Öffentliches Recht im offenen Staat: Festschrift für Rainer Wahl zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428533824, 9783428133826

Aus Anlass des 70. Geburtstages von Rainer Wahl würdigt die Festschrift sein bisheriges wissenschaftliches Werk, indem s

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Öffentliches Recht im offenen Staat: Festschrift für Rainer Wahl zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428533824, 9783428133826

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Öffentliches Recht im offenen Staat Festschrift für Rainer Wahl zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Ivo Appel Georg Hermes Christoph Schönberger

Duncker & Humblot · Berlin

Rainer Wahl

Öffentliches Recht im offenen Staat Festschrift für Rainer Wahl zum 70. Geburtstag

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1187

Öffentliches Recht im offenen Staat Festschrift für Rainer Wahl zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Ivo Appel Georg Hermes Christoph Schönberger

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Process Media Consult GmbH, Darmstadt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-13382-6 (Print) ISBN 978-3-428-53382-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-83382-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 4. Juli 2011 feiert Rainer Wahl seinen 70. Geburtstag. Mit dieser Festschrift möchten ihm Schüler, Freunde und Kollegen herzlich gratulieren, ihre Verbundenheit und ihren Dank zum Ausdruck bringen. Aufgewachsen in Heilbronn, studierte Rainer Wahl Rechtswissenschaft in Heidelberg und Bonn. Nach seiner Heidelberger Promotion über „Stellvertretung im Verfassungsrecht“ im Jahr 1969 war er wissenschaftlicher Assistent bei Ernst-Wolfgang Böckenförde in Bielefeld und nahm am Aufbau dieser jungen Universität und am Aufbruch dieser Zeit teil. Als Assistentenvertreter war er maßgeblich an der Konzeption der Bielefelder einphasigen Juristenausbildung beteiligt. 1976 habilitierte er sich dort über „Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung“ und schuf damit eines der Grundlagenwerke des Planungsrechts. 1977 wurde er zunächst an die Universität Bonn berufen, bevor er 1978 einen Ruf an die Universität Freiburg im Breisgau erhielt. Ihr blieb Rainer Wahl als Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Verwaltungswissenschaft und Neuere Verfassungsgeschichte, als Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und als Sprecher des von ihm gegründeten Forschungszentrums für deutsches und internationales Umweltrecht treu. Er engagierte sich in der akademischen Selbstverwaltung als Dekan und Prodekan, Mitglied des Senats und Prorektor. Daneben wirkte er im Senatsausschuss für Umweltforschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und über viele Jahre als Mitglied im Arbeitskreis für Umweltrecht mit. 1998/99 und 2008 war er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Über Jahre pflegte er auch besonders intensive Kontakte mit der japanischen Rechtswissenschaft. In einer außergewöhnlichen Vielseitigkeit und Breite hat Rainer Wahl das Öffentliche Recht zum Gegenstand seiner Forschung gemacht. Er ging aus von vertieften Studien zu Verfassungsrecht und Verfassungsgeschichte. Es kamen Grundfragen des Verwaltungsrechts und der Verwaltungswissenschaft hinzu, wobei ihn Planungs-, Umwelt- und Gentechnikrecht besonders beschäftigten. In einer späteren Phase seines Werks traten dann Europäisierung und Internationalisierung des Öffentlichen Rechts in den Vordergrund. Die Erfahrungen des Austauschs mit Japan animierten ihn auch zu grundsätzlichen Überlegungen zu Chancen und Grenzen des Vergleichs zwischen Rechtskulturen. Schließlich wurde er zum Historiker der Entwicklung des Öffentlichen Rechts in der Zeit der Bundesrepublik, die er selbst über Jahrzehnte miterlebt und mitgeprägt hat. Bei aller Sachkunde und Detailkenntnis war Rainer Wahl nie nur Spezialist. Ihm ist Max Webers Überzeugung selbstverständlich, dass der moderne Wissenschaftler zwar unausweichlich Fachmann sein muss, aber nicht allein Fachmann sein darf. Er

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Vorwort

ist immer ein vielseitig interessierter, neugieriger, für Neues offener Wissenschaftler geblieben. Entwicklungen seiner Zeit hat er oft früher als andere wahrgenommen und als Herausforderungen für Staat, Verwaltung und Recht analysiert. Seine Leidenschaft für Kunst und Kultur hat fachliche Verengung bei ihm ohnehin nie aufkommen lassen. Als Wissenschaftler hat er sich von allen Abhängigkeiten ebenso frei gehalten wie vom scheinbaren Charme radikaler Entwürfe. Für ihn kennzeichnend ist ein abwägend-beharrliches Bemühen um sachgerechte Lösungen. In allen seinen Arbeiten geht es um Grundprobleme des Öffentlichen Rechts, an denen er auch stets als engagierter homo politicus Anteil nimmt. Der Staat als verfassungsrechtlich organisiertes Gemeinwesen bleibt dabei der Fluchtpunkt seines Denkens. Ungeachtet der wachsenden europäischen und internationalen Einbindung ist er für ihn weiterhin zentral für die Steuerung politischer Prozesse und die Bildung und Bindung von Gemeinschaftlichkeit. Seine Ideenfülle, Begeisterungsfähigkeit, Neugier und ungeschützte Offenheit haben Rainer Wahl jünger gehalten, als sein Lebensalter glauben machen will. Wir freuen uns mit seinen Freunden und Kollegen auf seine zukünftigen wissenschaftlichen Beiträge und auf viele weitere fachliche wie persönliche Gespräche. Das Öffentliche Recht in Zeiten offener Staatlichkeit bietet dazu allen Anlass. .. .. ..

Ivo Appel (Augsburg) Georg Hermes (Frankfurt a. M.) Christoph Schönberger (Konstanz)

Inhaltsverzeichnis

A. Grundlagen des Öffentlichen Rechts Hans Herbert von Arnim Mehr Demokratie wagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Richard Bartlsperger Wertdenken in der Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . .

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Horst Dreier Wozu dienen Ethikräte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rolf Grawert Die Republik des Saint-Just . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hasso Hofmann Die Konstitutionalisierung der juristischen Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Olivier Jouanjan Vom öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnis her denken: Erste Etappen auf dem „Entwicklungspfad“ der deutschen Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Hisao Kuriki Über den Gedanken des Verfassungsvertrags in der Geschichte der deutschen Verfassungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Johannes Masing Wissen und Verstehen in der „Wissensgesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Walter Pauly Der Staat – Folge eines Fluchs. Konstitutionalismus und Staatlichkeit in der politischen Philosophie Schellings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Gunnar Folke Schuppert „Neue“ Staatlichkeit „Neue“ Staatswissenschaft? Zu den Aufgaben einer Staatswissenschaft heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Heinhard Steiger Was heißt und zu welchem Ende studiert man Völkerrechtsgeschichte? . . . . . . . 211

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Inhaltsverzeichnis

Udo Steiner Zum Wiederaufbau des Rechtsstaats nach 1945 am Beispiel Bayerns . . . . . . . . . 225 Michael Stolleis Staatslehre zwischen etatistischer Tradition und pluralistischer Öffnung . . . . . . 239 Thomas Würtenberger Die Planungsidee in der verfassungsstaatlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 261

B. Verfassungsrecht Christoph Enders Die Lehre von den verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken – Oder: Vom Schicksal der Freiheit in einer Dogmatik ohne Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Rainer Frank Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Pflichtteilsrechts. Kritische Überlegungen zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts v. 19. 4. 2005 (BVerfGE 112, 332) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Johannes Hellermann Grundrechtliche Wettbewerbsfreiheit – Ein Exempel für die Debatte um den Gewährleistungsgehalt der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Michael Kloepfer Die Grundrechte des Grundgesetzes: Erfolge, Schwächen, Zukunftsaufgaben . . 339 Georg Müller Zur Grundrechtsbindung der öffentlichen Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Wolf-Rüdiger Schenke Unbegrenzte „unechte Vertrauensfrage“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Christoph Schönberger Der Vorrang der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Helmuth Schulze-Fielitz Staatsrechtslehre und Bundesverfassungsgericht – prozedural gesehen . . . . . . . . 405 Hidemi Suzuki Programmgrundsätze im neuen Rundfunkgesetz in Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433

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Andreas Voßkuhle Der präventive Richtervorbehalt – „Königsweg“ für den präventiven Grundrechtsschutz oder „rechtsstaatliches Trostpflaster“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

C. Verwaltungsrecht, Umwelt- und Planungsrecht Ivo Appel Grenzen des Risikorechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Martin Bullinger Die grundlegende Neuordnung der Universität von 1968 – Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Klaus Hansmann Rechtliche Bewertung von Kinderlärm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Stefan Paetow Ziele der Raumordnung – eine Rechtsprechungskarriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Ralf Poscher Geteilte Missverständnisse. Theorien der Rechtsanwendung und des Beurteilungsspielraums der Verwaltung – zugleich eine Kritik der normativen Ermächtigungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Eckard Rehbinder Vertragsnaturschutz in FFH-Gebieten: Ein Spagat zwischen beihilfe- und naturschutzrechtlichen Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 Friedrich Schoch Konkurrentenschutz im kommunalen Wirtschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Dieter Sellner Das CCS-Gesetz

Gesetzgebung im schwierigen Terrain . . . . . . . . . . . . . . . . . 595

Rudolf Steinberg Zur „Ökonomisierung“ der Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609

D. Europäisierung und Internationalisierung des Rechts Bengt Beutler Die Werte der Europäischen Union und ihr Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635

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Armin von Bogdandy Das deutsche öffentliche Recht im europäischen Rechtsraum. Überlegungen zur disziplinären Fortentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 Albin Eser Tötung im Krieg: Rückfragen an das Staats- und Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . 665 Georg Hermes Europäisierung und Internationalisierung des Verwaltungsverfahrens . . . . . . . . . 689 Meinhard Hilf / Tim Ren Salomon Das WTO-Streitbeilegungssystem auf dem Weg zur internationalen Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 Martin Hochhuth Schwächung der Demokratie durch verselbständigte Mehrebenensysteme . . . . . 723 Antonio Lpez-Pina Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Spanien unter besonderer Berücksichtigung der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der EU-Mitgliedstaaten: Öffentliche Dienstleistung der Elektrizitätsversorgung versus freier Kapitalverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 Christoph Möllers Demokratische Ebenengliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759 Dietrich Murswiek Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus der Sicht eines Prozessvertreters. Reflexionen zu Demokratie und Souveränität in Europa . . . . . . . 779 Ralf P. Schenke Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Steuerrecht und die zwei Phasen des Öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803 Eberhard Schmidt-Aßmann Der Kohärenzgedanke in den EU-Verträgen: Rechtssatz, Programmsatz oder Beschwörungsformel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819 Jürgen Schwarze Die Neuerungen auf dem Gebiet des Europäischen Verwaltungsrechts durch den Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 837

Inhaltsverzeichnis

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Joachim Wieland Unter dem Rettungsschirm – Der Euro, die PIIGS und das Recht . . . . . . . . . . . . 851 Schriftenverzeichnis von Rainer Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867

A. Grundlagen des Öffentlichen Rechts

Mehr Demokratie wagen Von Hans Herbert von Arnim, Speyer Demokratie ist nach dem berühmten Wort des früheren amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln Herrschaft des Volkes durch das Volk und für das Volk. An der Herrschaft durch das Volk fehlt es in unserer Republik unübersehbar, und zwar nicht nur da und dort, sondern praktisch überall. Und das Schlimme ist: Die Menschen haben – spätestens seit der Finanz- und Eurokrise, bei der die Banken mit Steuergeld rausgehauen wurden – den Eindruck, dass ihre Repräsentanten auch nicht mehr wirklich für das Volk agieren, sondern oft eher zum Wohle der Großwirtschaft oder gar zum eigenen Wohle. Krasse Einzelfälle öffentlicher Verschwendung, für die niemand die Verantwortung übernehmen will, oder verfassungswidrige Extra-Millionen für Abgeordnete scheinen den Eindruck der Gemeinwohlferne der Politik zu bestätigen. Dass zwischen oben und unten, zwischen der politischen Klasse und den Bürgern eine gewaltige Lücke klafft und dass die Bürger immer mehr den Eindruck haben, Politik werde über ihre Köpfe hinweg gemacht – das pfeifen die Spatzen längst von den Dächern, und eine zunehmende Politikerverdrossenheit macht sich breit. Die ehemals großen Volksparteien verlieren rasant an Zuspruch. Wenn das so weitergeht, stehen sie bald als „Volksparteien ohne Volk“ da. Die Mitglieder laufen ihnen davon. Die SPD hat die Hälfte ihrer Mitgliedschaft eingebüßt, und der Union geht es nicht viel besser. Auch ihre Wähleranteile schmelzen dahin. Die Wähler liefen zunächst vor allem zur FDP über, die bei der Bundestagswahl im Herbst 2009 rund 15 Prozent der Stimmen bekam. Doch Hochmut kommt vor dem Fall. Ein Millionen-Geschenk an Hoteliers und das auftrumpfende Auftreten ihres Vorsitzenden Guido Westerwelle, der sich wie ein politisch Neureicher benahm, um nur einige Aspekte zu nennen, führten dazu, dass die FDP – wenn man den Umfragen glauben will – jetzt sogar die Fünf-Prozent-Klausel fürchten muss. Die eigentliche Nagelprobe kommt bei den Landtagswahlen des Jahres 2011! Dafür genießen die Grünen in Umfragen und Wahlen ein Allzeit-Hoch. Die Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke und Projekte wie Stuttgart 21 haben Wasser auf ihre Mühlen geschaufelt. Vor allem aber waren die Grünen lange weder im Bund noch in einem Flächenland an der Regierung; sie brauchten sich deshalb nicht zu bewähren. Mangels Regierungsverantwortung erschienen die Grünen als Einäugige unter den Blinden. Andere Parteien kommen vielen Bürgern noch weniger wählbar vor. Tatsächlich aber glaubt inzwischen die Mehrheit der Bundesbürger, die

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Parteien insgesamt könnten unsere Probleme nicht mehr lösen, sie seien selbst das Problem. Das Vertrauen in unser – von den Parteien beherrschten – repräsentatives System ist dahin. Wie ist es soweit gekommen? Als der Parlamentarische Rat 1948 und 1949 das Grundgesetz entwarf, war er von großem Misstrauen gegenüber dem Volk erfüllt. Theodor Heuss, der spätere Bundespräsident, verglich das Volk mit einem bissigen Hund, vor dem man das Land schützen müsse. Das war weniger eine Reaktion auf die Hitler-Diktatur, wie immer gesagt wird. Die ersten Landesverfassungen, die unmittelbar nach 1945 entstanden, gewährten dem Volk noch sehr viel mehr Rechte als schließlich das Grundgesetz. Die „Volksphobie“ des Grundgesetzes war vor allem eine Reaktion auf die Ost-West-Konfrontation im Kalten Krieg, der damals hoch kochte. Der fand seinen hörbaren Ausdruck in den Rosinenbombern, die zur Entsetzung des blockierten Berlins andauernd über die Köpfe der Menschen hinweg donnerten. Und die SED in der späteren DDR, die sich mit manipulierten Volksabstimmungen eine Scheinlegitimation verschafft hatte, genoss es, mit direkt demokratischen Vorschlägen im Westen Unruhe zu stiften, so dass hier – in Bezug auf direkte Volksrechte – geradezu die Jalousien runter gingen. Direkte Demokratie wurde als „Prämie für Demagogen“ (Theodor Heuss) verunglimpft. Das damalige Stimmungsbild ist als die fast völlige institutionelle Ausblendung des Volkes aus der Politik zu erklären, die sich vor allem in vier Punkten zeigt: 1. Das vom Parlamentarischen Rat entworfene Grundgesetz wurde den Bürgern nicht zur Abstimmung vorgelegt, obwohl dies allgemein als Mindestvoraussetzung für Volkssouveränität gilt, welche sich das Grundgesetz in seiner Präambel selbst verbal zuspricht. 2. Das Grundgesetz sieht Volksbegehren und Volksentscheid nicht vor, obwohl es in Art. 20 ausdrücklich heißt: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus und wird von diesem in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. 3. Für die Wahl des Bundespräsidenten wurde mit der Bundesversammlung ein höchst merkwürdiges Konstrukt geschaffen – nur um die Direktwahl des Präsidenten durch das Volk zu vermeiden. 4. Wir haben ein Wahlrecht, welches dem Volk zwar die Wahl der Parteien, nicht aber die Auswahl der Abgeordneten ermöglicht. Die liegt vielmehr in der Hand der Parteien. Wen sie auf einen sicheren Listenplatz setzen oder in einem sicheren Wahlkreis aufstellen, der ist längst vor dem Wahltermin faktisch schon „gewählt“. In den ersten Jahrzehnten der Republik sind wir mit unserem politischen System allerdings ganz gut gefahren. Doch heute ist die Entmündigung des Bürgers, diese Minimalisierung seiner politischen Rechte, völlig unzeitgemäß geworden. Nach über 60 Jahren Demokratieerfahrung im Westen und über 20 Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR kann niemand uns Deutschen mehr die demokratische Reife absprechen. Der Bürger

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ist selbstbewusster geworden. Tatsächliche oder vermeintliche Mängel der über seinen Kopf hinweg beschlossenen Politik ist er nicht mehr bereit, schweigend hinzunehmen. Nicht mehr gehorsames Sichfügen ist die Losung, sondern aktive Mitgestaltung des Gemeinwesens. Eine Reform unserer demokratischen Infrastruktur ist deshalb heute längst überfällig. Inzwischen aber haben sich die Parteien in den eigentlich den Bürgern zustehenden Räumen breit gemacht; die Bastionen ihrer Allmacht wollen sie nun nicht mehr räumen. Der Ausschluss der Bürger verschafft auch Wirtschaft und Medien umso größeren Einfluss. Das Macht-Dreieck von Politik, Wirtschaft und Medien, mit denen die Politik sich verschwistert, schiebt den nominellen Souverän Volk vollends auf ein Abstellgleis, wo er mit Brot und Spielen abgespeist und abgelenkt wird. Um die schleichende Ausbreitung der Parteien zu bremsen, hat Rainer Wahl einst gefordert, ihnen die Staatsfinanzierung zu nehmen. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht relative und absolute Obergrenzen gesetzt und sonstige Vorkehrungen getroffen, um die Parteien halbwegs bürgernah zu halten. Inzwischen wurden viele Parteiaufgaben aber auf Fraktionen, Stiftungen, staatlich besoldete Politiker und ihre Mitarbeiter verlagert, die – mit unerhörten Wachstumsraten und vor der Öffentlichkeit sorgfältig abgeschirmt – ein Vielfaches an Staatsgeld erhalten und sämtlichen vom Verfassungsgericht entwickelten Vorkehrungen nicht unterliegen. Rainer Wahls Forderung ist also hochaktuell – bezogen allerdings vor allem auf die heimlichen „Hinter-Parteien“. Ihre ungebremste, beinahe hundertprozentige Staatsfinanzierung und die Aufgabenverlagerung machen die Parteien im weiteren Sinne erst recht zu Staatsparteien. Formal bestehen die demokratischen Institutionen weiterhin, doch sie sind ihrer Substanz beraubt. Periodisch wird gewählt, in Deutschland sogar andauernd auf einer der vielen Ebenen des Gemeinwesens, aber ohne dass das Volk wirklich eine Wahl besäße. Das Parlament als öffentlich verhandelndes Zentrum der Politik existiert zwar weiterhin. Doch die Entparlamentarisierung ist in vollem Gange. Die eigentlichen Entscheidungen werden oft hinter verschlossenen Türen gefällt – in Absprachen unter Parteifürsten (wie z. B. die Nachfolge von Horst Köhler als Bundespräsident) oder in Verhandlungen mit der Wirtschaft (wie z. B. die Laufzeit von Kernkraftwerken und ihr finanzieller Beitrag zum Staatshaushalt). Vom vielbeschworenen Primat der Politik kann – so hat die Öffentlichkeit spätestens seit der Finanzkrise den Eindruck – nicht mehr die Rede sein. Die Politik scheint vielmehr umgekehrt zunehmend im Kielwasser der Wirtschaft zu segeln, deren Entscheidungen sie nur noch nachvollzieht, und gleichzeitig buhlt die Politik um die Gunst der Medien. Der Parlamentarische Rat hatte noch ganz auf die Gemeinwohlverantwortung der Amtsträger gesetzt. Er war – nach Überwindung der Nazi-Herrschaft – noch von Gemeinsinn erfüllt und glaubte, diesen auch bei nachfolgenden Politiker-Generationen voraussetzen zu können. Inzwischen aber kommen Zweifel auf, ob man sich auf die Gemeinwohlorientierung der Politik wirklich noch verlassen kann oder ob die poli-

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tische Klasse nicht vornehmlich am Erhalt ihrer Macht, ihres Einflusses und ihrer Posten interessiert ist. Das Gefühl der Menschen, dass politisch alles ohne sie entschieden wird, und ihr Bedürfnis, in politischen Angelegenheiten mitreden zu können, werden immer größer. Bisher stehen uns Deutschen im Wesentlichen nur drei Wege zur Verfügung, unseren Willen in politischen Angelegenheiten zu äußern: – das Wahlrecht, – das Demonstrationsrecht und – direkte Demokratie auf Landes- und kommunaler Ebene. Doch das reicht inzwischen nicht mehr aus. Zunächst zum Wahlrecht: In einem System mit fünf Parteien – mit den in Bayern erstarkten Freien Wählern sind es sogar sechs – wissen die Menschen immer weniger, was aus der Wahlstimme wird, die sie für diese oder jene Partei abgeben, die sich ohnehin immer mehr angleichen. Wer zum Beispiel im Saarland bei der letzten Landtagswahl den Grünen seine Stimme gab, weil er von der Abwahl der CDU-Regierung unter dem Ministerpräsidenten Peter Müller träumte, der wachte plötzlich mit einer Jamaika-Koalition auf, die – jetzt im Gegenteil – den Fortbestand der Müller-Regierung sichert. Wenn die Menschen aber nicht mehr wissen, zu welchem Ende sie einer Partei ihre Stimme geben, wird es immer wichtiger, dass sie wenigstens die Personen auswählen können, denen sie vertrauen. Genau das ist in unserem System aber nicht möglich. Wer Abgeordneter oder Abgeordnete wird, bestimmen die Parteien und nicht die Bürger. Hier sind Reformen vordringlich. Um zu verhindern, dass Hochburg-Parteien in sicheren Wahlkreisen ihre Kandidaten den Bürgern aufzwingen können, sollten Vorwahlen eingeführt werden, wie dies ja auch Müntefering vor Jahren vorgeschlagen hat; Gabriel hat den Vorschlag wieder aufgegriffen. Weiter sollten die starren Wahllisten beseitigt und den Bürgern das Recht gegeben werden, die Listen zu verändern. Das fordern Sachverständigen-Kommissionen und Prominente seit Jahren, zum Beispiel auch mehrere Bundespräsidenten. Doch die Parlamente blockieren aus höchst eigenem Interesse. Abgeordnete fürchten um ihre Wiederwahl, wenn sie darüber das Volk mitreden lassen. Wenn Demokratie darin besteht, dass das Volk schlechte Herrscher ohne Blutvergießen wieder loswerden kann, wie der große Staatsphilosoph Raimund Popper formuliert hat, haben wir – hinsichtlich der Wahl der Abgeordneten – keine wirkliche Demokratie. Ein Beispiel: Bei der letzten Europawahl präsentierte etwa die SPD eine Wahlliste mit 99 Kandidaten. Längst vor der Wahl aber war klar, dass die ersten 20 auf der starren Liste praktisch schon „gewählt“ waren, während ab Listenplatz 35 keiner der Kandidaten auch nur die geringste Chance hatte. Die Reihenfolge der Kandidaten ist also entscheidend, und die bestimmt allein die Partei. Das widerspricht dem

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Grundgesetz, welches die Chancengleichheit der Kandidaten und die Wahl der Abgeordneten unmittelbar durch das Volk und nicht durch die Parteien verbürgt. Abhilfe ist offenbar nur mittels direkter Demokratie oder mit einer Verfassungsklage möglich. Da den Bürgern auf Bundesebene Volksbegehren und Volksentscheid vorenthalten werden, bleibt nur die Hoffnung auf die Verfassungsgerichte. Ich habe deshalb die Europawahl vom 7. 6. 2009 wegen der Verfassungswidrigkeit der starren Listen beim Bundesverfassungsgericht angefochten. 530 Bürger und Bürgerinnen sind meiner Klage beigetreten, darunter dankenswerterweise Rainer Wahl und 29 weitere Professoren des Verfassungsrechts aus ganz Deutschland. Die Flexibilisierung der Listen wäre ein institutioneller Beitrag, die Kluft zwischen oben und unten ein wenig zu verringern. Die Klage, die im September 2010 in Karlsruhe eingereicht wurde, wendet sich auch gegen die Fünfprozentklausel, die – anders als bei Bundestags- und Landtagswahlen – bei Europawahlen keinen Sinn macht. Das Bedürfnis der Menschen, endlich politisch mitreden zu dürfen, zeigte sich im Jahre 2010 auch in den Volksabstimmungen über das Rauchverbot in Bayern und über die Schulreform in Hamburg, ferner in den Massen-Protesten gegen den Atom-Deal und gegen Stuttgart 21. In Baden-Württemberg ist eine Volksabstimmung praktisch nicht möglich, obwohl die Landesverfassung sie großspurig verheißt. Allein ein Volksbegehren müssten 17 Prozent der Wahlberechtigten unterschreiben – und das in 14 Tagen, jeweils auf dem Amt. Das ist ein Hohn. Deshalb hat es im Ländle auch noch nie ein erfolgreiches Volksgesetzgebungsverfahren gegeben. Die zynische Verheißung direkter Demokratie, die im Vollzug dann aber praktisch unmöglich gemacht wird, erinnert mich irgendwie an die Fabel vom Storch, der den Fuchs zum Essen einlädt, dieses aber in einem Sektglas serviert, so dass der Fuchs hungrig nachhause gehen muss. Bei der Gegen-Einladung revanchiert sich der Fuchs, indem er die flüssige Speise auf einem flachen Teller serviert. Um – trotz der unübersteigbaren Hürden für ein Volksbegehren – doch noch zu einer Volksabstimmung in Baden-Württemberg zu kommen, schlug die SPD, die das Projekt – zusammen mit anderen Parlamentsparteien – bisher immer befürwortet hatte, einen Umweg vor. Die Landesregierung sollte ein Gesetz einbringen, welches den Bau des Bahnhofs stoppt. Die eigene schwarz-gelbe Mehrheit im Landtag sollte das Gesetz dann ablehnen. Damit wäre dann nach Art. 60 Abs. 3 der Landesverfassung die Voraussetzung dafür gegeben, dass 1/3 des Landtages einen Volksentscheid über das Ausstiegsgesetz herbeiführen könnte. Gewundener ging es nicht mehr. Als rettender Einfall erschien schließlich das Moderationsverfahren mit Heiner Geißler. Die hohe Volksbegehrens-Hürde in Baden-Württemberg überrascht. Immerhin grenzt das Land an die Referendumsdemokratie Schweiz. Zudem werden die Bürgermeister in Baden-Württemberg seit eh und je vom Volk gewählt. Auch waren in Baden-Württemberg kommunale Bürgerentscheide bereits möglich, als andere Länder noch gar nicht daran dachten. Die Antwort ist wieder der Kalte Krieg und die Furcht vor kommunistischen Provokationen, die 1953, als die Verfassung BadenWürttembergs gemacht wurde, immer noch, wie zur Zeit des Parlamentarischen

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Rats, die Politik beherrschte. In den Verfassungen der drei Vorgänger-Länder: Württemberg-Baden, Württemberg Hohenzollern und Baden, waren die Hürden für die Volksgesetzgebung nämlich noch sehr viel niedriger gewesen. Ebenso prohibitiv wie in Baden-Württemberg ist das Volks-Gesetzgebungsverfahren im Saarland und in Hessen ausgestaltet. Dort muss ein Volksbegehren sogar von 20 Prozent der Wahlberechtigten unterschrieben werden. Das muss, will man das Volk nicht für dumm verkaufen, geändert werden. In anderen Ländern sind es 4 Prozent (Brandenburg), 5 Prozent (Hamburg und Schleswig-Holstein), 8 Prozent (Nordrhein-Westfalen) oder 10 Prozent (wie in Bayern und Niedersachsen). Das Volksgesetzgebungsverfahren kann zum Hebel werden, mit welchem sich Reformen auch gegen widerstrebende Parlamente durchsetzen lassen. In Hamburg gab es ursprünglich – wie bei der Europawahl – nur eine Stimme, mit der man die eine oder andere starre Parteiliste ankreuzen konnte. Doch mittels Volksentscheiden ist es gelungen, die Bürger auch bei der Auswahl ihrer Abgeordneten mitentscheiden zu lassen. Was direkte Demokratie bewirken kann, zeigte sich auch bei der Einführung der Direktwahl der Bürgermeister. Lange gab es dieses Erfolgsmodell nur in BadenWürttemberg und Bayern. In vielen anderen Ländern schien es gegen die Eigeninteressen der Landtage nicht durchsetzbar. In Hessen schaffte ein vom Ministerpräsidenten Wallmann initiierter Volksentscheid aber schließlich den Durchbruch. 82 Prozent der Wähler votierten 1991 für die Einführung der Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten. In anderen Ländern wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Brandenburg und dem Saarland brauchte dann nur noch glaubwürdig mit einem Volksbegehren gewunken zu werden, um auch den widerstrebendsten Landesparlamenten Beine zu machen. Auf diesem Wege ließe sich auch die Direktwahl der Ministerpräsidenten einführen. Sie wird nicht nur von der großen Mehrheit der Menschen gewünscht, sondern wäre auch sachlich eine sinnvolle Reform, wie zuletzt eine mit summa cum laude bewertete Speyerer Dissertation belegt hat. Würde z. B. in Nordrhein-Westfalen der Ministerpräsident oder die Ministerpräsidentin direkt vom Landesvolk gewählt, gäbe es keine schwache Minderheitsregierung, wie sie notgedrungen jetzt unter Hannelore Kraft besteht. Ein Vorzug dieses Vorschlags ist seine praktische Durchsetzbarkeit. Mit der Direktwahl des Bundespräsidenten ist es anders. Sie ist fest im Griff der Parteien und ihrer Führungen, auch wenn dieses Verfahren immer merkwürdigere Blüten treibt, wie die Wahl von Christian Wulff vor zwei Monaten zeigte. Und auf Bundesebene gibt es bisher eben keine direkte Demokratie, mit der sich dies ändern ließe. Im Augenblick bestimmt die Mehrheitspartei, wer Regierungschef wird. Doch das erscheint nicht schlimm, solange dieser auch als Spitzenkandidat seiner Partei bei der Landtagswahl angetreten ist, die Wähler also mit der Wahl der Mehrheitspartei auch deren Ministerpräsidenten-Kandidaten mit wählen. Oft wählen sie die Partei ja gera-

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de wegen des Spitzenkandidaten. Der früher allseits geschätzte Ole von Beust etwa soll seiner CDU bei der Bürgerschaftswahl vor zwei Jahren mehr als 10 Prozent Bonusstimmen gebracht haben. Ganz anders ist es allerdings, wenn der Regierungschef mitten in der Wahlperiode zurücktritt und seine Partei über die Köpfe der Wähler hinweg einen Nachfolger bestimmt. So war es beim Rücktritt von Ole von Beust in Hamburg, von Roland Koch in Hessen und bei der Abberufung von Oettinger in Baden-Württemberg. Um solchen Nachfolge-Ministerpräsidenten noch die demokratische Legitimation zu bescheinigen, muss man schon ein eingefleischter Anhänger eines reinen Parteienstaates sein. Eine neuere Richtung der Politikwissenschaft konstatiert zwar die Entmachtung der Bürger, will aber, statt über durchgreifende Reformen nachzudenken, die Maßstäbe für Demokratie radikal senken. Der Abstand zwischen der demokratischen Norm und der real existierenden Wirklichkeit soll also nicht durch Verbesserung der Lage, sondern durch Aufgabe der bisherigen Demokratiestandards geschlossen werden. Die Politikwissenschaft nennt das dann Postdemokratie. Ich glaube nicht, dass wir Bürger derart resignieren und uns mit undemokratischen Verhältnissen abfinden sollten, und weiß mich da in Übereinstimmung mit Rainer Wahl. Wir sollten stattdessen wirklich „mehr Demokratie wagen“ (Willi Brandt) und unser Haus Schritt für Schritt und Stück für Stück in Ordnung bringen. Dazu sind wir alle aufgerufen. Das schulden wir nicht zuletzt auch den historischen Kämpfern für Demokratie, die sogar ihr Leben und ihre bürgerliche Existenz für unsere Freiheit geopfert haben. Wie viel leichter haben wir es da doch heute! Demokratie ist einfach viel zu wichtig, als dass wir sie alleine den Berufspolitikern überlassen sollten.

