegenüber den Schwächsten gerecht zu werden, muss kontinuierlich auf die Erkenntnisse der Wissenschaftler:innen zum Verhalten des Virus gehört werden, die sich auf Basis neuer Forschungen immer weiterentwickeln. Selten zuvor waren aktuelle medizinische Forschungen so entscheidend für das gesellschaftliche Leben in seiner ganzen Breite. So schwer die physische Distanz, das Tragen der Gesichtsmasken, der Verzicht auf körperliche Kontakte, auf das Singen im Gottesdienst und auf die einschränkungslose Begleitung von Kranken und alten Menschen war und ist, die Verbindung der medizinischen Erkenntnisse mit christlich-ethischen Grundorientierungen muss zu einem bewussten Mittragen der Maßnahmen auch durch die Kirche führen. Die Gefahr von Menschen abzuwenden, sich bei Gottesdiensten oder Besuchen in Seniorenheimen zu infizieren, musste und muss in den Vordergrund treten. Soziologische und psychologische Erkenntnisse, etwa zur Auswirkung der Maßnahmen für Kinder oder zu den Konsequenzen im Hinblick auf häusliche Gewalt, aber auch die Konsequenzen für die Depressionshäufigkeit in den Altenheimen, waren gleichzeitig in die Dilemmaabwägungen einzubeziehen. Öffentliche Theologie muss politische Entscheidungen ermöglichen und dafür Orientierung geben Eine Sozialethik, die nur dann funktioniert, wenn man sie nie anwenden muss, ist eine schlechte Sozialethik. Deswegen muss unterschieden werden, wo nur Grundsatzkritik am Handeln der Mächtigen ethische Impulse wirksam in den Raum der Politik einbringen kann und wo solche ethischen Impulse gerade die Unterstützung des Handelns der politisch Verantwortlichen durch die Kirche verlangen. Im Falle der Pandemie war schon in der ersten Phase Letzteres der Fall. Denn es ging bei den politischen Maßnahmen ausschließlich darum, die Gesundheit der besonders Verletzlichen zu schützen und so viel Leben wie möglich zu erhalten. Im Einklang mit den Regeln und Maßgaben der Behörden, aber auch aus freier Einsicht in die Notwendigkeit, haben die Kirchen deswegen die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit bei den Gottesdiensten mitgetragen. Sie haben auf Präsenzgottesdienste verzichtet und Kontaktmöglichkeiten zurückgefahren. Liebe zum:zur Nächsten und Rücksichtnahme auf die Schwächsten in der Gesellschaft waren die Motive. Das hat das kirchliche Leben massiv betroffen. Aus Glaubwürdigkeitsgründen war es indessen notwendig. Die Kirche musste gerade an den für sie besonders schmerzlichen Punkten zeigen, dass sie bereit war, zum Wohl der besonders Verletzlichen zu handeln und deswegen auch schmerz­liche Beschränkungen mitzutragen.

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Öffentliche Theologie

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Öffentliche Theologie ist prophetisch Ein grundlegendes Beispiel für die prophetische Aufgabe der Öffentlichen Theologie ist die Nathan-Parabel im Alten Testament (2 Sam 12,1–25). Der Prophet Nathan, der König David anhand einer Parabel mit seiner eigenen Schuld konfrontiert – dem Ehebruch mit Bathseba –, wird zur Grundfigur prophetischer Kritik. Der Prophet scheut nicht das offene Wort, wenn es der Wahrheit dient. Er konfrontiert die Mächtigen um der Gerechtigkeit willen. Einige forderten während der Coronakrise von der Kirche eine prophetische Rolle als scharfe Kritikerin der staatlichen Maßnahmen. Sie forderten von ihr, sich den staatlichen und behördlichen Maßnahmen zu widersetzen. Die Kirche – so der Tenor dieser Kritiker:innen – sei keine Staatskirche mehr. Sie müsse sich gegen die Freiheitsbeschränkungen und Hygieneauflagen öffentlich zur Wehr setzen. Das Spektrum derjenigen, die sich in Bewegungen wie »Querdenker« sammelten, reichte von abstrusen Verschwörungsgläubigen über für Argumente offene Wissenschaftskritiker:innen bis hin zu rechtsradikalen Ideolog:innen, die die Coronademonstrationen für ihre Zwecke zu nutzen versuchten. Die Diskussionen zeigen: Das prophetische Amt ist nicht immer und automatisch gegen politisch Verantwortliche und den Staat gerichtet. Nicht an der Staatskritik an sich erkennt man echte Prophetie, sondern an der Botschaft. In diesem Fall hat sich die Kirche deswegen bewusst an die Seite der Regierung gestellt – und darin ihr prophetisches Amt ausgeübt. Dort, wo aus ethischen Gründen Anlass zur Kritik staatlicher Maßnahmen besteht, wird die Kirche sich entsprechend öffentlich äußern müssen. Aber sie orientiert ihre Entscheidung darüber an dem Inhalt, für den sie steht. Öffentliche Theologie ist interkontextuell und universal orientiert Öffentliche Kirche ist immer eng mit der Gesellschaft verbunden, in der sie vor Ort lebt, und zur gleichen Zeit universal. Sie lebt in konkreten Bezügen und in Nachbarschaft mit den Menschen in ihrer Umgebung und ist zugleich international und universal verbunden mit den Schwestern: und Brüdern: weltweit. Insofern nimmt Öffentliche Theologie in besonderer Weise den Beitrag der Kirchen zur Überwindung von Spaltungen und Zerwürfnissen in unserer Welt in den Blick. Aus ihren Erfahrungen der Verwurzelung in lokale Bezüge einerseits und in den universalen Zusammenhängen andererseits ergibt sich für die Öffentliche Kirche eine zentrale Rolle als Anwältin insbesondere der Schwachen in einer globalen Zivilgesellschaft. Die globale Perspektive öffnet den Blick für die Menschen, die an vielen Orten dieser Welt, oft von der Öffentlichkeit unbeachtet, unter den Folgen der Pandemie massiv zu leiden haben. Von Gottes Liebe und Fürsorge zu sprechen, nimmt die Kirche in die Pflicht, für diese Menschen Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit zu schaffen. Es geht darum, die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns weltweit zu sehen und für eine globale Solidarität einzutreten, die Menschenleben rettet. Natürlich geht es auch um die Not und die wirtschaftlichen Folgen für Unternehmer:innen und Kulturschaffende in unseren lokalen Gesellschaften, doch in der Perspektive Öffentlicher Theologie müssen sie in den globalen Kontext eingeordnet werden. Man sollte die beiden Perspektiven nicht gegeneinander ausspielen, sondern die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie für alle Menschen wahrnehmen. Alle sind sie Ebenbilder Gottes.

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Einige forderten während der Coronakrise von der Kirche eine prophetische Rolle als scharfe Kritikerin der staatlichen Maßnahmen

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4 Schlussbemerkungen Öffentlicher Theologie liegt die theologische Überzeugung zugrunde, dass die Erkenntnis der Gotteswirklichkeit nur möglich ist, wenn wir uns ganz auf die Weltwirklichkeit einlassen. Sie impliziert eine bewusste Bejahung von Öffentlichkeit und den darin sich vollziehenden demokratischen Willensbildungsprozessen. Öffentliche Theologie hat damit eine klare Affinität zur Demokratie als Staatsform und den damit verbundenen partizipatorischen Möglichkeiten. Der Raum der Öffentlichkeit ist allein schon deswegen theologisch relevant, weil er für die Weltgestaltung von zentraler Bedeutung ist, weil sich in ihm entscheidet, ob Armut beseitigt, Gewalt überwunden oder die Zerstörung der Natur gestoppt wird. Eine Kirche, die sich auf diese Perspektive einlässt, muss »Öffentliche Kirche« in der Zivilgesellschaft sein. Nur so kann sie aus dem Versagen der Kirchen im Nationalsozialismus und aus den Worten lernen, die Dietrich Bonhoeffer in seinem berühmten Traktat »Nach zehn Jahren« kurz vor seinem Tod im Widerstand gegen Hitler an der Jahreswende 1944/45 aufgeschrieben hat: »Auf der Flucht vor der öffentlichen Auseinandersetzung erreicht dieser und jener die Freistatt einer privaten Tugendhaftigkeit. Er stiehlt nicht, er mordet nicht, er bricht nicht die Ehe, er tut nach seinen Kräften Gutes. Aber in seinem freiwilligen Verzicht auf Öffentlichkeit weiß er die erlaubten Grenzen, die ihn vor dem Konflikt bewahren, genau einzuhalten. So muss er seine Augen und Ohren verschließen vor dem Unrecht um ihn herum. Nur auf Kosten eines Selbstbetruges kann er seine private Untadeligkeit vor der Befleckung durch verantwortliches Handeln in der Welt reinerhalten. Bei allem, was er tut, wird ihn das, was er unterlässt, nicht zur Ruhe kommen lassen.« (Bonhoeffer 1992, S. 66; 1998, S. 22). Eine Kirche, die aus geistlicher Kraft zum verantwortlichen Handeln in der Welt kommt

Eine Kirche, die aus geistlicher Kraft zu verantwortlichem Handeln in der Welt kommt, stellt sich immer wieder von Neuem dem Ruf Jesu, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein. Dazu durch die kritische theologische Reflexion kirchlicher Praxis beizutragen, das ist die Aufgabe Öffentlicher Theologie.

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Öffentliche Theologie

Autor Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm ist Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und war bis 2021 Ratsvorsitzender der EKD. [email protected]

Literatur Becker, Claudia: Das Schweigen der Kirchen, in: WELT.de, 20.04.2020. https://www.welt.de/print/die_welt/debatte/ article207534079/Leitartikel-Das-Schweigen-der-Kirchen.html, abgerufen am 02.12.2021. Bedford-Strohm, Heinrich: Öffentliche Theologie in der Zivilgesellschaft, in: Ingeborg Gabriel (Hg.): Politik und Theologie in Europa. Perspektiven ökumenischer Sozialethik, Mainz 2008, S. 340–366. Bedford-Strohm, Heinrich: Vorrang für die Armen. Öffentliche Theologie als Befreiungstheologie für eine demokratische Gesellschaft, in: Friederike Nüssel (Hg.): Theologische Ethik der Gegenwart. Ein Überblick über zentrale Ansätze und Themen, Tübingen 2009a, S. 167–182. Bedford-Strohm, Heinrich: Dietrich Bonhoeffer als öffentlicher Theologe, in: EvTh 69 (2009b), S. 329–341. Bedford-Strohm, Heinrich: Prophetic Witness and Public Discourse in European Societies, in: Heinrich BedfordStrohm/Etienne de Villiers (Hg.): Prophetic Witness. An Appropriate Mode of Public Discourse?, Berlin 2011. Bedford-Strohm, Heinrich: Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit, 2. Aufl., Leipzig 2018. Bedford-Strohm, Heinrich/Höhne, Florian/Reitmeier, Tobias (Hg.): Contextuality and Intercontextuality in Public Theology, Berlin 2013. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, DBW 6, München 1992. Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung, DBW 8, München 1998. de Gruchy, John: From Political to Public Theologies. The Role of Theology in Public Life in South Africa, in: William F. Storrar/Andrew R. Morton (Hg.): Public Theology for the 21st Century. Essays in Honour of Duncan Forrester, London u. a. 2004, S. 45–62. Finger, Evelyn: Frommes Schweigen. Die Kirchen sind endlich wieder geöffnet – wo waren die Bischöfe, als Alte und Kranke sie brauchten?, in: DIE ZEIT Nr. 23/2020, 16.05.2020. https://www.zeit.de/2020/23/kirche-corona-­ krise-seelsorge-gottesdienstverbote-bischoefe, abgerufen am 02.12.2021. Höhne, Florian: Öffentliche Theologie. Begriffsgeschichte und Grundfragen (Öffentliche Theologie 31), Leipzig 2015. Höhne, Florian/Van Oorschot, Frederike (Hg.): Grundtexte Öffentliche Theologie, Leipzig 2015. Huber, Wolfgang: Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973. Huber, Wolfgang: Vorwort, in: Bruce C. Birch/Larry L. Rasmussen: Bibel und Ethik im christlichen Leben (Öffentliche Theologie 1), Gütersloh 1993, S. 9–12. Huber, Wolfgang: Kirche in der Zeitenwende, Gütersloh 1998. Idea spektrum: Ist die Corona-Pandemie eine Strafe Gottes? 01.04.2020. https://www.idea.de/spektrum/ist-die-corona-pandemie-eine-strafe-gottes, abgerufen am 17.12.2021. Lienemann-Perrin, Christine/Lienemann, Wolfgang (Hg.): Kirche und Öffentlichkeit in Transformationsgesellschaften, Stuttgart 2006. Löwe, Hartmut: Kirche und Corona. Das Schweigen der Bischöfe, in: FAZ.net, 16.05.2020. https://www.faz.net/aktuell/politik/warum-schweigen-die-evangelischen-bischoefe-zu-corona-16771983.html, abgerufen am 02.12.2021. Luther, Martin: Ob man vor dem Sterben fliehen möge. Dem würdigen Herrn Doktor Johannes Heß, Pfarrherrn zu Breslau, zusammen mit seinen Mitdienern am Evangelium Christi (1527), WA 23, S. 338–372. Marty, Martin E.: Two Kinds of Two Kinds of Civil Religion, in: Russell E. Richey/Donald G. Jones (Hg.): American Civil Religion, New York 1974, S. 139–157. Moltmann, Jürgen: Gott im Projekt der modernen Welt. Beiträge zur öffentlichen Relevanz der Theologie, Güters­ loh 1997. Rawls, John: A Theory of Justice (1971), überarbeitete Fassung 1975; deutsch: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975. Smit, Dirk J.: Essays in Public Theology, Stellenbosch 2007. Stackhouse, Max L.: Public Theology and Political Economy. Christian Stewardship in Modern Society, Grand Rapids 1987. Storrar, William F./Morton, Andrew R. (Hg.): Public Theology for the 21st Century. Essays in Honour of Duncan Forrester, London u. a. 2004. Thiemann, Ronald F.: Constructing a Public Theology. The Church in a Pluralistic Culture, Louisville 1991. Vögele, Wolfgang: Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland, Gütersloh 1994. von Sinner, Rudolf: Churches and Democracy in Brazil. Towards a Public Theology Focused on Citizenship, Eugene 2012.

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Organisationstheorie (Un-)Steuerbarkeit und (Un-)Verfüg­ barkeit – kirchliches Leitungs­handeln aus organisationstheoretischer Per­spektive Christoph Gerken, Eva Hillebold und Christopher Scholtz Î Was kann ich mit meinem Leitungshandeln bewirken? Î Unterscheidet sich das Leitungshandeln in der Kirche von dem in anderen Organisationen? Î Welche Formen von Leitung passen zu mir und meiner Organisation?

1 Ein Blick aus der Berater:innenperspektive Leiten als Wechselbad von Macht und Ohnmacht

Aus unserer Arbeit mit kirchlichen Leitungskräften1 hat sich das Bild entwickelt, dass Leitungsarbeit oft einer Abfolge von Wechselbädern gleicht. Auf der einen Seite: klingende Titel, liturgisches Handeln als eigene Form der kreativen und ästhetischen Leitung, ein (in der Regel) hohes gesellschaftliches Ansehen u. v. m. Auf der anderen Seite: schier endlose Gremiensitzungen, von deren Entscheidung die Leitenden abhängig sind, zumindest in finanzieller Hinsicht oft lächerlich kleine Entscheidungsspielräume, beständige Signale aus dem einen Teil des Systems, Leitung müsse doch endlich mal eingreifen, während der andere Teil klare Botschaften sendet, Leitung solle bitte schön ihre Finger draußen lassen. Die aktuell beginnenden tiefgreifenden Veränderungsprozesse in den Kirchen wirken in dieser Situation wie das viel zitierte Brennglas. Für die an Mitgliedern, Finanzen, Personal und Relevanz kleiner werdende Organisation Kirche wächst der Druck von außen und von innen. Wechselseitige Schuldzuweisungen und Leistungsforderungen führen zu Abwehr und Gegendruck. Stimmen werden laut: Der anstehende tiefgreifende Wandel brauche klare Führung – Leitung müsse mehr Macht erhalten und diese auch einsetzen –, selbst wenn in den meisten Systemen klar sei, dass dies ein Bruch mit vielen Traditionslinien wäre und vermutlich vom System selbst geblockt würde. Damit steigt der Druck auf Leitungskräfte: Manche bangen um ihre Gesundheit, und einige merken erst beim Wechsel in den Ruhestand, in welcher Weise sie sich und ihren Körper im Amt ge- und zum Teil auch überfordert haben. Ein wichtiges Instrument, um 1 Bei dem Thema »Führen und Leiten« gibt es keine eindeutigen oder einheitlichen Begriffsdefinitionen. Für uns ist Leitung der Oberbegriff, der sich in drei Logiken aufteilen lässt: Führen – Orientieren – Steuern. Dabei ist Führung als der stärker direktive Modus in einem tendenziell hierarchischen Kontext zu verstehen, während Steuerung stärker kollegial-koordinierend und auf (teil-)autonome Subsysteme ausgerichtet ist. Unscharf wird unsere Begrifflichkeit bei der (Un-)Steuerbarkeit: Diese müsste nach der eben skizzierten Systematik an den meisten Stellen durch (Un-)Leitbarkeit ersetzt werden, wovon wir aber zugunsten des Sprachflusses Abstand nehmen.

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Organisationstheorie

diesen herausfordernden Konstellationen gut begegnen zu können, ist die Reflexion der eigenen Rolle und des Kontextes des eigenen Handelns. Dazu bietet dieses Buch etliche Einladungen – und wir wollen aus einer organisationstheoretischen Perspektive mit dem Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen kirchlicher Leitungsämter eine weitere Reflexionsperspektive anbieten.

Fragen zur Reflexion

a. b. c. d. e. f. g.

Wie agiere ich im Wechsel aus Macht- und Ohnmachtserfahrungen? Was liegt an mir als Person? Was liegt in den Strukturen? Welche Möglichkeiten hat ein kirchliches Leitungsamt? Worauf konzentriere ich mich beim Leiten? Wie werde ich als Leitung sichtbar und wirksam? Wie viel muss ich leiten, wie viel lasse ich los?

2 Die Unsteuerbarkeit komplexer Systeme Leitung muss steuern – aber kann Leitung steuern? Auf den ersten Blick ist es einleuchtend: Leitung ist Leitung, weil sie leiten soll, leiten kann und leiten will. Das ist der Anspruch, den die meisten Mitarbeiter:innen an ihre Leitung haben und den auch viele Leitungskräfte an sich selbst haben. Gerade am Beginn einer Leitungstätigkeit kann das wie eine Verheißung sein: endlich entscheiden, endlich leiten! Aber schon bald stellen sich Zweifel ein: Das System reagiert nicht so, wie sich das die leitende Person vorgestellt hat. Sei es, dass Leitungsentscheidungen offen oder verdeckt hinterfragt werden, sei es, dass die Entscheidungen zwar angenommen werden, aber sich trotzdem nicht der erhoffte Effekt einstellt. Wer in einer solchen Situation ungebrochen am Anspruch festhält, eine Organisation führend steuern zu können, dem:der bleibt nur die Abwertung: Entweder stimmt mit der Organisation als Ganzes oder mit einzelnen Personen in ihr etwas nicht oder die Leitungsperson macht etwas falsch. Einen Ausweg aus dieser Abwertungsfalle liefert die Systemtheorie mit ihrer Unterscheidung von trivialen Maschinen und komplexen Systemen. Eine triviale Maschine ist nach dem Kybernetiker Heinz von Foerster ein System, bei dem der gleiche Input immer den gleichen Output liefert (vgl. z. B. Foerster 1988, S. 21 ff.). Unter solchen Bedingungen ist Steuerung in ihrer klassischen Form möglich und sinnvoll. Bildlich können wir uns das so vorstellen, dass die Leitung vor einer Reihe von Knöpfen sitzt, und bei jedem ist klar, welche Aktion ein Knopfdruck auslöst und welches Ergebnis dabei herauskommt. Dies ist ein starkes und in zweifacher Hinsicht positiv besetztes Bild: Es verspricht den Abschied vom Chaos. Zugleich spricht es die Sehnsucht nach einer überschaubaren und berechenbaren (Arbeits-)Welt an. Gleichwohl: Die Wirklichkeit in Organisationen sieht anders aus – nicht nur in der Kirche. Einerseits können wir sagen: Zum Glück! Eine lebendige Organisation, eine vom Geist durchwehte Kirche, kann keine Maschine sein, und die Menschen in ihr keine

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Zahnräder. Andererseits müssen wir feststellen: Das macht Leitung so viel schwieriger! Drückt die Leitungsperson – um im Bild zu bleiben – einen Knopf, weiß sie nie genau, welches Ergebnis dabei herauskommt: vielleicht das Beabsichtigte, vielleicht aber auch das Gegenteil. Der Knopf könnte klemmen, die Aktion könnte erst mit Verzögerung ausgeführt werden oder vielleicht bekommt man beim Drücken des Knopfes einen Stromschlag. In einem klassischen Verständnis2 von Leitung wäre man von einer solchen Unvorhersehbarkeit irritiert und würde sagen, dass etwas defekt sei, und man würde sich auf die Suche nach einer:einem Schuldigen machen. Ein komplexitätsadäquates Leitungsverständnis hingegen sieht diese Situation als logische Konsequenz des Fehlens von trivialen Wirkmechanismen an. Statt nach einem Fehler oder gar einer:einem Schuldigen zu suchen, versucht es, Wege zu finden, wie Leitende mit der Unvorhersehbarkeit konstruktiv umgehen können. Denn ein nachklassisches Leitungsverständnis betrachtet eine Organisation nicht als triviale Maschine, sondern als ein komplexes System. In einem solchen sind Kausalmechanik und Linearität zwar anzutreffen, stellen aber die Ausnahme dar. Der Normalfall ist vielmehr, dass der gleiche Input zu höchst unterschiedlichen Outputs führen kann. Die Reaktionsweise des Systems ist nicht vorhersehbar, unter anderem weil niemand die in dem System wirkenden Mechanismen und Kräfte vollständig beschreiben kann. Leitung weiß also nicht, was ihre Entscheidungen bewirken werden – mit einer (theoretischen) Ausnahme: Die gezielte und absichtsvolle Zerstörung führt auch bei komplexen Systemen zu vorhersehbaren Ergebnissen. Aber da Leitung in der Regel nicht auf Destruktion zielt, lässt sich sagen: Komplexe Systeme sind in ihren Reaktionsweisen nicht vorhersehbar und müssen daher für ein klassisches Leitungsverständnis als unsteuerbar gelten. Für Menschen, die neu in kirchliche Leitungsämter kommen, gibt es neben der Erfahrung, dass kirchliche Systeme oft anders reagieren als gedacht, eine weitere Herausforderung: der Anspruch, als Leitung den Überblick zu haben und zu wissen, was in den verschiedenen Teilsystemen die aktuellen Themen und Probleme sind. Auch dieser Anspruch wird – wie der nach einer linear verstandenen Führung – oft an Leitungskräfte herangetragen. Viele Menschen haben das Gefühl, nicht zu verstehen, was in der Gesamtorganisation los ist: Wenn sie es nicht verstehen, muss es doch wenigstens die Leitung tun. In einem klassischen Leitungsverständnis ist dieser Anspruch unabwendbar. Von der Spitze der Pyramide muss es möglich sein, alles zu überblicken. Wenn nicht, ist wieder etwas falsch: im System oder bei der Leitungsperson. Dahinter steht das Idealbild vom Panoptikum, einem Gebäude, das so gebaut ist, dass es einen Punkt gibt, von dem aus alle anderen Punkte des Hauses einsehbar sind. Etliche Gefängnisbauten des 19. Jahrhunderts orientierten sich an diesem Ideal und lieferten ein steingewordenes Abbild umfassender Kontrollfantasien. 2 Hier und im Folgenden sprechen wir von einem klassischen Leitungsverständnis, das gegen ein nachklassisches abgegrenzt wird und die wir beide jeweils pointiert darstellen. Dadurch ergeben sich kontrastierende Folien, die die Sichtbarkeit zentraler Punkte unserer Argumentation verbessern. Es handelt sich also um eine bewusste und heuristisch motivierte Vereinfachung und nicht um den Bezug auf Leitungskonzepte, die in der Literatur vertreten werden. Ebenso wenig wollen wir damit behaupten, dass dieses Verständnis prägend für die Mehrzahl der heutigen Leitungskräfte sei – im Gegenteil verabschieden sich viele Unternehmen gerade von der Hierarchie als der dominanten Logik und setzen auf mehr Augenhöhe und Selbstorganisation. Dennoch finden sich die Elemente des von uns skizzierten klassischen Leitungsverständnisses bis heute in etlichen organisationalen Logiken, im Alltagsbewusstsein mancher Leitungsperson und nicht zuletzt in den Zuschreibungen vieler Mitarbeiter:innen an ihre Leitungsebene.

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Organisationstheorie

Panopticon-Skizze von Jeremy Bentham (1791)

Im Kontrast dazu möchten wir hier (mit einem Augenzwinkern) das postpanoptische Zeitalter ausrufen. In diesem ist klar: In einer komplexen Organisation gibt es keinen Punkt, von dem aus alles zu überblicken ist, stets ist immer nur ein Ausschnitt erkennbar. Das gilt allen Versuchungen der Digitaltechnik zum Trotz. Natürlich ist es heute möglich, unvorstellbare Mengen an Daten und Informationen zu erheben. Aber es wäre eine hermeneutische Naivität zu denken, dass diese von allein sprechen. Daten werden erst durch Auswertungen und Interpretationen nutz- und verstehbar – und diese Aufarbeitung und Verdichtung produziert notwendigerweise wieder neue blinde Flecken. Die Einsicht in die postpanoptische Realität des Leitungshandelns kann zum einen eine entlastende Wirkung haben: Da ich niemals einen vollständigen Überblick über meine Organisation erhalten kann, ist es in Ordnung, dass ich das Aktenstudium, die Gespräche, die Besuche oder das Lesen von Statistiken auch dann beende, wenn ich den Eindruck habe, noch nicht alles in den Blick genommen zu haben. Zum anderen liefert die postpanoptische Einsicht ein weiteres Argument für die Unsteuerbarkeit von heutigen Organisationen: Wenn ich schon nicht weiß, was genau in dem System los ist, wie soll ich dann so eingreifen können, dass am Ende genau das gewünschte Ergebnis dabei herauskommt?

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Christoph Gerken, Eva Hillebold und Christopher Scholtz

3 Die spezifische Unsteuerbarkeit in der Kirche Auch wenn so mancher kirchlichen Leitungsperson beim Wort »Unsteuerbarkeit« ein tiefer Seufzer voll Zustimmung und eigener Leidenserfahrung entfahren mag: Unsteuerbarkeit ist keine kirchliche Exklusivität. Sie ist in allen Systemen mit Komplexität anzutreffen – und das sind in modernen Gesellschaften viele. Sobald soziale Interaktion in einer Organisation nicht nur randständig ist, haben wir es mit komplexen Dynamiken zu tun, denn der Mensch ist als soziales Wesen in seinem Verhalten das Gegenteil der trivialen Maschine. Auch auf Unternehmungen, in denen die soziale Interaktion nicht im Vordergrund steht, passt das Bild der trivialen Maschine nur noch selten, nicht zuletzt, weil sich die industrielle Produktion stetig von der seriellen Fertigung großer gleichförmiger Stückzahlen hin zur Individualisierung des Einzelprodukts entwickelt. In einer immer unüberschaubarer werdenden Welt sind Organisationen nur überlebensfähig, wenn sie selbst komplex sind, denn nur so können sie schnell genug auf die immer öfter wechselnden Marktbedingungen reagieren. Die Fähigkeit zur schnellen Anpassung entsteht nicht mit langfristiger Planung und zentraler Führung. Sie beruht auf vielen Freiheiten und setzt letztlich darauf, dass die Organisation immer wieder etwas hervorbringt, das Leitung nicht vorhersehen und damit auch nicht anordnen kann. Daher setzt sich auch in vielen Wirtschaftskontexten die Einsicht durch, dass klassische Leitung, die immer schon wissen muss, was es zu erreichen gilt, oft weniger produktiv ist als eine Leitung, die Komplexität anerkennt und fördert. Kirche befindet sich also in bester Gesellschaft, wenn sie sich mit Komplexität und der daraus resultierenden partiellen Unsteuerbarkeit konfrontiert sieht. Und doch gibt es einige Merkmale kirchlicher Struktur und Kultur, die zu einer spezifischen Ausprägung der Unsteuerbarkeit führen. Diese im Blick zu haben, kann für das eigene Leitungshandeln hilfreich sein. Beginnen wir mit der dezentralen Struktur in den evangelischen Kirchen. Das Kirchenamt, der Oberkirchenrat, die Superintendentur sind oft weit weg – zumindest in der Wahrnehmung der Akteur:innen vor Ort. Sich nach den Anweisungen einer zentralen Einheit zu richten, scheint den protestantischen Genen zu widersprechen. Und auch, ihr zu viel Einblick in die Gegebenheiten vor Ort zu gewähren. All das nährt sich nicht zuletzt von dem strukturell verankerten und für die Haltung vieler Gemeindeglieder prägenden Selbstbestimmungsrecht der Gemeinden und erschwert jeder Zentrale die beiden für die klassische Leitung notwendigen Optionen des Durchblicks und des Durchgriffs. Hinzu kommt: Das Ehrenamt entzieht sich klassischer Leitung. Es beruht weitgehend auf intrinsischer Motivation. Die Führung über extrinsische Motivationsfaktoren,

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Organisationstheorie

allen voran über Bezahlung, fällt weg. Und Ehrenamtliche stehen bekanntlich weder in einem Dienst- noch in einem Arbeitsverhältnis, sodass kirchlicher Leitung Steuerungsmöglichkeiten fehlen, die in anderen Kontexten selbstverständlich sind. Außerdem sorgt die sowohl bei Haupt- als auch bei Ehrenamtlichen stark ausgeprägte Beziehungsorientierung dafür, dass sie die formal gegebenen Leitungsinstrumente oft nicht nutzen, weil ihre Anwendung als beziehungsstörend wahrgenommen wird. Der Schrumpfungsprozess, der die kirchliche Realität seit vielen Jahren bestimmt, nimmt der Leitung weitgehend die Möglichkeit, in Aufbau- oder Neugründungsphasen Einfluss zu nehmen. Wenn Strukturen neu geschaffen werden, gibt es noch wenig Eigensteuerung im System, sodass klassische Leitung viel prägen kann – wohingegen die in der Kirche heute viel häufigeren Abbau- und Schließungsvorgänge für Leitung wenig Gestaltungsspielraum eröffnen. Neben diesen strukturellen Faktoren gibt es auch inhaltlich-theologische Beförderer der Unsteuerbarkeit. Das Priestertum aller Getauften relativiert die Bedeutung der Hierarchie. Sie kann für sich weder einen grundlegend anderen Status noch eine größere Nähe zu Gott beanspruchen. Manche:r fragt sich deshalb: Wieso sollte ich dann den Steuerungsimpulsen aus der Hierarchie folgen? Theologisch ebenso relevant ist die Tatsache, dass die Kirche auf unverfügbare Ziele verpflichtet ist. Glaube lässt sich nicht herstellen. Zwar ist alles kirchliche Handeln darauf ausgerichtet, Glauben zu befördern, aber es muss stets unklar bleiben, welche Maßnahme zum Ziel geführt hat – wenn die Erreichung des Ziels überhaupt von außen wahrnehmbar ist. Diese Unverfügbarkeit des Ziels hebelt jede linear-kausale Handlungslogik aus. Sätze wie »Wir müssen nur dies oder jenes machen, damit die Menschen zum Glauben kommen« verbieten sich – sie negieren die Freiheit Gottes, Glauben zu schenken oder eben nicht. Kirche kann zwar gute Rahmenbedingungen für den Glauben schaffen, aber die Orientierung an diesen entwickelt niemals die Eindeutigkeit, die klassisches Leitungshandeln für sich beansprucht. Die Unverfügbarkeit der Ziele untergräbt die Legitimation eines klassischen Leitungshandelns. Die Ziele kirchlichen Handelns sind also unverfügbar, weil sie sich nur über Gottes Handeln realisieren. Interessanterweise ist dies aber nicht die einzige Unverfügbarkeit, von der die Bibel berichtet. So wie Gottes Handeln für die Menschen unverfügbar ist, ist auch das menschliche Handeln für Gott nach vielen biblischen Geschichten unverfügbar. Gott hat sich selbst der Logik der Unverfügbarkeit unterworfen, er hat sein Verhältnis zu den Menschen so geordnet, dass diese für ihn weitgehend unsteuerbar sind, oder er zumindest darauf verzichtet, Menschen direkt zu steuern. Besonders deutlich wird dies an Gottes Ärger oder Gottes Traurigkeit über das Verhalten von Menschen. Bibeltexte zum Thema Jesaja 5,1–30

Das Weinberglied als Parabel dafür, dass das menschliche Handeln für Gott unsteuerbar ist: Trotz aller Pflege und Mühe will der Weinberg keine guten Früchte hervorbringen. Genesis7

Die Sintflut als Bild dafür, dass in komplexen Systemen nur im Modus der Destruktion das Ergebnis einer Handlung eindeutig gesteuert werden kann. Richter 9,15

Die Jotamfabel als Gegenbild zu der an vielen Stellen in der Bibel zu findenden positiven Konnotation eines absolutistischen Herrschaftsbildes: Der Dornbusch will sich in maßloser Selbstüberschätzung zum König salben lassen und bietet den Bäumen an, sich in seinem Schatten zu bergen.

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Markus 4,16–17

Das Gleichnis vom Sämann als Bild für die Unverfügbarkeit kirchlicher Ziele. Es ist möglich, Glaubenssamen auszustreuen, aber wir können nicht sicherstellen, dass sie aufgehen.

4 Nichtsteuern ist keine Option Wäre das bisher Geschriebene alles, was aus organisationstheoretischer Hinsicht zum Leitungshandeln in der Kirche zu sagen wäre, dann müsste dieser Beitrag überschrieben sein mit »Plädoyer für die Abschaffung kirchlicher Leitungsämter« oder »Zehn gute Gründe für kirchlich Leitende, umgehend depressiv zu werden«. Zum Glück kommt hier noch etwas, denn wir sind bis jetzt nur den halben Weg gegangen. Dieser war geprägt von einer Desillusionierung, es war der Abschied vom klassischen Leiten mit seinen Fantasien von instrumentellen Zugriffen und von Machbarkeit – scheinbar verheißungsvolle Fantasien, die sich in der Praxis höchst selten realisieren lassen und von der Erfahrung abgelöst werden, dass das eigene Handeln oft nicht die gewünschten Ergebnisse bringt. Wenn wir nun den Weg weitergehen, stoßen wir auf ein Paradox: Wer von klassischer Steuerbarkeit ausgeht, erlebt viel Unsteuerbarkeit – wer aber die weitgehende Wirkungslosigkeit klassischer Steuerung akzeptiert und mit einem komplexitätsadäquaten Bild von Leitung agiert, erlebt eine wundersame Steuerbarkeit inmitten der Unsteuerbarkeit. So fremd dieses Paradox im Kontext klassischer Leitungspraxis erscheinen mag, so vertraut ist es in geistlichen Kontexten. Wer meint, zu beten sei wie die Bedienung einer Wunschmaschine, wird in der Regel schnell enttäuscht. Wenn das Bestellte nicht geliefert wird, legt sich der Schluss nahe, dass das Beten sinn- und wirkungslos sei. Wer sich aber davon verabschiedet, dass Beten so etwas wie Bestellen sei, und mit anderer Haltung und mit anderen Formen zu beten beginnt, wird die Erfahrung machen, dass Beten höchst wirkungsvoll sein kann – nur nicht in der anfangs gedachten Form der Erwartbarkeit. Es gilt auch, die besondere Position von Leitung ernst zu nehmen: Auch wenn sie in postpanoptischen Zeiten nicht alles überblicken kann, so sieht und weiß Leitung in der Regel mehr als jede:r andere Akteur:in im System – allein schon deshalb, weil sie mit sehr vielen unterschiedlichen Menschen Kontakt hat. Ebenso gilt: Auch wenn sie mit ihrem Handeln nur selten direkt die gewünschten Ergebnisse erreichen kann, so hat Leitung doch mehr Einfluss im System als jede:r andere Akteur:in. Diese doppelt privilegierte Position von Leitung macht deutlich: Nicht zu steuern, ist keine Option. Es gilt also, neue Wege der Steuerung zu finden. Dabei geht es nicht um einen Wettbewerb, welches Steuerungsmodell grundsätzlich das bessere sei, sondern um ein nüchternes Abwägen, welches Modell in bestimmten Handlungskontexten mehr gewünschte Wirkung erzielt. Klassische Leitung ist nicht grundsätzlich falsch – in manchen Kontexten ist sie sogar eindeutig überlegen. Wenn mein Haus brennt, möchte ich nicht, dass die Feuerwehr bei ihrem Eintreffen erst einmal ein Meeting abhält, um zu klären, wer den Schlauch ausrollt, wer den Leiterwagen bedient und wer das Wasser aufdreht. Hier – und auch in manchem kirchlichen Leitungssetting – ist eine klassische Leitung ohne Frage von Vorteil. In vielen anderen kirchlichen Leitungskontexten aber stößt klassische Leitung zum Teil sehr schmerzhaft an ihre Grenzen. Im Extremfall führt sie zu einer doppelten Ohnmachtserfahrung. Einerseits wenn Leitung merkt, dass ihre Anweisungen nicht die gewünschte Wirkung hervorbringen. Dann ist die Versuchung groß, dies an den Menschen auszulassen, »die nicht die richtigen sind und es noch immer nicht kapiert haben«. Mit einem solchen Lamento über die falschen Leute vertieft Leitung ihre eigene Ohnmacht.

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Klassische Führungsfantasien laden andererseits die Menschen, die geleitet werden sollen, zur Infantilisierung ein, weil Leitung sich und ihr Leitungsverständnis in der Entscheidung für andere und über andere zu realisieren versucht. »Dienst nach Vorschrift« ist insofern nicht einmal eine negative Begleiterscheinung, sondern eigentlich das von der Leitung intendierte Verhalten, nur sollte es möglichst der »begeisterte Dienst nach Vorschrift« sein. Da sich dieses Paradox in der Praxis eher selten realisieren lässt, merken die Menschen, dass sie in den Augen von Leitung selten gut genug sind und machen so ebenfalls Ohnmachtserfahrungen. Im Extremfall ist das klassische Leitungsmodell also weder gut für die in Ohnmachtserfahrungen vereinten Leitenden und Geleiteten noch für die kirchliche Organisation, in der die notwendigen Veränderungen ausbleiben.

5 Grundzüge einer komplexitätsadäquaten Steuerung Aus dem Bisherigen ist deutlich geworden: Die Trennung in klassische und nachklassische Leitung zielt darauf, eine neue Wahrnehmungs- und Reflexionsebene für das Leitungshandeln zu eröffnen. Sie behauptet weder, dass sich die beiden Leitungsmodi in der Praxis immer klar trennen ließen, noch, dass ausgearbeitete Leitungstheorien der Simplizität des hier skizzierten klassischen Ansatzes aufgesessen wären – und erst recht nicht, dass es in der Kirche das Nachklassische bis jetzt noch nicht gegeben habe. Im Gegenteil sind gerade in den evangelischen Kirchen einige Prinzipien der nachklassischen Leitung schon lange zu finden. Diese wurden nicht zuletzt dadurch befördert, dass Kirche auf ein nicht verfügbares Ziel ausgerichtet ist, was den Glauben an zentral verordnete lineare Lösungswege erheblich erschwert. Bei allen fließenden Übergängen ist allerdings klar, dass nachklassische Leitung sich dadurch auszeichnet, dass sie sich von der Logik der trivialen Maschine verabschiedet und sich darauf einlässt, dass sie in ein komplexes Gefüge hineinwirkt. Nachklassische Leitung ist daher primär eine systemische, eine komplexitätsadäquate Leitung. Dies kann man nur als eine Chiffre, nicht als ein feststehendes Programm verstehen. Wirksames Handeln in Komplexität kann nicht aus linearen Anleitungen erwachsen. Es muss für jeden Kontext und für jede Situation spezifisch aufgesetzt werden. Und alle, die sich mit dieser Art der Leitung beschäftigen, befinden sich auf einer Lernreise, denn dieses neue Feld der Leitungstheorie entwickelt sich beständig weiter und es gibt viel zu entdecken. Ohne dass es jemals eine Erfolgsgarantie geben kann, lassen sich drei Ebenen der systemischen Steuerung benennen, die Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit haben, dass Handeln in komplexen Systemen bei aller Unsteuerbarkeit und aller Unverfügbarkeit doch die intendierten Wirkungen hervorbringt: Theorie, Haltung, Werkzeuge. Einen ersten Einblick in die Theorie sollte mit dem Vorangegangen geliefert werden. Die beiden folgenden Abschnitte richten den Blick auf die Haltung und die Werkzeuge. Zuvor aber geht es um einige zentrale Aspekte, die die drei Ebenen Theorie, Haltung und Werkzeuge überspannen. Unschärfe ist Stärke: Die klassische Leitung ist auf Präzision fixiert. Je klarer ihre Ansagen und je genauer diese vom System umgesetzt werden, desto besser das Ergebnis. In komplexen Systemen hingegen kann vorab oft nicht klar sein, was das beste Ergebnis sein wird. Daher braucht Leitung hier Unschärfe – nicht im Sinne der Nachlässigkeit, sondern im Sinne der Eröffnung von Möglichkeiten. Man weiß in komplexen Systemen nie, was Leitungsimpulse genau bewirken: im Vorhinein nicht und oft auch nicht im Nachhinein. Eine solche Klarheit kann es nur bei linearen Wirklogiken geben. Bei den Impulsen der nachklassischen Leitung bleibt immer ein Schleier des Nichtwis-

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sens, der uns wieder auf die Analogie des Betens verweist, für das es auch keine Erfolgsgarantie geben kann. Statt um Wissen geht es um Vertrauen und Hoffnung. Ein solches Handeln in der Unschärfe ist nicht weniger anspruchsvoll als ein klassisches Managementhandeln – im Gegenteil. Wahrnehmung ist Gestaltung: Leitungshandeln beginnt mit der Frage, wie die Wahrnehmung des Systems organisiert wird. Das gilt zwar auch schon für die klassische Leitung, bekommt aber unter den Bedingungen der Komplexität eine größere Bedeutung. Wir haben schon gesehen, dass komplexe Systeme grundsätzlich unübersichtlich sind und es in ihnen keinen panoptischen Punkt gibt. Daher braucht es größere Anstrengungen, um sicherzustellen, dass die vermutlich wichtigsten Perspektiven bei einer Analyse vertreten sind – und es braucht die Akzeptanz, dass bei aller Tiefe der Analyse immer blinde Flecken bleiben müssen. Daher ist nicht nur die Frage, wer mit am Tisch sitzt, entscheidend, sondern auch die Frage, worauf die Aufmerksamkeit gerichtet wird. Am Beispiel der Ressourcenorientierung zeigt sich: Wenn Leitung regelmäßig Gelegenheiten zur Selbstbeobachtung des Systems schafft und dafür sorgt, dass es einen systematischen Austausch über die Stärken und Potenziale im System gibt, dann ändert sich nicht nur die Selbstwahrnehmung des Systems, sondern nach einem systemisch-konstruktivistischen Verständnis wird das System durch die veränderte Selbstkonstruktion auch zu einem anderen. Reflexion ist Handeln: Auch dies gilt nicht nur für die nachklassische Leitung, ist dort aber noch bedeutsamer. Die besondere Aufgabe liegt darin, immer wieder die eigenen Bilder der Organisation und der eigenen Rolle zu reflektieren. Die meisten von uns sind in klassisch-hierarchischen Systemen aufgewachsen und beruflich sozialisiert worden. In diese Muttersprache fallen wir unwillkürlich immer wieder zurück und handeln dann, als würden wir eine triviale Maschine bedienen. Wenn es gelingt, über Reflexion das Bewusstsein für die uns konstitutiv umgebende Komplexität zu erhöhen, ist dies bereits ein Akt des Handelns. Hinzu kommt die ständige Verführung für kirchlich Leitende, das Unverfügbare in Verfügbares runterbrechen zu wollen. Die Reflexion der Unverfügbarkeit ist daher ein theologisches Qualitätskriterium für Leitungshandeln – wann und wie sie ihren Platz findet und welchen Einfluss sie auf die Handlungsebene nimmt. Limitationen sind Potenziale: Die komplexitätsadäquate Ausrichtung von Leitung erscheint auf den ersten Blick als Spielverderberin – Abschied vom Panoptikum, Ende der Omnipotenzfantasien von Leitung etc. Doch ist dies auch der Einstieg in neue Potenziale. Wenn Leitung akzeptiert, was sie alles nicht bewirken kann, dann geht der Blick automatisch zu den Akteur:innen im System, die mehr Einflussmöglichkeiten haben, und es stellt sich die Frage, was diese benötigen, um wirksam zu werden. Hier wird schnell klar: Es braucht die Verantwortungsübernahme von möglichst vielen Menschen im System – ohne direkte Anweisung, ohne Kontrolle, mit einem hohen Vertrauensvorschuss. Zwar zielen fast alle heutigen Managementmodelle darauf, dass die Mitarbeiter:innen Verantwortung übernehmen, doch sollte dies im Modus einer mehr oder weniger gönnerhaften Überlassung geschehen, stellen sich die gewünschten Ergebnisse in der Regel nicht ein. Die Einsicht in die konstitutiv begrenzten Steuerungsmöglichkeiten der Leitung ermöglicht eine tiefergehende Verantwortungsübergabe. Über das Uneigentliche zum Eigentlichen: Beim gottesdienstlichen Handeln ist es klar: Die Liturgie ist nicht das Eigentliche. Sie ist das Uneigentliche, dass den Raum eröffnet, in dem sich das Eigentliche ereignen kann – und doch unverfügbar bleibt. Eine Liturgie, die sich als das Uneigentliche versteht, hat keineswegs die Achtung vor der eigenen Funktion verloren. Im Gegenteil: Würde sie sich als das Eigentliche verstehen, würde sie zum Wirken des Geistes in Konkurrenz treten, die Wahrnehmung der Präsenz Gottes erschweren und damit ihre eigentliche Aufgabe verfehlen. Ebenso kann Leitung

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in komplexen Systemen nur Uneigentliches herstellen: Das Schaffen von Räumen, in denen sich das Eigentliche ereignen kann. Sie kann und muss Räume der Wahrnehmung, der Kommunikation, der Reflexion und der Entscheidungsfindung eröffnen. Räume, in denen Mitarbeiter:innen das Ziel und vor allem den Sinn der eigenen Tätigkeit erleben. In denen all das ausgetauscht und organisiert wird, was für eine echte eigenverantwortliche Wirksamkeit benötigt wird. Da solche Räume nur selten vorhanden und für viele Menschen unvertraute Orte sind, ist das Schaffen und Kuratieren solcher Räume eine hochanspruchsvolle Aufgabe für Leitung. Von der Pyramide zum Netzwerk: Komplexitätsadäquates Leiten braucht ein neues Bild von der Organisation. Die Leitung ist nicht mehr wie im klassischen Verständnis die Pyramidenspitze, sondern ein Netzwerkknoten. Leitung wird nicht dadurch wirksam, dass sie ganz oben ist und von dort Anweisungen geben kann, sondern dadurch, dass sie der dickste Netzwerkknoten ist: der Punkt im Netzwerk, von dem aus es die meisten Verbindungen zu anderen zentralen Punkten des Netzwerks gibt. Die Wirksamkeit der Leitung hängt davon ab, zu wie vielen unterschiedlichen Teilen des Systems sie anschlussfähig ist, wie ausgeprägt ihre Fähigkeit ist, zwischen Systemteilen mit unterschiedlicher Logik zu vermitteln, wie weit es ihr gelingt, relevante Informationen in den Austausch zu bringen und ob es ihr gelingt, Prozesse zu initiieren, in denen verschiedene Akteur:innen ihre Logiken abgleichen und eine gemeinsame (Sinn-)Perspektive entwickeln können. Leitung ist mehr als Management: Mit dem bisher Dargestellten wurde klar, dass unser systemisch orientierter organisationstheoretischer Blick das kirchliche Leitungshandeln nicht auf Managementaufgaben reduziert. Etliche Aspekte lassen sich mit theologisch geprägten Begriffen gut umschreiben, etwa die Demut angesichts der Unsteuerbarkeit und der Unverfügbarkeit, das nötige Vertrauen in die Verantwortungsübernahme der Mitarbeiter:innen oder die Bereitschaft, im gemeinsamen Wirken einen Sinn zu sehen, der die faktische Ebene transzendiert. Das wiederum hat Auswirkungen auf die Rolle der Leitungsperson. Es ist nicht nur wichtig, was diese denkt, sagt und operativ tut. Mindestens genauso wirksam ist das, was sie ist, was sie fühlt und ausstrahlt. Mit all dem wird das in Abschnitt 4 skizzierte Paradox erneut sichtbar: In komplexen Systemen nehmen uns die klassischen Fantasien von Steuerbarkeit genau den Einfluss, den sie uns zu geben versprechen. Die Akzeptanz der Nichtsteuerbarkeit dieser Systeme hingegen eröffnet uns neue Einflussmöglichkeiten. Mit ihnen werden wir handlungsfähig

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und können etwas für die Wirksamkeit des Gesamtsystems tun: Rahmenbedingungen schaffen, die Menschen stärken, statt sie zu bevormunden und zur Infantilisierung einzuladen. Damit löst sich sowohl die Ohnmachtserfahrung von Leitungskräften als auch von Mitarbeiter:innen auf und es kommt zu einem produktiven Miteinander.

h. Wie kann ich mich als Leitung erleben, wenn ich nicht wie erwartet leiten kann? i. Bin ich noch Leitung, wenn ich Prozesse nicht kontrollieren kann? j. Wie geht es mir, wenn keiner sieht, dass ich leite, bzw. wenn das, was ich tue, von vielen nicht als Leitungshandeln wahrgenommen wird? k. Was löst der Gedanke bei mir aus, dass ich das Eigentliche nicht machen kann? l. Bin ich bereit, einen Großteil meiner Leitung als Schattenarbeit zu verrichten? m. Wo werde ich dann als Leitung noch sichtbar?

6 Konsequenzen für die Haltung von Leitenden Was bedeutet das bisher Ausgeführte für die Haltung von Leitungspersonen? Wie alle Menschen in der Kirche leben auch Leitende aus der Fülle und Gnade Gottes: geliebt und gerechtfertigt und angenommen. Wie kann nun das, was wir predigen, Teil unserer eigenen Haltung werden? Eine erste Perspektivverschiebung wäre, eine ressourcenorientierte Haltung einzunehmen und diese auch zu operationalisieren: Meine Mitarbeiter:innen sind bereits mit dem ausgestattet, was sie in die Lage versetzt, eine gute Lösung zu finden, wenn ich ihnen den entsprechenden Rahmen und die notwendige Frage eröffne. Es ist alles da, wir müssen nur danach fragen. Das bezieht sich nicht zuerst auf Fachlichkeit, sondern auf die Fähigkeit, lösungsorientiert zu interagieren. Hierzu gehört dann gegebenenfalls auch das Hinzuziehen zusätzlicher Fachlichkeit. Das Vertrauen und Zutrauen in die Kompetenz der anderen und das Fokussieren, Ermutigen und Fördern dieser Kompetenzen ermöglicht Wachstum auf beiden Seiten.

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Abschied vom Auflösen des Widersprüchlichen: Leitungshandeln, das sich von der klassischen linearen Steuerung (größtenteils) verabschiedet, hat die Aufgabe, die Widersprüche unterschiedlicher Anforderungen, Logiken, Interessen und Schlussfolgerungen zuzulassen und auszuhalten, statt sie, wie im klassischen Paradigma, als Fehler des Systems oder Versagen der Leitung zu verstehen. Eine zweite Perspektivverschiebung kann das eröffnen: Die Widersprüche zeigen verschiedene Logiken einer Organisation und können ihr Motor in Transformationsprozessen sein. Diese verschiedenen Logiken gerade nicht anzugleichen oder auszublenden, weil sie vermeintliche Störfaktoren sind, sondern sie als Triebfedern der Entwicklung zu verstehen, ist Ausdruck systemischer Leitung, wie wir sie beschreiben. Erst gemeinsam bilden die verschiedenen Logiken das Ganze ab. Ein Angleichen oder Ausblenden von Widersprüchen würde zwar Linearität erzeugen, aber zugleich gegenseitiges Wachstum hindern. Diese andere Haltung der Leitenden zeigt sich in der Wertschätzung und Achtsamkeit der verschiedenen Logiken und in der Demut, die Widersprüche nicht auflösen zu können bzw. zu wollen. Ihre Akzeptanz eröffnet die Möglichkeit der Entwicklung. Abschied vom Durchsetzen von Machtansprüchen: Wie leitet Leitung, wenn die Symbole und Praktiken der Macht(-durchsetzung) fehlen? Autorität entsteht durch den Leitungsstatus, das der Leitung per se entgegengebrachte Vertrauen und die Zuschreibung von Kompetenz. Autorität entsteht dadurch, dass Menschen einer Entscheidung folgen, weil die Leitung die Verantwortung dafür trägt. Autorität ist also Zuschreibung der Mitarbeiter:innen und nicht Habitus der Leitungspersonen. Im Status der Leitung ist diese Zuschreibung immanent vorhanden und braucht keine Machtdemonstration. Es ist zu beobachten, dass viele Leitende, die einem systemischen Leitungsverständnis folgen, klassische Statussymbole aufgeben, sich z. B. nicht mehr durch ein Vorzimmer abschotten, sondern per E-Mail und Telefon direkt ansprechbar sind, aus dem Einzel- ins Großraumbüro ziehen oder sogar auf den statusorientierten Dienstwagen verzichten. Abschied von der:dem Kapitän:in: Das klassische mechanistische Bild von Leitung sagt, Leitung hat den panoptischen Überblick über die zu erfüllenden Teilaufgaben und wie sie zusammenwirken müssen. Ihre Aufgabe besteht darin, diese Teilaufgaben wie Zahnräder im System zu positionieren, sodass sie ihre Aufgaben erfüllen und damit ein reibungsloses Zusammenspiel aller Teilfunktionen gewährleisten, wie eine gut geölte Maschine. »Wir brauchen die richtige Kompetenz an der richtigen Stelle.« Probleme treten nach diesem Verständnis dann auf, wenn einzelne Zahnräder nicht in der Lage oder willens sind, ihre Aufgabe auftragsgemäß zu erfüllen. In diesem Bild ist die Leitung der:die Kapitän:in oder der:die General:in, der:die die Anweisungen von der Pyramidenspitze aus gibt, ohne dessen:deren Anweisungen nichts geschieht. Von der Qualität seiner:ihrer Anweisungen und dem Grad ihrer Befolgung hängt alles ab. Anders im systemischen Leitungsverständnis: Hier besteht die Leitungsfunktion darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen sich die verschiedenen Teilsysteme arbeitsteilig komplexitätsadäquat organisieren können. Das heißt, Leitung ordnet nicht an, wie die Arbeitsteilung zu vollziehen ist, sondern sie ermöglicht, dass sie sich selbst organisiert. Hinwendung zur individuellen Füllung: Wenn Leitung von der Pyramidenspitze zum dicksten Netzwerkknoten wird, verschiebt sich die Bedeutung verschiedener Aspekte des Leitungshandelns. Weniger wichtig ist, was Leitung anweisend tut und welche Macht sie hat. Wichtiger wird, was sie ist und wie sie in ihrem Handeln agiert.

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n. o. p. q. r. s.

Was an diesem Leitungsverständnis finde ich spannend? Was sehe ich kritisch? Was würde dieser Haltungswechsel für mich bedeuten? Was brauche ich dazu (noch)? Mit wem kann ich das reflektieren? Wo leite ich bereits in dieser Haltung? Wie kam es dazu und welche Effekte hat es? Wie würde mein Leitungshandeln mit einem Mehr dieser Haltung aussehen? Wo kann ich das ausprobieren?