Wertdenken in der Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates Von Richard Bartlsperger, Erlangen Die Staatsrechtslehre in Deutschland ist seit ihrem ideengeschichtlichen Hervortreten unter den fundamental neuen epochalen Voraussetzungen eines konstitutionellen Staates und einer sich entwickelnden Verfassungsstaatlichkeit ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bei aller Differenziertheit traditionellerweise und wesentlich durch zwei jeweils kennzeichnende Gegenpositionen in den Fragen staatsrechtlicher Begriffsbildung und Methode geprägt.1 Die eine markiert einen von verschiedenen rechts-, wissenschafts- bzw. staatstheoretischen Ansätzen ausgehenden Formalismus.2 Dem haben sich Annahmen zu einer so bezeichenbaren organischen

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Zur Entwicklung von Konstitutionalismus und Verfassungsstaatlichkeit im neunzehnten Jahrhundert siehe bei Wahl, Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: HStR I, 3. Aufl. 2003, § 2 Rn. 21 ff. sowie Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitionellen Monarchie im 19. Jahrhundert (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, 273 ff., Wyduckel, Ius Publicum 1984, 216 ff., 220 ff. und 236 ff. Die verfassungsgeschichtlichen Arbeiten des Jubilars haben Anlass für die Themenwahl des vorliegenden Beitrags gegeben. Zum Hervortreten einer qualitativ neuen, „juristischen“ Staatsrechtslehre ab der Jahrhundertmitte, insbesondere aufgrund des insofern grundlegenden und wirkungsträchtigen staatsrechtlichen Werkes von v. Gerber (Über öffentliche Rechte, 1852; Grundzüge des Systems des deutschen Staatsrechts, 1865), siehe bei Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band, 1992, 331 ff.; aus noch zeitgenössischer Sicht zur damaligen Entwicklung des Öffentlichen Rechts unter der „denaturierenden Wirkung“ der „civilistischen Methode“ sowie zum staatsrechtlichen Positivismus Stoerk, Grünhut Zschr. 12 (1885), 80 (115 ff. und 145 ff). 2 Der Begriff des Formalismus wird hier in Anknüpfung an den Formalismus der Kantischen Kritik, insbesondere der Kantischen Ethik, verwendet (zum Formalismus von Kants praktischer Vernunft Simon, Kant, 2003, 174 ff.). Im gegenständlichen Zusammenhang soll der Begriff allerdings umfassend, jedenfalls für alle Rechtstheorien stehen, die sich mit dem Recht ausschließlich und rein in dessen Formqualität beschäftigen, d. h. unter Ausschluss von allem sowohl Empirischem als auch Materialem. Wissenschaftstheoretisch bedeutet dies, dass Erkenntnis eine bloß – erkenntnistheoretische – Sache des Denkens ist ohne eine – ontologische – Vorstellung von realen Gegenständen (hierzu bei N. Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, 2. Aufl. 1949, 5 ff.). Zur Unterscheidung von Formalismus und einem durchaus auch möglichen inhaltlichen Apriorismus Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 6. Aufl. 1980, 65 ff., N. Hartmann, Ethik, 4. Aufl. 1962, 109 ff. und Simon, a.a.O., 190. Dem staats- und rechtstheoretischen Formalismus sollen aber auch diejenigen Auffassungen zugerechnet werden, die einer materialen, wertbegründeten Normativität von Verfassungsrecht mit einer liberalistischen Argumentation entgegentreten; denn in ihrer philosophi-

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Staatstheorie sowie materialen Verfassungstheorie entgegengestellt.3 Sie sehen ihre Grundlegung in einer auch und spezifisch für den Staatsbegriff des Staatsrechts maßgeblichen Vorstellung von Staat und Verfassung als geschichtlichen Realitäten, in denen sich geistige Objektivationen und eine sinnbestimmte Einheit verwirklichen. Dementsprechend folgen sie einer „geisteswissenschaftlichen Methode“ bei der staatsrechtlichen Begriffsbildung sowie bei der Interpretation und Anwendung des Staatsrechts.4 Sie steht vor einem fachübergreifenden philosophischen Hintergrund.5 schen Begründung stützten sie sich regelmäßig und wesentlich auf Gesichtspunkte einer formalistischen Ethik. 3 Der Begriff einer organischen Staatstheorie soll in dem Zusammenhang in einem weiten Sinne jede staatstheoretische sowie staatsrechtlich methodische Vorstellung und Begriffsbestimmung vom Staat als einer eigenständigen und objektiven geschichtlichen Realität erfassen, d. h. über die ideengeschichtliche Begriffsverwendung für die Organismustheorien und organischen Staatslehren des neunzehnten Jahrhunderts hinausgehen; zu den letzteren E. Kaufmann, Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts (1906), in: ders., Gesammelte Werke, Band III, 1960, 46 ff., Badura, Methoden der neueren Allgemeinen Staatslehre, 2. Aufl. 1998, 115 ff., Häfelin, Die Rechtspersönlichkeit des Staates, 1959, 105 ff., Böckenförde, Der Staat als Organismus (1968), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 2006, 263 ff. Ebenso und entsprechend wird der Begriff einer materialen Verfassungstheorie in einem umfassenden Sinne als Gegensatz zu jedem rechts- und staatstheoretischen Formalismus (Fn. 2) bestimmt, also für alle staatsrechtlich methodischen Auffassungen von einer materialen Normativität der Verfassung verwendet. 4 Für die Staatsrechtslehre ist die „geisteswissenschaftliche Methode“ ideengeschichtlich geprägt durch deren betreffende hauptsächliche Vertreter innerhalb des sogenannten Weimarer Methodenstreits der Staatsrechtslehre (E. Kaufmann, Holstein, Smend); zu diesem die Nachw. bei Bartlsperger, Integration oder Dissens und Konflikt als Sinnprinzip von Staat und Verfassung, in: Manssen u. a. (Hg.), FS Steiner, 2009, 31 (31 f. Fn. 3) sowie speziell zur „geisteswissenschaftlichen Richtung“ statt vieler Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987. 5 Insofern besitzt sie ihren Ausgangspunkt in der idealistischen Geistphilosophie Hegels vom objektiven Geist als einer Entwicklungsstufe des „Geistes“ (dazu N. Hartmann, Philosophie des deutschen Idealismus, II. Teil – Hegel, 1929, 298 ff. und 305 ff., Moog, Hegel und die Hegelsche Schule, 1930, 289 f. und 310 ff., Gadamer, ZgStW 100 – 1940, 25 ff., Litt, Hegel, 1953, 35 ff., Siep, Phänomenologie des Geistes, 2000, 14 ff. und 173 ff., Fulda, G. W. F. Hegel, 2003, 157 ff.). Ihre nachidealistische Weiterentwicklung hat sie in der Grundlegung der Geisteswissenschaften bei Dilthey erfahren, in welcher der objektive Geist nunmehr als Objektivation des „Lebens“ und als Gegenstand geschichtlichen Bewusstseins verstanden wird, d. h. als historische Realisierung von Vernunft, nicht als die Vernunft selbst (Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Gesammelte Werke VII, 4. Aufl. 1958, 70 f., 79 ff., 131 ff., 150 ff., 191 ff. und 205 ff.). Zu diesem Unterschied zwischen Hegel und Dilthey siehe Dahn, Die Vernunft im Recht – Grundlagen der Rechtsphilosophie, 1879, 216, Rosenzweig, Hegel und der Staat, 1920, IX f., Wenke, Hegels Theorie des objektiven Geistes, 1927, 120, Schnädelbach, Hegel zur Einführung, 1999, 41 f.; man kann dafür von einer „Kritik der historischen Vernunft“ sprechen (Höffe, Immanuel Kant, 7. Aufl. 2007, 303). Eine weitere Fortbildung der geistswissenschaftlichen Methode findet bei Gadamer statt (ders., Wahrheit und Methode, 1960, insb. 208 ff., 216 ff. und 307 ff.), wonach Interpretation immer auch schon Konkretisierung ist, also in der Rechtswissenschaft zu einer Begründungs- und Argumentationsjurisprudenz führt (Jestaedt, Öffentliches Recht als Disziplin, in: ders., Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, 241/254 f.).Schließlich hat die „geisteswissenschaftliche Methode“ eine nicht mehr bloß erkenntnistheoretische, vielmehr

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In diesem Rahmen kann schließlich das Auftreten und der Einfluss einer phänomenologisch materialen Wertphilosophie6 die Begründung dafür liefern, dass Auslegung und Konkretisierung des Verfassungsrechts sowie staatsrechtliche Dogmatik ihre Orientierung in einem Wertdenken zu suchen haben. Außerhalb der genannten, formalistisch begründeten Gegenposition gegen verfassungsrechtliches Wertdenken stehen verfassungstheoretische Auffassungen, die mehr oder weniger politisch motiviert einer materialen Normativität des Verfassungsrechts einen verfassungsrechtlichen Dezisionismus oder Voluntarismus entgegenstellen.7 Auf der Grundlage verfassungsrechtlichen Wertdenkens vermögen zuallererst Grundrechtstheorie und Grundrechtsdogmatik kraft eines Verständnisses der Grundrechte als auch „sachlichen Integrationsfaktoren“ des Staates sowie unter der im Grundgesetz verwirklichten aktuellen und unmittelbaren Grundrechtsgeltung eine verfassungsrechtlich verbindliche und für alle Bereiche des Rechts leitende Wertordnung oder Werteordnung zu sehen.8 Aber auch für die organisations- und verfahrensrechtlichen Strukturen und Regelungen der Verfassung eröffnet und gebietet sich in dem Zusammenhang einer materialen Verfassungstheorie die methodische Grundlage, um einer bloß mechanistischen Handhabung jener Verfassungsteile mit einer sinnbestimmten und sinngebenden staatsrechtlichen Begriffsbildung entgegenzutreten.9 Das derart beschreibbare ideengeschichtliche und präpositive Szenario staatsrechtlicher Begriffsbildung und Methode bildet den Hintergrund der Verfassungspraxis eines verfassungsrechtlichen Wertdenkens und der dieses positiv oder unkritisch begleitenden Staatsrechtslehre, vor allem aber der kritischen Auseinandersetzung

ontologische Grundlegung in der sogenannten Schichten- und Kategorienlehre N. Hartmanns erfahren, die in der spezifischen Seinsgeschichte objektiven Geistes eine real getragene, aber zugleich kategorial eigenständige Seinsweise geistiger Objektivationen zu verstehen erlaubt (N. Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, Fn. 2, 21, 27 und 195 ff., ders., Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl. 1962, 177 ff., ders., Ethik, (Fn. 2, 243 ff.), sowie bei Bartlsperger, Die Integrationslehre Rudolf Smends als Grundlegung einer Staats- und Rechtstheorie, 1964, 70 ff.). 6 Scheler (Fn. 2) und N. Hartmann (Fn. 2). 7 Zu der betreffenden, im Ergebnis hier einzuordnenden Staats- und Verfassungstheorie Hellers vom Staat als bloß organisatorisch sich realisierender Willens- und Wirkungseinheit ders., Staatslehre, bearb. von Niemeyer, 6. Aufl. 1983 sowie zu der einem konkreten Ordnungsdenken und einem entsprechenden Begriff des Politischen folgenden Verfassungslehre C. Schmitts siehe anstatt einer überreichen Literatur die einführenden Nachw. bei Bartlsperger, FS Steiner (Fn. 4), 33 Fn. 9. 8 Starck, in: R. Dreier (Hg.), Positivismus und Wertbezug des Rechts, ARSP-Beiheft 37 (1990), 47 ff., Schapp, JZ 1998, 913 ff., Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, 2000, DiFabio, JZ 2004, 1 ff. jeweils m. Nachw.; klarzustellen ist hierzu, dass es um eine Erkenntnis des Rechts als einer Realisierung von Werten geht, nicht um eine Heranziehung von Werten bei der Interpretation des Rechts (Starck, a.a.O., 48). 9 Starck, a.a.O., 50 f., DiFabio, a.a.O., 5 und ders., in: Herdegen u. a. (Hg.), FS Herzog, 2009, 35 ff.

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hiermit.10 Letztere verschafft sich nicht nur in der Staatsrechtslehre Gehör, sondern erfolgt auch von Seiten einer sozial- und politikwissenschaftlichen Perspektive;11 das staatsrechtliche Wertdenken steht wie die Staats- und Verfassungstheorie überhaupt in deren jeweiliger Ideengeschichte von jeher nicht zuletzt im Blickfeld eines insofern ganz spezifischen „Politizismus“.12 Indessen geht es um ein wesentliches Moment in der fachspezifisch staatsrechtlichen Identifikation des Verfassungsstaates und der darin begründeten staatsrechtlichen Begriffsbildung. I. Verfassungsrechtliches Wertdenken 1. – Mit und unter dem Grundgesetz hat in der Verfassungspraxis, vornehmlich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung sowie vor allem in der Verfassungsgerichtsbarkeit, das verfassungsrechtliche Wertdenken bekanntermaßen eine bestimmende Bedeutung erlangt.13 Es kann einen prägenden Anteil im Verfassungsbild des grundgesetzlichen Verfassungsstaates und an der integrativen Akzeptanz des Grundgesetzes beanspruchen. Wesentliche Implikationen und Konsequenzen des verfassungsrechtlichen Wertdenkens, insbesondere im Hinblick auf eine Entfaltung der Grundrechte als Wertordnung bzw. Werteordnung, sind eine materiale, sinnbestimmte Normativität der Verfassung, folgerichtigerweise auch gegenüber der Legislative, namentlich eine wertkonkretisierende Normativität der Grundrechte für alle Bereiche der Rechtsordnung, eine dementsprechend beträchtliche Bedeutungssteigerung der im Grundgesetz ohnedies kompetenzstarken Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit, ein Verständnis und eine Verwirklichung individueller grundrechtlicher Freiheiten unter positiver Orientierung an einer grundrechtlichen Wertordnung oder Werteordnung sowie eine Ausgestaltung grundgesetzlicher Sozialstaatlichkeit in Richtung

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Kritische Auseinandersetzung anhand der betreffenden Rspr., des BVerfG bei Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973 sowie Darstellung und Nachw. bei Dolderer (Fn. 8), insb. 49 ff., 71 ff. und 129 ff.; dezidierte repräsentative Kritik bei Böckenförde, ARSP-Beiheft 37 (1990), 33 ff. 11 Beispielhaft und signifikant kann insofern auf die nicht zuletzt mit politischen Motivationen verbundene Kritik an der die geisteswissenschaftliche Richtung in der Staatsrechtslehre repräsentierenden Integrationslehre Rudolf Smends hingewiesen werden; Nachw. bei Bartlsperger (FS Steiner, Fn. 4), 34 Fn. 11, 42 Fn. 35 und 43 Fn. 37. Im Grunde zählen dazu auch entsprechende empiristische Argumentationen aus der Staatsrechtslehre gegen ein materiales normatives Verfassungsverständnis, z. B. H. Dreier, Integration durch Verfassung?, in: Hufen (Hg.), FS H.-P. Schneider, 2008, 70 ff. 12 Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, 1986, 12 f.; zur Ideologiekritik juristischer Methode Haverkate, Gewißheitsverluste im juristischen Denken. Zur politischen Funktion der juristischen Methode, 1977, 20 ff. 13 Lit.-Nachw. Fn. 8. Aus der Verfassungsrechtsprechung bestimmend BVerfGE 7, 198 (204 f.), BVerfGE 77, 170 (214) und BVerfGE 115, 320 (358).

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auf eine auch hierbei sich vollziehende Realisierung grundrechtlicher Wertsetzungen.14 2. – Bemerkenswert erscheint angesichts der dezidierten Behauptung und aktuellen Maßgeblichkeit eines verfassungsrechtlichen Wertdenkens unter dem Grundgesetz, dass innerhalb der insofern positiv oder unkritisch begleitenden Staatsrechtslehre die Frage der spezifischen staats- und verfassungstheoretischen Grundlegung bislang eine vergleichsweise eher zurückhaltende Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.15 Der einschlägige Problemstand findet seine Entwicklung und seine Konturen eigentlich in den entschieden kritischen und ablehnenden Beurteilungen sowohl innerhalb der Staatsrechtslehre als auch über diese hinaus von Seiten einer die Verfassungsperspektive aufgreifenden Sozial- und Politikwissenschaft, nicht zuletzt in grundlegend eigenständigen Auffassungen und Entwürfen derselben zu Zustand, Funktion und Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Verfassung.16 Als ausgeräumt kann in der Verfassungsdebatte um eine grundgesetzliche Wertordnung jedenfalls die während einer Anfangsphase in der unmittelbaren Nachkriegsepoche als zeitgeschichtlich wirkungsträchtig beobachtete sogenannte „Renaissance des Naturrechts“ gelten.17 Was ferner die genannte, für die Thematik wesentliche materiale Wertethik angeht,18 so hat diese zwar gerade erst in der Rechtsepoche unter dem Grundgesetz einen mit einer besonderen Gefahr von Missverständnissen verbundenen wirkungsgeschichtlichen Einfluss erlebt.19 Ihr keineswegs mit einer „Wiederkehr des Naturrechts“ in Verbindung zu bringender Entwurf einer sich phänomenologisch verstehenden „lebensweltlichen“ Wertphilosophie hat die Rechtslehre phasenweise auch durchaus auf breiter Basis inspiriert; im Grunde gleiches gilt für die ebenfalls dem phänomenologischen Denken, genauer in dessen präzisierter transzendentaler Wendung zuzuordnenden, auf dem Wege einer neuen „Grundlegung der Ontologie“ entwickelte „Ethik“ und Wertlehre.20 Aber beide Richtungen vermochten die Staatsrechtslehre speziell in der Frage des verfassungsrechtlichen Wertdenkens, so-

14 Letzteres bedeutet, dass der angenommenen „objektiven Verpflichtung“ aus einem Grundrecht, z. B. aus Art. 1 Abs. 1 GG, ein „Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers“ korrespondiert (BVerfG NJW 2010, 505 ff.). 15 Siehe in den Lit.-Nachw. Fn. 8. 16 Fn. 11. 17 Zu dieser Baratta, ARSP 54 (1968), 325 ff., Zajadlo, Der Staat 1987, 207 (218 ff.), Neumann, Rechtsphilosophie in Deutschland seit 1945, in: Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, 145 ff., Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatslehre, in: Gusy (Hg.), Weimars langer Schatten, 2003, 354 (365 f.), Günther, Denken vom Staat her, 2004, 192 ff., Kühl, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 6 (1984), 609 ff., abgedr. in: ders., Freiheitliche Rechtsphilosophie, 2008, 69/75 ff. und ders., Rückblick auf die Renaissance des Naturrechts nach dem 2. Weltkrieg, FG A. Söllner, 1990, 331 ff., abgedr. in: ders., Freiheitliche Rechtsphilosophie, 2008, 87 ff. 18 Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 6. Aufl. 1980. 19 Siehe bei Kühl (Freiheitliche Rechtsphilosophie, Fn. 17), 95 ff., 101 ff., 103 ff., 107 ff. 20 N. Hartmann, Ethik (1926), 4. Aufl. 1962.

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weit ersichtlich, nicht in einer wirklich greifbaren, wirkungsträchtigen Weise zu erreichen. 3. – Die Rolle einer staats- und verfassungstheoretischen Vermittlung von ideengeschichtlich wie auch immer in Erscheinung getretenen Grundlegungen rationaler Wertkonstituierung und Werterkenntnis mit verfassungsrechtlichem Wertdenken konnte von Seiten der Staatsrechtlehre nur der innerhalb des sogenannten Weimarer Methodenstreits formierten „geisteswissenschaftlichen Richtung“ der Staatrechtslehre zufallen.21 Wirkungsgeschichtlich unter dem Grundgesetz hervorgetreten ist hierbei, was speziell das verfassungsrechtliche Wertdenken im Bereich der Grundrechte angeht, die Integrationslehre von Rudolf Smend.22 Mit ihren Annahmen zu einer geschichtlich realen, namentlich Sinnobjektivationen umfassenden Existenz des Staates sowie von „Verfassung und Verfassungsrecht“, besonders mit der ausgeprägten Vorstellung von einem hierbei einheitskonstituierenden Integrationsvorgang als Sinnprinzip von Staat und Verfassung, vermag sie die staats- und verfassungstheoretischen Voraussetzungen deutlich zu machen, welche die Verfassungsordnung als sinnhafte Ordnung verstehen lassen und das verfassungsrechtliche Wertdenken begreifbar machen. Jedenfalls kann ihr als wirkungsgeschichtliche Leistung unter der Verfassungsordnung des Grundgesetzes angerechnet werden, eine Überführung jener erwähnten „neonaturrechtlichen“ Vorstellungen der unmittelbaren Nachkriegszeit in eine verfassungsstaatlich rationale Verfassungstheorie und Verfassungsdogmatik des Wertdenkens ermöglicht zu haben.23 Freilich erscheint eine ideengeschichtlich rezeptive Beziehung der Integrationslehre zur erwähnten fachphilosophischen materialen Wertethik bzw. ontologischen Wertlehre nicht nachweisbar. Authentisch vielmehr stützt sich die Idee eines Staat und Verfassungsordnung konstituierenden Integrationsvorganges sowie die entsprechende Staats- und Verfassungstheorie wesentlich auf eine kultursoziologische Strukturerklärung zum Verhältnis von „Individuum und Gemeinschaft“.24 Darum ist der Integrationslehre sogar der Vorwurf eines bloßen Psychologismus nicht erspart geblieben.25 Die wirkungsge-

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Fn. 4. Ders., Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 4. Aufl. 2010, 119 ff.; dazu sowie zur einschlägigen Literatur Bartlsperger (Fn. 4). 23 So auch schon Bartlsperger, a.a.O., 38. 24 Litt, Individuum und Gemeinschaft, 1919. Zu dieser Rezeptionsbeziehung Bartlsperger (Fn. 5), 4 ff.; kritisch dazu hingegen Nothoff, Der Staat als „geistige Wirklichkeit“, 2008, 37 ff. und 42 ff. 25 E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, Band III, 1960, XXX ff. und ders., Zur Problematik des Volkswillens (1931), a.a.O, 272 ff. sowie Bemerkungen von Jerusalem, AöR 54 (1928), 161 (188 ff. und 190 ff.); gerade umgekehrt die politikwissenschaftliche Kritik an der Integrationslehre wegen deren angeblicher Vernachlässigung des Organischen (beispielhaft Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, 1968, 64 ff., 77 f., 275 f.). Solche Kritik dürfte das ontologische kategoriale Schichtenverhältnis der geschichtlich realen geistigen Objektivationen zu ihren realen Grundlagen (Nachw. bei N. Hartmann, Fn. 5) 22

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schichtliche Bedeutung der Integrationslehre für verfassungsrechtliches Wertdenken unter dem Grundgesetz lässt sich deshalb kaum von einer hierbei gebotenen Nachinterpretation trennen, welche die Verwirklichung von Sinnobjektivationen in Staat und Verfassung in einer Ontologie objektiver geistiger Seiensweise zu erfassen erlaubt26 sowie das hierbei implizierte Wertdenken einer rationalen Erklärung und staatrechtlichen Begriffbildung zugänglich macht. 4. – Zwischenzeitlich wird die Smend-Rezeption unter dem Grundgesetz überhaupt kritisch in Zweifel gezogen, ein ihr zugeschriebener Einfluss auf die aktuelle Verfassungsdogmatik und Verfassungspraxis als überbewertet und überschätzt angesehen.27 Stattdessen wird für eine eigenständige Verfassungstheorie plädiert, die ihre Grundgedanken aus der normativen Ordnung des Grundgesetzes selbst beziehen und sich nicht jener ideengeschichtlich an die Situation der Weimarer Republik gekoppelten Staats- und Verfassungslehre verdanken soll.28 Eine solche, auch im Zusammenhang einer Kritik des verfassungsrechtlichen Wertdenkens stehende Beurteilung erscheint wenig verständlich, wenn sie ihrerseits für die Verfassungsordnung des Grundgesetzes einer Staats- und Verfassungstheorie folgen möchte, die ideengeschichtlich nicht weniger dem Weimarer Methodenstreit der Staatsrechtslehre zuzurechnen ist, vielmehr gerade zu einem von dessen wesentlichen Auslösern gehört.29 Sicherlich ist die Weimarer Verfassungssituation durch unvergleichlich andere staatsrechtliche sowie von besonderen politischen Umbrüchen und Desintegrationserscheinungen bestimmten Voraussetzungen geprägt und für die Staatsrechtslehre eine außerordentliche Herausforderung gewesen. Aber gerade deshalb haben unter solchen Umständen die Grundpositionen von Staats- und Verfassungstheorie sowie staatsrechtlicher Begriffsbildung und Methode eine fundamentale, vom Wechsel jeweiliger staatsrechtlicher Sachthemen unabhängige, präpositive Ausformung erfahren. Angesichts eines seinerzeit als „Krisis der Staatslehre“30 beurteilten, bis dahin bestimmenden staatsrechtlichen Positivismus sowie einer sich damals nachdrücklich engagierenden normlogischen „Reinen Rechtslehre“ war es nunmehr als die grundlegende Frage von Staats- und Verfassungstheorie gesehen worden, zu der im neunzehnten Jahrhundert sich als geschichtliche Realität entwickelnden Verfassungsstaatlichkeit eine verständliche, überzeugende, akzeptable und brauchbare Idee von Staat

verkennen, d. h. das hierbei bestehende Verhältnis von „Denken und Gedanke“ (Schönfeld, AcP 135 – 1932, 1 (28 f.)). 26 Dazu Bartlsperger (Fn. 5), 58 ff. und 81 ff. 27 Lepsius (Fn. 17), 354 (363 ff.) m. Nachw. sowie H. Dreier, Dimension der Grundrechte, 1993, 15 ff. und kritisch Bartlsperger (Fn. 4), 37 ff. 28 Lepsius, a.a.O. 29 Kelsens Reine Rechtslehre. Einschlägige Hauptwerke: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911), 2. Aufl. 1923; Der soziologische und juristische Staatsbegriff (1922), 2. Aufl. 1928; Allgemeine Staatslehre (1925), 2. Aufl. 1966; Der Staat als Intgration, 1930; Reine Rechtslehre (1934), 2. Aufl. 1960. 30 Heller, ARSP 95 (1926), 289 ff., abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften, Zweiter Band, 1971, 3 ff.

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und Verfassung für die Staatsrechtslehre zu schaffen.31 Zwar hat die Ablösung feudalstaatlicher Herrschaftsvorstellungen und vernunftnaturrechtlicher Staatsvertragslehren durch das geschichtliche Auftreten des Verfassungsstaates bereits während des neunzehnten Jahrhunderts zu Ansätzen einer spezifisch organischen Staatsbetrachtung geführt.32 Aber schließlich sind es jedenfalls erst die wesentlichen Aussagenund Bedeutungsgehalte der innerhalb des Weimarer Methodenstreits der Staatsrechtslehre sich artikulierenden „geisteswissenschaftlichten Richtung“, namentlich der dezidiert als staatstheoretische Grundlegung von Verfassungstheorie und staatsrechtlicher Methode auftretenden Integrationslehre gewesen, die den Verfassungsstaat in einer Vorstellung vom Staat und von seiner staatsrechtlichen Ordnung als einer im individuellen Bewusstsein getragenen, in der geschichtlichen Wirklichkeit vermittelten eigenständigen objektiven Realität staats- und verfassungstheoretisch begreifbar machen konnten und einen dementsprechenden Bezugsgegenstand und Anknüpfungspunkt für die staatsrechtliche Begriffsbildung und Methode im Verfassungsstaat geschaffen haben. Es ist um einen Begriff vom Verfassungsstaat gegangen, nach dem dieser sich nicht nur verfassungspolitisch durch bestimmte, schon in den vernunftnaturrechtlichen Staatsvertragslehren entwickelte staatsrechtliche Strukturen zur Verbindung von Macht und Recht auszeichnet,33 nicht nur als konstitutionalisierte Herrschaftsorganisation34 oder als bloße organisatorische „Willens- und Wirkungseinheit“35 verstanden wird, sondern auch als eigene politische Existenzform sowie als objektive geschichtliche Wirklichkeit und als Träger von geschichtlich realen Sinnobjektivationen. Eine so verstandene Verfassungsstaatlichkeit ist je nach Betrachtungsperspektive ideengeschichtliche Voraussetzung staatsrechtlichen Wertdenkens oder staats- und verfassungstheoretische Konsequenz desselben. Materiale Verfassungstheorie und verfassungsrechtliches Wertdenken sowie eine staatstheoretische Begriffsbestimmung der Verfassungsstaatlichkeit als einer sich auch in Sinnobjektivationen konstituierenden geschichtlichen Realität des Staates bilden eine ideengeschichtliche Einheit. Auch der innerhalb der Staatsrechtslehre bestehende grundlegende Gegensatz von Formalismus und materialem Verfassungsdenken erschließt sich recht eigentlich aus 31

Dazu schon Bartlsperger (Fn. 4), 46 ff. Fn. 3. 33 Zu Vernunftnaturrecht und vernunftnaturrechtlichen Staatsvertragslehren Mejer, Einleitung in das Deutsche Staatsrecht, 1889, 13 ff. und 120 ff., E. Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie (1921), Gesammelte Werke, Band III, 1960, 176 (236 ff.), Häfelin (Fn. 3), 24 ff., Schmidt-Aßmann, Der Verfassungsbegriff in der deutschen Staatslehre der Aufklärung und des Historismus, 1967, 53 ff. und 86 ff., Wyduckel (Fn. 1), 194 ff. und 320 ff., Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Band, 1988, 271 ff., Schelp, Das Allgemeine Staatsrecht und Staatsrecht der Aufklärung, 2001, 150 ff.; zu staatsrechtlichen Elementen und Staatslehre bei Kant siehe bei Höffe (Fn. 5), 213 ff. und 232 ff. 34 Zum Konstitutionalismus im neunzehnten Jahrhundert Wahl (Fn. 1), Rn. 21 ff., 45 ff. und 51 ff., Böckenförde (Fn. 3) und ders. (Fn. 1), Zippelius, Allgemeine Staatsrechtslehre, 15. Aufl. 2007, § 21, 2 m. Nachw. 35 Heller (Fn. 7) und dazu Nachw. bei Bartlsperger (Fn. 4), 33 Fn. 9. 32

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der ideengeschichtlichen Epoche, in der mit und nach der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert die seinerzeit neue Staatsvorstellung einer verfassungsstaatlichen Ordnung in Deutschland Aufnahme gefunden sowie in einer frühkonstitutionellen Bewegung ihre Verwirklichung gesucht hat.36 Zugleich war die seinerzeitige Situation dadurch geprägt, dass in der Rechtswissenschaft mit der historischen Rechtsschule ein gänzlich neuer Ansatz unternommen worden und dass mit der Kantischen Kritik sowie mit dem deutschen Idealismus eine fundamental neue, auch den Staat sowie die Wissenschaft von Staat und Staatsrecht betreffende geistesgeschichtliche Lage entstanden war.37 Man kann auch für die Staatsrechtlehre von einer „Achsenzeit“ oder einer „Sattelzeit“ sprechen.38 Eine da ansetzende retrospektive Beurteilung vermag nicht zuletzt in der gegenständlichen Frage um das verfassungsrechtliche Wertdenken die Problemstellung zu verdeutlichen. II. Ideengeschichtliche Retrospektive 1. – Die geistesgeschichtliche Situation zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, aber auch in dessen weiterem Verlauf, war nicht günstig für die Entwicklung einer Staatsrechtslehre, die das epochale Auftreten verfassungsstaatlicher Vorstellungen in einem Begriff vom Staat als einer nicht mehr im monarchischen Herrschaftsprinzip, sondern in einer eigenen politischen Existenz und einer objektiven geschichtlichen Wirklichkeit hätte erfassen sowie eine dementsprechende materiale Verfassungstheorie hätte begründen können. Dabei kann im gegenständlichen Zusammenhang das Augenmerk beschränkt bleiben auf wesentliche ideengeschichtliche Gegebenheiten und es kann einmal ganz abgesehen werden von den seinerzeit wirkmächtigen politischen Verhältnissen und Vorgängen innerhalb des Deutschen Bundes sowie aufgrund von dessen staatsrechtlicher Grundlegung im monarchischen Prinzip.39 Jene Zeitverhältnisse waren einer organischen Staatstheorie und einer entspre36

Zum Frühkonstitutionalismus Wahl (Fn. 1), Rn. 23 ff., Böckenförde (Fn. 3). Zur entsprechenden Kennzeichnung der Epoche Mejer (Fn. 32), 16 ff., Scheler, Kant und die moderne Kultur (1903/04), in: ders., Gesammelte Werke, Band I (hgg. v. Maria Scheler), 1971, 356 ff., Lask, Fichtes Idealismus und Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, 1923, 335 ff., Rosenzweig (Fn. 5), 3, N. Hartmann, Philosophie des deutschen Idealismus, II. Teil, Hegel, 1929, 313, Ritter, Hegel und die Französische Revolution (1956), in: ders., Metaphysik und Politik, 2003, 183 (197 f., 200 f. und 234 f.), Riedel, Objektiver Geist und praktische Philosophie (1968), in: ders., Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, 1969, 106, 120 f. und 131 f., Dilthey (Fn. 5), 106, Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders. (Fn. 3), 143 (144 ff.), ders., JuS 1971, 560 ff., Stolleis (Fn. 1), 39 ff., Simon, Jurisprudenz und Wissenschaft, Rechtshistorisches Journal 7 (1988), 141 ff., Bock, Über die Möglichkeit von Erkenntnis in der Rechtswissenschaft, Rechtstheorie 36 (2005), 449 ff. 38 Bezeichnungen bei Jaspers (Zitat bei Höffe, Fn. 5, 15) und Kosellek, in: Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 1, 1972, XIII/XV f. 39 Zum monarchischen Prinzip in der Bundesverfassung des Deutschen Bundes E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band I, 2. Aufl. 1960, § 36 III; zu den politischen Verhältnissen und Vorgängen ders., a.a.O, §§ 40 ff. sowie ders., Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band II, 2. Aufl. 1960, §§ 3 ff. (Verfassungsvorgänge und Verfas37

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chenden Staatsrechtslehre allein schon wegen der hiermit verbundenen antimonarchischen Konsequenzen für das Verständnis einer konstitutionellen Staatsordnung, nicht zuletzt auch wegen der noch weitergehenden nationalen oder gar nationaldemokratischen Implikationen derselben entgegengerichtet.40 Auch schon die wesentlichen ideengeschichtlichen Bewegungen jener Epoche in der Rechtswissenschaft und in der philosophischen Zeitströmung waren einer Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates als geschichtlicher Realität und seiner daraus verstandenen Institutionen nicht förderlich; die betreffende Entwicklung war seinerzeit entweder gar nicht in einer entsprechenden Staatstheorie aufgegriffen worden oder konnte sich jedenfalls nicht in einer nachhaltig durchsetzungsfähigen Idee zur Geltung bringen. Wenigstens die in dem Zusammenhang angenommen wirkungsträchtigsten ideengeschichtlichen Zeitumstände lassen sich anführen. 2. – Die in der damaligen Epoche für die Civilistik beherrschend und wirkungsträchtig hervorgetretene historische Rechtsschule war in ihrer rechtsphilosophischen Theorie zu Entstehung und Begründung des Rechts einer gegen das Vernunftnaturrecht gerichteten empirischen Betrachtung des Rechts als konkreter, im Volke in der historischer Kontinuität sich entwickelnden und in der rechtswissenschaftlichen Begrifflichkeit erfassbaren Geistigkeit gefolgt.41 Eine Staats- und Verfassungstheorie indessen zu einer die vernunftnaturrechtlichen Staatsvertragslehren ablösenden Verfassungsstaatlichkeit als geschichtlich konkreter, im Volke begründeter Wirklichkeit eines in seinen organisatorischen Strukturen und Institutionen sowie in seinen Sinnobjektivationen existierenden Staates war ihr fern gelegen. Zwar waren durchaus organische Vorstellungen vom Staat als Vermittler zwischen Politik und präsenter Ethik feststellbar.42 Aber der Staat als eine im Vergleich zur gewohnheitsrechtlichen Entstehung des Rechts willkürliche Rechtssetzungsinstanz war der historischen Rechtsschule fremd, wie es überhaupt nicht in ihrem wissenschaftlichen Programm gelegen hatte, sich mit dem Staat in seinen Institutionen und seiner staatsrechtlichen Ordnung sowie mit deren Entstehung und Begründung als konkreter geistiger Wirklichkeit zu

sungsbewegungen), §§ 11 ff. (Nationaldemokratische Bewegung), §§ 27 f. und 31 ff. (Vormärz). 40 Siehe die Nachw. in Fn. 39. 41 Zur historischen Rechtsschule Kuntze, Der Wendepunkt der Rechtswissenschaft; ein Beitrag zur Orientierung über den gegenwärtigen Stand und Zielpunkt derselben, 1856, 53 ff., E. Kaufmann (Fn. 32), 240 f., Dulckeit, Rechtsbegriff und Rechtsgestalt – Untersuchungen zu Hegels Philosophie des Rechts und ihrer Gegenwartsbedeutung, 1936, 11, Böckenförde, Die historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts (1964), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 2006, und kritisch ders. (Fn. 3), 270 f., Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, 348 ff. und 377 ff., Haverkate (Fn. 12), 55 ff. und 79 ff., J. Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule, 2001, 191 ff. 42 Lingg, AöR 14 (1899), 239 (241) (historische Staatswissenschaft), Schmidt-Aßmann (Fn. 33), 116 ff. (Verfassungsbegriff), Stolleis (Fn. 1), 176 f. („historisch-organischer“ Liberalismus); zu den Wirkungen auf die organische Staatslehre Haverkate (Fn. 12), 84 ff. (Beseler) und Stolleis, a.a.O, 359 ff. (O. v. Gierke).