7 Konsequenzen für das praktische Leitungshandeln (Werkzeuge) Woher kommt die Unsteuerbarkeit komplexer Systeme? Warum lassen sich Menschen, Gruppen, Organisationen, Gesellschaften, Biotope nicht zielgerichtet lenken? Sie reagieren auf einen äußeren Leitungsimpuls aufgrund ihrer inneren Verarbeitungsmuster und vielfachen Vernetzungen. Ihre Reaktionen sind nicht determiniert durch den Leitungsimpuls oder die Intention des Impulsgebers. Mit seinen Verarbeitungsmustern steuert sich das System auf eigenwillige Art und Weise selbst. In der Kommunikationstheorie wird oft mit Verweis auf Paul Watzlawick postuliert, dass die:der Empfänger:in über die Bedeutung der Botschaft entscheidet. Im Sinne klassischer Leitung müssten wir davon ausgehen, dass der:die Sender:in über die Bedeutung der Botschaft entscheidet und der:die Empfänger:in sie in diesem Sinn aufnehmen, verarbeiten und umsetzen soll. Unsere Erfahrung und die systemische Steuerungstheorie sagen uns jedoch, dass im Sinne Watzlawicks nicht der:die Sender:in, sondern die:der Empfänger:in darüber entscheidet, wie eine Botschaft ankommt, wie sie gedeutet wird und welche Reaktion darauf erfolgt. Menschen, Gruppen und Organisationen reagieren eigenwillig und nicht, wie der:die Sender:in einer Botschaft es will. Wenn nun komplexe Systeme aufgrund ihrer inneren Selbststeuerung eigenwillig agieren und sich nicht gezielt von außen steuern lassen, so ist es das Ziel von Leitung, diese Selbststeuerung zu unterstützen und sie mit anderen Akteur:innen zu koppeln, statt

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Organisationstheorie

auf sie einzureden und vergeblich zu versuchen, auf Fremdsteuerung umzuschalten. Wie das aussehen kann, wollen wir mit unserer Interpretation und Konkretion von Kontextsteuerung vorstellen. In der Kontextsteuerung widmet Leitung ihre Aufmerksamkeit weniger der Erfüllung einer Aufgabe als vielmehr den Bedingungen, unter denen die Aufgabe erfüllt werden kann. Damit öffnet sie dem Unverfügbaren, dem, was sie nicht machen kann, den Raum. Dafür kann es kein fertiges Werkzeugset mit Gebrauchsanleitung und Erfolgsgarantie geben. Es gibt Werkzeuge, mit denen in verschiedenen Kontexten gute Erfahrungen gemacht wurden. Sie sind aber nicht mechanisch einsetzbar, sondern brauchen eine theoretische Grundierung, eine passende Haltung und vor allem Ergebnisoffenheit. Wer solche neuen Leitungsformen einführen will, begibt sich gemeinsam mit anderen auf einen Lernweg, auf dem es zu experimentieren und gut funktionierende Elemente zu teilen gilt. Das wollen wir hier am Beispiel der Leitung von Gremien tun. Kirchlich Leitende verbringen viel Zeit in Gremien. Diese werden in ihrer inneren Dynamik oft als unsteuerbar erlebt und erlitten. Dies wiederum wird als eine Ursache für die Unsteuerbarkeit des Gesamtsystems wahrgenommen. Dabei wird ihnen vorgeworfen, Unschärfe zu produzieren. Aus der Perspektive der nachklassischen Leitung fällt aber ein anderes Licht auf die Gremien, was nicht nur dazu führt, dass ihre Unschärfe positiver zu bewerten ist (vgl. 5). Gremien können auch als für das postpanoptische Zeitalter angemessen verstanden werden, denn sie bringen systematisch die Perspektiven unterschiedlicher Akteur:innen zusammen und sind Räume für den Abgleich und die Reflexion unterschiedlicher Wahrnehmungen und Logiken. Damit können sie als Einstieg in den Abschied von der Pyramidenlogik und Hinwendung zur Netzwerkstruktur gedeutet werden. Nach unserem Verständnis ist es von zentraler Bedeutung, dass Leitung für geklärte Rahmenbedingungen sorgt, innerhalb derer ein Gremium agieren und seine Entscheidungen treffen kann. Der Situation entsprechend sind einige Rahmenbedingungen vorgegeben, einige kann die Leitung einführen, andere müssen im Gremium geklärt oder ausgehandelt werden. Das Gremium behält in der Regel seinen Einfluss auf die veränderbaren Rahmenbedingungen. Rahmenbedingungen grenzen einerseits die zur Disposition stehenden Parameter so weit ein, dass ein Gestaltungsraum entsteht und die Aufgabe zu bewältigen ist. Sie fokussieren also und grenzen ab. Andererseits stellen sie Verbindungen her und ordnen den jeweiligen Schritt in die größeren Zusammenhänge ein. Bildlich kann man sich das als einen Rahmen aus verschiedenen Elementen vorstellen, in dessen Inneren ein Raum entsteht. Leitung steuert mithilfe dieses Rahmens und vertraut das, was im Inneren geschieht, dem gemeinsamen Prozess an. Was dort geschieht, bleibt für sie unverfügbar. Die Antwort auf die Frage »Wieviel muss ich leiten?« heißt dann: »Am Rahmen viel, in seinem Inneren wenig.« Welche Rahmenelemente können das sein? Zur Einordnung in den größeren Zusammenhang gehören Sinn und Zweck des jeweiligen Unterfangens. Wozu machen wir das eigentlich? Was bezwecken wir damit? Welchen Sinn macht das, was wir hier im Gremium tun? Wozu tragen wir etwas bei? Leitung kann diese Einordnung selbst vornehmen – sie kann sie dem topic owner übertragen, der das Thema eines Tagesordnungspunktes treibt und verantwortet – oder sie kann diese Einordnung zum Thema für das Gremium selbst machen. Jedenfalls schuldet die Leitung ihre eigene Deutung von Sinn und Zweck dem Gremium. Natürlich sind auch andere Deutungen möglich, sinnvoll und erwünscht. Die häufig angestrebte Einigung auf die eine gemeinsame Sichtweise kann man getrost aufgeben. Wir bewegen uns ja nicht in der klassischen Leitung, die Eindeutigkeit herzustellen versucht, sondern gehen davon aus, dass sich die Kraft einer Initiative aus unterschiedlichen Quellen speist, mit verschiedenen Motiven verbunden sein kann und mit Widersprüchen lebt.

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Zur Einordnung in den größeren Zusammenhang gehört als weiteres Rahmenelement eine Wegbeschreibung des Themas und das dazugehörige Narrativ. Auf ein Thema bezogen lauten die Fragen dann: Welche Geschichte erzählen wir uns über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Woher kommen wir und wohin gehen wir? Wie ist es dazu gekommen? Was hat uns hierhergeführt? Was ist unser Schritt jetzt, hier und heute im Gremium? Wie soll es danach weitergehen und was brauchen wir von hier dafür? Wo wollen wir hin? Was soll das Gremium jetzt dazu beitragen? Die Beschreibung dieses Weges macht es möglich, sich auf das heutige Wegstück zu konzentrieren. Natürlich kann auch dieser Weg anders erzählt werden und natürlich lassen sich andere Schritte sinnvoll erklären. Manchmal kann es hilfreich sein, sich aufzuteilen und zwei verschiedene Wegstücke parallel zu gehen. Hier kann es das Leiten durch Mitgehen oder durch Gehenlassen geben, statt den vorgeschlagenen Weg durchsetzen zu müssen. Wichtig ist die gemeinsame Orientierung: Wo sind wir unterwegs? Wo sind wir jetzt gelandet? Wie geht es weiter? Was sind die nächsten Schritte? Wo führt uns das hin? Ziele sind ein hilfreicher Teil der Wegbeschreibung. Auch sie können sich verändern, müssen angepasst werden und dürfen mehrdeutig sein. Der Schwur auf das eine, eindeutige Ziel, dem alle verpflichtet sind, sodass nun alle an einem Strang ziehen, ist eine Fiktion der kausalen, widerspruchsfreien Logik. Das Ringen um dieses von allen anerkannte Ziel kostet viel Kraft und muss letztlich oft offen bleiben. Denn der Dialektik folgend bringt jede These ihre Antithese hervor. Die Synthese hat als solche keinen Bestand, sondern ist sogleich die neue These, aus der wieder eine Antithese entsteht, usw. Also gilt es, auch in der Zielfindung mit Widersprüchen und Mehrdeutigkeiten zu leben und zu arbeiten. Entscheidend sind Entscheidungen. Sie sind wichtige Festlegungen, die nicht ohne Widerspruch bleiben. Diese Entscheidungen zu treffen und in ihrer Widersprüchlichkeit zu verantworten, ist die wichtigste Funktion eines Gremiums. Sie herbeizuführen ist die wichtigste Funktion der Leitung. Widerspruchsfreie Ableitungen sind keine Entscheidungen und brauchen auch keine Entscheidung. Entschieden werden muss das nicht Ableitbare. Allerdings braucht es zur Entstehung und Vermittlung der Entscheidung die Plausibilisierung, die wiederum im Gewand einer kausalen Ableitung daherkommt, um Akzeptanz zu finden. Ein weiteres Rahmenelement ist die Einordnung in die Entscheidungsstruktur. Welche Akteur:innen und Entscheider:innen tragen was zur Entwicklung dieses Themas bei? Bei wem liegen welche Kompetenzen und welche liegen hier im Gremium? Was haben wir, was haben andere zu verantworten? In welcher Funktion ist das Gremium an diesem Thema beteiligt? Ist es Entscheider, Gestalter, wird es gehört, wird es informiert? Die Klärung dieser Fragen hilft, die eigene Aufgabe anzunehmen, sich darauf zu konzentrieren und die Aufgaben anderer anderen zu überlassen. Mit der Frage nach dem Sinn verbindet sich die Eingrenzung der Zielgruppe: Für wen machen wir das eigentlich? Dieses Rahmenelement erfüllt zwei Funktionen: Sie grenzt die Zielgruppe ein, konkretisiert sie und macht sie damit vorstell- und ansprechbar. Eine Sendung in alle Welt oder ein In-die-Gesellschaft-Hineinwirken taugen nicht zum Rahmenelement, weil solch eine diffuse Anforderung eher lähmt und überfordert, als Gestaltungskräfte freizusetzen. Leitungsaufgabe ist es, für Konkretion zu sorgen. Für wen machen wir das? Wie heißt er:sie? Wie ist er:sie vernetzt? Wo sind sie unterwegs? Wie und wo begegnen wir ihnen und kommen wir mit ihm:ihr in Kontakt? Die andere Funktion dieses Rahmenelements ist das Herstellen einer inneren Verbindung zur Zielgruppe. Keine Arbeit an z. B. der Priorisierung von Arbeitsfeldern, der Aufstellung von Haushaltsplänen oder der Entwicklung kooperativer Konzepte, ohne gewahr zu sein, für wen dies letztlich geschieht. Die Definition der Aufgabe und ihr Zerlegen in Schritte, die erfolgreich bewältigt werden können, ist das wichtigste Rahmenelement. Es gehört trotzdem in den Zusam-

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Organisationstheorie

menhang mit den anderen Rahmenelementen und sollte nicht alleinstehen. Idealerweise handelt es sich um eine echte Aufgabe mit offenem, unverfügbarem Ergebnis, also etwas, woran gemeinsam gebrütet und getüftelt werden muss und deren Ergebnis man vorher nicht weiß. Die Beteiligten bringen ihre Perspektive, ihre Motive, ihre Interessen und ihren Gestaltungswillen in die kollaborative Konstruktion ein und kommen so in die Identifikation und Verantwortung für das, was entsteht. Das macht den Unterschied zur Reaktion auf eine oder mehrere vorbereitete Lösungen aus, an denen es vor allem Schwachstellen zu identifizieren gilt. So gefundene Lösungen werden denen zugeschrieben und gehören denen, die sie eingebracht haben, auch wenn das Gremium qua Entscheidung die Verantwortung dafür übernimmt. Natürlich kann kein Gremium alle Lösungen, für die es sich entscheidet, selbst erarbeiten. Es braucht unbedingt die Vorarbeit und oft auch fertige Lösungsvorschläge, um das nötige Pensum bewältigen zu können. Dennoch benötigt ein Gremium, um seiner Verantwortung gerecht werden zu können und sich immer wieder neu zu konstituieren und weiterzuentwickeln, das gemeinsame Arbeiten, Konstruieren, Tüfteln und Ringen. Zur Definition der Aufgabe und der zu gehenden Schritte gehört auch das Formulieren einer Ergebnisform oder Ergebnisart. Was soll am Ende des Tagesordnungspunktes als Ergebnis erreicht sein, in welcher Form sollten wir es weitergeben und an wen? Was soll dann mit dem Ergebnis passieren? Wobei freilich offenbleiben muss, ob es zu diesem Ergebnis kommt. Schließlich sind die zur Verfügung stehenden Ressourcen ein wichtiges Rahmenelement. Welcher Zeithorizont steht zur Verfügung? Bis wann muss was fertig sein? Wer und was wird zur Bewältigung der Aufgabe gebraucht und steht zur Verfügung? Viele Aufgaben werden zu den bestehenden schlicht on top genommen, und die Beteiligten sehen zu, wie sie damit zurechtkommen. Ohne die nötigen personellen Ressourcen und Budgets sind viele Projekte von vorneherein zum Austrocknen verurteilt. Hier ist es Leitungsaufgabe, Entscheidungen herbeizuführen, woran realistischerweise gearbeitet werden kann, und was gelassen werden muss. Die Leitungsaufgabe besteht also darin, Komplexität im Vorfeld so zu reduzieren, dass Entwicklung möglich ist. Die Rahmenelemente sind Grundlage für einen gemeinsamen Arbeitsschritt. Deshalb sollte man sie, auch wenn vieles als bekannt vorauszusetzen ist, zu Beginn eines Arbeitsschrittes noch einmal ausdrücklich benennen. Sie geben dem Gremium die nötige Sicherheit, um seine Aufgabe annehmen und angehen zu können. Für Leitung bedeutet dies einen Wandel in der Fokussierung, Haltung und Rolle. Vor allem bedeutet es eine veränderte Vorbereitung der Gremiensitzung.

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Was schon mal funktioniert hat In der Beratung haben wir gute Erfahrungen damit gemacht, das Kommunikationssetting zu variieren, indem wir mit Fragen und Runden arbeiten. Die Arbeit mit Fragen ist der Versuch, mit dem hier beschriebenen Leitungsparadigma zu »leiten«. Im Folgenden einige Beispiele: Ankommen in einer neuen Gruppe: – Wer bin ich und was beschäftigt mich im Moment besonders? – In welcher Funktion bin ich heute hier und worin sehe ich meine Aufgabe? Ankommen in einer vertrauten Gruppe: – Woher komme ich und was beschäftigt mich im Moment besonders? – Was liebe ich an meinem Beruf? – Was hat mich seit unserem letzten Treffen zu unserem Thema inspiriert? – Was wäre für unser Treffen heute ein gutes Ergebnis? – Was könnte dazu beitragen, dass ich noch besser hier sein kann? Frage nach der Intention: – Wofür bin ich hier? – Was liegt mir für unser Treffen heute am Herzen? – Wenn ich an unser gemeinsames Thema denke … Was suche ich hier? Anknüpfen an positives Erleben: Wo in meiner Arbeit erlebe ich Fülle? Um ein gemeinsames Nachdenken zu eröffnen: Bezogen auf … Worüber möchtest du nachdenken und was sind deine Gedanken? Um eine gemeinsame Verständigung (auch als Zwischenschritt denkbar) herbeizuführen: Welchen gemeinsamen Gedanken möchten wir festhalten? Tagesabschluss: Aus diesem Tag … was nehme ich für mich mit …, vertraue ich Gott an … der Schwester, dem Bruder neben mir …, der Gemeinschaft im Kreis? Fragen für ein Blitzlicht zwischendurch: – Was ist jetzt mein frischester Gedanke? – Wenn ich mir das so ansehe …, geht mir gerade durch den Kopf …? – Was ist mir aufgeleuchtet? – Was zeichnet sich jetzt für mich deutlich ab? – Was brauche ich noch, um gut weiterarbeiten zu können? Fragen zum Abschluss: – Was liegt mir noch auf der Seele/brennt mir unter den Nägeln? – Was nehme ich mit? Und was ich sonst noch sagen will … In der Regel arbeiten wir so, dass sich an eine Frage eine Runde anschließt. Jede:r kommt einmal zu Wort. Ziel ist es, nicht für andere zu denken, sondern einen Raum zu eröffnen, in dem sich das Denken entfalten kann. Unsere Beobachtungen dabei sind: – Gesprächsform und Frage eröffnen den geschützten Raum, in dem Verbindungen entstehen zu sich selbst, zum Thema, zum Sinn und untereinander. – Die Verbindung des:der Einzelnen zu sich selbst und das Vertrauen in sich selbst sind wesentliche Elemente der Gruppenarbeit. Dies geschieht durch respektvolles, aufmerksames, weitgehend urteilsfreies Zuhören. – Die Veränderung der Kommunikation lässt sich nicht durch Apelle oder die Einführung von neuen Regeln in eingespielten Settings herbeiführen. Erst die Einführung eines veränderten Kommunikationssettings eröffnet diese Möglichkeit.

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Organisationstheorie

8 Staunen, was geht Bei unserer Suche nach und der Arbeit an einem erneuerten Leitungsverständnis in der Kirche kommen wir immer wieder ins Staunen. Wir staunen, wie sehr dieses Thema in der Luft liegt. An ganz unterschiedlichen Orten, in ganz unterschiedlichen Kontexten folgen Menschen einer ähnlichen Spur, und zwar sowohl in der Kirche als auch in Unternehmen, Kulturinstitutionen und anderen Organisationen. Unabhängig voneinander wird Ähnliches wahrgenommen und reflektiert und dann Ähnliches entwickelt. Der Gedanke an einen Paradigmenwechsel drängt sich auf. Wir treffen immer wieder auf Systeme und Leitungspersonen, die sich allein auf den Weg gemacht haben und intuitiv neue Formen der Steuerung entwickeln. Wir staunen, was in der gemeinsamen Arbeit mit Klient:innensystemen passiert. Wir lernen von den Leitenden und ihren Organisationen und wir lernen zusammen mit den Leitenden und ihrem System. Es ist oft für alle Beteiligten bemerkenswert, wie sehr im Beratungsprozess das Zusammenbringen der internen und der externen Perspektive und das Zusammenspiel unterschiedlicher, aber klar aufeinander bezogener Rollen ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Dabei entstehen neue Leitungskonzepte und -methoden, die einerseits von der an immer mehr Orten zu findenden Grundhaltung geprägt ist und die andererseits genau auf die jeweilige Situation vor Ort und die dort arbeitenden und lebenden Menschen abgestimmt ist. Eine faszinierende Mischung von übergeordnetem Spirit und individueller Aneignung. Wir staunen, wie sehr das Unverfügbare (fast) in Reichweite rückt, ohne aufzuhören, unverfügbar zu sein. Je mehr Menschen die Unsteuerbarkeit und die Unverfügbarkeit anerkennen, desto größer werden die Gestaltungsräume. Mit einer passenden theoretischen Grundierung, einer angemessenen Haltung und einem gut reflektierten Methodenset erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass das gewünschte Ergebnis trotz seiner grundsätzlichen Unverfügbarkeit eintritt. Je stärker die Haltung verinnerlicht, je größer der Erfahrungsschatz mit solchen wundersamen Veränderungen und je tiefer das Vertrauen in den Prozess verankert ist, desto größer das Staunen. Doch wenn Berater:innen oder Leitungspersonen der Hybris verfallen und meinen, nun über das Unverfügbare verfügen zu können, erhalten sie umgehend Anlass und Gelegenheit, sich neu in Demut einzuüben und neu zu buchstabieren, dass man das Unverfügbare einladen, ihm den Boden bereiten und sich auf die Kooperation mit ihm ausrichten kann, es sich aber weder erzwingen noch manipulieren lässt. Wir staunen, welche positiven Effekte ein neues Leitungsparadigma haben kann. Wenn man die Eigenverantwortung der Menschen und die Eigendynamik eines Systems respektiert und nicht fürchtet, wenn man Ergebnisoffenheit erträgt und neugierig fragend bleibt, ist es erstaunlich, was alles geht, was sich alles entwickelt. Oft ganz anders, als wir es uns vorher denken, und nicht selten mit großer Effektivität. Das Schönste aber ist: Es beseelt die Menschen, mit denen wir arbeiten, und schenkt uns Staunen und Dankbarkeit. 7 Tipps zur Erfolgsvermeidung bei der Einführung einer komplexitäts­ adäquaten Leitung 1. Erwarten Sie von sich selbst, dass Sie die neue Haltung und die neuen Werkzeuge von Anfang an perfekt beherrschen. 2. Erklären Sie die neuen Prinzipien und Abläufe Ihren Mitarbeiter:innen nur einmal – das muss reichen, um die jahrzehntealten Muster aufzulösen. 3. Gehen Sie davon aus, dass niemand alte Leitungserwartungen auf Sie projizieren wird. Niemand wird von Ihnen ein Machtwort erwarten und niemand wird Ihnen den neuen Leitungsstil als Schwäche auslegen.

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4. Wenn Menschen angesichts nachklassischer Leitungsimpulse unsicher werden oder Wider­ s­prüche im System sichtbar werden: Benennen Sie das als Fehler, noch besser: als persönliches Versagen Einzelner. 5. Verkünden Sie, dass Sie ab sofort nachklassisch leiten werden. Nutzen Sie alle einschlägigen Begriffe oft und bedeutungsschwer, aber ändern Sie an Ihrem Verhalten nichts. Vermeiden Sie jede Kongruenz zwischen dem, was sie sagen, und dem, was sie tun. Damit irritieren Sie das System maximal, es entsteht Chaos und binnen kürzester Zeit können Sie sagen »Es funktioniert leider nicht, wir gehen zur klassischen Führung zurück!« 6. Alternativ können Sie auch möglichst gegensätzliche Methoden und Prinzipien mixen: mal top down, dann selbstorganisiert. Auch so entsteht Chaos. 7. Oder Sie schwenken vollständig auf nachklassische Steuerung um – egal, wie gut es läuft, irgendwann kommt eine Krise und mit ihr der Ruf, dass Leitung eine Ansage macht. Folgen Sie diesem Ruf, und schon ist das Vertrauen in die Wirksamkeit der nachklassischen Steuerung zerstört.

Autor:innen Eva Hillebold, Pfarrerin, Systemische Organisations- und Gemeindeberaterin (gboe), Mitglied im Berater:innennetzwerk des Instituts für Personalberatung, Organisationsentwicklung und Supervision der EKHN (IPOS), ist seit 2014 Persönliche Referentin des Bischofs:der Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) und seit 2021 Geschäftsführerin des Reformprozesses 2026 in der EKKW. Christoph Gerken, Pfarrer, ist Systemischer Organisations- und Gemeindeberater (gboe) und Mitglied im Berater:innennetzwerk des IPOS. Dr. Christopher Scholtz, Pfarrer, Systemischer Organisations- und Gemeindeberater (gboe), Systemischer Coach (SG), leitet seit 2016 das IPOS.

Literatur von Foerster, Heinz: Abbau und Aufbau, in: Fritz B. Simon (Hg.), Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktion in der Systemischen Therapie, Berlin/Heidelberg 1988, S. 19–33.

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Personalberatung Tilman Kingreen Î Was sollte ich als Führungskraft über Personalberatung wissen? Î Wie arbeitet Personalberatung? Î Welchen Beitrag leistet Personalberatung für die Kirchenentwicklung?

1 Wozu braucht es Personalberatung? »Soll ich bleiben oder gehen?« Mit dieser Frage begründen Ratsuchende u. a. ihr Interesse, sich an die kirchliche Personalberatung zu wenden. Personalberatungsstellen sind inzwischen im Raum der evangelischen Landeskirchen als feste Einrichtung etabliert, z. B. in der Bayerischen, der Hannoverschen Landeskirche und der Nordkirche, in den Kirchen von Hessen und Nassau, Pfalz sowie Westfalen. Hier können Beratungen in allen Wechselfällen des beruflichen Lebens wahrgenommen werden. Neben dem Interesse nach einem gelingenden Stellenwechsel bilden Fragen der beruflichen Standortbestimmung, der Karriereplanung und der Wunsch nach einer Potenzialanalyse Anlässe für Beratung. Es sind zudem grundsätzliche Fragen, die in die Personalberatung führen: Ob ein Wechsel über Landeskirchengrenzen hinaus sinnvoll erscheint? Oder der Wechsel in die Diakonie? Oder auch in einen anderen Beruf? Je differenzierter und vielfältiger die beruflich zu bewältigenden Aufgaben werden, umso größer werden das Interesse und die Notwendigkeit, das individuelle Gabenprofil der Mitarbeiter:innen und das organisatorische Anforderungsprofil der Stelle passgenau miteinander zu verknüpfen, um ein erfolgreiches Arbeiten realisieren zu können. Personalberatung wirkt zudem präventiv, indem sie einer Erschöpfung im Beruf und der Zunahme mangelnder Zufriedenheit im Beruf frühzeitig entgegenwirkt. In der Personalberatung geht es um die Frage der richtigen Passung. Personalberatung arbeitet an der Personenseite dieses Passungsprozesses zwischen dem Gabenprofil der Person und den Erwartungen des Systems. Dies fördert Selbstsicherheit, Auskunftsfähigkeit über eigene Kompetenzen sowie eine realistische Selbsteinschätzung. »Passe ich zu meiner gegenwärtigen Aufgabe oder muss ich mich weiterentwickeln?« Und: »Gäbe es neue Aufgabenprofile, in die ich mich hineinentwickeln kann? Welche wären das?« Mit der allgemeinen Vielfalt der Aufgaben steigen die Last, vor allem auch die Chancen, kreative Passungsverhältnisse neu herzustellen. Um dies als eine zentrale Leitungsaufgabe wahrnehmen zu können, sind Führungskräfte darauf angewiesen, dass ihr Personal über einen realistischen und in Veränderungsprozessen vor allem mutigen Blick auf ihr eigenes Kompetenzprofil verfügt. Personalberatung trägt dazu bei, diesen Passungsprozess zu dynamisieren, indem sie Mitarbeiter:innen dafür sensibilisiert, ihr bereits realisiertes Kompetenzprofil an die Ressource ihrer schlummernden Potenziale neu anzuschließen und dadurch bislang noch nicht gehobene Schätze für das berufliche Handeln zu nutzen und anschlussfähig zu machen. Führungskräfte können mit Mitarbeiter:innen Passungsgespräche führen und dabei die durch die Personalberatung gestärkte Selbstauskunftsfähigkeit der Mitarbeiter:innen für diesen Passungsdialog fruchtbar machen.

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Leitfaden: Stimmt die Passung zwischen Aufgabe und Profil? 1. Erstellen Sie im Gespräch mit den Mitarbeiter:innen eine Liste der Aufgaben, die wahrgenommen werden. Seien Sie gründlich. Erfassen Sie alles. 2. Heben Sie in einem nächsten Schritt hervor: Welche Aufgaben sind im vergangenen Jahr neu hinzugekommen? Welche Kompetenzen erfordern diese neuen Aufgaben? Sind es fachliche oder methodische Kompetenzen? Sind es Kompetenzen der Selbstorganisation? 3. Wenn Passungen nicht stimmen, führen Sie folgende Unterscheidung ein: a. Liegt es an der Aufgabenmenge? b. Liegt es an der Aufgabenkomplexität? 4. Ist die Aufgabenmenge zu hoch? Folgende Fragen führen weiter: a. »Was haben Sie bisher versucht um die Aufgabenmenge zu reduzieren?« Würdigen Sie jeden bisherigen Versuch. b. »Was passiert, wenn Sie Aufgaben nicht mehr wahrnehmen?« Lassen Sie drei konkrete Aufgaben auswählen und plastisch imaginieren, wie die Situation sich darstellen würde. Wer leidet darunter? Wer gewinnt dadurch? c. Fragen Sie weiter: »Was tun Sie, um die Aufgabenmenge zu reduzieren?« Achten Sie darauf, dass nicht nur delegiert, sondern eine tatsächliche Reduktion der Aufgaben stattfindet. 5. Ist die Aufgabenkomplexität zu hoch? Folgende Fragen erweisen sich als hilfreich: a. Was genau ist komplexer geworden? Ist es die geforderte Fachlichkeit? Oder bedarf es einer neuen Fachlichkeit? Sind es methodische Herausforderungen? Ist es die Zunahme an Akteur:innen, die einzubeziehen sind? b. Lassen Sie ein Mindmap erstellen. Die Komplexität wird bildhaft und damit weniger komplex. c. Fokussieren Sie auf solche Bereiche, in denen die größte Entwicklungsbereitschaft besteht und arbeiten Sie gemeinsam dem:der Mitarbeiter:in heraus: »Was brauchen Sie, um diese neue Aufgabe zu meistern?« d. Benennen Sie mindestens einen Bereich, in dem Entlastung organisiert wird. Wie sieht diese Entlastung genau aus. Was können Sie als Führungskraft ermöglichen?

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Personalberatung

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2 Zum Ethos von Personalberatung Als ein modernes Phänomen verdankt sich Perso­ nalberatung dem humanistischen Ethos eines ästhetisch offenen Welt- und Menschenverständnisses. Es ist von dem Vertrauen in die kreative Entwicklungsoffenheit und vielleicht auch in die Entwicklungssehnsucht des Menschen geprägt. So brachte vor 400 Jahren Artemisia Gentileschi (1593–1654) das Bild eines offenen Anfangs auf die Leinwand, indem sie sich in einem Selbstporträt zeichnete, das aber nur jenen Anfangsaugenblick festhält, als sie vor die noch leere Leinwand tritt und beginnt, ihr Selbstbildnis zu zeichnen. Es wirkt wie ein Rollenspiel, das sich aller Eindeutigkeit und Festlegung entzieht. Die Künstlerin ist beides zugleich: Sie erschafft ein Bild von sich selbst und sie bleibt zugleich diesem Moment des Schaffens verhaftet. Es wird niemals dazu kommen, dass es das eine Bild von ihr geben wird. Sie wird immer eine Selbstbildschaffende bleiben. Aus der betrachtenden Perspektive wissen wir deshalb nicht, welches Bild entstehen wird. Die Leinwand als Gegenstand und Symbol der Selbstbildrealisierung bleibt offen für Projektionen. Für solche Artemisia Gentileschi: Selbstporträt als die Allegorie der der Künstlerin wie für solche der Betrachter:in- Malerei (La Pittura), um 1638/39 nen. Ein Repertoire an Rollen, Stilmitteln, Farben liegt bereit, das dem Selbstbild seine Gestalt geben wird. Festlegungen entstehen lediglich durch den Grund, auf den die Farben aufgetragen werden. Er ist ebenso vorgegeben wie auch die Leinwandgröße als Ausdruck des Rahmens, in den hinein das Bild entworfen wird. Faszinierend bleibt die Unbedingtheit des Augenblicks. Im Hier und Jetzt realisiert sich auf der Bilderbühne des Lebens ein immer wieder neuer Entwurf. Er lebt von der Wirksamkeitsbereitschaft der Künstlerin und der Unverfügbarkeit des kreativen Augenblicks. Mit diesem »Selbstbildnis als Allegorie der Malerei (La Pittura)« dieser großen Künstlerin des Barocks kann auch die oft im Verborgenen bleibende Arbeit der Personalberatung als eine Kunst der Teilhabe am kreativen Augenblick der beruflichen Selbstbildarbeit dargestellt werden. Sie steht im Dienst des Menschen, der im Rahmen seiner Organisation auf dem ihm bereiteten Grund berufliche Wirksamkeitsbilder von sich selbst entwirft, sie wieder verwirft, erneut überprüft und schließlich in die Realisierung bringt, indem er sie mit dem Kontext verknüpft und in einer konkreten Rolle umsetzt. Mitarbeiter:innen suchen dazu Erprobungsräume, um ein neues Bild davon entwickeln zu können, was sie beruflich realisieren und worin sie wirksam sein wollen. Die Arbeit in der Personalberatung bleibt eine unverfügbare Momentaufnahme, die dazu beiträgt, neue berufliche Potenzialbilder in feste Konturen und klare Rollen zu überführen. So kann sich das zur Wirksamkeit verdichten, was sonst nicht sichtbar und realisiert wird. Personalberatung schafft einen Raum, in dem Motivation und Volition sich als Energieträgerinnen für eine sinnstiftende berufliche Wirksamkeit entfalten können. Personalberatung trägt dazu bei, das ins Bild zu bringen, was in der Person schon angelegt ist, aber bislang noch nicht das Licht seiner Realisierung gesehen hat. Es ist eine Arbeit an der Schnittstelle von der Potenzialerhebung zur Kompetenzent-

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wicklung. Im Gegensatz zu sichtbar werdenden Kompetenzen einer Person handelt es sich bei den Potenzialen eines Menschen um Möglichkeiten, die noch der Umsetzung in reales Handeln bedürfen. Mit dieser Perspektive auf die Potenziale der Mitarbeiter:innen arbeitet Personalberatung in einer Haltung, die aus der Zukunft heraus denkt und sich von dem bestimmen lässt, was noch nicht ist, aber werden kann. Mit dieser radikalen Zukunftsorientiertheit trägt sie dazu bei, dass das Personal auch von seinen Führungskräften als das eigentliche innovative Potenzial jeder Organisation neu wahrgenommen werden kann. Nur das Personal, in dessen Entwicklung durch Personalberatung dauerhaft investiert wird, kann zum Träger agiler Arbeitsformen werden, da es über jene Schlüsselerfahrung verfügt, die erst den Zugang zu dem eröffnet, was für dauerhafte Veränderungsprozesse elementar notwendig ist: das Vertrauen in die Konsistenz heute noch nicht erkennbarer Entwicklungschancen und Potenziale. Fragen zur Reflexion a. Wie sind in meinem Zuständigkeitsbereich die Grund- und Rahmenbedingungen für die Mitarbeiter:innen, die ihr berufliches Profil einbringen? b. Was würde passieren, wenn ich in bestimmten Situationen den Funktionsrahmen erweitere oder verkleinere? c. An welcher Stelle kann ich an den Grundbedingungen etwas verändern? d. Stimmen in meiner Organisation Stil und Haltung, in denen berufliche Profile sprachfähig gemacht werden? Was müsste sich vielleicht ändern? e. Welche Gesprächsformate kann ich nutzen, um für meine Mitarbeiter:innen in der Haltung eines:einer coachenden Leiters:Leiterin Raum für Entwicklungen zu ermöglichen?

Zur Arbeit in der Personalberatung Personalberatung hat einen eigenen Habitus ausgebildet. In einer doppelten Loyalität zur Person und zum System hält sie einen Raum als ein Handlungsfeld mit Eigensinn offen und sichert ihn. Sichern bedeutet, dass die Verschwiegenheit von Beratung garantiert ist und die Erwartung an die Beitragsleistung der Person für das System im Fokus der Beratung steht. Damit unterscheidet sich Personalberatung von Beratungen, die priorisiert die Person unterstützen, wie etwa viele Formate im Bereich von Supervision, die organisatorisch oft in Seelsorgefeldern verortet sind oder die priorisiert die Organisation sehen, wie etwa die Organisationsberatung. Personalberatung schaut von der Person ins System und fördert den Beitrag der Person für das System. Ganz konkret arbeitet Personalberatung mit einer begrenzten Zahl von Beratungssitzungen und nutzt dabei vor allem das Format des Einzel- sowie des Mehrpersonencoachings. Methodisch verbindet sie dabei einen eher intuitiv-schöpferischen Zugang mit Methoden, die das konkrete Umsetzen fördern. In der Regel sind die Beratungsangebote für die Mitarbeiter:innen kostenfrei oder mit einer geringen Gebühr verbunden. Das Angebot der Kirchen ist ausschließlich auf die hauptamtlich in Kirche und Diakonie Beschäftigten beschränkt. Das Angebot ist damit nicht Teil beruflicher Ausbildung. Es setzt ein Dienstverhältnis voraus. Strukturell arbeitet Personalberatung nach den für Beratungen allgemein geltenden Bedingungen. Dazu gehört absolute Vertraulichkeit. Personalberatung ist deshalb eigenständig organisiert und der Stabsstelle für Personal in den Landeskirchen zu- aber nicht eingeordnet. Diese Balance von Selbstständigkeit und Zuordnung hat zur Folge, dass Beratungen von der dienstvorgesetzten Stelle empfohlen oder angeordnet werden können.

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Personalberatung

Empfehlungen richten sich z. B. an Mitarbeiter:innen, die einen Karrieresprung realisiert haben und nun in die neue Funktion mit einem Einstiegscoaching oder in Form eines Traineeprogramms begleitet werden. Empfehlungen richten sich auch an Mitarbeiter:innen, die sich für eine weiterführende Funktion interessieren und zur eigenen Klärung ein Potenzial- oder Bewerbungscoaching suchen. Personalberatung wird auch angeordnet, wenn z. B. der Zugang zum Pfarramt über einen beruflichen Quereinstieg erfolgt ist oder die Person lange im Ausland Dienst getan hat und in Situationen zurückkehrt, in denen sich ein Entwicklungsbedarf aufgetan hat. In diesen Fällen wird die Beratung von einem Trialog gerahmt, an dem die zu beratende Person, die dienstvorgesetzte Stelle sowie die Personalberatung teilnehmen. Dieser Trialog dient anfangs der transparenten Auftragsklärung und wird zum Abschluss durch einen Entwicklungsbericht bestimmt, den die zu beratende Person verfasst und der von der Personalberatung bestätigt wird. Gerade bei empfohlenen oder überwiesenen Beratungen erweist sich die Zukunftsorientierung von Personalberatung als eine dritte Dimension, die allen Beteiligten die Möglichkeit eröffnet, den Aspekt der Entwicklung mit konkreten Verabredungen aus den verschiedenen Rollen heraus zu gestalten. Führungskräfte erhalten ein klareres Bild davon, welche Rahmensetzungen entwicklungsförderlich wirken. Die zu beratende Person verliert den Eindruck einer Defizitzuschreibung und kann einen Realisierungsweg beschreiten, um identifizierte Potenziale in realisierte Kompetenzen zu überführen, gestützt durch klare Verabredungen, die sie selbstverantwortlich gestaltet. Darin wird die beratene Person durch Rahmensetzungen des Systems gehalten. Das Methodenrepertoire, das das intuitiv-schöpferische Arbeiten unterstützt, kommt aus den Bereichen – der Arbeitspsychologie, dazu gehören die Karriereanker nach Edgar Schein (vgl. Rappe-Giesecke, Kornelia: Triadische Karriereberatung. Begleitung von Professionals, Führungskräften und Selbstständigen, Kohlhage 2005); Lego® Serious Play® (www.annadonato.com/lego-seri�ous-play/), Das Zürcher Ressourcenmodell® (vgl. Krause, Frank/Storch, Maja: Ressourcen aktivieren mit dem Unbewussten, Göttingen 2016), Aufstellungsarbeit (vgl. für Personalberatung: Kingreen, Tilman: Potentiale suchen (das) Licht!, in: Friedrich Heckmann (Hg.): Lebensweisheit und Praktische Theologie, Göttingen 2014, S. 169–186. – der Arbeitswissenschaften, z. B. das Heldenprinzip® (vgl. Trobisch, Nina/Kraft, Dieter/Denisow, Karin/Scherübl, Ingid: Das Heldenprinzip. Kompass für Innovation und Wandel, Wiesbaden 2017. – und der Sozialpsychologie, wie z. B. Soziometrie. Methoden, die bei der Umsetzung helfen, entstammen dem Methodenkoffer, der zur Aktivierung von Ressourcen dient und im beruflichen Coaching Anwendung findet (vgl. die Reihe »Praxishandbuch Beratung« aus der Edition Training aktuell).

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3 Potenziale sichtbar machen Potenziale werden als das Vermögen der Person verstanden, das in der bisherigen beruflichen Praxis noch nicht zur Entfaltung kommen konnte. Es gibt Schwellenhüter:innen, die eine Transformation in verwirklichendes Handeln bisher zurückhalten. Personalberatung hilft, an diese Schwelle zu treten, an der Potenziale sichtbar werden. Sie tut dies in einer Haltung des »als ob«: Als ob ich tatsächlich Träger:in dieser Potenziale sei. Mit dieser Haltung wahrt Personalberatung eine notwendige Schamgrenze. Sie schützt Mitarbeiter:innen vor einer totalen Inanspruchnahme, sich mit all ihren Möglichkeiten beruflich einbringen zu müssen. Etwas von der Person bleibt außerhalb des beruflichen Systems. Mit dieser Haltung löst Personalberatung ihren Präventionsanspruch ein, Mitarbeiter:innen durch Stärkung ihrer Selbststeuerungskompetenz vor beruflicher Erschöpfung zu bewahren. Mit diesem Verständnis schützt Personalberatung zudem sich und andere vor einem Machbarkeitswahn, der sich in einem Potenzialverständnis ausdrückt, das einer grenzenlosen Wachstumsvorstellung folgt. Mit dem Begriff der Ressource wird die Begrenztheit von Potenzialen beschrieben, da Potenziale von ihrer Definition her als grenzenlos zu verstehen sind. Ressource kommt von resurgere (lat. für hervorquellen) und beschreibt einen vorhandenen und begrenzten Bestand an Mitteln und Quellen. Während potentia als Stärke und Macht die Energien zur Entwicklung noch nicht ausgeschöpfter Möglichkeiten beschreibt, kommt mit dem Begriff der Ressource, verstanden als temperantia (vgl. Kreis 2012) die Dimension von Maß und Mäßigung in den Blick. Nur solche Potenziale können umgesetzt werden, bei denen die voluntative Energie ausreichen, sie zu Kompetenzen auszubilden. Bleiben solche Potenziale hingegen unentdeckt, führt dies zu beruflicher Ernüchterung und leistet einer Privatisierung hinaus aus dem Beruf Vorschub. Die Entdeckung von Potenzialen hat eine vitalisierende Wirkung und fördert die berufliche Leistungsbereitschaft. Ein salutogenes Verständnis von Potenzialen sieht Potenziale als noch nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten, die nach dem Maßstab einer natürlichen Begrenztheit nur dann zu einer Kompetenz reifen, wenn der innere Ressourcenpool motivational und voluntativ stimuliert wird. Personalberatung wendet Methoden zur Potenzialerhebung an, die die ratsuchende Person in ihrer Rolle als Autorin ihrer Möglichkeiten ernst nimmt. Das Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung (BIP) (Hossiep/Paschen 2019) kommt in allen Personalberatungsstellen in den Landeskirchen zum Einsatz. Seine Stärke liegt darin, dass es als eine testbasierte Profilbeschreibung das Selbstbild der Person erhebt und dies zugleich ins Verhältnis zu anderen Selbstbeschreibungen setzt. Die Person kann die relative Ausprägung berufsrelevanter Indikatoren erkennen und als eigenes Profil wahrnehmen. Die Auswertung folgt dabei vier Dimensionen, die in einem deduktiven Verfahren als erfolgsrelevante Faktoren identifiziert wurden.

Ressourcen

Kompetenzen

Potenziale

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Personalberatung

Eigene Darstellung nach: Hossiep/Paschen 2019, S. 20

Für Fragen der Karriereentwicklung werden weitere Profile auf Basis von Testverfahren erstellt. Zum Einsatz kommen das Hamburger Führungsmotivationsinventar (vgl. Fefle u. a. 2012) sowie das Inventar sozialer Kompetenzen (Kanning 2009). Beim beschriebenen »Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung« kann in einer Erweiterungsversion, dem Big 6-F (Hossiep/Krüger 2012), das Führungspotenzial spezifisch erhoben werden. Personalberatung nutzt alle testbasierten Verfahren als Visualisierungshilfe zur Potenzialentwicklung. Sie lehnt den Gebrauch testbasierter Verfahren im Sinne einer diagnostischen Festschreibung von Personen ab.

4 Neuere Entwicklungslinien in der Personalberatung Als Antwort auf die immer komplexer werdenden Aufgabenstellungen, vor die Mitarbeiter:innen gestellt sind, und auch auf die Veränderungsdynamiken, in denen sie sich bewähren müssen, kommt verstärkt die Arbeit in Teams in den Blick (Watschke 2021). Team wird oft verwechselt mit Gruppe. In Teamarbeit muss investiert werden. Der Aufbau und die Entwicklung von Teams erfordern ein Wissen über die Teamarchitektur, über Teamfunktionen, Teamrollen und das Zusammenspiel von Präferenzen und Kompetenzen im Team. Personalberatung berät Teamverantwortliche, Führungskräfte, die Teams begleiten und fördern, sowie auch gesamte Teams. Das deutlich gestiegene Interesse an diesem Beratungsformat erklärt sich aufgrund zunehmender Komplexitäten auch daraus, dass heute Teams und nicht nur einzelnen Personen ein autonomes und selbstverantwortliches Handeln zugestanden werden kann. Multiprofessionelle und transprofessionelle Teams (Schendel 2020) sind anspruchsvolle Konstruktionen. Sie sind darauf angewiesen, dass sie ihre Arbeit auf Basis einer professionellen Teamentwicklung wahrnehmen. Eine stabile Teamarchitektur bildet die Basis für agiles Arbeiten in einer Organisation. In der Personalberatung hat sich unter anderem als Methode das Teammanagementsystem bewährt, dessen Einsatz an eine spezielle Zertifizierung gebunden ist (vgl. Tscheuschner/Wagner 2011). Teams brauchen acht Funktionen, um erfolgreich arbeiten zu können. In der Personalberatung werden

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– Teamfunktionen, – präferierte Teamrollen und – persönliche Arbeitsprofile erarbeitet. Teamleitung beschreibt die Fähigkeit, dauerhaft diese Teamfunktionen zu verbinden. Eine weitere Entwicklung für die Beratungsanliegen weist in den Bereich der salutogenen Ausgestaltung von Arbeit. Sie stellt sich als eine Gemeinschaftsaufgabe von Person und Organisation dar, bei der die Personalberatung die Person und die Organisationberatung das System kooperativ beraten. Der spezifische Beitrag der Personalberatung liegt darin, dass sie für den individuellen Aspekt der Gesunderhaltung im Beruf über eine ausgewiesene Expertise verfügt. Das Konzept des Arbeitsbewältigungs-Coachings von Juhani Ilmarinen (Ilmarinen/Tempel 2002 ; → Kap. 26 Stress) bietet eine methodische Basis für das beraterische Zusammenwirken von Personal- und Organisationsberatung. Es hat sich bewährt, diesen untrennbaren Blick auf Person und Organisation zur Frage der Gesunderhaltung gestuft einzunehmen und dabei bei der Individualberatung zu beginnen. Mitarbeiter:innen werden dadurch sprachfähig, die oft als persönlich erlebten Fragen der Gesunderhaltung durch eine neu gefundene Distanz in ihren beruflichen Kontext sach- und lösungsorientiert einzubringen. Dazu bedarf es der vertrauensstärkenden individuellen Erschließung dieses Themas durch die Personalberatung. Im Rahmen eines Workshops mit Kolleg:innen kann dann der:die Mitarbeiter:in seine:ihre Erkenntnisse und Wünsche für die Organisationsentwicklung und seine:ihre Erwartungen an die Organisation zur Verfügung stellen. Personalberatung kooperiert mit der Organisationsberatung. Beide arbeiten mit der Methode des Arbeitsbewältigungs-Coachings. Wie in einem Haus werden vier Schlüsselebenen bearbeitet, die auf die berufliche Gesunderhaltung starken Einfluss nehmen.

5 Coaching in der Kirche An der Gelenkstelle von Person und Organisation hat sich neben anderen Ansätzen in der Personalberatung der personzentrierte Ansatz mit seiner systemischen Perspektive bewährt (vgl. Kingreen 2019). Die Personalberatung schaut von der Person her ins System. Sie identifiziert Wirksamkeitsresonanzen und Wirksamkeitsdissonanzen. Versteht man Personen und nicht nur Organisationen als autopoietisch ausgerichtete Systeme, so werden emergente Selbstorganisationsprozesse, die in der Person stattfinden, in einer belebenden Wechselbeziehung zu den ebenfalls emergent ablaufenden Selbstorganisationsprozessen der Organisation verstanden. Damit wären Impulse, die die Person an die Organisation richtet, sowie solche, die die Organisation an die Person richtet, in ihrer jeweiligen Wirkung niemals vorherzubestimmen. Es gibt keine direkte Einflussmöglichkeit. Diese Annahme hat etwas Befreiendes. Wirkmächtigkeit ist nicht immer sofort nachweisbar, sie will entdeckt werden. Einem Gefühl von Nichtig- und Vergeblichkeit begegnet Personalberatung mit einer Haltung der Achtsamkeit für Entwicklung. In allem beruflichen Wirken ist eine Entwicklungsrichtung angelegt, die entdeckt werden will. Dieses Verständnis von Coaching wird von dem theologischen Grundverständnis getragen, das dem Menschen eine unverbrüchliche und unantastbare Würde und Einmaligkeit zuschreibt. Dieser Würde und Einmaligkeit kann nichts hinzugefügt werden. Als ein solches von Gott geschaffenes Wesen ist der Mensch zugleich zu einem ko-kreativen Handeln fähig, dies aber nicht für sich allein, sondern immer nur in der Begegnung mit einem anderen Menschen. Mit diesem Beziehungsverständnis, das an Martin Buber an-

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Personalberatung

schließt und sich aus der theologischen Denkfigur des extra nos heraus versteht, wird die grundsätzliche Sündhaftigkeit des Menschen als ein beziehungsstörendes und -zerstörendes Verhalten mitgedacht, ohne dass dadurch das Moment der Ko-Kreation als einem unverfügbaren, aus der Beziehung geborenen Augenblick aufgehoben wird. Coaching schafft Rahmenbedingungen, die einem ko-kreativen Wachstum förderlich sind. In der Unverfügbarkeit der Begegnung zwischen Cochee und Coach ereignen sich ko-kreative Momente. »Nicht das Verfügen über Dinge, sondern das in Resonanz Treten mit ihnen, sie durch eigenes Vermögen – Selbstwirksamkeit – zu einer Antwort zu bringen und auf diese Antwort wiederum einzugehen, ist der Grundmodus lebendigen menschlichen Daseins« (Rosa 2019, S. 38). Im Unterschied zu Seelsorge und Supervision besitzt Coaching ein spezifisches, respondierendes Verhältnis zu Leitung und Führung. Moderne Führungsansätze wie Servant Leadership (vgl. Charbonnier 2020), nichtheroische und mitarbeitendenorientierte Führungsstile sowie Agiles Führen (Charbonnier 2021) integrieren bereits Elemente von Coaching in ihr Führungsverständnis. Es wird deshalb auch als ein coachender Führungsstil beschrieben (vgl. Kühl/Lampert/Schäfer 2018). Personalberatung baut mit seinem Coaching­verständnis eine Brücke zwischen Mitarbeiter:innen und Leitung, indem sie den Entwicklungsgedanken in den Mittelpunkt rückt. Wer an sich selbst Entwicklung erlebt hat, kann auch andere in ihrer Entwicklung fördern. Er:sie trägt zu einer Organisationskultur bei, in der die Mitarbeiter:innen, die Organisation wie auch ihre Dienstleistungen und Produkte im Horizont ständiger Entwicklung verstanden werden. Führungskräfte können insbesondere durch eigene Weiterbildungen im Bereich von Coaching1 ihre Führungspraxis gezielt darauf ausrichten, dass der Ertrag, den Personalberatung den Mitarbeiter:innen ermöglicht, für eine transparente Umsetzung in der Organisation anschlussfähig wird. Darüber hinaus nehmen Führungskräfte Personalberatung auch für sich in Anspruch, unter anderem zum Erwerb von mehr Teamleitungskompetenz.

6 Welche Kirche wird durch Personalberatung gefördert? Personalberatung fördert eine Kirche der Mitarbeiter:innen. In der Figur des Zachäus (Lk 19,1–10) wird exemplarisch deutlich, wie eine neue Sinnstiftung im Beruf entstehen kann. Er zeigt sich als Suchender. Er will entdeckt werden. Obwohl er aus der Rolle fällt und auf einen Baum klettert, will er im Grunde in seinem Beruf weiter gewürdigt und anerkannt werden. Dazu bedarf es einer Begleitung, die mit ihm in sein altes Ressourcenhaus einkehrt, ihn darin nicht allein zurücklässt, sondern in seinen Bezugsrahmen einsteigt und Impulse setzt, die helfen, um alles, was schon da ist, in einen neuen Sinnstiftungsrahmen zu stellen. Zachäus gibt alles. Er macht sich sichtbar, er macht sich verletzlich, er öffnet sich. Er bereut und zeigt einen Willen, sich neu auszurichten. Als Oberer der Zöllner war er klein von Gestalt. Deshalb stellen sich Rezipient:innen einen kleinen Menschen vor. Darin wird deutlich, dass seine beruflich große Rolle nicht an die eigene Ressource angeschlossen ist. Von Jesus wird er aber nicht als ein solcher Kleiner angesprochen. Die Spannung zwischen persönlicher Ressource und Rolle löst sich erst auf, als Zachäus beginnt, sich in seiner Haltung neu auszurichten und aus dieser neuen Haltung heraus auch sein Verhalten neu zu überdenken.

1 Gemeinsam mit Lars Charbonnier und Claudia Schubert habe ich z. B. an der Führungsakademie für Kirche und Diakonie eine Weiterbildung zum Personalcoach für Führungskräfte entwickelt und etabliert, vgl. Charbonnier/Kingreen/Schubert o. J.

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Tilman Kingreen

Zachäus wird von Jesus in einen Raum der Zukunft gestellt. Darin bildet sich eine Kirche ab, die sich als Klangraum für das Unverfügbare versteht. Nicht der perfekte, sondern der in sich gekrümmte Mensch steht im Mittelpunkt. Nicht der schuldlose, sondern der in seinem beruflichen Erfolg sich verlierende Mensch betritt einen Raum tiefen Verstehens, sodass sich sein Tun perspektivisch weitet. Eine Kirche der Mitarbeiter:innen versteht sich als corpus permixtum (Mt 22,10). Es geht darum, die eigenen blinden Flecken in der Wahrnehmung der Berufs- und Arbeitsbeziehungen, in der Ausübung der Führungs- und Leitungsrolle, des Auftrages, der Erwartungen im Umgang mit Mitarbeiter:innen, der Gemeinde und der Kolleg:innen entdecken zu dürfen, ohne beschämt zu werden. Eine ehrliche Bilanzierung wird möglich, wenn Mitarbeiter:innen erleben, dass Leitende Vertrauen in ihre Gaben und Potenziale setzen. Dadurch erleben sie sich als zukunftsintegriert. Sie sind nicht abgehängt und können deshalb ihr Tun in anschlussfähige Bilder transformieren, um den eigenen Beitrag im Kontext von Veränderungsprozessen zu erkennen und umzusetzen. Routinen, die sich nicht bewährt haben, Idealisierungen, die nicht tragen, werden erkannt und können überwunden werden.

7 Wann sollte eine Führungskraft auf die Personalberatung verweisen? Personalberatung wirkt förderlich bei allen Fragen beruflicher Entwicklung. Krisen und Konflikte können ebenso wie Karrierewünsche Auslöser sein, das Angebot der Personalberatung wahrzunehmen. Es bewährt sich, frühzeitig Beratung in Anspruch zu nehmen, um die Klärung beruflicher Fragen möglichst aus der Kraft eigener Initiative anzugehen. Führungskräfte müssen die Arbeitsweise der Personalberatung kennen und ihren Wirkungsanspruch einschätzen können, um Mitarbeitende gezielt auf dieses Angebot hinzuweisen (vgl. Schubert 2020). In ihrem Leitungshandeln können sie den Ertrag der Beratungen nutzen, indem sie zum einen die Mitarbeitenden ermutigen, ihre Beratungserkenntnisse als Basis für berufliche Entscheidungen transparent zu machen, und indem sie zum anderen Unterstützungssysteme etablieren, die eine permanente berufliche Veränderungsdynamik ermöglichen. In einer sich ständig verändernden Umwelt muss das Bewusstsein beruflicher Veränderung vom Status der Ausnahme in den Status der Dauerhaftigkeit wechseln. Neben den jährlichen Mitarbeitendengesprächen können gezielte Formate von Perspektivgesprächen etwa im Kontext von Visitationen dazu beitragen, dass ein Bewusstsein für berufliche Veränderungen die Organisationskultur prägen. Der berufliche Wechsel muss dabei nicht immer mit einem Ortswechsel verbunden sein, wenn es durch Leitungshandeln gelingt, Gestaltungsräume vor Ort gezielt mit funktionalen Berufsprofilen kreativ zu verknüpfen. Berufliches Coaching dient als ein professionelles Begleitformat der beruflichen Profilbildung, der beruflichen Entwicklungsbereitschaft sowie der beruflichen Entscheidungsfindung. Als Teil von Personalentwicklung stärkt Personalberatung damit den Aufbau einer agilen Organisationskultur.