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befassen.43 So wie die historische Rechtsschule für ihre rechtsphilosophischen Annahmen zum Privatrecht keine ontologische Begründung entwickelt hatte, war ihr eine solche auch für den Staat bzw. das Staatsrecht nicht eigen. Das Staatsrecht lässt sich nach ihrer Auffassung überhaupt auf keine Weise „in den Begriff der Jurisprudenz bringen; denn es setzt den Staat nur als existierend voraus, die Gesetzgebungswissenschaft aber schon als handelnd.“ Zwar wird das „gleichwohl große Interesse des staatsrechtlichen Studiums gar nicht geleugnet.“ Aber ein „großer Teil des Staatsrechts“ sollte „jetzt auf ähnliche Weise wie das Privatrecht behandelt werden; denn in allen neueren Staaten existiert ein Verhältnis, das älter ist als unser Staatsrecht: Die Lehensverfassung; das Staatsrecht der älteren Zeiten war reiner.“44 Die historische Rechtsschule in ihrer ursprünglichen ideengeschichtlichen Entwicklung hatte also erklärtermaßen keinen Zugang gesucht oder gar gesehen zur epochalen Erscheinung der neuen verfassungsstaatlichen Staatsvorstellung.45 Gleichwohl ist ihr in ihrer weiteren inneren Entwicklung ein tief greifender wirkungsgeschichtlicher Einfluss auf die Staatsrechtslehre des neunzehnten Jahrhunderts zuteil geworden. Die aus ihr erwachsene zivilistische Begriffsjurisprudenz46 hat bekanntlich ab der Mitte des Jahrhunderts eine auch personell vermittelte Rezeption in den „Grundzügen eines Systems des deutschen Staatsrechts“ erfahren und ist auf diesem Wege zum Ausgangspunkt des für die nachfolgende Zeit bestimmenden staatsrechtlichen Positivismus geworden.47 Dessen methodischer Formalismus hatte keine 43 Zu dem seinerzeitigen Gegensatz von „Rechtsstaat“ im Sinne der historischen Schule und „Verfassungsstaat“ Haverkate, a.a.O., 91 ff., Stolleis, a.a.O, 159 ff. 44 v. Savigny, Juristische Methodenlehre (nach der Ausarbeitung des Jakob Grimm, hgg. von Wesenberg), 1951, 13. 45 Zur hiervon noch nicht beeinflussten, in einer philosophisch historischen, unkritischen und pragmatischen Methode verbleibenden Staatsrechtslehre in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts v. Mohl, Das positive deutsche Staatsrecht seit der Gründung des Bundes, in: ders., Die Geschichte und Literatur der Staatsrechtswissenschaften, Zweiter Band, 1856, 235 ff., O. v. Gierke, ZfgStW 30 (1874), 153 (166 ff.), Zorn, JöR 1 (1907), 49, Schmidt-Aßmann (Fn. 32), 196, Häfelin (Fn. 3), 69 ff., Stolleis (Fn. 1), 156 ff. und 267 ff., Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, 1993, 17 ff. und 52 ff. 46 Zu deren grundlegender Ausformung bei Puchta, Das Gewohnheitsrecht, Erster Theil, 1828, 143 ff., 161 ff. und 165 ff. sowie bei dems., Pandekten, 8. Aufl. 1856, 19 ff. und 28 ff.; ferner Coing, Der juristische Systembegriff bei Rudolf von Jhering, in: Blühdorn/Ritter (Hg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, 1969, 149 ff., A. Kaufmann/Hassemer, Grundprobleme der zeitgenössischen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 1971, 38 ff., Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1975, 20 ff., Haverkate (Fn. 12), 80 ff., Grimm, Methode als Machtfaktor (1982), in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, 347/356 f., Tripp, Der Einfluß des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert, 1983, 168 f., 177 ff., 202 ff. und 212 ff., J. Schröder (Fn. 41), 244 ff., 270 f. und 367 f., Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, 2. Aufl. 2003, 70 ff., 76 ff. und 80 ff., Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 83 ff. und 91 ff., Ernst, Gelehrtes Recht, in: Engel/Schön (Hg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, 3 ff. und 28 ff. 47 Vermittelt und ausgehend von v. Gerber: ders., Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts (1865), 3. Aufl. 1880; vordem ders., Über öffentliche Rechte, 1852 und ders., Über

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Grundlage mehr eröffnet für eine staatsrechtliche Staatstheorie vom Verfassungsstaat als objektiver geschichtlicher Wirklichkeit und für eine materiale Verfassungstheorie.48 Die in ihm gesehene Krise der Staatsrechtslehre war bekanntermaßen zu einem Anlass des Methodenstreits in der Weimarer Staatsrechtslehre geworden.49 Nicht zuletzt hat der Formalismus des staatsrechtlichen Positivismus im Hinblick auf seine angebliche Bedeutung für die gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Zeit auch eine entschiedene politische Kritik erfahren und so das Bild vom Ver-

deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft (1851, 1855, 1865), in: ders., Gesammelte Juristische Abhandlungen, 2. Aufl. 1865; aus dem Zivilrecht ders., System der Privatrechte (1848/49), 11. Aufl. 1873, 78 ff. Zur Rezeption von Puchtas zivilistischer Begriffsjurisprudenz durch v. Gerber, v. Ihering und Laband siehe Stoerk (Fn. 1), 114 ff., 122 ff., 132 ff. und 145 f. , Zorn, JöR 1 (1907), 47/66 f., Wieacker (Fn. 41), 430 ff., Ott, Der Rechtspositivismus, 2. Aufl. 1992, 211 f., Pauly (Fn. 45), 10 ff., J. Schröder (Fn. 41), 249; zu v. Gerbers rationalistischer Privatrechtslehre und historisch-dogmatischer Methode eines „rechtsgeschichtlichen Positivismus“, d. h. einer wissenschaftlichen Erfassung der natürlichen Ordnung des Rechts Wilhelm (Fn. 46), 23, 45 ff., 57 ff. und 60 ff.; zu v. Gerbers Wirkungsgeschichte v. Oertzen, Die Bedeutung C. F. von Gerbers für die deutsche Staatsrechtslehre, FS Smend 1962, 183 ff. Zu der mit v. Gerber kongenialen „naturhistorischen“ Auffassung v. Iherings vor dessen bekannter rechtssoziologischer „Wende“ (dazu Tripp, Fn. 46, 257 ff. und 264 ff., Wieacker, a.a.O., 450 ff.) siehe v. Ihering, Unsere Aufgabe, Iherings Jahrbücher 1 (1857), 1 ff. sowie ders., Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Teil I, 5. Aufl. 1891 und ders., a.a.O., Teil II/2, 4. Aufl. 1883, 317 ff., 361 sowie dazu Coing, a.a.O., 149/156 ff., 162 ff. und 167 ff., Tripp, a.a.O., 258 ff., J. Schröder, a.a.O., 267, Schuhr, Rechtsdogmatik als Wissenschaft, 2006, 14. In dem Zusammenhang aufschlussreich wegen der Authentizität ist der veröffentlichte Briefwechsel zwischen v. Gerber und v. Jhering (Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber, 1984); dazu m. Nachw. Wilhelm, a.a.O., 90 f. Fn. 8 – 16. 48 Authentisch zur Methode des staatsrechtlichen Positivismus Labands Beschreibung der „Dogmatik“ des Staatsrechts: Ders., Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band 1, 5. Aufl. 1911, Neudruck 1964, IX f. (Vorwort zur 2. Aufl.); zum entsprechenden Begriff des Staates als Rechtssubjekt im Sinne des Staatsrechts ders., a.a.O., 94 f.; ferner ders., AöR 2 (1887), 311 (317) sowie G. Jellinek, Die Staatsrechtslehre und die ihre Vertreter, in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden, Band 1, 1911, 339, ders., Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1913 (Neudruck 1960), 64 ff. 49 Zum staatsrechtlichen Positivismus Stoerk (Fn. 1), 154 ff., Lingg (Fn. 42), 243, O. v. Gierke, Grünhut Zschr. 6 (1879), 221 ff. und ders. (Fn. 45), Zorn (Fn. 45), 60 (64 ff. und 72 ff.), E. Kaufmann, Otto Mayer – Ein Beitrag zum dogmatischen und historischen Aufbau des deutschen Verwaltungsrechts (1925), in: ders., Gesammelte Schriften, Band I, 1960, 388 ff., Smend (Fn. 22), 234 ff. und ders., Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehre des 19. Jahrhunderts auf das Leben in Verfassung und Verwaltung (1939), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 4. Aufl. 2010, 326 (335 ff.), Scheuner, Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen in der neueren Staatslehre, FS Smend 1962, 225 ff., Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. 1981, 211 ff. und 226 ff., Tripp (Fn. 46), 212 ff. und 239 ff., Wyduckel (Fn. 1), 257 ff. und 284 ff., Geis, JuS 89, 91 (91 f.), Heun, AöR 28 (1989), 377 (382), Korioth, AöR 117 (1992), 212/215 f., Stolleis (Fn. 1), 331 ff. und 341 ff., Pauly (Fn. 45), 15 ff. und 74 ff., Wilhelm (Fn. 46), 7 ff., 88 ff. und 129 ff., Vesting (Fn. 46), Rn. 200 ff., Nothoff (Fn. 24), 238 ff.

Wertdenken in der Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates

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sagen der Staatsrechtslehre im Verfassungsstaat des neunzehnten Jahrhunderts geprägt.50 3. – Problemgehalt und Problembedeutung verfassungsrechtlichen Wertdenkens erschließen sich indessen spezifisch und zuallererst vor dem Hintergrund der geistesgeschichtlichen Situation, die epochal gleichzeitig mit dem Auftreten der Idee des Verfassungsstaates in Deutschland durch die Kantische Kritik entstanden war.51 Deren vernunftbegründete praktische Philosophie stellt auch für die Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates den Angelpunkt in ihrem wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis, in ihrer Begriffsbildung und Methode dar. Beide, praktische Philosophie und Staatsrechtslehre haben sich seinerzeit vor einen grundlegenden Neubeginn gestellt gesehen, und zwar auch was das Verhältnis beider angeht; bei dieser Situation einer damaligen beidseitigen „Achsenzeit“ von praktischer Philosophie und Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates ist es von da an auch geblieben.52 Der Staat ist philosophisch geworden und fürderhin gilt: „Der Staat ein Gedanke der Philosophie.“53 Allerdings ist es für die Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates auch zu einer immerwährenden Problemthematisierung geworden, ob und inwieweit die Kantische 50 Zur politischen Beurteilung des staatsrechtlichen Positivismus Smend, Politisches Erlebnis und Staatsdenken seit dem 18. Jahrhundert (1943), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 4. Aufl. 2010, 346 (355 f.), v. Oertzen (Fn. 47), 183 (185 ff.), Grimm, Bürgerlichkeit im Recht (1987), in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, 11 ff. sowie die Nachw. bei Bartlsperger (Fn. 4), 43 Fn. 37. 51 Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), Philosophische Bibliothek Band 505, hgg. von Timmermann 1998, im gegenständlichen Zusammenhang wesentlich Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Philosophische Bibliothek Band 519, hgg. von Kraft, Schönecker, 1999 und Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), Philosophische Bibliothek Band 506, hgg. von Brandt (Klemme), 203 jeweils mit Vorbemerkung bzw. Einleitung. Neuere Kant-Lit.: Höffe, Kants Kritik der reinen Vernunft, 203, J. Simon, Kant, 203, Höffe, Immanuel Kant, 7. Aufl. 2007. 52 Beherrschend von da an die Frage nach der Wissenschaftlichkeit allen Erkennens, d. h. auch nach der erkenntnistheoretischen Legitimation der Staatsrechtslehre; zur Bedeutung von Kant bzw. Hegel: Scheler (Fn. 37), 356 f. und ders., Die deutsche Philosophie der Gegenwart, in: Witkop (Hg.), Deutsches Leben der Gegenwart, 1922, 129, Lask, Gesammelte Schriften (hgg. von Herrigel), Band I, 1923, 335 ff., Bock (Fn. 37), 449 ff.; zur geistesgeschichtlichen Synchronität insofern Köhnke (Fn. 12), 9 ff. Zu dieser „Grundverfassung der Neuzeit“ und zur philosophischen Aufarbeitung des neuen Phänomens des Verfassungsstaates Ritter, Hegel und die Französische Revolution (1956), in: ders., Metaphysik und Politik (1969), Neuausgabe 2003, 183 ff., 197 ff., 213 ff. und 234 f. (Hegel), Simon, Jurisprudenz und Wissenschaft, Rechtshistorisches Journal 7 (1988), 141 (143), ferner zur Entwicklung eines neuen transpersonalen und organischen Staatsverständnisses mit dem Beginn der verfassungsstaatlichen Epoche Böckenförde (Fn. 3), 263 (265 ff.) und Wyduckel (Fn. 1), 220 ff. und 228 f. 53 Rosenzweig (Fn. 5), Zweiter Band, 169 (in Bezug auf Preußen); auch zur „Geschichte“ ist festgestellt worden, dass diese philosophisch geworden sei (Dilthey – Fn. 5, 106). Zur „globalen“ aktuellen Wirkungsgeschichte der Kantischen Kritik Höffe (Fn. 51), 310. „Deutschland war durch Kant in die philosophische Bahn hineingezogen, und die Philosophie ward eine Nationalsache.“ (Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 1834, 2. Aufl. 1852, Werke in fünf Bänden, Band 3, 1995, 281).

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praktische Philosophie überhaupt einen greifbaren Zugang zu Staats- und Verfassungstheorie, staatsrechtlicher Begriffsbildung und Methode im Verfassungsstaat enthält.54 Dies gilt insbesondere für die gegenständliche spezifische Frage um das Wertdenken in der Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates. Fraglos leistet Kant im Rahmen seines vernunftkritischen Werkes einen bedeutenden ideengeschichtlichen Beitrag zur Entwicklung der rechtsstaatlichen Strukturen und Institutionen, die Eingang in die staatsrechtliche Ordnung des Verfassungsstaates gefunden haben.55 Aber dabei steht das Kantische Denken noch vollends auf dem Boden der vernunftrechtlichen Maßgaben individueller Freiheitsgewährleistung und der betreffenden Staatsvertragslehren.56 Der Staat und seine rechtsstaatliche Ordnung erfahren in jenem ideengeschichtlichen Zusammenhang ihre Grundlegung in einer vernunftbegründeten Idee, als vernunftnotwendige Institutionen zur Gewährleistung individueller Freiheit in Rechtssicherheit. Auch die Kantische Vorstellung vom Staatsvertrag beruht auf keiner empirischen Annahme; sie fungiert als apriorisches regulatives Prinzip.57 Eine solche Staats- und Rechtslehre bleibt noch völlig hinter der zwischenzeitlichen Realität zurück, dass der Staat aus der Epoche einer staatsvertraglichen Vernunftidee in die geschichtliche Wirklichkeit des sich entwickelnden Verfassungsstaates eingetreten ist. Es führt indessen gänzlich über jene ideengeschichtlichen Voraussetzungen hinaus und es gehört in einen demgegenüber grundlegend veränderten, anderen Zusammenhang und Fragenbereich, das Kantische Werk bzw. seine Wirkungsgeschichte auf mögliche Aussagen oder intendierte Bedeutungsgehalte zur sich seinerzeit entwickelnden Idee und Wirklichkeit des Verfassungsstaates als neuer politischer Existenzform und staatsrechtlicher Ordnung hin zu betrachten.58 Insofern war nunmehr, ganz anders als in dem vernunftbegründeten, 54 Zum Einfluss Kants im 19. Jahrhundert Krüger, Kant und die Staatslehre des 19. Jahrhunderts, in: Blühdorn/Ritter (Hg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, 1969, 49 ff.; zur zeitgenössischen Kritik an Kant Höffe (Fn. 51), 289 ff.; zu einer grundsätzlichen Kritik an Kants Rechts- bzw. Staatslehre E. Kaufmann (Fn. 32), 216 f., 219, 238 f., 242 und 385 f., Binder, Philosophie des Rechts, 1925 (Neudruck 1967), 67 f., 196 und 268 f., Stammler, Die Lehre vom richtigen Recht, neue bearb. Aufl. 1926, 27 ff., Kühl, ARSP-Beiheft 37 (1990), 75/ 79 f., Bock, Rechtstheorie 36 (2005), 449 und 451, Höffe, a.a.O., 15 f., 289 ff. und 304 ff. (im Hinblick auf Husserl), Möllers, in: Jestaedt/Lepsius (Hg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 51 (165 f.). 55 Insofern zur Kantischen Staats- und Verfassungsphilosophie Schmidt-Aßmann (Fn. 33), 91 f., H. Dreier, Kants Republik, in: ders. (Hg.), Symposion für Hasso Hofmann, 2005, 151 (155 ff. und 181 ff.), Höffe, a.a.O., 231 ff. sowie ausführlich Wawrzinek, Die „wahre Republik“ und das „Bündel von Kompromissen“: Die Staatsphilosophie Immanuel Kants im Vergleich mit der Theorie des amerikanischen Federalist, 2009. 56 Dulckeit, Naturrecht und positives Recht bei Kant, 1932, 34 ff. und 40 f., Schmidt-Aßmann (Fn. 32), 86 ff., 90 ff. und 96 ff., Höffe (Fn. 51), 231 ff.; zu nachkantischen Staatsvertragstheorien Schmidt-Aßmann, a.a.O, 97 ff. und 105 ff. 57 Insofern klarstellend Schmidt-Aßmann, a.a.O, 89 ff. und 96 ff. 58 Eine solche Blickrichtung rechtfertigt sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass die Kantische Kritik in ihrem wesentlichen Ansatzpunkt, die Souveränität des Geistes als Grundlage der modernen Kultur zu begründen, durchaus entwicklungsfähig erscheint (Scheler,

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staatsvertraglichen Entwurf einer individuelle Freiheit sichernden staatsrechtlichen Ordnung sowie ganz anders als in einer Vernunftkritik individueller Moralität gefordert, der Vermittlung vernunftbegründeter praktischer Philosophie unter den Voraussetzungen der Staats- und Rechtswirklichkeit der neuen Verfassungsstaatlichkeit nachzugehen, also das insofern bedeutsame Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit als Gegenstand eines philosophischen Systems zu sehen. Dabei begegnet der Umstand, dass die Kantische praktische Philosophie in einer Vernunftkritik individueller Moralität besteht,59 aber keine ganze, insbesondere keine die epochale Entwicklung und Situation berücksichtigende Philosophie darstellt. Hierzu und hieraus muss und kann die Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates einen eigenen, ihrer spezifischen Erkenntnisperspektive entsprechenden staats- und verfassungstheoretischen Standpunkt beziehen, namentlich auch im Hinblick auf die gegenständliche Frage um das verfassungsrechtliche Wertdenken, trotz der schwierigen Erschließbarkeit der betreffenden Kantischen Annahmen und angesichts einer überreichen kompetenten, aber eben auch fachspezifisch ideengeschichtlich orientierten Kant-Interpretation. Einige zusammenfassende Feststellungen müssen an dieser Stelle genügen. 4. – Der Formalismus der Kantischen praktischen Philosophie, d. h. der vernunftbegründete Ausschluss jedes materialen Wertdenkens,60 gilt zuallererst einer vernunftmäßigen individuellen Moralität. Das hierbei zugrunde gelegte Vernunftgebot einer Verallgemeinerungsfähigkeit der im moralischen Handeln verwirklichten individuellen Maximen, also der Erscheinungen des freien Willens, begründet im Sinne des betreffenden kategorischen Imperativs allgemein gesetzesfähiger Maximen eine individuelle Pflichtethik; jenes kategoriale Vernunftgebot gilt den hierbei in Betracht kommenden individuellen Maximen.61 Dies bedeutet die vernunftgeforderte Verneinung einer jeden die individuelle Moralität bestimmenden „Moral“.62 Recht und Staat finden in dieser primären Grundlegung der Kantischen praktischen Philosophie ebenfalls aus Vernunftnotwendigkeit ihren Platz. Denn es gehört zur vernunftbegründeten Fn. 37, 356, 359 ff. und 370). Danach kann die Authentizität des Kantischen Werkes zurücktreten gegenüber einem wirkungsgeschichtlich dynamischen und besseren, freilich nicht beliebigen, Verstehen (J. Simon, Fn. 51, 9 und Höffe, Fn. 51 – Immanuel Kant, 17). In dem Zusammenhang erscheint auch die Bemerkung zutreffend, jede Epoche vereinnahme und forme sich ihren Kant (H. Dreier, Fn. 55, 182 f.). Für die Staatsrechtslehre jedenfalls bedarf es anstatt einer vorwiegend ideengeschichtlichen eher einer problemorientierten Beschäftigung mit der Kantischen Kritik (Krüger, Fn. 54, 52). 59 Ritter, Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der Kantischen Ethik (1966), in: ders., Metaphysik und Politik, 1969, 281/286 ff., Stühler, Die Diskussion um die Erneuerung der Rechswissenschaft von 1780 – 1815, 1978, 41, J. Simon (Fn. 51), 178, 190 und 486, H. Dreier (Fn. 55), 156 (157 ff. und 181 ff.); in Bezug auf die Trennung von Moralität und Legalität Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 2. Aufl. 1955, 164 ff., Wieacker (Fn. 41), 352, 397 und 431 f., Hörster, ARSP-Beiheft 37 (1990), 27 ff., Kühl, ARSP-Beiheft 37 (1990), 75 (79 ff.), Höffe (Fn. 51), 174 ff. und 178 ff. 60 Höffe (Fn. 51), 179 (Ausschluss der empirisch bedingten Vernunft). 61 Zum kategorischen Imperativ und zum dabei verwendeten Begriff der „Maxime“ Höffe, a.a.O., 185 ff., 193 ff. und 195 ff. (Beispiele), J. Simon (Fn. 51), 163 ff., 172 f. und 384 f. 62 Deshalb Ausschluss einer staatlich verordneten Moral (J. Simon, a.a.O., 486).

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Forderung einer allgemeinen individuellen Freiheitsgewährleistung, angesichts der notwendigen Zugehörigkeit des Individuums zu einer rechtlich geordneten Gemeinschaft ebenso in der dementsprechenden „äußeren Gesetzgebung“ das Zusammenleben in Rechtssicherheit und gegenseitiger Ordnung individueller Freiheit zu gewährleisten.63 Auch das Recht als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ sowie der diese Rechtsordnung repräsentierende Staat verstehen sich danach in der Kantischen praktischen Philosophie aus einer vernunftbegründeten Idee, nicht weniger, aber auch nicht mehr;64 die angeführte staatsvertragliche Rechtsstaatslehre Kants hat hierin ihre gleichfalls vernunftnotwendige Grundlegung.65 Moralität und Legalität im Kantischen Sinne sind also zwar getrennte, aber in gleicher Weise vernunftbegründete Triebfedern pflichtmäßigen Handelns. Ihr Verhältnis zueinander wird dadurch bestimmt, dass sie beide ihre Vernunftbegründung und Vernunftnotwendigkeit in der individuellen Freiheit haben; darum gilt ein „naturrechtliches“ Verhältnis zwischen vernunftnotwendiger formalistischer Moralität einerseits und vernunftnotwendiger Legalität andererseits.66 Eine Beschäftigung mit real verbindlichen konkreten Rechtsinhalten dagegen würde für den vernunftbegründeten Formalismus der Kantischen praktischen Philosophie ein Abgleiten in den Empirismus darstellen;67 denn eine rein unter Vernunftgründen definierte Moralität und Legalität hat ausschließlich formalen Charakter und kann nicht konkret werden.68 Die so verstehbare, aus dem vernunftnaturrechtlichen Freiheitspostulat aufgenommene und vernunftkritisch ausgeformte Rechts- und Staatslehre Kants hat ihre Bedeutung als ideengeschichtliche Tradierung und wirkungsträchtige Vermittlung 63 J. Simon, a.a.O., 191 f., 380 und 472 ff.; ebenso für die Notwendigkeit ethischer Gemeinschaften. 64 Zum Kantischen Begriff von Recht bzw. Legalität Scheler (Fn. 37), 356 f., E. Kaufmann (Fn. 32), 238 f., Welzel (Fn. 59), 161 ff., Ritter, Moralität und Sittlichkeit (1966), in: ders., Metaphysik und Politik, 1969, 290, R. Dreier, Rechtsbegriff und Rechtsidee. Kants Rechtsbegriff und seine Bedeutung für die gegenwärtige Diskussion, 1986, 7 ff., 10 ff., 15, 36 f. und 75, Kühl, ARSP-Beiheft 37 (1990), 75 (89 ff.) und ders., Zur Aktualität der Prinzipien der Kantischen Rechts- und Eigentumslehre (1998), in: ders., Freiheitliche Rechtsphilosophie, 2008, 46 (52), Bock, Rechtstheorie 36 (2005), 449 (459 ff.), H. Dreier (Fn. 55), 156 ff., 163 ff. und 187 f., H. Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 3. Aufl. 2006, 6 ff., Höffe (Fn. 51), 213 ff., 216 ff. und 231 ff., J. Simon, a.a.O., 178 f. und 474 f., Vesting (Fn. 46), Rn. 45, Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, § 26 III.1. 65 Oben Fn. 54 – 57. 66 Zur Kantischen Rechtsphilosophie R. Dreier, Zur Einheit der praktischen Philosophie Kants (1979), in: ders., Recht-Moral-Ideologie, 1981, 286 ff., Küsters, Kants Rechtsphilosophie, 1988, P. Unruh, Die Herrschaft der Vernunft. Zur Staatsphilosophie Immanuel Kants, 1993, H. Dreier (Fn. 55). 67 Fn. 60. 68 Insofern hat der Kantische Formalismus, d. h. der kategorische Imperativ und das Verallgemeinerungsgebot, die entschiedene Kritik erfahren, dass reine praktische Vernunft gar nicht praktisch werde und sich Rechtsinhalte erschleiche: Dulckeit (Fn. 56), 65, Welzel (Fn. 59), 167, A. Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, 1989, 23 ff. und 28 ff., ders., Rechtsphilosophie in der Neuzeit, 2. Aufl. 1992, 26 ff.