Autor Tilman Kingreen, Pastor, Lehrsupervisor (DGfP) und Coach (GwG), ist Leiter der Arbeitsstelle für Personalberatung & Personalentwicklung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers sowie Studienleiter an der Führungsakademie für Kirche und Diakonie, Berlin. [email protected]

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Personalberatung

Literatur Arbeitsbewältigungs-Coaching: Betriebliche Prozessberatung. https://arbeitsbewaeltigungscoaching.eu/, abgerufen am 15.03.2021. Charbonnier, Lars: Servant Leadership. Dienende Führung, in: Praxis Gemeindepädagogik. Zeitschrift für evangelische Bildungsarbeit 73/2020, S. 23. Charbonnier, Lars: Coachingbedarfe in Kirche und Diakonie – weil die Zukunft gestaltet werden will, in: Wege zum Menschen 73/2021, S. 116–125. Charbonnier, Lars/Kingreen, Tilman/Schubert, Claudia: Personalcoach. Coachingkompetenz auf Leitungsebene stärken. https://www.fa-kd.de/programm/personalcoach/, abgerufen am 15.03.2021. Fefle, Jörg/Elprana, Gwen/Gatzka, Magdalena/Stiehl, Sibylle: Hamburger Führungsmotivationsinventar, Göttingen 2012. Hossiep, Rüdiger/Krüger, Claudia: Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung. 6 Faktoren, Göttingen 2012. Hossiep, Rüdiger/Paschen, Michael: Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung, 3. Aufl., Göttingen 2019. Ilmarinen, Juhani/Tempel, Jürgen: Arbeitsfähigkeit 2010. Was können wir tun, damit Sie gesund bleiben?, Hamburg 2002. Kanning, Uwe P.: Inventar sozialer Kompetenzen, Göttingen 2009. Kingreen, Tilman: Personzentriertes Coaching in der Personalberatung der Kirche, in: Christiane Burbach (Hg.): Handbuch Personzentrierte Seelsorge und Beratung, Göttingen 2019, S. 371–377. Kreis, Hans: Wie der Sehnsucht Wurzeln wachsen. Durch Coaching zur Lebenskunst, in: Markus Hänsel (Hg.): Die spirituelle Dimension in Coaching und Beratung, Göttingen 2012, S. 206–225. Kühl, Wolfgang/Lampert, Andreas/Schäfer, Erich: Coaching als Führungskompetenz. Konzeptionelle Überlegungen und Modelle, Göttingen 2018. Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit, Salzburg u. a. 2019. Schendel, Gunther: Multiprofessionalität und mehr. Multiprofessionelle Teams in der evangelischen Kirche. Konzepte, Erfahrungen, Perspektiven, SI-Kompakt 3/2020. Schubert, Claudia: Erfolg in der Personalberatung?!, in: Praxis Gemeindepädagogik 73/2020, S. 28–29. Teammanagement System: Das Team Management Profil von Margerison-McCann (TMS). Teamerfolg entschlüsselt. https://www.team.energy/team-management-profil/, abgerufen am 13.12.2021. Tscheuschner, Marc/Wagner, Hartmut: TMS. Der Weg zum Hochleistungsteam. Praxisleitfaden zum Team Management System nach Charles Margerison und Dick McCann, 2. Aufl., Offenbach 2011. Watschke, Ulrike: Teams. Autonome Systeme mit Entwicklungskraft für Personal und Organisation, in: Wege zum Menschen 73/2021, S. 153–167.

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Personalentwicklung Potenziale heben Birgit Klostermeier Î Was ist Personalentwicklung und wo ist ihr Platz in der Kirche? Î Person und Organisation – (k)ein Traumpaar? Î Wohin geht es in Zukunft? Î Worauf sollten Leitende achten?

1 Einführung Kirchliche Personalentwicklung ist anders als die all der anderen

Personalentwicklung als Idee, Verfahren und Führungsstrategie kommt aus dem ökonomischen und betriebswirtschaftlichen Kontext. In den späten 1980er-Jahren hält sie Einzug in die Landeskirchen – zusammen mit einem stärker kybernetischen und unternehmerischen Denken. Die gängigste und häufig zitierte Definition ist die von Manfred Becker, Professor für Betriebswirtschaft und Personalwirtschaft: »Personalentwicklung umfasst alle Maßnahmen der Bildung, der Förderung und der Organisationsentwicklung, die von einer Person oder Organisation zur Erreichung spezieller Zwecke zielgerichtet, systematisch und methodisch geplant, realisiert und evaluiert werden« (Becker 2013, S. 5). Allgemein wird unterschieden zwischen drei Verständnisweisen von Personalentwicklung: Das enge Verständnis konzentriert sich auf Bildung als »Vermittlung der zur Wahrnehmung der jeweiligen Aufgabe erforderlichen Qualifikationen«, während das zweite, weitere Verständnis auch gezielte Förderungsmaßnahmen einschließt. Das dritte, noch umfangreichere Verständnis umfasst daneben auch Organisationsentwicklung. Dieser Sammelbegriff steht für »geplante und gezielte Veränderung von Organisationen. Durch den Einsatz von verhaltens- und organisationswissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden werden die Personen und die Strukturen einer Organisation gleichermaßen zielfördernd beeinflusst« (Becker 2010, S. 8, Anm. 13). Von diesen Begriffsbestimmungen aus, die auch im betrieblichen Kontext mehr Programm als tatsächliche Umsetzungspraxis beschreiben, formuliere ich auf den kirchlichen Kontext bezogen drei Thesen und entfalte sie. Damit soll ein Orientierungsrahmen für kirchlich leitendes Handeln abgesteckt werden: 1. Eine betriebswirtschaftlich verstandene Personalentwicklung gibt es in der Kirche nicht – und kann es nicht geben. 2. Personalentwicklung in der Kirche legt ihren Fokus vor allem auf Maßnahmen zur Förderung einer professionellen Persönlichkeit. So verändert sie die Kultur der Kirche. 3. Personalentwicklung in der Kirche wird zukünftig stärker als Teil von Organisationsentwicklung zu konzeptionieren sein.

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Personalentwicklung

2 Kirchliche Personalentwicklung: Import trifft auf Ethos und Geschichte(tes) Mit der Einführung von Personalentwicklung ist in den 1990er-Jahren die Überzeugung verbunden, dass den Herausforderungen von Traditionsabbruch und Rückgang von Kirchensteuermitteln nur mit einer grundsätzlich anderen Führungshaltung begegnet werden kann. Über Reformvorhaben und -maßnahmen, später programmatisch in dem Grundsatzpapier »Kirche der Freiheit« (Kirchenamt der EKD 2006) verdichtet, setzen sich die neuen organisationalen, dem betrieblichen Management entliehenen Verfahren durch. Ob und wie die Kirche der Zukunft erfolgreich Kirchenmitglieder binden oder neue werben kann, hängt von ihrem Personal ab, so die grundlegende Annahme. Von dem Führungsinstrument Personalentwicklung erhoffen sich die Initiator:innen, die Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit, aber auch ein Qualitätsbewusstsein des kirchlichen Personals zu erhöhen oder zumindest sicherzustellen. Als erste und weitreichendste Neuerung werden Jahres-, Orientierungs- oder Personalentwicklungsgespräche in vielen Landeskirchen als Leitungsinstrumente verbindlich eingeführt, zunächst für Pfarrer:innen, dann auch für andere Mitarbeiter:innen (Vögele 2002; Vögele/Hartmann 2003). Meist sind diese verbunden mit Zielvereinbarungen, deren Umsetzung nach einer bestimmten Zeit überprüft und im Verständnis einer lernenden Organisation evaluiert, fortgeschrieben und nachjustiert werden soll. Die Skepsis vor allem unter den Geistlichen ist groß, weil sie hinter diesem Verfahren einen Eingriff in die pastorale Freiheit und Autonomie befürchten. Besonders der Umstand, ob und wie die Protokolle dieser Gespräche eine nächsthöhere Ebene erreichen, wird heftig diskutiert. Dabei wird das Rollen- und Ämterverständnis thematisiert und theologisch befragt. Ist der:die Superintendent:in nun Vorgesetzte:r? Der:die Pastor:in untergeordnet? Ein:e Diakon:in dem:der Pfarrer:in unterstellt? Was ist mit der Idee der Dienstgemeinschaft? Was mit dem Verständnis des »einen Amtes« (CA 5)? Ist tatsächlich mittels eines Sammelbegriffs von »Personal« zu sprechen wie in einem Betrieb oder Unternehmen? Auch Ehrenamtliche debattieren mit und bringen ihre Erfahrungen und Kenntnisse aus ihrem jeweiligen beruflichen Umfeld ein. Sie fordern Konsequenzen für ein anderes, zeitgemäßes Verständnis von Leitung in der Kirche. »Umgang mit Autorität muss geklärt sein und darf nicht verschleiert werden. Wenn das alles gelingen soll, muss Leitung als positiver Begriff verstanden werden und auch gewollt sein. Oder ein wenig zugespitzt formuliert: Dienstgemeinschaft darf nicht länger als Reservat oder als eine Art geschütztes Biotop bedrohter kirchlicher Pflanzen missbraucht werden. Kritik auf beiden Seiten muss ertragen und Kritik auf beiden Seiten muss auch ertragen und als Chance begriffen werden.« (Aulike 2002, S. 129–130) Dieses Statement einer Synodalen illustriert, dass Verfahren und Praktiken aus einem anderen lebensweltlichen Kontext an das eigene System angepasst oder anverwandelt werden. Auch bei Personalentwicklung gilt: Sie bedarf einer kirchlichen Adaption. Ihre Idee und ihre Rationalität, ihre Praktiken und dahinter liegenden Absichten treffen auf Geschichte und Geschichtetes, auf Überzeugungen und Vorstellungen, auf Routinen, Beharrlichkeiten und Hoffnungen. Sie werden durch ein enges Nadelöhr der Plausibilität manövriert, indem sie – ganz biblisch – auf das Gute und auf das Schlechte hin überprüft werden (1 Thess 5,21).

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Birgit Klostermeier

Fragen zur Reflexion a. Wie war das bei mir? Wo auf der Linie würde ich die Etappen meiner beruflichen Laufbahn einordnen? selbstbestimmt   fremdbestimmt b. Welche Geschichten, Gespräche und Begegnungen fallen mir dazu ein?

3 Das enge Nadelöhr kirchlicher Eigenlogik In der evangelischen Kirche leiten viele, aber nicht immer gemeinsam

Im Laufe der Zeit zeigt sich, dass das Instrument der mit Zielvereinbarung verbundenen Jahresgespräche – nun »getauft«, weil kirchlich angeeignet und plausibilisiert – nicht die befürchtete disziplinarische Wirkung hat: Die Verschwiegenheit nach innen hat sich gegenüber einer Dokumentation nach außen durchgesetzt. Gespräche werden (nach einem speziellen Coaching der Leitenden) durchgeführt, standardisiert (siehe Link zum Instrument Jahresgespräche unten) und rhythmisiert, man versteht sie kollegial oder partnerschaftlich, die Veröffentlichung ihrer Inhalte ist, meistens, an die Zustimmung beider Gesprächsteilnehmer:innen geknüpft. Wenn Mitarbeitende Zielvereinbarungen nicht einhalten oder umsetzen, sind in der Regel keine Sanktionen zu befürchten, weil das Dienst- und Arbeitsrecht je nach Arbeitsverhältnis unterschiedlichen, meist geringen Spielraum vorsieht. Vorgesetzte können fragen, mahnen, loben oder erinnern, das »Leiten durch das Wort« – sine vi, sed verbo – ist und bleibt auch hier die erste und letzte Form kirchlicher Leitung. Andere Aspekte einer Personalentwicklung im betriebswirtschaftlichen Sinne lassen sich nur ansatzweise oder nur in bestimmten Bereichen umsetzen. Eine stringente Durchführung scheitert oft an unterschiedlichen Zuständigkeiten und rechtlichen Einflussmöglichkeiten der verschiedenen Leitungsebenen. Die Entwicklung von landeskirchlichen, kreiskirchlichen und gemeindlichen Stellenplänen und konkrete Stellenbesetzungsverfahren sind ergiebige Beobachtungsfelder des freien Spiels der Kräfte – denn nicht immer sind die Interessen eines Konsistoriums die eines:einer Superintendent:in oder die einer Gemeinde. In der evangelischen Kirche leiten viele, aber nicht immer gemeinsam. Der Umstand, dass die Kirche auch ehrenamtlich geleitet wird, hindert eine konsequente Durchsetzung von Personalentwicklung zusätzlich. Das an Wahlperioden gebundene persönliche Engagement garantiert keine verlässliche Dauer in der personellen Begleitung: Eine zur Gemeinde gehörende Kita schätzt sich glücklich, weil sie auf professionelles Können im Presbyterium trifft. Ehrenamtliche engagieren sich dort aus ihren beruflichen Feldern heraus und bringen mit viel Freude Kenntnisse auch aus der Personalentwicklung ein. Es kann allerdings passieren, dass nach der nächsten Wahl das Gremium anders zusammengesetzt ist und sich darin niemand findet, die Zusammenarbeit in diesem Bereich weiter zu pflegen. Wenn im Nachbarkirchenkreis die Kita über eine Verbandsregelung von kreiskirchlicher Verwaltung weitsichtig gesteuert wird und Arbeitsbedingungen sowie der einzelne Einrichtungsbetrieb mehr Verlässlichkeit und bessere Arbeitsatmosphäre garantieren – könnte sich der:die ein:e oder andere Erzieher:in dann neu orientieren. Innerhalb von Gemeinden ist Personalentwicklung selten vorgesehen. Dass auch Ehrenamtliche Unterstützung und Förderung benötigen und wünschen, setzt sich als Erkenntnis zum Ende der 1990er-Jahre mit der Entwicklung eines Ehrenamtsmanagements langsam durch. Hier gibt es Luft nach oben, vor allem im regionalen (und ländlich strukturierten) Kontext. Vermutlich ist es ein längerer Weg, dass, wenn von Personalentwicklung der Kirche die Rede ist, nicht ausschließlich und zunächst an Pfarrer:innen gedacht wird.

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Personalentwicklung

Die Zuständigkeiten für einzelne Teilbereiche der Personalentwicklung (Ausbildung, Weiterbildung, Personalberatung, Personaldezernate, Dienstaufsicht, Fachaufsicht) innerhalb der Landeskirchen sind funktional oft disparat, auch zentral und dezentral, angesiedelt. Dadurch kommt eine gemeinsame Sicht und Entscheidung in einer konkreten Personalfrage oder Stellenbesetzungssituation manchmal nicht zustande, weil es an Ort und Zeit fehlt, sich über Abteilungs- oder Fachbereichsgrenzen hin zu verständigen. Eine entsprechende Software wird unter Umständen nicht in der nötigen Weise genutzt oder steht nur lückenhaft ausgefüllt zur Verfügung. »Kennt ihr jemanden …?« ersetzt nicht ein systematisches Management, das auf umfangreicher Dokumentation und Datensicherung basiert. Das Verständnis einer eng oder weit gefassten Personalentwicklung variiert: Schon benachbarte Dekanate und Kirchenkreise können diesbezüglich große Unterschiede aufweisen, etwa im Verhältnis von Organisations- und Personalentwicklung oder in der Frage, wie ernsthaft und interessiert der:die Dekan:in oder der:die Superintendent:in die Personalentwicklung »der eigenen Leute« verfolgt. Unterschiedliche Berufs- und Anstellungsverhältnisse, vom Beamtenstatus der Pfarrer:innen oder Kirchenbeamt:innen, über Angestelltenverhältnisse bis hin zu Minijobber:innen, von Ehrenamtlichen als Leitende und Ehrenamtlichen als Ausführende – der Umgang der jeweils verantwortlich Leitenden fordert im Blick auf eine professionelle Personalentwicklung Wissen und Zeit, oft mehr als vorhanden ist und als strukturell erworben oder zur Verfügung gestellt werden kann. Personalentwicklung in dem betriebswirtschaftlich-programmatischen Sinne der Definition, so die erste These, kann sich in der Kirche nicht finden: Eine rationale Logik von Zielorientierung, Systematik und Methodik trifft auf gewachsene Strukturen, Überzeugungen und unterschiedliche Leitungsformen und -haltungen, die sich nicht recht damit vereinbaren lassen. So kann es im Prozess einer strikten Anpassung auch zu Verwerfungen, Enttäuschungen, Überforderungen und Konflikten kommen. Personalentwicklung in der Kirche funktioniert anders – und auch gut: Zum Verständnis von Personalentwicklung, online unter: https://institutionsberatung.nordkirche.de/fileadmin/user_upload/baukaesten/Baukasten_Institutionsberatung/Dokumente/Rahmenkonzept_Personalentwicklung.pdf, S. 8, abgerufen am 03.01.2022. Schaufelberger, Thomas: Personalentwicklung, in: Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, S. 487–504. Zum Instrument Jahresgespräche, online unter: https://www.jahresgespraeche.de/, abgerufen am 03.01.2022. Zur Begründung von Personalentwicklung, online unter: https://www.personal-und-kirche.de/personalentwicklung; abgerufen am 03.01.2022. Zu Arbeitszeitberechnungsmodellen, online unter: https://www.aufgabenplaner-ekvw.de/person/login, abgerufen am 03.01.2022

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c. Wie habe ich Personalgespräche in der Kirche erlebt, wenn sie mich betrafen? Was hat mich enttäuscht? Was überrascht? d. Als Ehrenamtliche:r: Wie geht es mir, wenn ich mit Pastor:innen über ihre Arbeit spreche oder sprechen soll?

4 Entwicklung der professionellen Persönlichkeit und Kulturveränderung Die Jahres- oder Personalentwicklungsgespräche werden geschätzt und etablieren sich als eine Form, in der beruflichen Rolle und zugleich persönlich wahrgenommen zu werden. Manch ein:e Pfarrer:in entdeckt, dass er:sie ein Recht auf solche Gespräche hat und diese hilfreich sind, das eigene Handeln zu durchdenken und es im Arbeitskontext legitimieren zu können. Der:die Leitende weiß zu schätzen, nun mehr über die einzelne Person und die Umstände im Betätigungsfeld, der Gemeinde, des Krankenhauses oder der Abteilung, zu erfahren. Im Zusammenhang von Personalentwicklungsgesprächen gelingt es zunehmend, Missstände in den Blick zu bekommen und Arbeitsbedingungen zu verbessern: Ein Coaching oder eine Weiterbildung vermittelt neue Kenntnisse und Erfahrungen. Das Gespräch mit dem Kirchenvorstand kann dazu führen, die Arbeitszeit des Diakons:der Diakonin noch einmal zu durchdenken und seine:ihre Schwerpunkte neu zu setzen. Die verabredete und bewilligte Auszeit des:der Mitarbeitenden führt zu neuem Antrieb, sich einen Stellenwechsel zuzutrauen. Dem:der geschäftigen Allrounder:in im Pfarramt kann ein Gespräch aufzeigen, weshalb es ihm:ihr so schwer fällt, Urlaubszeiten in Anspruch zu nehmen. Immer öfter führt das gemeinsame Durchdenken der jeweiligen Berufsbiografie zu neuen Aus- oder Weiterbildungen, die einen späteren Stellenwechsel ermöglichen. Über die formale Einführung von Personalentwicklungsmaßnahmen und die gesteuerte Kommunikation passiert etwas Neues: Die Kirche kommt sich selbst etwas näher. Mehr Begegnung und Gespräch zwischen den Ebenen werden eingeübt. Charismen, die biblische Übersetzungsmetapher für Gaben und Talente, kommen wieder oder neu ins Bewusstsein. Die Person rückt als Person in den Fokus, Lob und ausdrückliche Anerkennung dürfen sein, auch Stolz und Freude über Erfolg sind gestattet. Über Personalentwicklung werden zudem wie nebenbei Organisationsentwicklungen angestoßen. Wenn etwa der:die Pfarrer:in sich nach den Zielen der Arbeit für die nächsten zwei Jahre fragen lassen muss oder gern fragen lässt, ist dieser Denkanstoß schon der erste Schritt zu den Zielen eines Kirchenvorstandes. Das setzt weitere Gespräche auf ungewohnte Weise in Gang, eine Stellenausschreibung wird anders formuliert – einladender, präziser, realistischer – als noch vor Jahren. Kirchliche Personalentwicklung macht das, was die Kirche am besten kann und was sie in ihrem historischen Gepäck hat: Sie orientiert sich an dem:der Einzelnen. Über die Person als einer professionellen Persönlichkeit wird die Wirkung auf die Organisation erhofft (siehe das Rahmenkonzept der Nordkirche: Kirchenleitungs-Ausschuss Institutionsberatung 2011). Denn als Kirche kann sie voraussetzen, was manch andere Organisation erst erzeugen muss, eine positive Grundhaltung der Einzelnen zur Gesamtheit: Wer sich in der Kirche aktiv engagiert, ob haupt- oder ehrenamtlich, so die Grundannahme, will dem Evangelium folgen, Teil der Gemeinschaft sein und hat sich entschieden, dies in und mit der Kirche und von ihr unterstützt zu tun. Was die einzelne Person braucht, ist nach diesem Verständnis (nur) – gut reformatorisch – Unterstützung und Ermöglichung, ihre Berufung in Freiheit und Verantwortlichkeit zu leben und zu gestalten. Aus dieser Perspektive hat Personalentwicklung eine geistliche Dimension. Deshalb wird auch »nach innen«, in die Dienstgemeinschaft hinein gepredigt, die Bibel ausgelegt, wird

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Personalentwicklung

gebetet, geschieht Seelsorge, Bildung und Fürsorge auch an- und miteinander, wird Geschwisterlichkeit erinnert, werden Grenzen ertragen, Fehler vergeben und Stärken gestärkt. Mit der Einführung von Personalentwicklungsgesprächen und der Fokussierung auf die Person entsteht erst, was in gegenwärtigen Zeiten manchmal überbordender Wertschätzungsbekundung zuweilen nicht mehr vorstellbar ist, nämlich eine kirchliche Anerkennungskultur. Bis vor Kurzem noch galt: »Nicht getadelt ist genug gelobt.« Es »gehörte sich nicht«, sich als Person in den Mittelpunkt zu rücken und sich so womöglich selbst zu rühmen. Manche Gemeinde veröffentlichte deswegen keine Fotos ihrer Hauptund Ehrenamtlichen in ihrem Gemeindebrief. Noch immer hält sich, vor allem unter Pfarrer:innen, die Überzeugung, dass, wer zu sehr Interesse an einer attraktiven und einflussreichen Stelle zeigt, sie nicht bekommt. Mangelnde Transparenz und undurchsichtige Personalentscheidungen haben eine Kultur geprägt, der Personalentwicklung entgegenwirken soll: Nun soll gelten, dass individuelles Können und Fähigkeit, Kompetenz und Motivation auch aus Leitungssicht anerkannt, gewollt und gebraucht werden. Mit dem Import des fremden Personalentwicklungsinstrumentes wird die Kirche – auch in der gelegentlichen Einübung eines gegenseitigen Feedbacks zwischen unten und oben – ein wenig nahbarer, geschwisterlicher, ehrlicher und auch frommer: Der individuelle Glaube, auch der Zweifel, auch die eigene Vision, auch das eigene Bild von Kirche oder Gemeinde können und sollen zur Sprache kommen. Bibeltexte zum Thema Lukas 8,4–8

Von unterschiedlichen Bedingungen, von Experimentierfreude und der Großzügigkeit. Markus 6,7–13

Vom gemeinsamen Tun, vom Anfangen und Beenden. Lukas 10,17–20

Von der Verwechselung und der Freude.

5 Person und Organisation – (k)ein kirchliches oder theologisches Traumpaar? »Der Geist weht, wo er will.« (Joh 3,8) »Zur Freiheit hat euch Christus befreit.« (Gal 5,1) »Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.« (Joh 15,16) – Bei liturgischen Einführungen von ehrenamtlichen oder hauptamtlichen Mitarbeiter:innen werden biblische Leitverse agendarisch verlesen oder auch als Segensworte selbst gewählt. Sie skizzieren das Unverfügbare als Wesenskern der Kirche. Es ist nicht steuer- und rationalisierbar, dass und warum Menschen sich entscheiden, für das Evangelium da zu sein. Der Berufungsgedanke, der – bei Vikar:innen gut zu beobachten – als Ausdruck von Authentizität zunehmend Bedeutung erhält, setzt kirchlicher Steuerung oder einer

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organisationalen Reglementierung Grenzen. Hier gilt es, die Achtung vor der persönlichen Überzeugung eines:einer Einzelnen zu wahren. Zugleich: Ein:e Gemeindepfarrer:in besucht leidenschaftlich Weiterbildungen in der neutestamentlichen Forschung und weiß mit Esprit von neuesten Forschungsergebnissen zu berichten, hat aber weder Charisma noch die Fähigkeit, Konfirmand:innenunterricht zu halten. Die Jugendlichen nehmen, wenn überhaupt, den Weg in die Nachbargemeinde. Wie als Leitungsverantwortliche:r mit ihm:ihr umgehen? Oder: Wie als Kirchenvorstand mit dem:der jungen Diakon:in umgehen, der:die sich nicht an die Vorgaben des Kirchenvorstandes hält, anteilig Büroarbeiten mit zu übernehmen, aber begeisternde Jugendarbeit macht? Wie einer:einem ehrenamtlich seit 20 Jahren im Seniorenclub verantwortlich Engagierten sagen, dass er:sie nun, alt und auch vergesslich und deshalb unzuverlässig geworden, bestimmte Verantwortlichkeiten nicht mehr übernehmen kann? An die äußere Berufung, an die Organisationsperspektive, muss zuweilen erinnert werden. Dass nicht allein die individuelle Perspektive das berufliche und ehrenamtliche Arbeiten in der Kirche prägt, sondern diese mit den Interessen der Kirche als Ganze zusammenkommen muss. Im Zusammenhang des Ehrenamtsmanagements werden deshalb inzwischen mehr Verbindlichkeiten und Befristungen eingeführt. Die liturgische Einführung und Entpflichtung haben hier ihren Platz und sind somit Ausdruck von Personalverantwortlichkeit. Die Grundannahme einer persönlichen Berufung ist essenziell, gleichwohl reicht sie allein nicht aus, wenn, was offenbar zunehmend mehr passiert, die individuelle Verantwortlichkeit gegenüber der Organisation aus dem Blick gerät. Auch hier scheint sich eine Institutionenfremdheit einzuschleichen, ein geringes Wissen darüber, wie was in der Kirche zusammenhängt oder wie sie funktioniert (vgl. Lückhoff 2021). Wenn der Fokus der Personalentwicklung zu sehr auf der Person liegt und die Organisationsperspektive vernachlässigt, kann es zu missverständlichen Verschiebungen und zu einer realitätsfernen Erwartung an die Arbeitgeberin Kirche kommen, sie müsse für die Entfaltungsmöglichkeit individueller Charismen sorgen. Arbeitsverträge, Dienstanweisungen und rechtliche Rahmenbedingungen – als Kennzeichen der äußeren Berufung –, so die Erfahrung, sind von Zeit zu Zeit ins Gedächtnis zu rufen. Zudem bedarf es offenbar manchmal des Hinweises, dass die sichtbare verfasste Kirche als Organisation nicht mit dem Leib Christi (1 Kor 12) gleichzusetzen ist – auch wenn manche Selbstdarstellung kirchlicher Personalentwicklung das vermuten lässt. Im Umgang mit dem:der Einzelnen kann in der konkreten Situation für die Leitungsperson alles gleichzeitig gefordert sein: Fürsorge, Seelsorge, funktionale und geistliche Leitung. Sie wird dann entscheiden müssen, wo eine an Funktionskriterien orientierte Personalentwicklung beginnt und wo sie aufhört. Wo eine geistliche oder seelsorgerliche Begleitung der Person beginnen und wo sie aufhören sollte. Sie wird schließlich entscheiden müssen, ob sie selbst die für dieses Gespräch oder die Begleitung richtige Person ist oder jemand anderes.

6 Widersprüche: Bestimmtheit und Unbestimmtheit Mit der Inkulturation vom Fremden in das Eigene werden Widersprüchlichkeiten manchmal erst sichtbar. Die Bestimmtheit einer Organisation macht ihren Charakter als Organisation aus. Wenn aber das, worum es in einer Organisation geht – und in der Kirche geht es genau darum – die Unbestimmtheit ist, ist die Bestimmtheit schwer zu organisieren (Nassehi 2020). Eine Kirche, die sich als Organisation mit Zielvorgaben plan- und berechenbar leiten will, muss in Reibung zu ihrem eigenen Ethos geraten, weil sie mit dem Nichtplanbaren und Nichtverfügbaren rechnen muss. Diese Spannung ist konstitutiv für alles Leiten der Kirche und deshalb auch für die Umsetzung von kirchlicher Personal-

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Personalentwicklung

entwicklung. Sie erfordert von Leitenden ein immer neues Ausloten von Möglichkeiten und Grenzen, ein Umgehen mit Konflikten und Mehrdeutigkeiten, auch ein Aushalten von Enttäuschungen und ein Sich-Offenhalten für Überraschungen. Was schon mal funktioniert hat 1. Der Gemeindepastor erzählt begeistert von seinem Hobby, zu surfen, und von der Begegnung mit Menschen: »So müsste man Kirche machen.« Ein Jahr später ist er auf geteilter Stelle (eine halbe Stelle als Gemeindepastor und eine halbe Stelle im Tourismusbereich am Meer). Er führt christliche Surfkurse durch. Fünf Jahre als Experiment. Ermöglicht haben dies die Gemeinde, die Pfarrkollegin, der Diakon, der Superintendent und die Personalverantwortlichen zweier Landeskirchen. 2. Eine junge Pastorin hat wissenschaftliche Ambitionen. Sie initiiert und konzipiert eine Kirchenkreisentwicklungsstelle und vernetzt die Arbeit mit der theologischen Fakultät, verschiedene Gemeindeformen werden experimentiert und Erfahrungen ausgewertet. Ermöglicht haben dies der Superintendent, der Kreiskirchenrat, die Kreissynode, die Fakultät und die Gemeindeberatung der Landeskirche. 3. In der Gemeinde gestalten Ehrenamtliche Passionsandachten sprachlich und liturgisch. Ein Experimentierfeld. Die Angestellte eines kommunalen Verwaltungsamtes wird gefragt, ob sie mitmachen möchte. Durch enge Begleitung und Weiterbildung durch die Pastorin entsteht ein Kreis sprachgewandter »Ekklesiopreneur:innen«, die Lust an kirchlicher Veränderung haben und später Kirchenvorstands- und Kirchenkreisarbeit machen werden. Die Angestellte lässt sich zur Prädikantin ausbilden und bildet wiederum andere weiter. Ermöglicht hat dies die lustvolle und intensive Arbeit an gemeinsamer Verkündigung. 4. Der Diakon ist seit 30 Jahren in der Jugendarbeit, die verbleibenden 15 Jahre seines Berufslebens möchte er anders verbringen. Er macht eine Ausbildung im Rahmen von Organisationsentwicklungsberatung. Er wird Ehrenamtskoordinator in zwei Kirchenkreisen. Ermöglicht haben dies zwei unternehmungsfreudige Kreiskirchenräte und Kreissynoden, die die Ausbildung teilfinanziert und die Stelle vollfinanziert haben: »Wir machen das jetzt!« 5. Die erfahrene und beliebte Gemeindepastorin sucht nach vielen Jahren eine neue Herausforderung, weil ihr vieles zu vertraut und zu bekannt ist. Aus familiären Gründen kann sie jedoch den Wohnort nicht wechseln. Sie wird Springerin oder »Interimspastorin« im Kirchenkreis und holt so manche Kohlen aus dem Feuer. Sie kann sich und anderen nun zeigen, was sie kann. Ermöglicht haben dies die Superintendentin und die Teilfinanzierung von Springerstellen durch die Landeskirche. 6. Jahresgespräche kommen bei den Hauptamtlichen im Kirchenkreis so gut an, dass die ehrenamtliche Präses der Synode sagt: »Die will ich auch haben.«

7 Zukunftsmusik Personal- und Organisationsentwicklung gehören im betriebswirtschaftlichen Sinne zusammen und sollten zukünftig auch aus einer kirchlichen Leitungsperspektive zunehmend mehr als bisher in ihrer systemischen Wechselwirkung gesehen werden. Es ist dabei nicht unerheblich, in welchen Bildern ich als Leitungsperson die Kirche denke – als Maschine, als Organismus oder als Netzwerk – und aus welcher Rationalität heraus ich sie verstehe. Gegenwärtig, 2022, lässt sich die Idee einer planbaren und zielorientierten Kirche nicht mehr halten. Digitalisierung, Globalisierung, Individualisierung, Veränderung von Religiosität, um ein paar der großen Schlagworte zu nennen, auch die Verflüssigung des

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Institutionellen und die gesellschaftliche Erfahrung einer Pandemie machen viel stärker als bisher bewusst, dass ein Umgehen mit dem Unwägbaren und Unberechenbaren zukünftig allgemein zur Leitungskompetenz in Organisationen gehören wird. Wenn der Kontext der Kirche eine »VUKA«-Welt1 ist, geprägt von Flüchtigkeit, Ungewissheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit, dann wird sie sich selbst auch anders denken lernen müssen; vielleicht als Organismus oder als Netzwerk, vielleicht in einer »kirchlichen Biodiversität« (Müller 2020). Was an Kompetenzen und Fertigkeiten gebraucht wird, ändert sich – Deutungsrahmen verschieben sich. Schon die Vorstellung, dass die Kirche digital, hybrid und anlog sein wird, eine Vielfalt in Gleichzeitigkeit, sprengt die Vorstellung davon, wie sie als Organisation funktionieren kann. Auch finanzielle und personelle Ressourcenknappheit wird kirchliche Personal- und Organisationsentwicklung bestimmen. Wenn sich nur noch wenige Ehrenamtliche für die Kirchenvorstandsarbeit begeistern lassen, hat auch dies Konsequenzen für die Qualität von Leitung einer Kirchengemeinde. Vielleicht entdeckt die Kirchengemeinde, dass sie weniger und dies konzentrierter tun wird. Wenn eine Gemeinde nach eineinhalb Jahren Vakanz endlich eine:n Pastor:in bekommt, hat sie ihre Ansprüche an das, was er:sie können sollte, reduziert, vielleicht präzisiert. Sie hat zudem entdeckt, dass sie vieles ehrenamtlich selbst stemmen kann. Umgekehrt: Wenn es keine Aufmerksamkeit für die Attraktivität von Arbeitsplätzen gibt (z. B. Work-Life-Balance), wird sich dies in der Nachfrage auswirken. Verwaltungsfachmann:frau, Gemeindepädagog:in oder Pastor:in werden nicht mehr selbstverständlich zur Verfügung stehen. Anders ausgedrückt: Äußere Berufung trägt in sich eine Verantwortung für die Bereitschaft, Strukturen, Bedingungen und Verfahren zu ändern. Im Blick auf Personalentwicklung beginnt dies bei der Aus- und Weiterbildung. Berufliche Lebensläufe werden fluider sein. Quereinstiege kommen häufiger vor (der:die Manager:in nimmt das Master-Theologiestudium auf), Umschulungen werden interessanter (der:die Diakon:in als Pfarrer:in), Ehrenamtliche wollen sich in unterschiedlichen Feldern professionalisieren und Teilzeittätigkeiten übernehmen (der:die Prädikant:in übernimmt Beerdigungen). Die akademische Ausbildung wird stärker nachgefragt werden, wenn sie kürzer ist, ihre Praxisanteile erlebbarer und ihr lebensweltlicher Bezug deutlicher wird. Weiterbildung und Förderung werden sich zunehmend auch auf das Wissen aus anderen lebensweltlichen Kontexten konzentrieren. Mehr Trainings oder Weiterbildungen außerhalb der Kirche werden genutzt werden, um theologische Alltagshermeneutik neu, vielleicht auch gemeinsam mit anderen, zu entwickeln. Auch Nicht-Kirchenmitglieder, Nichtgetaufte oder Andersgläubige suchen ihren Arbeitsplatz bei der Kirche – nicht nur im diakonischen Bereich – und sind eine positive Irritation. Um visionär und gewagt zu sprechen: Das Potenzial an Wissen und Kenntnissen innerhalb des kirchlichen Personals wird mehr gehoben und verhängt sich nicht mehr in zu engen Grenzen, der Staub wird von den Füßen abgeschüttelt (Mk 6) und der Samen sucht sich neuen Boden (Lk 8). Kirchliche Mitarbeiter:innen können in gegenseitiger Abstimmung tun, was sie für das Evangelium und die Kirche für richtig und wichtig halten. Ältere hochqualifizierte Mitarbeiter:innen können mehr beraten und unterstützen, sind als Mentor:in oder Interimspastor:in gefragt, die Frage der Dienstwohnungspflicht wird gelöst sein. Jüngere bringen ihr Potenzial der Neugier und des Andersdenkens ein. Es wird mehr Experimentierräume und Ermöglichungsbedingungen geben. Personalund Organisationsentwicklung könnten ein Traumpaar werden. 1 VUKA, engl. VUCA ist die Abkürzung für Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity.

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Personalentwicklung

8 Bis dahin: Was wie gelingt Das Rezept für ein gutes Zusammengehen von Personal- und Organisationsentwicklung ist das Zusammenspiel der Ebenen und Zuständigkeiten. Je mehr Spiel bleibt, je mehr finanzielle Ressource ungebunden ist, je mehr Flexibilität im Stellenplan, je mehr alle Akteur:innen von ihrem Eigenen absehen (unsere Gemeinde, mein Kirchenkreis, eure Landeskirche) und je mehr sie das Ganze (eine im evangelischen Sinn »katholische«, ganzheitliche Kirche) im Blick haben, umso mehr kann sich auch im Interesse von Organisation und Person eine Win-win-Situation einstellen. Dies bedeutet konkret für die Leitungsaufgabe: jonglieren können. Widersprüche aushalten, verlässlich sein und für Überraschungen offenbleiben. Immer wieder kommunizieren, hören und verstehen, andere ins Gespräch bringen. Die Betätigungsfelder sind die vertrauten: die Visitation in Kirchenkreisen, Regionen und Gemeinden, Jahresgespräche mit Einzelnen, vielleicht auch mit Teams, Synodentagungen in unterschiedlichen Formaten mit mehr Beteiligungskultur. Möglicherweise wird die mittlere Ebene, der Kirchenkreis oder das Dekanat, die Ebene der Zukunft sein, weil sie noch überschaubar und zugleich differenziert genug ist, Vielfalt abzubilden. Hier liegt im Blick auf das Zusammenwirken von Personal- Organisationsentwicklung das größte Potenzial der strukturellen Ermöglichung. 10 Tipps zur Erfolgsvermeidung 1. Das Protokoll vom letzten Jahresgespräch erst kurz vor dem nächsten wieder durchlesen. 2. Personalentwicklung möglichst nie zum Thema im Kirchenvorstand machen. 3. Im Kirchenvorstand Anträge von Ehrenamtlichen zur Kostenübernahme von Fortbildungen fragwürdig, aber wirkungsvoll ablehnen (»Das kann die selbst bezahlen, die haben genug«, »Was will die denn damit?«). 4. In Kirchenkreiskonferenzen keine Gelegenheit geben, über Erfahrungen in Fortbildungen zu berichten (»Das ist doch privat«, »Da stellst du dich nur in den Mittelpunkt und machst dich wichtig«). 5. Zusagen machen, die nicht sicher eingehalten werden können (»Wenn Sie die Leitungsfortbildung machen, haben Sie die Stelle so gut wie sicher«). 6. Mitarbeiter:in auf einer Funktionsstelle sich differenziert qualifizieren lassen und ihn:sie nach sieben Jahren wieder ins Gemeindepfarramt mit der einzigen Begründung abrufen, das sei nun mal das übliche Verfahren. 7. Sich selbst möglichst nicht weiterbilden. 8. Die Weiterbildungsprogramme der eigenen und anderer Landeskirchen ignorieren. 9. Visitationen durchführen und Gespräche mit der Mitarbeiter:innen-vertretung vermeiden. 10. Möglichst alles allein machen, den Urlaub wegen zu viel Arbeit abbrechen und dies am Sonntagabend in der Mail an alle kommunizieren.

Oberrheinischer Meister: Paradiesgärtlein, 1410/20

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Gemeinsam arbeiten Austausch in der Kleingruppe (auf einer Kirchenkreiskonferenz, auf dem Sprengeltag, der Kreissynode o. Ä., wo viele verschiedene Berufsgruppen und Ehrenamtliche zusammenkommen): Wie liest sich der folgende Text, wenn er statt von der Pfarrperson vom »multiprofessionellen Team« handeln würde? Was wäre neu? Interessant? »Die Tugend des Pfarrers ist es, dass er das Reich Gottes mehrt, den Himmel füllt mit Heiligen, die Hölle plündert, den Teufel beraubt, dem Tode wehrt, der Sünde steuert; danach die Welt unterrichtet und tröstet einen jeglichen in seinem Stande, erhält Frieden und Einigkeit, zieht ein junges Volk auf und pflanzt allerlei Tugend im Volk; kurz: Eine neue Welt schafft er und baut nicht ein vergänglich elend Haus, sondern ein ewiges schönes Paradies, da Gott selbst gern drin wohnt.«  (Luther 1530, S. 199)

Autorin Dr. Birgit Klostermeier, Regionalbischöfin i. R., ist freiberuflich tätig in Coaching und Systemischer Beratung. https://www.in-differenz-beratung.de

Literatur Aulike, Karin: Tagungskommentar, in: Wolfgang Vögele (Hg.): Auf dem Prüfstand. Personalentwicklung in der Kirche (Loccumer Protokolle 51/01), Loccum 2002, S. 127–133. Becker, Manfred: Systemische Personalentwicklung, Stuttgart 2010. Becker, Manfred: Personalentwicklung, 6. Aufl., Stuttgart 2013. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.): Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert, Hannover 2006. Kirchenleitungs-Ausschuss Institutionsberatung (Hg.): Rahmenkonzept Personalentwicklung für haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Kiel 2011. https://institutionsberatung.nordkirche.de/fileadmin/user_upload/baukaesten/Baukasten_Institutionsberatung/Dokumente/Rahmenkonzept_Personalentwicklung.pdf, abgerufen am 15.01.2021. Lückhoff, Martin: Das Pfarramt als Leitungsaufgabe in postheroischen Zeiten. Ein organisationstheoretischer Diskussionsbeitrag, in: Pastoraltheologie 110/2021, S. 37–54. Luther, Martin: Der 82. Psalm durch D.M.L geschrieben und ausgelegt (1530), WA 31, Band 1. Müller, Sabrina: Kirche als Erfahrungsraum – jenseits der Organisierbarkeit, 18.09.2020. https://www.ekd. de/ekd_de/zukunftsforum-2020-mueller-kirche-erfahrungsraum-58972.htm, abgerufen am 08.01.2021. Nassehi, Armin: Das Dilemma mit der Organisationsform der Kirche. Vortrag von Armin Nassehi zum Zukunftsforum 2020, 18.09.2020. https://www.ekd.de/orientierungshilfe-familie/zukunftsforum-2020-nassehi-organisationsform-kirche-58971.htm, abgerufen am 08.01.2021. Vögele, Wolfgang (Hg.): Auf dem Prüfstand. Personalentwicklung in der Kirche (Loccumer Protokolle 51/01), Loccum 2002. Vögele, Wolfgang/Hartmann, Christian (Hg.): Personalentwicklung und Leitungsaufgaben in den Landeskirchen (Loccumer Protokolle 52/03), Loccum 2003.

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Predigen im kirchenleitenden Amt Alexander Deeg »Ihr seid unser Brief« (2 Kor 3,2)

Einige Fragen, die in diesem Beitrag (hoffentlich) beantwortet werden: Î Gibt es das wirklich: Kirchenleitung durch das Wort? Î Wie arbeitet kirchenleitende Predigt an Bildern von Kirche? Î Wer bin ich, wenn ich kirchenleitend predige? Î Wie nehme ich Gemeinden, wie nehme ich Menschen sprachlich wahr? Î Warum eigentlich gibt es (immer noch) Grußworte?

1 Luthers aktive Passivität und evangelische Gelassenheit oder: Kirchenleitung durch das Wort Drei Vorbemerkungen sind wichtig. Erstens: Jede Predigt ist kirchenleitende Predigt – ganz bestimmt nicht nur die Predigt von Menschen in kirchenleitenden Ämtern. Zweitens: Kirchenleitung geschieht durch alle Christenmenschen. Theologisch präziser wäre zu sagen: Gott selbst leitet seine Kirche durch Menschen, die er in seinen Dienst ruft. Und drittens: Ganz bestimmt ist nicht nur das Predigt, was in einem Gottesdienst durch eine:n dazu Beauftragte:n und vom Ort der Kanzel, eines Ambos oder sonstigen Pultes geschieht. Wenn Luther Römer 10,17 mit »So kommt der Glaube aus der Predigt« übersetzt, so merkt die Lutherbibel 2017 zu Recht an: »andere Übersetzung: ›aus dem Hören‹«. Luther verweist mit seiner Übersetzung darauf, dass überall dort gepredigt wird, wo menschliche Worte so gehört werden, dass Glaube entsteht: auch am Krankenbett und Gartenzaun, beim Kaffeetrinken und im Bibelkreis; sicher durch die, die rite vocati (ordentlich berufen) sind (Confessio Augustana XIV), aber ebenso durch all die anderen Getauften – und Gott sei Dank auch durch Menschen, die mit Kirche gar nichts zu tun haben (wollen).1 Gottes Möglichkeiten übersteigen die Grenzen menschlicher Institutionen! Wo immer in diesem weiten Sinn »gepredigt« wird, konstituieren menschliche Worte Kirche und geschieht Leitung der Kirche durch Gott selbst. So jedenfalls die evangelische Grundthese: Kirche wird durch das Wort geleitet, das deshalb im Schriftbild hervorgehoben werden muss, weil es nicht mit den vielen Worten identisch ist, die wir machen, und weil jede Identifikation unserer Worte mit dem Wort entweder anmaßend oder einfach lächerlich wäre. Martin Luther hat die Wirkung dieses Wortes eindrucksvoll erfahren. Im März 1522, in stürmischen Zeiten der reformatorischen Bewegung, kehrte er von der Wartburg nach Wittenberg zurück. Dort hatten Johannes Bugenhagen und andere Bilder, Statuen und 1 Ein eindrucksvolles Beispiel (unter ganz vielen anderen) ist das neue Buch von Wolf Biermann: Mensch Gott!, Berlin 2021. Im Klappentext heißt es, das Buch versammele »Gedichte und Texte eines Ungläubigen im lebenslangen Disput mit Gott«.

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Altäre aus den Kirchen entfernt und die Messe auf Deutsch gefeiert. Luther ging das zu schnell. Nicht mit Gewalt, allein durch das Wort solle die Verwandlung der Kirche geschehen. Und so begann er am Sonntag Invokavit, 9. März 1522, eine Reihe von Predigten. Am Montag, in der zweiten Predigt, sagte er: »[…] ich habe allein Gottes Wort getrieben, gepredigt und geschrieben, sonst habe ich nichts getan. Das hat, wenn ich geschlafen habe, wenn ich Wittenbergisch Bier mit meinem Philipp Melanchthon und mit Amsdorf getrunken habe, soviel getan, dass das Papsttum ganz schwach geworden ist, dass ihm noch nie ein Fürst oder Kaiser soviel Abbruch getan hat. Ich habe nichts getan, das Wort hat es alles bewirkt und ausgerichtet.« (WA 10/3,18–19; Orthografie angepasst A. D.)

Die Kirche existiert durch das Wort, das in Spannung zu jeder institutionellen Verfasstheit steht

Luther beschreibt eine eigentümliche Form aktiver Passivität und führt evangelische Gelassenheit vor Augen und Ohren, die nichts zu tun hat mit Fatalismus und erst recht nichts mit Trägheit, sondern mit der grundlegenden Erwartung Gott, der in, mit und unter seinem Wort handelt. Luther führt die Kirche als »Gottesprojekt«, klassisch lateinisch formuliert: als creatura verbi (Geschöpf des Wortes) vor Augen. Kirchenleitung durch das Wort setzt eine Haltung der Erwartung voraus, die gelassen und hoffnungsvoll macht. Luther hatte kein Kirchenentwicklungsprogramm, kein neues Leitbild für eine veränderte römische Kirche, und er stellte auch keine Überlegungen zum kirchlichen Changemanagement an. Es ging ihm allein um das Wort, das Kirche schafft, erhält und verändert. Im Unterschied zur römischen Kirche, die sich auf die Hierarchie von Papst, Bischöfen und Priestern und auf die ontologisch gedachte Christusrepräsentanz in den geweihten Männern stützte, wagte Luther das Experiment, Kirche radikal vom wirksamen Wort her zu denken. Freilich: Es kann gefragt werden, ob er dabei einigermaßen utopisch die unerlässliche Institutionalisierung mit ihren Herausforderungen zu wenig bedachte. Sie holte ihn dann selbst immer wieder ein und nötigte ihn dazu, Ordnungen zu erstellen und Regelungen zu treffen.

Aber gerade weil das so ist, erscheint die Erinnerung an Luthers aktive Gelassenheit in der Erwartung des Wortes wichtig – vor allem für Menschen, die in besonderer Weise in der Kirchenleitung Verantwortung tragen. Eckhard Gorka (2011, S. 38) schreibt: »Kirchenleitende Predigt hat es […] damit zu tun, diese Mitte immer wieder in die Mitte zu rücken.« Das Wort in die Mitte zu rücken, ist insofern gar nicht so leicht, als wir dieses Wort nicht »haben«, sondern permanent erwarten. Es bleibt verbum externum, äußeres Wort.

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Predigen im kirchenleitenden Amt

In besonderer Weise richtet sich die evangelische Erwartung auf die Worte, Bilder und Geschichten der Bibel und darauf, dass im immer neuen Lesen und gemeinsamen Hören auf diese menschlichen Worte etwas Neues geschehe: Gottes Wort, das nicht einfach bestätigt, was wir schon wissen, oder belegt, was wir gerade gesagt haben. Hörer:innen kirchenleitender Predigt werden merken, ob die Predigenden in dieser hermeneutischen Perspektive reden oder ob sie die Bibel eher als traditionelle Last erleben oder sie als Sprungbrett für ihre eigenen Überlegungen, als Legitimationsinstanz ihrer eigenen Aussagen bzw. als ornamentale Zierde für ihre Kanzelrede ge- bzw. missbrauchen. Zur Kirchenleitung durch das Wort gehört zunächst das Hören auf das Wort. Dietrich Bonhoeffers Überlegungen zum »Gemeinsamen Leben« stammen gewiss aus einer völlig anderen Zeit und atmen den Geist einer heute nicht mehr vorstellbaren Autorität, aber sie erscheinen mir als Lektüre für Menschen im geistlichen Amt und erst recht in kirchenleitender Funktion bleibend bedeutsam. Durch die regelmäßige Praxis der Lektüre der Bibel würden wir, so Bonhoeffer (1988, S. 46), »aus unserer Existenz herausgerissen und mitten hineinversetzt in die Geschichte Gottes auf Erden«. Bonhoeffer weiß, dass sich die Bibellektüre immer wieder gegen den Druck des vielen, das weit dringender getan werden müsste, rechtfertigen muss. Es kostet Energie, angesichts eines vollen Kalenders und knapp bemessener, falls überhaupt noch vorhandener »Freizeit« im kirchenleitenden Amt Bibel zu lesen – nicht, weil man das müsste (um die nächste Predigt oder Andacht vorzubereiten), sondern weil es zur eigenen christlichen und theologischen Existenz gehört. Eines der kostbarsten Güter des Lebens im kirchenleitenden Amt dürfte die Zeit sein. Ohne diese Zeit aber, das bemerkte Wolfgang Trillhaas im Vorwort zum ersten Heft der »Göttinger Predigtmeditationen« (1946), werde es keine Predigt geben, die diesen Namen verdient: »Die Notstände wachsen uns über den Kopf. Und dann tritt die Folge ein, die für alle geistlichen Dinge tödlich ist: man hat keine Zeit. ›Zeithaben‹ bemißt sich freilich nicht nach der Uhr. Es ist eine Sache der äußeren Ruhe, der inneren Sammlung und Stille, des Gebets. Ohne dieses Zeithaben gibt es keine Seelsorge, höchstens Fürsorge; ohne dieses Zeithaben gibt es keine Zwiesprache, höchstens flüchtiges Hinhören. Ohne dieses Zeithaben gibt es keine Predigt, höchstens ein Reden.« (Trillhaas 2020, S. 6) So führt die evangelische These von der Kirchenleitung durch das Wort zu grundlegenden Fragen zum Leben im kirchenleitenden Amt, zur eigenen Spiritualität, zur Bedeutung von Bibel und Theologie, zu Aus-Zeiten und Frei-Zeit. Es geht um nicht weniger als den Habitus Kirchenleitender, der mit der Frage nach homiletischer »Authentizität« einhergeht: Nimmt man mir ab, was ich sage? Das entscheidet sich bekanntlich nicht allein am Manuskript meiner Rede, sondern vor allem durch die Wirkung meiner Person. Bin ich selbst gelassen und im besten Sinn bescheiden? Wie wichtig nehme ich mich? Wie sehr gelingt mir selbstironische Distanzierung? Rede ich in der Erwartung und Bereitschaft, mich von dem Wort in meinen Worten unterbrechen zu lassen? Oder bin ich Kirchenmanager:in, der:die ganz im Jargon der Organisation aufgeht, den Eindruck vermittelt, dass Wohl, Wehe und Zukunft der Kirche allein von unseren Entscheidungen abhinge und so das »Jenseits des Glaubens« längst aus dem Blick verloren hat (vgl. Hermelink 2011a)?

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2 Kirchenleitende Predigt als Arbeit an Kirchenbildern

Gelingt es der Predigt eine Gemeinschaft zu konstituieren, die weiß, dass sie miteinander handeln kann?

Person und Predigt lassen sich so wenig trennen wie Form und Inhalt. Daher ist die Frage nach dem Habitus, der Haltung kirchenleitender Predigt so wichtig. Wie aber redet sie inhaltlich von der Kirche? In ihrer Studie zu kirchenleitender Predigt geht Alexandra Eimterbäumer (2018, S. 17) von der These aus, dass bereits die Art und Weise, wie Kirche in diesen Predigten beschrieben wird, als die entscheidende »kybernetische Funktion der Predigt« bestimmt werden kann. In eine ähnliche Richtung weisen die Überlegungen des Göttinger Praktischen Theologen Jan Hermelink (2011b), der kirchenleitende Predigt als Arbeit an (Kirchen-)Bildern und als Transformation der leitenden Bilder von Kirche beschreibt. Es geht also um Wahrnehmung, Darstellung und bewusste Transformation von Kirchenbildern; mit Luther wäre dazu noch die Erwartung entscheidend, dass sich in, mit und unter kirchenleitender Predigt ganz neue Bilder von Kirche einstellen, die vielleicht auch die Predigenden selbst noch gar nicht »haben«, wenn sie auf die Kanzel steigen, die ihnen aber als Höreindruck nach der Predigt zurückgemeldet werden. Predigt ist (wie jeder Akt der Kommunikation) immer mehr als nur die Weitergabe von bereits vorhandenen Erkenntnissen. Auch die monologe Predigt ist offenes Kunstwerk und in diesem Sinn auf die Eigenaktivität der und Ergänzung durch die Hörenden angewiesen. Es ist schade, dass die Hörenden so selten mit ihren Höreindrücken zu Wort kommen – obwohl Luther (um nochmals an ihn zu erinnern) doch etwas ganz anderes wollte: Die Gemeinde beurteilt die Predigt, so betonte er in seiner Schrift »Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen. Grund und Ursache aus der Schrift« (WA 11,408–416, 1523).2 Luther schreibt: »Hie siehest du klar, wes das Recht ist, zu urteilen die Lehre. Bischof, Papst, Gelehrte und jedermann hat die Macht zu lehren, aber die Schafe sollen urteilen, ob sie Christi Stimme lehren oder der Fremden Stimme.« (WA 11,40; Orthografie angepasst A. D.) Kirchenleitende nehmen Kirche und Gemeinden wahr – hoffentlich nicht nur abstrakt, sondern so konkret, dass Hörende ihre eigenen Wahrnehmungen in einer überraschenden Brechung und neuen Perspektive wahrnehmen können. Und hoffentlich auch nicht nur negativ, wie es meiner Wahrnehmung nach gegenwärtig zu oft geschieht. Es ist entscheidend, auf das Framing unserer Rede von Kirche zu achten. »Die Kirche stirbt«, so ist zu hören und zu lesen, und der Blick bleibt oft bei den Statistiken des Niedergangs hängen (vgl. Deeg 2021). Keine Frage: Zur Wahrnehmung gehört Realismus. Entscheidend wäre aber genau deshalb eine kritisch-unterscheidende Wahrnehmung der Pro­ bleme, aber auch der Chancen, des Schwierigen und Schönen. Gleichzeitig wird sich die kirchliche Wahrnehmung dann als transformierend erweisen, wenn sie die Kirche, wie sie ist, einzeichnet in die »große Geschichte«, durch die die Gemeinde vor Ort Teil der Story Gottes mit seinem Volk Israel und der Welt wird, verbunden mit den anderen Gemeinden in der Region, der Landeskirche, der weltweiten Ökumene, eingebunden in den Sozialraum, in dem sie lebt und der voller Potenziale ist: Die Menschen »da draußen« sind nicht einfach die zu »rettende« oder zu »missionierende« Welt, sondern Gottes Geschöpfe und als solche Menschen, die schon längst von Gott erreicht sind und die auch der Gemeinde etwas zu sagen haben. Einen weiteren Aspekt der Transformation beschreibt Christel Weber (2019) in ihrer Dissertation zur prophetischen Predigt. Sie versteht prophetische Predigt als eine Rede, die Hörende in eine gemeinsam handlungsfähige Gemeinde verwandelt. Nach Webers Ein2 Luthers Schrift war an den Rat und die Kirchengemeinde der Stadt Leisnig (an der Freiberger Mulde) adressiert.