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staatsvertraglicher Rechtsstaatslehren. Aber nach dem seinerzeitigen Zurücktreten der staatsvertraglichen Staatsidee gegenüber dem epochal neuen Phänomen einer sich ideengeschichtlich formierenden und sich verwirklichenden Verfassungsstaatlichkeit reicht jene nur vernunftrechtliche formalistische Rechts- und Staatslehre nicht mehr aus. Die neue Verfassungsstaatlichkeit bedeutet die Vorstellung einer sich von bestimmten herkömmlichen oder titulierten Herrschaftsverhältnissen verabschiedenden, einer vielmehr sich als eigene politische Existenz verwirklichenden, geschichtlich realen Staatlichkeit. Der Staat konnte nicht mehr nur als Vernunftnotwendigkeit begriffen werden. Er hatte nunmehr eine reale Seiensweise angenommen, die in ihrer Organisations- und Verfahrenstruktur, in ihren Sinnobjektivationen sowie in ihren rechtssetzenden Tätigkeiten auch einer empirischen Rechts- und Staatslehre bedurfte. In der neuen Verfassungsstaatlichkeit sind Vernunft und Wirklichkeit eine Verbindung eingegangen, die nunmehr auch als Grundlegung von Rechts- und Staatslehre zu dienen hatte. Angesichts dieser epochalen neuen Situation von Staatlichkeit und staatlicher Rechtsordnung tritt ein Versagen, eine Lückenhaftigkeit der Kantischen praktischen Philosophie zutage.69 Allgemein ist es erst eine nachkantische Vorstellung, dass geistiges Sein etwas geschichtlich Reales ist. Bedenken muss der ethische Formalismus der Kantischen praktischen Philosophie bereits im Hinblick auf den hierbei zugrunde liegenden, aus dem Vernunftnaturrecht rezipierten negativen Freiheitsbegriff begegnen.70 Denn schon individuelle Moralität bedarf eines positiven Freiheitsverständnisses, das die Orientierung individueller Willensentscheidungen an materialen Werten offen legt; andernfalls würde sich moralisches Entscheiden und Handeln seine Inhalte nur erschleichen.71 Gleiches gilt erst 69 Zum Ungenügen der noch dem Individualismus der vernunftnaturrechtlichen Staatsvertragslehren verhafteten Kantischen Staatslehre angesichts der neu entstandenen Verfassungsstaatlichkeit O. v. Gierke, Deutsches Genossenschaftsrecht IV, 1913, 441, Dulckeit (Fn. 56), 34, 53 ff. und 62 f., Krüger (Fn. 54), 52 f.; zu der dabei zutage tretenden generellen Verkennung der Geschichtlichkeit von Recht und Staat E. Kaufmann (Fn. 32), 238 f. und 242. Zum deshalb fehlenden Einfluss Kants auf die Staatslehre des 19. Jahrhunderts Krüger (Fn. 54). Dies gilt allerdings nur insoweit, als diese einer organisch konstitutionellen Staatstheorie folgt. Dagegen besteht eine jedenfalls objektive Traditionslinie zwischen der noch staatsvertraglichen, individualistischen Staatslehre Kants und der monarchischen Willens- und Herrschaftstheorie vom konstitutionellen Staat, die auch zum konstruktiven Ausgangspunkt des staatsrechtlichen Positivismus geworden ist (Fn. 47 bzw. 48 f.). 70 Der negative Freiheitsbegriff der Kantischen reinen praktischen Philosophie besitzt zwei Dimensionen, die Freiheit des Willens gegenüber der allgemeinen Seiensgesetzlichkeit (Kausalantinomie) und die Freiheit des Willens gegenüber dem Sittengesetz bzw. dem ethischen Prinzip. Es handelt sich also um eine idealistische Lösung durch Annahme einer transzendentalen Freiheit; siehe Lask (Fn. 52), 336 sowie die kritischen Erörterungen zum Kantischen Freiheitsbegriff bei N. Hartmann (Fn. 20), 654 ff., 677 ff. und 687 ff.; im Kantischen Freiheitsbegriff ist offengelassen, dass die praktische Vernunft auch gegenüber sich selbst, also gegenüber dem realen Individuum frei sein muss (N. Hartmann, a.a.O., 692). Zum Freiheitsbegriff in Kants Rechtslehre Hruschka, JZ 2004, 1085 ff. 71 Der positive Freiheitsbegriff geht von der Annahme aus, dass Willensfreiheit sich in der Freiheit des Willens gegenüber einem Sollen realisiert (Sollensantinomie), also einer Autonomie der Persönlichkeit, einer persönlichen Initiative bedarf (N. Hartmann, a.a.O., 778 f.,

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recht hinsichtlich eines angenommenen Formalismus der Rechtslehre. Richtig erscheint in dem Zusammenhang allein die Kantische Erkenntnis vom individualistischen Charakter der Moralität. Hiervon bleibt indessen zu unterscheiden und unberührt, dass nach dem verfassungsstaatlichen Verständnis von Recht und Staat als objektiven geschichtlichen Wirklichkeiten die Legalität ihre Grundlage in von Staats wegen rechtlich gesetzten oder anerkannten geschichtlich realen Sinnobjektivationen hat. Auch unter der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Annahme, dass die rechtliche Begriffsbildung in transzendentaler apriorischer Weise erfolgt, ändert sich daran nichts; denn auch eine transzendentale apriorische Begriffsbildung ist phänomenologisch über ihre Subjektivität hinaus der Transpersonalität, also einer objektiven geschichtlichen Verwirklichung fähig.72 Demgegenüber erweist sich der transzendentale Idealismus Kants noch als eine metaphysische Theorie. Staat und Recht verstehen sich in ihrer verfassungsstaatlichen empirischen Existenz als objektive geschichtliche, Sinnobjektivationen einschließende Wirklichkeit. Darin ist die verfassungsstaatliche Unterscheidung und Trennung von Moralität und Legalität zu sehen. Dies bedeutet, dass vom individualistischen Charakter moralischen Entscheidens und Handelns aus keine Schlüsse auf die Frage eines objektiven Wertdenkens in der Rechtslehre, im gegenständlichen Zusammenhang eines Wertdenkens in der Staatsrechtslehre gezogen werden können. Es gehört demgegenüber zu den wirkungsgeschichtlichen Folgen der Kantischen praktischen Philosophie, wenn eine solche verfassungsstaatliche Unterscheidung nicht getroffen wird und demzufolge 789 ff. und 793 ff.). In dieser dritten Dimension des Freiheitsbegriffs richtet sich Freiheit gegen Werte; sie ist positiv wertorientiert (N. Hartmann, a.a.O., 635 ff.). Danach ist der freie Wille nicht unbestimmt, sondern immer „bestimmt“; Freiheit und Wertdenken gehören zusammen. Siehe auch bei Luf, Zur Problematik des Wertbegriffs in der Rechtsphilosophie, FS Verdross, 1980, 127 (145) und Böckenförde, Freiheit und Recht, Freiheit und Staat (1985), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 2006, 42/46 f. Die dabei zugrundegelegte Voraussetzung einer „Autonomie der Person“ stellt ein Restproblem des Freiheitsbegriffs dar (N. Hartmann, a.a.O., 748 f.). Dieses kann nur phänomenologisch gelöst werden durch die ontologische Annahme einer kategorialen Freiheit der geistigen Seiensschicht gegenüber den niederen Seiensschichten (in dem Zusammenhang zur Ontologie N. Hartmanns ders., a.a.O., 647 ff., 668 f. und 684 f.). 72 Im Unterschied zum isolierten Subjekt im Kantischen Transzendentalismus sowie anders als im spekulativen Idealismus Hegels ist in der transzendentalen Phänomenologie Husserls entwickelt, dass Wahrnehmung in der Erfahrung eines intersubjektiv zugänglichen Seiens erfolgt, also die Subjekt-Objektbeziehung in einer Fremderfahrung besteht (Zahavi, Husserls Phänomenologie, 2009, 46 ff., 52 ff., 72 ff., 114 ff., 120 ff. und 131 ff.). Dies bedeutet, dass man kraft einer „konstituierenden Intersubjektivität“ von einer a priori vorhandenen Beziehung zwischen subjektiver Erfahrbarkeit und Objektivität ausgehen kann. Danach ist eine transzendentale apriorische Begriffsbildung mit der „Lebenswelt“ verbunden und der Geschichtlichkeit fähig. Ferner insofern zur transzendentalen Phänomenologie Husserls bei Scheler (Fn. 52 – Die deutsche Philosophie der Gegenwart), 196 ff., F. J. Brecht, Bewußtsein und Existenz – Wesen und Weg der Phänomenologie, 1948, 41 ff., 50 ff., 61 ff., Gadamer, Die phänomenologische Bewegung, Philosophische Rundschau 11 (1963), 1 (19 ff. und 34 ff.), Lembeck, Einführung in die phänomenologische Philosophie, 1994, 31 ff., 35 ff., 78, 81 ff. und 96 ff., Rizzoli, Erkenntnis und Reduktion – Die operative Entfaltung der phänomenologischen Reduktion im Denken Edmund Husserls, 2008, V. Mayer, Edmund Husserl, 2009, 81 ff., 86 ff., 94 f., 132 und 141.

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einem verfassungsrechtlichen Wertdenken mit der Argumentation vom ausschließlich reiner Vernunft folgenden individualistischen Charakter moralischen Entscheidens und Handelns und daher von einem Formalismus der Ethik überhaupt entgegengetreten wird. 5. – In der ideengeschichtlichen Abfolge hat das epochale Versagen der Kantischen Rechts- und Staatslehre zunächst einen wirkungsgeschichtlichen Niederschlag namentlich und bekanntermaßen in der dem Neukantianismus der sogenannten Marburger Schule zuzurechnenden normlogischen „Reinen Rechtslehre“ gehabt.73 Deren Beurteilung aus der Sicht von Rechtstheorie, Staatsrechtlehre, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie Politik ist literarisch ausgeschöpft, insbesondere auch was ihre dezidiert konträre Position zum verfassungsrechtlichen Wertdenken angeht. Gegenüber dem Formalismus in dessen spezifischem Erscheinungsbild der Kantischen praktischen Philosophie stellt sie sicherlich insofern eine eigenständige Fortentwicklung dar, als sie ausgehend von dem seinerzeit bestimmenden zeitgeschichtlichen Postulat einer einheitlichen naturwissenschaftlichen Wissenschaftslehre folgt. Dies führt sie dazu, die Normlogik des Rechts zu einem rein formalen „Normativismus“ zu verabsolutieren, daher in der Staatsrechtslehre ein Denken vom Staat her auszuschließen sowie im von ihr allein anerkannten Denken vom Recht her zu einem strikten Formalismus zu gelangen, zu einem Recht ohne Inhalt und zu einem „Staatsrecht ohne Staat“.74 Zu bemerken gilt es hierzu im Rahmen der gegenständlichen Gedankengänge lediglich noch, dass sie die Kantische Tradition im Ergebnis jedenfalls insofern fortsetzt, als sie entschieden jedem Empirismus in Rechts- und Staatslehre entgegentritt und daher auch nicht in der Lage ist, die Verfassungsstaatlichkeit als geschichtliche Wirklichkeit zu begreifen sowie damit Staat und Recht im Verfassungsstaat als Träger geistiger Objektivationen zu erkennen und eine dementsprechende methodische Perspektive einzunehmen. Anstelle einer Normativität des Verfassungsrechts als sinnbestimmter materialer staatsrechtlicher Ordnung gelangt sie zu einer durchgängigen dezisionistischen Rechtserzeugungslehre, die sie nicht zuletzt mit politischem Nachdruck und demokratietheoretischen Gründen verficht.75 Gerade mit diesem politischen Anspruch erfährt sie unter dem Grundgesetz eine aktuelle Belebung und letztlich nur dieser Umstand kann ihr eigentlich eine nochmalige Aufmerksamkeit im gegenständlichen Zusammenhang der Frage eines verfassungsrechtlichen Wertdenkens verleihen.

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Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911), 2. Aufl. 1923 (Neudruck 1960), ders., Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 1922, ders., Allgemeine Staatslehre, 1925, ders., Der Staat als Integration, 1930, ders., Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik (1934), hgg. und eingeleitet von Jestaedt, 2008. Im Übrigen Nachw. zu den wichtigen Werken in: Hans Kelsen im Selbstzeugnis, hgg. von Jestaedt, 2006, 97 ff. 74 Zu Kelsens Wissenschaftsprogramm H. Dreier, DV-Beih. 7 (2007), 81 ff.; ferner bei dems., Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986 und dems., Rezeption und Rolle der reinen Rechtslehre, Festschrift Robert Walter, 2001. 75 Zu letzterem bei Bartlsperger (Fn. 4), 34 m. Fn. 11.

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Jene aktuelle Argumentation zu einer unter der Verfassungsordnung des Grundgesetzes angeblich geforderten „Wiederentdeckung“76 der rein normlogischen Rechtslehre und eines entsprechenden „juristischen“ Staatsbegriffs geht im Wesentlichen von der Beurteilung aus, dass gerade unter den verfassungsstaatlichen Bedingungen von Individualismus, Meinungs- und Interessenpluralität, grundrechtlichem Freiheitsschutz und demokratischer Meinungsbildung sowie unter den soziologisch und politisch betrachteten faktischen Voraussetzungen einer durch Dissens- und Konfliktsituationen gezeichneten staatlichen Realität die Vorstellungen von einer materialen, auf Sinnverwirklichung und Wertkonkretisierung angelegten Verfassungsnormativität und Verfassungsbindung staatlicher Organe und Funktionen nicht mehr akzeptabel seien.77 Insbesondere ein integratives verfassungsrechtliches Wertdenken gilt danach als antiparlamentarisch, antidemokratisch und antiliberal.78 Demzufolge wird im Rahmen solcher Gedankengänge der normlogische Rechts- und Staatsbegriff der „Reinen Rechtslehre“ als der „letzte Überlebende der Weimarer Staatsrechtslehre“ eingeschätzt und diesem allein die Fähigkeit zuerkannt, „eine heute noch anschlussfähige Demokratietheorie“ zu liefern.79 Dabei treten bemerkenswerte Überlegungen und Annahmen zutage. Ein Empirismus von gegenwärtig angeblichen soziologischen und politischen Voraussetzungen der staatsrechtlichen Ordnung80 wird für einen empiriefreien Formalismus der Staatsrechtslehre in Anspruch genommen. Die schon aus den vernunftnaturrechtlichen Staatsvertragslehren kommenden rechtsstaatlichen und demokratischen Strukturen des Verfassungsstaates werden gegen den Verfassungsstaat als geschichtlicher Staats- und Verfassungsrealität ausgespielt, die in ihren Sinnbestimmungen und Wertpositivierungen jener Verfassungsstrukturen erst deren Gewährleistung gegenüber gegenteiligen Formen staatlicher Herrschaft und individuellen Zusammenlebens sichert. Schließlich muss erstaunen, dass nur die normlogische Rechtslehre und der entsprechende „juristische“ Staatsbegriff als geeignete Grundlage für eine heute noch anschlussfähige Demokratietheorie unter dem Grundgesetz angesehen werden;81 das Gegenteil trifft zu. Unter anderem, aber wesentlich gerade der von der Kantischen praktischen Philosophie ausgehende Formalismus in Ethik und Rechtslehre kann als „der erste große Bruch zwischen dem 76 So in einem generellen Zusammenhang mit der Weimarer Staatsrechtlehre Lepsius (Fn. 17), 354 ff. und speziell zu Kelsen 369 ff. 77 So nachdrücklich H. Dreier (Fn. 11). Repräsentativ für eine insofern immer schon virulente politikwissenschaftliche Kritik an integrativen Staats- und Verfassungsvorstellungen z. B. Sontheimer, ARSP 46 (1986), 39 ff., Haltern, JöR 45 (1997), 31 ff. sowie die Nachw. bei Bartlsperger (Fn. 4), 32 Fn. 4. Kritische bzw. klarstellende Argumente gegenüber solchen Beurteilungen bei Korioth, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, VVDStRL 62 (2003), 117 ff. 78 Nachw. bei Bartlsperger, a.a.O., 34 Fn. 11. 79 Lepsius (Fn. 17), 394 bzw. 372. Ein „erwachendes, genuin verfassungsrechtliches Interesse an Kelsen“ wird ab 1990 ausgemacht (ders., a.a.O., 371) und es wird eine KelsenRezeption als „voraussichtlich“ erwartet (ders., a.a.O., 394). 80 So die Nachw. in Fn. 77. 81 Lepsius (Fn. 17), 372 und 394.

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deutschen Denken über die Probleme des sozialen Lebens und dem Westeuropas und Amerikas“ gelten.82 Die im Nach- und Neukantianismus vollends vollzogene Abtrennung einer formalistischen, „juristischen“ Rechtsbetrachtung vom soziologischen Substrat des Rechts ist dem außerdeutschen Denken fremd und wohl auch noch bislang im Grunde fremd geblieben. Gerade der ethische und juristische Formalismus ist es, der in eine „geistesgeschichtliche Isolierung“ geführt hat.83 Aus Sicht einer materialen Verfassungskonzeption, wie sie für die Verfassungspraxis unter dem Grundgesetz bestimmend ist, gehört die normlogische Staats- und Rechtstheorie zur ideengeschichtlichen Vergangenheit der Staatsrechtslehre. 6. – Die normlogische Rechts- und Staatslehre führt aufgrund ihrer methodisch einheitlichen naturwissenschaftlichen Betrachtung auch der geistigen Wirklichkeit und damit aufgrund einer Betrachtung des Rechts als eines durchgängigen formalen Rechtserzeugungsprozesses und eines bloßen Produkts rechtssetzender Willensakte mit entsprechenden politischen Konsequenzen dazu, dass das Recht lediglich noch eine von seiner Faktizität abgehobene reine „Geltung“ beanspruchen kann, jeder Wirklichkeitserfahrung entzogen ist und damit allein seine Setzung zum Kriterium von Normativität wird. Die Folge ist eine relativistische Rechtswertbetrachtung, mit der sowohl jede ideengeschichtliche Anknüpfung an eine freiheitliche Vernunftbegründung des Rechts als auch jede Annahme einer Vermittlung von Wille und Vernunft aufgegeben ist. Der hieraus resultierende Dezisionismus des Rechts geht bei einer objektiven Beurteilung nur des politischen Ergebnisses anderen Positionen in der Staatsrechtslehre voraus, die von grundlegend gegensätzlichen, und zwar empirischen Voraussetzungen ihrer Staats- und Verfassungstheorie ausgehend einem verfassungsrechtlichen Wertdenken entweder mit einem lediglich organisatorischen, von Sinngebung freien, demokratische Sozialgestaltung frei ermöglichenden Staatsverständnis oder mit einer Doktrin des politischen Voluntarismus entgegentreten.84 Im Prinzip wird dabei in jedem Falle mehr oder weniger folgerichtig eine materiale, sinnbestimmte und auf Wertkonkretisierung angelegte Normativität der Verfassung, d. h. eine materiale Normbindung der Verfassungs- und Rechtssetzungsorgane verneint. In der Konsequenz jedoch handelt es sich bei solchen Grundlegungen der Staats- und Verfassungstheorie keineswegs um wertneutrale Positionen. Gerade wegen ihrer Wertindifferenz ermöglichen sie in der Verfassungs- und Rechtswirklichkeit unter jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen und unterschiedlichen Macht-

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E. Kaufmann (Fn. 32), 239. E. Kaufmann, a.a.O., Scheler (Fn. 52 – Die deutsche Philosophie der Gegenwart), 130. 84 Zum ersteren die Staatslehre Hellers: Ders., Staatslehre (1934), Fn. 7, ders., AöR 55 (1929), 321 ff., abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften, Zweiter Band, 1971, 249 ff.; dazu Lepsius (Fn. 17), 354/366 ff. m. Nachw. zu wesentlicher Heller-Lit. sowie weitere Nachw. bei Bartlsperger (Fn. 4), 33 Fn. 9. Letzteres bei C. Schmitt: Ders., Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), 3. Aufl. 1961, ders., Der Begriff des Politischen (1932), 1963; zu C. Schmitt bei Günther, Denken vom Staat her, 2004, 34 ff., zur C. Schmitt-Schule ders., a.a.O., 112 ff., 264 ff. und 309 ff. sowie ebenfalls die weiteren Nachw. bei Bartlsperger, a.a.O. 83

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konstellationen eine Bevorzugung bestimmter Interessenlagen.85 Sie geraten hiermit in einen Konflikt mit dem liberalen verfassungsstaatlichen Grundpostulat, dass die Rechtsordnung sich stets vor der individuellen Freiheit zu rechtfertigen, also eine Vermittlung von vernunftbegründeter Freiheit mit der Wirklichkeit zu leisten hat. Die hierfür notwendige normative Gewährleistung sichert der Verfassungsstaat nicht durch eine Wertindifferenz, sondern durch eine die individuelle Freiheit verwirklichende Wertordnung. Sie macht in der geistigen Substantiierung des Verfassungsstaates dessen seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts sich entwickelnde, nicht mehr in Herrschaftsverhältnissen konstruierbare und stattdessen auch nicht nur in Willensentscheidungen oder einer organisatorischen Wirkungseinheit zu sehende geschichtliche staatliche Realität aus.86 Das letztlich entscheidende Problem um das verfassungsrechtliche Wertdenken gilt aus der spezifischen Sicht der Staats- und Verfassungstheorie allein der Frage nach dem Verhältnis desselben zu der vernunftbegründeten und vernunftnotwendigen individuellen Freiheit. Zu Recht erfolgt deshalb die kritische Thematisierung des verfassungsrechtlichen Wertdenkens unter dem Grundgesetz in wesentlicher und nachdrücklicher Weise unter diesem letzteren liberalistischen Gesichtspunkt, soweit es sich dabei nicht auch wieder nur um eine Bemäntelung jener erwähnten, demokratietheoretisch formulierten politischen Motivationen handeln sollte. Man kann vom liberalistischen Argument gegen das verfassungsrechtliche Wertdenken sprechen.

III. Das liberalistische Argument 1. – Es ist die Kernaussage liberalistischer Kritik am rechtlichen Wertdenken, dass dieses nicht zum Schutze, sondern zu einer Bedrohung sittlicher Freiheit durch das Recht führe, dass es mit anderen Worten die Trennung von Recht und Moralität widerrufe sowie mit der hiervon ausgehenden Moralisierung des Rechts dessen Rationalität und dessen Charakter als Freiheit gewährleistender Ordnung aufgebe.87 Er85 Luf (Fn. 71), 127 (136 f.) in Bezug auf die in der normlogischen Staats- und Rechtstheorie Kelsens und spezifisch mit Blick auf deren Grundlegung in einer nur instrumental funktionellen, aber eben deshalb auch keineswegs wertneutralen Grundnorm. 86 Einer grundlegend anderen Ansicht folgt, unter Berufung auf Kelsen (Fn. 73 – 75) sowie angeblich auf Heller (Fn. 84), die Forderung nach einer Staatsrechtslehre auf der Grundlage einer bloßen „Theorie der Herrschaftsformen“ sowie ohne Staatsbegriff (Lepsius, EuGRZ 2004, 370/376 ff.). Danach wird ein staatsrechtlich brauchbarer Staatsbegriff für nicht begründbar gehalten. Vielmehr werden Staatsbegriff und Demokratie als Gegensätze betrachtet; alles soll demokratisch entschieden werden, ohne Rücksicht auf Staat und Verfassung als Sinnträgern, in denen sich der demokratische Prozess zu realisieren hätte (a.a.O., 373). 87 Grundlegend und dezidiert vertreten wird das liberalistische Argument gegen das rechtliche Wertdenken in den betreffenden Arbeiten von Böckenförde, die dessen Werk durchziehen: Ders., Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, 92 ff., ders., Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs (1969), in: ders., a.a.O., 263 ff., ders., Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat (1972), in: ders., a.a.O., 209 ff., ders., Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 1976, 2089 ff., ders., Der Staat als sittlicher Staat, 1978, ders.,

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kennbar erklärt sich eine solche rechtliche Beurteilung aus einer philosophischen, spezifisch ethischen Betrachtung und Fragestellung zum Wertdenken88. Auf der Grundlage von der seit der Kantischen Vernunftkritik zugrundezulegenden Annahme von vernunftnotwendiger Freiheit und vernunftgeleiteter Moralität stellt sich die Frage nach dem Verhältnis bzw. dem Zusammenhang von Freiheit und Wert. Dazu lässt sich, anders als noch in der Kantischen Vorstellung eines bloß negativen Freiheitsverständnisses, zwar davon ausgehen, dass sittliche Vernunft sich durchaus positiv an bestimmten, apriorisch begriffenen Werten orientiert, sei es dass diese in individuellen Vorstellungen, als objektiv vorgegeben oder als gesellschaftlich anerkannt gedacht werden.89 Aber hiervon bleibt unberührt, dass die vernunftbegründete Willensentscheidung jedenfalls autonom geschieht, also zu Wertvorstellungen Distanz hält, sie gegebenenfalls kritisiert und außer Acht lässt, d. h. in Bezug auf materiale Werte an einer transzendentalen Begriffsbestimmung und an individueller Freiheit festhält. Werte sind danach in spezifisch ethischer Sicht jedenfalls der individuellen sittlichen Freiheit unterworfen. Angesichts dieses individualistischen Charakters von vernunftmäßiger Moralität würde sich die Annahme einer dabei bindenden objektiven oder anerkannten Wertauffassung zu Recht der Kritik aussetzen, dass es sich insofern nur um ein irrationales, emotionales und intuitives Wertfühlen handeln könnte, das lediglich auf einem zeitigen Wertdenken beruhen würde und deshalb zu einem „Positivismus der Tageswertungen“90 führen müsste. 2. – An jene spezifisch philosophische Kritik und ethische Beurteilung des Wertdenkens schließt sich eine ebenso spezifische rechtsphilosophische Thematik an. Sie gilt der weiteren, ganz anderen Fragestellung, welche Bedeutung das Wertdenken, um in den begrifflichen Kategorien der insofern zugrundeliegenden Kantischen praktischen Philosophie zu bleiben, für den Bereich der Legalität hat.91 Indessen weist, wie zur Kantischen praktischen Philosophie schon vermerkt, die Vernunftkritik individualistischer Moral hinsichtlich der daran anschließenden Fragen eines praktischen Wertdenkens in Recht und Staat eine Lücke auf. Gleichwohl lassen sich dazu spezifische rechtsphilosophische Konsequenzen annehmen. Die Idee der Freiheit verlangt Der Staat als Organismus (1978), in: ders., a.a.O., 263 ff., ders., Freiheit und Recht, Freiheit und Staat (1985), in: ders., a.a.O., 42 ff., ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, ARSP-Beiheft 37 (1990), 33 ff. und in: ders., a.a.O., 67 ff. 88 Philosophisch und rechtsphilosophisch grundlegend Luf (Fn. 71), freilich ohne weiterführende Fragestellung und Folgerung zum rechtlichen, rechtsmethodischen Wertdenken. 89 Fn. 71. 90 Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs (Fn. 87), 167 sowie zur Kritik eines irrationalen Wertdenkens, a.a.O., 164 ff. und ders., Zur Kritik des Wertdenkens (Fn. 87), 84 ff.; dazu auch das kritische Wort von der „Tyrannei der Werte“ (C. Schmitt, „Die Tyrannei der Werte“, Privatdruck 1960 sowie in: Säkularisation und Utopie, Ebracher Studien 1967, 57 ff.); das Wort ist entnommen aus N. Hartmann (Ethik – Fn. 2), 574 ff.; siehe schon bei Bartlsperger (Fn. 4), 39. Auch von einem „Ansatz zu einem Verfassungstotalitarismus“ wird gesprochen (Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaates, Fn. 86, 167). 91 Dazu Luf (Fn. 71), 141 ff.; zur Ideengeschichte des Begriffs Rechtsphilosophie Vesting (Fn. 46), Rn. 24 ff.

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auch für die Bereiche von Recht und Staat die Anerkennung des anderen Menschen als einer sittlich-autonomen Person und darum eine wechselseitige Garantie für die Entfaltungsbedingungen von jedermanns Freiheit.92 Dies besagt, dass in der positiven Rechtssetzung und in deren weiterer Rechtsfortbildung zwar durchaus Wertungspunkte und Wertentscheidungen eine Konkretisierung erfahren, dass aber die betreffenden Wertprinzipien weder als verpflichtende Vorgaben noch als Ergebnisse beliebiger Satzungen fungieren können.93 Vielmehr muss für das betreffende Wertdenken bei der Rechtssetzung und Rechtskonkretisierung die „integrale Funktion der Freiheitsidee“ leitend sein, d. h. eine Befragung und Kritik im Hinblick auf die Ermöglichung von Freiheit sowie eine entsprechende Verständigung verpflichtend bleiben.94 3. – Unter beiden vorstehend erörterten Gesichtspunkten, der ethischen Beurteilung zum Verhältnis von individueller Moral und Wertdenken sowie der rechtsphilosophischen Frage nach der Legitimierbarkeit von Wertauffassungen in einer die sittlich-autonome, freie Person gewährleistenden sowie unter diesem Bezugspunkt der Gerechtigkeit verpflichteten Rechtsordnung, kann man von einer liberalistischen Kritik zur Wertbegründung des Rechts sprechen. Aber schließlich und zum Dritten hat die liberalistische Thematisierung des Wertdenkens im Recht sich noch einer unter ganz anderen rechtstheoretischen Voraussetzungen stehenden Perspektive zuzuwenden. Diese besteht in der Frage, ob die liberalistische Kritik an der Wertbegründung des Rechts auch ein Wertdenken in der rechtswissenschaftlichen und rechtspraktischen Methode, also auch die gegenständliche Frage um ein Wertdenken bei der Interpretation, Konkretisierung und Anwendung positiven Verfassungsrechts betreffen kann.95 4. – Die rechtsmethodische Perspektive zum Wertdenken im Recht hat es also weder mit dem philosophischen Erkenntnisproblem materialer Wertannahmen noch mit der rechtsphilosophischen Problematik einer Wertbegründung des Rechts zu tun. Sie richtet sich nicht auf die vernunftkritische Legitimierbarkeit materialer Wertauffassungen in einer vernunftnotwendig freiheitlichen Rechtsordnung, geschweige denn dass sie etwas mit dem Verhältnis legaler materialer Wertvorgaben und autonomer sittlicher Freiheit zu tun hätte. Vielmehr geht es insofern allein um die Seinsweise von „Legalität“ als geschichtlicher Realität, von sinn- und wertbestimmter Normativität des Rechts sowie um die unter einer solchen rechtstheoretischen Annahme bestehenden spezifischen Erkenntnisbedingungen von Rechtswissenschaft und praktischer Rechtserkenntnis. Es wäre eine thematische Verfehlung, eine Verwechslung von „Moralität“ und „Legalität“, ein fehlgehendes „In-eins-Set92

Luf, a.a.O., 145 f. Eine die transzendentale Wertlehre überwindende und vermittelnde rechtsphilosophische Begründung von Wertprinzipien wäre ein Rückgriff auf die gesellschaftliche Anerkennung von Werten, ein herrschendes Rechtsethos (so Zippelius, Wertprobleme im System der Grundrechte, 1962, 112 ff.); dazu jedoch Luf, a.a.O., 143 f. 94 Luf, a.a.O., 145 f. 95 Insofern zur Auslegung des Grundgesetzes unter dem Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsrecht und politischer Wirklichkeit Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), 7 ff. (14 ff.). 93

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zen philosophischen und verfassungswissenschaftlichen Wertdenkens“,96 wenn der Individualismus und Formalismus vernunftbegründeter Moralität auf den Bereich der vernunftnotwendigen positiven Rechtsordnung übertragen würde. Für diese letztere bestehen, was das Verhältnis von individueller Freiheit und materialer Wertordnung angeht, gänzlich andere kategoriale Voraussetzungen. Es ist das geschichtliche Auftreten der Verfassungsstaatlichkeit, das begreiflich macht, dass Staat und Recht eine von herkömmlichen oder titulierten Herrschaftsverhältnissen unterschiedene eigenständige sowie nicht mehr mit idealen Staatsvertragskonstruktionen erklärbare geschichtliche Wirklichkeit von Organisations- und Verfahrensstrukturen sowie vor allem von geistigen Objektivationen – und das bedeutet von real gewordenen Werthaltungen – darstellen. Die Idee vernunftmäßiger individueller Freiheit erfährt hierbei ihre nicht umgehbare Vermittlung mit der staatlichen und rechtlichen Wirklichkeit.97 Auch in dem Zusammenhang würde die Annahme einer rein subjektiven, individualistischen Rationalität die phänomenologische Intersubjektivität der Vernunft verkennen.98 Daher ist es diese Vermittlung von Vernunft und Wirklichkeit, die Vermittlung von subjektiver Freiheit und objektiver Freiheit des Individuums in der Gemeinschaft, die im Grunde den Verfassungsstaat ausmacht.99 Für diesen kann es keinen Formalismus im Verfassungsrecht, insbesondere keinen Formalismus in den Grundrechten geben; es handelt sich um keinen antiliberalen Staat, wenn dieser individuelle Freiheit und deren Verwirklichungsbedingungen in einer verfassungsrechtlichen Wertordnung vereinigt. Eine so verstandene verfassungsrechtliche Wertordnung hat nichts zu tun mit ihr möglicherweise unterstellten wertphilosophischen Annahmen von an sich seienden und deshalb mit individueller Freiheit kategorial kollidierenden Werten. Vielmehr beruht verfassungsrechtliches Wertdenken in rechtsmethodischer Hinsicht auf nichts anderem als auf rechtswissenschaftlichem bzw. rechtspraktischem Erfahrungswissen angesichts einer geschichtlich realen materialen Verfassungsordnung. Eine besondere Prägung weist der betreffende Erkenntnisprozess lediglich dadurch auf, dass für verfassungsrechtliche Wertprinzipien die spezifischen Erfahrungsbedingungen geistiger Objektivationen bestehen, dass diese also nach einer spezifisch „geisteswissenschaftlichen Methode“ verlangen. Das liberalistische Argument gegen verfassungsrechtliches Wertdenken vermag jedenfalls keinen rechtsmethodischen, staats- und verfassungstheoretisch begründbaren Einwand

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Dolderer (Fn. 8), 132. Daher und insofern zur Unterscheidung von philosophischem und rechtswissenschaftlichem Wertdenken Dolderer a.a.O., 132 ff.; Erkenntnisobjekt der Staatsrechtslehre sind nicht Werte im philosophischen Sinne, sondern verbindliche Entscheidungen des Verfassungsgebers (ders., a.a.O., 134). Zur Differenzierung von sittlicher und rechtlicher Wertverwirklichung auch Luf (Fn. 71), 141. 98 Fn. 72. 99 Rechtsphilosophischen Ausdruck findet dies in der Hegelschen Rechtsphilosophie, indem diese die Ethik in die Wirklichkeit von Recht und Politik zurückholt (Ritter, Fn. 64, 307 f.). 97

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gegen dieses zu liefern.100 Erkennbar sowie mehr oder weniger erklärtermaßen verfolgt das liberalistische Argument eine politische Motivation, die in ihren Beurteilungen und Annahmen allerdings nicht weniger an der geschichtlichen Idee und Realität des Verfassungsstaates vorbeiführt. IV. Das politische Argument Die mit einem ideengeschichtlich vernunftkritischen Freiheitsargument vorgetragene Beurteilung verfassungsrechtlichen Wertdenkens als antiliberal, antiparlamentarisch und undemokratisch verfährt nicht anders als alle die bekannten „Politizismen“, die zwischenzeitlich, soweit ersichtlich, schon jeder Staats- und Verfassungstheorie, einschließlich historischer und ideengeschichtlicher Retrospektiven, eine politische Bewertung zuteil werden lassen.101 Dabei ist es regelmäßig die jeweilige eigene politische Position, aus der die meist erfolgenden Unwerturteile abgegeben werden. Eine solche Relativität der Beurteilungen102 schließt allerdings einen objektiven Erkenntniswert, die Gewinnung objektiver politischer Erkenntnisse keineswegs aus.103 So ist es auch objektiv durchaus zutreffend, dass die zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts aufgekommene Idee des Verfassungsstaates und deren anschließende Verwirklichung ein Politikum darstellen.104 Das Politikum des Verfassungsstaates besteht darin, dass, in einer staatstheoretischen retrospektiven Sicht, die Organisationsstrukturen und Verfahrensvorgänge sowie die Entscheidungen und Aktivitäten des Staates in ihrer Legitimation und ihrer staatsrechtlichen Konstruktion keinen herrschaftlichen Vorstellungen und keiner förmlichen Staatsvertragsidee mehr folgen können und dass, im Hinblick auf jeweils aktuelle Situationen, ein verfassungsrechtlich ungebundener Dezisionismus oder Voluntarismus der Verfassungsinstitutionen sowie der rechtsetzenden, administrativen und judikativen Staatsorgane ausgeschlossen ist, dass vielmehr die staatsrechtliche Ordnung eine materiale Normativität beansprucht. Das liberalistische Argument vermag hierzu zutreffend und ganz wesentlich das vorstehend angesprochene rechtsphilosophische Postulat zur Geltung zu bringen, 100

Fundamentale Kritik erfährt das liberalistische Argument gegen verfassungsrechtliches Wertdenken auch von Seiten der Diskurstheorie (Habermas, Faktizität und Geltung, 4. Aufl. 1994, 304 ff.). Danach wird im liberalen Rechtsparadigma staatsbezogener Abwehrrechte zur Gewährleistung privater Autonomie gegenüber dem Staat eine ideengeschichtlich sekundäre Verkürzung des individualistischen Freiheitsbegriffs sowie der damit verbundenen Kompatibilität individueller Freiheiten im ursprünglichen intersubjektiven Sinne von Kant gesehen. Diese Ausblendung der intersubjektiven, primär objektivrechtlichen Gehalte des Freiheitsbegriffs gilt als Folge der Verrechtlichung von Macht im Verfassungsstaat. 101 Köhnke (Fn. 12), Haverkate (Fn. 12), 12 ff., 19 ff. und 28 ff. sowie Nachw. bei Bartlsperger (Fn. 4), 43 Fn. 37 und am Beispiel der Integrationslehre Rudolf Smends a.a.O., 34 Fn. 11; zu Staatstheorie bzw. Staatsrechtslehre und Politik Leibholz, Blätter für deutsche Philosophie 5 (1931/32), 181, Voßkuhle, DV-Beiheft 7 (2007), 135 ff. 102 Zum wechselseitigen Ideologieverdacht Haverkate, a.a.O., 23. 103 Fechner, ARSP-Beiheft 37 (1990), 199 (215). 104 Bartlsperger (Fn. 4), 48 f.

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dass verfassungsrechtliche Normativität sich in ihren Wertprinzipien und in ihren der Gerechtigkeit verpflichteten Entscheidungen an die Ermöglichung von Freiheit sowie an eine entsprechende Verständigung gebunden zu sehen hat. Ebenso gehört es aber zur Idee von Verfassungsstaatlichkeit, dass die staatsrechtliche Ordnung überhaupt eine den bloßen Dezisionismus oder Voluntarismus ausschließende materiale Normativität zu beanspruchen hat. Denn die letzteren würden die vernunftgebotene individuelle Freiheit und das mit ihr verbundene vernunftkritische Verständigungsgebot, d. h. die „integrale Funktion der Freiheitsidee“,105 allemal stärker gefährden als es eine der verfassungsstaatlichen Freiheitsidee verpflichtete und rational konkretisierte verfassungsrechtliche Wertordnung vernünftigerweise zu tun vermag. Ersichtlich ist die Verfassungsstaatlichkeit in ihrem Unterschied zu bloßen individualistischen Staatskonstruktionen und Verfassungslehren und in der ihr zugrundeliegenden Vorstellung einer Vermittlung von vernunftkritischer Freiheitsidee mit der Wirklichkeit ein Politikum an sich. Eine so verstandene verfassungsstaatliche Staatstheorie begreift den Staat als eine objektive und eigenständige geschichtliche Realität, die nicht nur in einer Herrschafts- bzw. Organisationseinheit, sondern auch in entsprechenden geistigen Objektivationen und Wertprinzipien besteht. Infolgedessen stellt sich die staatsrechtliche Ordnung im Verfassungsstaat als eine objektive geistige, auf Sinnverwirklichung angelegte geschichtliche Realität dar, die deshalb materiale Normativität beansprucht und eine entsprechende „geisteswissenschaftliche“ staatsrechtliche Methode verlangt. Ideengeschichtlich vermochte sich dieses staatsund verfassungstheoretische Phänomen des Verfassungsstaates zunächst in einer Grundidee sogenannter „organischer“ Staatstheorien Ausdruck zu verschaffen.106 Zwischen jenen Organismustheorien und einer in der Staatsrechtslehre entsprechend präzisierten Staats- und Verfassungstheorie des Verfassungsstaates liegen allerdings noch Entwicklungsschritte. Wenigstens einige wesentliche davon können die Problemsituation des verfassungsrechtlichen Wertdenkens noch weiter verdeutlichen.

V. Der Weg zu einer Staatstheorie und materialen Verfassungstheorie des Verfassungsstaates 1. – Wie schon bemerkt, war das Auftreten der Idee des Verfassungsstaates und deren beginnende Verwirklichung in Deutschland epochal zusammengefallen mit den grundlegenden Veränderungen des wissenschaftlichen Denkens, welche die Kantische Kritik gebracht hatte und Ausgangspunkt künftigen Denkens werden sollten, wenn man einmal vom Historismus und von der Sonderentwicklung der zivilistischen Rechtswissenschaft unter der beherrschenden Stellung der historischen Rechtsschule absieht. Die Staatsrechtlehre hatte sich in jener Situation im Hinblick auf die neue Idee und Bewegung des Verfassungsstaates vor ein gleiches Problem gestellt gesehen wie das allgemeine, auf praktisches Handeln gerichtete Geistesleben jener Zeit. Denn 105 106

Fn. 94. Nachw. Fn. 3.

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die Kantische praktische Philosophie hatte die Frage, wie schon gesagt, ungelöst gelassen, wie die in ihrer Kritik begründete individuelle praktische Vernunft mit der Wirklichkeit, wie sich individualistische Ethik mit der verfassungsstaatlichen Realität objektiver eigenständiger Staatlichkeit vermitteln, wie sich also der Verfassungsstaat als Wirklichkeit konkreter Vernunft begreifen lässt.107 Es ist auch die Frage, die im Kern das Problem der Vereinbarkeit von konkretem verfassungsrechtlichem Wertdenken mit vernunftgebotener individueller Freiheit betrifft. Die Frage ist bekanntlich in ihrer prinzipiellen Problemstellung einer Vermittlung von Vernunft und Wirklichkeit das zentrale Thema in der Hegelschen Philosophie geworden, auch und gerade für die Bereiche von Staat und Recht.108 Die Hegelsche Philosophie schien in ihrer „Phänomenologie des Geistes“ mit der Seinskategorie sogenannten objektiven Geistes, d. h. von geschichtlich realen geistigen Objektivationen, eine rationale Erklärung für die konkrete Wirklichkeit von Staat und Recht, also gerade auch für den Verfassungsstaat als eigenständige politische Existenzform und geschichtliche Wirklichkeit objektiver Sinngehalte und Wertprinzipien gefunden zu haben.109 Ein unmittelbarer und maßgeblicher bzw. nachhaltiger Zugang und Einfluss auf die Staatsrechtslehre allerdings ist der Hegelschen Geistesphilosophie seinerzeit versagt geblieben. Eine mögliche Erklärung hierfür kann in der gegenständlich nicht weiter zu erörternden Problematik gesehen werden, welche die Hegelsche Kategorie einer objektiven geistigen Wirklichkeit im Hinblick auf idealistische Implikationen aufwerfen kann.110 Es sind indessen andere handgreifliche Gründe gewesen, warum die Hegelsche Philosophie in der Epoche sich entwickelnder 107

Zu diesem grundsätzlichen Problem der Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert E. Kaufmann (Fn. 32), 176/211 f., 219 und insofern zu Hegels Rechtsphilosophie ders., a.a.O., 285 ff.; ferner Ritter, Auseinandersetzung mit der Kantischen Ethik (1966), in: ders., Metaphysik und Politik, 2003, 281 (303 ff. und 307 ff.). 108 Zur Hegelschen Rechts- und Staatslehre, vor allem im Zusammenhang mit der betreffenden „Phänomenologie des Geistes“ N. Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus, II. Teil (Hegel), 1929, 339 ff., Häfelin (Fn. 3), 90 ff., Rosenzweig (Fn. 5), Erster Band, 88 ff. und Zweiter Band, 106 f. und 129 ff., Riedel, Objektiver Geist und praktische Philosophie (1968), in: ders., Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, 1969, 37, Stolleis (Fn. 1), 133 ff., Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. 1981, 132 ff. und 144 f., ders., Der Staat 21 (1982), 481 ff., Bourgeois, Der Begriff des Staates, in: Siep (Hg.), G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 217 (229 ff.), Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, 2000, 14 ff., 22 und 25 ff., Fulda, G. W. F. Hegel, 2003, 196 ff. und 221 ff. 109 Brie, Der Volksgeist bei Hegel und in der historischen Rechtsschule, 1909, 16 ff., Lask (Fn. 52), 334 ff., N. Hartmann, a.a.O., 299 ff. und 350 ff., Wenke, Hegels Theorie des objektiven Geistes, 1927, insb. 82 ff., Moog, Hegel und die Hegelsche Schule, 1930, 289 f. und 310 ff., E. Kaufmann, Hegels Rechtsphilosophie (1932), in: ders., Gesammelte Schriften, Band III, 1960, 285 ff., Rosenzweig, a.a.O., Erster Band, 209 ff. und 304 ff., Siep, a.a.O., 145 f. und 173 ff., Emundts/Horstmann, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 2002, 94 ff. Im Unterschied zu Kant spezifisch zur Geschichtlichkeit des Geistes bei Hegel Binder (Fn. 54), 49 ff. und 66 ff., Moog, a.a.O., 289 ff., Marquard, Philosophisches Jahrbuch 72 (1964), 103 (109 ff.) und 116 ff., Wieacker (Fn. 41), 414 und 573, Emundts/Horstmann, a.a.O., 9 f. 110 Dulckeit (Fn. 56), 14, Litt, Hegel, 1961, 95 ff., Siep (Fn. 108), 17 ff., Fulda (Fn. 108), 68 ff.

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Verfassungsstaatlichkeit und über das neunzehnte Jahrhundert hin keinen maßgeblichen Einfluss auf die Staatsrechtslehre auszuüben oder gar eine Staats- und Verfassungstheorie des Verfassungsstaates zu begründen vermochte. Zum einen mag eine Rolle gespielt haben, dass die bekannte Hegelsche Gleichsetzung von aller Vernunft mit aller Wirklichkeit in der unverzüglich einsetzenden Hegel-Interpretation zu dem sogleich und immer wirkungsträchtig gebliebenen Vorwurf einer Rechtfertigung seinerzeitiger politischer Reaktion und Restauration des Staates geführt hatte.111 Dass es sich hierbei um eine Missdeutung handeln konnte, die den Hegelschen Begriff des „wahrhaft Wirklichen“ fälschlich mit dem einfach „Tatsächlichen“ gleichsetzte,112 vermochte an der betreffenden zeitgeschichtlichen politischen Einschätzung Hegels nichts mehr zu ändern. Hinzugekommen war indessen als jedenfalls allgemein entscheidender Umstand, dass die zunächst verbreitete Wirkung Hegelscher Philosophie und Staatslehre durch den geistesgeschichtlichen Wandel einer verbreiteten, jedenfalls maßgeblichen Zuwendung zu einer umfassenden naturwissenschaftlichen Weltbetrachtung ein baldiges Ende gefunden hatte. Für die Staatsrechtlehre waren zudem besondere Gründe und politische Motivationen hinzugekommen, die es verhindert haben, dass ausgehend von der Hegelschen Staatsund Rechtslehre ein der Verfassungsstaatlichkeit entsprechender organischer Staatsbegriff und eine entsprechende materiale Verfassungstheorie gerade in jener epochalen staatstheoretischen und methodischen Gründungsphase hätten bestimmend werden können. Denn in jener Situation der Staatsrechtslehre um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war, wohl auch unter dem Einfluss der Hegelschen Staatsauffassung, die Vorstellung vom Staat als einem objektiven und eigenständigen, geschichtlich realen Organismus die offenbar durchaus grundlegend bestimmende.113 Methodisch folgerichtig hätte die Staatsrechtslehre von da an den Weg zu einer materialen Verfassungstheorie nehmen müssen. Es waren indessen nachweislich spezifische, und im Wesentlichen bekannte Gründe, die einen solchen Weg unterbrochen und im Gegenteil zu dem Formalismus des staatsrechtlichen Positivismus geführt haben. Im gegenständlichen Zusammenhang der Frage um das materiale Wertdenken im Verfassungsrecht hat man sie sich nochmals besonders und deutlich zu vergegenwärtigen. 2. – Nachdem innerhalb der Staatsrechtslehre seinerzeit die Erkenntnis geboren war, dass der Staat ein rechtlich eigenständiges Gemeinwesen und ein rechtliches Zu111 Dezidiert und wirkungsträchtig dieser Vorwurf bei Haym, Hegel und seine Zeit, 1857, 357 ff.; zu der bekannten Thematik in der Hegel-Lit.: Rosenzweig (Fn. 5), Erster Band, VII ff., Ritter (Fn. 52), 183 ff. und 234 ff., Riedel, Tradition und Revolution in Hegels „Philosophie des Rechts“ (1962), in: ders., Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, 1969, 107, Marquard, Philosophisches Jahrbuch 72 (1964), 103 (109), Ottmann, Individuum und Gemeinschaft bei Hegel, Band I, Hegel im Spiegel der Interpretationen, 1977, 1 ff., 224 ff., 261 ff. und 279 ff., Horstmann, Wahrheit aus dem Begriff – Eine Einführung in Hegel, 1990, 177 ff. und 243 f. 112 Brie (Fn. 109), 16, Binder (Fn. 54), 513, Ritter, a.a.O., 238 ff. und 241 f., Marquard, a.a.O., 103 ff., Schnädelbach, Die Verfassung der Freiheit, in: Siep (Hg.), Fn. 108, 123 ff. und 243. 113 Nachw. Fn. 45.

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rechnungssubjekt des überindividuellen Gesamtinteresses und damit eine „juristische Person“ darstellt,114 war auch der Zeitpunkt gekommen, für das Öffentliche Recht dessen grundlegende rechtskonstruktive Unterscheidung vom Privatrecht unter einem staatsrechtstheoretischen Gesichtspunkt klarzustellen. In einer von da an richtungweisenden und maßgeblichen Weise wurden denn nunmehr auch die im allgemeinen Staatsverhältnis bestehenden subjektiven Rechte als „öffentliche Rechte“ erkannt und es wurde in „Grundzügen eines Systems des deutschen Staatsrechts“ das Staatsrecht vom Privatrecht unterschieden.115 Das entscheidende rechtskonstruktive Kriterium hierfür war erklärtermaßen die Annahme von einem objektiven und eigenständigen, geschichtlich realen Organismus des Staates.116 Warum dabei aber letztlich keine spezifischen staatstheoretischen und rechtsmethodischen Folgerungen für die Staatsrechtslehre gezogen wurden,117 hatte seine Gründe allein in dem persönlichen rechtstheoretischen Hintergrund, aus dem jene neue Lehre vom Öffentlichen Recht erwachsen war, sowie in den zeitgeschichtlichen politischen Umständen bzw. maßgeblichen Motivationen jener konstitutionellen Epoche des Staatsrechts.

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Albrecht, Rezension über Maurenbrechers Grundzüge des heutigen deutschen Staatsrechts, Göttingische Gelehrte Anzeigen 1837, 1489 ff. und 1508 ff. (Neudruck 1962). Danach wird der Staat als souveräner Verband, unterschieden von anderen Verbänden, definiert (Quaritsch, Souveränität, 1970, 399 f.), als „Idee“ zur konstruktiven Grundlage des Staatsrechts, in einem rechtspositivistischen Sinne autonom gegenüber Politik und Ethik. Zur Rezeption in der „anorganischen“ Staatslehre einerseits und zur Negation einer Staatspersönlichkeit andererseits siehe bei Häfelin (Fn. 3), 124 ff., 131 ff., 142 ff. bzw. 355. Lit. zu Albrecht: Häfelin, a.a.O., 84 ff., Quaritsch, a.a.O., 493 ff. und 502 f., Wyduckel (Fn. 1), 229 ff., Stolleis (Fn. 1), 108 und 333, Pauly (Fn. 45), 77 ff. 115 Nachw. zu v. Gerber Fn. 47. Zu Staatsbegriff und Methode maßgeblich ders., Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts (1865), 3. Aufl. 1880; allerdings auch schon ders., Theilbarkeit deutscher Staatsgebiete, 1865 (siehe Pauly, a.a.O., 137 f.); methodisch auch ders., Ueber deutsche Rechtswissenschaft überhaupt, Gesammelte Juristische Abhandlungen, 2. Aufl. 1878. Die Lit. zu v. Gerber ist wegen dessen wirkungsgeschichtlicher und zeitgeschichtlich politischer Bedeutung umfangreich: Fricker, ZgStW 25 (1869), 30 ff., O. v. Gierke, ZgStW 30 (1874), 153 ff., Rosin, HirtsA 1883, 265 (296 ff.), E. Kaufmann (Fn. 3), 63 und 66, Wieacker (Fn. 41), 404 f., C. Schmitt, ZgStW 100 (1940), 5/17 ff., Häfelin, a.a.O., 131 ff., v. Oertzen (Fn. 47), 183 ff., Bärsch, Der Gerber-Labandsche Positivismus, in: Sattler (Hg.), Staat und Recht, 1972, 43 ff., Tripp (Fn. 46), 212 ff., 239 ff. und 249 ff., Grimm, Die deutsche Staatsrechtslehre zwischen 1750 und 1945 (1984), in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, 291 (300 ff.), Wyduckel (Fn. 1), 258 f. und 275 f., Stolleis, a.a.O., 331 ff., Pauly, a.a.O., 25 ff., 107 ff., 115 ff., 137 ff., 149 ff. und 159 ff., Wilhelm (Fn. 46), 85 ff., 129 ff., 135 ff., 143 ff. und 159 f. 116 Häfelin, a.a.O., 131 ff., v. Oertzen, a.a.O., 183/195 f., Bärsch, a.a.O., 51 f. und 64 ff., Wilhelm, a.a.O., 149 f.; zu organischen Staatstheorien auch schon vor v. Gerber siehe bei Pauly, a.a.O., 130 ff. 117 Vielmehr in rechtskonstruktiver und methodischer Hinsicht ein staatsrechtlicher Formalismus als „Zweite Seite“ des Staatsbegriffs und Ausgangspunkt für den staatsrechtlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts; Nachw. Fn. 47 sowie v. Oertzen, a.a.O., 183, 185 ff., 195 ff. und 200 ff., Grimm (Fn. 46), 347 (357 ff.), Tripp (Fn. 46), 239 ff., Pauly, a.a.O., 140 ff. und 146 ff., Wilhelm, a.a.O., 91 ff. und 135 ff.

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Was den ersteren der beiden genannten Umstände, den persönlichen Rezeptionshintergrund, angeht, so war jenes neue rechtskonstruktive Konzept vom Öffentlichen Recht bzw. vom Staatsrecht auf dem Boden der zivilrechtlichen Begriffsjurisprudenz entstanden, die den rechtskonstruktiven Ausgangs- und Ansatzpunkt ihres logischsystematischen Rechtdenkens in der seinerzeit zivilrechtlich bestimmenden Willenstheorie gesehen hatte und für die aus diesem Grunde der Weg zu einer organischen Staatsbetrachtung versperrt war.118 Zum anderen und zum zweiten sowie in rechtskonstruktivem Zusammenhang damit war bestimmend, dass es aus zeitgeschichtlich politischen Umständen und Motiven ausgeschlossen erscheinen konnte, letztlich entscheidend einen organischen Staatsbegriff an die Stelle einer monarchisch herrschaftlichen Staatsauffassung zu setzen.119 Dies hat dazu geführt, dass die der Verfassungsstaatlichkeit entsprechende organische Staatsvorstellung zwar, wie angeführt, für die rechtskonstruktive Abgrenzung und Unterscheidung des Öffentlichen Rechts vom Privatrecht genutzt wurde, dass sie aber letztlich den Herrschaftsbegriff als rechtskonstruktiver Grundlage der Staatsrechtslehre nicht zu ersetzen vermochte. Auf diese Weise ist es auch bei dieser Gelegenheit nicht gelungen, für den staatsrechtlichen Begriff des Konstitutionalismus eine klare Entscheidung zwischen den Alternativen eines organischen oder eines herrschaftlich-monarchischen Staatsbegriffs zu treffen.120 Es war somit letztlich die über das neunzehnte Jahrhundert hin staatsrechtlich ungeklärt gebliebene Situation des Konstitutionalismus, die zum staatsrechtlichen Positivismus geführt, die Tradition einer formalistischen Staatsrechtslehre be118

Zum wissenschaftlichen Herkommen v. Gerbers aus der zivilistischen Begriffsjurisprudenz sowie zur methodischen Rezeption derselben, auch zum damaligen kongenialen Zusammenwirken mit v. Ihering die Nachw. in Fn. 47. Ferner Rosin, HirtsA 1883, 265/296 ff. und 300, C. Schmitt, ZStGW 100 (1940), 5 (17 ff.), v. Oertzen (Fn. 47), 183 (197 f.), Wieacker (Fn. 41), 404 f. und 431, Bärsch (Fn. 115), 50 f. und 63 ff., Tripp, a.a.O., 212 ff. und 249 ff., Pauly, a.a.O., 159 f., Wilhelm, a.a.O., 146 ff., Jestaedt, „Öffentliches Recht“ als wissenschaftliche Disziplin, in: ders. (Hg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 207, 241/248. Zur Anknüpfung an die zivilistische Willenstheorie ausdrücklich v. Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts (Fn. 47), 19 ff., 220 ff. und 232. Zur insofern folgerichtigen Annahme einer staatsrechtlichen Herrschaftstheorie ders., a.a.O., 21. Zum darin liegenden Widerspruch mit der grundlegenden Annahme eines organischen Staatsbegriffs Häfelin (Fn. 3), 121 f. unter Hinweis auf Fricker, ZgStW 25 (1869), 30 (41). 119 Zur entscheidenden Behauptung des monarchischen Prinzips v. Gerber, Über öffentliche Rechte, 1852, 15 ff., 27 und 39 f. sowie ders., a.a.O., 77 ff.; dazu E. Kaufmann (Fn. 3), 63 und 66, Bärsch, a.a.O., 66 ff., Pauly, a.a.O., 25 ff., Wilhelm, a.a.O., 155 f. und 159. Zur politischen Motivation v. Gerbers und zu seiner Kritik an der liberalen und romantischen Bewegung, namentlich an der Verfassungsbewegung des Vormärz sowie an der zeitgeschichtlich liberalen „philosophischen“ Staatsrechtslehre siehe insb. bei Wilhelm, a.a.O., 70 ff. (politische Instrumentalisierung der Begriffsjurisprudenz), 137 f. und 140 jeweils mit originalen Fundstellen; bekannt das kritische Wort v. Gerbers vom „Vorspiel im philosophischen Himmel“ (ders., a.a.O., 238). Ferner dazu v. Oertzen (Fn. 47), 183/185 ff., Grimm (Fn. 115), 347 (357 ff.), Bärsch, a.a.O., 43 (56 ff.), 62 ff. und 70 f., Pauly, a.a.O., 30 ff. 120 Zur dualistischen Struktur und Legitimationsgrundlage des deutschen Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert Quaritsch (Fn. 114), 487 ff. und 502 ff., Häfelin (Fn. 3), 87 f., Wahl (Fn. 1), Rn. 47 und 51 ff., Pauly, a.a.O., 151 ff. sowie im Zusammenhang mit der staatsrechtlichen Organismustheorie E. Kaufmann, a.a.O., 46 (50 ff.).

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gründet und den Weg zu einer Staatstheorie des Verfassungsstaates sowie einer materialen Verfassungstheorie unterbrochen hat. 3. – Danach musste ein grundlegend neuer staatstheoretischer Ansatz unternommen werden, um das ursprüngliche Auftreten der Verfassungsstaatlichkeit als objektiver und eigenständiger Wirklichkeit des Staates dieses Mal unter günstigeren Voraussetzungen wieder aufzugreifen. Auf die Bedeutung, die hierbei die Integrationslehre neben anderen Beiträgen der sogenannten geisteswissenschaftlichen Richtung innerhalb der Weimarer Staatsrechtslehre beanspruchen kann, wurde schon hingewiesen.121 Allerdings war auch auf deren Begründungsschwächen aufmerksam zu machen, die man in ihrer spezifisch kultursoziologischen und darum auch als Psychologismus verdächtigten Grundlegung des angenommenen staatlichen Integrationsvorganges ausmachen mag. Aber jener in seiner Intention zutreffende Ansatz zu einer Staatstheorie und materialen Verfassungstheorie des Verfassungsstaates entspricht wesentlich der ideengeschichtlichen Entwicklung, die sich seit der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert mit einer neuen phänomenologischen und ontologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften vollzogen hat.122 In deren aktuell gebliebener Wirkungsgeschichte kann der ideelle Hintergrund gesehen werden, aus dem sich das verfassungsstaatliche Selbstverständnis des Grundgesetzes als einer materialen, auf Sinnverwirklichung angelegten und auf Wertprinzipien beruhenden normativen Verfassungsordnung erklären lässt.123 Man hat sich dies nur zu vergegenwärtigen. 4. – Mit einer phänomenologischen Vorgehensweise vermochte das Denken sich sowohl vom transzendentalphilosophischen Idealismus der Kantischen Kritik als auch von einem angenommen spekulativen idealistischen Verständnis der Hegelschen Philosophie zu distanzieren und jedenfalls einem geisteswissenschaftlichen Formalismus entgegenzutreten. Gemäß dem grundsätzlichen Motto „Zurück zu den Sachen“ geht sie für den Erkenntnisprozess von der Annahme aus, dass die Dinge als Erscheinung im Bewusstsein des anschauenden Subjekts konstituiert werden.124 Phänomenologie versteht sich danach in ihrer fortgeschrittenen Entwicklung und im Ergebnis zwar auch als ein transzendentaler Vorgang. Aber die betreffende 121

Oben unter I.3. Zur Phänomenologie, insb. zu deren transzendentalem Verständnis in der zweiten Werkphase von Husserl die Nachw. in Fn. 72 sowie Höffe, (Fn. 51 – Immanuel Kant), 304 f.; zur Aufnahme und Entwicklung von Husserls Phänomenologie durch Scheler siehe bei dems. (Fn. 37), insb. 359 ff. sowie bei Good, Max Scheler. Eine Einführung, 1988 und Lembeck (Fn. 72). Zur neuen, d. h. nachidealistischen Ontologie im Werk von N. Hartmann, insb. was die Seiensweise geschichtlich realen objektiven Geistes und damit die grundlegende Bedeutung für eine entsprechende ontologisch begründete geisteswissenschaftliche Methode angeht, Nachw. in Fn. 5. 123 Oben unter I.2 m. Fn. 17 – 20. 124 Scheler (Fn. 32), 359 ff., ders. (Fn. 52), 153, Good (Fn. 122), 37 ff., 63 ff. und 72 ff.; speziell zu Husserls Begriff der „Konstitution“ bzw. „Konstituierung“ von Gegenständen bzw. Erscheinungen im Bewusstsein siehe bei Zahavi (Fn. 72), 76 ff. 122

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Apriorität im Erkennen und Denken ist in ihren intentionalen Inhalten keine im spezifisch erkenntnistheoretischen Sinne mehr, sondern eine im Sein der Dinge begründete ontologische. Dies bedeutet Konsequenzen für die geisteswissenschaftliche Methode, insbesondere was die geschichtlich realen Sinnobjektivationen angeht, wie diejenigen der Wirklichkeit von Staat und Recht. Diese können in ihrer eigenständigen ontologischen Seinsweise als objektive geistige Inhalte erfasst werden und erfahren deshalb allein schon kraft intentionaler, unmittelbarer innerer Anschauung des Erscheinungsbildes ihre Begriffsbestimmung.125 Eine aus dieser phänomenologischen Betrachtungsweise ermöglichte neue, weil von idealistischen Annahmen freie Ontologie vermag alles Seiende aus einer sogenannten Schichten- und Kategorienlehre zu verstehen.126 Was danach geschichtlich reales geistiges Sein, wie die Wirklichkeit von Staat und Recht, angeht, kann dieses einerseits in seiner kategorialen Abhängigkeit von seinen realen Seinsschichten erkannt werden, insbesondere in seiner Abhängigkeit vom „lebensweltlichen“ subjektiven Bewusstsein der sie jeweils tragenden Subjekte. Andererseits aber wird auch einsichtig, dass die betreffenden geistigen Objektivationen, wie diejenigen in der staatlichen Wirklichkeit und Rechtsordnung, eine schichtenspezifische eigene kategoriale Seinsstruktur besitzen.127 Dies besagt, dass geistige Objektivationen und Wertsetzungen, wenn sie einmal positiviert sind, durch ihre eigene inhaltliche Struktur bestimmt werden, dieser auch in ihrer geschichtlich konkreten Fortentwicklung folgen und dementsprechend auch ihre eigenen begrifflichen Strukturen besitzen. Daraus ergibt sich, dass rechtswissenschaftliche und rechtsdogmatische Begriffsbildung unbeschadet ihres transzendentalen Charakters sich einer inhaltlichen Apriorität verdankt. Darin hat jede staatsrechtliche Begriffsbildung ihre Voraussetzung.128 Staat und Recht als eigenständige geschichtliche Wirklichkeit erweisen sich in ihrem Sein real getragen von ihren Organisations- und Verfahrensstrukturen sowie auf solche Weise integrierten Subjekten; die betreffenden Sinnobjektivationen und 125 Eine phänomenologische Folgerung zum Rechts- bzw. Staatsbegriff zieht Scheler in ders. (Fn. 52), 533 f.; danach ist der Staat, obgleich eine „Gesamtrealität geistiger Natur“, keine rein geistige Gesamtperson, weil er höchstes Zentrum des geistigen Gesamtwillens, des Herrschaftswillens über eine Lebensgemeinschaft, ist. Rein geistige Natur wird deshalb nur den vom Staat verwirklichten Rechtswerten zuerkannt. Die hierbei zugrundegelegte Unterscheidung von drei staatlichen Funktionssystemen, eines Rechts-, eines Macht- und eines Wohlfahrtswertes, kehrt wieder bei Smend (ders., Fn. 22, 213 f.). 126 Die betreffende ontologische Schichten- und Kategorienlehre Nicolai Hartmanns ist entwickelt bei dems., Das Problem des geistigen Seins (1933), 3. Aufl. 1962, dems., Zur Grundlegung der Ontologie (1934), 3. Aufl. 1948, dems., Der Aufbau der realen Welt (1940), 2. Aufl. 1949; Darstellung bei Bartlsperger (Fn. 5), 60 ff. und 62 ff.; zur phänomenologischen Grundlegung und Herkunft der betreffenden Annahmen Brecht (Fn. 72), 80 ff., Gadamer, Philosophische Rundschau 11 (1963), 13. 127 Zur ontologischen Bestimmung von Staat und Recht als Seinsstrukturen geschichtlich realer, eigenständiger geistiger Objektivationen im vierschichtigen Stufenbau des Seiens, d. h. in der Schichtung von „Natur“ und „Geist“ insb. bei N. Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, a.a.O., 188 ff. 128 Leibholz, Blätter für deutsche Philosophie 5 (1931/32), 175 (185).