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Predigen im kirchenleitenden Amt

schätzung liegt ein wesentliches Problem vieler Predigten darin, dass sie die Hörenden vereinzeln. Besonders ethische oder politische Predigten führen dann zu einem diffusen schlechten Gewissen, weil »ich« ja etwas tun sollte, aber gar nicht genau weiß, was und wie ich das schaffen soll. Wie wäre es, so Weber, wenn Predigt stattdessen durch die Rede eine Gemeinschaft konstituieren würde, die weiß, dass sie miteinander handeln kann? Theologischer gesprochen: Wenn den Einzelnen neu bewusst würde, dass sie Glieder am Leib Christi sind? In der Einleitung ihres Buches verweist Weber auf eine kurze Predigt von Desmond Tutu aus der Hoch-Zeit der Apartheid in Südafrika.

 Die Gemeinde in der St. George’s Cathedral feierte Gottesdienst. Das Gebäude wurde von Polizei und Militär umzingelt. Dreimal mehr Soldaten und Polizisten waren vor Ort als Feiernde. Desmond Tutu stand auf der Kanzel. Gerade als er mit der Predigt begann, öffneten sich die Türen und die Männer der South African Security Police traten ein und stellten sich an den Wänden der Kathedrale auf. Sie zeigten durch ihre Präsenz: »Predige du nur, wir hören genau zu. Und bei jedem falschen Wort landest du im Gefängnis.« Und faktisch sagten sie auch: »Uns gehört auch dieser Ort.« Tutu machte eine Pause, sah die Männer an und sagte: »You are powerful. You are very powerful. But you are not God. And I serve a God that will not be mocked.« Dann begann er zu lächeln – auf seine typische Art und Weise. Und fuhr fort: »Sooo! Since you’ve already lost, since you’ve already lost. We invite you today: Come and join the winning side!« Die Gemeinde sprang auf. Viele Menschen fingen an zu tanzen. Und die Polizisten wichen zurück, weil sie mit vielem gerechnet hatten, aber nicht mit einer tanzenden Gemeinde im Angesicht der massiv demonstrierten staatlichen Macht (vgl. Weber 2019, S. 17–19).

Desmond Tutu gelang es durch wenige Worte, ein Bild der Gemeinde hervorzubringen, das den faktischen Machtverhältnissen diametral entgegenstand und gerade so die Wirklichkeit veränderte. Es gelang ihm, die Furcht zu nehmen und die Gemeinde als eine Ge-

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meinschaft zu konstituieren, die mit ihrem gewaltlosen Tanz (jedenfalls für diesen Moment) die Gewalt des Staatsapparats besiegte. Zwei Nachbemerkungen zur kirchenleitenden Predigt als Arbeit an Kirchenbildern: 1. Jede Predigt führt in eine Vielfalt des Hörens. Illustrativ ist die Typologie, die die dänische Homiletikerin und Bischöfin Marianne Gaarden (2017) aufgrund empirischer Studien zur Rezeption von Predigten vorgeschlagen hat. Gaarden unterscheidet grob kritische, assoziative und kontemplative Hörer:innen: Die kritischen – eine eher kleine Gruppe – hören sehr genau zu und können nach dem Gottesdienst noch recht präzise wiedergeben, worum es in der Predigt ging, wie argumentiert wurde und welche Struktur die Predigt hatte. Die größte Gruppe lässt sich als assoziative Hörer:innen beschreiben. Sie wissen schon unmittelbar nach dem Gottesdienst in der Regel nicht mehr, was genau in welcher Reihenfolge gesagt wurde. Aber sie können sich an Einzelnes erinnern, an Gedanken, Bilder oder Erzählungen, die sie mit ihrer eigenen Situation in Verbindung bringen. Das merkwürdige Phänomen, dass Predigende im Anschluss an einen Gottesdienst für etwas gelobt werden, was sie nachweislich nie gesagt haben, hat mit diesem aktiv-assoziativen Hören zu tun. Die dritte Gruppe nennt Gaarden die kontemplativen Hörer:innen. Sie wissen nach dem Gottesdienst nichts mehr von der Predigt, sagen aber gerne Sätze wie: »Das hat mir heute wieder gutgetan!« In einer qualitativen Studie des Nürnberger Gottesdienstinstituts fiel ein Satz, der kontemplative Hörer:innen gut beschreibt: »Manchmal höre ich auch zu. Aber manchmal ist es einfach auch nur Kulisse; und zwar positive Kulisse, […] wenn da jemand etwas redet, was hoffentlich in irgendeiner Weise auch positiv ist.« (Gottesdienstinstitut Nürnberg o. J., S. 29–30) Diese Typen gibt es selbstverständlich nicht »rein«, und jede:r Hörer:in ist schon in ein und derselben Predigt unter Umständen kritisch, assoziativ und kontemplativ unterwegs. Aber als grobe Heuristik taugt die Typologie – und macht ebenso bescheiden wie erwartungsvoll, was die Wirkung der eigenen Predigtrede angeht. 2. In seiner Predigtlehre verweist Rudolf Bohren auf Dietrich Bonhoeffers kühnes Bild von dem als Gemeinde existierenden Christus. Predigt zeige, so Bohren (1986, S. 290), wer wir sind: »Jesus Christus als Gegenwärtigen predigen heißt, seine Gegenwart in der Gemeinde und damit seine Existenz als Gemeinde entdecken und ihn als Gemeinde existierend aufzuweisen.« Jede Predigt sei daher ein Vorgang der Entdeckung der Gegenwart Christi, der freilich niemals objektiv nachweisbar ist. Es brauche offene Augen und Ohren und den immer neuen »Selbsterweis des Gegenwärtigen« (Bohren 1986, S. 295). Und dann brauche es den Mut der Prediger:innen, den Entdeckten auch anzusagen und Sprache zu finden für das eigene »Zeugnis« seiner Gegenwart.

3 Biblische Texte zur »kirchenleitenden Predigt« Es lohnt sich, die Bibel in ihren 1.189 Kapiteln zu lesen und in, mit und unter ihr »die Kirche« zu finden. Aber es gibt Bibelstellen und ganze biblische Bücher, die sich besonders für jene lohnen, die in kirchenleitender Verantwortung predigen sollen oder/ und wollen. Im Ersten Testament ist hier besonders an das Deuteronomium zu denken, das insgesamt als Abschiedsrede (oder: Abschiedspredigt) Moses an das Volk Israel kurz vor dem Weg über den Jordan konzipiert ist. Freilich: Wir sind ganz bestimmt nicht Mose – und wären wir noch so »kirchenleitend« wichtig! Und unsere Situation ist nicht die eines Volkes, das sich nach vierzigjähriger Wüstenwanderung kurz vor dem Ziel befindet. Wir sind nicht Israel – und jede enterbende Hermeneutik der Hebräischen Bibel wäre sowie-

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Predigen im kirchenleitenden Amt

so problematisch. Aber: Es lohnt sich, die Analogie wahrzunehmen und die implizite Homiletik des Buches Deuteronomium zu entdecken: (1) Mose redet; aber mit seinem ersten Satz verweist er auf Gott als eigentliches Subjekt seiner Rede: »Der Herr, unser Gott, redete zu uns am Berg Horeb und sprach …« (Dtn 1,6). »Predigt«, die das Volk leitet, gibt es nur in dieser Verweisstruktur. (2) Der Mose des Deuteronomiums redet mutig in der ersten Person Plural: »Dann brachen wir auf vom Horeb …« (Dtn 1,19). Die große Kunst kirchenleitender Predigt dürfte immer wieder genau darin liegen, ein »Wir« zu erschaffen durch die Rede. Mose verweist auf Erinnerungen und macht sie zu geteilten Erinnerungen (auch wenn ganz sicher nicht alle Hörer:innen tatsächlich am Horeb dabei waren!). (3) Mose spricht von Gottes Dabeisein in der Geschichte, indem er auf das zeigt, was zu sehen war (vgl. Dtn 4,3), und auf das, was nicht zu sehen war (Dtn 4,15: keine Gestalt). Wenn von Gott in der Geschichte einer Gemeinschaft die Rede ist, dann geht es um wahrnehmbare Präsenz und erfahrenen bzw. erlittenen Entzug. Gott »ist« nie einfach »da« oder »dabei«. Aber Predigt bedeutet wohl immer auch den Mut, Gottes Dabeisein konkret werden zu lassen. Mose geht dieses Risiko ein und spricht sehr eindeutig von Gott und seinem Handeln. Heutige Predigende werden mit vermeintlichen Eindeutigkeiten vorsichtiger sein, aber hoffentlich immer wieder lobend das Dabeisein Gottes und klagend sein Fehlen zum Ausdruck bringen. Dass Mose ausgerechnet im erfahrenen Gericht und im Scheitern Gottes Spuren erkennt, gehört zu den Herausforderungen seiner Predigt im Deuteronomium. Gott bleibt ambivalent (vgl. Dtn 4,24.31): Er ist verzehrendes Feuer und barmherziger Gott. (4) Darüber hinaus gelingt es Mose, das vermeintliche »Einst« in ein »Heute« zu verwandeln (vgl. Dtn 5,3). Wenn Geschichte in der Predigtrede so erinnert werden soll, dass sie bedeutsam für die Gegenwart ist, dann kann dies nicht historisch, sondern nur anamnetisch geschehen. Anders formuliert: Nicht so, dass es um das geht, was einst geschehen ist und vielleicht »noch« bedeutsam sein kann (Rudolf Bohren bezeichnete das Wörtchen »noch« einmal als eines der traurigsten Worte der Predigt!), sondern so, dass es um das geht, was heute geschieht, weil es damals geschah und neu geschehen wird. (5) Schließlich: Dass Mose nicht mit dem Volk in das verheißene Land einzieht, ist bestimmt keine schlechte biblische Erinnerung für alle Kirchenleitenden: Bei aller Bürde der Aufgaben und aller Bedeutsamkeit der eigenen Rolle und Person – es geht auch ohne uns! Ein weiterer Grund für Gelassenheit im kirchenleitenden Amt! Im Neuen Testament eignet sich meines Erachtens ganz besonders der Zweite Korintherbrief für eine Relektüre aus kirchenleitend-homiletischer Perspektive – aus mindestens fünf Gründen. (1) Trotz all der Probleme, mit denen sich die Gemeinde in Korinth beschäftigt und trotz der wirklich nicht einfachen Beziehung des Apostels zu dieser Gemeinde, beginnt der Brief mit dem Gotteslob (2 Kor 1,3– 4). Das Lob wird so zur leitenden Perspektive – so, als wollte Paulus sagen: »Ja, es gibt eine Kirchenkrise – und wie!« –, entscheidend bleibt aber das Vorzeichen: Lob des Gottes allen Trostes (2 Kor 1,3). (2) Paulus verbirgt die eigenen Gefühle nicht (2 Kor 2,1–2). Der offene Umgang mit Traurigkeit,

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Bedrängnis und Mühen (vgl. 2 Kor 4,7–18) kann anregend sein für Kirchenleitende heute, die manchmal mit dem angestrengten, an sich selbst gerichteten Imperativ umzugehen scheinen: »Wenigstens du musst Zuversicht ausstrahlen und nach außen zeigen, wie heiter und allseits fröhlich es sich als Christenmensch leben lässt.« (3) Paulus radikalisiert das Bild des Leibes Christi: Gemeinde ist umfassende Leidens-, gerade so aber auch Trostgemeinschaft: »Wie ihr an den Leiden teilhabt, so habt ihr auch am Trost teil« (2 Kor 1,7; vgl. insgesamt 2 Kor 1,3–11). (4) Ob die eigene Rolle des Apostels (und der heute die Kirche Leitenden) nicht auch ganz gut als die Rolle der »Narren« beschrieben werden könnte (vgl. 2 Kor 11,16–33)? (5) Der Gemeindegründer Paulus sieht von sich selbst ab und spricht ausgerechnet der problematischen Gemeinde von Korinth zu: »Ihr seid unser Brief, in unser Herz geschrieben, erkannt und gelesen von allen Menschen!« (2 Kor 3,2) Die eigentlichen Repräsentanten der evangelischen Botschaft sind die Gemeinden, nicht die Ephoren. Und dann gibt es eine große Fülle weiterer Bibelstellen, die je für sich kirchenleitende Predigt anregen können und sich eignen, bedacht (und ggf. gemeinsam mit den jeweils angegebenen Liedern: meditiert) zu werden. Bibeltexte zum Thema Genesis 12,1–9

Vielleicht ein eher überstrapazierter, aber dennoch immer wieder lesenswerter Text. Gottes Segensverheißung, die sich mit dem Befehl zum Aufbruch verbindet (vgl. EG 428: »Komm, in unsre stolze Welt« und EG 395: »Vertraut den neuen Wegen«). Ezechiel 33,1–9

Ezechiel wird zum Wächter über das Volk gerufen. Das »Wächteramt« als traditionelle Bestimmung der Kirchenleitung lässt sich im Ausgang von (und zweifellos: im Unterschied zu) diesem Text reflektieren (vgl. EG 248: »Treuer Wächter Israel’«). Ezechiel 47,1–12

Ezechiel wird zum Ursprung des Flusses geführt; eine Anregung, über Kirchenleitung als Wegweisung zur Quelle nachzudenken (vgl. EG 383: »Herr, du hast mich angerührt«). Matthäus 5,1–12

Jesu Rede am Berg beginnt mit dem performativen Zuspruch: »Selig sind … Selig seid ihr …« – Erinnerung daran, Hörende nicht primär auf Defizite anzusprechen, sondern auf das, was sie sind (vgl. z. B. EG.BT 644: »Selig seid ihr«). Matthäus 5,13–16

Der Bergprediger setzt die Zusage fort: Salz der Erde seid ihr und Licht der Welt (vgl. EG.BT 632,2: »Ihr seid das Licht in der Dunkelheit der Welt …«). Matthäus 16,13–23

Petrus bekennt und versteht zugleich nichts; Jesus sagt ihm Großes zu (»Du bist Petrus …«) und schilt ihn massiv (»Geh weg von mir, Satan!«) – all dies bietet reichlich Anschauungsmaterial für die Frage nach der Rolle Kirchenleitender durch die Zeiten (vgl. EG 123: »Jesus Christus herrscht als König«). Lukas 5,1–11

Bereits die Petrus-Berufung zeigt den »sündigen Menschen« und den überwältigend großen Auftrag (vgl. EG 355: »Mir ist Erbarmung widerfahren«).

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Predigen im kirchenleitenden Amt

1. Korinther 3,5–17

Paulus verweist auf den »Grund«, »der gelegt ist« (V. 11) – und erinnert alle Mitarbeitenden entlastend daran, was in aller Bescheidenheit ihre Aufgabe ist (vgl. EG 243: »Lob Gott getrost mit Singen«). 1. Petrus 2,1–10

Erneut eine große performative Zusage – und zugleich eine Bibelstelle, die immer wieder zur Begründung des allgemeinen Priestertums genutzt wurde: »Ihr seid ein königliches Priestertum!« (Vgl. EG 380: »Ja, ich will euch tragen«) Hebräer

Der Hebräerbrief ist insgesamt eine seelsorgliche Predigt für die, die sich nach der Ruhe sehnen und unterwegs müde geworden sind. Gleichzeitig ist der Brief eine Einladung, in Predigten kühne theologische Bilder zu wagen, wie es der Hebräerbrief selbst tut (vgl. EG 371: »Gib dich zufrieden«).

4 Rollenklärungen: Werbeträger:in, Kontrolleur:in, Motivationstrainer:in oder einfach Pfarrer:in im Dienst der Priester:innen? Predigten werden – wie bereits erwähnt – ganz wesentlich über die Person der Redenden wahrgenommen. Das gilt für die Predigt von Bischöf:innen, Ober(landes)kirchenrät:innen, Superintendent:innen, Dekan:innen etc. sicher in besonderer Weise. Gerhard Ulrich (2001, S. 207), der ehemalige Bischof der Nordkirche, schreibt: »Seit ich das bischöfliche Amt ausübe, fällt mir auf, dass es kaum noch Situationen gibt, in denen ich einmal ›einfach so‹ meine Meinung sage oder einen unkontrollierten bissigen, humorvollen oder auch zynischen Kommentar abgebe. Die Verantwortung ist eine andere geworden.«3 Kirchenleitende sind Aushängeschilder der Kirche. Das kann extrem unfrei machen und zu einem Habitus und Gestus führen, der mit der Person – und ihrer vielfach diskutierten »Authentizität« (vgl. Wiesinger 2019) – nicht mehr viel zu tun hat. Das immer wieder karikierte Bild des bemüht dauerlächelnden Repräsentanten der Kirche ist nur allzu bekannt. Dabei wirken diejenigen, die nicht zwanghaft »gefallen wollen«, sondern sagen, was sie denken, und zeigen, was sie fühlen, weit besser. Es ist banal, aber es lohnt sich – auch auf der Kanzel – mir selbst treu zu bleiben. Es gab immens starke Predigten in Zeiten der Pandemie, die nicht einfach »Hoffnung« machen wollten und dabei die immer gleichen kirchlichen Botschaften wiederholten, sondern in denen sich Predigende die 3 Ich verweise nur auf das exzeptionelle »Wort zum Sonntag« des katholischen Sprechers Benedikt Welter am 16.01.2021 (Welter 2021).

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eigene Unsicherheit, die Angst und die Fragen eingestanden und mit den Hörer:innen nach Halt suchten, nach Gott fragten, die Klage artikulierten. Für jede:n Pfarrer:in, besonders aber für Kirchenleitende scheint mir die Rollenklärung immer wieder entscheidend. Wer bin ich und wie verstehe ich mich selbst als Predigende:r im Kontext der Kirche? Das folgende Schaubild mag als eine grobe (und selbstverständlich unvollständige und zur eigenen Bearbeitung herausfordernde) Orientierung dienen.

Werbeträger:in für die Kirche

Kritiker:in der Gemeinden und der Kirchen

Pfarrer:in im Dienst der Priester:innen … Preaching Fool

Motivationstrainer:in für alle Haupt-, Nebenund Ehrenamtlichen



Die drei Aspekte im äußeren Kreis (und weitere, die durch die leeren Kästchen angedeutet sind) kommen wohl immer miteinander ins Spiel, wenn ein:e Kirchenleitende:r predigt: Er:sie steht für die Kirche, macht Werbung oder Anti-Werbung für die Institution und zeigt, wie er:sie sich selbst zu ihr verhält. Besonders in Visitationen nimmt er:sie wahr, wie das Leben in Gemeinden funktioniert und stellt – im besten Sinne kritisch, das heißt unterscheidend – dar, was gelingt und scheitert. Immer wieder motiviert er:sie die vielen, die im Haupt- oder Neben- oder Ehrenamt aktiv sind. Letzteres verbindet sich mit der im Zentrum stehenden grundlegenden Aufgabe aller Pfarrer:innen: Sie arbeiten, um den Dienst der Priester:innen in den Gemeinden zu ermöglichen; das Pfarramt ist Dienst am allgemeinen Priestertum (vgl. Deeg 2018). Die Rolle ist daher paradox zu beschreiben – und die närrische Existenz, die Paulus vor Augen führt und die etwa Charles Campbell und Johan Cilliers allen Predigenden empfehlen, legt sich für Kirchenleitende besonders nah. Der Titel des Buches der beiden Homiletiker »Preaching fools« (Campbell/Cilliers 2012/2015) kann zweifach übersetzt werden: Es geht um die predigenden Narren oder um eine Predigt, die zum Narren hält. Beides hängt unmittelbar zusammen. Die Botschaft, um die es geht, ist immer eine, die die Weisheiten und Logiken dieser Welt »zum Narren hält« und die daher »Ärgernis« und »Torheit« (1 Kor 1,23) ist. Wenn Form und Inhalt einander entsprechen, dann sind auch alle, die diese Botschaft predigen, »närrisch« und verweisen auf Gottes große Unterbrechung dessen, was in dieser Welt gilt. Genau hier freilich liegt ein Problem für alle Pfarrer:innen, insbesondere aber für Kirchenleitende, das Søren Kierkegaard mit brennender Schärfe so beschrieben hat:

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Predigen im kirchenleitenden Amt

»In der prachtvollen Domkirche erscheint der hochwohlgeborene, hochwürdige geheime General-Oberhofprediger, der auserwählte Günstling der vornehmen Welt, er erscheint vor einem auserwählten Kreis Auserwählter und predigt gerührt über den von ihm selbst ausgewählten Text: ›Gott hat auserwählt das Geringste vor der Welt und das Verachtetste‹ – und da ist niemand, der lacht.« (Kierkegaard 1959, S. 201) Wahrscheinlich lacht doch mindestens einer: Gott. Und wundert sich über die, die in seinem Namen auftreten. Und weiß doch zugleich um die vielfache Paradoxie, die zu diesem Dienst gehört. Luthers erste seiner 95 Thesen gilt wohl in besonderer Weise für Menschen im kirchenleitenden Amt: »dass das ganze Leben Buße sei«.

5 Sieben Herausforderungen kirchenleitender Predigt – kurz beleuchtet 1. »Ich und die großen Erwartungen« oder: Glanz und Bescheidenheit Es gehört eher zu den Themen, die nicht oft in Pfarr- oder Ephoralkonventen angesprochen werden: pastoral-kirchenleitender Narzissmus. Wer irgendwann in einem kirchenleitenden Amt landet, ist in aller Regel ja nicht ganz frei davon (wie wohl niemand, der:die gern vor anderen spricht und in Gruppen von Menschen in verantwortlicher Position agiert). Gegen allzu viel Betonung der eigenen Bedeutung hilft Selbstironie und die immer neue Erinnerung an Paulus oder Luther (oder – wer mag – auch an Karl Barth und seinen ständigen Verweis auf die notwendigerweise humorvolle Theologie). Aber andererseits gilt für jede Rede: Ich muss »mich« schon auch mögen – auch in dem, was ich sage und wie ich das tue. Auch von außen sind die Erwartungen häufig groß: »Da kommt ein:e Kirchenleitende:r – das wird dann wohl eine ganz besondere Predigt werden!« Und dann sind alle Augen auf den:die Prediger:in gerichtet – und vielleicht stellt sich eine Erfahrung ein, die der nicht unähnlich ist, die Kurt Ihlenfeld in seinem Roman »Wintergewitter« (2014) beschrieben hat. Er erzählt von einem Pfarrer am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags. Der Heilige Abend ist vorbei – und jetzt streift das Tageslicht die Hülle des Geheimnisses ab. So viele Augen sehen nun auf ihn, den Pfarrer – und er hat nichts zu bieten, weil in ihm selbst nichts übrig ist von der Stimmung der Heiligen Nacht. Im Roman heißt es: »Der Glaube ist keine gleichbleibende Größe wie das Kirchenjahr. Plötzlich türmen sich die Hindernisse auf […]. Die Worte hatte ich, aber die Sache war mir fern. Das gibt es, es war nicht das erstemal, daß ich das erlebte. Ich ging auf die Kanzel, in dem Bewußtsein, eine einstudierte Rolle herzusagen. In mir war nichts, was die Rolle in Leben verwandelt hätte. So stand ich vor der Gemeinde. Hunderte von Augenpaaren sahen auf mich. Sie sollten lieber auf den Engel sehen, dachte ich, der zu den Hirten kommt. Ich hatte ja nur etwas aufzusagen. Und war freilich entschlossen, es so gut, so deutlich, so überzeugend zu tun, wie ich nur vermochte. Mit anderen Worten: Ich versteckte mich geradezu hinter der Sache, dem Wunder, hinter dem Geheimnis.« (Ihlenfeld 2014, S. 208–209) 2. »Ich kenne die Gemeinde nicht …« oder: Empathische Präsenz Etwas überspitzt gesagt: Kirchenleitende werden nicht selten auf Kanzeln gestellt und haben wenig Ahnung, wer genau vor ihnen sitzt. Sie kommen von außen – und bringen eine mehr oder weniger fertige Predigt mit. Für diese Situation habe ich – in einigen Gesprächen mit Bischöf:innen während der Entstehung dieses Textes – zwei Strategien wahrgenommen, die hilfreich sein können:

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Die Predigt lebt von Wahrnehmungen – im Vorfeld und im Moment

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– Offenheit für spontane Wahrnehmungen: Eine Möglichkeit besteht darin, in das Manuskript einer Predigt bewusst offene Stellen einzubauen, die mit Wahrnehmungen aus dem Kirchenraum (den die Gemeinde gut kennt, aber vielleicht in einem Detail, das ein Gast wahrnimmt, noch nie gesehen hat) oder aus Begegnungen mit der Gemeinde gefüllt werden können. Es ginge dann also darum, ein nicht ganz so fertiges, sondern in manchen Punkten flexibles Manuskript mitzubringen. – Die zweite Strategie nenne ich »Preaching like Martin Luther King«. Das klingt auf den ersten Blick auf jeden Fall zu groß. Was damit gemeint ist: Martin Luther King hatte – wie viele Predigende in der Tradition des Black American Preaching – ein gewisses Repertoire an Predigtsequenzen, die schon einmal gut funktioniert haben und die bei passender Gelegenheit wieder eingesetzt werden können. So kam es dazu, dass Martin Luther King am 28. August 1963 in Washington DC von seinem Traum erzählte. Die Rede nämlich lief zunächst eher zäh. Mahalia Jackson flüsterte ihm dann auf der Bühne zu: »Tell’em about your dream …« Das tat er – und die Rede wurde zu einem der beeindruckendsten Zeugnisse der (homiletischen) Rhetorik des 20. Jahrhunderts: »I have a dream« (vgl. dazu Lischer 1996). 3. »Ich und meine Konventionalität« oder: Überraschend anders oder bewusst konventionell reden? Seit vielen Jahren und faktisch in allen einschlägigen Lehrbüchern der Homiletik wird das grundlegende Problem der Predigtrede explizit oder implizit als Problem der Konventionalität bestimmt. Predigtrede ist hochgradig erwartbar in ihrem Inhalt, in ihrer Sprachstruktur, aber auch in Sprachmelodie und Gestik. Auf der einen Seite ließe sich sagen: Solide und freundliche Konventionalität ist besser als allzu bemühte Originalität. Immerhin gibt sie Hörenden Erwartungssicherheit und die Gefahr des »Fremdschämens« angesichts von allzu viel gescheiterter Kanzelinnovation ist reduziert. Selbst ein Satz wie »Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand«, den ich bei Studierenden wohl wegen des zu hohen Grades der Konventionalität kritisch angefragt und in meiner eigenen Predigt nicht verwendet hätte, kann nach Jahren noch als homiletisches Juwel Margot Käßmanns von Journalist:innen gerühmt werden.4 Auf der anderen Seite aber erscheint beinahe alles besser als die bloße Wiederholung des allzu Erwartbaren. Von dem Leipziger Sprachcoach Jörn Dege stammt die Skizze eines Koordinatensystems zur Einordnung der (Kanzel-)Sprache (Dege 2019, S. 430). Dege ordnet die Rede in die Achsen »begrifflich – anschaulich« und »konventionell – überraschend« ein. Üblicherweise bewege sich Predigtrede eher »links unten«; gut sei es immer wieder, sie ein wenig nach rechts oben zu verschieben. An dieser Stelle ein kurzes Wort zum Grußwort, das sich zur Herausforderung der Konventionalität gut fügt. Im evangelischen Magazin »Chrismon« erschien bereits 2012 »Frau Otts endgültige Absage« an das Grußwort (Ott 2012, S. 8): »Erstens sind Grußworte fast immer langweilig. […] Zweitens haben fast alle Grußworte dasselbe Pro­blem: Sie sind zu lang.« Und so laute die Frage: »Wer braucht Grußworte? Die Empfänger bestimmt nicht, eigentlich nur die Absender. Die Bürgermeisterin, der Schirmherr, der Sponsor. Sie wollen wahlweise Volksnähe oder Großzügigkeit zeigen. Ach, können die nicht wie jede gute Brauerei einfach ihr Logo auf die Einladung drucken, eine Lage Bier stiften und bei Bedarf ihre E-Mail-Adresse per Facebook bekanntgeben. […] Ach, eine Welt ohne Grußworte!«

4 Ursprünglich stammt der Satz von Arno Plötzsch; in Verbindung mit Margot Käßmann ist er vielfältig im Internet greifbar.

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Predigen im kirchenleitenden Amt

Es ist erstaunlich, wie viele Grußworte gehalten werden und wie wenig diese Redegattung wissenschaftlich reflektiert oder in Fortbildungen eigens thematisiert wird. Das Grußwort als Teil einer bürgerlichen Feierkultur bietet für Vertreter:innen der Kirchen die Chance, sich selbst, vor allem aber die Institution, für die sie stehen, ins gesellschaftliche Spiel zu bringen. Noch mehr als sonst erscheinen Kirchenleitende als öffentliche Repräsentant:innen von Kirche. Im EKD-Themenheft zum Reformationstag 2011 gab es eine von Christoph Markschies gestaltete Doppelseite mit einem »How to do Grußwort« (vgl. Markschies 2011, S. 32–33). Markschies empfiehlt, Langeweile zu vermeiden, pointiert zu formulieren, die Adressat:innen nicht aus dem Blick zu verlieren, möglichst frei vorzutragen und eine eigene Sprache zu finden. Ich würde ergänzen: Ein Grußwort zu halten, setzt voraus, etwas sagen zu wollen, lebt also von Recherche und einer Idee (die mich auch selbst überzeugt). Gleichzeitig zeigt es, wie Redende das Verhältnis der Kirche zur »umgebenden Kultur« sehen und beschreiben und wie sie in dieser Hinsicht ein Bild von Rolle und Aufgabe der Kirche in der Öffentlichkeit zeichnen. Gegen alle endgültigen Absagen gilt dann: Wenn es das Wort ist, das Kirche baut (creatura verbi), dann vielleicht immer wieder auch das Gruß-Wort. 4. »Ich habe nichts oder viel zu viel zu sagen« oder: Kurz und pointiert predigen Es ist für jede Rede gut, dann aufzuhören, wenn Redende nichts mehr zu sagen haben. Aber genau dies gelingt nicht nur bei Grußworten, sondern auch bei Predigten nicht immer. Eine Beobachtung in Zeiten der Coronapandemie war: Predigten wurden vielfach kürzer und pointierter. Und auch wenn diese Entwicklung ambivalent wahrgenommen wird, überwiegt doch der Anteil derer, die dies für eine Richtung halten, in die sich die Predigtrede weiterentwickeln wird und sollte. Anregungen und Hilfestellungen zum kurzen Predigen liegen in der Homiletik vor. – Mit dem Modell der Dramaturgischen Homiletik, das Predigt im Wechselschritt von »Moves« und »Structure« konzipiert, ist es leicht möglich, eine fokussierte Dramaturgie zu entwickeln (und Moves, die nicht nötig sind, herauszuwerfen und für eine nächste Predigt aufzuheben). Besonders hilfreich ist es, jeder Predigt einen Titel zu geben. Das kann im Vorfeld der Predigtarbeit geschehen; spätestens sollte die fertige Predigt probeweise einen Titel erhalten. Nicht selten fällt es dann schwer, wirklich einen guten und das heißt nicht zu abstrakten Titel zu finden. Manche Predigten haben eher zwei oder drei Titel oder einen sehr allgemeinen (»Die Gnade Gottes und unser Leben im Alltag«). Dann empfiehlt es sich, die Arbeit an der Predigt noch nicht zu beenden, sondern so zu fokussieren, bis klar ist, was dieses Mal der Titel der Rede ist. – Vor allem Angela Rinn (2012; 2020) hat sich intensiv mit der »Kurze[n] Form der Predigt« beschäftigt. Aus Literatur- und Neurowissenschaft versammelt sie Impulse, ebenso nimmt sie Gleichnisse Jesu als Beispiele gelingender Kurzformen auf. Die Bedeutung von Bildern, überraschenden Blickwechseln, Emotionen, vor allem aber von einer homiletischen Haltung, die Rinn »Predigende Existenz« nennt, wird deutlich.

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5. Predigt zur Visitation oder: Liebevoll gedehnter Blick In besonderer Weise werden bei einer Visitationspredigt Bilder von Kirche sprachlich hervorgebracht. Die Chance liegt vor allem in der liebevollen Wahrnehmung von außen, die aufmerksam ist für Details. Mit dem Blick von außen wird Neues und anderes sichtbar. Was gegebenenfalls lange übersehen wurde, scheint auf. Kleinigkeiten, an die sich längst alle gewöhnt haben, fallen neu ins Auge. Aber auch die sonst niemals mehr wahrgenommenen Schmutzecken der Gemeinde, die ein Aufräumen bräuchten, werden sichtbar.  Der 2018 verstorbene Schriftsteller Wilhelm Genazino zeigt in seinen Romanen und Erzählungen, was es heißt, genau hinzusehen. Genazino selbst spricht von einem »gedehnten Blick« und beschreibt diesen in einem seiner Bücher (vgl. Genazino 2004). Es geht darum, länger als üblich hinzusehen; den Blick nicht zu schnell abzuwenden. Kirchenleitendes Leben sollte den gedehnten Blick immer neu einüben, um so auch Gemeinden, Einrichtungen und Dienste mit liebevoll-präzisen Wahrnehmungen überraschen zu können.

Zwei Ausprägungen einer Predigt zur Visitation erscheinen problematisch: die Predigt als Ausdruck kirchenamtlich-hierarchischer Kontrolle einerseits, die bloße Laudatio andererseits. Klar: Ohne diese beiden Aspekte wird es nie gehen. Das Kontrollmodell kann nicht völlig zurückgedrängt werden, denn es kommt nun einmal jemand von außen und vertritt die »Leitungsebene«. Anstatt dies zu verdrängen, ist es besser, sich reflektiert dazu zu verhalten. Aber auch das (ungebrochene) Lob ist problematisch; nicht nur, weil es der Realität unter Umständen wenig entspricht, sondern auch, weil auch durch das Lob ein kommunikatives Gefälle geschaffen wird: Es gibt die Instanz, die loben darf! Jenseits von Kritik und Lob liegt eine Haltung der Exploration und Entdeckung, die die Neugier an der Wahrnehmung mit der Schilderung von Konkretem verbindet – und dies einordnet in größere Zusammenhänge und so den Blick verändert, weitet oder verschiebt.

Predigende können anlass­ gebundene Personen in Predigten liebevoll porträtieren und mit biblischen Bildern verbinden

6. Ordination, Einführung, Verabschiedung … oder: Das Problem der Predigthäufung und die Chance des homiletischen Porträts Ein Übel von Liturgien zu diesen Anlässen ist die Predigthäufung. Da predigt der frisch Ordinierte und die Bischöfin predigt auch, und nicht zuletzt die Rede des Kirchenvorstandes hört sich wie eine Predigt an. Die spezifische Aufgabe der Kirchenleitenden liegt bei diesen Kasualien in der Gestaltung eines homiletischen Porträts, das die konkrete Lebensgeschichte mit dem Kontext der Gemeinde und Kirche einerseits, mit den Worten, Bildern und Geschichten der Bibel andererseits verbindet. Es geht also zunächst darum, die Person sprachlich in ihrer Unverwechselbarkeit liebevoll (!) darzustellen. Lieblos wirken Auszüge aus Personalakten (und seien sie mit noch so viel Selbstironie ins Spiel gebracht). Liebevoll sind einzelne Beobachtungen aus Erlebnissen mit der Person, die nicht bloßstellen, sondern den Menschen in seiner unverwechselbaren Schönheit zeigen.  Wie ein gemaltes Porträt ist auch die Erstellung eines sprachlichen Porträts eine Kunstform. Herausragend gelingt dies meiner Wahrnehmung nach immer wieder Journalist:innen des Berliner Tagesspiegels, die wöchentlich Nachrufe auf bekannte, vor allem aber auf völlig unbekannte Berliner:innen schreiben (vgl Tagesspiegel). Ein Leben wird so ins Relief gehoben, wofür kleine Details (Bewegungen, Worte, Aspekte der Einrichtung der Person, einzelne Erlebnisse …) eine entscheidende Rolle spielen.

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Predigen im kirchenleitenden Amt

7. »Ich und meine/unsere Müdigkeit« oder: Seelsorge an den müden Gliedern Bereits 2010 hat der Philosoph Byung-Chul Han unsere Gesellschaft als »Müdigkeitsgesellschaft« beschrieben (vgl. Han 2010). Durch die Coronapandemie hat sich diese Müdigkeit verstärkt. Viele sind erschöpft, was immer eine Folge der fehlenden Kongruenz von eingesetzten Ressourcen und erreichten Zielen ist. Das gilt gerade für Pfarrer:innen in den Gemeinden, deren Arbeit sich verkomplizierte und verdichtete, die aber gleichzeitig mit der Kritik leben müssen, dass vieles nicht mehr ist wie vorher. Kirchenleitende Predigt ist Seelsorge an den müden Gliedern. Am ehesten gelingt sie wohl dann, wenn sie sprachlich die Trostgemeinschaft des Leibes Christi neu hervorbringt (vgl. 2 Kor 1,3–11) und sich inhaltlich an den Trost- und Hoffnungsbildern der Bibel orientiert. Glaubwürdig wird sie, wenn sich auch Kirchenleitende in ihren Predigten ihre eigenen Müdigkeiten eingestehen und sich mit den Hörenden ausstrecken nach dem Gott, der den Müden neue Kraft gibt, »dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler« (Jes 40,31).

Autor Dr. Alexander Deeg ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig und Leiter des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD. [email protected]

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Kerstin Lammer Î Wie können ordinierte Pfarrer:innen gegenüber Mitarbeitenden ihre Rollen als Seelsorger:innen und als Dienstvorgesetzte auseinander- bzw. zusammenhalten? Î Welche Konfliktkonstellationen und Fallgruppen kommen häufig vor? Î Welche Lösungsansätze bieten sich an? Und auf welchen Ebenen? Î Welchen Lösungsansätze liegen in meinem eigenen Einflussbereich – wie kann ich mich als Pfarrer:in im Rollenkonflikt selbst steuern? Î Welches Leitungskonzept kann ich mir als Pfarrer:in zu eigen machen, um beiden Rollen gerecht zu werden?

1 Der Rollenkonflikt ist berufsbedingt Ordinierte Pfarrer:innen stehen auf allen Ebenen der evangelischen Kirche in Dienstvorgesetztenverhältnissen zu Mitarbeitenden (teils auch zu ordinierten Kolleg:innen). Zugleich sind sie durch das Pfarrdienstgesetz der EKD, durch Ordinationsvorhalte, Kirchenverfassungen und Kirchenordnungen zur Seelsorge verpflichtet – auch zur Seelsorge an Mitarbeitenden. Ihnen wird abverlangt, Mitarbeitenden und Kolleg:innen auf der einen Seite seelsorglich zugewandt zu begegnen und ihnen gegenüber auf der anderen Seite als Dienst- und Fachvorgesetzte zu handeln: (an-)leitend, führend, über ihre beruflichen Optionen entscheidend und möglicherweise sogar disziplinarisch maßregelnd. Diese beiden Rollen miteinander zu vermitteln (in der eigenen Person und im Gegenüber zu anderen), ist per se ein schwieriger Balanceakt. Wenn Pfarrer:innen dadurch in Konflikte geraten, ist es kein Anzeichen von persönlichen Defiziten oder Inkompetenz. Vielmehr handelt es sich um einen mit dem Pfarrberuf unvermeidlich gegebenen Rollenkonflikt, und es ist eine stetige Herausforderung, beide Rollen immer wieder neu reflektiert und für andere transparent, sprich: professionell, zu vermitteln. Einige evangelische Landeskirchen in der EKD versuchen die Spannung zwischen Seelsorgerolle und Dienstvorgesetztenrolle kirchen- bzw. dienstrechtlich nach der einen oder der anderen Seite hin einseitig aufzulösen bzw. voneinander zu trennen: Dienstvorgesetzte dürfen dann nicht mehr als Seelsorger:innen derjenigen fungieren, denen sie vorgesetzt sind, sondern müssen die Seelsorgerolle an Dritte abgeben oder umgekehrt. Andere sind der Auffassung, dass die Rollenspannung unauflöslich zum geistlichen Amt gehört und zusammengehalten statt aufgelöst werden muss. Der Rollenkonflikt bleibt aber auch dort bestehen, wo eine dienstrechtliche Trennung verordnet wird. Denn die Kommunikation zwischen den beteiligten Personen wird jenseits juristischer Regelungen immer von geprägten Kirchen- und Pfarrbildern, kirchlicher Kultur und Felddynamiken, von religiöser und beruflicher Sozialisation und Identifikation etc. beeinflusst sein. Nicht von ungefähr wird in Literatur und Volksmund der Begriff »Seelsorger:in« oft synonym mit den Begriffen »Pfarrer:in« oder »Pastor:in« gebraucht. Wir wissen aus Kirchenmitgliederbefragungen (insbesondere KMU II–IV;

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Im Pfarrberuf sind Konflikte zwischen den Rollen als Seelsorger:in und als Dienstvorgesetzte:r unvermeidlich. Beide Rollen professionell miteinander zu vermitteln, ist eine schwierige Herausforderung

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KMU V hat anders gefragt) und Pfarrer:innenbefragungen, dass Kirchenmitglieder von ihrer Kirche und deren Funktionsträger:innen vor allem seelsorgliche Zuwendung und Begleitung (etwa an Krisen- und Wendepunkten bzw. in den Wechselfällen des Lebens) erwarten und dass Pfarrer:innen sich mehrheitlich (neben der Predigtaufgabe) vor allem mit der Seelsorgeaufgabe identifizieren. Dies dürfte die Dienstvorgesetztenrolle vielfach überlagern. Orientierung zwischen eigenen und fremden Rollenerwartungen, inneren und äußeren Ansprüchen und in den Grauzonen der davon geprägten Kommunikation zu finden, bleibt eine der schwierigsten professionellen Aufgaben im Pfarrberuf. Dies ist bislang pastoraltheologisch, pastoralpsychologisch, berufssoziologisch/organisationstheoretisch und auf der Ebene kirchenleitenden Handelns noch zu wenig bearbeitet. Der Seelsorgeausschuss der VELKD hat sich dieser Thematik in seiner aktuellen Amtsperiode angenommen: mit einer Fachtagung im Studienseminar Pullach im Mai 2019, einem Tagungsband hierzu und einer Handreichung »Self-Management in Roles«, die demnächst erscheint (Grimm/Lammer/Raatz im Druck)1. Im nachstehenden Artikel verarbeite ich einige meiner eigenen Textbeiträge zu der im Erscheinen begriffenen Handreichung. Für eine weitergehende Auseinandersetzung mit der Thematik seien die beiden genannten ausführlicheren Schriften empfohlen.

2 Konfliktkonstellationen und Lösungsebenen Einige häufige Konfliktkonstellationen in der pfarrberuflichen Doppelrolle als Seelsorger:in und Dienstvorgesetzte:r sind (→ Kap.  5 Dienstrecht): – Mehr- und Minderleistungen: Wäscht eine Hand die andere, wenn Mitarbeitende einerseits Überstunden oder ehrenamtliches Zusatzengagement erbringen, andererseits aber gewissen Freiheiten hinsichtlich ihren Dienstund Anwesenheitszeiten erwarten? Müssen im Kollegium die »Starken« die »Schwachen« mittragen, dürfen die einen sich auf Kosten der anderen Schwachheiten leisten? – Veruntreuung: Darf/muss/soll die Pfarrerin besondere Kontrolle über die Abrechnungen der Mitarbeitenden ausüben, die ihr zuvor seelsorglich anvertraut hat, dass ihre Familie in Geldnöten ist? – Sucht: Der Pfarrer kennt aus Seelsorgegesprächen die speziellen Bedräng1 Die vollständige bibliografische Angabe lautet: Grimm, Angela/Lammer, Kerstin/Raatz, Georg (Hg.): SelfManagement in Roles. Seelsorge und Dienstvorgesetztenverhältnis im ordinierten Amt. Handreichung. Im Auftrag der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) erarbeitet vom Seelsorgeausschuss der Kirchenleitung der VELKD, Hannover, im Druck. Die Doppelverwendung betrifft besonders S. 8 und S. 41–48.

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nisse, die den Mitarbeiter zur Flasche greifen lassen. Wie geht er damit um, wenn der Mitarbeiter alkoholkonsumbedingt ausfällt? – Grenzüberschreitung: Der Kollege erzählt der Pfarrerin vertraulich, wie attraktiv er eine Konfirmandin oder eine Mitarbeiterin findet und wie gern er ihr näherkommen möchte. Was nun? – Glaubensfragen: Ein Mitarbeiter hat der Pfarrerin von seinen Glaubenszweifeln erzählt. Darf die Pfarrerin nun dessen Dienstfähigkeit bzw. professionelle Performance hinterfragen? Im nachstehenden Abschnitt werden zwei Fallbeispiele ausführlich analysiert und Lösungsmöglichkeiten durchdekliniert. Was schon mal funktioniert hat (Lösungsebenen) 1. Vorbeugend: Personalführungsinstrumente wie wöchentliche oder monatliche Dienstbesprechungen und Jahresdienstgespräche sicher einsetzen; geeignetes Führungsmodell aneignen (z. B. Servant Leadership nach Robert Greenleaf2). 2. Selbststeuernd: Gesprächssituationen unterscheiden, Rollenklarheit gewinnen, Feldkenntnisse und juristische Kenntnisse einsetzen. 3. Unterstützend: Geeignete Beratungs- und Trainingsmöglichkeiten für sich selbst und für die betreffenden Mitarbeitenden auswählen: Kollegiale Beratung, Supervision, Coaching und Fortbildung. 4. Kirchenleitend: In Aus- und Fortbildungscurricula Rollenklarheit und Umgang mit Rollenspannungen verankern; Präventionspläne gegen Grenzüberschreitungen implementieren; Ordinierte auf einer anderen Körperschaftsebene als Mitarbeitende anstellen; Seelsorgeangebote außerhalb der disziplinarischen Hierarchie schaffen (Prälaten etc.).

Die nachstehenden Fallbesprechungen sind auf die zweite Ebene der Selbststeuerung konzentriert, denn hier ist der Einfluss der handelnden Pfarrer:innen am stärksten.

2 Der Ansatz ist in der oben genannten Handreichung des Seelsorgeausschusses der VEKLD von 2022 skizziert und hier ausführlich nachzulesen: Zirlik 2020; Greenleaf 1977.

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3 Selbststeuerung: Was im konkreten Fall funktionieren kann

Fragen zur Reflexion a. Auf welchem »Ohr« werde ich gerade angesprochen? b. Welchen Appell höre ich? c. Welchen Hut habe ich gegenüber dem:der Mitarbeitenden gerade auf? d. Was ist unter diesem Hut meine Aufgabe/meine professionell angemessene Antwort?

Wie kann ich a+b vs. c+d unterscheiden, verbinden oder voneinander trennen? Die Spannung von Seelsorge- und Dienstvorgesetztenfunktion im konkreten, individuellen Fall auf der Ebene der Selbststeuerung zu managen, erfordert eine aufmerksame Wahrnehmung eigener Gefühle und Impulse, ein genaues Nachfragen nach den Wünschen und Erwartungen der Mitarbeitenden, Reflexionen pastoraltheologischer, pastoralpsychologischer, rollentheoretischer und organisationstheoretischer Art und eine bewusste und transparente Abwägung und Vermittlung zwischen alledem. Wie dies funktionieren kann, wird hier nachstehend anhand von zwei Fallbeispielen illustriert.

  Fallbeispiel Veruntreuung  

Eine Mitarbeiterin bittet die Pfarrerin um ein Seelsorgegespräch und vertraut ihr die finanziellen Probleme in ihrer Familie sowie die ihnen zugrundeliegenden Umstände an. Später stellt sich heraus, dass sie bei der Abrechnung einer Kinderfreizeit der Gemeinde höhere Ausgaben abgerechnet hat, als tatsächlich angefallen sind, und die Mehrbeträge veruntreut hat, um private Ausgaben zu finanzieren. Die Pastorin erteilt ihr eine Abmahnung. Daraufhin rügt sie ihr eigener Vorgesetzter, sie sei ihrer Dienstaufsichtspflicht für die Mitarbeiterin im Vorfeld nicht genügend nachgekommen. Die Pfarrerin beruft sich darauf, sie habe das Seelsorgegeheimnis wahren müssen. Hätte sie die Mitarbeiterin unter Verdacht gestellt und deren dienstliche Abrechnungen besonders gründlich kontrolliert oder kontrollieren lassen, nachdem sie aus dem Seelsorgegespräch von angespannter privater Fi-

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nanzlage wusste, hätte ihr umgekehrt die Mitarbeiterin einen Bruch des Seelsorgegeheimnisses vorzuwerfen gehabt.

a)  Pastoraltheologische Analyse Pastoraltheologisch ist nach den verschiedenen Aspekten von Amt, Auftrag und Berufsethik im Pfarrberuf zu fragen. Im geschilderten Fall wird der Konflikt zwischen den beiden pastoralen Rollen als Seelsorgerin und als Dienstvorgesetzte sehr deutlich: Für welche der beiden Rollen sich die Pfarrerin auch entscheidet, sie läuft Gefahr, die jeweils andere Verpflichtung zu verletzen. Initial hat sie sich an ihren Seelsorgeauftrag gebunden und diesen auf Anfrage auch der Mitarbeiterin gegenüber erfüllt: Sie gab der Mitarbeiterin Raum zur Thematisierung ihrer persönlichen Not. Erst später, als sie disziplinarisch gegen die Mitarbeiterin vorgehen muss, wird das Problem deutlich: Seelsorgegeheimnis vs. Dienstaufsichtspflicht. Berufsethisch und rechtlich stellt sich vor dem Hintergrund des Seelsorgegeheimnisses die Frage: Darf, soll oder muss die Pastorin das Thema der materiellen Not der Mitarbeiterin, nachdem ihr dies seelsorglich anvertraut wurde, auch in einen potenziellen Zusammenhang zum Umgang der Mitarbeiterin mit ihr dienstlich anvertrauen Geldern setzen? Darf, soll oder muss sie das Thema auch dienstaufsichtlich berücksichtigen – oder gerade nicht? Hier hilft zunächst die Überlegung, worauf genau sich das Seelsorgegeheimnis bezieht: Unter dem Seelsorgegeheimnis stehen der private Geldmangel der Mitarbeiterin und ihr privater Umgang mit dem Geld der Familie – diese darf die Pfarrerin nirgends außerhalb des Seelsorgegesprächs thematisieren! Das heißt aber nicht, dass für die Pfarrerin nun in Bezug auf die Mitarbeiterin das Thema »Geld« allgemein tabu wäre – oder speziell der Umgang der Mitarbeiterin mit dem Geld der Gemeinde. Letzteres darf und muss selbstverständlich Thema ihres dienstaufsichtlichen Handelns bleiben. Berufsethisch fragwürdig wäre es, wenn sie der Mitarbeiterin aufgrund des Seelsorgegesprächs eine Tendenz zur Veruntreuung unterstellen und stärkere Kontrollen veranlassen oder wenn sie im Gegenteil Kontrollen unterlassen würde. Angemessen ist dagegen ein reguläres Controlling, wie es auch ohne das Seelsorgegespräch stattzufinden hätte. Eine vorbeugende Lösung wäre gewesen, beide pastoralen Rollen bzw. Aufträge nicht voneinander zu trennen, aber klar zu unterscheiden: Die Pfarrerin könnte bereits im Seelsorgegespräch deutlich machen, dass sie die im Seelsorgegespräch offenbarte Information über die materielle Not der Mitarbeiterin natürlich nicht an Dritte weitergeben wird, aber ebenso natürlich als Dienstvorgesetzte die dienstlich vorgenommenen Abrechnungen der Mitarbeiterin genauso kontrollieren (lassen) muss wie die aller anderen Mitarbeitenden und ihre eigenen. Sie könnte unter Wahrung des seelsorglichen Vertrauensschutzes gerade innerhalb des seelsorglichen Kontextes die Frage ansprechen, ob oder inwieweit die Mitarbeiterin sich in Versuchung geführt sieht, wenn sie reichliche gemeindliche Gelder verwaltet, während es ihr und ihrer Familie so an Geld fehlt. Aus pastoraltheologischer Sicht könnten neben den (zunächst) konfligierenden seelsorglichen und dienstaufsichtlichen Aufträgen der Pfarrerin noch folgende weitere Gesichtspunkte bedacht werden: – Unadressiert bleibt aus pastoraltheologischer Sicht ein dritter potenzieller Auftrag, nämlich der diakonische. Es wäre eine Option pastoralen Handelns, der Mitarbeiterin, die ihre materielle Not offenbart, diakonische Hilfen in Form von materieller Unterstützung oder von Sozialberatung, Schuldnerberatung etc. anzubieten. Das hätte die Not und die Versuchung der Mitarbeiterin womöglich mildern können. – Unadressiert bleibt auch ein potenziell vierter pastoraler Auftrag, nämlich der geistlich-priesterliche. Die Mitarbeiterin »beichtet« im Seelsorgegespräch ein beschämendes Thema. Theologisch ist hier der gnädige Blick Gottes auf den unvollkommenen,

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beschämten Menschen zu thematisieren. Geistlich-priesterlich kann dies durch den Zuspruch des Segens rituelle Gestalt gewinnen. – Unreflektiert bleibt im Blick auf das Verhältnis von Amt und Ämtern in der Gemeinde auch die unterschiedliche materielle Gratifikation der Gemeindearbeit der Mitarbeiterin im Vergleich zu der der Pfarrerin – beide erhalten unterschiedlich hohe Löhne bzw. Gehälter für ihren Dienst an derselben Gemeinde. Möglicherweise spielt dieses Gefälle implizit oder unbewusst auch eine Rolle bei der Interaktionsdynamik der beiden und hemmt aus Gründen von Ungerechtigkeitsempfinden, sozialem Gewissen, Ausgleichsbedürfnissen oder sozialer Scham o. Ä. klare Positionierungen. b)  Pastoralpsychologische Analyse Pastoralpsychologisch ist in selbst- und fremderkundender Weise nach den bewussten und vor allem nach den unbewussten Motivationen der handelnden Personen zu fragen: – Scham, Ungerechtigkeitsempfinden wurden oben schon angesprochen. Möglicherweise könnte ein dialogischer Reflexionsgang zwischen beiden Akteurinnen darüber sinnvoll sein, um mögliche emotionale Hemmungen und Einschränkungen der Handlungsfreiheit bewusst zu machen und auszuräumen. Weitere pastoralpsychologische Fragen sind: – Wie stark ist die Pastorin vom Vertrauen der Mitarbeiterin beeindruckt und geschmeichelt? Wie viel bedeutet es ihr, als Seelsorgerin angesprochen und anerkannt zu werden? Welche ihrer pastoralen Aufträge bewertet sie in ihrem eigenen inneren Berufsbild am höchsten, und wird sie dadurch auf dem anderen Auge blind, auf dem anderen Ohr taub? Welche Appelle hört und überhört sie? Welche erreichen sie in Weisen, die sie in ihrem Handeln hemmen oder triggern? Inwieweit entspricht dies ihrem Auftragsund Rollenbild? Und welche alternativen Betrachtungs- und Handlungsweisen gibt es? – Mit welcher Absicht und Motivation erzählt die Mitarbeiterin von ihrer finanziellen Situation? Gibt es neben der Beschreibung der Not und dem Wunsch nach seelischer Entlastung auch eine bewusste oder unbewusste Motivation, um mehr Geld bzw. Gehalt zu bitten? Oder nicht nur um Verständnis für ihr Problem zu wecken, sondern auch ein bestimmtes daraus abgeleitetes Verhalten der Pfarrerin auszulösen? Womöglich will die Mitarbeiterin die Pfarrerin unbewusst daran hindern oder im Gegenteil dazu auffordern, Abrechnungen genauer zu überprüfen? Oder welche ganz anderen Wünsche verbinden sich mit ihrer Selbstoffenbarung? Geht es um Trost, um Vertrauen, um Entlastung von Scham und Schuld, um das soziale Gefälle zwischen den unterschiedlichen Mitarbeitenden der Gemeinde, oder um was sonst? Was hat sie schon versucht, was müsste sich ändern, damit es ihr besser geht? Was kann sie selbst dazu beitragen, was die Pastorin, was andere? Usw. c)  Rollentheoretische Analyse Rollentheoretisch ist vor allem nach sozialbezüglichen Selbst- und Fremderwartungen, nach deren Angemessenheit und nach deren Verhältnis zueinander zu fragen. Hier ist es die professionelle Aufgabe der Pfarrerin, die Mitarbeiterin danach zu fragen, welche Erwartungen diese im Zusammenhang mit dem seelsorglich Benannten an sie, die Pfarrerin, stellt. Soll sie ihr die seelische Last tragen helfen, sie beim Ausloten von problemverstärkenden Faktoren und von Lösungsmöglichkeiten unterstützen etc. (Seelsorgerolle)? Soll sie ihr diakonisch oder priesterlich helfen (vgl. oben)? Soll sie ihr beim Umgang mit Geldern der Gemeinde

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stärker auf die Finger sehen oder nachsichtig wegsehen? Oder geht es um eine implizite Bitte um eine Gehaltserhöhung (Vorgesetztenrolle)? Oder worum sonst? Sodann sollte die Pastorin ihre eigenen inneren Erwartungen an sich selbst und ihr pastorales Handeln in diesem Fall reflektieren. Und schließlich überprüfen, welche dieser Erwartungen angemessen, das heißt, konform mit der Berufsrolle bzw. den Berufsrollen einer Pastorin und mit pfarrdienstrechtlichen Vorgaben sind. Der inneren Rollenreflexion der Pfarrerin würde idealerweise das externe Rollenverhandeln im Dialog mit der Mitarbeiterin folgen: »Diese Erwartung kann und will ich erfüllen, jene nicht, weil ich meine berufliche Rolle und Aufgabe anders verstehe«; »Folgendes möchte ich Ihnen anbieten« etc. d)  Aspekte der Organisation- und Felddynamik In organisations- und felddynamischer Hinsicht ist zu fragen, inwieweit Elemente der besonderen Kultur, Umgangsformen, Werte, Normen und Tabus, Leitmotive und Leitdifferenzen, typischen Thematiken der Mitarbeitenden oder der Klientel etc. im vorliegenden Fall wirksam werden können. Zum Beispiel: Geld gilt in der Kirche eher als Tabuthema; das könnte die Schamgrenzen, die die Mitarbeiterin bei ihrer Selbstoffenbarung zu überwinden hat, und ihre Verletzlichkeit und Kränkbarkeit beim Umgang der Pfarrerin damit erhöhen. Umgekehrt könnte auch die Pfarrerin durch Scham- und Beschämungsangst darin gehemmt sein, in der unter a bis c beschriebenen klaren Weise mit dem Thema der Mitarbeiterin umzugehen. Und ebenso könnte die Reaktion von Vorgesetzten und Leitungsgremien nach der einen oder anderen Seite übersteigert, weil von hemmenden Gefühlen gesteuert sein. Daher ist einerseits ein besonders sensibler Umgang mit den Offenbarungs- und Schamgrenzen der handelnden Personen geboten und andererseits eine an der Sachebene orientierte Bewertung dessen, welche Selbst- und Fremdansprüche an pastorale Aufträge und Rollen hier berechtigt und welche nicht berechtigt sind.