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Wertsetzungen dagegen folgen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur geistigen Seinsschicht einer kategorial eigenen Struktur objektiven Geistes. Diese kategoriale ontologische Struktur objektiven Geistes macht die eigenständige politische Existenzform und geschichtliche Wirklichkeit des Verfassungsstaates sowie die Existenz und Normativität von dessen verfassungsrechtlicher Wertordnung bzw. Werteordnung aus. Die Annahme einer solchen materialen, auf Sinnverwirklichung und Wertkonkretisierung angelegten Verfassung wäre fehl gedeutet, wenn man dabei einer sicherlich nur aus unbewussten oder bewussten Missverständnissen materialer Wertephilosophie resultierenden Vorstellung von an sich seienden Werten folgen würde.129 Dass verfassungsrechtliche Wertsetzungen rechtsbegrifflich erfasst werden können, hat vielmehr allein damit zu tun, dass die betreffenden Rechtsbegriffe sich einer inhaltlichen Apriorität des Erkennens und Denkens verdanken.

129 Zu der bekannten Problemstellung vom „Ansichsein der Werte“ kritische Erörterungen bei Luf (Fn. 71), 139 ff., Neumann, Rechtsphilosophie in Deutschland seit 1945, in: Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, 145 (150 f.) sowie Klarstellungen bei Fechner, ARSP-Beiheft 37 (1990), 199 (217 f.), Lembeck (Fn. 72), 143 f. Ausgangspunkt jenes Problems bzw. Missverständnisses ist die Unterstellung, dass es beim Ansichsein von Werten um ein reales Ansichsein derselben gehe. Dabei liegt die Kantische Gleichsetzung von Apriorismus und Formalismus zugrunde, wodurch die Frage eines Ansichseins von Werten in den Bereich des Empirischen, des Realen abgedrängt wird. Indessen hat die phänomenologische Konstituierung von Gegenständen bzw. Erscheinungen im Bewusstsein (Fn. 124) deutlich gemacht, dass es auch inhaltliche Apriori gibt, dass also Apriorismus nicht identisch ist mit Formalismus und dass es daher ein ideales Ansichsein von Werten gibt. Dazu N. Hartmann (Fn. 2 – Ethik), 148 ff. (Ansichsein von Werten) und 109 ff. (Formalismus und Apriorismus).

Wozu dienen Ethikräte? Von Horst Dreier, Würzburg In dem Symposions-Band, der dem Jubilar aus Anlaß seines 65. Geburtstages unter dem schönen Titel „Mensch – Staat – Umwelt“ gewidmet wurde, hat Hasso Hofmann in seinem Beitrag von Rainer Wahls stets wachem „Sinn für die politischen Implikationen juristischer Probleme“ gesprochen.1 Das kann man nur unterstreichen und zwanglos auf die rechtlichen Implikationen politischer Probleme erstrecken. Rainer Wahl hat kontinuierlich – und meist früher als andere – grundsätzliche Entwicklungen und Wandlungen der Gesellschaft, die immer auch eine gewaltige Herausforderung für das Recht darstellen, aufgespürt und ihnen subtile Studien gewidmet.2 Als ein Beispiel unter vielen darf seine große Rede zur feierlichen Eröffnung des Akademischen Jahres 1986/87 in Freiburg i. Br. gelten,3 in der bereits fast alle (seinerzeit erfaßbaren) Themen der bioethischen Debatte, die uns seit zweieinhalb Jahrzehnten mit nicht nachlassender Intensität beschäftigen, herauspräpariert sind. Und der Jubilar hieße nicht Rainer Wahl, wenn ihm dabei nicht hochgradig einprägsame Wendungen gelungen wären – etwa die Warnung davor, den Satz von der Menschenwürde als einen „Auffangproblemlöser“ einzusetzen, weil diese „keinen geistigen Zauberstab für die humane Bewältigung aller Zukunftsprobleme liefern“ könne.4 Als die Debatte dann an Heftigkeit zunahm und sich so etwas wie Lagerbildung abzeichnete, war es wieder Rainer Wahl, der die verschiedenen, sich (scheinbar?) unversöhnlich gegenüberstehenden Positionen in bester wissenschaftlicher Argumentationsmanier analysierte, ihre wesentlichen, den Protagonisten vielleicht nicht immer selbst ganz bewußten Grundannahmen herausarbeitete sowie die unterschiedlichen Stellungnahmen etwa der Enquetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ oder des Nationalen Ethikrates (jeweils mit ihren Mehrheits- und Minderheitsvoten) auf ihre zugrundeliegenden prinzipiellen Wer-

1 Hasso Hofmann, Methodische Probleme der juristischen Menschenwürdeinterpretation, in: Mensch – Staat – Umwelt, herausgegeben von Ivo Appel u. Georg Hermes, Berlin 2008, S. 47 ff. (47). 2 Als (vorläufige?) Summe ist wohl zu betrachten Rainer Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, Berlin 2006. 3 Rainer Wahl, Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, in: Freiburger Universitätsblätter, hrsgg. im Auftrag des Rektors der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Heft 95 (März 1987), S. 19 ff. 4 Wahl, Freiheit (Fn. 3), S. 29. Diese schöne Wendung hat der Autor oft und gern aufgegriffen.

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tungen hin befragte.5 Dem ehemaligen Mitglied des Nationalen Ethikrates scheint es daher naheliegend, dem Jubilar einen kleinen Text zu widmen, der an diesen gemeinsamen Bezugspunkt anknüpft. Da der Teilnehmer schlecht in die Rolle des außenstehenden Beobachters und schon gar nicht in die eines Schiedsrichters schlüpfen kann, sei im folgenden in gewisser Radikalisierung der Problemstellung die Frage aufgeworfen, wozu Ethikräte (völlig unabhängig von der inhaltlichen Positionierung ihrer Voten) eigentlich dienen können oder sollen.6 Man hat ja insbesondere nach der durch Kabinettsbeschluß erfolgten Etablierung des Nationalen Ethikrates im Jahre 2001 des öfteren den Einwand gehört, über Ethik lasse sich nicht in wissenschaftlicher Weise handeln, hier sei gar keine wissenschaftliche Expertise möglich. Und dieser Einwand ist bis heute nicht verhallt. Dabei ist im Grunde unstreitig, daß „Wissenschaft für die Entscheidung ethischer Fragen keine überlegene Kompetenz besitzt“.7 Wenn dem aber so ist, warum werden dann Ethikräte etabliert? Können sie eine sinnvolle Funktion erfüllen? Und werfen sie, um gleich mit dieser ersten und vielleicht wichtigsten Frage zu beginnen, nicht ein massives Gleichheitsproblem auf, da wir doch wohl von der moralischen und ethischen Kompetenz aller Bürger ausgehen müssen? Gerade diese Idee ist in unserem kulturellen Gedächtnis tief verankert, wie eine kurze Rekapitulation des Protagoras-Mythos zeigt (dazu I.). Aber auch (und vor allem) die moderne Grundrechtsdemokratie trägt diese Vorstellung, bei der allerdings immer die Schranken auch moralisch fundierter und motivierter Selbstbestimmung bedacht sein wollen (II.). Solcherart rechtsverbindliche Schrankenziehung wiederum ist zuvörderst Aufgabe des demokratischen, bundesverfassungsgerichtlich kontrollierten Gesetzgebers und nicht von Ethikräten (III.). Oder wirken diese als Faktoren einer auch auf anderen Gebieten voranschreitenden Entparlamentarisierung (IV.)? Die verneinende Antwort führt uns zur eigentlichen Funktion der Ethikräte, die nicht in der Substitution individuell-mora-

5 Rainer Wahl, Humangenetik als Problem nationaler Grund- und internationaler Menschenrechte, in: Pietro Barcellona/Agostino Carrino (Hrsg.), I diritti humani tra politica filosofia e storia, Tomo secondo, Neapel 2003, S. 301 ff. (321 ff.); das Thema weitertreibend und um grundsätzliche Erwägungen zum Transfer ethischer Positionen in die Rechtsordnung erweiternd Rainer Wahl, Die Rolle des Verfassungsrechts angesichts von Dissens in der Gesellschaft und in der Rechtspolitik, in: Giovanni Maio (Hrsg.), Der Status des extrakorporalen Embryos. Perspektiven eines interdisziplinären Zugangs, Stuttgart/Bad Cannstatt 2007, S. 551 ff. 6 Die folgenden Darlegungen gehen in ihrem Kern auf einen Vortrag zurück, den der Verfasser bei der öffentlichen Tagung des Nationalen Ethikrates am 19. April 2007 in Freiburg/ Br., also der langjährigen Wirkungsstätte des Jubilars, gehalten hat. Der Vortragstext wurde im folgenden stark erweitert, aktualisiert und mit einigen Fußnoten versehen. 7 So Peter Graf Kielmansegg, Möglichkeiten und Grenzen der Politikberatung in Deutschland, in: Horst Dreier/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Wissenschaft und Politik, Stuttgart 2010, S. 219 ff. (226 Fn. 8). Viel zu weit geht allerdings die dort zu findende Schlußfolgerung: „Aber die Empfehlungen der Ethikkommission [gemeint ist: der Ethikrat, H.D.] sind keine Empfehlungen der Wissenschaft.“ Hier sind doch einige Fragezeichen und Relativierungen angebracht, die der vorliegende Text zu formulieren sucht.

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lischer Selbstbestimmung oder originär politischer Rechtsetzung liegt, sondern in der Rationalisierung der Fachdiskurse und deren öffentlicher Präsentation (V.).

I. Protagoras-Mythos Eine der ältesten Begründungen für die Gleichheit der Menschen findet sich im berühmten Mythos von der Entstehung des Staates aus Platons Dialog „Protagoras“ (320 C ff.). Der geht ungefähr so: Nach der Erschaffung der lebenden Wesen durch die Götter geben diese Prometheus und Epimetheus den Auftrag, die Fülle der vorhandenen Fähigkeiten unter die lebenden Wesen zu verteilen. Prometheus gestattet seinem Bruder Epimetheus auf dessen Bitte hin, diese Aufgabe allein zu übernehmen. Epimetheus vergißt jedoch bei der Verteilung die Menschen. Um ihnen zu helfen, raubt Prometheus den Göttern die Künste und auch das Feuer. Die praktische Hilfe nützt dem Menschen indes noch nichts, da ihnen der Gemeinsinn fehlt. Daher befiehlt Zeus dem Hermes, ihnen Aidos und Dike zu bringen (d. h.: sittliches Empfinden [auch: Scham, Gewissen] und Rechtsbewußtsein [auch: Recht]). Auf die Frage des Hermes, ob auch diese Gaben wie die anderen ungleich unter die Menschen verteilt werden sollten, antwortet Zeus, daß an diesen Gütern eigentlich jeder teilhaben müsse, weil anders Staaten nicht entstehen und bestehen könnten. Also seien sie an alle in gleicher Weise zu verteilen. Dieser Mythos des Protagoras ist (neben anderem) ein Mythos der Demokratie.8 Genauer gesagt vielleicht: er bietet eine Erklärung für den egalitären Grundzug der Demokratie. Denn die Demokratie schätzt den politischen Willen jedermanns gleich ein.9 Und der Protagoras-Mythos sagt uns auch, daß wir in Fragen der Moral und der Sitte alle mit den gleichen Fähigkeiten oder zumindest Möglichkeiten ausgestattet sind, wir also – modern gesprochen – über die gleiche Moralkompetenz verfügen. Bei ethischen Konflikten, bei Fragen der Lebensführung und der Bewältigung entsprechender Probleme sind die Bürger gleich zu achten und ihre (möglicherweise divergierenden) Auffassungen zu respektieren. Anders als bei handwerklichen oder musischen Fähigkeiten kann hier niemand für sich reklamieren, als Spezialist oder besonders herausragender Könner über eine größere Kompetenz zu verfügen als andere. Der moderne Verfassungsstaat fügt dem Gedanken ethischer und politischer Selbstbestimmung nun noch etwas hinzu, was die Antike so nicht kannte: die Gewährleistung von Grundrechten, die sich als Abwehrrechte gegen den Staat richten. Damit rückt das Individuum endgültig in das Zentrum staatsphilosophischer und 8

Vgl. Erik Wolf, Griechisches Rechtsdenken, Bd. II: Rechtsphilosophie und Rechtsdichtung im Zeitalter der Sophistik, Frankfurt am Main 1952, S. 43; Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/1: Die Griechen, Stuttgart/Weimar 2001, S. 221. Vertiefend zur Interpretation des vielschichtigen Protagoras-Mythos etwa Bernd Manuwald, Platon, Protagoras, Göttingen 2006, insb. S. 89 ff. 9 So Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, S. 101.

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staatsrechtlicher Konstruktion. Die Sprache der großen Gründungsdokumente aus der Französischen und Amerikanischen Revolution ist eindeutig. Die Virginia Bill of Rights von 1776 verkündet nicht anders als die französische Erklärung von 1789 im gleichen Atemzug den Gedanken der Volkssouveränität wie die Anerkennung gewisser angeborener Rechte, von denen etwa das Eigentum (in Frankreich) oder die Pressefreiheit (in Virginia) besonders hervorgehoben werden. Doch wie auch immer die Grund- und Menschenrechtskataloge in der Folgezeit im Detail ausfallen, zentral bleibt der Kerngedanke der Sicherung einer individuellen Freiheitssphäre. Allenthalben geht es nun darum, seine eigene Meinung äußern, seinen eigenen Beruf ausüben, seiner eigenen Religion oder seinem eigenen Gewissen gemäß leben zu können, kurz: bei der Suche nach dem guten und gerechten Leben den eigenen Vorstellungen, religiösen Überzeugungen oder ethischen Maximen folgen zu dürfen.

II. Grundrechtlich gestützter Pluralismus – und Grenzen der Selbstbestimmung Grundrechte sind also, wie man bündelnd sagen kann, Garantien personaler Autonomie und individueller Selbstbestimmung, sie sind Garantien der Freiheit, den eigenen Urteilen und Ansichten entsprechend leben zu können.10 Sie ermöglichen die „Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug“.11 Spätestens an dieser Stelle wirft sich nun aber die vielleicht verstörende Frage auf, die sich als Leitfrage unserer Betrachtung erweisen wird: wenn dem so ist, wozu brauchen wir dann eigentlich Ethikräte? Denn nach dem bisher Gehörten benötigen wir sie eigentlich nicht: dem antiken Mythos zufolge nicht, weil aidos und dike ohnehin allen Menschen in gleichem Maße gegeben sind; und der Idee der modernen Grundrechtsdemokratie zufolge nicht, weil diese die Pluralität unterschiedlicher Moral- und Ethikkonzepte, die Mehrzahl religiöser Bekenntnisse, die Freiheit und Selbstbestimmung jedes Einzelnen als Fixpunkt verfassungsstaatlicher Organisation konzipiert. Wir müssen ja konstatieren, daß in einer modernen Gesellschaft auch von Ethik „nur im Plural gesprochen werden kann“.12 Aber ganz so einfach ist die Sache mit den Grundrechten als den Säulen individueller Selbstbestimmung, als Schutzzonen einer selbstbestimmten Moralität und Garantien individueller Gewissensbildung nicht. Denn, wie der Dichter – der in diesem Falle selbstverständlich schwäbischer Herkunft zu sein hat – sagt: „leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“. Der Gedanke von Freiheitsrechten für alle muß sich dem Umstand stellen, daß die reale Ausübung dieser Freiheit durch die Grundrechtsträger Konflikte nach sich ziehen 10

Näher Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, in: Rechtswissenschaft 1 (2010), S. 11 ff. (19 ff.). 11 BVerfGE 63, 343 (357). Vgl. Helmut Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, Berlin u. a. 1974, S. 261. 12 So Wahl, Rolle (Fn. 5), S. 574.

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kann.13 Die Wahrnehmung der Kunstfreiheit oder Pressefreiheit kann zu Persönlichkeitsverletzungen führen, der in der Wohnung übende Posaunist kann empfindlich die körperliche Unversehrtheit seiner Nachbarn berühren, die Forschungsfreiheit mit dem Datenschutz kollidieren. Manchmal findet sich sogar das gleiche Grundrecht auf beiden Seiten der Waagschale, wie das bei der verfassungsrechtlichen Bewertung der Zulässigkeit von Vaterschaftstests der Fall ist, wo das allgemeine Persönlichkeitsrecht sowohl zugunsten des (möglichen) Vaters als auch zugunsten des Kindes (dort in der Spezifizierung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung) ins Feld geführt wird.14 Strukturell ähnlich sind die Fälle gelagert, in denen dieser Ausgleich zwischen individueller Grundrechtsausübung und anderen mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgütern hergestellt werden muß: denken wir an die mittlerweile notorischen Konflikte zwischen Schulpflicht und Bekenntnisfreiheit, Wehrpflicht und Gewissensfreiheit, Tierschutz und Wissenschaftsfreiheit.15 Grundrechte garantieren also aus sich heraus keine Gleichgestimmtheit oder Wohlgeordnetheit, keine prästabilierte Harmonie. Sie „entbinden“ in einer pluralistischen Gesellschaft nicht allein „legitime Uneinheit in Fragen der Religion, der Weltanschauung, der Politik“.16 Sie können auch in ihrer konkreten Ausübung mit anderen Grundrechten oder Verfassungsgütern kollidieren und sind daher kompatibilisierungsbedürftig. Nicht jeder kann und darf ungebremst so handeln, wie es ihm seine (vermeintlichen oder tatsächlichen) Überzeugungen und Wertorientierungen vorgeben. Die aus dem akademischen Unterricht zu den Grundrechten geläufigen Schulbeispiele führen das ebenso plastisch wie drastisch vor Augen: die religiöse Überzeugung rechtfertigt nicht das Menschenopfer, der feste Wille zu ,aktionistischer Kunstausübung nicht die Pflastermalerei auf einer vierspurigen Autobahn.17

13 Eingehend zu den im folgenden Abschnitt nur kurz angerissenen Grundrechtskonflikten, die besser „Freiheitsausübungskonflikte“ genannt würden: Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und staatliche Schutzpflicht, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, Heidelberg 1992, § 111 Rn. 1 ff., 86 ff.; Rainer Wahl/Johannes Masing, Schutz durch Eingriff, in: JZ 1990, S. 553 ff. (insb. 556 ff.). 14 BVerfGE 117, 202 (225 ff.). Dazu Frauke Brosius-Gersdorf, Das Kuckucksei im Familiennest – Erforderlichkeit einer Neuregelung der Vaterschaftsuntersuchung, in: NJW 2007, S. 806 ff.; Rolf Gröschner, Pater semper incertus? Vaterschaftstests im Verfassungsstreit, in: Jura 2008, S.132 ff. 15 Zum Konflikt von Tierschutz und Gewissensfreiheit im Bereich wissenschaftlicher Betätigung etwa Friedhelm Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 2. Aufl., München 2009, § 24 Rn. 10 (S. 410 f.); zur Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ebd. Rn. 14 ff. (S. 413 ff.); zum Problemfeld Schulpflicht, Erziehungsrecht und Religionsfreiheit ebd. § 22 Rn. 47 (S. 393 f.). 16 Josef Isensee, Schlußwort, in: Otto Depenheuer u. a. (Hrsg.), Die Einheit des Staates, Heidelberg 1998, S. 71 ff. (79). 17 Allg. zu „Straßenkunst“ gegen Verkehrssicherheit Ingo v. Münch, Staatsrecht II, 5. Aufl., Stuttgart u. a. 2002, Rn. 426; Menschenopferbeispiel bei Michael Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte, 2. Aufl., Berlin u. a. 2003, B 4 Rn. 25 (S. 266); Zusammenstoß von Zug und Bus als „Happening“ bei Bodo Pieroth/Bernhard Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 26. Aufl., Heidelberg 2010, Rn. 669.

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So leicht wie bei diesen Lehrfällen sind die Konflikte im Bereich der Bioethik freilich nicht zu lösen. Doch auch hier begegnet uns die nämliche Struktur eines Aufeinandertreffens unterschiedlicher Rechtsgüter und – soweit vorhanden – ihrer Träger. Deutlich wird das im pränatalen Stadium beim Schwangerschaftsabbruch, der dem Leben des Fötus ein Ende setzt, oder im pränidativen Stadium bei der Nutzung überzähliger Embryonen für Zwecke der Forschung, etwa im Rahmen des therapeutischen Klonens, sowie bei der Untersuchung von befruchteten Eizellen auf genetische Defekte im Rahmen einer Präimplantationsdiagnostik. Das sind Handlungsweisen, deren Rechtfertigungsfähigkeit zu den am heftigsten debattierten und am stärksten umstrittenen in der bioethischen Debatte gehören, an der neben Philosophie und Theologie auch die Rechtswissenschaft wesentlich beteiligt ist. Aber auch am Ende des Lebens stellen sich schwierige Fragen nach der Reichweite personaler Autonomie, etwa bei den Patientenverfügungen.18 Wer entscheidet diese Konflikte? Wer hat hier das erste, wer das letzte Wort? III. Wer entscheidet? Das letzte, so sagt man gern und hört es oft, habe natürlich das Bundesverfassungsgericht.19 Und das ist auch nicht ganz falsch. Allerdings ist das bei weitem auch nicht die ganze Wahrheit. Denn das Bundesverfassungsgericht ist Gericht und entscheidet somit als solches nur das, was ihm als Streitfall zulässigerweise vorgelegt wird.20 Natürlich können seine Judikate gleichwohl hochpolitische Breiten- und Tiefenwirkung entfalten.21 Abgesehen von den berühmt-berüchtigten Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch kennen wir allerdings keine verfassungsgerichtlichen Grundsatzentscheidungen zu dem, was Ethikräte in den letzten Jahren vordringlich beschäftigt hat, und auch an sonstigen höchstrichterlichen Judikaten zum Import von Stammzellinien, Forschung an überzähligen Embryonen, therapeutisches Klonen,

18 Vgl. zu den genannten Themen die einschlägigen Stellungnahmen des Nationalen Ethikrates aus den Jahren 2002 (Zum Import menschlicher embryonalen Stammzellen), 2003 (Genetische Diagnostik vor und während der Schwangerschaft), 2004 (Klonen zu Fortpflanzungszwecken und Klonen zu biomedizinischen Forschungszwecken) und 2006 (Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende). 19 In einem anderen thematischen Zusammenhang etwa Rainer Wahl, Das Öffentliche Recht als Fundament und dritte Säule des Medizinrechts, in: Jörg Arnold u. a. (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht. Festschrift für Albin Eser, München 2005, S. 1243 ff. (1252, 1256 ff.). 20 Berechtiger Hinweis auf dieses zentrale Charakteristikum bei Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl., München 2010, Rn. 510 ff. 21 Vgl. Rainer Wahl, Quo vadis – Bundesverfassungsgericht? Zur Lage von Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassung und Staatsdenken, in: Bernd Guggenberger/Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit, Baden-Baden 1998, S. 81 ff.

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Präimplantationsdiagnostik,22 Patientenverfügungen, Organspende gibt es kaum etwas zu vermelden.23 Nun könnte, so mag man einwenden, das ja im Laufe der Jahre alles noch kommen. Und auszuschließen ist das selbstverständlich nicht. Es trifft aber nicht den entscheidenden Punkt. Denn es ist schon alles andere als sicher, daß das Gericht hier Entscheidungen fällen würde, die in gewissermaßen klinischer Reinheit und einseitiger Entschiedenheit bestimmte moralische Positionen als richtig, andere als falsch (und somit verfassungswidrig) ansehen würde. Die beiden (sowohl im Senat als auch in der Gesellschaft und der Rechtswissenschaft) hochkontroversen Urteile zum Schwangerschaftsabbruch24 gewähren hier lehrreiche Einsichten, wie letztlich kompromißhaft auch das Gericht auf diese in der Gesellschaft dauerhaft umstrittenen Fragen eingeht und sie zu behandeln sucht.25 So läßt sich insbesondere am zweiten Urteil aus dem Jahre 1993 zeigen, wie manche Leitsätze mit bestimmten Passagen der Begründung hadern (und umgekehrt).26 In gewissem Umfang fällt die Entscheidung der Sache daher an den Gesetzgeber zurück. Und da gehört sie im Grunde auch hin. Das hat das Gericht in anderen Konstellationen zu Recht immer wieder betont. Es ist gerade eine der vornehmsten Aufgaben des demokratischen Gesetzgebers, die Zuordnung und den Ausgleich potentiell oder

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Hier liegt, sozusagen als Ausnahme, die die Regel bestätigt, das Urteil des BGH v. 6. Juli 2010 (BGH NJW 2010, 2672) vor, das bezeichnenderweise auf die Selbstanzeige eines Reproduktionsmediziners zurückgeht (erste Würdigungen: Ulrich Schroth, Keine Strafbarkeit bei Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik auf genetische Schäden, in: NJW 2010, 2676 f.; Hartmut Kreß, Präimplantationsdiagnostik und Fortpflanzungsmedizin angesichts des ethischen Pluralismus. Rechtspolitische Gesichtspunkte nach dem Urteil des BGH, in: ZRP 2010, S. 201 ff.). Das Ergebnis des Urteils, das eine PID in eng umgrenzten Fällen zuläßt, ist sogleich zum Anlaß für eine legislative Reaktion in Gestalt eines expliziten gesetzlichen Verbotes genommen worden; der Ausgang entsprechender Initiativen ist derzeit (März 2011) offen. 23 Dazu, daß insbesondere die Forscher in Deutschland im Regelfall wenig Neigung verspüren, sich den Sanktionen des Embryonenschutzgesetzes auszusetzen bzw. in gerichtlichen Verfahren deren Reichweite zu „testen“, siehe nur Helmuth Schulze-Fielitz, Politische Voraussetzungen wissenschaftlicher Forschung, in: Dreier/Willoweit, Wissenschaft und Politik (Fn. 7), S. 71 ff. (101 f.). 24 BVerfGE 39, 1; 88, 203. 25 Daß sich diese Kompromißstruktur höchstrichterlicher Entscheidungen von der ganz auf Stringenz und Konsistenz verpflichteten wissenschaftlichen Arbeit der Staatsrechtslehre deutlich abhebt, hat zu Recht immer wieder Helmuth Schulze-Fielitz betont. Vgl. seinen Beitrag in diesem Band S. 405 ff. 26 Die Inkonsistenzen des Urteils monierte schon zu Recht die zeitnahe Analyse von Georg Hermes/Susanne Walther, Schwangerschaftsabbruch zwischen Recht und Unrecht. Das zweite Abtreibungsurteil des BVerfG und seine Folgen, in: NJW 1993, S. 2337 ff. (insb. 2340, 2344). Aus der umfänglichen weiteren Literatur besonders eindringlich die Analyse von Reinhard Merkel, Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen, München 2002, S. 34 ff., 64 ff., 87 ff.

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aktuell kollidierender Freiheitsansprüche zu regeln.27 Kompatibilisierung von Freiheitsansprüchen ist das ureigenste Metier des demokratischen Gesetzgebers, also des Parlaments. Das Bundesverfassungsgericht hat das nicht nur immer wieder erneut eingeschärft und dem Gedanken in Gestalt der sog. Wesentlichkeitstheorie ein wirksames „label“ für die Abgrenzung hin zur Exekutive verpaßt, sondern auch mit den vielfältig variierten Formeln vom Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, seiner Einschätzungsprärogative oder seinem Ermessensspielraum entsprechenden Ausdruck für die eigenen Kontrollkompetenzen im Verhältnis zum Gesetzgeber verliehen.28 Die Wesentlichkeitslehre nimmt den parlamentarischen Gesetzgeber in die Pflicht: er darf sich seiner Rechtsetzungsaufgabe nicht durch Delegation auf andere Institutionen entäußern. Er ist dazu verpflichtet, „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich sind, alle wesentlichen Regelungen selbst zu treffen.“29 Neben der Grundrechtsrelevanz hat diese Doktrin eine zentrale demokratische Komponente: Das Parlament ist die repräsentative Vertretung des Volkes, und zwar auch und gerade in seiner Verschiedenheit der rund 600 Abgeordneten. Es ist der Ort freier und kontroverser Debatte, Stätte des möglichst umfassenden Austausches der Argumente, der Diskussion, der Erhebung und Verarbeitung einer breiten Faktenbasis.30 Sehr treffend hat das Bundesverfassungsgericht formuliert: „Wenn das Grundgesetz die Einschränkung von grundrechtlichen Freiheiten und den Ausgleich zwischen kollidierenden Grundrechten dem Parlament vorbehält, so will es damit sichern, daß Entscheidungen von solcher Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten und die Volksvertretung anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären.“31 27

Hierzu und zum folgenden einige Hinweise bei Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., Tübingen 2004, Vorbemerkungen vor Art. 1, Rn. 67 f., 134 ff. 28 Im Umweltrecht hat der Jubilar, offenkundig im dialogischen Zusammenwirken mit Jürgen Salzwedel, die Wendung von der dort geltenden „umgekehrten Wesentlichkeitstheorie“ geprägt (das Wichtige stehe nicht im Gesetz, sondern in der Verordnung): siehe Rainer Wahl, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: VBlBW 1988, S. 387 ff. (391). Zur Formel vom Gestaltungsspielraum Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485 ff. (506 f.). Mit Blick auf die Judikatur zu Möglichkeiten und Grenzen des Gesetzgebers bei der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des (zivilrechtlichen) Eigentums: Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, in: NVwZ 1984, S. 401 ff. (404 f.). Für einen Teilaspekt monographisch Anja Bräunig, Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur deutschen Wiedervereinigung, Berlin 2006. 29 Locus classicus: BVerfGE 49, 89 (126). 30 Politikwissenschaftliche Darstellung bei Klaus von Beyme, Der Gesetzgeber. Der Bundestag als Entscheidungszentrum, Opladen 1997. Empirisch informierte staatsrechtliche Analyse bei Helmuth Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung – besonders des 9. Deutschen Bundestages (1980 – 1983) –, Berlin 1988. 31 BVerfGE 85, 386 (403 f.).

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Dies zu sagen heißt im übrigen nicht, politikwissenschaftliche Erkenntnisse über die Defizite parlamentarischen Entscheidungsprozesse zu ignorieren, und schon gar nicht, das oftmals ernüchternde Erscheinungsbild des politischen Alltags im Parteienstaat zu schönen.32 Es heißt nur, an einen wesentlichen Grundzug der Funktionenordnung im demokratischen Verfassungsstaat zu erinnern. IV. Ethikräte als Faktoren der Entparlamentarisierung? Allerdings wird es einem, wenn diese Reminiszenz an Wilhelm Busch erlaubt ist, bang und bänger, wenn man vor diesem Hintergrund noch einmal unsere Leitfrage stellt. Wenn das soeben Gesagte einigermaßen richtig ist – wozu brauchen wir dann, um es zu wiederholen, eigentlich Ethikräte? Oder, um die Frage noch zuzuspitzen: sind Ethikräte dann nicht ein flagranter Verstoß gegen die soeben gewonnene Erkenntnis, daß die wesentlichen Entscheidungen und damit natürlich auch die zentralen Entscheidungen in den vielfältigen bioethischen Kontroversen im Parlament gefällt werden, welches insofern auf jeden Fall das erste Wort hat und mit seiner Entscheidung zwar nicht immer, aber auch nicht selten das letzte Wort behält? In der Tat hat es solche Bedenken, wonach Ethikräte nicht lediglich als entbehrlich oder überflüssig, sondern im Grunde als unzulässig anzusehen sind, gegeben, und zwar auch in staatsrechtlichen Erörterungen.33 Der thematische Kontext ist mit dem als Krisenphänomen gemeinten Stichwort „Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen“ bezeichnet. In der Entparlamentarisierung lauern unzweifelhaft erhebliche Gefahren für das Demokratieprinzip.34 An durchaus bedenklichen Erscheinungen ist z. B. die rechts- und verfassungsstaatlich nur unvollkommen kontrollierte oder gesteuerte Übertragung von Rechtsetzungsakten auf Private zu nennen.35 Ein besonders dramatisches und besonders problematisches Beispiel bildet der sog. Atomkonsens aus dem Jahre 2000, bei dem der Text des Gesetzes in lang32 Siehe etwa Helmuth Schulze-Fielitz, Schattenseiten des Grundgesetzes, in: Horst Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, Berlin 2009, S. 9 ff. (28 ff.). 33 So jedenfalls in der Tendenz Matthias Herdegen, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL 62 (2003), S. 7 ff. (22); Andreas Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 3. Aufl., Heidelberg 2005, § 43 Rn. 26, 52. Richtig hingegen Meinhard Schröder, Die Institutionalisierung des Nationalen Ethikrates: Ein bedenklicher Regierungsakt?, in: NJW 2001, S. 2144 ff. (2145 f.); Martin Morlok, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL 62 (2003), S. 37 ff. (74). 34 Vgl. die Referate auf der Staatsrechtslehrertagung in St. Gallen 2002 von Matthias Herdegen/Martin Morlok (Fn. 33), S. 7 ff., 37 ff. Eindringliche Analyse der Entparlamentarisierung im Rahmen umfassenderer Prozesse einer „Entformalisierung staatlichen Handelns“ (so der Titel) bei Friedrich Schoch, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 33), § 37. 35 Kurz angedeutet bei Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 2. Aufl., Tübingen 2006, Art. 20 (Demokratie), Rn. 141 f.; vertiefend Fritz Rittner/Meinrad Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht. Eine systematische Darstellung, 3. Aufl., Heidelberg 2008, § 7 Rn. 55 ff.

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wierigen Verhandlungen zwischen Exekutive und Wirtschaft offenbar Satz für Satz ausgehandelt und dann später wortgetreu vom Bundestag verabschiedet worden ist.36 Bei dieser Art faktischer Entscheidungsverlagerung auf außerparlamentarische Instanzen befindet sich der Bundestag in einer Art von Ratifikationslage, hat also in der Sache selbst nichts zu entscheiden, sondern darf zu dem andernorts gefundenen Ergebnis nur noch Ja und Amen sagen. Es ist nun sehr wichtig zu sehen, daß weder bei den Enquete-Kommissionen noch beim Nationalen Ethikrat und auch nicht bei seinem Nachfolger, dem Deutschen Ethikrat, eine solche problematische Konstellation gegeben ist. Schon die normativen Grundlagen sind absolut eindeutig.37 Spricht doch der Einrichtungserlaß des Nationalen Ethikrates nicht viel anders als das Gesetz zum Deutschen Ethikrat davon, daß Diskurse gebündelt, Debatten organisiert, Konferenzen durchgeführt sowie Stellungnahmen zu ethischen Fragen auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften formuliert werden sollen.38 Auch die Abgabe von Empfehlungen für politisches und gesetzgeberisches Handeln ist vorgesehen. Aber von einer Delegation parlamentarischer Entscheidungen, von einer Übertragung wirklicher Entscheidungsmacht auf Ethikräte ist weit und breit nichts zu erkennen.39 Eine solche Delegation hat es auch faktisch nicht gegeben. Man könnte sagen: eher im Gegenteil. Denn, was jedenfalls die Stellungnahmen und Empfehlungen des Nationalen Ethikrates betrifft, so sind diese bei den Parlamentariern nicht durchweg auf eine Woge begeisterter Zustimmung getroffen. Kühle Distanz wäre sicher die treffendere Bezeichnung, gezielte Ignoranz die möglicherweise treffendste. Dazu paßt, daß der Deutsche Bundestag von der im Einrichtungserlaß des Nationalen Ethikrates vorgesehenen Möglichkeit, diesen Stellungnahmen in seinem Auftrag erarbeiten zu lassen,40 nicht ein einziges Mal Gebrauch gemacht hat (nicht anders übrigens als die Bundesregierung selbst).41 36

Dazu Schoch, Entformalisierung (Fn. 34), § 37 Rn. 40 f., 52. Die Rechtsgrundlagen des Deutschen Ethikrates (seit 2007) sind leicht zugänglich im Internet unter: http://www.ethikrat.org/ueber-uns. 38 In § 2 Satz 1 des Erlasses über die Einrichtung eines Nationalen Ethikrates vom 2. Mai 2001 (Beschluß des Bundeskabinetts) heißt es: „Der Nationale Ethikrat bündelt den interdisziplinären Diskurs von Naturwissenschaften, Medizin, Theologie und Philosophie, Sozial- und Rechtswissenschaften.“ Die Geschäftsordnung des Nationalen Ethikrates benennt in § 7 Stellungnahmen, Empfehlungen und Jahresberichte. In § 8 Satz 1 heißt es: „Der Rat erarbeitet Informations- und Diskussionsangebote an interessierte Kreise und bereitet öffentliche Konferenzen vor.“ Zu den Aufgaben des Deutschen Ethikrates vgl. § 2 Abs. 1 EthRG (in Kraft seit 1. August 2007). Allenthalben geht es um Information, Diskurs und Diskussion, nie um Entscheidung und schon gar nicht um bindende Vorgaben für die Legislativorgane. 39 Gleiches trifft natürlich auch für Enquetekommissionen zu. Sie dienen dem Bundestag lediglich zur „Vorbereitung von Entscheidungen“, § 56 Abs. 1 S. 1 GOBT. Für den Deutschen Ethikrat folgt aus §§ 2 Abs. 1 Nr. 2, 7 Nr. 2 EthRG, daß er auf die Erarbeitung von Stellungnahmen, Empfehlungen und Berichten beschränkt ist. 40 § 2 Abs. 2 Satz 2 des Errichtungserlasses über die Einrichtung eines Nationalen Ethikrates: „Der Nationale Ethikrat erarbeitet auch Stellungnahmen im Auftrag der Bundesregierung oder des Deutschen Bundestages“. 37

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Nun hat diese Distanz gegenüber dem Nationalen Ethikrat zweifelsohne mit dessen besonderer Genese zu tun. Seine Einsetzung mußte wohl seinerzeit dem Parlament gegenüber angesichts einer bereits bestehenden und arbeitenden eigenen Enquete-Kommission mit gleichem Themenspektrum wie ein Affront wirken.42 Entsprechend groß war anfangs der politische Streit nebst gewaltigem Medienrummel.43 Der dadurch aufgewirbelte Staub darf aber nicht den Blick für die klaren verfassungsrechtlichen Grundlinien trüben. Denn eines trifft auf keinen Fall zu: daß die Ethikräte an mangelhafter demokratischer Legitimation gelitten hätten oder das immer noch tun. Diese bis zum Überdruß wiederholte Behauptung ist verfassungsrechtlich nicht haltbar. Zunächst stellen wir, wenn wir uns ein bißchen in der Welt umschauen, fest, daß es in vielen demokratischen Staaten Beratungsgremien gibt, die von der jeweiligen Exekutive, insb. der Regierungsspitze, ohne parlamentarische Mitwirkung eingesetzt werden.44 Und auch in Deutschland ist eben der Kanzler verfassungsrechtlich nicht gehindert, ein Beratungsgremium qua Beschluß des Bundeskabinetts zu etablieren.45 Das im deutschen Verfassungsrecht fest etablierte Modell demokratischer Legitimation46 erstreckt sein anspruchsvolles Anforderungsprofil auf staatliches Handeln mit Entscheidungscharakter, nicht auf lediglich beratende Stellungnahmen.47 Die Einsetzung des Nationalen Ethikrates durch die Bundesregierung war also verfassungsrechtlich unbedenklich. Dies gilt umso mehr, als es dem Parlament unbenommen 41 Siehe Silja Vöneky, Recht, Moral und Ethik. Grundlagen und Grenzen demokratischer Legitimation für Ethikgremien, Tübingen 2010, S. 259. 42 „Politisch“ sind die Erwägungen, die zur Besetzung des Nationalen Ethikrates geführt haben, ebenso wie die, die bei der Besetzung von Enquete-Kommissionen den Ausschlag geben (treffend Wahl, Rolle [Fn. 5], S. 553 mit Fn. 2). Da die Enquete-Kommissionen direkt von den Fraktionen beschickt werden, ist der Politisierungsgrad sogar regelmäßig höher. Im Nationalen Ethikrat saßen hingegen relativ viele politisch weithin ungebundene Vertreter der Wissenschaft. 43 Vgl. im Zusammenhang Vöneky, Recht (Fn. 41), S. 234 ff. 44 Siehe Michael Fuchs, Nationale Ethikräte. Hintergründe, Funktionen und Arbeitsweisen im Vergleich, Berlin 2005. In den USA etwa hat der Präsident den Vorsitzenden seines „Bioethic Council“ sogleich selbst bestimmt, während der Nationale Ethikrat wie der Deutsche Ethikrat ihn aus den eigenen Reihen qua Mehrheitsentscheidung gewählt haben. 45 Treffend Morlok, Informalisierung (Fn. 33), S. 74: „Politische Organe haben das Recht, sich von außen informieren und beraten zu lassen und dafür auch eigene Gremien einzurichten. Es gibt kein Monopol des Parlaments auf wissenschaftliche Beratung“. 46 Grundlegend: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl., Heidelberg 2004, § 24 Rn. 9 ff.; im Überblick Dreier (Fn. 35), Art. 20 (Demokratie) Rn. 113 ff.; eingehende Rekapitulation bei Fabian Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, Tübingen 2006, S. 114 ff. 47 Böckenförde (Fn. 46), § 24 Rn. 12 f.; BVerfGE 47, 253 (273), 83, 60 (73 f.), 91, 228 (244); selbst wenn man einen entsprechenden Vorbehalt nicht anerkennen sollte (vgl. die Hinweise bei Bernd Grzeszick, in: Theodor Maunz/Günter Dürig u. a. [Hrsg.], Kommentar zum Grundgesetz, München, Art. 20 II [Stand: 57. Ergänzungslieferung Januar 2010] Rn. 92), wäre die demokratische Legitimation kraft Einsetzung durch den seinerseits demokratisch legitimierten Bundeskanzler und seines Kabinetts gegeben.

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war, ist und bleibt, Enquete-Kommissionen einzusetzen. Und genauso unproblematisch ist es natürlich, ein Beratungsgremium auf eine spezialgesetzliche Grundlage zu stellen, wie dies nunmehr beim Deutschen Ethikrat der Fall ist.48 Ob es ein Beratungsgremium gibt, das allein von der Regierung bestellt wird; ob es parallel deren zwei gibt, also etwa Nationaler Ethikrat und Enquete-Kommission nebeneinander;49 oder ob es eines (allein oder wiederum in Kombination mit anderen) gibt, das auf formell-gesetzlicher Grundlage beruht – dies alles ist letztlich nicht entscheidend. Entscheidend ist aus verfassungsrechtlicher Sicht allein, daß durch diese Gremien dem Bundestag nicht dessen originäre Entscheidungsbefugnisse genommen werden, daß es nicht zu einer verfassungsrechtlich bedenklichen Entparlamentarisierung des politischen Prozesses im Verfassungsstaat kommt.50 Und wer sich die (Mehrheits-)Voten der einschlägigen Gremien einerseits, die politischen Ergebnisse andererseits anschaut, wird nur bestätigen können, daß auch von einer rein faktischen Präjudizierung des parlamentarischen Gesetzgebers nicht die Rede sein kann.51 V. Wert und Mehrwert von Ethikräten oder: Rationalität der Fachdiskurse in ihrer wechselseitigen Begegnung Freilich droht gerade wegen dieses Ergebnisses wiederum Ungemach für unsere Leitfrage nach der Sinnhaftigkeit von Ethikräten überhaupt. Denn wenn richtig ist, daß die eigentliche Entscheidung über die schwierigen bioethischen Fragen zwingend beim Parlament selbst liegen muß, dessen Gesetze gegebenenfalls vom Bundesverfassungsgericht auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden – warum dann, erneut und wiederum, gibt es überhaupt Ethikräte? Worin liegt angesichts dieser Lage eigentlich ihr Wert, besser gesagt vielleicht: worin liegt ihr Mehrwert? Daß es nicht darum geht, weder gehen kann noch gehen darf, dem Parlament die Entscheidung abzunehmen, haben wir bereits geklärt. Aber Ethikräte können viel48 Gesetz zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats (Ethikratgesetz – EthRG) vom 16. Juli 2007, BGBl. I S. 1385 f. 49 Nochmals Morlok, Informalisierung (Fn. 33), S. 74 Fn. 131: „Ein parlamentarisches Gremium, etwa die Enquete-Kommission ,Recht und Ethik in der modernen Medizin, entfaltet keine Sperrwirkung gegenüber einem gouvernemental initiierten Parallelunternehmen wie dem ,Nationalen Ethikrat, auch nicht in Ansehung der Öffentlichkeitswirkungen eines solchen Gremiums“. 50 So im Ergebnis auch eindeutig Vöneky, Recht (Fn. 41), S. 547 ff. 51 So hat der Nationale Ethikrat in seiner ersten Stellungnahme vom Dezember 2001 („Zum Import menschlicher embryonaler Stammzellen“, Berlin 2002) mit breiter Mehrheit für den Import votiert, und zwar ohne die dann getroffene Stichtagsbegrenzung. In seiner letzten Stellungnahme vom Juli 2007 („Zur Frage einer Änderung des Stammzellgesetzes“, Berlin 2007) plädierte wiederum eine breite Mehrheit des Ethikrates für den Wegfall des Stichtages und eine konkrete Einzelfallprüfung; nur ein Mitglied votierte für eine Verschiebung des Stichtages, wie sie dann der Gesetzgeber beschloß. Die Mehrheitsposition zur Zulässigkeit der PID in eng begrenzten Ausnahmefällen und deren gesetzliche Regelung verhallte ungehört. Auch das Votum des Deutschen Ethikrates zur Problematik der Babyklappen blieb ohne Folgen. Die Beispiele ließen sich vermehren. Siehe auch Vöneky, Recht (Fn. 41), S. 549.

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leicht sowohl für die parlamentarische als auch für die übergreifende gesellschaftliche Diskussion hilfreiche Dienste leisten. Nicht, daß die Mitglieder dieser Gremien gleichsam ethische Hochleistungssportler wären, jede(r) so eine Art moralischer Herkules, mit einem besonderen Sensorium für bioethische Fragen ausgestattet und mit entsprechend gesteigerter Urteilskraft gesegnet, kraft derer sich auf geheimnisvolle Weise die bioethische „Wahrheit“ herausfinden und der staunenden Öffentlichkeit präsentieren ließe. Nein – hier gilt streng und klar, was wir eingangs aus dem Mythos des Protagoras gehört haben. Etwas anderes kommt zum Tragen, das mit den naturwissenschaftlichen Grundlagen der bioethischen Konfliktfelder und der Frage ihrer normativen Bewertung, also insbesondere der Gewinnung der Beurteilungsmaßstäbe, zu tun hat. Was in solchen Gremien, wenn und soweit sie mit Experten besetzt sind, erreicht werden kann, ist, läßt sich vielleicht als Rationalität der Fachdiskurse in ihrer wechselseitigen Begegnung bezeichnen. Damit meine ich den Vorgang, daß ein Sachproblem (beispielsweise die PID) aus der Warte unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen aufbereitet, durchleuchtet und erörtert wird und sich dabei der je spezifische Sachverstand zur Geltung bringen kann. Das bedeutet zunächst einmal die Erhebung des naturwissenschaftlichen Befundes. Um welche Vorgänge in welchem Stadium geht es, welche Manipulationen sind möglich und welche nicht? Natürlich folgt aus dem naturwissenschaftlichen Befund nicht schon ein bestimmtes normatives Ergebnis – das wäre ein klassischer naturalistischer Fehlschluß. Aber bestimmte, zuweilen die öffentliche Debatte beherrschende Topoi können sich bei Kenntnis der bio-medizinischen Grundtatsachen als grob irreführend erweisen. Im Zusammenhang mit der PID-Diskussion fällt regelmäßig das Schlagwort vom „Designerbaby“52. Das transportiert die Vorstellung, mit Hilfe dieser Technik werde man gleichsam maßgeschneiderte Kinder züchten können, um sie dann wie aus einem Warenhauskatalog auszuwählen. Besteht aber erst einmal Klarheit darüber, daß die PID einem bestimmten genetisch schwer vorbelasteten Paar die Diagnose der befruchteten Eizelle auf Krankheiten ermöglicht, diese befruchtete Eizelle aber keine anderen genetischen Eigenschaften haben kann als die, die aus der Kombination der beiden Elternteile folgen, so erweist sich das Designerbaby rasch als das, was es von Anfang an war: eine journalistische Erfindung zur Weckung von Emotionen und zum Ausmalen von Horrorszenarien. Das heißt natürlich noch nicht, daß damit das Verfahren der PID ohne weiteres als unproblematisch eingestuft werden kann. Aber man muß dafür andere und bessere Argumente anführen. Ähnliches gilt im übrigen auch für Verlautbarungen aus jüngerer Zeit zur Liberalisierung des Stammzell-Gesetzes in Gestalt einer Streichung oder Verschiebung des Stichtages. Hier ließ etwa Rudolf Henke, Vizepräsident des Marburger Bundes, verlauten, bei einer solchen Änderung könnten künftig „potentiell lebensfähige Menschen syste-

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dung.

Richard Schröder bemerkte zu Recht, es handele sich dabei um eine Journalistenerfin-

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matisch zu Forschungszwecken erzeugt werden, um sie anschließend zu töten“53 – wo sich doch Stammzellen, wie jeder weiß oder wissen sollte, nicht zu einem kompletten menschlichen Organismus entwickeln und insofern auch nicht Träger von Grundrechten sein können.54 Das bestreitet noch nicht einmal der Vatikan. Selbst wenn die biomedizinischen Grundlagen geklärt sind, bleiben viele und bleiben vor allem zentrale ethische Fragen noch unbeantwortet. Auch bei deren Erörterung können nun intensive Dialoge und ein vorurteilsfreier Austausch von Argumenten durchaus manche Klärung erbringen, manchen vermeintlichen Widerspruch aufheben, manchen Brückenschlag ermöglichen. Kurz: es kann zu einem mehr oder minder breiten Konsens kommen, insbesondere, was die Grundwertungen angeht.55 Aber unzweifelhaft werden letztlich tiefgreifende Dissense bestehen bleiben, so etwa in den Fragen der Stammzellforschung, der PID, des therapeutischen Klonens. Daß es hier zwischen den in den Beratungsgremien versammelten Fachleuten aus Philosophie, Ethik, Theologie, Jurisprudenz etc. nicht zu einmütigen Bewertungen kommt, kann allerdings kaum verwundern. Denn wieso sollte in Fragen, in denen die Gesellschaft sichtlich gespalten ist, ein Kreis von Fachwissenschaftlern nicht gespalten sein? Wer hier glaubt oder vielleicht geglaubt hat, Experten aus unterschiedlichen Disziplinen müßten nur lange genug miteinander reden, dann würde

53 Zitiert nach: Lebensforum. Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. Nr. 81, 2007, S. 32. – Die importfähigen, der Forschung zur Verfügung stehenden Stammzellinien stammen von sog. überzähligen Embryonen, von denen es weltweit vermutlich über eine Million gibt. Von systematischer Erzeugung zu Forschungszwecken kann also keine Rede sein, ebenso wenig von einer „Züchtung“ von Embryonen. Töten kann man unzweifelhaft geborene Personen und auch Feten in einer vorangeschrittenen Phase der Schwangerschaft; ob dieses Wort für die Zerstörung eines Zellverbandes im pränidativen, also vor der eigentlichen Schwangerschaft liegenden Stadium treffend ist, scheint zweifelhaft. Ohnehin ist aber die Gewinnung von Stammzellinien aus überzähligen Embryonen in Deutschland durch das ESchG verboten; daran sollte durch die Änderung des Stammzellgesetzes auch nichts geändert werden (und wurde es dann im Jahre 2008 auch nicht, als man den Stichtag verschob). Es ging allein um die Modalitäten des Imports embryonaler humaner Stammzellen. Die angeführte „Stellungnahme“ war objektiv irreführend und hatte dies mit zahlreichen anderen Stimmen in der Debatte gemein. 54 Nachweise: Dreier (Fn. 27), Art. 1 I Rn. 102 mit Fn. 341. 55 So weist Wolfgang van den Daele, Streitkultur. Über den Umgang mit unlösbaren moralischen Konflikten im Nationalen Ethikrat, in: Dieter Gosewinkel/Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Politische Kultur im Wandel von Staatlichkeit (WZB-Jahrbuch 2007), Berlin 2008, S. 357 ff. (365) richtig darauf hin, daß im Nationalen Ethikrat „der Weg vom rationalen Dissens regelmäßig über eine Bekräftigung des Konsenses über grundlegende moralische und verfassungsrechtliche Werte und Normen der Gesellschaft führte. Die Konfliktparteien bekannten sich gemeinsam und ausdrücklich zu den Menschenrechten, zum Respekt vor der Selbstbestimmung, zur Achtung der Menschenwürde, zur Unverfügbarkeit menschlichen Lebens und zur Verpflichtung, anderen oder der Gemeinschaft nicht zu schaden, als Prinzipien der moralischen Bewertung. (…) Der Dissens in der Bioethik betrifft nicht die Geltung der Normen, er betrifft die Voraussetzungen und die Reichweite ihrer Anwendung in konkreten Fällen, insbesondere die Frage, wie zwischen ihnen abgewogen werden muss, wenn sie kollidieren“.

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sich eine solche Einmütigkeit schon einstellen, hat von den Eigengesetzlichkeiten akademischer Diskurse keine rechte und vor allem keine realistische Vorstellung. Es geht in diesen harten und bekannt kontroversen Fragen auch gar nicht darum, einen substantiellen Konsens zu erzielen, sondern eher darum, den Dissens und seine tieferliegenden Gründe so klar und so sachlich wie möglich zu formulieren. Der Dissens wird festgehalten, aber als „rationaler Dissens“56 auch besser verständlich und mit einem gewissen Grundrespekt vor den Überzeugungen der Gegenseite präsentiert. Dabei geschieht in einem interdisziplinär besetzten Gremium, das seine Texte (in oft mühevollen, langwierigen und sich bis in die Details von Interpunktion und Orthographie vertiefenden Sitzungen) selbst schreibt, doch etwas ganz Eigentümliches und Bemerkenswertes. Im wechselseitigen Austausch der Argumente stoßen ja nicht nur konfrontativ die verschiedenen Positionen aufeinander; es müssen auch die verschiedenen Disziplinen eine gemeinsame Sprache finden, und das heißt zu allererst, müssen ihre Fachsprache mit dem je eigenen Jargon auf den Prüfstand stellen und eben auch ein Stück weit überwinden. Wenn hier schon nicht der zwanglose Zwang des besseren Arguments zählt, so doch der Zwang zur verständlichen Darlegung der eigenen Meinung für andere und am Ende auch für Dritte. Das scheint mir vielleicht das allerwichtigste zu sein, was Beratungsgremien dieser Art leisten können: eine die wissenschaftlichen Standards der jeweiligen Fachdisziplin vollumfänglich wahrende, aber deren je eigenen (und für Außenstehende oft eigenwillig anmutenden) wissenschaftlichen Stil überwindende, möglichst alle Argumente in gut nachvollziehbarer Form präsentierende Darstellung und Ausleuchtung der Problemfelder.57 Insofern können, um am Ende doch noch eine Antwort auf unsere Leitfrage zu versuchen, Beratungsgremien ihrer Funktion gemäß ein Stück weit der Versachlichung der bioethischen Debatten dienen, zur Klärung der Grundfragen (vor allem auch der biomedizinischen!) beitragen, desgleichen zur Rationalisierung von Kontroversen,58 wenngleich nicht zu ihrer Aufhebung.59 Dabei heißt Rationalisierung nicht, dem Trugbild einer absolut richtigen, rein wissenschaftlichen, von subjektiven 56

So van den Daele, Streitkultur (Fn. 55), S. 364 ff. Daß sich in den Stellungnahmen etwa des Nationalen Ethikrates daher nicht ein bestimmter (typisch naturwissenschaftlicher, theologischer, philosophischer oder juristischer) Argumentations- oder Darstellungsstil durchsetzt, bedeutet freilich nicht, daß diese Stellungnahmen insgesamt nicht als wissenschaftlich eingestuft werden könnten. 58 Nochmals van den Daele, Streitkultur (Fn. 55), S. 362 mit dem Hinweis auf das Ethos des Diskurses in einem deliberativen Gremium: „Dieses Ethos verlangt, dass die Beteiligten sich als gleichberechtigte Partner im Dialog anerkennen. Es legt die streitenden Parteien darauf fest, in einer symmetrischen, im Prinzip machtfreien sozialen Interaktion ihre Position zu begründen, Einwände zur Kenntnis zu nehmen und zu entkräften, die Gründe der Gegenseite für deren Position anzuhören und einer Prüfung zu unterziehen usw.“. 59 Weitergehend wohl unter Rekurs auf den frühen Habermas Helmuth Schulze-Fielitz, Bioethische Beratungs- und Entscheidungsgremien als Schutzmechanismen für Menschenrechte?, in: Eckart Klein/Christoph Menke (Hrsg.), Menschenrechte und Bioethik, Berlin 2004, S. 203 ff. (219 ff.). 57

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Werten freien Entscheidung aufzusitzen. Es heißt nur, den Punkt so genau wie möglich zu bestimmen, an dem die Aufbereitung des wissenschaftlich unstreitigen Materials verlassen und der Bereich normativer Wertungen erreicht ist, die dann ihrerseits so klar und so präzise wie möglich zu konturieren sind. Günstigenfalls geschieht also das, was Max Weber „Wert(ungs)diskussionen“ genannt hat.60 Er versteht darunter die (begrenzte) Möglichkeit, Werturteile einer rationalen Diskussion zuzuführen. Zum einen kann man ihm zufolge Zweck-Mittel-Relationen erkunden, also klären, welche Mittel zur Erreichung eines bestimmten vorgegebenen Zweckes überhaupt geeignet sind und mit welchen – möglicherweise unerwünschten – Folgen und Nebenfolgen der Einsatz dieser Mittel verbunden ist.61 Auch solche Erwägungen haben, insbesondere was die notorischen Folgediskussionen beim Einsatz biomedizinischer Techniken angeht, durchaus einen Ort bei der kontroversen bioethischen Diskussion im allgemeinen und den Beratungen von Ethikgremien im besonderen. Noch einschlägiger in unserem thematischen Kontext ist aber die zweite Version rationaler Wertdiskussion, die man als Herausarbeitung und Kritik von Wertaxiomen umschreiben könnte. Es geht um die kritische Prüfung der eigenen oder auch anderer Werturteile auf ihre innere Stimmigkeit, ihre Konsistenz und Folgerichtigkeit. Ziel ist eine Art Gesamtkonsistenzprüfung, in den Worten Webers: „Herausarbeitung der letzten, innerlich ,konsequenten Wertaxiome“ als eine „von der Einzelwertung und ihrer sinnhaften Analyse ausgehende, immer höher zu immer prinzipielleren wertenden Stellungnahmen aufsteigende Operation.“62 Genau dieser Anspruch auf innere Folgerichtigkeit nahm nun bei der Erarbeitung der eigenen Position und Kritik der anderen in den Beratungen des Nationalen Ethikrates (und sicher nicht nur bei ihm) einen zentralen Stellenwert ein. Sie hatten den guten Sinn, sich selbst wie auch der anderen Seite Klarheit zu verschaffen über die stringente Ableitung und Durchführung der eigenen Position sowie deren letzten Fluchtpunkt. Diese Offenlegung der Präferenzen nebst nachvollziehbaren Begründungsversuchen kann gar nicht hoch genug geschätzt werden.63

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Hierzu ausführlicher Horst Dreier, Max Webers Postulat der Wertfreiheit in der Wissenschaft und die Politik, in: ders./Willoweit, Wissenschaft und Politik (Fn. 7), S. 35 ff. (57 ff.). 61 Siehe Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsgg. v. Johannes Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen 1988, S. 146 ff. (149 f.); ders., Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917), in: ebd., S. 489 ff. (508). 62 Weber, Sinn (Fn. 61), S. 510. 63 Konzise Aufgabenbeschreibung bei Hasso Hofmann, Recht und Ethik, in: Verhandlungen des 44. Deutschen Juristentages, Bd. II/1, Teil K, München 2002, S. 5 ff. (21 f.): „Aufgabe jener Räte und Kommissionen sollte es sein, die Öffentlichkeit umfassend und zuverlässig zu informieren, die Fronten zu klären und das Niveau der öffentlichen Diskussion zu heben. Im einzelnen bedeutet das: Verständliche Aufarbeitung der naturwissenschaftlichen Problemlage, Durchleuchtung der Forschungsvorhaben; Erfassung und Analyse aller zu deren moralischer Bewertung vorgebrachten Gesichtspunkte sowie Darstellung der Argumentationsmuster und ihrer lebensweltlichen Kontexte; Herausarbeitung von Entscheidungsalternativen nach Voraussetzungen, Inhalt und Folgen; Angabe der verschiedenen Präferenzen“.

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VI. Resümee Wozu taugen nun also, zusammenfassend gesagt, Ethikräte? Sie dienen nicht dazu, dem Parlament die Entscheidung abzunehmen oder sie ihm vorzuschreiben. Ethikräte sind weder Ersatz- noch Supergesetzgeber. Wohl aber können sie dem Parlament und vor allem auch der Öffentlichkeit Entscheidungs- und Argumentationshilfen an die Hand geben. Ethikräte sind keine Instanzen, in denen sich eine Art von höherer Weisheit und moralischer Überlegenheit bündeln würde. Wohl aber kann in ihnen fachspezifischer Sachverstand und wissenschaftliche Perspektive in wechselseitiger interdisziplinärer Begegnung aufklärend und erhellend für die Problemanalyse wirken. Und eine gute Sachanalyse ist eben oft schon der erste und wichtigste Schritt für eine tragfähige Lösung. Ethikräte tragen weder der Gesellschaft noch dem Parlament stolz und zielsicher die Fackel voraus. Aber genausowenig tragen sie der Regierung oder dem Parlament lediglich die Schleppe hinterher. Vielmehr erkunden sie ein schwieriges Gelände, prüfen Stege und Wege, warnen vor Sackgassen, breiten Entscheidungsalternativen aus. Ob sie bloß Rufer in der Wüste oder vielleicht doch rezipierte Stimmen in der gesamtgesellschaftlichen Diskussion sind, hängt – eine hinlängliche Qualität ihrer Texte vorausgesetzt – nicht von ihnen, sondern dem allgemeinen Niveau öffentlicher Debatten und dem Rezeptionswillen und der Rezeptionsfähigkeit von Regierung und Parlament ab. Hier mag man mit guten Gründen skeptisch sein, ob sich in einem so verminten Gelände wie der Bioethik das Prüfen von Fakten und das Wägen von Argumenten überhaupt ihren Weg bahnen können,64 wo doch das von näherer Sachkenntnis ungetrübte Werturteil so viel mehr Freude macht und im übrigen langes Nachdenken erspart. Andererseits sollte man die Hoffnung nie aufgeben. Resignation war und ist die Sache Rainer Wahls nicht, und sie sollte auch die unsere nicht sein.

64 Wahl, Rolle (Fn. 5), S. 580 Fn. 57 sieht nicht von ungefähr mit „Sorge, wenn im Feuilleton der FAZ, die sich um die Diskussion im Übrigen verdient macht, die Auseinandersetzungen um die Biomedizin häufig als Glaubens- oder Kulturkampf stilisiert werden“.

Die Republik des Saint-Just Von Rolf Grawert, Bochum I. Poesie und Politik Louis Antoine Saint-Just, geboren 1767 in Dezise und 1794 hingerichtet in Paris, fasziniert noch heute: durch die Radikalität seiner Politik, durch seine Ästhetik des Bösen, durch die Frühvollendung seines Lebensentwurfes. Wie andere Revolutionäre führte er ein Leben zum Tode und betrieb bis dahin selbst offensiv „die schreckliche Notwendigkeit, in welche der Staat versetzt sein kann, das Leben einiger kürzen zu müssen, um die Ruhe und Freiheit aller zu sichern“.1 Michelet2 bescheinigte ihm ein halbes Jahrhundert später gleichwohl eine „wirklich staatsmännische Begabung“, während Camus3 ihm gut anderthalb Jahrhunderte später das literarische Denkmal einer „großartigen Gestalt“ der im „Stil der Guillotine“ radikal ins Extrem gedachten Revolution setzte. Diese Biographen der verschiedensten Couleur anziehende Gestalt4 hat außer blutigen auch breite literarische Spuren hinterlassen, die als „Gesammelte“ bis „Sämtliche Werke“5 dazu einladen, dem Mythos Saint-Just auch staatstheoretisch nachzuspüren. Obwohl Saint-Justs Schaffen nur ein knappes Jahrzehnt dauert, spiegelt es die 1 Maximilien de Robbespierre, Erinnerungen. Von ihm selbst, hg. v. Konrad Merling, 1924, S. 176. 2 Jules Michelet (1798 – 1874), Geschichte der Französischen Revolution (1847 ff.), bearb. u. hg. v. Friedrich M. Kircheisen nach der Übers. v. Richard Kühn, ca. 1925, Bd. 9, S. 154; dazu Bernard Vinot, Saint-Just, 1989, S. 302 f. 3 Albert Camus, Lhomme revolt (1951), deutsch: Der Mensch in der Revolte, 1969/1986 (ro-ro-ro), S. 103 f.; dazu Olivier Todd, Albert Camus. Une vie, 1996, S. 550. 4 Zeitnah: duard Fleury (1815 – 1883), tudes rvolutionnaires: Saint-Just et le terreur, 2 Bde., 1852; Ernest Hamel (1826 – 1898), Histoire de Saint-Just, dput  la Convention Nationale, 1859. – Wissenschaftsnah: Geoffrey Bruun, Saint-Just. Apostel of the Terror, 1966; Eugene N. Curtis, Saint-Just. Collegue of Robbespierre, 1973; Mario Mazzuccielli, Saint-Just, 1980; Bernard Vinot, Saint-Just, 1985, deutsch 1989 (Fn. 2; Vinot erläutert hier, S. 299 ff., wie u. warum Saint-Justs biographisches Bild in der Geschichte schwankt); Norman Hampson, Saint-Just, 1991, deutsch ders., Saint-Just. Erzengel des Todes, 1992; Jörg Monar, Saint-Just: Denker und Protagonist der Revolution, 1993. 5 Anonym; Oeuvres des Saint-Just, reprsentant du peuple  la Convention nationale, Paris 1834; Charles Vellay (Hg.), Oeuvres compltes des Saint-Just, 1908; Michle Duval (Hg.), Saint-Just, Oeuvres compltes, 1984, verbess. Aufl. 2003, – nachfolgend: Duval 2003 – . Diesen umfangreichen Sammlungen haben Vinot u. Monar (Fn. 4) noch verschiedene, verstreute Schriftstücke Saint-Justs hinzugefügt; Privatbriefe sind, soweit ersichtlich, selten zur Publikation gelangt.