  Fallbeispiel Mehr- und Minderleistung  

Die Pfarramtssekretärin hat auf ihrer 50-Prozent-Stelle bisher zuverlässig gearbeitet und viele Überstunden ohne Ausgleich oder Bezahlung geleistet. Nun sucht sie mit dem dienstvorgesetzten Pfarrer häufiger das Seelsorgegespräch. Ihr Mann ist alkoholkrank, sie macht sich große Sorgen und ist zunehmend belastet. Sie kündigt an, dass sie künftig häufiger für ihren Mann da sein müsse und Verständnis dafür erwarte, dass sie sich dann selbst krank melden werde.

Der Pastor freut sich über das Vertrauen der Gemeindesekretärin; ihre falsche Rollenerwartung an ihn fällt auf fruchtbaren Boden: Nach dem Familiaritätsprinzip unterstützt man sich gegenseitig, ohne Leistung und Gegenleistung oder definierte Ansprüche gegeneinander anzurechnen – eine Hand wäscht die andere. Nach dem Prinzip des protestantischen Arbeitsethos haben sich sowieso alle beide über definierte Grenzen hinaus engagiert, und dafür muss man sich selbst und einander dann, so glauben womöglich ebenfalls beide, auch einmal Freiheiten gewähren. Hier liegen die Fehler in der Vergangenheit und in der Gleichmacherei: Als Dienstvorgesetzter hat der Pfarrer über lange Zeit zahlreiche Überstunden in unausgesprochener und in ungeregelter Weise in Kauf genommen, dabei arbeitsrechtliche Regelungen missachtet und seine Funktion als Dienstvorgesetzter nicht ordnungsgemäß ausgeübt. Offenbar hat er nicht dem Umstand Rechnung getragen, dass die Pfarramtssekretärin

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als Angestellte – anders als er – ihre tatsächliche Arbeitszeit dokumentieren und Überstunden bei ihm beantragen muss, während er als Dienstvorgesetzter dafür Sorge tragen muss, dass die Zahl der Überstunden nicht zu groß wird und bei nächster Gelegenheit schrittweise abgebaut oder durch Freizeitausgleich kompensiert wird. Bei der Pfarramtssekretärin verhält es sich anders als beim Pfarrer und anders als bei ehrenamtlichen Mitarbeitenden der Gemeinde, die viele, viele Arbeitsstunden freiwillig und unentgeltlich leisten und Gleiches von den Hauptamtlichen erwarten. Im Nachhinein ist es nun dienstrechtlich wie auch seelsorglich nicht leicht, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. – Im Dienstvorgesetztenverhältnis könnte ein Kompromiss sein, rückwirkend eine Art Überstundenkonto (nach zwischen den Beteiligten vereinbarten Schätzwerten) einzurichten, sodass anstatt einer wiederum unrechtmäßigen und ungeregelten Abwesenheit der Sekretärin fortan ein geregelter Überstundenausgleich (und natürlich eine geregelte Beantragung oder Anordnung und Dokumentation von Überstunden) stattfinden kann. – Seelsorglich wäre offen zu kommunizieren, dass der Pfarrer den Einsatz der Sekretärin einerseits schätzt, dafür dankbar ist und ihn durch Entgegenkommen honorieren möchte, andererseits aber zu einer geregelten und gesetzeskonformen Struktur kommen muss, nachdem er zuvor als Dienstvorgesetzter Fehler gemacht hat. Eventuell kann es helfen, eine zustimmungsfähige Motivation zu nennen, z. B.: »Ich will nicht, dass wir in die Situation kommen, zu lügen oder Lügen nicht wahrzunehmen.« – In jedem Fall wird die organisationale Dynamik es erschweren, eine »eingerissene« und lange praktizierte Kultur durch eine neu ordnende Struktur zu konterkarieren (culture beats structure). Strukturelle Klarheit schaffen zu wollen, ist riskant – der Pastor muss mit Gegendruck rechnen, nicht nur von der Sekretärin, sondern auch von anderen Teilen der Organisation. Trotzdem ist das Arbeiten an der Struktur unerlässlich. Sie braucht möglicherweise einen langen Atem und viel Geduld.

Autor:in Prof. Dr. habil. Kerstin Lammer, Pastorin, Professorin für Praktische Theologie, Lehrsupervisorin und Coach (DGfP/DGSv), Systemische Beraterin, ist seit 2021 Leitende Militärdekanin in Berlin.

Literatur Grimm, Angela/Lammer, Kerstin/Raatz, Georg (Hg.): Self-Management in role? Seelsorge und Dienstvorgesetztenverhältnis. Texte aus der VELKD Nr. 185/2020. https://www.ekd.de/velkd-seelsorge-und-dienstvorgesetztenverhaeltnis-56224.htm, abgerufen am 17.12.2021. Grimm, Angela/Lammer, Kerstin/Raatz, Georg (Hg.): Self-Management in Roles. Seelsorge und Dienstvorgesetztenverhältnis im ordinierten Amt. Handreichung. Im Auftrag der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) erarbeitet vom Seelsorgeausschuss der Kirchenleitung der VELKD, Hannover, im Druck. Greenleaf, Robert K.: Servant Leadership. A Journey into the Nature of Legitimate Power and Greatness, Mahwah 1977. Zirlik, Michael: Vom Heroischen Manager zum Servant Leader. Historie, Trends und Perspektive zum Spannungsfeld »Führung und Fürsorge« aus der Unternehmenswelt, in: Angela Grimm/Kerstin Lammer/Georg Raatz (Hg.): Self-Management in role? Seelsorge und Dienstvorgesetztenverhältnis. Texte aus der VELKD Nr. 185/2020, S. 30–40. https://www.ekd.de/velkd-seelsorge-und-dienstvorgesetztenverhaeltnis-56224.htm, abgerufen am 17.12.2021.

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Sexualisierte Gewalt Herausforderung und Verantwortung für kirchliche Leitungskräfte Alke Arns und Helge Staff Î Was ist sexualisierte Gewalt? Î Welche Risiken und Gefährdungen für sexualisierte Gewalt bestehen im kirchlichen Arbeitsfeld? Î Worin besteht eine gute Präventionsarbeit gegen sexualisierte Gewalt? Î Was muss ich bei Auftreten eines Falles sexualisierter Gewalt tun?

1 Einleitung Sexualisierte Gewalt ist für kirchliche Leitungskräfte ein genauso wichtiges wie auch herausforderndes Thema. Es fordert eine Leitungskraft als Verantwortungsträger:in für die Menschen in der jeweiligen Einrichtung oder Gemeinde, als (Disziplinar-)Vorgesetzte:n von eventuell beschuldigten oder betroffenen Beschäftigten und als Krisenmanager:in in schwierigen sozialen Situationen. Dabei ist sexualisierte Gewalt kein Phänomen, das sich nur auf die Kirche bezieht. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, gleichwohl nutzten in der Vergangenheit und nutzen heute noch Täter:innen kirchliche Strukturen für Verbrechen aus. Sexualisierte Gewalt stellt den Schutzraum, den die Kirche – gerade für die Schwächeren – bereitstellen sollte, infrage. Es ist eine gesamtkirchliche Aufgabe, dies zu verhindern. In diesem kurzen Beitrag wollen wir übersichtlich darstellen, was sexualisierte Gewalt ist, welche spezifischen Risiken kirchliche Arbeitsfelder aufweisen, worin eine gute Präventionsarbeit gegen sexualisierte Gewalt im kirchlichen Raum besteht und was beim Auftreten eines konkreten Falles zu unternehmen ist. Darüber hinaus wollen wir Hinweise geben, wo weitere Informationen zu finden sind und anhand welcher Leitlinien Sie die Situation vor Ort in Ihrem Wirkungskreis verbessern können.

2 Was ist sexualisierte Gewalt? Eine allgemein verbindliche Definition sexualisierter Gewalt1 gibt es nicht. Der Begriff wird zunehmend jedoch als Überbegriff verwendet, der auch sexuelle Ausbeutung und sexuellen Missbrauch (physisch, psychologisch oder sexuell) einschließt (EPCAT 2018, S. 11 ff.). 1 Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Diakonie Deutschland verwenden nicht den Begriff des »sexuellen Missbrauchs«, sondern den der »sexualisierte Gewalt«, um zu betonen, dass hier Gewalt gegen Menschen angewendet wird.

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Wir stützen uns im Folgenden auf die kirchenrechtliche Definition der Gewaltschutzrichtlinie der EKD (EKD 2019, § 2 Abs. 1): Nach dieser Richtlinie ist eine Verhaltensweise sexualisierte Gewalt, wenn ein unerwünschtes sexuell bestimmtes Verhalten bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betroffenen Person verletzt wird. Sexualisierte Gewalt kann verbal, nonverbal, durch Aufforderung oder durch Tätlichkeiten geschehen. Sie kann auch in Form des Unterlassens geschehen, wenn die Täterin oder der Täter für deren Abwendung einzustehen hat.

»Sexualisierte Gewalt« ist ein Überbegriff, der auch sexuelle Ausbeutung und sexuellen Missbrauch einschließt, nicht aber Grenzverletzungen

Sexualisierte Gewalt beschreibt dabei jedes Verhalten, dass vorsätzlich in die sexuelle Selbstbestimmung eines anderen Menschen ohne Einwilligung bzw. Einwilligungsfähigkeit eingreift. Diese Definition, die ihren Fokus auf eine Verletzung der menschlichen Würde legt, umfasst daher alle Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung nach dem 13. Abschnitt des Strafgesetzbuches und § 201a Abs. 3 oder §§ 232–233a des Strafgesetzbuches, geht dabei aber über strafrechtlich sanktioniertes Verhalten hinaus. Von sexualisierter Gewalt zu unterscheiden sind Grenzverletzungen, die als einmaliges oder seltenes unangemessenes Verhalten unterhalb der Schwelle der oben genannten Definition, anzusehen sind (z. B. die Missachtung persönlicher oder körperliche Distanz, sexistische Sprache etc.). Maßstab für die Bewertung eines Verhaltes als grenzverletzend ist neben der Einhaltung professioneller und fachlicher Arbeitsstandards das subjektive Erleben von Betroffenen. Entscheidend ist, dass die Vertrauens- und Beziehungsarbeit, genauso wie das Bedürfnis von Menschen nach Nähe, nicht in grenzverletzender Weise ausgenutzt wird. Einvernehmliche Beziehungen, Umarmungen und das Spenden von Trost sind selbstverständlich möglich und erwünscht. Hier liegt es vor allem in der Verantwortung von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen, die Bedürfnisse und Grenzen des Gegenübers zu beachten sowie besonnen und reflektiert das eigene Verhalten (z. B. im Team, mit der Leitung oder mit Unterstützung fachlicher Beratung) immer wieder anzuschauen und Fehlverhalten offen anzusprechen. Das genaue Ausmaß sexualisierter Gewalt in der deutschen Gesellschaft ist bislang nicht genau erforscht. Aufgrund der Annahme eines großen Dunkelfelds sind Daten von Polizei und Justiz nur eingeschränkt aussagekräftig. So erfasst die Polizeiliche Kriminalstatistik für 2019 insgesamt 69.881 Fälle von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, darunter 13.670 Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Betrachtet man Studien, die sich im Rahmen von bevölkerungsrepräsentativen Befragungen dem Dunkelfeld widmeten, so ergab sich in diesen für Deutschland in den vergangenen Jahren eine Lebenszeitprävalenz von grob 5 Prozent für Frauen und von unter 0,5 Prozent für Männer (Hellmann 2018). Auch bei Beachtung von verzehrenden Faktoren ergibt sich hieraus, dass Frauen und Mädchen öfter das Ziel sexualisierter Gewalt sind. Gleichzeitig häufen sich in den vergangenen Jahren die Befunde, dass auch Jungen vermehrt von sexualisierter Gewalt betroffen zu sein scheinen. Man vermutet hier zum Teil sogar ein größeres Dunkelfeld, da es Jungen wesentlich schwerer fällt, sich zu offenbaren (DJI 2011, S. 149 ff.). Besondere Risikofaktoren bestehen zudem bei Menschen mit Behinderungen als besonders vulnerable Gruppe. Die psychischen, physischen und sozialen Folgen sexualisierter Gewalt für Betroffene können schwerwiegend sein und manchmal lebenslang dauern, wobei sowohl Dauer wie Intensität der Gewalt als auch die Resilienz der betroffenen Person ausschlaggebend für Schwere und Dauer des Traumas sind (Diakonie Deutschland/EKD 2014, S. 18–19). Die Täter:innen können aus allen gesellschaftlichen Schichten stammen. Sie nutzen planvoll und strategisch die Strukturen aus, die sie in ihrem jeweiligen Wirkungsfeld vor-

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finden, und versuchen in Bereiche vorzudringen, in denen sie leichter Kontakte zu möglichen Opfern herstellen können. Es ist davon auszugehen, dass Täter:innen gezielt einzelne Personen auswählen, Chancen zur Kontaktaufnahme suchen, Widerstände in Form von sich langsam steigernden Grenzverletzungen austesten, Abhängigkeitsverhältnisse schaffen und durch Druck versuchen, Betroffene einzuschüchtern (Diakonie Deutschland/EKD 2014, S. 20–24). So missachten Täter:innen beispielsweise bewusst fachliche Standards und Verhaltensnormen, nutzen intransparente Strukturen und Vertrauensverhältnisse gezielt aus und ignorieren die Widerstände von Betroffenen zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse (vgl. u. a. Deegener 2010).

3 Welche Risiken und Gefährdungen für sexualisierte Gewalt bestehen im kirchlichen Arbeitsfeld? Kirche ist ein Ort der Nähe, der Vielfalt und des Miteinanders. Vertrauen und Beziehungsarbeit sind hierbei unerlässlicher Teil. Aus diesem Grund bestehen gerade in der evangelischen Kirche spezifische Risikostrukturen, die es Täter:innen erleichtern oder ermöglichen, sie gezielt für ihre Zwecke auszunutzen. Sexualisierte Gewalt ist immer auch der Missbrauch von Machtstrukturen und die Ausnutzung von Vertrauen. Wenn in einer Institution wie der evangelischen Kirche keine Schutzmechanismen installiert sind, kann hierdurch das Risiko für Grenzverletzungen erhöht und gewalttätiges Verhalten befördert werden. Intransparente Strukturen können die Hemmschwellen für Täter:innen senken und es gleichzeitig den Betroffenen erschweren, Hilfe zu holen. In der bereits 2011 veröffentlichten Studie des Deutschen Jugendinstituts zum Thema »sexuelle Gewalt in Institutionen« wurden einige Beispiele institutioneller Risikofaktoren identifiziert, die sich in dieser Form auch in der evangelischen Kirche wiederfinden (vgl. Bundschuh 2010): – geschlossene, abgeschottete Strukturen mit starken Abhängigkeiten und hohem Loyalitätsdruck, autoritärer Leitungsstil und starre Hierarchien mit großen Machtgefällen, – diffuse, unklare Leitungsstrukturen, die das Ansprechen von Fehlverhalten erschweren, – fehlendes Wissen zum Thema »sexualisierte Gewalt und Grenzverletzungen«, – keine oder wenig verbindliche pädagogische Konzepte, insbesondere zum Schutz von Kindern und Jugendlichen sowie mangelnde, gelebte Beteiligungskonzepte und Beschwerdemöglichkeiten, – Intransparenz in der Arbeitsorganisation und eine hohe Mitarbeiter:innenfluktuation, – mangelhafte fachliche Kontrolle und keine verbindlichen Regeln zum grenzwahrenden Umgang, – unzureichende Trennung von Beruf und Privatheit durch Leitung und Mitarbeiter:innen, – fehlende Eignungsverfahren (z. B. keine Einstellungs- und Mitarbeiter:innengespräche über grenzwahrendes Verhalten, fehlende Einsichtnahme in das erweiterte Führungszeugnis etc.), – Sexualität als allgemeines Tabuthema in Institutionen. Insbesondere im kirchlichen Kontext kann diese Liste ergänzt werden durch Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnisse im besonderen Kontext von Glauben und Spiritualität (z. B. im Bereich der Seelsorge oder der sakralen Bedeutung von Berührung im biblischen Kontext).

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Institutionen müssen Schutz­ mechanismen installieren, um Täter:innen einen möglichen Handlungsspielraum zu nehmen

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4 Prävention Prävention heißt, Strukturen und Standards zu definieren, um den Schutz vor sexualisierter Gewalt voranzubringen und langfristig zu institutionalisieren. Die Grundlage jeder Prävention ist die Sensibilität aller Mitarbeiter:innen für das Thema »sexualisierte Gewalt« und eine offene Atmosphäre, in der frei gesprochen werden kann. Hierzu gehört das Setzen von Grenzen, wie auch die Grenzen anderer zu akzeptieren. Dazu gilt es, eine Bewusstseinsbildung in Form einer Kultur der Achtsamkeit zu schaffen, in der Mitarbeiter:innen zum einen auf sich selbst achten und ihre eigenen Denk- und Handlungsweisen immer wieder reflektieren. Zum anderen schärft eine Kultur der Achtsamkeit den Blick für Gefühle und Handlungen anderer in ihrem Wirkungsfeld. Die folgenden Instrumente (orientiert an der Gewaltschutzrichtlinie der EKD) können dazu dienen, eine solche Kultur und Atmosphäre zu schaffen, in der es Täter:innen schwerer haben, da alle gemeinsam aktiv hinschauen und auch Grenzverletzungen ansprechen (können und sollen): – Eine Selbstverpflichtungserklärung für Mitarbeiter:innen einer Einrichtung, einer Gemeinde wie auch einer bestimmten Berufsgruppe macht deutlich, dass sich alle an bestimmte Regeln und Verhaltensweisen halten. Hierdurch wird für alle Beteiligten ein verlässlicher Rahmen für ein achtsames und respektvolles Miteinander geschaffen und gleichzeitig nach innen und außen signalisiert, dass man das Thema »sexualisierte Gewalt« im Blick hat. Ein solches Dokument holt das Thema aus der Tabuzone heraus und stellt klar: Sexualisierte Gewalt kann auch bei uns passieren – es liegt an uns allen, dies zu verhindern (siehe z. B. Nordkirche 2020 oder Evangelische Landeskirche in Württemberg 2020). – Ein Verhaltenskodex verfolgt ähnliche Ziele wie die Selbstverpflichtungserklärung. Mit dem Fokus auf spezifische Arbeitsfelder und Aktivitäten werden gemeinsame Regelungen und verbindliche Absprachen getroffen, um für einen grenzachtenden Umgang miteinander zu sorgen. Ein Verhaltenskodex gibt Mitarbeiter:innen Sicherheit und Orientierung. Insbesondere Kinder und Jugendliche entwickeln dadurch ein Bewusstsein über ihre Rechte und die einzuhaltenden wie auch einzufordernden Grenzen und erleben somit eine Stärkung der eigenen Selbstwirksamkeit. Praktische Beispiele für die Inhalte eines Verhaltenskodex sind z. B. Regelungen zu vertraulichen Gesprächen oder Betreuungs- und Übernachtungssituationen auf Freizeiten oder bei kirchlichen Angeboten, die Trennung privater und dienstlicher Kontakte, der Umgang mit Fotos oder die Nutzung digitaler Medien. – Im Bereich des Personalwesens können ferner grundlegende und einfache Strukturen eingezogen werden, um Risiken zu vermindern. Es gibt Täter:innen, die sich gezielt Betätigungsfelder suchen, die ihnen den Kontakt mit Kindern und Jugendlichen ermöglichen. Bei Personalauswahl und -einstellung ist daher heute die regelmäßige Vorlage erweiterter polizeilicher Führungszeugnisse standardmäßiger Bestandteil eines ganzheitlichen Präventionskonzeptes. Es geht dabei um die Sicherstellung, dass keine Personen, die wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung rechtskräftig verurteilt wurden, Kinder und Jugendliche beaufsichtigen, betreuen, erziehen oder ausbilden oder vergleichbaren Kontakt haben. – Von besonderer Wichtigkeit sind schließlich Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für alle Mitarbeiter:innen. Es geht darum, in der gesamten Breite des kirchlichen Raumes für das Thema zu sensibilisieren und die Mitarbeiter:innen zu schulen. Die EKD, die Diakonie Deutschland sowie die Landeskirchen haben dazu das modulare Schulungsprogramm »Hinschauen – Helfen – Handeln« (2012) entwickelt. Die Landeskirchen bieten verschiedene Schulungen für spezifische Zielgruppen an. Hier geht es um die Vermittlung von Basiswissen wie z. B. Deliktsarten, Täter:innenstrategien, Risikofaktoren, Präventionsmöglichkeiten und Verfahrenswege bei Hinweisen auf sexualisierte Gewalt.

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Alle genannten Punkte stellen eine Sammlung von Bausteinen dar, die zusammengenommen ein sogenanntes Schutzkonzept gegen sexualisierte Gewalt bilden. Es beinhaltet konkrete präventive Maßnahmen und Hinweise zu strukturellen Veränderungen. Sie bewirken, dass alle, die kirchliche Angebote wahrnehmen, besser vor Gewalt und Grenzverletzungen geschützt und Risiken für Übergriffe abgebaut werden (vgl. UBSKM 2022; siehe auch Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der Nordkirche 2020). Hierzu gehören die Bereiche der Prävention (vorbeugende Maßnahmen) und der Intervention (Umgang mit Hinweisen und Verdachtsfällen). Die Entwicklung eines Schutzkonzepts bringt viele Vorteile mit sich: Ein Schutzkonzept … 9 … schafft Transparenz und Vertrauen im gemeinschaftlichen Miteinander. 9 … ermöglicht eine offene Auseinandersetzung mit den Strukturen und der eigenen Einrichtungskultur. 9 … dient dem Schutz möglicher Betroffener vor Übergriffen. 9 … erleichtert, Fehlverhalten frühzeitig anzusprechen. 9 … trägt zur Enttabuisierung von sexualisierter Gewalt bei und sensibilisiert für das Thema. 9 … dient dem Schutz der Mitarbeiter:innen und gibt ihnen Sicherheit und Orientierung in unklaren Situationen. Ein Schutzkonzept muss für jeden Bereich spezifisch und zielgruppengerecht entwickelt werden. Dies ist ein Prozess. Als Einrichtung oder Kirchengemeinde unterstützt ein solches Konzept insbesondere dabei, Kinder, Jugendliche sowie andere vulnerable Gruppen vor Gefährdungen und Grenzverletzungen zu schützen und gleichzeitig eine professionelle Nähe miteinander zu leben. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen kirchliche Einrichtungen zu einem Kompetenzort werden, in dem Risiken minimiert werden. Zugleich sollten sie ein Ort sein, wo Betroffene, die sexualisierte Gewalt erlebt haben – sei es im kirchlichen oder auch im privaten Umfeld –, schnell professionelle Hilfe finden können. Die Grundlage für den Prozess der Schutzkonzeptentwicklung ist die Potenzial- und Risikoanalyse (EKD 2014b). Die Risikoanalyse soll offenlegen, wo mögliche Gefährdungen in einer Einrichtung liegen, und stellt dabei folgende Fragen: 1. Welche Strukturen, Räumlichkeiten, Handlungsweisen innerhalb einer Einrichtung oder eines Angebots bergen besondere Risiken, die Täter:innen für sexuelle Übergriffe bis hin zu sexualisierter Gewalt ausnutzen können? 2. Können Betroffene von sexualisierter Gewalt in einer Einrichtung fachliche Hilfe und Unterstützung finden und wie groß ist die Gefahr, dass sie gar nicht danach suchen (z. B. weil Strukturen und Beschwerdewege fehlen oder die Haltung, Atmosphäre innerhalb einer Einrichtung nicht dazu einladen)? Da sich Strukturen, Rahmenbedingungen, Personal, Angebote und andere Gegebenheiten stetig ändern, ist die Risikoanalyse kontinuierlich fortzuschreiben und sind Präventionsmaßnahmen im Schutzkonzept entsprechend anzupassen. Prävention verlangt nicht die formelle Erledigung dieser Bausteine, sondern »langfristige Prozesse sind gefragt, die immer wieder die Wahrnehmungsbereitschaft und -fähigkeit innerhalb der eigenen Strukturen schärfen« (Wolff 2018, S. 103). Diesen Prozess anzustoßen und voranzubringen ist insbesondere eine Leitungsaufgabe.

5 Intervention Auch die beste Prävention wird nie verhindern können, dass Taten sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche geschehen bzw. Fälle aus der Vergangenheit heute bekannt werden

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Jeder Bereich, jede Zielgruppe muss eigens auf die erforderlichen Schutz­ maßnahmen befragt werden

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und aufgearbeitet werden müssen. Daher gilt es insbesondere für die Leitung, für diesen Fall vorbereitet zu sein und zu wissen, was zu tun ist. Dabei ist– wie im Feld der Ersten Hilfe – das Schlechteste, gar nichts zu tun. Stattdessen gilt auch hier: Hinschauen, Helfen, Handeln, denn der Schutz von Betroffenen hat dabei Priorität und erfordert in der Regel schnelle Hilfen und Unterstützung. Der Begriff »Intervention« beschreibt eine strukturierte und fachlich abgesicherte Vorgehensweise, wenn sich Vorfälle sexualisierter Gewalt etwa in einer Einrichtung ereignet haben. Die verantwortlichen Leitungspersonen sind in einem solchen Fall häufig einer schwierigen Belastungssituation ausgesetzt. Sie sollten daher stets durch eine fachliche Beratung in ihrem Handeln gestärkt und im Umgang mit der Situation unterstützt werden. Eine entsprechende Unterstützung kann über die zuständigen Ansprechpersonen der evangelischen Landeskirchen angefragt werden (EKD o. J.). Als Leitungsperson sollten sie stets über den aktuellen Stand eines Verfahrens informiert sein und unterschiedliche Perspektiven gut im Blick behalten. Hierzu gehören insbesondere folgende Bereiche: 1. Der Schutz und die Unterstützung von Betroffenen und gegebenenfalls der Ausschluss einer Gefährdung weiterer Personen. Hierzu sollte stets Fachexpertise herangezogen werden. 2. Der Umgang mit beschuldigten Mitarbeiter:innen (Fürsorgepflicht, Wahrung von Persönlichkeitsrechten etc.). 3. Die Begleitung und Unterstützung der Mitarbeiter:innen, Gemeindemitglieder u. a. in der betreffenden Einrichtung, auch unter dem Gesichtspunkt anschließender Rehabilitations- und Aufarbeitungsprozesse (EKD 2014a). 4. Die Frage nach der Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden (EKD 2012, S. 21–22). 5. Die Kommunikation nach außen mit Blick auf die Schutzinteressen aller Beteiligter. Nicht immer ist die Situation von Anfang an deutlich zu durchschauen. Umso wichtiger ist die sorgfältige Dokumentation des Sachverhalts und aller eingeleiteter Handlungsschritte, die auch zu einem späteren Zeitpunkt stets nachvollziehbar sein müssen. Als strukturelle Grundlagen der Intervention sind folgende Instrumente von besonderer Bedeutung: – Zunächst müssen gute Angebote und Möglichkeiten bestehen, Betroffenheit oder Kenntnis von einer Tat melden zu können. Auf Ebene der EKD wurde zu diesem Zweck die Zentrale Anlaufstelle ».help« eingerichtet, die Betroffenen als kirchenunabhängige Stelle für eine fachliche Erstberatung zur Verfügung steht und – sofern gewünscht – an die zuständigen kirchlichen Stellen weitervermittelt. – Die evangelischen Landeskirchen richten Meldestellen ein, an die sich Beschäftigte wie auch Betroffene wenden können, um zureichende Anhaltspunkte für sexualisierte Gewalt zu melden. Die Gewaltschutzrichtlinie der EKD sieht in diesem Zusammenhang explizit eine Meldepflicht von Beschäftigen vor, aber auch das Recht, sich zu Beobachtungen und Vermutungen beraten zu lassen. – Wenn eine Tat bekannt oder gemeldet wird, ist es wichtig zu wissen, wer, wann, was zu tun hat. Dafür sollte jede Einrichtung und jede Gemeinde mit fachlicher Unterstützung einen Handlungsplan vorbereiten. Handlungspläne dienen als wichtige Orientierungshilfe, um im Krisenfall angemessen, informiert und sicher agieren zu können (EKD 2012; siehe auch Evangelische Landeskirche in Württemberg 2019). Hierzu gehören insbesondere: 1. Informationen über die zuständigen kirchlichen Ansprechpersonen und andere (unabhängige) Beschwerdemöglichkeiten 2. Informationen über die Beachtung von Schutzinteressen betroffener Personen 3. Informationen über die Meldepflicht gemäß der Gewaltschutzrichtlinie der EKD 4. Informationen über die internen Verfahrensweisen und Kommunikationswege

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Sexualisierte Gewalt

6 Schluss Rat und Synode der EKD haben gemeinsam mit den Fachkräften vor Ort über die vergangenen Jahre die Grundlagen dafür gelegt, den Schutz vor sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche zu erhöhen. Der Fokus liegt dabei besonders darauf, die Perspektive Betroffener in den Blick zu nehmen, leicht zugängliche Beschwerdewege zu etablieren und Gefährdung im kirchlichen Raum durch gezielte Präventionsmaßnahmen zu verringern. Ob Prävention (z. B. durch flächendeckende Schutzkonzepte) gelingt oder im Falle einer Tat richtig gehandelt wird (z. B. im Rahmen eines guten Handlungsplans), entscheidet sich jedoch vor Ort und insbesondere durch das Hinschauen, das Helfen und das Handeln von Leitungskräften, die sexualisierte Gewalt als Herausforderung und Verantwortung begreifen.

Autor:innen Dr. Alke Arns war von 2013–2022 Präventionsbeauftragte der Nordkirche, Leitung der Stabsstelle Prävention – Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt sowie beratendes Mitglied im Beauftragtenrat der EKD gegen sexualisierte Gewalt. [email protected] Dr. Helge Staff ist seit 2020 Leiter der Fachstelle Sexualisierte Gewalt im Kirchenamt der EKD. [email protected]

Literatur Bundschuh, Claudia: Sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen. Nationaler und internationaler Forschungsstand, Expertise, München 2010. Deegener, Günther: Kindesmissbrauch. Erkennen – helfen – vorbeugen, Basel 2010. Deutsches Jugendinstitut (Hg.): Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen. Abschlussbericht des DJI-Projekts im Auftrag der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, München 2011. Diakonie Deutschland/Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Auf Grenzen achten – Sicheren Ort geben. Prävention und Intervention. Arbeitshilfe für Kirche und Diakonie bei sexualisierter Gewalt, Hannover 2014. https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/praevention_auf_grenzen_achten_neu.pdf, abgerufen am 01.04.2021. ECPAT International: Terminologischer Leitfaden für den Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexualisierter Gewalt. ECPAT Deutschland e. V., Freiburg i. Br.2018. Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (Hg.): Hinschauen – Helfen – Handeln. Hinweise für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung durch beruflich und ehrenamtlich Mitarbeitende im kirchlichen Dienst, Hannover 2012. https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/20120828_hinschauen_helfen_handeln.pdf, abgerufen am 07.04.2021. EKD (Hg.): Unsagbares sagbar machen. Anregungen zur Bewältigung von Missbrauchserfahrungen insbesondere in evangelischen Kirchengemeinden, Hannover 2014a. https://www.hinschauen-helfen-handeln. de/media/2014-broschuere_unsagbares_sagbar_machen.pdf, abgerufen am 07.04.2021. EKD (Hg.): Das Risiko kennen – Vertrauen sichern. Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt schützen: Risikoanalyse in der Arbeit von Kirchengemeinden, Hannover 2014b. https://www.hinschauen-helfen-handeln.de/media/2014-broschuere_risikoanalyse.pdf, abgerufen am 07.04.2021. EKD (Hg.): Richtlinie der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Schutz vor sexualisierter Gewalt. Vom 18. Oktober 2019, Hannover 2019. https://kirchenrecht-ekd.de/pdf/44830.pdf, abgerufen am 18.12.2021. EKD: Landeskirchliche Ansprechpersonen für Betroffene sexualisierter Gewalt. https://www.ekd.de/Ansprechpartner-fuer-Missbrauchsopfer-23994.htm, abgerufen am 14.04.2021.

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Evangelische Landeskirche in Württemberg (Hg.): Handlungsleitfaden. Interventionsplan bei Grenzverletzungen, Übergriffen, (sexualisierter) Gewalt oder fachlichem Fehlverhalten gegenüber Schutzbefohlenen innerhalb der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 2019. https://www.elk-wue.de/fileadmin/Downloads/Seelsorge/Sexualisierte_Gewalt/Intervention/Interventionsplan_2019/2019_Web_InterventiosplanA4.pdf, abgerufen am 01.04.2021. Evangelische Landeskirche in Württemberg (Hg.): Arbeitshilfe Leitlinien zum sicheren Umgang mit Nähe und Distanz, Stuttgart 2020. https://www.elk-wue.de/helfen/sexualisierte-gewalt/arbeitshilfen-1, abgerufen am 09.04.2021. Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der Nordkirche: Kirche gegen sexualisierte Gewalt. Handreichung Schutzkonzepte, 2. Aufl., Hamburg 2020. https://www.kirche-gegen-sexualisierte-gewalt.de/fileadmin/ user_upload/baukaesten/Baukasten_Kirche_gegen_sexualisierte_Gewalt/Dokumente/Schutzkonzept2-Aufl-Website.pdf, abgerufen am 07.04.2021. Hellmann, Deborah F.: Prävalenz sexueller Gewalt in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in: Jan Gysi/ Peter Rüegger (Hg.): Handbuch Sexualisierte Gewalt. Therapie, Prävention und Strafverfolgung, Bern 2018, S. 35–43. Jugendpfarramt in der Nordkirche (Hg.): Selbstverpflichtungserklärung. Zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt für Haupt- und Ehrenamtliche in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Raum der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, Plön 2020. https://www. kirche-gegen-sexualisierte-gewalt.de/fileadmin/user_upload/baukaesten/Baukasten_Kirche_gegen_sexualisierte_Gewalt/Dokumente/2020-04_Flyer_Selbstverpflichtung.pdf, abgerufen am 05.04.2021. Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM): Schutzkonzepte. 01.04.2022. https://beauftragter-missbrauch.de/praevention/schutzkonzepte, abgerufen am 26.04.2022. Wolff, Mechthild: Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Professionelle in Institutionen. Perspektiven der Prävention durch Schutzkonzepte, in: Karin Böllert/Martin Wazlawik (Hg.): Sexualisierte Gewalt. Institutionelle und professionelle Herausforderungen, Wiesbaden 2018, S. 95–109.

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Stellvertretung Leiten in der zweiten Reihe Regina Fritz Î Was ist für wirksame Stellvertretung erforderlich? Î In welchen Konstellationen ist welches stellvertretende Leitungshandeln möglich und nötig? Î Was ist das Spezifische am Leitungshandeln der Stellvertreter:innen?

1 Üblich, aber wenig bedacht Stellvertretend Leitende sind inzwischen im kirchlichen und diakonischen Kontext ebenso üblich wie in Profitunternehmen aus dem wirtschaftlichen Sektor. Auffällig ist hier wie dort, dass sie in der Professionalisierung ihrer spezifischen Leitungsaufgabe weitgehend auf sich gestellt sind: Während Leitende ihr Handeln mithilfe einer Vielzahl von Workshops und Praxishilfen, Studien und Nachschlagewerken gestalten und reflektieren können, sind entsprechende Angebote für Stellvertretende noch rar. Auf dieses Desiderat wurde schon Anfang des Jahrhunderts hingewiesen (Jirman/Hilgenstock 2003, S. 25), erfüllt ist es noch nicht. Der folgende Beitrag hat nicht den Anspruch, diese Lücke zu schließen und das Thema Stellvertretung in Kirche und Diakonie umfassend aufzuarbeiten. Es geht lediglich darum, das heterogene Feld von Kontexten und Konstellationen stellvertretenden Leitens abzustecken und es auf seine Grundzüge hin durchsichtig zu machen.1 Dazu sind drei Fokuseinstellungen vorgenommen: – Bezüglich der Strukturmodelle stellvertretenden Leitens werden einige typische Konstellationen skizziert. – Von den Berufsgruppen stehen Pfarrer:innen auf der mittleren Ebene und in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen im Fokus. Mitarbeiter:innen anderer Berufsgruppen sowie Ehrenamtliche werden bei einigen Aspekten gesondert berücksichtigt. – Schließlich werden einige, für Stellvertretende einschlägige rechtliche Rahmenbedingungen benannt und zwar exemplarisch anhand der Situation in der EvangelischLutherischen Kirche in Bayern (ELKB). Die Begrenzung der Perspektive ermöglicht ein höheres Maß an Klarheit und Konkretion in der Darstellung, die idealerweise den Leser:innen anderer Landeskirchen und Berufsgruppen Analogieschlüsse für den je eigenen Arbeitskontext erlaubt.

1 Wichtige Anregungen für die eigene »Durchsicht« verdanke ich Susanne Schatz, Leiterin der Gemeindeakademie (Rummelsberg).

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Regina Fritz

2 Sinn und Zweck stellvertretenden Leitens Stellvertretung garantiert: Der Laden läuft dauerhaft gut

Stellvertretung braucht: Mandat, Ressourcen, Anerkennung

Stellvertretende sind innerhalb hierarchisch-funktionaler Organisationsstrukturen im kirchlichen und diakonischen Bereich eingesetzt und regelmäßig Personen zugeordnet, die Leitungsämter innehaben. Dies kann sowohl bei hauptamtlich Tätigen (z. B. Bischöf:innen, Kitaleiter:innen) wie bei ehrenamtlich Aktiven in Leitungsgremien (z. B. Synodal:innen) der Fall sein. Im Kontext des Leitungshandelns bedeutet Stellvertretung, dass eine Person an Stelle der leitenden Person wirksam handelt. Die Funktion zielt darauf, dass das Leitungshandeln auch bei Fehlen oder Verhinderung der Leitungsperson sowie bei einem Übermaß an Leitungsaufgaben angemessen möglich ist und dass somit die Entscheidungs- und Prozessabläufe der Organisation stabil bleiben. Kurz gesagt: Das Prinzip der stellvertretenden Leitung soll gewährleisten, dass »der Laden läuft«, mit und ohne Leiter:in. Damit stellvertretendes Leitungshandeln in diesem Sinne wirksam werden kann, sind Rahmenbedingungen erforderlich: Zunächst braucht die stellvertretende Person ein Mandat bezogen auf den Zuständigkeitsbereich und den Geltungszeitraum ihrer Aufgabe. Es muss klar sein, was die Stellvertreter:innen für wie lange zu tun haben. Außerdem sind Ressourcen notwendig, die es den Stellvertreter:innen erlauben, ihren Aufgaben nachzukommen. Neben diesen beiden formalen Prämissen gelingender Stellvertretung ist zudem die Anerkennung der Autorität relevant. Zwischen Stellvertreter:innen und internen sowie externen Interaktionspartner:innen muss ein Commitment bestehen, dass Stellvertretung grundsätzlich als Leitungshandeln akzeptiert wird.2 Was abstrakt wirkt, wird konkret in den alltäglichen Fragen einer stellvertretenden Leitungsperson: – Ist ihre Unterschrift auf dem Vertrag für den:die neue:n Mitarbeiter:in als solche rechtskräftig oder muss sie mit »i. V.« unterschreiben oder überhaupt den:die Leiter:in unterschreiben lassen? – Ist sie im Leitungsgremium bei allen Abstimmungen stimmberechtigt? Und woher nimmt sie die Zeit, sich das dafür nötige Hintergrundwissen anzueignen? – Schließt ihr Schlüssel auch die Bürotür des Leiters:der Leiterin? – Was tun, wenn sie in Abwesenheit des:der Vorgesetzten eine Entscheidung trifft und niemand sich daran hält? – Eine Sache jetzt erledigen, weil die Angelegenheit dringend ist oder lieber abwarten, bis »der:die Chef:in« wieder aus dem Urlaub zurück ist, weil die Angelegenheit so wichtig ist? Solche Fragen können die stellvertretenden Leiter:innen im Arbeitsalltag umtreiben. Auf systematischer Ebene ist festzuhalten, dass sie jeweils vor dem Hintergrund der genannten Aspekte von Mandatierung, Ressourcen und Anerkennung der Stellvertretung, wenn nicht zu lösen, so doch zu erhellen sind.

3 Geistliche Stellvertretung? Die Frage nach der Bedeutung von geistlicher Leitung ist dauerhaft virulent und betrifft das theologische Nachdenken über Stellvertretung, insofern sie ein spezifisches Leitungshandeln meint. Der Begriff »Stellvertretung« führt im Kontext von Religionsgeschichte 2 Dieses Commitment eröffnet den »informellen Spielraum«, der den Stellvertreter:innen zur Verfügung steht. Eine eindrückliche Skizze mit den verschiedenen Schattierungen der Anerkennungsgrade liefert Sauer 2017, S. 50–55.

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Stellvertretung

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und Theologie Assoziationen mit sich, die in die Irre führen, wenn es um Leitungshandeln geht. Das mag an zwei knappen Hinweisen deutlich werden: Religionsgeschichtlich ist Stellvertretung als Phänomen insofern bekannt, als ein Mensch als Vertreter einer Gottheit oder eines Religionsstifters verstanden wird. Als Beispiele dafür seien im römischen Katholizismus der Papst als vicarius Christi und im Islam der Kalif als Stellvertreter Mohammeds genannt. In der christlichen Soteriologie ist Stellvertretung die Kurzformel für die Vorstellung, dass Gott in Jesus Christus für die Menschen eintritt. Von diesen Assoziationen aus Leitlinien für ein theologisches Modell geistlicher Stellvertretung zu entwickeln, hieße, Leitende und Stellvertretende in ihrer Funktion religiös zu überhöhen. Das verbietet sich aus evangelischer Perspektive. Stellvertretung in einer kirchlichen Organisation der Gegenwart ist dezidiert als weltlich Ding zu fassen. Selbstredend kann stellvertretende Leitung mit einer evangelischen Grundhaltung ausgeübt und als eine geistliche stellvertretende Leitung gestaltet werden. Da aber die Differenz von Stellvertretung und Leitung allein auf struktureller und organisationaler, nicht aber auf theologischer Ebene liegt, fallen die Überlegungen zur Signatur des »Geistlichen« in Stellvertretung und Leitung in eins.3 Unabhängig davon, dass stellvertretendes Leiten nicht spezifisch religiös-theologisch zu definieren ist, kann ein spielerischer Umgang mit der Bibel weiterführen. Darum für alle, die bereit sind, die strengen Maßstäbe historisch-kritischer Exegese auszublenden, und die Lust auf kreatives Querlesen haben: Keine Bibeltexte zum Thema »Stellvertretung« Exodus 4–6; 15; 32 und Numeri 12

Mal angenommen, Mose wäre der Leiter des Volkes Israel und Aaron und Mirjam seine beiden Stellvertreter:innen. Was wäre dann von Aaron und Mirjam für stellvertretendes Leiten zu lernen?

4 Modelle der Stellvertretung: Abwesenheitsvertretung Die Konstellationen, in denen Stellvertretende ihr Leitungshandeln ausüben, sind unterschiedlich. Sie reichen von der zeitlich begrenzten Übernahme der Gesamtverantwortung bis hin zur dauerhaften Verantwortungsübernahme für bestimmte Aufgabenbereiche (vgl. Jirmann/Hilgenstock 2003, S. 26; Sauer 2017, S. 50–51). Ein klassisches Modell ist die Abwesenheitsvertretung. Wenn die Leitungsperson verhindert oder die Leitungsposition nicht besetzt ist, kommt es dem:der Stellvertreter:in zu, das Leitungshandeln interimsweise zu übernehmen, damit die Organisation reibungslos weiter funktioniert. Der:die Stellvertreter:in hat von dem:der Leiter:in Informationen und Instruktionen erhalten, in welchen Belangen er:sie in dessen:deren Abwesenheit wie zu agieren oder nicht zu agieren hat. Das Mandat der Abwesenheitsvertretung ist damit zeitlich und üblicherweise auch im Zuständigkeitsbereich limitiert: Entscheidungen von größerer Tragweite fallen meist nicht in den Kompetenzbereich des:der Stellvertreter:in. Entsprechend dieser Begrenzung stehen der Stellvertretung zur Abwesenheit selten zusätzliche Ressourcen zur Verfügung. Es liegt in der Verantwortung der Abwesenheitsvertretungen, sich in der Kombination aus regulärer Arbeitslast und temporär hinzukommender Leitungsaufgabe zu organisieren.

3 Zum Thema »geistlichr Leitung« → Kap. 14 Leiten im Geist – Leiten als Geistliche:r.

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Abwesenheitsvertretung ist zeitlich und sachlich begrenzt

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Während die Abwesenheitsvertretung auf der mittleren Ebene kirchenleitenden Handelns weniger oft vorkommt, ist sie in der ehrenamtlichen Gremienarbeit (stellvertretende Synodale) sowie in kirchlichen oder diakonischen Einrichtungen üblich. Wenn sich in den Einrichtungen die Mandatierung allein auf die Abwesenheitsvertretung bezieht, erfolgt sie durch eine Entscheidung der Leitungsperson. Um den Verdacht zu vermeiden, der:die Leitende habe sich bei der Entscheidung von persönlicher Sympathie leiten lassen, findet häufig das Prinzip der Anciennität Anwendung. Der:die Dienstälteste wird als Stellvertreter:in bestimmt, weil er:sie die Einrichtung besonders gut kennt und damit im Idealfall am besten weiß, was zu tun ist. Das formale Prinzip der Anciennität soll sowohl die fachliche Qualität wie die Autorität in der Rolle unterstützen. So dient es in zweierlei Hinsicht der Anerkennung, die für wirksame Stellvertretung nötig ist. Wenn die Mandatierung in ehrenamtliche Gremien, wie etwa einer Landessynode, durch eine Wahl erfolgt, ist sie eine tragfähige Grundlage für den Auftrag ebenso wie für die Anerkennung des Tuns.

5 Modelle stellvertretender Leitung: arbeitsteilige Stellvertretung Während die Abwesenheitsvertretung die Kontinuität des Leitungshandelns in einer Organisation gewährleisten soll, dient das Vikariat der Optimierung des Leitungshandelns. Der:die Leiter:in teilt dem:der Stellvertreter:in aus ihrem Aufgabenbereich Leitungsaufgaben zu, damit alle Leitungsaufgaben mit ausreichend Ressourcen angemessen erfüllt werden können. Die sogenannte arbeitsteilige Stellvertretung impliziert in aller Regel auch die Aufgabe der Abwesenheitsvertretung. Das ist insofern bedenkenswert, als damit das Mandat zur Stellvertretung zwar dauerhaft besteht, sich aber nicht kontinuierlich auf denselben Aufgabenbereich bezieht. Den für sie bestimmten Teilbereich an Leitungsaufgaben einer Organisation gestaltet die stellvertretende Leitungsperson eigenverantwortlich und kontinuierlich. Zusätzlich übernimmt sie temporär die Gesamtverantwortung für die Organisation während der Abwesenheit der Leitungsperson.

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Stellvertretung

Die Mandatierung der arbeitsteiligen Stellvertretungen kann unterschiedlich erfolgen. In kirchlichen oder diakonischen Einrichtungen ist die Stellvertretung häufig per se mit einer Stelle oder einem Amt verbunden und somit für alle Bewerber:innen zugänglich. Im Rahmen eines regulären Besetzungsverfahrens wird das Mandat zur arbeitsteiligen Stellvertretung an den:die Stellen- oder Amtsinhaber:in übertragen. So sehen beispielsweise Stellenpläne von Kindertagesstätten neben der Stelle der Kitaleitung oft auch eine für eine:n stellvertretende:n Leiter:in vor. Diese:r ist primär als Erzieher:in in der pädagogischen Arbeit am Kind tätig. In seiner:ihrer Stellvertretungsfunktion übernimmt er:sie die Abwesenheitsvertretung und verantwortet außerdem zum Beispiel den Bereich der Elternarbeit. Für die Leitungsaufgabe ist dann auch ein Zeitkontingent vorgesehenen und (schriftlich) vereinbart. Entsprechend der partiellen Leitungsverantwortung sind diese Stellen meist höher dotiert, sodass die stellvertretenden Leiter:innen neben zeitlichen Ressourcen für ihre Aufgabe auch eine finanzielle Vergütung erhalten. Mit der klaren Aufgabendefinition, die sich auch in der finanziellen Gratifikation ausdrückt, geht meist eine grundsätzliche Anerkennung der Leitungsfunktion durch die Interaktionspartner:innen einher. Arbeitsteilige Stellvertretungen sind nicht nur in kirchlichen oder diakonischen Einrichtungen üblich – auch auf der mittleren Ebene der Kirchenleitung haben sie sich etabliert: Neben dem:der Dekan:in hat ein:e stellvertretende:r Dekan:in oft eine eigene Leitungsaufgabe, die zum Beispiel im Bereich der Personalführung liegt. So werden etwa Beurteilungen oder Mitarbeitendenjahresgespräche unter Dekan:innen und Stellvertreter:innen aufgeteilt. Während Stellvertreter:innen in kirchlichen oder diakonischen Einrichtungen ihre Funktion in aller Regel im Rahmen eines offenen Bewerbungsverfahrens erhalten, erfolgt die Mandatierung auf der mittleren Ebene, etwa in den Dekanaten der ELKB so, dass die Dekan:innen ihre Stellvertreter:innen vorschlagen. Gewählt werden die Vorgeschlagenen nach Anhörung des Pfarrkapitels durch den Dekanatsausschuss (vgl. § 30a Abs. 2 DBO), woraufhin die Funktion schließlich vom Landeskirchenrat übertragen wird (vgl. § 30a Abs. 3 DBO). Die Mandatierung erfolgt hier also nicht im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens, sondern als eine Auswahl durch die Leitungsperson. Dadurch stellt sich die Frage der Anerkennung der Stellvertreter:innen auf der mittleren Ebene gerade in Bezug auf die Kolleg:innen im Pfarrkapitel mit Dringlichkeit: Die gesetzlich geforderte Anhörung des Pfarrkapitels spiegelt im günstigen Fall zunächst eine Akzeptanz des aktuellen Leitungshandelns der Dekan:innen, mitnichten aber schon eine Befürwortung des zukünftigen Leitungshandelns der Stellvertreter:innen. Diese können insofern etwa bei der Personalführung im Pfarrkapitel auf schwankendem Boden stehen. In Gesprächen, in denen das Gegenüber von vornherein signalisiert: »Wieso soll ich mir von dir etwas sagen lassen? Ich wurde doch nur pro forma gefragt, ob ich dich als meine:n Vorgesetzte:n will!«, hat der:die Stellvertreter:in einen schweren Stand. Das Leitungshandeln unter solchen Umständen konstruktiv zu gestalten, erfordert von Stellvertreter:innen ein hohes Maß an kommunikativer Kompetenz, Distanzierungsvermögen und Frustrationstoleranz. Was die Ressourcen der stellvertretenden Dekan:innen angeht, bestehen diese vor dem Hintergrund der Alimentierung der Pfarrer:innen in einem Zeitkontingent, das die Erfüllung der Leitungsaufgaben ermöglichen soll. Dazu erfolgt eine Reduktion der Aufgaben im Arbeitsbereich der Pfarrperson. In Landeskirchen wie der ELKB, in denen Religionsunterricht zu den regulären Aufgaben von Pfarrer:innen zählt, wird dafür häu-

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Arbeitsteilige Stellvertretungen: Die Mandatierung macht den Unterschied

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fig das Regelstundenmaß in der Schule gekürzt. Anders als bei Stellvertretungen, deren Funktion ursprünglich mit der Stelle übernommen ist, wird also das Leitungshandeln nicht finanziell vergütet.

6 Modelle stellvertretender Leitung: Projektleitung und Teil eines Leitungsteams

Projektleitung: Leitung an der »langen Leine«

Leitungsteam: gemeinsam gestalten

Bisher wurde die arbeitsteilige Stellvertretung als ein Leitungshandeln mit zwei klar definierten Bereichen skizziert: einem eigenverantwortlichen Aufgabenfeld und der Abwesenheitsvertretung. Eine derartige Reinform arbeitsteiliger Stellvertretung, bei der sowohl Leiter:innen als auch Stellvertreter:innen ihre jeweiligen Aufgaben nicht nur verantworten, sondern getrennt voneinander gestalten, entspricht nicht immer der gelebten Praxis. Vielmehr gibt es regelmäßig davon abgewandelte Formen. Häufig kommt es vor, dass Leiter:innen den Stellvertreter:innen nicht einen kompletten Sachbereich zur eigenverantwortlichen Arbeit übergeben, sondern ihnen Projekte delegieren, die sie in enger Absprache mit ihnen leiten. Dies kann etwa in einer Kindertagesstätte die Einführung der Portfolioarbeit sein, die die Konzeptentwicklung im Team, die Kommunikation mit dem Elternbeirat, die Öffentlichkeitsarbeit und die Umsetzung in den einzelnen Gruppen umfassen. Dabei ist es an den Stellvertreter:innen, das Projekt auf allen genannten Ebenen voranzutreiben. Zudem gehört es zu ihren Aufgaben, den Leiter:innen regelmäßig vom je aktuellen Stand der Dinge zu berichten und sich für die Weiterarbeit mit ihnen ins Benehmen zu setzen. Wesentliche Entscheidungen können sie nicht allein, sondern nur in Rücksprache mit den Leiter:innen treffen. Eine Variante arbeitsteiliger Stellvertretung ist das Leitungsteam. Dabei kommt für die Stellvertreter:innen neben dem eigenen Leitungsbereich und der Abwesenheitsvertretung noch ein Aufgabenbereich hinzu, der selten klar definiert und am ehesten als Leitungsberatung zu fassen ist. Konkret wird dies am Beispiel der sogenannten Viererrunden, die in der ELKB häufig von Dekan:innen auf mittlerer Ebene installiert werden. In den informellen Leitungsteams tauschen sich Dekan:innen mit den Vertrauenspfarrer:innen und ihren jeweiligen Stellvertreter:innen über Themen der Dekanatsleitung aus. Dabei können keine rechtlich bindenden Entscheidungen getroffen werden, gleichwohl werden in der gemeinsamen Diskussion Vorklärungen unternommen. Insofern kommt hier den stellvertretenden Dekan:innen (wie auch den Vertrauenspfarrer:innen und den stellvertretenden Vertrauenspfarrer:innen) ein hohes Maß an Leitungsverantwortung und Mitgestaltung zu. Wie oben angedeutet, ist das Spezifikum in der Leitungskooperation auf mittlerer Ebene, dass einzelne Befugnisse und Zuständigkeiten dabei nicht eindeutig definiert und etwa in einer Dienstordnung festgehalten sind. Wie weit die Leitungsverantwortung für die Stellvertreter:innen in den Leitungsteams geht, ist

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daher wesentlich davon abhängig, wie die Dekan:innen ihre Leitungsrolle füllen: Da ist die Dekanin, die klare Vorstellungen und Visionen etwa für eine gemeinsam verantwortete Kasualpraxis im Dekanat hat und diese in der Viererrunde zur Diskussion stellt. Daneben ist der Dekan, der Ideen zu allererst mit seinem Leitungsteam entwickelt. Je nachdem, wie die Leitungsperson ihr Leitungshandeln versteht und ausübt – als Durchsetzen einer formal gegebenen Autorität oder Ermöglichung von Partizipation –, müssen die Stellvertreter:innen unterschiedlich agieren. Der Führungsstil der Leitungsperson prägt wesentlich ihre Rolle. Fragen zur Reflexion für Stellvertretende

a. b. c. d.

Welche Aufgaben in der Stellvertretung habe ich übernommen? Wie bin ich von wem zu diesen Aufgaben beauftragt? Welche Ressourcen stehen mir zur Erfüllung meiner Aufgaben zur Verfügung? Wer zeigt mir wie, dass er:sie mich in meiner Rolle als stellvertretende Leiter:in respektiert? e. Wie kann ich den:die Leiter:in so unterstützen, dass er:sie gut leiten kann? f. Wie kann ich die Kolleg:innen so unterstützen, dass sie ihre Aufgaben gut erfüllen können? für Leitende

g. Welches Leitungsmodell lebe ich? h. Was erwarte ich von meinem:meiner Stellvertreter:in? i. Wie kann ich sie:ihn so unterstützen, dass er:sie seine:ihre Aufgaben gut und verantwortlich erledigen kann? j. Wie kann ich zur Klärung seiner:ihrer Leitungsbefugnisse beitragen? k. Was muss und was soll allein in meinem Verantwortungsbereich bleiben und warum?

7 Klassische Konfliktfelder zwischen Leiter:innen und Stellvertreter:innen Es hat sich in allen Strukturmodellen der Zusammenarbeit von Stellvertreter:innen und Leiter:innen gezeigt, dass Stellvertreter:innen grundsätzlich in einem Abhängigkeitsverhältnis arbeiten, bei dem es nur graduelle Unterschiede gibt. Konkret zeigt sich die Abhängigkeit etwa in folgenden Fragen: – Was erwartet der:die Leiter:in von mir? – Was soll und was darf ich entscheiden und tun? – Wie weit lässt er:sie mich an seinem:ihren Leitungshandeln und Wissen teilhaben? Im günstigen Fall decken sich die Erwartungen der Leitungsperson mit denen der Stellvertretung oder sind einvernehmlich festgelegt. Weniger günstig, dafür ebenso häufig ist, dass die Erwartungen der Leitungspersonen sich nicht mit denen der Stellvertretung decken. Auch wenn gerade im kirchlichen Kontext der Anspruch von Leiter:innen darin besteht, »gemeinsame Entscheidungen zu finden« (Nierop/Mantei/Schraudner 2017, S. 15), zählt im Zweifelsfall das Wort der Leitungsperson. Die Abhängigkeit der Stellvertreter:innen schlägt sich dann zum Beispiel darin nieder, dass sie Aufgaben übernehmen müssen, die den Leiter:innen unliebsam sind (vgl. Jirmann/Hilgenstock 2003, S. 27), etwa Konfliktgespräche mit Eltern in der Kita oder das jährliche Grußwort beim Jahresempfang der örtlichen Polizeidirektion.

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Im Zweifelsfall zählt das Wort der Leiter:innen

Reden hilft

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Die Abhängigkeit der Stellvertreter:innen kann sich auch darin ausdrücken, dass sie Dinge nicht tun können, die sie gerne tun würden. Haben etwa die Stellvertreter:innen eigene Vorstellungen und Ideen für Projekte in der Organisation oder im Dekanat, kommt es durchaus vor, dass die Leiter:innen daran keinen Gefallen finden. Dafür kann es sachliche Gründe geben, es kann gleichwohl auch sein, dass sich die Ablehnung aus einem Konkurrenzgefühl und dem Gefühl der Bedrohung des eigenen Machtbereichs speist. Welche Motivation auch immer hinter der Ablehnung steckt, für die Stellvertreter:innen wird es dann schwer, ihr Vorhaben zu realisieren. Zugleich kann eine solche Situation auf Seiten der Stellvertreter:innen Konkurrenzgefühle wecken und den Eindruck hervorrufen, degradiert worden zu sein. Ebenso ungünstig und häufig wie das Auseinanderfallen der Erwartungen von Leiter:innen und Stellvertreter:innen ist, dass diese überhaupt nicht kommuniziert sind. Dabei liegt das Problem bereits darin, dass mitunter die Erwartungen nicht nur nicht kommuniziert, sondern auch nicht bewusst sind – weder den Leitungspersonen noch den Stellvertreter:innen.4 Ohne Vorgaben und Absprachen ist aber weder der Stellvertretung noch dem Pfarrkapitel noch dem Team der Einrichtung noch den externen Kooperationspartner:innen klar, was die Rolle der Stellvertretung ist. Im Dickicht des Ungeklärten bahnen sich Stellvertreter:innen dann ihren Weg und übernehmen je nach Persönlichkeitstyp, Sachinteresse und Arbeitskapazität eigenständig Aufgaben. Solche Initiativen können aufseiten der Leitungspersonen im Sinne der Arbeitsentlastung Wertschätzung und Dank hervorrufen. Wenn die Leitungspersonen im Handeln der Stellvertreter:innen einen Übergriff in den eigenen Machtbereich sehen, kann dies aber auch zu deren Zurückweisung führen. In jedem Fall provoziert eine mangelnde Klärung und Kommunikation bezüglich der Zuständigkeiten ein hohes Maß an Zufälligkeit und Unsicherheit im Leitungshandeln sowie ein nicht unerhebliches Konfliktpotenzial zwischen Leiter:innen und Stellvertreter:innen, wenn vorher keine klaren Absprachen getroffen wurden. Zur Entlastung aller Beteiligten ist hervorzuheben: Selbst wenn Leiter:innen und Stellvertreter:innen alle ihre Erwartungen, Aufgaben und Zuständigkeiten einvernehmlich kommunizieren, sind konfliktuöse Situationen in der Zusammenarbeit nie auszuschließen. Auch bei arbeitsteiligen Stellvertretungen, die auf dem Prinzip der Versäulung des Arbeitens beruhen, können die Zuständigkeitsbereiche innerhalb eines Systems nicht völlig voneinander getrennt werden: Der stellvertretende Kitaleiter, der die Elternarbeit eigenverantwortlich ausübt, muss dazu regelmäßig Entscheidungen treffen, die nicht nur seinen, sondern auch andere Arbeitsbereiche tangieren, wie etwa Finanzfragen oder Fragen des pädagogischen Konzepts des Gesamtteams, die meist in den Zuständigkeitsbereich der Kitaleiterin gehören. Gerade bei arbeitsteiligem Zusammenwirken sind immer wieder Absprachen zu sachlichen Fragen erforderlich. Diese lassen sich umso leichter verhandeln, wenn die basale Klärung der Zuständigkeiten erfolgt ist, die zu einer Stabilisierung des Verhältnisses zwischen Leiter:innen und Stellvertreter:innen wesentlich beiträgt. Wo Verantwortungsbereiche explizit definiert sind, ist die Möglichkeit zur inneren Distanzierung zum je anderen leichter und damit potenzielle Konkurrenz besser einzuhegen. Außerdem können bei Problemen oder Konflikten auf der definierten struk4 Der bemerkenswerte Hinweis, dass die Vorgesetzten nicht klären, was sie von den Stellvertreter:innen erwarten, ist nachzulesen bei Jirman/Hilgenstock 2003, S. 26.

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turellen Ebene tragfähige Lösungen erarbeitet werden. Eine gelungene Verständigung zwischen Leiter:innen und Stellvertreter:innen nehmen auch Dritte wahr, insofern im Leitungshandeln eine klare inhaltliche Linie zu erkennen ist. Deutlich wird die Leistung klarer und institutionalisierter Kommunikation etwa am Beispiel der Übergabegespräche bei Abwesenheitsvertretungen: Während die Übergabe vor der Abwesenheit die Handlungssicherheit der Stellvertreter:innen gewährleistet, bedeutet die Übergabe nach der Abwesenheit für die Stellvertreter:innen Entlastung von der übernommenen Aufgabe. Zugleich ist die Übergabe eine Gelegenheit, bei der sich die Stellvertreter:innen von den Leiter:innen in ihrem spezifischen Tun wahrgenommen und im besten Fall wertgeschätzt wissen können.

8 Klassische Konfliktfelder zwischen Stellvertreter:innen und Kolleg:innen Als zentrale Bedingung für wirksames stellvertretendes Handeln wurde die relationale Größe der Anerkennung genannt. Evident ist die Notwendigkeit der Anerkennung durch die Leitungsperson. Sie ist im Grundsatz wenig fraglich, insofern die Leitungsperson zumeist die Entscheidung für die Stellvertretung (mit-)getroffen hat. Die Anerkennung durch die Kolleg:innen ist weitaus weniger selbstverständlich, aber ebenso notwendig. Dass sie vom Verfahren der Mandatierung abhängig ist, wird im Vergleich von der Ernennung stellvertretender Dekan:innen mit stellvertretenden Vertrauenspfarrer:innen deutlich, wie sie in der ELKB Regel ist: Während Erstere, wie oben geschildert, von den Dekan:innen ausgewählt und die Kolleg:innen dazu nur angehört sind, sind Letztere »aus der Mitte« des Pfarrkapitels von den Kolleg:innen gewählt (vgl. § 34 Abs. 1 DBO). Die stellvertretenden Vertrauenspfarrer:innen, die ihrer Funktion nach vor allem Vertrauenspersonen sind, können so mit einer grundsätzlichen Anerkennung ihres Tuns rechnen. Davon profitieren sie auch dort, wo sie, wie etwa in den oben genannten Viererrunden, in Leitungshandeln eingebunden sind. Neben der Frage der Anerkennung ihres Leitungshandelns beschäftigt Stellvertreter:innen häufig die Frage nach Nähe und Distanz zu den Kolleg:innen. Zugleich fragen die Kolleg:innen – mitunter explizit–: »Auf welcher Seite stehst du? Auf der Seite der Leitung oder auf unserer Seite?« Dass die Position der Stellvertreter:innen strukturell durch eine Distanz zum Pfarrkapitel oder dem Team der Einrichtung gekennzeichnet ist, wird konkret in den Ressourcen, die Stellvertreter:innen für ihr Leitungshandeln bereitgestellt bekommen. Die Zeit für die Absprachen der stellvertretenden Kitaleiterin mit der Leiterin kann den Kolleg:innen als Kaffeeklatsch erscheinen, währenddessen sie der Arbeit am Kind nachgehen müssen. Das Büro des stellvertretenden Schulleiters ist für die im Lehrer:innenzimmer Verbliebenen immer auch ein Upgrade im Arbeitskomfort, das sie womöglich mit Neid erfüllt. Wo die Ressourcen starke Begehrlichkeiten wecken und nicht als notwendige Voraussetzung für das Leitungshandeln der Stellvertreter:innen akzeptiert sind, kann aus der strukturellen Asymmetrie zwischen Stellvertreter:innen und Kolleg:innen ein Feld unguter Emotionen entstehen: Während die Kolleg:innen mit Konkurrenzgefühlen

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Der Platz zwischen den Stühlen

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Ironie markiert Distanz und versucht, sie zu überwinden

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kämpfen, gewinnen die Stellvertreter:innen den Eindruck, allein auf verlorenem Posten zwischen den Fronten zu stehen.5 Die Distanz zwischen Kolleg:innen und Stellvertreter:innen kann auch jenseits der Ressourcenverteilung zum Problem werden, insofern die Stellvertreter:innen über weite Strecken in der Zusammenarbeit als Kolleg:innen agieren: Sie halten als Pfarrpersonen in ihren Gemeinden Gottesdienste, organisieren Gemeindefeste, gestalten als Erzieher:innen in der Kitagruppe den Morgenkreis und arbeiten mit den Vorschulkindern. Dabei werden sie im Pfarrkapitel und im Team als eine:r wie wir wahrgenommen. Wenn die Stellvertreter:innen punktuell und für Kolleg:innen unerwartet in ihrer Leitungsfunktion auftreten, markieren sie eine Differenz in der Rolle und damit eine Distanz, die im Rahmen eines hierarchischen Denkens als er:sie oben, wir unten gedeutet wird. Mit dieser Wahrnehmung kann aufseiten der Kolleg:innen eine Kränkung einhergehen, die intrapersonal zu einem (un-)bewussten Konkurrenzgefühl führen kann. Interpersonal ist häufig zu beobachten, dass die Kommunikation einen ironisierenden Unterton bekommt. Die Distanz in den Rollen wird durch eine distanzierende Redeweise markiert, die oft mit Lachen kombiniert ist. Etwa wenn die Kollegin eine Unterschrift benötigt und sich dazu an den Kollegen wenden muss, der die Abwesenheitsvertretung innehat: »Na, Chef – kannst du mir das hier eben mal unterschreiben?« Je nachdem, wie rollensicher der:die Stellvertreter:in in einem solchen Fall ist, muss er:sie auf den Hinweis der Asymmetrie nicht explizit eingehen, sondern kann in der ihm:ihr eigenen Funktion freundlich und gelassen die Unterschrift auf das hingehaltene Dokument setzen. Ebenso wie missverstandene Distanz kann auch unangemessene Nähe zwischen Stellvertreter:innen und Kolleg:innen zu Konflikten führen. In Teambesprechungen ohne die Leitungsperson oder auch bei Einzelbegegnungen zwischen Stellvertreter:innen und Kollege:innen kommt es immer wieder vor, dass den Stellvertreter:innen Anliegen vorgetragen werden, die sie an die Leiter:innen weitergeben sollen: »Ich finde, wir brauchen eine einheitliche Öffentlichkeitsarbeit für das Dekanat. Kannst du das nicht mal dem Dekan sagen?«, oder: »Hak’ doch nochmal bei der Leiterin nach, wann wir endlich die Dienstlaptops kriegen!« Auf der Basis der kollegialen Beziehung können Mitarbeiter:innen den Stellvertreter:innen Anliegen leichter vortragen, als sie direkt bei der Leitungsperson zu platzieren. Dadurch werden Stellvertreter:innen regelmäßig in eine Pufferposition gebracht, aus der sich herauszumanövrieren Rollenklarheit und kommunikative Kompetenz erfordert. Heikel wird die Angelegenheit, wenn Kolleg:innen den Stellvertreter:innen gegenüber nicht Sachanliegen äußern, sondern dezidiert Kritik an der Leitungsperson üben: »Stell dir vor, die Chefin hat wieder … Unmöglich! Du musst ihr wirklich mal sagen, dass das so gar nicht geht!« Wenn ein Sachanliegen vorgebracht wird, erfolgt eine Delegation von (Kommunikations-)Aufgaben, die die Stellvertreter:innen in die Rolle derer drängt, die ein Anliegen der Kolleg:innen formulieren soll. Wenn explizit Kritik an der Leitungsperson geübt wird, geht damit außerdem das Angebot zur Koalition einher, die sich inhaltlich gegen die Leitungsperson richtet und damit die Stellvertreter:innen in die Oppositionsrolle gegenüber den Leiter:innen drängt. Stellvertreter:innen tun gut daran, zu klären, ob die von Kolleg:innen an sie herangetragenen Aufgaben ihre Aufgaben sind. Insbesondere bei Kritik an der Leitungsperson können sie die Kolleg:innen zu selbstständigem Handeln ermuntern (und gegebenenfalls Unterstützung in einem Dreiergespräch anbieten oder sie an die Vertrauenspfarrer:innen im Pfarrkapitel verweisen).

5 Die mit der Ressourcenverteilung einhergehende Einsamkeit der Stellvertreter:innen illustriert folgende Aussage: »Von dem Tag an, wo du vom Lehrerzimmer ins Zimmer des Schulleiters wechselst, hast du keine Kollegen mehr.« Nierop/Mantei/Schraudner 2017, S. 61.

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Stellvertretung

So wie Kolleg:innen manchmal die Nähe zu Stellvertreter:innen für eigene Anliegen nutzen wollen, gibt es auch den umgekehrten Fall. Stellvertreter:innen verspüren das Bedürfnis, die durch die Stellvertreter:innenrolle entstandene Distanz zum Team und Pfarrkapitel einzuebnen und eine für ihre Position unangemessene Nähe zu suchen. So eine Anbiederung ist insbesondere dann problematisch, wenn es um Kritik an der Leitungsperson geht und die Stellvertreter:innen den Kolleg:innen eine Koalition gegen die Leiter:innen anbieten. Im Kreise der Kolleg:innen über »den Chef« »abzulästern«, mag kurzfristig ein effektives Mittel zur Arbeitsseelenhygiene sein. Auf lange Sicht ist es dazu aber so wenig geeignet, wie es unwirksam für das Leitungshandeln bleibt. Wenn die Stellvertreter:innen den Mut aufbringen, ihre Kritik direkt zu adressieren, bekommen die Leiter:innen die Chance, die Wirkungen ihres Handelns zu reflektieren und möglicherweise Konsequenzen zu ziehen. Die Herausforderung für Stellvertreter:innen besteht daher darin, statt Tratschrunden mit den Kolleg:innen Konfrontationsgespräche mit den Leiter:innen anzustrengen. In nur neun Schritten aus der zweiten Reihe gleiten 1. Sprich gegenüber dem:der Leiter:in nie die Rollenfrage an. Du weißt ja, was du willst und tust. 2. Interessiere dich nicht für das, was der:die Leiter:in tut und vermeide, seine:ihre Netzwerke und die Abläufe seiner:ihrer Aufgaben kennenzulernen. 3. Informiere dich bei der letzten Dienstbesprechung vor dem Urlaub des Leiters:der Leiterin ausführlich über dessen:deren Reiseziel und vermeide ein Gespräch über die Zeit seiner:ihrer Abwesenheit in der Organisation. 4. Nutze die Gelegenheit, wenn der:die Leiter:in im Urlaub ist, und führe etwas Neues in der Organisation ein. Zum Beispiel ein neues Betriebssystem für den Teamserver. 5. Gib dem:der Leiter:in immer recht. Vor allem im Beisein der Kolleg:innen. 6. Widersprich dem:der Leiterin immer. Vor allem im Beisein der Kolleg:innen. 7. Vereinbare mit den Kolleg:innen einen Jour fixe »Leiter:innen-Lästern«. 8. Berichte dem:der Leiter:in wöchentlich und wörtlich, von wem du was über ihn:sie gehört hast. 9. Siehe täglich in den Spiegel und sage laut zu dir: »Wenn ich der:die Chef:in wäre, würde ich es so viel besser machen.«

9 Das »Eigenartige« und »Eigenwillige« der Stellvertretungen Aus der Skizze der Konfliktfelder der Stellvertreter:innen wurde deutlich, dass diese gerade durch das strukturelle Element des »Zwischen« markiert sind (vgl. dazu schon Jirman/ Hilgenstock 2003, S. 26). Die Stellvertreter:innen agieren zwischen Leiter:innen und Kolleg:innen, zwischen Dekan:innen und Pfarrkapitel. Dabei erleben sie eine ständige Ambivalenz in ihrem Leitungshandeln. Einerseits haben die Stellvertreter:innen Leitungsbefugnis, auch über Kolleg:innen, andererseits ist die Autorität dieses Leitungshandelns nur minimal durch rechtliche Handhabe gestützt und muss sich im Sinne der »neuen Autorität« primär im kommunikativen Miteinander erweisen (zur Diskussion um »neue Autorität« vgl. exemplarisch Baumann-Habersack 2017). Einerseits partizipieren Stellvertreter:innen – vor allem in Leitungsteams – am Einflussbereich der Leiter:innen und verfügen über eigene Gestaltungsbereiche, andererseits stehen sie nicht in der ersten Reihe, sie tragen nicht die Gesamtverantwortung. Einerseits befinden sich Stellvertreter:innen nah am Machtzentrum, andererseits leiten sie eben nur in der zweiten Reihe und müssen die Grenzen ihrer Rolle gegenüber den Leiter:innen respektieren.

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– – – –

Kurz: Stellvertretung ist im Wesentlichen ein Leitungshandeln, dessen Autorität sich ausschließlich in Kommunikation erweist, das frei von der Verantwortung für das große Ganze ist und zugleich eine grundsätzliche Bereitschaft und Fähigkeit zur Subordination erfordert.

Diese Eigenart der Stellvertretung ist mit der Rolle gesetzt. Sich damit von Beginn an auseinanderzusetzen und die Besonderheit dieser spezifischen Leitungsfunktion zu reflektieren, ist deshalb für Stellvertreter:innen unabdingbar. Es geht für sie dabei darum, nicht im »Zwischen« zerrieben zu werden, sondern sowohl gegenüber den Leiter:innen als auch gegenüber den Kolleg:innen rollenklar und selbstständig zu bleiben, um so die eigene Handlungsfähigkeit zu erhalten. Insofern sich die Systeme, in denen Stellvertreter:innen agieren, beständig ändern, bedarf es einer stetig wiederkehrenden Rollenreflexion, die zu keinem Zeitpunkt als abgeschlossen gelten kann (vgl. Sauer 2017, S. 6). Sie zielt auf eine sich immer erneuernde Selbstklärung und ist in der Kommunikation mit den Kolleg:innen und Leiter:innen praktisch umzusetzen.6

Insofern der Zwischenraum des stellvertretenden Leitungshandelns mit seinen Grenzen beständig auszuloten ist, können diese trotz der genannten Gestaltungoptionen manchmal hinderlich scheinen, als wäre die Eigenart stellvertretenden Leitens vor allem durch Restriktion gekennzeichnet. Zugleich ermöglicht das »Zwischen« aber auch, dass Stellvertreter:innen ihre Funktion nach ihren Vorstellungen selbstständig mitdefinieren und die Grenzen ihres Verantwortungsbereichs bis zu einem gewissen Grad mitbestimmen können: Die Abhängigkeit von den Leitungspersonen kann gerade in Leitungsteams Gestaltungsspielraum für die Stellvertreter:innen bedeuten. Denn wo nicht absolut eindeutig durch eine formale Stellenbeschreibung festgelegt und festzulegen ist, woran die Stellvertreter:innen beteiligt sind, da können sie immer wieder nach ihrem Interesse nachverhandeln, um eigene Vorstellungen und Ideen für die Leitung der Organisation einzubringen. Dieser Gestaltungsspielraum eröffnet sich gerade für initiative und kommunikative Typen in der Stellvertretung. 6 Während Jirmann/Hilgenstock (2003, S. 26) darauf verweisen, dass die Stellvertreter:innen in der Rollenklärung meist auf sich gestellt sind, sind für den kirchlichen und diakonischen Kontext die Instrumente von Supervision und Coaching inzwischen akzeptiert. Kritisch anzumerken ist hier allerdings, dass sie nicht für alle Berufsgruppen gleichermaßen leicht zugänglich sind. Der:die stellvertretende Dekan:in bekommt die Supervision in der Regel schneller und einfacher genehmigt als die:der stellvertretende Kitaleiter:in.

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Stellvertretung

Die drei K guter Stellvertretung 1. Klären: Sich in der Rolle. Allein oder beim Coaching oder in der kollegialen Beratung. Immer wieder. 2. Kommunizieren: Für Transparenz sorgen. Gegenüber dem:der Leiter:in. Gegenüber den Kolleg:innen und Mitarbeiter:innen. Gegenüber den Ansprechpartner:innen der Organisation. 3. Konflikte erkennen: Die Perspektive des Leiters:der Leiterin einnehmen. Die Perspektive der Kolleg:innen einnehmen. Die Außenperspektive auf die Organisation einnehmen. Danach wieder: Klären und da capo ad infinitum.

10 Stellvertretung: Sprungbrett oder Leitungshandeln sui generis? Die bisherigen Ausführungen haben verdeutlicht, dass das Leitungshandeln der Stellvertreter:innen eine spezifische Signatur hat, durch die sie sich vom Leitungshandeln ihrer Vorgesetzten unterscheidet. Eine wesentliche Gemeinsamkeit in beiden Funktionen liegt darin, zu sehen, dass sie in der Kommunikation ihr zentrales Mittel haben. Den Stellvertreter:innen stehen zur Durchsetzung ihrer Autorität – allzumal im Gegenüber zu den Kolleg:innen – außer dem überzeugenden Gespräch nur bedingt andere Instrumentarien zu Gebote. Leitende können sich zwar prinzipiell leichter auf ihr Amt berufen (»Ich bin der:die Chef:in, so wird’s gemacht, Punktum!«), aber sowohl die Praxis als auch die Diskussion um neue Autorität zeigen, dass auch Leitung am besten mit dem überzeugenden Gespräch funktioniert (vgl. Sauer 2017, S. VI. 93 u. ö.).7 Insofern kann Stellvertretung als »Schule guter Führung« verstanden werden (Sauer 2017, S. 93), in der die für Leitung nötige kommunikative Kompetenz zu erproben ist. Darüber hinaus kann der mögliche Wunsch überprüft werden, sich in einem nächsten Schritt auf die Leitungsstelle einer Einrichtung oder eines Dekanats zu bewerben. Der Realitätscheck in der Stellvertretung vermag die Einschätzung der Herausforderungen von Leitungspositionen zu präzisieren. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, wenn Stellvertretung auch als Instrument der Personalentwicklung empfohlen wird. So deuten etwa die Autor:innen der Studie »Kirche in Vielfalt führen« die zweite Reihe als Erprobungsraum, den es in der Personalentwicklung gezielt zu nutzen gelte. Damit könne auch dem Vorurteil vieler Mitarbeiter:innen gewehrt werden, im kirchlichen Kontext sei Karriere nicht planbar (Nierop/Mantei/ Schraudner 2017, S. 46.56.61). Die Autor:innen werben – bezogen auf das Leitungshandeln der mittleren Ebene – explizit dafür, »das Stellvertretungsamt in allen Landeskirchen als Qualifikationsamt zu institutionalisieren« (S. 96). Auffällig ist, dass die Forderung, Stellvertretungen als Qualifizierungsmaßnahmen für Leitungsfunktionen auszubauen, überwiegend mit Argumenten plausibilisiert wird, die entweder im Interesse der Leiter:innen oder der Gesamtorganisation liegen (vgl. S. 97). Gegenüber diesem institutionellen Interesse an qualifizierenden Stellvertretungen wiegt das Interesse der Stellvertreter:innen, sich als Leiter:innen ausprobieren zu können, vergleichsweise gering. Diese argumentative Schieflage wird verschärft durch die Ergebnisse einer »Befragung der Theologinnen und Theologen der mittleren Leitungsebene in den EKD-Kirchen«8 von 2015, bei der Stellvertreter:innen nach ihrer Selbsteinschätzung bezüglich der Funktion ihres 7 Sauer (2017, S. 93) meint sogar, dass die Stellvertreter:innen durch ihren (gezwungenermaßen) kommunikativen Führungsstil »die besseren Führungskräfte« seien. An dieser pointierten Aussage ist immerhin so viel Wahres, dass den Stellvertreter:innen abverlangt wird, was in der Diskussion um »neue Autorität« für professionelle Leitung stets gefordert wird, → Kap. 9 Gespräche führen. 8 Titel des Hefts der Zeitschrift Pastoraltheologie 106/2017, in dem die Studie veröffentlicht ist.

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Regina Fritz

Leitungsamts innerhalb ihrer Berufsbiografie befragt wurden: Sie verstehen ihre Stellvertretung nur bedingt als eine Sprosse auf der Karriereleiter.9 Das mag daran liegen, dass im kirchlichen Kontext »Karriere« ein »Negativbegriff« ist (vgl. Nierop/Mantei/Schraudner 2017, S. 45) und daher der Wunsch, nach Höherem zu streben, in kirchlichen Umfragen als sozial unerwünscht gilt. Unabhängig davon lassen die Selbstaussagen der Stellvertreter:innen erkennen, dass sie ihre Aufgabe tatsächlich als ein Leitungshandeln sui generis verstehen. Im Verhältnis zu den Dekan:innen sehen sie sich zum einen »weiter entfernt von höheren Leitungsebenen« und den »sachorientierten Aufgaben« des Dekanats (Lindner 2017, S. 345). Zum anderen betonen sie unter ihren Leitungsaufgaben primär diejenigen, bei denen sie personzentriert agieren können. Darunter zählen das Fördern berufsbezogener Spiritualität, empathische Kommunikation und theologische Orientierung (vgl. Lindner 2017, S. 345), also Tätigkeiten, die der klassischen pastoralen Praxis im Gemeindepfarramt ähneln. Daher liegt die Vermutung nahe, dass für den weit überwiegenden Teil der Stellvertreter:innen diese spezifische Leitungsfunktion eine an sich attraktive Erweiterung und Vertiefung der Primärfunktion im gemeindlichen Kontext darstellt.10 Was die Befragung unter Stellvertreter:innen auf der mittleren Ebene zeigt, lässt sich am Ende der Überlegungen zur Stellvertretung so bündeln: Leitungshandeln in der zweiten Reihe ist eine Aufgabe, die ebenso anspruchsvoll wie reizvoll ist.

Autorin Dr. Regina Fritz, Pfarrerin, Systemische Beraterin (DGSF), ist seit 2018 Studienleiterin und stellvertretende Leiterin des Evangelisch-Lutherischen Predigerseminars Nürnberg. [email protected]

Literatur Baumann-Habersack, Frank H.: Mit neuer Autorität in Führung. Die Führungshaltung für das 21. Jahrhundert, 2. Aufl., Wiesbaden 2017. Hermelink, Jan: Ephorale Leitung. Vielfältig, anspruchsvoll, frei gestaltbar – auch für Frauen? Kommentar zur Studie »Kirche in Vielfalt führen« aus Sicht einer quantitativen Befragung von Ephor/innen und Stellvertretenden in den deutschen Landeskirchen (2017), in: Jantine Nierop/Simone Mantei/Martine Schraudner (Hg.): Kirche in Vielfalt führen. Eine Kulturanalyse der mittleren Leitungsebene der evangelischen Kirche mit Kommentierungen (Schriften zu Genderfragen in Kirche und Theologie 2), Hannover 2017, S. 108–112. https://www.gender-ekd.de/download/Kirche-in-Vielfalt-fu%A6%EAhren_WEB. pdf, abgerufen am 01.04.2022. Jirman, Renate/Hilgenstock, Ralf: Die stellvertretende Leitung – Funktion ohne klares Profil. Diffuser Aufgabenbereich zwischen Leitung und Beschäftigten, in: Innovative Verwaltung 5/2003, S. 25–27. Lindner, Herbert: Das besondere Profil der Stellvertretenden auf der Mittleren Ebene. Chancen für ein differenzierendes Leitungshandeln, in: Pastoraltheologie 106/2017, S. 340–355. Nierop, Jantine/Mantei, Simone/Schraudner, Martine (Hg.): Kirche in Vielfalt führen. Eine Kulturanalyse der mittleren Leitungsebene der evangelischen Kirche mit Kommentierungen (Schriften zu Genderfragen in Kirche und Theologie 2), Hannover 2017. https://www.gender-ekd.de/download/Kirche-in-Vielfalt-fu%A6%EAhren_WEB.pdf, abgerufen am 01.04.2022. Sauer, Christian: Der Stellvertreter. Erfolgreich führen aus der zweiten Reihe, München 2017. 9 In der Befragung geben weniger als ein Drittel der Stellvertreter:innen an, ein »weiteres kirchliches Amt« anzustreben, vgl. Lindner 2017, S. 349. 10 Die Ergebnisse beider genannten Studien hat bereits Jan Hermelink ins Verhältnis gesetzt und damit auf die Fragwürdigkeit der Empfehlung von Nierop/Mantei/Schraudner 2017 hingewiesen. Vgl. Hermelink 2017, S. 112.

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Stress und wie ich damit gut lebe

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Andreas Weigelt  Was stresst mich?   Womit vergrößere ich meinen Stress – und wie kann ich ihn verringern?   Was hilft mir, wenn ich mich gestresst fühle?

1  Im Dienstzimmer der Dekanin »Wie halten Sie es denn mit Ihrem freien Tag?«, fragt die Dekanin den Pfarrer N., während sie ihn zur Tür begleitet. »Klappt das denn, – wenigstens einigermaßen?«, schiebt sie nach, als sie eine Mischung aus Ratlosigkeit, Verzweiflung und Unglauben im Gesicht des jungen Kollegen erkennt. – »Meinen Sie das ernst? Freier Tag? – Ich bin ja schon froh, wenn ich mal einen Abend in der Woche vor Mitternacht ins Bett komme – und das gelingt selten genug! Ich bin dermaßen im Stress …« Nun ist es an der Dekanin, bei der die Gesichtszüge einen schmerzlichen Zug annehmen. Sie wollte nur das Gespräch mit ein paar versöhnlich-unverbindlichen Worten zu Ende bringen und fühlt sich nun von einer Lawine aus Unglück und Verzagtheit getroffen. Denn sie bezieht das in einer ersten Regung auf sich selbst: »Mute ich meinen Leuten zu viel zu? Passen die Strukturen nicht, die wir im Dekanat haben? Habe ich mich in der zurückliegenden Zeit zu wenig um die Kolleg:innen gekümmert?« Andererseits: Bruder N. neigt immer ein wenig zur Übertreibung, das ist ihr schon öfter aufgefallen. Er arbeitet unstrukturiert – da ist er wirklich selbst schuld … – Gleichzeitig merkt sie, wie ihr eigener Stresspegel steigt: Der Kopf rötet sich leicht, sie atmet kürzer, und meldet sich da nicht wieder der leichte Druck in der Brust, den sie in letzter Zeit immer wieder mal gefühlt hat …? Fragen zur Reflexion a. Wie oft begegnen mir in meinem Alltag solche Anzeichen, dass sich meine Mitarbeitenden überlastet fühlen? b. Gibt es/gebe ich Raum für solche Mitteilungen? c. Wie reagiere ich darauf? d. Was löst das bei mir persönlich aus?

2  Was ist Stress? Die Hilflosigkeit der Führungskraft ist symptomatisch für das Phänomen Stress: Zunächst assoziiert man etwas Negatives, Belastendes und Beschwerendes damit, etwas, dem man mehr oder weniger hilflos ausgeliefert ist – so klingt es zumindest in der Reaktion des Pfarrers auf die harmlose Frage seiner Dienstvorgesetzten.

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Dienstfreier Tag – nur ein schöner Traum?

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Andreas Weigelt

Hans Seyles (1956) geprägte Unterscheidung von Eustress und Disstress hilft zur Versachlichung; sie klingt auch in der populären Definition des Begriffs in Wikipedia (2021) an: »Stress (engl. für ›Druck, Anspannung‹; lat. stringere ›anspannen‹) bezeichnet zum einen durch spezifische äußere Reize (Stressoren) hervorgerufene psychische und physische Reaktionen bei Lebewesen, die zur Bewältigung besonderer Anforderungen befähigen, und zum anderen die dadurch entstehende körperliche und geistige Belastung.«

Die gute Botschaft: Wir können etwas tun gegen den Stress

Längst nicht jeder »Stressor« führt nach dieser Definition zu einer Be- oder Überlastung oder gar zum sogenannten Burnout. Die Möglichkeiten eines konstruktiven Umgangs mit Belastungserscheinungen werden durch solche festlegenden Diagnosen deutlich erschwert. Stressoren können bestimmte Stressreaktionen auslösen; wie diese aber ausfallen, ist eine Frage der individuellen Stressbewertung. Diese dreifache Differenzierung des Stressbegriffs bildet das Rahmenkonzept für das von Gerd Kaluza (2018) vorgelegte Stressbewältigungsmodell. Die ermutigende Kernaussage bei Kaluza ist: Alle drei Bereiche – die Stressoren selbst, die Stressbewertung und die Stressreaktionen – sind gestaltbar. Stress ist nicht der schicksalhafte Grund allen Übels in Gesellschaft und Kirche, im Gegenteil: Stress zeigt auf, wo man anpacken muss und kann – und zwar gemeinsam: Mitarbeiter:in und Vorgesetzte:r, persönlich und strukturell. Man kann bei der oft unüberschaubaren erscheinenden Vielfalt von Aufgaben und Herausforderungen etwas tun. Man kann bei der eigenen Betrachtungsweise dieser Aufgabenvielfalt etwas tun – und man kann zur Förderung und Erholung der Widerstandskräfte gegen Überlastung und Überforderung etwas tun.

Eigene Darstellung nach: Kaluza 2018, S. 16

Und um gleich praktisch damit anzufangen in Hinblick auf Sie, die lesende Führungskraft: Bitte bekommen Sie jetzt keinen lähmenden Schrecken, geraten Sie nicht in Disstress! In allen drei Bereichen geht es nämlich zunächst immer um die Frage: Wie kann der:die Mitarbeiter:in diese Herausforderung gestalten? – Und dann erst gehört als Entsprechung dazu: »Wie kann ich als Ihr:e Vorgesetzte:r (und Kirche als Organisation) Sie dabei unterstützen?« Um es polemisch zuzuspitzen: Kolleg:innen, die nur darauf warten, dass Mutter Kirche ihnen einen stressfreien Arbeitsplatz zur Verfügung stellt, werden nie in ihrem Beruf glücklich werden; es geht darum, sie auf einen Weg zu mehr Eigenverantwortlichkeit und Selbstwirksamkeit zu setzen – und sie dabei zu stärken. Die folgenden Überlegungen sollen ein paar Ideen und Erfahrungen benennen, wie wir gut mit dem Stress leben können.

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Stress und wie ich damit gut lebe

3  Stressoren als Gestaltungsaufgabe Krankenkassen untersuchen in regelmäßigen Abständen, welche Faktoren die Menschen »stressen«. In Bezug auf die Arbeit ermittelt z. B. die Untersuchung der Techniker Krankenkasse (TK) von 2016 folgendes Bild: Am häufigsten genannt wird die »Arbeits­ menge« (64 %), gefolgt von »Termindruck/Hetze« (59 %) und »Unterbrechungen/Störungen« (52 %) – ganz unspezifisch und über alle Berufsgruppen verteilt (Techniker Krankenkasse 2016, S. 24). Für kirchliche Berufe liegen eigene Untersuchungen der beruflichen Belastungs­ faktoren vor, die sich nicht wesentlich von den allgemeinen Ergebnissen unterscheiden. So nennt die große Pfarrer:innenbefragung der Evangelischen Kirche von Kurhessen-­ Waldeck (EKKW) von 2014 als besonders belastende Faktoren die »zunehmende Arbeitsverdichtung« (62,1 %), »diffuse Vielfalt der Tätigkeiten« (57,3 %) und »Erwartungen von Gemeinde/Arbeitsumfeld« (53,8 %) (Rohnke 2015). Die Benennung solcher Belastungsfaktoren allein ist in dieser Verallgemeinerung noch nicht hilfreich. Will man wirkungsvoll etwas an den Stressoren verändern, braucht es dazu die Möglichkeit, sich individuell und persönlich darüber klar zu werden, was eine:n stresst – um dann (gemeinsam mit anderen) nach Erleichterungen und Verbesserungen zu suchen. 3.1 Arbeitsbewältigungs-Coaching® – das »Haus der Arbeitsfähigkeit« Einen Weg, nach Erleichterungen und Verbesserungen zu suchen, zeigt beispielhaft das sogenannte Arbeitsbewältigungscoaching. Mit dem von Brigitta Gruber und Alexander Frevel entwickelten und beschriebenen Projekt Arbeitsbewältigungs-Coaching (ab-c ) wird ein kurzer, schlanker Beratungsprozess angeboten, der auf zwei Elementen fußt: – In einem persönlich-vertraulichen Einzelcoaching auf der Basis des »Arbeitsbewältigungsindex« (ABI) versucht jede:r Mitarbeitende, die für sie:ihn belastenden Faktoren ihres:seines Arbeitslebens zu benennen – und daraus persönliche Optionen zu entwickeln, wie sie:er damit umgehen möchte. – Mit den darin gewonnenen (und dann anonymisierten) Erkenntnissen geht der:die Coach:in in einen sogenannten Maßnahmenworkshop mit einem Kreis aus Verantwortlichen des Dekanatsbezirks: Hier werden Wege gesucht, auf organisationaler Ebene Stressoren, die von mehreren Personen benannt wurden, zu minimieren, zu lindern oder gar abzuschaffen.

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Die arbeitswissenschaftliche Grundlage dieses Projektes bildet das sogenannte Haus der Arbeitsfähigkeit: Die Gesundheit als körperliche und seelische Konstitution bildet das Erdgeschoss. Die Arbeitsfähigkeit, genauer: die Arbeitsbewältigungsfähigkeit (work ability), ist das »Potenzial eines Menschen, eine gegebene Aufgabe zu einem gegebenen Zeitpunkt zu bewältigen« (Tempel/Ilmarinen 2002, S. 117). Auf der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit ruht das Obergeschoss, in dem die professionelle Kompetenz, die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Entwicklungsmöglich­keiten wohnen. Darüber liegen die eigenen Werte und Einstellungen, die Motivation und die Kultur des Unternehmens und ihrer Führung sowie die Kollegialität und schließlich die Faktoren Arbeitsbedingungen, -inhalte, -umfang, -mittel, -zeit, -umgebung, wozu auch die Vorgesetzten zählen. Wenn in einem Stockwerk gebaut wird oder eines verfällt, beeinflusst das auch die übrigen Geschosse.

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Eigene Darstellung nach: Tempel/Ilmarinen 2002

Es geht nur zusammen: Die Strukturen der Arbeit müssen stimmen – und die Person muss ihre eigenen Möglichkeiten erkennen und nutzen!

Die Praxis zeigt: ab-c® bewährt sich!

Umgeben ist das Haus der Arbeitsfähigkeit von der Gesellschaft mit ihrer eigenen Kultur, Gesetzgebung, Ausbildungspolitik, Sozial- und Gesundheitspolitik, von der jeweiligen Region und dem persönlichen Umfeld wie Familie und Freund:innen. Zwei Größen sind für das Haus der Arbeitsfähigkeit entscheidend – sie werden hier in Abwandlung zu dem Modell von Juhani Ilmarinen als Fundament bezeichnet: die Person und die Struktur. Die arbeitende Person ist zu einem hohen Maße für sich selbst verantwortlich und hat großen Einfluss auf die Gestaltung der vier Stockwerke – und zugleich haben die Leitenden Fürsorgepflicht für die Person. Für die Strukturen, die die Gesundheit und die Arbeitsfähigkeit unterstützen können, sind vor allem die Leitenden verantwortlich – und zugleich werden sie von der arbeitenden Person (mit-)gestaltet. Bricht ein Teil des Fundaments weg, stürzt auch das Haus der Arbeitsfähigkeit ein. Kein Teil des Fundaments kann den anderen Teil ersetzen. Alle auf dem Fundament aufgebauten Stockwerke sind von der Person und von den strukturellen Bedingungen bestimmt. Im Bereich der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern (ELKB) wurde das Arbeitsbewältigung-Coaching , basierend auf dem Haus der Arbeitsfähigkeit, bislang in etwa 15 unterschiedlichen Szenarien durchgeführt (kleinere und größere Dekanatsbezirke mit diversen Schwerpunktbildungen wie z. B. Kindertagesstätten, kleinere und größere Einrichtungen, Verwaltungseinheiten etc.). Die Ergebnisse waren überwiegenden konkret und nachhaltig. Dabei war feststellbar, dass für viele Mitarbeitende der Schwerpunkt auf den organisational verabredeten Maßnahmen lag – wie das gemeinsame Arbeiten an Dienstordnungen oder das Erstellen einer für alle befriedigenden Vertretungsregelung; die individuell ins Auge gefassten Veränderungsvorhaben (mehr Sport treiben, Supervision nehmen etc.) hatten demgegenüber die Tendenz, in Vergessenheit zu geraten. Dennoch bleibt festzuhalten, dass im Bereich der sogenannten instrumentellen Stressbewältigung, also der Arbeit an den Stressoren im engeren Sinn, das Arbeitsbewältigungs-­ Coaching sich als eine sehr hilfreiche Maßnahme gezeigt hat.

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Geißler-Gruber, Brigitta/Frevel, Alexander: Arbeitsbewältigungs-Coaching®. Neue Herausforderungen erfordern neue Beratungswerkzeuge (INQA-Bericht, 38). Bremerhaven 2009, online unter: https://arbeitsbewaeltigungscoaching.eu/wp-content/uploads/2016/11/INQA-38-arbeitsbewaeltigungscoaching.pdf, abgerufen am 21.09.2021.

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Stress und wie ich damit gut lebe

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Weitere Informationen zum Arbeitsbewältigungs-Coaching bei: Susanne Schatz ([email protected]), Andreas Weigelt ([email protected]), Claus Jungkunz ([email protected])

Wie steht es um meine Arbeitsbewältigungsfähigkeit? Ihre eigene Arbeitsbewältigungsfähigkeit können Sie auf dieser Seite testen. Das Ergebnis stellt nur eine Momentaufnahme dar. https://www.wainetzwerk.de/de/testen-sie-ihre-arbeitsfaehigkeit-493.html

Zwei weitere Bausteine für die Gestaltungsaufgabe Stressoren seien benannt, das Mitarbeiter:innenjahresgespräch (→ 3.2) und die sogenannte Dienstordnung für Pfarrerinnen und Pfarrer (→ 3.3). 3.2  Das Mitarbeiter:innenjahresgespräch Zu Beginn der Nullerjahre haben etliche Landeskirchen die jährliche Durchführung eines Mitarbeiter:innengespräches beschlossen. Das dafür gewählte, meist standardisierte Gesprächsmuster war wesentlich beeinflusst von ähnlichen Modellen aus der Wirtschaft und aus Beratungsprozessen entsprechender Consulting-Firmen. Es hatte insofern einen deutlich organisationsentwicklerischen Anstrich: Im Fokus standen die Formulierung von Zielen, Maßnahmen und davon abgeleitete Handlungsschritte, die die strategischen Ziele des »Unternehmens Kirche« auf die örtliche Ebene anwenden sollten. In etlichen Landeskirchen sind diese Gesprächsmuster bis heute verbindlich. In der ELKB verlief die Einführung im Bereich der Pfarrer:innenschaft relativ gut (im Mittel wurden mit über 80 % der Pfarrer:innen solche Gespräche geführt); bei anderen Berufsgruppen war die prozentuale Abdeckung geringer. Zu beobachten war ein zunehmend freierer Umgang mit dem Gesprächsmodell, weil die Formulierung von immer neuen Zielen nach dem dritten oder vierten Gespräch sich meist als sehr mühsam und gekünstelt darstellte. e. f. g. h.

Was sind meine eigenen Erfahrungen mit jährlichen Gesprächen? Was löst es bei mir aus, wenn mein:e Dienstvorgesetzte:r einen Termin verein­­baren will? Was habe ich in diesen Gesprächen als hilfreich für mich empfunden? Was hat mich eher genervt?

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Die derzeit als Erprobungsmodell in der ELKB vorgelegte Neufassung setzt einen anderen Schwerpunkt. Sie versteht sich als Personalentwicklung im engeren Sinn. Ebenso wie das oben vorgestellte Arbeitsbewältigungs-Coaching fußt der kurz und knapp gehaltene Gesprächsleitfaden auf den vier Stockwerken des »Haus der Arbeitsfähigkeit«. Damit wird gewährleistet, dass tatsächlich in alle Ecken der Berufspraxis geschaut werden kann: Sind Gesundheitsgefährdungen durch den Dienst erkennbar – und wie lassen sie sich vermeiden? Wie sind die Entwicklungsperspektiven innerhalb des Berufs, sind Fort- oder Weiterbildungsmaßnahmen angedacht? Stimmt die Motivation, werden Führungskräfte und Kolleg:innen als förderlich und stressreduzierend erlebt? Gibt es Arbeitsbedingungen, die belastend sind – und was kann man daran ändern? Auf diese Weise kommen die Stressoren unmittelbar in den Blick, und das sofort in der Perspektive: Wie können sie gestaltet werden? Welche strukturellen Maßnahmen kann meine Führungskraft anregen oder gar direkt umsetzen? Was kann ich selbst verändern? Das Modell bietet eine Fülle solcher Fragestellungen an, die nicht im Sinn eines Gesprächsrasters »abgearbeitet« werden sollen, sondern als Impulse für die Vorbereitung des Gespräches zu verstehen sind. Damit verbunden ist die Anregung für Vorgesetze wie für Mitarbeiter:innen, Schwerpunkte zu setzen und diese vorher miteinander abzusprechen; einer allzu schnellen Abnutzung des Gesprächsmodells ist damit ein Riegel vorgeschoben. Als hilfreich hat sich in der Praxis eine beigelegte Stichwortkarte erwiesen, die die Vorbereitung strukturiert und im Gespräch der Erinnerung dienen kann. Ähnlich wie beim Arbeitsbewältigungs-Coaching (ab-c ) ist das Grundverständnis geprägt von der Doppelfrage: »Was können Sie selbst an der Situation verändern – und wo kann/soll der:die Vorgesetzte Sie dabei unterstützen?« Hiermit sollen einerseits Eigenverantwortlichkeit und Selbstwirksamkeitserfahrungen gestärkt werden; andererseits wird die Fürsorge und personorientierte Begleitung durch den:die Dienstvorgesetzte:n (und ggf. die Organisation) zugesagt. Dem Modellentwurf liegt ein Bogen bei, auf dem in kurzen Strichen wesentliche Inhalte und/oder Ergebnisse des Gespräches, gegebenenfalls auch konkret vereinbarte Maßnahmen festgehalten werden können. Die absolute Vertraulichkeit wird zugesichert; der Ergebnisbogen wird nicht der Personalakte beigefügt, kann aber im folgenden Jahr für eine Maßnahmenrückschau hilfreich sein. Das gesamte Modell ist für alle Berufsgruppen geeignet und stößt auch bei Mitarbeiter:innen in Kindertagesstätten und im schulischen Bereich auf positive Resonanz.

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Auch das Jahresgespräch hat vordringlich die Stressoren im Blick

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Modellentwurf Jahresgespräch Hier finden Sie den derzeit in Erprobung befindlichen Modellentwurf www.führen-leiten-kirche/stress

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Stress und wie ich damit gut lebe

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3.3  Dienstordnung für Pfarrer:innen Wie die beiden oben beschriebenen Instrumente dient auch eine gute Dienstordnung nicht allein der instrumentellen Stressbewältigung. In der Vollzugsverordnung zum Pfarrdienstausführungsgesetz (PfDAGVollzV) heißt es, Dienstordnungen sollen »1. den Inhalt und den Umfang des Dienstes der Pfarrerinnen und Pfarrer beschreiben und strukturieren, 2. die mit dem Pfarrdienst verbundene Arbeitsbelastung in einem angemessenen Maß halten, 3. die Zuständigkeit von gemeinsam in einem Dienstbereich tätigen Personen ordnen.« (Landeskirchenamt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 2015, S. 13) Insbesondere die beiden ersten Bestimmungen lenken den Blick unmittelbar auf die Stressoren des Pfarrdienstes: Natürlich geht es immer auch um die Quantität der Arbeit; die damit verbundene Arbeitsbelastung soll sich »in einem angemessen Maß halten« (Satz 2). Dem dient auch das kritische und beschreibende Nachdenken über den »Umfang des Dienstes« (Satz 1). Noch wesentlicher allerdings ist das Thema der Inhalte des Dienstes. Viele Umfragen unter Pfarrer:innen und Eindrücke aus Jahres- und sonstigen Gesprächen zeigen: Das, was die Kolleg:innen wirklich stresst, ist nicht unbedingt die Fülle der Arbeit, sondern das Gefühl, nicht das Richtige zu arbeiten. Der Versuch, durch eine Dienstordnung der Entgrenzung des Pfarrberufs entgegenzuwirken, ist auch eine quantitative Aufgabe; manche Landeskirchen versuchen, dem mit einer Festlegung der Arbeitszeit zu begegnen1; noch wesentlicher aber hinsichtlich der Reduzierung von Belastungen im Bereich der Stressoren sind Hilfestellungen zu einer inhaltlichen Strukturierung und Schwerpunktsetzung des eigenen Arbeitspensums. Die ELKB hat vor einigen Jahren eine Handreichung zur Erstellung von Dienstordnungen vorgelegt. Hervorzuheben sind in diesem Modell zwei elementare Grundeinsichten: zum einen die, dass ein:e Pfarrer:in im parochialen Dienst nie nur einen Auftrag in seiner:ihrer Ortsgemeinde, sondern immer auch sogenannte gesamtkirchliche Aufgaben zu erledigen hat. Diese Grundeinsicht, die zum unverzichtbaren Gliederungselement der Dienstordnung gehört (und nicht nur für den Gemeindedienst gilt), entlastet den:die Amtsinhaber:in von dem Druck, eine Art Dienstleister:in und Erfüllungsknecht:magd zu sein für alle Erwartungen oder Forderungen, die von außen (und, noch schlimmer, von innen, s. ▶ 4.1) an ihn:sie herangetragen werden. Nein, ein:e Pfarrer:in gehört zum Ganzen der Kirche, zur Gemeinschaft der Ordinierten, hat dort seine:ihre Beheimatung und seinen:ihren Rückhalt (und natürlich auch seine:ihre Aufgaben). Zum anderen (und mit dem ersten eng verbunden) unterstreicht die Handreichung, dass zur Grundausstattung eines pastoralen Timetables ein gewisses Zeitmaß zur Pflege der pastoralen, der geistlichen Existenz gehört. Zeit für Fortbildung, zum Lesen und Studieren, auch für Meditation und Gebet: Sie sind kein bonum superadditum, sondern eine Grundaufgabe des Pfarrberufs – und zwar eine, die sich sowohl stundenmäßig niederschlagen kann und soll im Rahmen der vorgegebenen Dienstzeit, die zugleich auch für Freiheit und Entlastung, für heilsame Unterbrechung und wirkungsvolle Struktur im oft ungeordneten Berufsalltag sorgt.

1 So z. B. die ELKB mit der sog. »oszillierenden 48«.

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Eine Dienstordnung soll helfen, das Richtige zu arbeiten

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Andreas Weigelt

Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter. Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen und habe nicht den Wunsch freigiebiger zu sein als Gott. Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur See. Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen, und dann ausgießen. Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen. Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle, wenn nicht, schone dich. (Bernhard von Clairvaux, 1090–1153)

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Stress und wie ich damit gut lebe

Ein:e Pfarrer:in, die in dem Grund­gefühl arbeitet, das Richtige zu tun, wird auch dann Freude und Erfüllung im Beruf finden, wenn das mit den 48 Stunden nicht in jeder Woche klappt.2 Als hilfreich dazu hat sich das in der Handreichung (2. Aufl.) abgedruckte und erklärte »Werkzeug 48« erwiesen, das in der Gemeindeakademie Rummelsberg von Susanne Schatz entwickelt wurde: Eine Beschreibung und Visualisierung des Ist­zustandes (inkl. zeitlicher Dimension) wird neben eine genauso strukturierte Sollseite gestellt – darum bin ich Pfarrer:in geworden; so würde ich mir wünschen, dass mein Dienst aussieht. Aus den entstehenden und jetzt sehr sichtbaren Differenzen werden konkrete Themen und Aufgaben: Was soll mit dem geschehen, was idealerweise nicht in meinen Plan passt? Wer kümmert sich worum? Mit wem muss ich was besprechen, damit eine Veränderung eintreten kann? Auch hier gilt wie bei den Jahres­gesprä­ chen: Die Erstellung einer Dienstordnung ist eine anstrengende Arbeit für alle Beteiligten. Gleichwohl lohnt sich die Arbeit, das zeigen die Erfahrungen; sie ist eine wirkungsvolle Maßnahme zur in­strumentellen Stressbewältigung. Ein Spaziergänger trifft in einem Wald auf einen Holzfäller, der mühsam versucht, mit seiner stumpfen Axt einen Baum zu fällen. Er tritt an ihn heran und fragt: »Aber guter Mann, Ihre Axt ist ja ganz stumpf. Warum schärfen Sie sie denn nicht?« Darauf antwortet der Arbeiter: »Dafür habe ich keine Zeit, ich muss doch hacken!« (Unbekannte:r Autor:in)

2 Die Handreichung »Gut, gerne und wohlbehalten arbeiten« (Landeskirchenamt der Evangelisch-Luthe­ rischen Kirche in Bayern 2015) finden Sie unter www.führen-leiten-kirche.de/stress, abgerufen am 17.10.2022.

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4  Stressbewertung als Gestaltungsaufgabe Es kommt bei den Mitarbeiter:innen selten gut an, wenn der:die Chef:in sagt: »An Ihrem Stressproblem sind Sie selbst schuld!« – Gut, er:sie könnte das ein wenig diplomatischer formulieren, und es ist ja auch nur die halbe Wahrheit – aber es ist die halbe Wahrheit! Die Rückseite dieses Satzes ist nämlich: Sie haben ganz viel selbst in der Hand! Welche Chancen in diesem Moment der Stressbewertung liegen, unterstreicht die nachfolgende Theorie eines der Gründerväter der modernen Stressforschung. 4.1 Ein wenig Theorie: Das transaktionale Stresskonzept (Lazarus/Folkman 1984) Der amerikanische Psychologe Richard Lazarus bemerkte in seiner Arbeit mit Menschen, dass diese unterschiedlich auf selbe Stressoren reagieren. Zwischen dem Stressor und der Stressfolge liegt der Mensch mit seiner je eigenen Art der körperlichen und kog­nitiven ­Reaktion. Stress wird in dieser Theorie definiert als eine Beziehung der Person mit der Umwelt, die die Person als relevant einschätzt und die gleichzeitig ihre Möglichkeiten zur Bewältigung (Coping) herausfordert oder übersteigt (Lazarus/Folkman 1986). In dieser Definition klingen bereits beide Bewertungsvorgänge an, die unterschieden werden: – Die erste Bewertung gilt dem Stressor selbst. Welche Relevanz hat er? Kann er sich möglicherweise positiv auswirken? Oder, wenn er tatsächlich Stress auslöst: Wird dieser zu Verlusten führen oder zu einer stressigen Bedrohung? Oder könnte er eine (positiv und belebend empfundene) Herausforderung darstellen, die es anzunehmen gilt? – Die zweite Bewertung gilt den eigenen Ressourcen zur Bewältigung: Welche Möglichkeiten habe ich, wofür reichen meine Kompetenzen, Fähigkeiten und Kräfte? Bei diesem Bewertungsvorgang spielen auch gemachte Erfahrungen, gewonnene Einstellungen und erworbene Grundhaltungen und Charaktereigenschaften (Optimismus etc.) eine Rolle.

Es gibt stress­verschär­fende – und stressreduzierende Denkmuster

Nach diesem doppelten Bewerten der Situation, das oft durcheinander, chaotisch und vor allem schnell und häufig unbewusst abläuft, kommt es zu einer Neubewertung der Situation. Das Besondere dieses Konzeptes besteht zum einen in der Tatsache, dass es zunächst nicht aus einer arbeitswissenschaftlichen Perspektive heraus entstanden ist, sondern einer medizinischen: Lazarus hatte nicht das Ziel, Arbeitsbedingungen zu verbessern, sondern zu verstehen (und zu erklären), wie sich in allen Bereichen unseres Lebens Entscheidungsvorgänge unter Stress vollziehen. Der zentrale Gedanke, der später von vielen ihm folgenden Konzepten adaptiert wurde: Der Mensch ist den Stressoren seiner Umwelt nicht einfach hilf- und tatenlos ausgeliefert. Er kann bei sich selbst stressverschärfende Denk- und Verhaltensmuster identifizieren und entsprechend modifizieren.

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Stress und wie ich damit gut lebe

4.2  Unterstützende Maßnahmen Wie entdeckt man »stressverschärfende Denk- und Verhaltensmuster« bei sich? Noch schwieriger: Wie kann man sie entsprechend modifizieren? – Eines vorweg: Auch die mentale Stressbewältigung bedeutet Arbeit, und zwar Arbeit an der Person. Hier spielen die oben genannten Einstellungen, Grundhaltungen und Charaktereigenschaften eine Rolle. Ein schöner, mehrdeutiger Ausdruck in diesem Zusammenhang heißt Glaubenssätze: »Ich will meine Arbeit immer so machen, dass mir bestimmt keiner an den Karren fahren kann«; »Ich will, dass mir keiner böse ist, wenn ich mich so oder so entscheide«; »Ich darf diese Sache auf keinen Fall jemand anderem überlassen – was sollen da die Leute sagen?« – Solche Sätze verschärfen den eigenen Stress, weil sie unweigerlich zu Gefühlen von Überforderung und Überlastung führen, zumindest auf Dauer. Das Tückische daran: Man nimmt oft nicht wahr, welche Motive, welche Glaubenssätze hinter eigenen Entscheidungen und Handlungen stehen. Zu sehr haben sich die Muster verselbstständigt und verhärtet. Entsprechende Hinweise von Ehepartner:innen, von Freund:innen oder von Dienstvorgesetzten laufen oft ins Leere, weil hier (häufig mit Recht) der nötige Abstand fehlt. Es gibt in den Kirchen viele professionelle Unterstützungsmaßnahmen wie Super­ vision, Coaching oder Geistliche Begleitung. Diese können, je auf ihre unterschiedliche Weise, der Aufdeckung der eigenen Antreiber dienen. In allen drei Formaten wird der eigenen Selbstwahrnehmung die Fremdwahrnehmung des:der Begleiters:in gegenübergestellt. Die Klärung eigener Motive, Handlungs- und Entscheidungswege gerät dabei in den Fokus und wird kritisch reflektiert: Trage ich durch meine Haltungen und Vorentscheidungen zur eigenen Be- oder zur Entlastung bei? i. Wie sind in unserer Kirche die Bedingungen für Supervision, Coaching und Geist­liche Begleitung? j. Sind die Zugangswege zu solchen professionellen Begleitformaten allgemein bekannt? Sind sie einfach und einladend genug? k. Habe ich selbst alle Formate einmal ausprobiert? Weiß ich genug darüber, um hilfreich beraten zu können?

Gerade die Geistliche Begleitung als eine im Raum der Kirche verankerte Sonderform der Seelsorge legt dabei den Fokus auf die Glaubenssätze auch im engeren Verständnis: Was gibt meinem Leben Sinn? Woran mache ich mein Glück, meine Zufriedenheit fest? Wie viel Wert kommt meiner Arbeit zu? Wie sehr brauche ich die Bestätigung, den Beifall anderer Menschen für mein Tun und Handeln? Wer in solchen Gesprächen den gnädigen und liebevoll verzeihenden Gott als Urgrund und Beweger seines Lebens (wieder-)entdecken kann, der:die findet für sich zu anderen Glaubenssätzen: »Das Heil der Welt ruht nicht auf meinen, sondern auf Gottes Schultern«; »Ich muss nicht perfekt sein, ich darf auch mal ordentlich danebenlangen, weil ich einen fehlerfreundlichen Gott habe«; »Es muss nicht immer alles gleich fertig sein – vor Gottes Ewigkeit spielt unsere Zeit eine kleine Rolle …«. Mentale Stressbewältigung hat unter geistlichen Gesichtspunkten ungeahnte Möglichkeiten; es ist nicht immer einfach, sie zu entdecken, deswegen ist es gut, wenn andere dabei professionell zur Seite stehen können.

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4.3  Eine geistliche Übung: Das Vaterunser

Das Vaterunser – ein Loslass-Gebet!

Geistliche Übungen dienen nie einem Zweck – aber sie haben Folgen, an denen man sich freuen kann. Das Vaterunser besteht bekanntlich im Wesentlichen und von seiner Entstehung her aus sieben Bitten. Fragt man nach einem gemeinsamen Inhalt dieser sieben Bitten, dann geht es (schematisiert und verkürzt) in jeder Bitte darum, dass ich eine Last, die auf meiner Schulter liegt, nicht allein tragen muss, dass ich sie loslassen kann im Vertrauen darauf, dass Gott sie trägt: (1) Wenn ich darum bitte, dass der Name Gottes geheiligt werde, dann bitte ich damit auch, dass ich mich nicht um die eigene Heiligung, um die Erhabenheit und die Bedeutung meines eigenen Namens kümmern muss (denn das ist wirklich stressig). (2) Wenn ich um das Kommen von Gottes Reich bitte, dann auch darum, dass ich nicht den Himmel auf Erden herstellen muss. Und (3) wenn Gottes Wille auf Erden geschehen soll, dann muss mich die Realisierung meines eigenen Willens nicht mehr umtreiben. (4) Um das tägliche Brot sorge nicht ich mich – im Vertrauen auf den Gott, der für uns alle sorgt. (5)  Loslassen kann ich die Unmöglichkeit, mich selbst zu entschuldigen – aber ich weiß um einen gnädigen Gott, der mir meine Fehler und Schwächen verzeiht und mir damit Lust macht, solche Großherzigkeit auch in meinem Verhältnis zu anderen zu praktizieren. (6) Mein Leben bleibt voller Versuchungen, aber es ist Gottes Hand, die mich darin führt, und (7) das mächtige Böse in der Welt muss mich nicht ohnmächtig erstarren lassen wie das Kaninchen vor der Schlange: Ich vertraue in meiner Bitte darauf, dass ein liebevoller Gott die Macht behält über alles, was mich ängstigt und erschreckt. Wie eine Zusammenfassung für dieses nicht fordernde, sondern loslassende Verständnis der sieben Bitten klingt dann die Schlussdoxologie: Nicht meine Vorstellungen von der Welt sind ausschlaggebend, nicht meine Um- und Durchsetzungskraft, vor allem nicht mein Ruhm und meine Ehre; all diese Besorgtheiten kann ich loslassen – und stelle alles einem Gott mit väterlichen und mütterlichen Zügen anheim, voller Vertrauen, ganz entspannt, wach, lustvoll und aufmerksam für alles, was wirklich meine Aufgabe ist.

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Stress und wie ich damit gut lebe

Stilleübung Ich komme zur Ruhe. Ich sitze aufrecht und entspannt. Ich achte auf meinen Atem. Ich beobachte, wie er kommt und wie er geht. Ich verändere nichts daran; ich lasse den Atem geschehen. Nach einer Weile beginne ich, das Vaterunser mit meinem Atem zu verbinden. Jede der sieben Bitten lege ich auf ein Ausatmen; wie ich den Atem in mir loslasse, so lasse ich die Sorge los um das, worum ich bitte: Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

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Mentale Stressbewältigung nimmt die inneren Anteile des Stressgeschehens in den Fokus und versucht, stressverschärfende Gedanken und Einstellungen loszulassen, um hinzufinden zu stressmindernden, stresslösenden Grundhaltungen.

5  Stressfolgen als Gestaltungsaufgabe Zurück zur Eingangsszene: Die Dekanin gerät angesichts der (An-)Klage des Kollegen in eine defensive Haltung. Sie fragt sich nach ihren eigenen Anteilen an der Überlastungsreaktion des Pfarrers und macht sich möglicherweise Vorwürfe, die Arbeitssituation in ihrem Verantwortungsbereich nicht richtig eingeschätzt zu haben. Im Sinn des Transaktionalen Stressmodells kann diese Wahrnehmung zu unterschiedlichen Reaktionen führen: Im schlechteren Fall verbucht die Führungskraft den heftigen Anwurf des Mitarbeiters als eigenes Versagen, als mangelndes Einfühlungsvermögen, als unsensiblen eigenen Leitungsstil. Sie gewinnt den Eindruck, dass sie der Situation nicht (mehr) gewachsen ist; sie reagiert auf diese »Einsicht« je nach Persönlichkeitsprofil mit Betroffenheit, Resignation und Rückzug – oder aber mit Wut und Aggression: »Das kann doch gar nicht sein! Die sollen sich mal nicht so anstellen!«

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Alle Ebenen sind für die Stressbewältigung verantwortlich!

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Im besseren Fall, bei einer positiveren eigenen Bewertung der Situation erkennt die Führungskraft das Potenzial im Hilferuf des Kollegen; sie sieht seinen Mangel an Regenerationsfähigkeit, sein Bedürfnis nach Freiraum, nach Luft zum Atmen und seine Sehnsucht nach Entspannung und Stärkung der eigenen Ressourcen. Sie gewinnt den Eindruck, dass ihr Mitarbeiter (und vermutlich auch andere in ihrem Verantwortungsbereich) Interesse haben an stressreduzierenden und gesundheitsförderlichen Maßnahmen. Sie spürt die Offenheit im Pfarrkapitel, sich auf den Weg zu machen und gemeinsame wie individuelle Veränderungen im Berufsalltag zu installieren und zu verankern. Sie beschließt, dieses Thema aktiv, mit Lust und Begeisterung anzugehen. Wie bei der Beschäftigung mit den Stressoren und den Stressreaktionen ist es besonders beim Thema der regenerativen Stressbewältigung sinnvoll und hilfreich, die verschiedenen Ebenen und ihre spezifischen Möglichkeiten zu unterscheiden – und gleichzeitig zusammenzudenken: Der Dekanatsbezirk (▶ 5.1), die Landeskirche (▶ 5.2) und die eigene Person (▶ 5.3) haben die Aufgabe und die Chance, Stressfolgen positiv zu beeinflussen. 5.1  Das Dekanat als Gestaltungsebene Aus Perspektive der Leitungsperson ist es sinnvoll, einen ersten Ansatzpunkt zu finden. Oft ist es so, dass ein informeller Beginn und/oder die Kaffeepausen der Pfarrkonferenz/ des Pfarrkonventes von Kolleg:innen genutzt wird, um Dampf abzulassen – über die unmögliche Landeskirche, über die unfähigen Leitungspersonen, über die überbordende Aufgabenfülle und die blöden Gemeindeglieder mit all ihren unverschämten Ansprüchen. In gewissem Maße ist das ganz heilsam und hilfreich, weil danach, um im Bild zu bleiben, der Druck im Kessel wieder reguliert ist und ein vernünftiges Arbeiten beginnen kann. Im schlechteren Fall verselbstständigt sich das Gefühl, es verfestigt sich in den Köpfen und führt zu einer negativen Grundstimmung, in der sich nichts mehr bewegt; Resignation und Erstarrung greifen um sich. Menschen, die häufig in unterschiedlichen Pfarrkapiteln referieren, entwickeln eine feine Nase für solche Grundbefindlichkeiten einer Ansammlung von Pfarrer:innen: Unabhängig von Inhalten oder Art und Weise des Vortrags nehmen sie wahr, wie die Kolleg:innen »drauf sind«, welches Klima im Kreis herrscht und wie gesprächsbereit, wie aufnahmefähig die Teilnehmenden sind. Die Möglichkeiten einer (positiven) I­ ntervention im Pfarrkapitel sind vielfältig. Es beginnt damit, dass Regeneration, Entspannung und ­Erholung Thema sein darf zwischen den Kolleg:innen. Auch hier sind (s. o. zum »Haus der Arbeitsfähigkeit«, ▶ 3.1) die beiden Basismodulatoren in den Blick zu nehmen: die Arbeitsstrukturen – und die Faktoren der Person. Es ist unabweisbar, zunächst (und sinnvollerweise miteinander) die strukturellen Fragen zu klären: Sind die Vertretungsverbünde so geregelt, dass jedes Mitglied des Pfarrkapitels den freien Tag, die Urlaubszeiten und Fortbildungstage ohne schlechtes Gewissen nehmen kann? Braucht es dazu mehr zen­trale Steuerung seitens der Leitung, was muss gegebenenfalls verändert werden? Belastet/Verhindert

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Stress und wie ich damit gut lebe

die Terminierung der Pfarrkonferenz oder anderer dekanatlicher Verpflichtungen die Möglichkeit zu regel­mäßiger Regeneration? – Hier ist (immer wieder einmal!) ehrliche Bestandsaufnahme und kreatives Weiterdenken an den Strukturen der Dienstgestaltung vonnöten. Unerlässlich ist auch hier die persönliche Seite, etwa ein kollegialer Austausch zur Frage: Wie spannst du aus? Was hilft dir, am Abend eines anstrengenden Tages wieder zur Ruhe zu finden? Welche Geheimtipps hast du zur Gestaltung eines erholsamen freien Tages? Sinnvoll ist es dabei (je nach zeitlichen Möglichkeiten, am besten im Zusammenhang mit einem mehrtägigen »Pfarrkonvent«, wie das in Bayern heißt), eine:n anregende:n Referent:in zu finden, der:die kreative Ideen entstehen lässt und diese einübt mit dem Ziel, sie im Alltag zu verankern. Zu spüren, dass andere dieselben Bedürfnisse nach Regeneration und Entspannung haben, hilft oft schon über das resignierte Gefühl hinaus.

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Regeneration muss immer wieder zum Thema werden!

l. Wann haben Fragen der Erholung und der Entspannung zum letzten Mal eine Rolle als ausdrückliches Thema in Pfarrkonferenz/Pfarrkonvent gespielt? m. Fällt mir ein:e Referent:in ein, der:die dieses Thema gut (und praxisbezogen) mit uns erarbeiten kann? Wen kann ich diesbezüglich um Rat und um gute Erfahrungen anfragen? n. Wieviel Freude hätte ich selbst an dem Thema? Wenn ich keine große Lust dafür e ­ mpfinde: Woran liegt das eigentlich? Was hilft mir zu einer veränderten Sicht der Dinge?

Es ist auch die Gestaltung der Pfarrer:innenzusammenkünfte selbst, die viel zu einer Verbesserung der Grundbefindlichkeit helfen kann: Welchen zeitlichen Rahmen haben unsere Konferenzen? Ist ausreichend Zeit für Pausen und Erholung zwischen der inhaltlichen Arbeit? Welche Rolle spielt das körperliche Wohl? Gibt es jemanden im Kreis, der:die auf unverkrampfte Art und Weise immer mal zwischendrin eine Körperübung anleiten kann – und lässt die Tagesregie dafür ausreichend Raum? Sind Essen und Trinken liebevoll und gesundheitsförderlich gestaltet – oder belasten sie zusätzlich? Schlechter Kaffee und trockener Blechkuchen dürfen ruhig mal überdacht werden! Viel stilles Wasser, Obst, Nüsse, dunkle Schokolade, ein Espresso …? Kleine Yogaübung am Platz (lockernd und aktivierend) Stellen Sie sich hüftgelenksbreit auf, erden Sie die Füße. Die Knie sind locker und rasten nicht ein, der Bauchnabel zieht sanft nach innen und oben. Heben Sie den Brustkorb leicht an. Schließen Sie die Augen. Kreisen Sie die Schultern nach oben, atmen Sie durch die Nase ein, lassen Sie die Schultern ohne Druck nach hinten schmelzen, ausatmen. (fünfmal) Öffnen Sie die Augen, die Arme im weiten Kreis nach oben. Strecken Sie die Arme aktiv bis in die Fingerspitzen durch, Schultern hoch zu den Ohren, Kinn sanft heben, einatmen – vorbeugen, ausatmen. Rollen Sie sich Wirbel für Wirbel nach oben auf, der Kopf hebt sich zuletzt, atmen Sie dabei ein, lassen Sie die Schultern nach hinten sinken, ausatmen. Die Arme im weiten Kreis nach oben … (dreimal) Stellen Sie sich jetzt mit gegrätschten Beinen, fest und stabil auf, strecken Sie die Arme in V-Stellung nach oben, Schultern hoch zu den Ohren, Kinn heben, aktive Arme und Hände bis in die Fingerspitzen. Fünf kräftige Atemzüge durch die Nase. Arme fallen lassen, Arme und Beine locker ausschütteln. Nehmen Sie wieder Platz, am besten auf der Stuhlkante, sodass das Becken nach vorn kippt und sich die Wirbelsäule aufrichtet. Die Hände mit den Handflächen nach oben auf die Oberschenkel, schließen Sie nochmal für einen Moment Ihre Augen. Drei tiefe, gleichmäßige Atemzüge durch die Nase. Dann öffnen Sie die Augen und kommen zurück in diesen Raum. Wach, klar und fokussiert. (Yogaübung von Jakobine Platz, Nürnberg)

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Die Andacht trägt bei zu Ruhe und heiterer Gelassenheit

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Eine zentrale Rolle spielen die geistlichen Elemente unserer Konferenzen: An Pflichtübungen und lustlos absolvierten Andachtsgestaltungen muss man nicht denken – das blockiert nur. Denken Sie lieber an geistliche Impulse bei der Zusammenkunft mit Kolleg:innen, die Sie froh und zuversichtlich gestimmt haben, die Raum gegeben haben für Traurigkeit, Sorge und Angst – und die in all dem zur Ruhe und zu heiterer Gelassenheit geholfen haben. Vielleicht gibt es ein Mitglied Ihrer Pfarrkonferenz (oder ein kleines Team), das/die mit Lust und Freude für eine Zeit so etwas wie der:die Spiritual:in Ihres Kreises sein wollen – und dafür die entsprechenden Angebote machen können? Am Ende wollen Sie dieses Amt auch selbst für eine Weile übernehmen? Ein:e Dienstvorgesetzte:r, der:die erkennbar ein eigenes geistliches Leben führt – und andere unaufgeregt, selbstverständlich und ungezwungen daran teilhaben lässt, prägt die Runde derer, die mit ihm:ihr zu tun haben (müssen). Die Vision wäre, dass alle Kolleg:innen mehr als pünktlich zur Konferenz kommen, weil niemand die Andacht versäumen will, weil jede:r für sich erkannt hat, dass die heilsame geistliche Unterbrechung des geschäftigen Alltags zur Erholung, zur Ordnung und zur Vergewisserung im Tageslauf beiträgt – und damit zur Bewältigung von Stress und Überlastung. 5.2  Die Landeskirche als Gestaltungsebene Die Landeskirche sowie die dazugehörigen Ämter und Amtsträger:innen kommen normalerweise vorwiegend in den Blick, wenn es unangenehm wird: Sie reglementieren, sie erlassen neue Ordnungen und Verwaltungsvorschriften, sie mahnen an und (schlimmstenfalls) ab. Dass es auch anders geht, zeigen viele Kirchenverwaltungen mit einem wachsenden Angebot von Auszeiten. Hier wird den Mitarbeiter:innen (z. T. aller Berufsgruppen und Anstellungsverhältnisse) die Möglichkeit gegeben, für eine gewisse Zeit aus dem Alltag »auszusteigen« (bei vollen Bezügen und ohne Beeinträchtigung ihrer Urlaubsansprüche). Diese sind zum Teil wissenschaftlich-universitär geprägt (Kontaktstudium, Studienurlaub), zum Teil geistlich-spirituell (Einkehrtage in Klöstern, Exerzitien etc.). Die Teilnehmer:innen können dabei für sich selbst geistliche Formen entdecken und einüben, die sie gelassener und entspannter den oft stressenden Alltag bestehen lassen. Die Mitteldeutsche Kirche macht seit einigen Jahren sehr gu­te Erfahrungen mit einer Kombination aus beidem.3 Eine eher therapeutisch ausgerichtete sechswöchige Maßnahme im Haus Respiratio auf dem Schwanberg bieten die Württembergische, die Badische und die Bayerische Landeskirche in Kooperation an – auch für Mitglieder anderer Kirchen. Das Haus inspiratio im Kloster Barsinghausen hat ein eigenes Konzept der 3 Siehe Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland: Fort- und Weiterbildung. Kontaktsemester. https://www. ekmd.de/service/fort-und-weiterbildung/kontaktsemester.html, abgerufen am 08.02.2021.

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Stress und wie ich damit gut lebe

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»Auszeit von der Kanzel« entwickelt. Beide Häuser wollen den Teilnehmenden helfen, wieder zu sich und zu Gott zu finden.4 Das Modell »Durchschnaufen« in der Bayerischen Landeskirche zeigt die vielen Möglichkeiten: Zwischen zwei und drei Wochen suchen sich die Teilnehmer:innen selbst Ort und Art, wie sie ihr geistliches Leben verantwortlich gestalten, eher stationär in einer Pension, einem Gästehaus, einer Berghütte – oder ambulant in des Wortes engster Bedeutung: unterwegs auf einem Pilgerweg, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Sie suchen sich eine:n Geistliche:n Begleiter:in, mit der:dem sie (unmittelbar oder digital) regelmäßige Gespräche führen können und die:der ihnen hilft, die gemachten Erfahrungen zu sortieren und auf ihr geistliches Leben zu beziehen. Als Abschluss der Maßnahme empfiehlt (und finanziert) die Landeskirche zehn Stunden Geistliche Begleitung daheim; das soll helfen, die guten Erfahrungen dieser besonderen Zeit im Alltag zu verankern. Die Rückmeldungen auf die Auszeiten sind in allen Landeskirchen überwältigend positiv – und oft anrührend zu lesen. Auch Jahre später berichten Teilnehmer:innen, wie sehr diese Zeit ihnen geholfen hat, ihre spirituellen Wurzeln wiederzuentdecken – und im Alltag neu darin Kraft und Halt, Regeneration und Lebensfreude zu finden. In der ELKB nehmen pro Jahr zwischen 60 und 80 Personen – vom Sekretär bis zur Oberkirchenrätin – an einer der Maßnahmen teil. Der Landeskirche entstehen dadurch Kosten von rund 75.000 Euro pro Jahr – wie wenig ist das im Vergleich zu dem unschätzbaren Gewinn an Beheimatung und Vertrauen in die Kirchenleitung: Die haben Interesse an mir als Person, denen liegt mein geistliches Leben am Herzen, die wollen helfen, »gut, gerne und wohlbehalten« in den stressenden Herausforderungen des Lebens und des Berufes bestehen zu können.5 5.3  »Ich« als Gestaltungsebene »Selbstwirksamkeitsüberzeugung« ist das Zauberwort moderner Stressforschung: »Das Ich kann!« der internalen Kontrollüberzeugung verschiebt sich hier zu einem »Ich kann!« (Kaluza 2018, S. 55). Darum geht es vor allem anderen bei der regenerativen Stress­ bewältigung: einen eigenen, persönlich stimmigen Weg selbst zu verwirklichen, geeignete Maßnahmen der körperlichen und geistigen Entspannung, Genuss und Lebensfreude im Alltag eigenverantwortlich zu verankern – »ich kann das selbst realisieren, ich kann den Schalter umlegen!«. Es ist gut, für die jeweiligen Methoden Anregungen bei Auszeiten, Exerzitien und Pfarrkonferenzen zu bekommen; es ist wichtig, im Rahmen der Dienstordnung (vgl. ▶ 3.3) dafür die entsprechenden täglichen Freiräume (im Arbeitsalltag!) gesichert zu wissen. Aber unerlässlich ist die Selbstwirksamkeitsüberzeugung: »Ich kann!« Jede:r weiß, wie steinig der Weg ist, in einem mit Terminen gut gefüllten (manchmal überfüllten) Alltag eine einigermaßen feste Struktur zu finden, die genügend Raum lässt für ausreichend Schlaf, für regelmäßiges, genussvolles Essen und Trinken, für Begegnung mit nahen und wohlmeinenden Menschen, für Bewegung, Kultur und Spiritualität. Wo das alles nicht gewährleistet ist, da läuft etwas schief – das ist eine schlichte, betrübliche Erfahrung. Hilfreicher aber ist der umgekehrte Gedanke: Mit jedem Tag, den man mit 4 Siehe Haus Respiratio auf dem Schwanberg: Therapiezentrum für kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. https://www.respiratio.de/, abgerufen am 08.02.2021. Siehe inspiratio im Kloster Barsinghausen: Begleitete Auszeit für Hauptamtliche in der Evangelischen Kirche. https://www.inspiratio-barsinghausen. de/, abgerufen am 08.02.2021. 5 Die genauen Regelungen für die »Geistlichen Auszeiten in der ELKB« finden Sie unter www.führen-­leitenkirche.de/stress, abgerufen am 17.10.2022. Nähere persönliche Auskünfte erteilt KR Andreas Weigelt: [email protected].

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Selbstwirksamkeit: »Ich kann!«

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einer stillen halben Stunde beginnen konnte (oder wenigstens mit zehn Minuten), mit jeder Woche, in der man seinen freien Tag gehalten hat, mit jedem Monat, der ein freies Wochenende geschenkt hat, und mit jedem Jahr, in dem man den Urlaub bis auf den letzten Tag genutzt hat, wächst die Überzeugung: »Ich kann!« Ich bin nicht der Knecht meiner vielen Termine – ich bin die Herrin über meinen Kalender, und den gestalte ich so, dass ausreichend Raum für Regeneration und Entspannung bleibt. o. Wie halte ich es eigentlich selbst mit meinem freien Tag? p. Nehme ich meinen Urlaub vollständig?

Zum Abschluss seiner »kontemplativen Exerzitien« – und damit zum Wiedereintritt in den Alltag hat der Jesuitenpater Franz Jalics den Teilnehmer:innen immer eine Prioritätenliste mit auf den Weg gegeben, die nach zehn Tagen des intensiven Schweigens und Betens manche überrascht hat: Das wichtigste ist der Schlaf, dann kommt der Körper (ausreichend Pflege, Bewegung, freundliche Zuwendung), dann (erst!) das Gebet, dann die Begegnung mit anderen Menschen, und erst als fünftes die Arbeit (­ Jalics 1999, S. 364). Das ist eine ermutigende Anleitung zur regenerativen Stressbewältigung, finde ich!

Autor Pfarrer Andreas Weigelt ist seit 2012 Referent im Landeskirchenamt für gesundheitsorientierte Personalentwicklung in München und CE für Resilienz und Stressbewältigung. [email protected]

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Stress und wie ich damit gut lebe

Literatur Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland: Fort- und Weiterbildung. Kontaktsemester. https://www.ekmd. de/service/fort-und-weiterbildung/kontaktsemester.html, abgerufen am 08.02.2021. Haus Respiratio auf dem Schwanberg: Therapiezentrum für kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. https://www.respiratio.de/, abgerufen am 19.10.2021. inspiratio im Kloster Barsinghausen: Begleitete Auszeit für Hauptamtliche in der Evangelischen Kirche. https://www.inspiratio-barsinghausen.de/, abgerufen am 08.02.2021. Jalics, Franz: Kontemplative Exerzitien, 6. Aufl., Würzburg 1999. Kaluza, Gerd: Stressbewältigung. Trainingsmaterial zur psychologischen Gesundheitsförderung, 4. Aufl., Marburg 2018. Landeskirchenamt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (Hg.): Gut, gerne und wohlbehalten arbeiten. Handreichung für die Erstellung von Dienstordnungen für Pfarrerinnen und Pfarrer der Evangelisch-­ Lutherischen Kirche in Bayern, München 2015, S. 13. www.führen-leiten-kirche.de/stress, abgerufen am 17.10.2022. Lazarus, Richard S./Folkman, Susan: Stress, Appraisal and Coping, New York 1984. Lazarus, Richard S./Folkman, Susan: Cognitive Theories of Stress and the Issue of Circularity, in: Mortimer H. Appley/Richard Trumbull: Dynamics of Stress. Physiological, psychological and social Perspectives, Boston 1986, S. 63‒80. Rohnke, Andreas: Gesundheitsmanagement und Salutogenese im Pfarrberuf: Empirische Studie und Ana­ lyse von Gesundheitsressourcen und Belastungspotenzialen, Empirie und kirchliche Praxis, Bd. 14, Frankfurt a. M. 2015. Seyle, Hans: The stress of life, New York 1956. Techniker Krankenkasse: Gesundheitsreport 2016. Gesundheit zwischen Beruf und Familie. Hamburg 2016, S. 24. https://www.tk.de/resource/blob/2034302/acfc2cb8154862732690440b578e3e9c/gesundheitsreport2016-data.pdf, abgerufen am 19.10.2021. Tempel, Jürgen/Ilmarinen, Juhani: Arbeitsleben 2025. Das Haus der Arbeitsfähigkeit im Unternehmen ­bauen, hg. v. Marianne Giesert, Hamburg 2002. Wikipedia: »Stress«, https://de.wikipedia.org/wiki/Stress, abgerufen am 08.02.2021.

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Veränderung gestalten Daniel Dietzfelbinger Î Was bei Veränderungen passiert Î Bin ich bereit für Veränderung? Î Modelle von Veränderungsprozessen Î Wie man durch Veränderungen führen kann

»Veränderung nur ist das Salz des Vergnügens.« (Friedrich Schiller, Kabale und Liebe) »Der Wechsel allein ist das Beständige.« (Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, Band I, Kapitel 6)1

1 »Umparken im Kopf«?

Ab 30 wird alles schwieriger

Umparken im Herz

»Umparken im Kopf« hieß eine groß angelegte Werbekampagne des Autoherstellers Opel im Jahre 2014. Rasch erreichte Opel mit der Kampagen große mediale Aufmerksamkeit, was vor allem daran lang, dass die Öffentlichkeit zu Beginn der Kampgane nicht wusste, wer hinter dem Slogan stand. Erst nach Wochen machte der damalige Vorstandsvorsitzende der Opel AG in einem Tweet bekannt, wer hinter der Kampagne steckt. Zur Freude der Werbeagentur (und der Autofirma) ging der Slogan in den allgemeinen Sprach­ gebrauch über, wenn es darum ging und geht, sich auf Veränderungen einzulassen. Geht das so einfach – Umparken im Kopf? Sind Gestaltung und Akzeptanz von Veränderungen nur ein kognitiver Vorgang, ein Schalter-Umlegen, oder gehört dazu mehr? Anlässe für Veränderungen sind vielfältig: Es kann der Wunsch sein, etwas im Leben anders zu machen, es können äußere Gegebenheiten sein (Berufswechsel, Ortswechsel, Vorgaben vom Arbeitgeber etc.). Sich von Gewohnheiten zu verabschieden, die Komfortzone zu verlassen, ist nicht einfach. Veränderung, Wandel ist jeder Gegenwart, ist dem Leben per se inhärent. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Tempo der Veränderungen sogar noch rasant beschleunigt (Rosa 2013). Gerade in Veränderungsprozessen kommt es auf gute Führung an. Deswegen lohnt es sich, im Blick auf Führung, das Thema »Veränderung« genauer in den Blick zu nehmen. Führung heißt in dem Zusammenhang, Veränderung aktiv zu gestalten, sich selbst darauf einzulassen und die Mitarbeiter:innen auch emotional gut mitzunehmen, mit Kopf und Herz. »Umparken im Kopf« allein reicht nicht, man muss auch mit dem Herzen in eine neue Parklücke fahren.

1 Zit. nach: Haack, Hans-Peter/Haack, Carmen (Hg.): Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit 1851. Wiederherstellung des ursprünglichen, von Schopenhauer autorisierten Textes. Leipzig 2013, S. 156.

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Veränderung gestalten

Zehn Gründe, warum Veränderungen oft scheitern 1. Zu viele Veränderungen auf einmal: Alle aufgemachten Veränderungs-Baustellen können nicht gleichzeitig mit der nötigen Energie versorgt werden. 2. Zu hohe Veränderungsgeschwindigkeit: Die Beteiligten werden überrollt und nicht mitgenommen. 3. Zu geringe Veränderungsgeschwindigkeit: Der Veränderung fehlt es an dauerhafter Dynamik. Ihr geht die Luft aus. 4. Zu geringe Anzahl an Promotor:innen (insbesondere unter den Führungskräften): Die zentralen Entscheidungs- und Umsetzungsverantwortlichen werden nicht ausreichend in die Planungs- und Umsetzungsphase einbezogen. Ihre Zustimmung ist nicht abgesichert. 5. Mangelnde Information der von den Veränderungen Betroffenen: Die Mitarbeiter:innen werden zu spät, zu früh und unzureichend mit Informationen versorgt oder mit Informationen überflutet. Die Reihenfolge der Informationen ist falsch und nicht konsistent. 6. Unterschätzte Konflikte und Widerstände im Veränderungsprozess: Ein passfähiges Konfliktmanagement wird nicht oder zu spät etabliert. Mögliche Widerstände werden in der Planungs- und Konzeptionsphase unzureichend berücksichtigt. Der Umgang mit Verlierer:innen steht nicht auf der Agenda. 7. Fehlen von klaren Veränderungszielen und einer positiven Vision für die Veränderung: Der persönliche Nutzen von Veränderungen ist für die Betroffenen unzureichend aufgearbeitet und intransparent. Erfolgreich abgeschlossene Zwischenschritte werden zu wenig gefeiert und kommuniziert. 8. Blockierung und Behinderung von Veränderungen durch das Tagesgeschäft: Es werden zu wenig personelle, zeitliche und materielle Ressourcen für den Veränderungsprozess kalkuliert und bereitgestellt. 9. Fehlende Steuerung und Beobachtung von Veränderungsprozessen: Nach durchgeführter Veränderung erfolgt ein Rückfall in alte Verhaltensweisen und Routinen. 10. Unzureichende Kenntnisse und mangelnde Sicherheit beim Einsatz von Werkzeugen des Veränderungsmanagements. Den Veränderungsverantwortlichen fehlt es an sozialem oder methodischem Rüstzeug zur Bewältigung der Veränderung. Die eingesetzten Werkzeuge passen nicht zur Kultur und zum Veränderungskontext der Organisation. (nach: Perwiss o. J; bearbeitet und ergänzt D. D.)

Fragen zur Reflexion a. Was lösen Veränderungen bei mir aus? b. Welche Veränderungen habe ich aus eigenem Antrieb unternommen? Warum? Wie ist es mir dabei ergangen? c. Welche Ressourcen haben mir geholfen? Auf welche inneren Hindernisse bin ich gestoßen? Was hat geholfen, die inneren Hindernisse (den »inneren Schweinehund« zu überwinden)? d. Welche von außen kommenden Veränderungen habe/musste ich vollziehen? Wie ist es mir dabei ergangen? Welche Ressourcen haben mir geholfen? Auf welche inneren Hindernisse bin ich gestoßen? Was hat geholfen, die inneren Hindernisse (den »inneren Schweinehund« zu überwinden)? e. Habe ich einen Kompass, der mich durch Veränderungen leitet? f. Agiere oder reagiere ich mehr in Veränderungsprozessen?

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2 Blick auf sich selbst: das Riemann-Thomann-Modell Um dem Veränderungsthema näherzukommen, lohnt es sich, zunächst den Blick auf sich selbst zu richten: Wie veränderungsbereit bin ich? Wie stark halte ich an tradierten (und idealerweise reflektierten) Glaubenssätzen fest? Wie viel Nähe, Emotion, Zuneigung, Beziehung brauche ich? Wie wichtig ist mir Distanz, gerade in Veränderungsprozessen? Dazu hilft ein Modell, dessen Ursprung in der Psychoanalytik von Fritz Riemann (1961) liegt. Der Schweizer Christoph Thomann hat den Riemannschen Ansatz aufgegriffen (Thomann/Schulz von Thun 1988), um in der Paartherapie unterschiedliche Grundhaltungen in Beziehungen deutlich zu machen. Mittlerweile ist dieses Modell in die Theorie zum Veränderungsmanagement eingeflossen, denn die Selbsteinschätzung dient dazu, sich selbst darüber klar zu werden, welche Grundhaltungen für einen selbst leitend sind: Klarheit über eigene Grundhaltungen (Dauer – Wechsel, Nähe – Distanz) hilft, sich im Blick auf mögliche, vor allem von außen kommende Veränderungsprozesse einzuordnen. Selbsteinschätzung zum Riemann-Thomann-Modell: Selbsttest und Auswertungsgrafik online z. B. unter: http:// www.synapse-web.com/WebRoot/Store12/Shops/63374192/4F63/0F02/B3C7/81A8/BCCE/C0A8/2981/9151/ TN_Unterlage_Riemann_Thomann_.pdf, abgerufen am 15.10.2021.

Grafisch dargestellt

Eigene Darstellung nach: Moskaliuk 2021

Keine Schublade

Wohlbemerkt: Das Modell soll nicht zu Schubladendenken oder Bewertung anleiten, sondern zum Blick auf sich selbst. Diese Selbstanalyse kann helfen, im Vorfeld anstehender Veränderungen den Blick auf sich selbst zu richten und zu fragen: Was brauche ich, um in der Veränderung eine aktivere, offenere Rolle einzunehmen? Was braucht es, dass mir mein schwach ausgeprägtes Bedürfnis nach Wechsel bei dem anstehenden Veränderungsprozess nicht im Weg steht?

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3 Modelle von Veränderungsprozessen Das 3-Phasen-Modell von Kurt Lewin In den 1940er-Jahren hat der aus Posen stammende Sozialpsychologe Kurt Lewin ein Modell entwickelt, wie bei Veränderungen anzusetzen ist (Lewin 1963) — das sogenannte 3-Phasen-Modell:

Eigene Darstellung nach: Studlib 2021

Die drei Phasen, die Lewin beschreibt, um Veränderungen aktiv zu gestalten sind: Auftauen – Verändern – Einfrieren (englisch: unfreezing – moving – freezing) Lewin bezog das Modell zunächst auf die individuelle Ebene, erweiterte es später auf Organisationen, das heißt auf Gruppen und Teams, mit denen Veränderungen gestaltet werden sollen. Dabei geht es darum, in der ersten Phase — Auftauen — eine Organisation (= Abteilung, Einheit, Projektteam) wachzurütteln. Auftauen meint im Wortsinne eingefahrene, eingefrorene Abläufe, Haltungen, Modelle dergestalt zu irritieren, dass klar wird: Eine Veränderung steht an. Es geht dabei noch nicht um den Vollzug der Veränderung, sondern darum, der Einheit, dem Team zu kommunizieren, dass eine Veränderung ansteht. Das verlangt Geduld und Kommunikationsbereitschaft, zugleich auch Beharrlichkeit mit der Grundbotschaft, dass die Relevanz des anstehenden Veränderungsprozesses real ist: Dass die Veränderung kommt, ist nicht mehr zu ändern! Es kommt in der Auftauphase darauf an, den anstehenden Veränderungsprozess gut zu kommunizieren, Widerstände ernst zu nehmen, aber auch deutlich zu machen, dass es kein Zurück gibt. Das Gleichgewicht (oder die Komfortzone) wird langsam, aber kontinuierlich (eben wie in einem Auftauprozess) gestört; das Team, die Einheit, die Organisation muss sich langsam, aber sicher in Bewegung bringen. In der zweiten Phase – Bewegung – finden die größten Irritationen statt. Die Veränderung wird real, das Team, die Organisation muss sich neu finden und neu aufstellen. Das führt unwillkürlich zu einem Durcheinander, zu emotionalen Widerständen und eventuell zu Verletzungen. Diese Phase muss der:die Veränderungsverantwortliche durchhalten – und

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Gute Kommunikation ist die Grundregel

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Kritische Anfragen

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nicht vor Schreck und Angst im Blick auf die Widerstände via Gummizug wieder zurück in den ursprünglichen Gleichgewichtszustand gezogen werden. Darin besteht die größte Herausforderung für den:diejenige:n, der:die den Veränderungsprozess steuert. Botschaft hier: Es gibt kein Zurück mehr – der point of no return ist erreicht. Zugleich gilt, deutlich zu machen, dass nach dem Veränderungsprozess ein neues Gleichgewicht eintritt, auf einem – im Vergleich zum Ausgangszustand – höheren Niveau. Ist die Veränderung vollzogen, geht es mit dem dritten Schritt – dem Einfrieren – darum, eine neue Sicherheit zu vermitteln. Der Blick richtet sich darauf, was im neuen Zustand, dem höheren Gleichgewicht erreicht worden ist. Es gilt, diesen Zustand zu stabilisieren und den von der Veränderung Betroffenen deutlich zu machen, dass der neue Zustand eine neue Qualität hat. Dieses auf den ersten Blick einfache Modell wurde in der Debatte um Veränderungsmanagement intensiv diskutiert und weiterentwickelt. Der Charme des Lewin’schen Modells beseht in der Einfachheit und Klarheit. Die Blickrichtung ist allerdings des:derjenigen, der:die einen Prozess gestaltet, und geht – das ist die Hauptkritik an dem Modell – zu wenig auf die Betroffenen ein. Was, wenn der Widerstand in der Auftauphase schon so groß ist, dass der Veränderungsprozess schon hier scheitert? Was, wenn in der Bewegungsphase das Team, die Einheit so durchgerüttelt wird, dass danach kein Stein mehr auf dem anderen bleibt und ein Team komplett zerstritten ist? Oder sich gegen den:die Veränderungsgestalter:in verbündet und massiv widerständig wird? Was, wenn die Komfortzone der Vergangenheit im (subjektiven) Urteil der Betroffenen wesentlich angenehmer war als der neue Zustand, der vermeintlich (aus Sicht des:der Veränderungsgestalters:gestalterin) auf einem höheren Niveau liegt? Elisabeth Kübler-Ross als Basis für das Standard-Veränderungsmodell Andere, erweiterte Modelle kamen hinzu – bis ein differenzierter Ansatz die verschiedenen Perspektiven der Veränderung konkreter aufgenommen hat: Die Schweizer Medizinerin Elisabeth Kübler-Ross hat 1969 ein Phasenmodell vorgestellt (Kübler-Ross 1969/1971), wie Menschen mit einer finalen Diagnose umgehen. Das Modell – vermutlich Pfarrer:innen gut vertraut – trägt sowohl für Menschen, die selbst von einer finalen Diagnose betroffen sind, wie auch für Angehörige, die einen geliebten Menschen verlieren bzw. verloren haben (»Trauerphasen«). Dieses Modell wird in leichter Abwandlung verwendet, wenn es um Veränderungen geht, die von außen an Teams/Gruppen/Einheiten herangetragen werden (es geht also nicht um eine von innen herauskommende Veränderung!). Auch auf von außen kommende Veränderungen reagieren Menschen ähnlich. Modellgrafiken für die Reaktion von Menschen auf Veränderung zeigen die Kurve nach Kübler-Ross mit etwas anderen Begrifflichkeiten: Die erste Phase, die erste Reaktion auf eine Veränderung ist demnach der Schock, die Ablehnung — man verharrt in alten Mustern und lehnt die Veränderung rundweg ab. So geht z. B. die Bereitschaft der Mitarbeiter:innen, sich in wie auch immer gearteter Weise zu engagieren, deutlich nach unten.

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Veränderung gestalten

Eigene Darstellung nach: Wolf 2021

Eigene Darstellung nach: Wagner 2021 in Anlehnung an Elisabeth Kübler-Ross: On Death and Dying, New York 1969

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Sobald der erste Schock überwunden ist, erwacht die emotionale Seite, die sich zunächst in Verneinung, rasch im Widerstand ausdrückt: Der Weg führt unweigerlich in das oft zitierte Tal der Tränen. Wenn dann deutlich ist, dass die Veränderung nicht mehr zu verhindern ist, kommt langsam die Einsicht – Schritt für Schritt. So hat das ursprünglich aus der Medizin kommende Erläuterungsmodell von Elisabeth Kübler-Ross, das längst Basiswissen von Seelsorge-Kursen ist, Eingang gefunden in die vermeintlich trockene Managementtheorie von Veränderungsprozessen. Haus der Veränderung Ein anderes, in der Grundbewegung ähnliches, gleichwohl bildhafteres Modell kommt aus der systemischen Beratungstheorie, das sogenannte Haus der Veränderung, das die Theorie in anschauliche Praxis überführt.2 Das Haus der Veränderung hat vier Zimmer, links die Zimmer mit Blick in die Vergangenheit, rechts die Zimmer mit Blick in die Zukunft. Die Zimmer im Erdgeschoss sind mit eher positiven Emotionen, die Zimmer im Keller eher mit negativen Emotionen aufgeladen. Das Modell beschreibt detaillierter, welche emotionalen und kognitiven Prozesse Menschen durchmachen, wenn es um Veränderungen geht. Die Voraussetzung: Eine Veränderung wird angekündigt, die Gruppe oder das Individuum erfährt das erste Mal von der anstehenden Veränderung. Mit dieser Erstinformation betritt das Individuum oder die Gruppe besagtes Haus, und zwar im Zimmer 1, dem Zimmer der Gleichgültigkeit.

Noch ist Ruhe da, Lässigkeit, Arroganz und Gleichgültigkeit herrschen vor. Man nimmt die Ankündigung erst einmal nicht sonderlich ernst: »Wird schon wieder gut werden.« – »Lass’ die da mal im Landeskirchenamt machen!« – »Neue Sau durchs Dorf!« – »Betrifft mich doch nicht!« etc. Unter Umständen entwickelt sich unbewusst schon ein mulmiges Gefühl, dass man auf Dauer mit dieser Arroganz nicht weiterkommt. Und in der Tat: Keiner nimmt die Ankündigung der Veränderung zurück, der Wandel ist unausweichlich. Also geht der Weg weiter in das Zimmer 2, das Zimmer der Verdrängung/des Widerstands.

Veränderung als Weg

Man merkt, die Veränderung kommt näher, könnte einen vielleicht doch betreffen: Die emotionale Abwehrhaltung rührt sich: »War denn alles schlecht bisher?« – »Nicht deren Ernst!« – »Das haben wir ja noch nie gemacht!« – »Das geht vorüber!« – »Sind die denn verrückt?« Die emotionale Ebene ist getriggert, das, was vielleicht im Zimmer 1 noch im Unbewussten schlummerte, bricht sich nun emotional Bahn. Die Gefühle – Ängste, Befürchtungen, Wut – beherrschen die Diskussion. Sind Gruppen oder Teams betroffen, wiegeln sie einander auf, schmieden Koalitionen. Auch Gerüchte und Verschwörungstheorien haben in diesem Zimmer fruchtbaren Nährboden. Man verbündet sich im Widerstand gegen die Veränderung, manchmal personifiziert in dem:derjenigen, der:die Veränderungsbotschaft überbringt bzw. die Veränderung vorantreibt. Wenn weiterhin klar ist, dass die Veränderung unausweichlich ist, wandelt sich auch bei einem Großteil der Gruppe/des Teams langsam der Sinn – nicht bei allen, es wird

2 Das Modell geht zurück auf den schwedischen Psychologen Claes F. Janssen, der das Modell in den 1970erJahren entwickelt hat (vgl. Morrison 2021). Mittlerweile gibt es im Internet zahlreiche Varianten und Ergänzungen. Die Grundstruktur mit den vier Zimmern bleibt aber zumeist erhalten.

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immer Teile eines Teams, einer Gruppe geben, die im (emotionalen) Zimmer des Widerstandes bleiben (dazu unten mehr). Der emotionale Widerstand geht über in eine mehr und mehr rationale Auseinandersetzung mit der Veränderung. Man überschreitet die Schwelle zum Zimmer 3, dem Zimmer der Verwirrung (oder Orientierung).

Der emotionale Widerstand schwindet. Man beginnt, sich mit der Veränderung auseinanderzusetzen im Wissen, dass es dazu keine Alternative gibt: »Was bedeutet das für mich?« – »Ich müsste wissen, was meine Rolle/Position ist …« – »Kann mir jemand erklären, was das Ziel ist?« Die Betroffenen beginnen konkrete Fragen zu stellen, weil sie wissen wollen, wohin die Reise geht. Sind die Antworten zufriedenstellend, haben die Betroffenen eine genauere Orientierung bekommen, was und warum (Sinnkommunikation!) die Veränderung notwendig ist. Die Chance ist groß, dass die meisten Betroffenen den Schritt wagen in

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Zimmer 4, das Zimmer der Akzeptanz.

Die Betroffenen akzeptieren den Veränderungsprozess, versuchen, ihren (neuen) Platz zu finden, nehmen vielleicht sogar eine aktive Rolle im Veränderungsprozess ein. Natürlich: Das Bild ist modellhaft, nicht jede Reaktion auf Veränderungsprozesse wird exakt nach diesem Schema verlaufen. Modelle haben den Charme sowie die Unschärfe, dass sie Typisierungen vornehmen müssen. Das Modell soll zugleich deutlich machen, dass es einen einfachen Übergang von Zimmer 1 zu Zimmer 4 nicht gibt, sondern dass der Weg immer nur durch Zimmer 2 und 3 führt. Es braucht den Prozess der emotionalen Auseinandersetzung, der Abwehrreaktion, es braucht das Durchschreiten des »Tals der Tränen«, um sich selbst wie auch Betroffene gut im Veränderungsprozess mitzunehmen. Auch hier gilt: Natürlich gibt es manchmal Veränderungen, Prozesse, Themen, bei denen die spontane Reaktion ist: »Ja, das machen wir so!« – »Find ich gut!« – »War schon lange notwendig!« – »Auf geht’s!« etc.

  Ein Beispiel  

Ein Abteilungsleiter einer diakonischen Einrichtung will in seiner Abteilung einen großen Veränderungsprozess starten – am Ende soll die Abteilung mit 20 Mitarbeiter:innen neu aufgestellt sein, die Mitarbeiter:innen neue Aufgaben haben und die Abteilung eine neue strategische Ausrichtung innerhalb des Diakonie-Unternehmens einnehmen. Der Abteilungsleiter holt sich zur Vorbereitung des Prozesses externe Beratung, entwickelt mit der Beraterin in vier Monaten die Neuaufstellung der Abteilung und die neue strategische Ausrichtung. Die vier Monate mit der externen Beraterin waren nicht einfach, es gab viele Diskussionen über den neuen Weg, die manchmal auch laut wurden. Dennoch: Am Ende ist der Abteilungsleiter vom Ergebnis begeistert und überzeugt. In dieser Begeisterung ruft er eine Abteilungsversammlung ein, alle Mitarbeiter:innen sind anwesend, in einer aufgestylten Präsentation versucht der Abteilungsleiter seine Mitarbeiter:innen auf den neuen Weg einzuschwören. Doch nach seiner Präsentation erntet der Abteilungsleiter allenfalls Kopfschütteln bei seinen Mitarbeiter:innen. Die meisten sitzen mit verschränkten Armen da und verweigern dem Abteilungsleiter den von ihm erwarteten Applaus. Enttäuscht und wütend verlässt der Abteilungsleiter die Mitarbeiter:innenversammlung – das hatte er so nicht erwartet. Was war passiert? Der Abteilungsleiter war in den vier Monaten der Planung, gestützt durch die externe Beratung, durch die Zimmer des Hauses der Veränderung gegangen. Es gab bei ihm auf der emotionalen Ebene Widerstände (»So wird das nie was!« – »Da mach’ ich nicht mit!«), dann wieder Fragen, wie das alles funktionieren kann (»Wer sitzt denn dann wo?« – »Wie stimmen wir das mit den anderen Abteilungen ab?« – »Wie kann ich den Vorstand gut in die Neuausrichtung einbinden?«), dazwischen wieder Emotionen (»Ich schmeiß’ jetzt alles hin!« – »Das passt alles hinten und vorne nicht, da waren wir ja früher besser aufgestellt!«). Doch nach den vier Monaten und vielen Diskussionen war der Abteilungsleiter im Zimmer der Akzeptanz angekommen. Dort hat er sich bequem eingerichtet, überzeugt davon, dass diese Veränderung der Abteilung guttun würde. Die Mitarbeiter:innen, so dachte er, müssten ebenso begeistert und ihm auf ewig dankbar sein. Mit dieser inneren Überzeugung tappte er bei der Mitarbeiter:innenversammlung in die typische Falle von Veränderungsprozessen: Während der Abteilungsleiter aus dem Zimmer der Akzeptanz die Vision der Veränderung verkündete, rutschen seine Mitarbeiter:innen, die zum ersten Mal etwas Konkretes von der Veränderung erfahren hatten, zunächst mehrheitlich in Zimmer 1 oder 2 – Gleichgültigkeit oder emotionaler Widerstand. Der Abteilungsleiter

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war sich nicht bewusst, dass er selbst einen Prozess durchlaufen hatte, von dessen Ergebnis er seine Mitarbeiter:innen überzeugen wollte, ohne dabei zu bedenken, dass auch die Mitarbeiter:innen erst durch das Haus der Veränderung laufen müssen.

Wo ist mein Ort im Haus der Veränderung, wenn ich gerade in einem Veränderungsprozess stecke oder eine Veränderung angehen will bzw. sie gestalten muss? In welchem Zimmer bin ich gerade?

Warum bin ich da, wo ich bin?

Was kann ich tun, um in das nächste Zimmer zu kommen?

Welche Unterstützung brauche ich von wem, damit ich ein Zimmer weiterkomme?

Wo will ich in einem halben Jahr sein?

Realistischerweise bleiben in Veränderungsprozessen auch bei Führungskräften Fragen offen, insbesondere dann, wenn die Veränderung in welcher Form auch immer von außen verordnet/aufgezwungen/angeregt/durchgeführt wird. Das sollte nicht weiter beunruhigen, denn es ist klar, dass auch Führungskräfte, die selbst von der Veränderung überzeugt sind, immer wieder an den Punkt kommen, an dem Fragen offen sind, nachgefragt werden muss. Das heißt, der reale Bewegungsspielraum einer Führungskraft im Veränderungsprozess spielt sich zwischen den Zimmern 3 und 4 ab, wobei die Tendenz mehr und mehr Richtung Zimmer 4, Zimmer der Akzeptanz, gehen sollte. Die Akzeptanz-Matrix nach Mohr, Woehe und Diebold Ein etwas anderes Modell, das den Blick auf Reaktionen von Gruppen bei Veränderungen richtet, ist die sogenannte Akzeptanz-Matrix von Nico Mohr, Jens Woehe und Marcus Diebold (1998). Sie untersuchen, wie sich die Betroffenen in Veränderungsprozessen in Gruppen aufteilen, je nachdem, wie sie von der Veränderung betroffen sind und welche Risiken sie dabei vor Augen haben. Die Autoren unterscheiden unterschiedliche Reaktionsverhalten nach persönlichen Risiken, die für Betroffene bei einem Veränderungsprozess auftreten, sowie nach sach-

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lichen Aspekten (Bedenken, Gefahren), die Betroffene bei einem Veränderungsprozess sehen. Demnach sind die Widerstände bei den Menschen hoch, die ein hohes persönliches Risiko sowie hohe sachliche Risiken sehen. Wer die sachlichen Risiken eher gering einschätzt, gleichwohl hohe persönliche Risiken sieht (zum Beispiel ein neuer Arbeitsplatz, ein Umzug, eine Veränderung der Arbeitsaufgaben), wird eher bremsend auf den Veränderungsprozess einwirken wollen. Wiederum werden diejenigen, die zwar geringe persönliche Risiken sehen, zugleich aber die sachlichen Risiken hoch einschätzen, die Rolle der Skeptiker:innen einnehmen. Diejenigen aber, die weder in der einen noch in der anderen Richtung größere Risiken sehen, gehören zur Gruppe der Promotor:innen.

Eigene Darstellung nach: Perwiss 2021, vgl. Mohr/Woehe/Diebold 1988, S. 44

Erfahrungsgemäß ist die Gruppe der Widerständler:innen (im Durchschnitt, wie hier dargestellt, etwa 15 Prozent) die lauteste Gruppe in der Organisation bei einem Veränderungsprozess. Diese Personen gehen aktiv in den Widerstand, suchen nach Verbündeten und schmieden Koalitionen. Sie versuchen, andere mit in den Widerstand zu ziehen, blockieren und ziehen alle Register, um einen Veränderungsprozess zu boykottieren (siehe auch oben beim Zimmer 2, Zimmer des Widerstandes, im Haus der Veränderung). Die fatale Reaktion von Führungskräften bei Veränderungsprozessen ist meist, alle Energie auf diesen Widerstandskern zu konzentrieren, eben weil sie laut sind und in der Organisation Unruhe stiften. Alle Energien, alle Maßnahmen, alle Initiativen werden auf diese Gruppe gelegt, obschon die Chance, diese Menschen aus der Ecke/dem Zimmer des Widerstandes zu locken, relativ gering ist – eine Widerstandsgruppe wird immer bleiben. Die Gefahr dabei: Bei kontinuierlicher Konzentration auf die Widerstandsgruppe werden 80 bis 85 Prozent derjenigen vergessen, die zwar skeptisch oder bremsend sind, grundsätzlich aber die Veränderung mittragen werden – von den Promotor:innen ganz abgesehen. Deswegen ist eine Grundvoraussetzung für das konstruktive Gestalten eines Veränderungsprozesses, auf die Gruppe der Promotor:innen zu setzen und diese zu stärken. Denn die Gruppe der Promotor:innen ist es, die Einfluss auf die Skeptiker:innen und Brem-

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ser:innen nehmen kann – vielleicht liegen in den beiden Gruppen auch jeweils ernst zu nehmende Bedenken, die aus dem Weg geräumt werden können. Und die Widerstandsgruppe? Vergessen Sie alle Harmonieantreiber:innen — die Widerstandsgruppe wird bleiben, manchmal sind es 15 Prozent, manchmal weniger, manchmal ist es in einem kleinen Team nur eine:r – wie auch immer. Nach zwei, drei erfolglosen Versuchen, die Widerständler:innen aus ihrer Verweigerungshaltung zu bringen, bleibt nur übrig, diese Gruppe zu ignorieren und darauf zu bauen, dass sie durch den laufenden Prozess mitgezogen werden. Erheben Sie nicht den Anspruch, bei Veränderungen einen hundertprozentigen Konsens zu erreichen – Sie werden daran scheitern. Es gibt einen provokativen Lehrsatz aus der Anthologie der Führungsweisheiten, der da lautet: »Als Führungskraft reicht es, wenn ich bei 30 Prozent meiner Mitarbeiter:innen beliebt bin.« Natürlich muss man eine solche Aussage mit Augenzwinkern lesen – aber es steckt eine wahre Botschaft in diesem Lehrsatz: Als Führungskraft kann man es nicht allen recht machen (und das muss man auch aushalten!). Was schon mal funktioniert hat 1. Dem Wandel ein Gesicht geben – als Ansprechpartner:in, Moderator:in und Vermittler:in – und bereitstehen. 2. Den gesamten Prozess begleiten und steuern – Veränderung organisieren und planen, Betroffenheit analysieren, Widerstände identifizieren, Veränderungsmanagement­ Werkzeuge planen und einsetzen, gegebenenfalls nachsteuern. 3. Organisationsleitung kontinuierlich einbinden – Unterstützung über den gesamten Prozess sichern. 4. Flexible und realistische Planung – nicht zu viele Projekte gleichzeitig in Angriff nehmen, Verzögerungen einplanen. 5. Mitarbeiter:innen gewinnen – Betroffene zu Beteiligten und Führungskräfte zu Promotor:innen machen. 6. Kommunikation – ehrlich, rechtzeitig, kontinuierlich und zielgruppenorientiert. 7. Partizipation – motivieren durch ernst gemeinte Teilnahme und Beiträge annehmen. 8. Widerstände ernst nehmen – Potenzial für Verbesserungen nutzen. 9. Veränderung können – methodische und fachliche Kompetenzen durch Weiterbildung. 10. Wandel als Daueraufgabe betrachten – Veränderungen benötigen einen kontinuierlichen Ansatz.  (nach: Bundesministerium des Inneren 2009, bearbeitet durch D. D.)

4 In Veränderungen führen Kommunikationsmodelle Den vorgestellten exemplarischen Veränderungsmodellen ist eines gemeinsam: Sie erläutern, welche Reaktionen Veränderung bei Menschen auslösen. Sie schildern die Phasen, die emotionalen Zustände und das – größtenteils – langsame Akzeptieren und Bejahen, wenn der Wandel, die Veränderung ernst werden. Wie kann es aber gelingen, Mitarbeiter:innen gut durch solche Veränderungsprozesse zu führen? Wie kann es gelingen, gut auf die Mitglieder eines Teams, die sich vielleicht in unterschiedlichen Zimmern befinden, einzugehen? Wie führt man in Veränderungen?

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Auf Promotor:innen setzen! Vergessen Sie Harmonieantreiber:innen!

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Es gibt drei einfache Grundregeln: 1. Kommunizieren, 2. Kommunizieren, 3. Kommunizieren. 4. Wenn das nicht klappt, probieren Sie es mit Kommunizieren. Heinloth, Stefan: Praxishandbuch für Führungskräfte. Mitarbeiter überzeugen – Führungsfähigkeiten entwickeln – Systemische Methoden anwenden, München 2011, S. 146 ff.

Gleichwohl: Kommunikation zwischen Menschen ist nicht immer einfach, weil Menschen selten auf einer Wellenlinie sind, wenn sie miteinander sprechen. Zur Erläuterung hilft dabei die Unterscheidung des klassischen Kommunikationsmodells und des systemischen Ansatzes.

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Kommunikationsmodelle3 Der klassische Ansatz

Die Schwierigkeit des klassischen Kommunikationsmodells liegt darin, dass nicht davon auszugehen ist, dass Person B die Botschaft genau so versteht, wie Person A sie gemeint hat – dies funktioniert nur in abgeschlossenen Kommunikationssystemen (Feuerwehr, Militär, Sanitätsdienst etc.). In der alltäglichen Kommunikation zwischen Menschen führt diese Art der Kommunikation häufig zu Missverständnissen, die leicht zu Konfliktsituationen eskalieren können (»Ich habe Ihnen/dir doch gesagt, Sie sollen/du sollst …!« – »Hast du denn nicht verstanden …?«). Systemisches Kommunikationsmodell

Das systemische Kommunikationsmodell geht davon aus, dass jede:r – wie es in der systemischen Sprache heißt – in seiner:ihrer Welt lebt und kommuniziert (die Welt der Führungskraft ↔ die Welt des:der Mitarbeitenden; die Welt des Pfarrers:der Pfarrerin ↔ die Welt der Ehrenamtlichen; die Welt von Team A ↔ die Welt von Team B; die Welt innen ↔ die Welt außen etc.). Die Botschaft, die der:die Sender:in A aus seiner:ihrer Welt verschickt, kann in der Welt von B völlig anders ankommen (und wird das in der Regel auch tun!). Um gut miteinander zu kommunizieren, hilft es, Rückfragen zu stellen: »Wie ist das gemeint?« – »Worauf zielen Sie ab?« –»Habe ich Sie richtig verstanden …?« – und zu erläutern: »Konkret wünsche ich mir, dass …« – »Was ist bei Ihnen angekommen?« – »Wie sehen Sie die Sache, die Angelegenheit …?« Im gegenseitigen zirkulären Fragen (und Feedback-Geben) entsteht so ein gemeinsames Bild und eine gemeinsame Kommunikationsbasis. Die Chance, dass nach einem kurzen Austausch beide, Sender:in und Empfänger:in, dasselbe Verständnis der Botschaft haben, ist relativ hoch.

3 Man kann nicht über Kommunikation(-smodelle) sprechen, ohne dabei Friedemann Schulz von Thun mit seinem Modell der vier Münder und der vier Ohren erwähnt zu haben. Da aber davon auszugehen ist, dass dieses Modell bekannt ist, wird es hier nicht mehr gesondert erwähnt. Vgl. dazu als Pflichtlektüre für alle, die in einem kommunikationsintensiven Beruf arbeiten und/oder Führungskräfte sind: Schulz von Thun 2008/2014.

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g. Wie kommuniziere ich mit anderen Menschen, insbesondere in angespannten Situationen? h. Lasse ich mir im Gespräch Zeit, um meinem Gegenüber Sinn und Zweck meiner Botschaft zu verstehen zu geben? Gebe ich meinem Gegenüber die Gelegenheit zu Rückfragen, fordere ich es sogar dazu auf? i. Erlaube ich mir nachzufragen, wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich die Botschaft meines Gegenübers verstanden habe? j. Wie gehe ich damit um, wenn mir mein:e Vorgesetzte:r unkommentierte Anweisungen gibt, am besten noch per Mail? Erlaube ich mir zurückzufragen?

5 Was ist zu tun? Klärungsprozesse bei der eigenen Person Das Wichtigste ist zunächst, sich selbst über den anstehenden Veränderungsprozess klarzuwerden – vielleicht auch noch einmal mit Rückgriff auf das eingangs dargelegte Riemann-Thomann-Modell und der damit verbundenen Selbsteinschätzung, welcher Beziehungstyp man tendenziell ist. Dabei helfen folgende Leitfragen: – Warum steht eine Veränderung an? – Warum will ich die Veränderung? Habe ich die Entscheidung unumstößlich getroffen? – Warum ist die Veränderung notwendig (etwa, wenn sie durch äußere Umstände notwendig/verordnet etc. wird)? – Was ist das Ziel/der Sinn der Veränderung? Habe ich das alles durchdrungen, verstanden? Akzeptiere ich das, was ich/andere mit der Veränderung erreichen wollen? – Bin ich bewusst durch alle Zimmer des Hauses der Veränderung gegangen? Wo bin ich selbst auf innere Widerstände oder Orientierungsfragen gestoßen? – Was hat mir geholfen, von einem Zimmer in das andere zu kommen? – Welche Strategie habe ich als Veränderungsmanager:in, wenn Konflikte auftreten? – Wenn es schwerwiegende und letztlich nachvollziehbare Einwände und Gründe gegen die Veränderung gibt, bin ich dann bereit, die Entscheidung zu revidieren? Die Mitarbeiter:innen in den Blick nehmen In einem zweiten Schritt richtet sich der Blick von der eigenen Person hin zu denjenigen, die von der Veränderung betroffen sind: – Wo vermute ich, stehen meine Mitarbeiter:innen im Haus der Veränderung – in welchem Zimmer? Wer braucht hier was? – Wer könnte sich im Zimmer des Widerstandes (emotionale Ebene) einmauern, dort nicht mehr herauskommen wollen? – Wen muss ich besonders in den Blick nehmen? Wo ist ein persönliches Gespräch vorab notwendig (etwa, wenn einzelne Personen von einer individuellen Veränderung des Arbeitsverhältnisses/der Arbeitsbedingungen betroffen sind)? Noch einmal: Kommunikation heißt nicht, einfach zu verordnen, anzusagen, zu verkünden, sondern mit den Betroffenen ins Gespräch zu kommen, Ängste wahrzunehmen, zuzuhören und – soweit möglich – Transparenz zu leben. Idealerweise gelingt es dabei, immer wieder das Ziel, den Sinn, das neue Gleichgewicht zu kommunizieren, denn das Ziel ist, die Mitarbeiter:innen/die Betroffenen letztlich zu motivieren, den Schritt/die Schritte mitzugehen.

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Veränderung gestalten

Die Methode der Einwand-Integration4 Einwände, die von Betroffenen kommen, müssen nicht immer Nörgelei oder unüberlegter Widerstand sein – manchmal bringen Bremser:innen und Skeptiker:innen wichtige Punkte, deren Berücksichtigung bei einer Entscheidung, bei einer Veränderung hilfreich sein kann. Um gut mit Einwänden umzugehen und diese auch ernst zu nehmen, gibt es aus der Gesprächsmoderation die Methode der Einwand-Integration.

Dabei geht es darum, mit möglichen Einwänden gut und konstruktiv umzugehen. Die Methode ist sehr einfach – es gibt fünf Positionen, die eine Person im Blick auf eine Entscheidung einnehmen kann: Position 1 heißt: Ich stimme der Entscheidung/Veränderung bedenkenfrei zu. Position 2 heißt: Ich stimme der Entscheidung/Veränderung zu, habe gleichwohl einige Bedenken, die ich einbringen/zu Gehör bringen will. Position 3 heißt: Ich habe schwerwiegende Bedenken gegen die Entscheidung/Veränderung, die berücksichtigt werden müssen. Position 4 heißt: Veto – Ich stimme mit dieser Entscheidung/Veränderung nicht überein. Position 5 heißt: Ich enthalte mich. Sie können die Methode in Gruppen auf unterschiedliche Weise anwenden: Idealerweise legen Sie in einem Raum die fünf Zahlen auf den Boden, erläutern kurz die Methode und lassen die Gruppenmitglieder sich dazu aufstellen – jede:r zu der Position, die er:sie vertritt. Aufstellungen haben den Vorteil, dass die beteiligten Personen sich auf jeden Fall zur Frage/zum Thema verhalten müssen und sich nicht hinter anderen verstecken können. Zudem wird durch eine Aufstellung rasch sichtbar, wie die Stimmung in einem Team/in einer Gruppe ist. Eine andere Form ist, dass Sie in einer Gruppe die Methode erläutern; danach soll jedes Gruppenmitglied seine Position auf einen Zettel schreiben und auf Zuruf allen zeigen. Wie Sie es am Ende gestalten, bleibt Ihnen natürlich überlassen – der Charme der Methode liegt darin, dass sich jede:r zum Thema verhalten muss und gegebenenfalls Einwände/Bedenken zur Sprache kommen, die für den weiteren Prozess hilfreich sein können.

4 Es gibt eine Vielzahl von Darstellungen im Internet – wer der:die ursprüngliche Erfinder:in der Methode ist und wie sie in ihrer Grundform aussieht, lässt sich angesichts der vielen Darstellungen im Netz nicht mehr nachvollziehen. Nachfolgend wird hier eine eigene, einfache Darstellung gewählt.

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Daniel Dietzfelbinger

Kommunikationskonzept erstellen

Schritt für Schritt planen

Bei größeren Veränderungsprozessen in Unternehmen oder Organisationen plant man die Durchführung und Begleitung von Veränderungsprozessen idealerweise mit einem gut abgestimmten Kommunikationsprozess. Von diesen Methoden können auch kirchliche Führungskräfte profitieren. Bei einem Kommunikationskonzept geht es darum, gute Schritte zu überlegen, wer wann wie informiert werden muss – immer unter dem Grundsatz, so transparent wie möglich zu sein (nicht immer ist es möglich, komplett transparent zu sein, etwa wenn Personalentscheidungen davon betroffen sind etc.). Grundlegende Elemente eines Kommunikationskonzeptes sind (hier in der Ich-Formulierung, kann genauso in einem größeren Veränderungsteam besprochen werden): – Ziel/e festlegen: Was soll mit der Kommunikation erreicht werden? – Zielgruppen definieren: Wen muss ich wann erreichen? Welche Informationen, welche Kommunikation braucht welche Zielgruppe (Hauptamtliche, Ehrenamtliche, Gemeinde insgesamt etc.)? – Kommunikationsmittel definieren: Welche Zielgruppe erreiche ich mit welchen Kommunikationsmitteln (persönliches Gespräch, Website, Gemeindebrief, Kirchencafé, Gemeindeversammlung etc.)? – Adressat:innengerechte Botschaften formulieren: Wie bringe ich die Botschaft gut an den:die Empfänger:in? Wie muss ich die Botschaft in Richtung Hauptamtliche formulieren, wie in Richtung Gemeinde (Achtung: unterschiedliche Kommunikationsformen– man kann nicht jedes Gemeindeglied zu einem persönlichen Gespräch laden!)? – Kommunikationsfallen identifizieren: Wo könnte die Botschaft missverständlich ankommen? Wo könnte die Botschaft via Stille-Post-Phänomen verändert, gar umgedreht werden? Wie kann ich solche Fallen umgehen? Was mache ich, wenn ich dennoch in eine solche Falle trete? – Lufthoheit im Flurfunk erzielen: Wo sind die Gerüchteküchen und Flurfunksender (häufig sind diese nahe bei der Kaffeemaschine oder beim Kopierer)? Wie kann ich aufgeblasenen Gerüchten entgegentreten? Wo muss ich noch mehr kommunizieren, noch transparenter werden, um den Flurfunk zu minimieren (ganz ausschalten kann man ihn ohnehin nicht)? – Öffentlichkeit einbeziehen: Wie beziehe ich – wenn es notwendig ist – die Öffentlichkeit ein (Presseinformation, Pressekonferenz, Hintergrundgespräche etc.)? – Vielstimmigkeit vermeiden: Wenn die Öffentlichkeit einbezogen wird, ist es wichtig, dass eine Person mit einer Botschaft an die Öffentlichkeit tritt (One Voice Policy). Definieren Sie idealerweise eine Person, die mit der Presse spricht – das kann die leitende Person in der Organisation sein, vielleicht gibt es eine:n Öffentlichkeitsarbeiter:in. Vermeiden Sie, dass jede:r, der:die sich berufen fühlt, mit der Lokalpresse spricht (idealer Nährboden für Gerüchte!) und dabei unterschiedliche Positionen/Versionen streut. Stolzenberg, Kerstin/Heberele, Krischan: Change Management. Veränderungsprozesse erfolgreich gestalten – Mitarbeiter mobilisieren, 3. Aufl., Berlin u. a. 2013, S. 67 ff.

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Veränderung gestalten

6 Zusammenfassung: Führen durch das Haus der Veränderung 1. Im Zimmer der Verdrängung/Gleichgültigkeit …

4. Im Zimmer der Akzeptanz …

– Mitarbeiter:innen reden lassen, zur Reflexion anregen – durch Fragen und Erkundungen den Emotionen auf die Spur kommen – Forum für Beschwerden schaffen; »Klagemauer« einrichten – Schockbearbeitung: Gefühle ernst nehmen – Verständnis und Mitgefühl zeigen (aber nicht gegen »die da oben« verbünden) – Worst-Case-Szenario entwickeln (»Was passiert, wenn wir nichts tun?«) – Konfrontation (»Ja, die Veränderung wird kommen.«; »Es geht nicht so weiter wie bisher.«) – Ehrlichkeit, Offenheit

– Entwicklungs- und Leistungsziele vereinbaren – Wissensmanagement (Erfolgsfaktoren und Fehler für andere Projekte nutzen) – Kooperation in der Gruppe stärken – »Cheerleading« (»Prima, weiter so!«; unerwartete »Belohnungen«) – Erfolge, positive Erfahrungen benennen – Fördermaßnahmen einleiten

2. Im Zimmer der Verdrängung/ des Widerstandes …

3. Im Zimmer der Verwirrung/ Orientierung …

– Nachfragen, Erkunden (was steckt hinter den Reaktionen, zum Beispiel Angst?) – Hypothesen bilden und äußern – Unterstützung, Hilfe anbieten – Sicherheit geben; Angst reduzieren – konstruktives Denken anregen (»Was ist Ihr Ziel als Mitarbeiter:in? Ist das Ziel mit dem jetzigen Verhalten erreichbar?«; »Was brauchen Sie, um wieder Leistung zu erbringen?«; »Was gewinnen Sie durch die Veränderung, was müssen Sie aufgeben?«) – Bewahrung und Veränderung würdigen (was spricht dafür, was dagegen?) – letztes Mittel: Konfrontation mit Konsequenzen

– Informationen geben (Ziel der Veränderung, Sinnhaftigkeit, Notwendigkeit, Teilerfolge kommunizieren) – Orientierung schaffen – Sinn-Kommunikation – Perspektiven/Chancen aufzeigen – Verbesserungspotenziale identifizieren; Entwicklungsmaßnahmen einleiten; Aufgeschlossenheit erhalten – Mitarbeiter:innen unterstützen und Hilfe organisieren – Anerkennung für Leistungssteigerung – Wo möglich, die Mitarbeiter:innen in Lösungsansätze integrieren, sie mitarbeiten lassen! (nach: Bormann 2021; überarbeitet und ergänzt D. D.)

Bibeltexte zum Thema Die Bibel ist voll von Veränderungsgeschichten, Geschichten, die von Menschen erzählen, die sich auf neue Wege begeben – manchmal freiwillig, manchmal, weil andere Menschen oder äußere Umstände dazu auffordern oder zwingen, manchmal, weil Gott seinen anderen, neuen Weg weist.

Aus dem Alten Testament (beispielhaft): Genesis 17,5; 18–23

Bei den sogenannten »Erzvätern« bekommt Abraham zunächst einen neuen Namen und verlässt mit seinem Stamm seine Heimat, um an neue Stätten aufzubrechen.

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Daniel Dietzfelbinger

Jeremia 1,4–19

Eine Geschichte, die alle emotionalen Reaktionsstufen auf von außen kommende Veränderung wunderbar erzählt, ist die Geschichte von Jeremia. Auch Jeremia geht zunächst einmal in die Widerstandshaltung, als er von Gott zum Prophetenamt berufen wird. Umgekehrt können die Bücher der Propheten – insbesondere Jesaja, Ezechiel und Amos – als umfassende Plädoyers für Veränderung gelesen werden, zugleich verbunden mit dem Blick auf die Gleichgültigkeit, mit der die Angesprochenen häufig reagieren. Matthäus 8,18–21

Die Erzählungen von Jesus im Neuen Testament sind ein einziger Aufruf zu Umkehr und Veränderung. Beispielhaft ist die Geschichte des Schriftgelehrten, den Jesus auffordert, alles hinter sich zu lassen und ihm nachzufolgen. Matthäus 14,28–32

Die Erzählung von Petrus, den Jesus auffordert, über das Wasser zu gehen, macht beispielhaft deutlich, wie wichtig Vertrauen bei Veränderungsprozessen ist. Apostelgeschichte 9,1–19

Schließlich lässt sich bei Paulus nachlesen, was es bedeutet, schlagartig – mit Impuls von außen — zu einer inneren Veränderung zu kommen, eine Erfahrung, die er in seinen Briefen an die unterschiedlichen Gemeinden immer wieder neu verarbeitet.

Was Sie tun können, damit ein Change-Prozess vollkommen zum Erliegen kommt … Schauen Sie sich dazu unbedingt das Video an unter: https://youtu.be/Ug83sF_3_Ec, ab� gerufen am 15.10.2021. 1. Sorgen Sie dafür, dass sich die Führungskräfte aus der Veränderung ganz heraushalten oder alles komplett im Griff haben! 2. Kurbeln Sie den Buschfunk an und streuen Sie Gerüchte über die geplanten Veränderungen! Führungskräfte sollten am besten jeden Morgen durch die Büros gehen und sagen: »Die Abteilung wird geschlossen!« 3. Starten Sie möglichst viele Maßnahmen, Projekte und Aktivitäten gleichzeitig! 4. Starten Sie im Rahmen der Veränderung einen Wettbewerb, in dem nur die Besten gute Chancen haben! 5. Finden Sie zuerst Schuldige, bevor Sie etwas ändern! 6. Sinn und Unsinn von bestehenden Regeln werden nicht diskutiert. 7. Beschlüsse sollten schnell herbeigeführt werden, damit sie anschließend wieder infrage gestellt werden können. 8. Beschlüsse sollten schneller gefasst werden, als sie umgesetzt werden können. Es gilt die Regel: Maximale Beschlussdynamik bei minimaler Umsetzungsdynamik!5

5 Im Internet kursieren verschiedenen Varianten dieser acht Regeln, die ursprünglich vom Bremer Psychologen Peter Kruse stammen – siehe auch den Link zum Video!

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Veränderung gestalten

Autor Dr. Daniel Dietzfelbinger ist Pfarrer sowie Systemischer Coach, Organisationsentwickler und Geschäftsführer des Instituts persönlichkeit+ethik GbR, Augsburg. www.persoenlichkeitundethik.de, [email protected]

Literatur Bormann, Hans-Werner: Changemanagement. Was Führungskräfte bei Veränderungen tun sollten. https:// www.business-wissen.de/artikel/changemanagement-was-fuehrungskraefte-bei-veraenderungen-tunsollten, abgerufen am 15.10.2021. Bundesministerium des Inneren (Hg.): Change Management. Anwendungshilfe zu Veränderungsprozessen in der öffentlichen Verwaltung, Rostock 2009. https://www.verwaltung-innovativ.de/SharedDocs/Publikationen/Presse__Archiv/20100224_anwendungshilfe_change_management.pdf?__blob=publicationFile&v=2, abgerufen am 15.10.2021. Kübler-Ross, Elisabeth: On Death and Dying. What the dying have to teach doctors, nurses, clergy, and their own families, New York 1969; deutsch: Interviews mit Sterbenden, Freiburg i. Br. 1971. Lewin, Kurt: Gleichgewichte und Veränderungen in der Gruppendynamik, in: Kurt Lewin: Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften, hg. v. Dorwin Cartwright, Bern 1963, S. 223–270. Mohr, Niko/Woehe, Jens/Diebold, Marcus: Widerstand erfolgreich managen. Professionelle Kommunikation in Veränderungsprojekten, Wiesbaden 1998. Morrison, Mike: Change House Model, 14.03.2011. https://rapidbi.com/change-house-model/, abgerufen am 22.12.2021. Moskaliuk, Johannes: Persönlichkeitsmodell nach Riemann und Thomann. https://ichraum.de/persoenlichkeitsmodell-nach-riemann-und-thomann/, abgerufen am 15.10.2021. Perwiss: Change Management. Veränderungen erfolgreich gestalten. https://www.perwiss.de/change-management.html, abgerufen am 15.10.2021. Riemann, Fritz: Grundformen der Angst, München 1961. Rosa, Hartmut: Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Berlin 2013. Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden, drei/(neue Edition) vier Bände, Hamburg 2008/2014. Studlib: Phasenmodelle von Veränderungsprozessen. https://studlib.de/10045/betrieb_management/phasenmodelle_veranderungsprozessen, abgerufen am 15.10.2021. Synapse Web: Das Riemann-Thomann-Modell. Teilnehmerunterlage. http://www.synapse-web.com/WebRoot/ Store12/Shops/63374192/4F63/0F02/B3C7/81A8/BCCE/C0A8/2981/9151/TN_Unterlage_Riemann_Thomann_.pdf, abgerufen am 15.10.2021. Thomann, Christoph/Schulz von Thun, Friedemann: Klärungshilfe 1. Handbuch für Therapeuten, Gesprächshelfer und Moderatoren in schwierigen Gesprächen, Hamburg 1988. Wagner, Eike: Vom Umgang mit Widerstand in Veränderungsprozessen, Juli 2010. http://www.perspektiveblau.de/artikel/1007b/1007b.htm, abgerufen am 15.10.2021. wirtrainieren.de: Handout zum Riemann-Thomann Modell. http://wirtrainieren.de/werkzeugkoffer/media/ Handout-zum-Riemann-Thomann-Modell.pdf, abgerufen am 15.10.2021. Wolf, Lara: 4, 5 & 7 Phasen der Trauer nach Kübler-Ross, Kast, Spiegel & Bonanno. Tipps für die Trauerbewältigung, 15.7.2021. https://www.basenio.de/senioren-ratgeber/alltag/phasen-der-trauer-197/#fuenf-trauerphasen-nach-elisabeth-kuebler-ross, abgerufen am 15.10.2021.

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Visitation als Leitungshandeln Jan Peter Grevel Î Wie geschieht Leitung durch Visitation? Î Welche Ziele intendiert die Visitation? Î Welche Rolle(n) hat Kirchenleitung im Prozess der Visitation?

1 Zum Grundanliegen der Visitation »Visitation ist nicht ein Steuerungsinstrument neben anderen, sondern markiert einen ekklesialen Grundvollzug. Visitation ist Wesensausdruck der Kirche.« (Lasogga/Hahn 2010, S. 9) Aber gilt die Visitation in ihrer traditionellen Form vielen Landeskirchen nicht längst als reformbedürftig? Eine flächendeckende Visitationspraxis ist gerade für Leitende im ephoralen Amt aufwendig. Besuche und Dokumentation verursachen Kosten. Im Zuge einer umfassenden Reform kirchlicher Aufsicht seit den 1990er-Jahren, die Modelle und Impulse der Organisationsentwicklung aufnahm, wurde daher das bis dahin tradierte Visitationsverständnis, das stark von Aufsichts- und Kontrollelementen geprägt war, hinterfragt (vgl. zuerst Zünd 2006; ferner Krause 1991 und Löwe 2015). Infolgedessen wurden seit den frühen 2000er-Jahren zahlreiche Visitationsordnungen verändert, auch um einer Visitationspraxis neue Impulse zu verleihen (EKiR 2019; EKHN 2015; LKA Hannover 2012; EKBO 2008). Dieser offensichtliche Wandel in der Visitationskultur wird in so erneuerten Visitationsordnungen selbst zur Sprache gebracht.1 Grundlegend besteht kein Zweifel an der Bedeutung visitatorischer Praxis in der Kirche, würdigt doch ein solches geordnetes Besuchsgeschehen die gebräuchlichen Formen kirchlich-verfasster Gemeinschaft.2 Die Visitation gehört zweifellos zu den traditionsreichsten und prägenden Leitungsinstrumenten der Kirche. Gerade die Fragen der Auftragsgemäßheit evangelischer Verkündigung, der Qualität kirchlichen Handelns und die Einwirkung bei Konflikten begleiteten die Reformation bereits von Beginn an (Luther 1528). In Luthers Vorrede zu der Gründungsschrift evangelischer Visitationsordnungen, »Der Unterricht der Visitatoren« von 1528, legitimiert Luther den Ordnungs- und Gestaltungswillen der obrigkeitlichen Visitation mit der biblischen Verankerung der Visitation. Luther sieht einen Zusammenhang zwischen dem Inkarnationsgeschehen und der gegenseitigen Besuchspraxis innerhalb der Kirche. Die Besuche im Rahmen der Visitation gelten daher nicht nur den Amtsträger:innen, sondern der ganzen Gemeinde. Der Besuchsdienst in den Gemeinden habe die Aufgabe, den Kern christlicher Lehre und 1 »Dieser Auftrag [d. i. der Visitation] stellt sich in einer Umbruchsituation. […] Die Bindekräfte von Institutionen und Traditionen sind schwächer geworden. […] An eine Kirche, die sich als offene Volkskirche versteht, stellt dies neue Herausforderungen, denen mit der Neuordnung der Visitation Rechnung getragen werden soll.« (EKHN 2010, § 1 Abs. 4) 2 Bereits in den neutestamentlichen Schriften finden sich zahlreiche Entsprechungen für eine Visitationspraxis, vgl. z. B. Apg 15,36. Im Neuen Testament finden sich Berichte über eine anfängliche visitatorische Praxis (Apg 8; 15) ebenso wie Elemente visitatorischer Praxis selbst durch Briefe (2 Kor 13,10 u. ö.), Ermahnungen (1 Thess 3,10–13) oder in der Gattung der Pastoralbriefe, vgl. Heckel 1997.

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Visitation als Leitungshandeln

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Lebens verlässlich zu halten, also »wie man lere, gleube, liebe, wie man Christlich lebe, wie die armen versorgt, wie man die schwachen tröstet (und) die wilden straffet« (Luther 1528, S. 196). Luthers Äußerungen zur Visitation leiten dabei einen Text ein, der selbst in vielfältiger Weise bereits bestehende Visitationspraxis und zukünftige Visitationsordnung reflektiert und belegt, dass Leitungshandeln im Rahmen visitatorischer Praxis bereits von Beginn an mit der Reflexion über die Voraussetzungen von Leitung verbunden war.3 Fragen zur Reflexion a. Welches Bild von Gemeinde als Teil von Kirche will ich durch Leitung stärken und befördern? b. Welche Traditionen, Ordnungen und Visionen von Kirche sind dabei für die Visitation leitend? c. Welches pastorale Selbstverständnis leitet mich in meinem Handeln?

2 Der Ablauf der Visitation Die vielfältigen Wechselwirkungen von Visitationsordnungen und Visitationspraxis spiegeln sich im Ablauf jeder Visitation. Sie besteht im Wesentlichen aus einer Planungs-, einer Besuchs- und einer Dokumentationsphase: Planung Visitationsordnungen geben vor, in welchem Rhythmus in einem Kirchenkreis oder einer Einrichtung visitiert werden sollte. Ausnahmen können in Stellenwechseln, Kirchenwahlen, Konflikten oder bevorstehenden Strukturveränderungen begründet sein. Generell ist eine Visitation eine Momentaufnahme. So kann prinzipiell jeder Zeitpunkt geeignet sein. Planungen für eine Visitation sollten im Einvernehmen aller Beteiligten geschehen und mehrere Monate Vorlauf haben.4 Ablauf, Beteiligte, Kernanliegen – alles das wird gemeinsam geklärt. Vielerorts wird ein:e Moderator:in eingebunden, um den Klärungsbzw. Auswertungsprozess der Gemeindeleitung zu begleiten. Besuch Im Zentrum der Visitation stehen die Besuche, die im Kern in einer oft so bezeichneten Besuchswoche stattfinden. Besucht werden Amts- und Funktionsträger:innen sowie relevante Player:innen im Sozialraum. Die Besuche drücken Wertschätzung, Interesse und Verbundenheit aus. Erst in zweiter Hinsicht dienen sie dazu, den Visitierenden eine vertiefte Kenntnis einer Kirchengemeinde, eines Kirchenkreises oder einer Einrichtung zu vermitteln. Die Besuche haben öffentlichen oder vertraulichen Charakter. Beides ist zu reflektieren und zu kommunizieren. Im Hinblick auf Macht- und Konfliktkonstellationen ist der Besuch der Gemeindeleitung und der Pfarrpersonen zu bedenken. 3 Der Text fußte auf den Erfahrungen frühester Visitationen 1527 und ist somit zugleich das Dokument einer Visitationsauswertung in kybernetischer Absicht, vgl. Michel 2014. 4 Der Vorlauf hängt auch von dem Planungsumfang ab, den die einzelnen Visitationsordnungen vorschreiben. Besonders umfangreich – und damit auch zeitlich mit neun Monaten besonders lang bemessen – ist der Vorlauf in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, vgl. LKA Hannover 2013, § 2 Abs. 1.

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Die Visitationen gehören zu den traditionsreichsten prägendsten Leitungsinstrumenten der evangelischen Kirche und folgen einem bestimmten Rhythmus

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Jan Peter Grevel

Dokumentation Die Dokumentation der Visitationsbesuche, der Gespräche und der Vereinbarungen geschieht in den meisten Landeskirchen anhand von Formularen und Vorlagen. Sie sind Ausdruck einer gewachsenen Visitationskultur und sollten im Vorfeld der Visitation genau beachtet werden. Die Gemeindeleitungen verfassen in der Regel im Vorfeld einen Gemeindeleitungsbericht. Bestand dieser in früheren Zeiten aus Informationen über das kirchliche Leben, so leitet er im Zuge erneuerter Visitationsordnungen der zurückliegenden zehn Jahre mehr und mehr zu einer Reflexion der Gemeindeleitung über Problemstellungen, Klärungsprozesse und Zielsetzungen an und ist so zu einem Instrument der Gemeindeentwicklung geworden. Die Dokumentation der Visitation findet auch aus der Perspektive der Visitierenden statt. Die Formulare helfen, die Vielzahl der Eindrücke zu ordnen, aber sie lenken auch den Blick auf bestimmte Fragestellungen. Leitungshandeln bedeutet hier, rollenklar im Hinblick auf landeskirchliche Erwartungen aufzutreten und in der Dokumentation zwischen Visitierten und Kirchenleitung zu vermitteln.

3 Wahrnehmen – Kommunizieren – Evaluieren Für die Visitierenden ist der Dreischritt aus Planung, Besuchen und Dokumentation ein Leitfaden für den Ablauf einer Visitation. Die Grundhaltungen sind, so halten es einzelne Visitationsordnungen geradezu programmatisch fest, Wertschätzung und Würdigung: »Die Visitation hat die Aufgabe, die Besuchten durch Anerkennung der bisherigen Arbeit zu ermutigen und die beruflichen und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu stärken.« (EKHN 2010, § 2 Abs. 1) Noch weiter geht die geradezu programmatische Formulierung im Visitationsgesetz der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, die die Reziprozität dieser Wertschätzung hervorhebt: »Die Visitation ist ein geschwisterlicher Besuchsdienst. Sie ist durch eine Grundhaltung der Wertschätzung und Ermutigung bestimmt. Für diese Haltung tragen Visitierende und Visitierte gemeinsam die Verantwortung.« (LKA Hannover 2012, § 1 Abs. 1)

Visitationsordnungen nehmen gesellschaftliche und theologische Diskurse auf

Dennoch geht die Visitation darin nicht auf. Sie ist vielmehr – je nach landeskirchlicher Visitationskultur – mehr oder weniger geordneter Besuchsdienst. Die Visitation vollzieht sich dabei nicht in erster Linie gemäß einer äußeren Ordnung der Regularien, Formulare und Gesetze. Vielmehr dient die dazu, sich gegenseitig Rechenschaft über christliches Leben in allen seinen Aspekten in einem jeweils konkreten Sozialraum zu geben. Aber was heißt das theologisch? Visitationsordnungen spiegeln theologische Trends. So heißt es in den Richtlinien der Bischofskonferenz der VELKD von 1963 noch im Sinn der dialektischen Theologie: »In der Visitation wacht die Kirche durch Visitatoren darüber, dass das Wort Gottes schriftgemäß verkündigt wird« (Frank/Wilken 1966, B 140). so hält die Evangelische Landeskirche in Württemberg in vorsichtiger Annäherung an die empirische Wende der 1968er fest: Die Visitation

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Visitation als Leitungshandeln

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»dient der gegenseitigen Information, Beratung und Hilfe von Visitatoren und Visitierten, und sie dient der Prüfung, ob das Evangelium auftragsgemäß und gegenwartsbezogen verkündet […] und ob dies im Rahmen der Ordnung der Landeskirche geschieht« (LKA Hannover 2012, § 1). Jüngere Ordnungen wahren zu diesen Positionsbestimmungen eher Distanz und machen den jeweiligen Klärungsprozess verbindlich: Zum Abschluss der Visitation vereinbaren Gemeinden, Dekanate, Dienste und kirchliche Einrichtungen Ziele ihrer künftigen Arbeit (vgl. EKHN 2010, § 2 Abs. 1). Leitungshandeln bedeutet in diesem Zusammenhang, die Visitierten in diesen Kontexten angemessen wahrzunehmen, mit ihnen gemeinsam zu kommunizieren und schließlich diesen geordneten Besuchsdienst selbst zu evaluieren. Damit sind die Reflexionsperspektiven der Hermeneutik, der Pastoraltheologie und der Kybernetik angesprochen. Wahrnehmen Aus dem Ablauf der Visitation ergibt sich, dass die Wahrnehmung einer visitierten Gemeinde bzw. Einrichtung von Texten wie von persönlichen Besuchseindrücken geprägt ist. Es gehört zum Leitungshandeln, blinde Flecken, eigene Erfahrungen und Vorverständnisse einzurechnen und den eigenen Wahrnehmungsmodi auf die Spur zu kommen. Die Kunst der Wahrnehmung stellt sich ein, wenn Komplexes auf seinen anschaulichen Kern hin betrachtet wird und im Kleinen, Peripheren das Ganze einer Visitation aufscheint. Die Wahrnehmung zielt nicht primär auf Wissen ab, sondern auf das »Heben von Schätzen« (Böhlemann/Herbst 2011, S. 138; Hervorhebung J. P. G.) und vollzieht sich als »wertschätzende Erkundung« (S. 139), nicht als Fehlersuche. Kommunizieren Die Kommunikation des Evangeliums ist sowohl Gegenstand wie Form des geordneten Besuchsdienstes. Die Visitation stellt die Frage in den Mittelpunkt, wie an einem spezifischen Ort Voraussetzungen erhalten und geschaffen werden können, die Kommunikation des Evangeliums mit Leben zu füllen. Visitierte und Visitierende sind im Priestertum aller Getauften in ihrer Leitungsverantwortung verbunden. Gelingende Kommunikation macht dabei vielfältige Machtkonstellationen bewusst. Gute Leitung negiert diese Macht nicht, sondern macht sie transparent und reflektiert ihre Notwendigkeit und ihre Grenzen. Besonders im Hinblick auf das Besuchsgeschehen der Visitation und das sich anschließende Berichtswesen ist es hilfreich, verschiedene Formen der Macht zu unterscheiden, nämlich Steuerungsmacht, Definitionsmacht, Informationsmacht, Beziehungsmacht und Systemmacht (Klessmann 1997). Die vielen Ängste oder enttäuschten Erwartungen im Rahmen einer Visitation machen deutlich, wie anfällig das Instrument der Visitation noch immer für Machtmissbrauch sein kann. Das Zurückdrängen des Aufsichtscharakters der Visitation kann Machtgefälle auflösen, aber ebenso nur kaschieren und zur Intransparenz beitragen. Konflikte sind daher per se kein Anzeichen für misslingende Kommunikation. Vielmehr helfen sie, Machtfragen transparent zu machen, und sind im besten Fall produktiv für die weitere Entwicklung. Leitungshandeln reflektiert von Beginn an, welche »strukturellen Konfliktvariablen« (Klessmann 1997, 190) im Spiel sind. Zu unterscheiden ist insbesondere zwischen Anlass und Ursache, Rolle und Person, Organisation und Gruppe.

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Kommt es in der Kommunikation zu Konflikten, können diese helfen, Machtstrukturen aufzudecken und zu bearbeiten

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Jan Peter Grevel

Evaluieren Da die Visitation ein kontinuierlicher Prozess ist, bezieht sich jede neu durchzuführende Visitation auf Erfahrungen, Erkenntnisse oder Vereinbarungen früherer Visitationen. Hier ist es hilfreich, zwischen mündlichen und schriftlichen Kommunikationsformen zu unterscheiden: Evaluationen bisheriger Visitationen sind am einfachsten anhand von schriftlichen Dokumentationen (wie z. B. Visitationsberichten oder Sitzungsprotokollen) durchzuführen, oft sind es aber mündliche Kommunikationsformen (in nichtöffentlichen Gesprächen, Diskussionen oder Beratungsrunden), die den Evaluationsprozess nachhaltig steuern. Viele Landeskirchen strukturieren ihren Evaluationsprozess, in dem sie in die Visitation die Arbeit mit Zielen implementiert haben (vgl. z. B. EKHN 2015 oder LKA Hannover 2012). Dieser Impuls stammt aus der Organisationsentwicklung und dient dazu, nachhaltige, verlässliche und transparente Klärungen über zukünftiges Handeln herbeizuführen. Zielvereinbarungen sind das Resultat geklärter Kommunikation. Nur, wenn alle Beteiligten den Zielvereinbarungen zustimmen, ist ihre Umsetzung realistisch. Dieser Prozess ist vielen Kirchengemeinden und Einrichtungen mittlerweile aus den Leitbildprozessen gut vertraut. Dort, wo Zwischenvisitationen durchgeführt werden, sind die Abstände zur vorherigen Visitation so gewählt, dass eine Evaluation der Ziele möglich ist. Zum ständigen Evaluationsprozess gehört auch die Selbstevaluation und das kritische Feedback für die Visitierenden. Oft brechen Krisen im Leitungsamt während oder nach einer Visitation auf. Klärung eröffnen Supervision und Kollegiale Beratung. Besonders anspruchsvoll ist der Umgang mit Visitationserfahrungen, in deren Zentrum die Evaluation von konfliktreichen Veränderungsprozessen steht. Visitierende haben hier oft mehrere Rollen inne. Sie moderieren Veränderungsprozesse in der Region oder im Kirchenkreis, sie stehen gegenüber der Kirchenleitung in der Pflicht der Umsetzung von synodalen Beschlüssen und sie sind selbst Akteur:innen im Changemanagement. Vielfach werden hier Methoden der Organisationsentwicklung adaptiert.

4 Visitation und Pfarrdienst

Die Rollenklärung eröffnet Möglichkeiten zur Begegnung, sowohl im fachlichen und persönlichen als auch im geistlichen Sinn

Der Pfarrdienst ist mit seinen vielfältigen Herausforderungen integraler Bestandteil der Visitation (vgl. Zweigle 1997). Dazu gehört das Verhältnis von Haupt- und Ehrenamt, die Frage der Salutogenese (vgl. von Heyl 2015), das pastorale Selbstverständnis zwischen Amt und Person und die Arbeit in einer Kirche im Krisenmodus. Einer besonderen Rollenklärung bedarf es für die Visitierenden im Hinblick auf Wahrnehmung, Kommunikation und Evaluation des Pfarrdienstes auch als Ausdruck von Selbstleitung (»Führen heißt sich selber kennen«, zit. nach Schneidereit-Mauth 2016, S. 344–345). Visitierende sind in der Regel selbst Pfarrer:innen und haben eine eigene pastorale Identität, die mehr oder weniger reflektiert zur Leitvorstellung für visitierende Pfarrer:innen werden kann. Visitierende haben auch zu klären, ob sie in Konflikten zwischen Pfarrer:innen und dem Kirchenvorstand ein »Standesbewusstsein« eintragen, das einen Konflikt erschwert. Visitierende können für Pfarrer:innen Projektionsflächen pastoraler Enttäuschungen, Erwartungen oder auch Konkurrenz sein. Oft sind es gerade die High Performer im ephoralen Amt, die Pfarrer:innen mit ihrer eigenen Berufsbiografie konfrontieren. Besonders augenfällig ist dies in der Empfehlung an die visitierten Pfarrer:innen, die Kultur des Lassens zu üben und zugleich in besonderer Weise kirchliches Engagement zu würdigen.

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Visitation als Leitungshandeln

Im geistlichen Sinn eröffnet eine Visitation einen neuen oder gestärkten Blick auf die Verheißungen einer neuen Welt in Christo. Den damit verbundenen Zuspruch kann niemand sich selbst sagen. Der:die Visitierende auch nicht. Gemeinsam können sie sich diesen Weg bewusst machen, einander solidarisch Zeug:in sein. Zugleich kann der:die Visitierende an diese Verheißungen neu erinnern. »Zu den Aufgaben kirchlicher Leitung gehört es […] Konflikte der Frömmigkeit, der theologischen Überzeugung und der ethischen Orientierung nicht als Ausdruck ›weltlicher‹ oder gar sündhafter Unvollkommenheit der Beteiligten zu deuten, sondern als Gelegenheit, sich in einer bestimmten Situation von Neuem über die ›Idee des Christentums‹ zu verständigen. Kirchliche Leitung ist insofern dem Prinzip der Konziliarität verpflichtet.« (Hermelink 2011, S. 227) Böhlemann, Peter/Herbst, Michael: Geistlich leiten. Ein Handbuch, Göttingen 2011. Hermelink, Jan: Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktisch-theologische Theorie der evangelischen Kirche, Gütersloh 2011. von Heyl, Andreas/Kemnitzer, Konstanze/Raschzok, Klaus (Hg.): Salutogenese im Raum der Kirche. Ein Handbuch, Leipzig 2015. wbv: FIS Kirchenrecht, online unter: https://www.wbv.de/fis-kirchenrecht.html, abgerufen am 18.12.2021. (Portal zu den Rechtssammlungen der einzelnen Gliedkirchen der EKD, jeweils aktuelle Fassung der einzelnen Visitationsordnungen)

5 Impulse für die Praxis Bibeltexte zum Thema Sprüche 16,24

In der Visitation geht es in zentraler Weise um Wertschätzung, Würdigung, Trost, Erbauung. Epheser 4,3

Wahrnehmung und Stärkung der Ortsgemeinde im Kontext der Gesamtkirche. Römer 1,12

Einander Trost zusprechen. Jakobus 1,19

Ein guter Rat für Visitierende und Visitierte.

Empfehlungen aus der Praxis 1. Planen Sie Visitationen langfristig. Integrieren Sie Besuchsphasen und Berichtszeiträume in ihre Jahresplanung. 2. Kündigen Sie Visitationen in den Kirchengemeinden frühzeitig an und verabreden Sie eine Planungssitzung mit allen Beteiligten.5

5 Je nach landeskirchlicher Visitationskultur ist es üblich, thematische Schwerpunkte zu setzen (z. B. die Entwicklung der Jugendarbeit).

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Jan Peter Grevel

3. Informieren Sie regelmäßig bei Pfarrkonventen, Dienstbesprechungen oder Synoden über Wesen und Intention der Visitation. Damit können Sie Vorurteile, übertriebene Erwartungen und Ängste abbauen.6 4. Visitieren Sie im Team.7 5. Arbeiten Sie an Ihrer eigenen Rollenklarheit im Visitationsgeschehen. Seien Sie klar in der Divergenz der Rollen.8 6. Rechnen Sie mit komplexen Kommunikationssituationen und kalten Konflikten. Formulieren Sie dabei Kritik konstruktiv. Und: »Loben zieht nach oben.« 7. Schreiben Sie Ihre Visitationsberichte kurz nach den Besuchen und schieben Sie die Abfassung nicht auf die lange Bank. 8. Tauschen Sie sich dazu mit anderen Visitierenden aus und profitieren Sie von Bausteinen, die das Typische einer Visitation in ihrem Kirchenkreis zusammenfassen.9 9. Denken Sie daran: In jeder Visitation sollte deutlich werden, dass die visitierte Gemeinde ganz Kirche ist, aber nicht die ganze Kirche.

Autor Kirchenrat PD Dr. Jan Peter Grevel ist seit 2014 auf der Stabsstelle Visitation beim Landesbischof im Oberkirchenrat in Stuttgart tätig, mit den weiteren Schwerpunkten theologische Grundsatzarbeit, strategische Planung und Ethik der Digitalisierung. Er ist Privatdozent für Praktische Theologie an der Goethe-Universität Frankfurt.

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6 Man kann gerade auf Pfarrkonventen durch die gemeinsame Arbeit an den Grundintentionen der Visitation erheblich zur Selbstklärung des jeweils eigenen Amtsverständnisses und Kirchenbildes beitragen. In der Regel enthält der erste Abschnitt einer landeskirchlichen Visitationsordnung die Schlüsselformulierungen, die deutlich machen, worum es in der Visitation geht. Man kann z. B. zwei oder mehrere Visitationsordnungen miteinander vergleichen und so für die landeskirchentypische Intention sensibilisieren. 7 Team-Visitationen bedürfen der präzisen Rollenklärung und guter Vorbereitung. Supervisorische Begleitung kann notwendig werden, Rollenspiele können dabei hilfreich sein. 8 Das gilt besonders, wenn sie seelsorgerisch agieren oder predigen. Der Austausch über Predigten im Rahmen einer früheren Visitation kann das gemeinsame Verständnis der Visitation befördern. 9 In vielen ephoralen Ämtern gibt es die Tradition des jährlichen Tätigkeitsberichts vor der Synode. Beide Textgattungen können voneinander profitieren.

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Visitation als Leitungshandeln

Kirchenverwaltung der EKHN: Ausführungsverordnung zum Visitationsgesetz vom 23. September 2014 (ABl. 2014 S. 427), in: Rechtssammlung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau Nr. 109, Darmstadt 2015. Klessmann, Michael: Leitung in der Kirche als kommunikatives Handeln, in: Hans-Jürgen Abromeit (Hg.): Pastorale Existenz heute. Festschrift H. Berthold, Waltrop 1997, S. 174–200. Konsistorium der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) (Hg.): Kirchengesetz über die Ordnung der Visitation in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz vom 15. November 2008 (KABl. S. 99), in: Rechtssammlung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz Nr. 90, Berlin 2008. Krause, Friedrich: Visitation als Chance für den Gemeindeaufbau, Göttingen 1991. Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) (Hg.): Kirchengesetz zur regelmäßigen Begleitung kirchlicher Körperschaften in der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 9. Januar 2019 (KABl. S. 61), in: Rechtssammlung der Evangelischen Kirche im Rheinland Nr. 40, Düsseldorf 2019. Landeskirchenamt der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Ref. 76 (Hg.): Kirchengesetz über die Visitation vom 13. Dezember 2012 (KABl. 2012, S. 340), in: Rechtssammlung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover Nr. 34A, Hannover 2012. Landeskirchenamt der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Ref. 76 (Hg.): Rechtsverordnung zur Durchführung von Visitationen vom 11. Juni 2013 (KABl. 2013, S. 90), in: Rechtssammlung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Nr. 34–1, Hannover 2013. Lasogga, Mareile/Hahn, Udo (Hg.): Die Visitation. Eine Studie des Theologischen Ausschusses der VELKD im Auftrag der Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschland (VELKD), Hannover 2010. Löwe, Frank: Visitation und Gemeindeberatung als Instrumente der Gemeinde- und Kirchenentwicklung, in: Deutsches Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt 115/2015, S. 88–90.99. Luther, Martin: Vorrede zu Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn im Kurfürstentum zu Sachsen (1528), WA 26, S. 195–201. Michel, Stefan: Der »Unterricht der Visitatoren« (1528). Die erste Kirchenordnung der von Wittenberg ausgehenden Reformation?, in: Irene Dingel/Armin Kohnle (Hg.): Gute Ordnung. Ordnungsmodelle und Ordnungsvorstellungen in der Reformationszeit, Leipzig 2014, S. 153–168. Schneidereit-Mauth, Heike: Gute Führung macht den Unterschied. Sechs Thesen zum Thema Führen und Leiten im Pfarramt, in: Wege zum Menschen 68/2016, S. 339–347. Zünd, André: Visitation und Controlling in der Kirche. Führungshilfen des kirchlichen Managements, Münster 2006.

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