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Entwicklung der Revolution von den provinziellen Revolten der Bauern bis zur Inversion der radikalen Republik. Das 18. Jahrhundert kannte größere Geister als den jungen Wortführer der Montagnards. Saint-Just hinterließ auch keine kohärente Lehre. Aber er wirkte inmitten der Gesellschafts- und Staatskrise bis zur Katastrophe, und deshalb interessiert bis heute, wie ein zur Politik und Macht strebender Aktivist sein politisches Umfeld durch Schreiben und Reden ausrichtet. Dabei blieb Saint-Just nicht einmal genügend Zeit, um Montesquieu und Rousseau, auf deren Schultern er argumentierte, richtig zu verstehen, geschweige denn, die Vorstellungen dieser Vordenker der Revolution sachgerecht umzusetzen. So spiegeln die Schriften und Reden vornehmlich das Schicksal eines intellektuellen Revolutionärs, und sie werden deshalb meistens biographisch statt politik- und staatstheoretisch gelesen. Im Rückblick erscheint Saint-Just so als Phänomen einer Umbruchszeit, der von den Wirren der Revolution geprägt wird und sie zugleich prägt, der die Katastrophe durchmisst, zur Katharsis aber nicht mehr gelangt und im eigenen Malstrom untergeht. Abstrahiert man aber von der Faszination dieser Figur, dann lässt sich den Werken das Programm einer Formation von Gesellschaft und Herrschaft entnehmen, das so zwar nicht systematisch erdacht war, sich aber im Laufe der Revolution ergibt und in die radikale Republik und Diktatur mündet, die ihre Ideale der Freiheit ad absurdum führt. Saint-Justs Vorstellungen ergeben sich aus dem Prozess praktischer Politik und laden deshalb bis heute zur Nachahmung oder Abwendung ein. Als die französische Nation sich herstellt, erwächst der minderjährige Saint-Just zum Historiographen und Poeten: Er schreibt und publiziert eine „Geschichte der Burg von Coucy“, das Versepos „Organt“ und die Komödie „Arlequin Diogne“. Diese Werke haben Frankreichs Kultur zwar nicht veredelt, doch belegen sie den Anspruch des Autors auf Anerkennung. Während die Geschichte des Zerfalls der einst mächtigen Feudalburg Coucy noch nicht als Menetekel des Feudalismus verbucht werden kann6, präsentiert das knapp achttausend Verse lange Epos „Organt“ durchaus einen antiaristokratischen, aufrührerischen Geist, Goethes widerständigem „Prometheus“ grenzüberschreitend verwandt. Saint-Just verhöhnt darin Ludwig XVI. unter der Maske Karls des Großen und Marie-Antoinettes Halsbandaffäre und schwelgt in pornographischen, blasphemischen Phantasien, die der Marquis de Sade gleichzeitig durchleidet.7 Man kann den „Organt“ als Zeitdokument, als pubertären Unsinn oder als Votum gegen Tyrannen werten; jedenfalls bringt es dem Autor ein lettre 6

Vinot, Saint-Just (Fn. 2), S. 40 f., weist das Werk als Nachschrift aus. – Zum Schloss: JeanMarc Laurent, Le Chteau fodal de Coucy, 2001; der gewaltige Donjon wurde erst auf Veranlassung Mazarins, dann der deutschen Armee des 2. Weltkrieges gesprengt. 7 Donatien Alphonse Francois Marquis de Sade (1740 – 1814) ist von 1784 bis zum Fall der Bastille dort wegen angeblicher Vergiftung u. Sodomie gefangen u. bringt während dieser Zeit seine sexuellen, philosophischen Phantasien zu Papier, die trotz ihrer Pornographien als Weltliteratur anerkannt werden: Justine ou les malheurs de la vertu (1791), in der veränd. Aufl. v. 1797: Justine ou les infortunes de la vertu, ins Deutsche übers. v. Raoul Haller, 1990; dazu literaturkritisch, aber kulturgeschichtlich anerkennend Camus, Der Mensch (Fn. 3), S. 32 ff. – Saint-Just u. de Sade sind Exponenten einer zeitgenössischen Literatur der Libertinage, die die Philosophie der Emanzipation begleitet.

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de cachet ein, das er nicht vergisst. Wer sich durch Reime von „vrit“ auf „beaut“ und „ciel“ auf „naturel“ nicht abschrecken lässt, gelangt immerhin zu der Behauptung, Frankreich werde durch Tyrannen regiert, und dem Leser späterer Revolutionsreden bleibt der Satz im Gedächtnis: „Faisant le mal, et croyant faire bien“.8 Man könnte ihn für die Handlungsmaxime eines Politikers ausgeben. Saint-Justs politische Schriften sind zeitgebunden und dennoch konzeptuell angelegt. Sie folgen den Stadien der Revolution von der Konstituierung der Monarchie bis zur Radikalisierung der Republik und von der „libert“ bis zum „terreur“. Sie spiegeln den Umbruch und zeichnen die Stabilisierung des Staates. Vernachlässigt man die biographischen und historischen Besonderheiten ihrer Anlässe und Adressaten, dann lassen die Schriften einen Saint-Just der Monarchie, der Demokratie und der Diktatur erkennen, und so sollen sie im Folgenden ungeachtet mancher Überschneidungen und Widersprüche erfasst werden: Saint-Just als politischer Denker und theoretisierender Politiker.

II. Konstitutionalisierung der Monarchie Die Revolution von 1789 hatte die Nation aktiviert, die Monarchie aber nicht erledigt. Als zum Gedenken des Jahrestages des Sturms auf die Bastille am 14. 7. 1790 in Paris das Föderationsfest gefeiert wird9, schwört Ludwig XVI. auf dem Champ-deMars auf Nation und Gesetz, und Saint-Just erlebt eine pompöse Versöhnung der Franzosen miteinander und mit ihrem König. Noch ein halbes Jahrhundert später schwärmt Michelet10 von diesem neuartigen, überwältigenden Erlebnis nationaler Einheit, und Saint-Just wird sie als Ziel seiner Politik nicht aus den Augen lassen. In dieser Zeit entsteht sein erster staatstheoretischer Essay „Esprit de la Rvolution et de la Constitution de France“, in dem er zeitgleich mit den Beratungen zur Verfassung von 1791 sein Konzept einer Konstitutionalisierung der Monarchie entwickelt. Dazu wählt er als Motto Montesquieus Wunsch, man möge neue Gründe für die Pflichten, das Fürstentum, das Vaterland und die Gesetze finden. Das verspricht ein Programm der Vermittlung, Bewahrung und Ordnung. Im „Esprit“ wendet Saint-Just sich zunächst der Ausgestaltung der nationalen Revolution zu. Dabei geht es ihm nicht um eine Fortsetzung des Sturms auf die Bastille, sondern um eine Konsolidierung der Verhältnisse so, dass die als tyrannisch empfundenen Elemente des Ancien Rgime durch eine Legalitätsordnung abgelöst werden. „Tyrannei“ war ein verbreitetes Schlagwort der in antiker Literatur gebildeten11 Zeit8

Organt: Duval, Oeuvres 2003 (Fn. 5), S. 164. Der Jahrestag wurde erst 1880, zehn Jahre nach der Kapitulation Napoleons III. in Sedan, Nationalfeiertag Frankreichs. 10 Michelet, Geschichte (Fn. 2), Bd. 2, 27. Kap., S. 365 ff. 11 Vgl. Vinot, Saint-Just (Fn 2), S. 35 f.; Jean Jacques Rousseau, Confessions (1782 – 1789), deutsch: Die Bekenntnisse, übers. v. Alfred Semerau, 1981, S. 13, 235. In diesem Zusammenhang sei an Merciers Erstaunen erinnert, dass in den Schulen der absoluten Monarchie 9

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genossen, das jederart Unterdrückung disqualifizieren sollte. Saint-Just wendet es polemisch gegen den Adel, die Minister und den Hof. Die Leser des Pariser Flaneurs Mercier wussten bereits, dass der Hof auf die öffentliche Meinung keinen Einfluss mehr hat, und sie wussten auch, dass der Hass des Volkes den König nicht erreichen kann, weil die Zwischenschicht der Notabeln zu vielschichtig sei.12 Für Saint-Just verbindet sich mit der Königsherrschaft jedoch historisch und prinzipiell der Verlust der Freiheit.13 Er verweist deshalb auf das Schicksal des Tarquinius Superbus, registriert aber verwundert, dass das Volk den in Paris einziehenden König hochleben lässt. Saint-Just arrangiert sich mit diesen Gegebenheiten. Seine Polemik gegen Minister und Hof entlastet den König, der dafür in ein System eingefügt wird, das ihn der Souveränität der Nation unterstellt.14 Während die – später verabschiedete – Verfassung von 1791 den König dem Corps lgislatif als Repräsentanten der Nation zur Seite stellt15, während Alphonse de Lamartine16 den König im Rückblick für isoliert und dennoch „au sommet de la constitution“ hält17, betont Saint-Just die Ein- und Unterordnung, indem er das – später auch von der Verfassung verwendete – geflügelte Wort propagiert: „Le roi ne regne point, … il gouverne.“18 „Gouvernement“ meint nicht die führende Staatsleitung, sondern nur die Ausführung der Gesetze durch Funktionäre. Diese Regierung arbeitet unter einem institutionalisierten Misstrauen. Allein die Gesetze und deren Gesetzgeber sollen Art und Maß der Herrschaft namens der Nation bestimmen. Saint-Just hatte den König schon im „Organt“ seiner Hoheit und Würde entkleidet. Nun passt er ihn ein in ein gewaltenteilendes Funktionssystem. Das suspensive Veto des Königs wird außerordentlich klein geschrieben. Von einer besonderen Würde des Königs ist bei Saint-Just keine Rede. So arrangiert er sich vorläufig mit der von der Assemble Nationale akzeptierten konstituierten Monarchie und deren gemischter Regierungsform, hebt aber die Unteilbarkeit und Souveränität der Nation hervor. Die Vorrangstellung dieser Nation unterscheidet diese französische Variante der konstitutionellen Monarchie von der deutschen, die unter dem oktroyierten Leit-

Frankreichs die Schriftsteller der röm. Republik den Geist der Jugend prägen sollten: vgl. das Zitat aus: Louis Sbastien Mercier, Tableau de Paris (1781) in: Winfried Schulze (Hrsg.), Der 14. Juli 1789. Biographie eines Tages, 2. Aufl. 1989, S. 125. 12 Louis Sbastien Mercier, Mein Bild von Paris, übers. u. hg. v. Jean Villain, 1979 (itb), S. 255 f.; der Autor gehört wie Saint-Just dem Nationalkonvent an, stimmt allerdings gegen das Todesurteil gegen Ludwig XVI. u. wird als Mitglied der Gironde 1793 bis zum Ende Robbespierres u. Saint-Justs gefangen gesetzt. 13 Esprit de la Rvolution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 286. 14 Esprit de la Rvolution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 294 f.: „Lintermdiaire des ministres et t dangereux si le monarque et t souverain, mais le prince lui-mÞme est intermdiaire.“ 15 Tit. III art. 2: „La Constitution francaise est repräsentative: les reprsentants sont le Corps lgislatif et le Roi.“ 16 1790 – 1869; dazu Grard Unger, Lamartine. Pote et homme dtat, Paris 1998; Lamartine wird 1838 Abgeordneter, 1848 kurzzeitig Minister in der 2. Republik. 17 A(lphonse). de Lamartine, Histoire des Girondins, Paris 1848, 2. Bd., S. 1. 18 Tit. III art. 4, tit. III ch. II sect. I art. 3.

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bild des monarchischen Prinzips zustande kommt. Für Saint-Just ist der Monarch nur eine in den Organismus des Staates integrierte Figur. III. Abschaffung der Monarchie Die Flucht und Konspiration Ludwigs XVI. einerseits19, der Zusammentritt des Nationalkonvents am Tag nach der erfolgreichen Schlacht von Valmy andererseits verändern jedoch die Lage. Der Konvent beschließt umgehend die Abschaffung der Monarchie, ruft die Republik aus und setzt Ludwig sowie dessen Familie gefangen. Saint-Just ist das jüngste Mitglied des – erstmals aus einer allgemeinen Wahl hervorgegangenen – Konvents, gewählt auf Vorschlag Robbespierres, und passt mit seinem moderaten „Esprit“ nicht mehr in die neue Landschaft. Denn der Konvent diskutiert, ob, wo und wie dem König der Prozess gemacht werden soll.20 Die girondistische Mehrheit taktiert vorsichtig. Doch Saint-Just, der jüngst noch voller Angst ein „fivre rpublicaine“ bekundet hat21, hält am 13. November und am 26. Dezember 1792 seine berühmten Anklagereden gegen Ludwig XVI.22 Sein konstitutioneller Kompromiss ist jetzt Vergangenheit. Er agiert als schneidiger Schüler Robbespierres23 und hält sich nicht mit den Abwägungen eines Rechtsgelehrten auf, sondern appelliert thetisch, indem er die Argumente der Royalisten und Zauderer rhetorisch aushebelt, mit Suggestiv- und Fangfragen Zustimmung erheischt und mit Zitaten klassischer Tyrannenmorde den Tod des Königs zur Bedingung republikanischer Freiheit stilisiert. Lamartines nachträgliche Schilderung dieses Auftritts vermittelt das schaudern Machende, Diktatorische jener ersten Rede: Unergründlich wie ein Orakel und axiomatisch belehrend schien jener junge Mann bar jeder humanen Empfindung zu sein, um die kalte Intelligenz und den mitleidslosen Schwung der Revolution zu personifizieren.24 Doch nicht der Stil des Vortrages, nicht dessen Taktik sind

19 Marie-Antoinette hatte Leopold II. um Militärhilfe gegen die Revolution gebeten; Ludwig XVI. nahm Kontakt auf mit Karl-Friedrich Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, „Schüler“ Friedrich des Großen u. „Chef“ der feindlichen preußischen Truppen; die Flucht sollte in die Österreichischen Niederlande führen; die verkleidet flüchtende Königsfamilie wurde in Varenne festgenommen; Ludwig XVI. hatte eine antirevolutionäre Proklamation vorbereitet, die später aufgedeckt wurde. 20 Bündig zum Zusammenwirken der aktiven Politiker: Georges Lefebre / Raymond Guyot / Philippe Sagnac, La Rvolution Francaise, 2. Aufl. 1938, S. 148 ff. 21 So der häufig zit. Brief aus Noyon an Daubigny v. 25. 7. 1792, in: Duval 2003 (Fn. 5), S. 363. 22 Discours sur le jugement: Duval 2003 (Fn. 5), S. 376 ff., 392 ff.; die – verbesserungsbedürftige – deutsche Übersetzung der 1. Rede in: Peter Fischer (Hrsg.), Reden der Französischen Revolution, 1974, S. 217 ff. 23 Lamartine, Histoire (Fn. 17), 3. Bd., S. 332 f.: Saint-Just sei eine typische Figur der Revolution gewesen, der die Politik Kampf bis zum Tod bedeutet habe. 24 Lamartine, Histoire (Fn. 17), 3. Bd., S. 339; Lamartine meint, Saint-Just habe durch seine kalte Intelligenz Robbespierres moralische Schwäche wettgemacht.

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über den Tag hinaus interessant, sondern Saint-Justs Vorstellungen von der Monarchie und deren Legitimität. Saint-Just diskutiert zunächst die Unantastbarkeit Ludwigs, degradiert ihn dann zum normalen Menschen, schließlich zum Volks- und Staatsfeind. Laut der Verfassung von 1791 ist „la personne du Roi … inviolable et sacre.“ Diese Formel hält die beiden Körper des Königs noch ineins. Das ändert die Revolution. Camus hält die Unantastbarkeit für das Hauptthema der Auseinandersetzungen im Konvent.25 Immerhin wurde Ludwig gesalbt und vereinigte in sich die private und öffentliche Person, die die Einheit Frankreichs zum Ausdruck brachte.26 Doch hatten sich der Status und das Ansehen des Monarchen inzwischen grundlegend verändert: Der Eid Ludwigs XVI. auf die Verfassung hatte die Legitimation von Gottes Gnaden auf die Nation umgestellt, und selbst diese Stellung ist durch die Amtsenthebung Ludwigs und die Abschaffung der Monarchie aus der konstitutionellen Facon geraten; die Verfassung von 1791 spielt keine Rolle mehr.27 Die Richtung markiert der Abb Grgoires: „Die Könige sind in der moralischen Ordnung das, was die Monster in der physikalischen sind. Die Höfe sind die Werkstätten der Verbrechen und die Brutstätte von Tyrannen. Die Geschichte der Könige ist die Martyriologie der Nationen.“28 Saint-Just eifert dem nach. Er ironisiert die „religiöse Scheu“ des Volkes und erinnert an Cromwell und Karl I. von England: Karl war 1649 auf Betreiben Cromwells hingerichtet und England war zur Republik erklärt worden; doch nach Cromwells Tod kehrte England zur Monarchie zurück, und die restaurativen Sieger richteten Cromwell symbolisch hin.29 Das gilt es in Frankreich zu verhindern. Saint-Just entkleidet Ludwig daher bis auf den Zustand der Natur, der vor aller Vergesellschaftung besteht. Er redet gegen die Anerkennung als citoyen. Für ihn ist Ludwig nur ein isolierter Mensch: Das ist die „neue Ordnung der Dinge“, die Burke als Auswüchse einer „barbarischen Philosophie“ geißelt.30 Um Ludwig aus der Gemeinschaft zu isolieren, bemüht Saint-Just eine eigenwillige Variante der Vertragstheorie. Er kolportiert nicht mehr Montesquieu, sondern Robbespierres Vordenker Roussseau: Der Gesellschaftsvertrag (pacte) sei ein Kontrakt (contrat) zwischen Bürgern und nicht mit der Regierung (gouvernement); der 25

Camus, Der Mensch (Fn. 3), S. 96. Dazu speziell Fr. Olivier-Martin, Histoire du droit francais des origines  la Rvolution, 1992, S. 323 (Nr. 253); allgemeiner Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, 2. Aufl. 1994, S. 405 ff. 27 Das Dekret des Konvents v. 21./22. 9. 1792 stellt allerdings nur fest, „que la Royaut est abolie en France“, doch wird die Fortgeltung nicht problematisiert, sondern ein neuer Verfassungsauftrag vergeben. 28 Zit. nach der von Hamel, Historie (Fn. 4), S. 107, mitgeteilten franz. Fassung; mit einer geringen Abweichung ebenso Lamartine, Historie (Fn. 17), 4. Bd., S. 97. 29 Dazu F. W. Maitland, The constitutional history of England, hg. v. A. L. Fisher, 1908/ 1974, S. 282 ff., 292 ff. 30 Edmund Burke, Betrachtungen über die französische Revolution, übers. v. Friedrich Gentz (1793), Ausgabe: Theorie 1, 1967, S. 131 f. 26

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sei kein echter Vertragspartner, dem alle verpflichtet sein sollen, der sich selbst aber zu nichts verpflichtet; das sei Ludwig vorzuwerfen; der angebliche Vertrag mit ihm sei daher null und nichtig, und er ist illegitim, fügt Saint-Just hinzu, weil ihm die Sanktion der Moral und Natur fehle. Von dieser Warte aus braucht Saint-Just Ludwig nicht mehr vom Thron zu stürzen. Seine Argumente gipfeln in der eigenwilligen, Rousseau übertreibenden These, jeder König sei per se ein Usurpator und Tyrann und gehöre daher nicht zur Gemeinschaft; diese These schneidet Ludwig von den dynastischen Traditionen seiner Familie und Herrschaft, aber auch von der normalen Sozialnatur des Menschen31 ab. So pointiert Saint-Just seine schneidige Alternative: Dieser Mensch kann nur herrschen oder sterben. Die Begriffe Usurpator, Tyrann verweisen auf das feudalistischen Widerstandsrecht. Ein Usurpator ist den besonders im 16. Jahrhundert diskutierten Lehren vom Widerstand und Tyrannenmord ein Herrscher, der die Macht gewaltsam erobert hat, ein illegitimer Herrscher, ein tyrannus sine titulo. Er darf bekämpft und getötet werden. Die Lehre war auch auf Tatbestände der ungerechten, unterdrückerischen Herrschaftsausübung ausgedehnt worden.32 Saint-Just scheint diese Lehren, die schon in den Kreisen der Politiques Frankreichs diskutiert worden waren33 zu kennen, doch greift er kategorisch weiter aus, indem er jeden König zum Rebellen und Usurpator erklärt, und dazu verweist er appellativ auf Tarquinius, Cäsar und Karl I. von England. Da die Argumentation generalisiert, triftt sie alle herrschenden Monarchen, die sich denn auch sofort angesprochen fühlen. Weil Ludwig Frankreich verraten habe, bemüht Saint-Just zudem die Abdikation gemäß der erledigten Verfassung von 179134, um im Erst-Recht-Schluss zu folgern, Ludwig habe verbrecherischer als dort vorgesehen gehandelt und sich dadurch selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Demnach sei er ein Fremder und Feind. Als solcher kann er nach der Logik Saint-Justs nicht nach dem Recht des Landes und dessen Bürger, sondern nur nach dem droit des gens behandelt werden. Dessen Strukturen und Regeln werden auf die primitiven Ursprünge des Kampfes reduziert. Einem solchen Völkerrecht gemäß vergilt man Gewalt mit Gewalt. Daher dürfe gegen Ludwig nicht prozessiert, sondern müsse gekämpft werden.35 Kannte Saint-Just die da31

Vgl. unten IV. Dazu u. a. Ernst Reibstein, Über Juan Mariana, Der Staat,1962, S. 479 (481 ff.). 33 Roman Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts, 1962. 34 Vgl. tit. III ch. II art. 5 ff.: auf die Tatbestände Verweigerung des Verfassungseides, bewaffneter Staatsstreich, illegitimes Verlassen des Königreiches folgte als mögliche Sanktion die Proklamation der Abdikation des Königs durch den Corps lgislatif; diese Sanktion entsprach der, die am 12. 2. 1689 in Englands Glorious Revolution gegen Jakob II. wegen dessen Flucht vor Wilhelm von Oranien in das Frankreich Ludwigs XIV. vom englischen Parlament ausgesprochen worden war. Saint-Just kennt diese Geschichte offenbar. 35 Saint-Just hätte nicht nur das Schicksal Catilinas, sondern vor allem das des Atheners Lykides zitieren können, der im Kampf seiner Heimatstadt gegen die Perser 479 v. Chr. des Verrates bezichtigt u. deshalb samt seiner Familie sofort gesteinigt worden war, doch gehörte Herodot wohl nicht zu seinem Schulwissen: vgl. Neun Bücher der Geschichte, 9. Buch. 32

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mals berühmte Kriegsvölkerrechtslehre Vattels?36 Seine Argumentation sind jedenfalls ein primitiv gewillkürter Verschnitt dieser Lehren, den nur der Zweck verständlich macht: Tod dem Tyrannen! Und Saint-Just vereinfacht deswegen noch mehr: „Man wird eines Tages staunen, dass wir im achtzehnten Jahrhundert nicht so weit fortgeschritten waren wie zu Cäsars Zeiten; damals wurde der Tyrann im vollen Senat ermordet, ohne irgendeine Formalität als dreiundzwanzig Dolchstiche und ohne ein anderes Gesetz als Roms Freiheit.“ Das Beispiel ermächtigte eigentlich jeden französischen Bürger zur Tat. Der Königsmord wäre dann nur ein einfacher und widerstandsrechtlich gerechtfertigter Totschlag37, doch hat Saint-Just das nicht im Sinn. Er benutzt das Brutus-Senats-Argument nur, um den Konvent zur Eile anzutreiben und ihn davon abzuhalten, die Letztentscheidung dem Volk zu überantworten; dort argwöhnt er ein falsches Mitleid mit dem dicken, guten König. Ludwig ist für ihn schon Vergangenheit. Er argumentiert machtpolitisch und schaut vorwärts auf den weiteren Fortschritt der Revolution. Man hat sein Plädoyer als Ermächtigungsrede zugunsten des Konventes verstanden38, doch liegt ihr Schwerpunkt auf der Sanktion zur Fundamentalisierung der Republik. Seine Begründungen können zwar nicht die Qualität einer Staatstheorie beanspruchen; doch die Akkumulation der disparaten Moral- und Rechtsquellen vereint deren Sanktionen zu dem Ziel: Ludwig XVI. jeglicher Legitimität, der charismatischen, dynastischen und konstitutionellen, zu entkleiden, um die Republik unbelastet einrichten zu können. Die Reden und ihr Vortragsstil sind demagogische Meisterleistungen. Sie überzeugen nicht nur den damaligen Konvent. Sie sind Wegmarken: Seither kann der Mord aus Staatsräson sich als Ausdruck der politischen „Vernunft“ präsentieren.39 IV. Konstituierung der Republik Die Republik, die der Nationalkonvent ausgerufen hat und die Saint-Just propagiert, definiert sich historisch als Gegensatz zur Monarchie. Ihre Souveränität ist zu36

Emer de Vattel (1714 – 1767), Le droit des gens ou principes de la loi naturelle appliqus  la conduite et aux affaires des nations et des souverains (1758), deutsche Übers. v. Wilhelm Euler, 1959, Buch III Kap. I u. III (S. 367 ff.). 37 Diese Folge nennt Burke, Betrachtungen (Fn. 30), S. 131 f. 38 Michael Niehaus, Ermächtigungsrede. Saint-Justs Rede vor dem Konvent am 13. November1792: www.unikonstanz.de/kulturtheorie/images/tyrannen/TyrannenNiehaus.pdf (Zuletzt besucht am: 10. 2. 2011). 39 So Saint-Just in seinem „Discours, prononc  la Convention Nationale dans la s nce du 24 avril 1793: Duval 2003 (Fn. 5), S. 415 ff. – Georg Büchner, Dantons Tod, 2. Akt. 7. Szene, hat Saint-Justs Rechtfertigungen in eine literarische Fassung gebracht; Martin Mosebachs Rede zum Büchnerpreis „Saint-Just. Büchner. Himmler“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 252 v. 30. 10. 2007, S. 33, übertreibt diese Fassung in eine Begründung des Massenmords. Als Carl Schmitt, Der Führer schützt das Recht, in: Deutsche Juristen-Zeitung 1934, Sp. 945 ff., die justizfreie Ermordung Röhms u. a. rechtfertigt, bemüht er jene Vernunft als eine solche der „Tat“ des Führers u. dessen neuer „Sinngebung“ u. grenzt diese „Tat“ zugleich gegen die „Aktion eines republikanischen Diktators“ ab.

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nächst nach innen gerichtet. So hat sie sich in Szene gesetzt: Das Volk entreißt dem Monarchen die Souveränität und ergreift sie selbst. Es tritt als Kollektiv an die Stelle des Monarchen, allerdings ohne göttlichen Beistand. Lamartine hält diesen Akt ungeachtet seiner Unerhörtheit und seiner Unmenschlichkeiten für einen der kurzen, erfüllten Augenblicke, in dem die Geschichte stillzustehen und den Völkern neue Horizonte zu eröffnen scheint.40 Saint-Just teilt diesen Blick auf die innenpolitische Souveränität, die den Träger der Staatsgewalt bezeichnet und trifft so das Anliegen Bodins,41 in einer Bürgerkriegssituation die Hoheitsgewalt im Staat zu ordnen und die „puissance souveraine“ zu verorten. Doch jener Selbstbehauptung ex negativo fehlen Form, Substanz. und Zentrum. Saint-Just ist das wohl bewusst, und er trägt seinen Jakobinern eine moralisch aufgeladene Qualität der Republik vor, die allerdings einem machtpolitischen Höhepunkt zustrebt. Diese Deutung entsteht pikanterweise, als Saint-Just den Vorschlag kritisiert, dem Nationalkonvent eine bewaffnete Garde zur Seite zu stellen:42 „Ich definiere die Republik als eine heilige Konföderation von Menschen, die sich als Gleiche und Brüder anerkennen, als gleiche, unabhängige, aber weise Menschen, und die keinen anderen Herrn über sich anerkennen als das Gesetz, das aus dem allgemeinen Willen hervorgeht, der von den Repräsentanten der gesamten Republik frei formuliert wird.“ Was diese Republik im Innersten zusammenhalten soll, sind ideale Werte wie die Tugenden der Bürger, die Hoheit der Nation und die Interessen des Volkes. Das sind die Wertmaßstäbe der Philosophen des 18. Jahrhunderts, vorgebracht im Sinne der pseudo-religiösen Überzeugungen von Robbespierre. Doch Saint-Just fügt den Idealen einen Faktor der Machtausübung hinzu, nämlich die Gesetzgebung. Was jene Werte zu Rechtnormen formt und verbindlich macht, sind die Gesetze und die Konstitution, und beides formulieren die gewählten Vertreter des Volkes. Saint-Just ist auf die Konstituierung der Republik vorbereitet. Sein „Esprit de la Rvolution et de la Constitution de France“ enthält bereits den wegweisenden Satz: „Wenn ein Volk, das sich befreit hat, kluge Gesetze errichtet, gelingt seine Revolution; passen diese Gesetze zum Land, bleibt die Revolution dauerhaft.“43 Es gilt also, eine kluge Gesetzgebung zu organisieren. Etwa ein halbes Jahr nach der Publikation jenes Essays verfasst Saint-Just die – unvollendete – Schrift „De la nature, de l tat civil, de la cit ou les rgles de l indpendance, du gouvernement“, in der er der 40

Lamartine, Historie (Fn. 17), 4. Bd., S. 100, mit dem klugen Zusatz: „Stunde der Illu-

sion“. 41

Dessen Souveränitätsbegriff, soweit ersichtlich, nicht zitiert wird; vgl. dazu Jean Bodin, Les six livres de la Rpublique (1576), l. 1 ch. X: „Rpublique est un droit gouvernement de plusieurs mesnages et de ce qui leur est commun avec puissance souveraine“; zur Geschichte u. Bedeutung: Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, S. 243 ff. 42 Discours sur la proposition dentourer la Convention Nationale dune garde arme aux Jacobins dans la Sance du 22 octobre 1792, in: Duval 2003 (Fn. 5), S. 369. 43 Esprit de la Rvolution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 286 (sec. part. ch. 1): „Quand un peuple devenu libre a tabli de sages lois, sa rvolution est faite; si ses lois sont propres au territoire, la rvolution est durable.“ An diesen Satz schließen die zitierten Ausführungen zu den Staatsformen an.

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Gesellschaft und dem Volk eine von der Monarchie gelöste, eigene Fassung zu geben versucht. Im April 1793 legt er einen zeitgemäßen „Discours sur la constitution de la France“ vor, der aus einer theoretischen Einleitung und einem ausgearbeiteten Verfassungsentwurf von 225 Artikeln besteht, während der Acte Constitutionnel des Konvents vom 24. 6. 1793 – des Jahres II – nur 159 Artikel ausweist. Die aktuellen politischen Umstände lassen jedoch keinen Verfassungsbeschluss mehr zu. Liest man die republikanischen Arbeiten ungeachtet ihrer disparaten Anlässe im Zusammenhang, dann lässt sich ein Saint-Just der Demokratie rekonstruieren. Schon im „Esprit de la Rvolution“ behandelt der Autor die „Natur“ und die „Prinzipien“ der französischen Demokratie44 und berichtet vom konstitutionellen Frankreich, es habe Demokratie, Aristokratie und Monarchie so in ein System gebracht, dass der „tat civil“45 – Besitz- und Wahlbürgerschaft – demokratisch, die – repräsentative – Legislative aristokratisch und die – monokratisch, hierarchisch funktionierende – vollziehende Gewalt monarchisch ausgestaltet seien; die antiken Erfahrungen zeigten, dass eine perfekte Demokratie die Freiheit nur ohne Monarchie perfektioniere, dass es in einer Aristokratie keine beständigen Gesetze und unter Fürsten keinerlei Freiheit geben könne. So gesehen, sind die antifeudale Revolution, die Ausrufung der Republik und der Tyrannenmord zusammenhängende Stationen zur Demokratie. Die deutschen Republikaner haben dieses Ziel zwar ohne Fallbeil, aber auch erst einhundertundzwanzig Jahre später erreicht.46 Der vorrepublikanische Saint-Just ist noch nicht so radikal. Er folgert aufgrund der Verteilung der politischen Kräfte, man müsse die Gewalten so organisieren, dass weder das Volk noch die Legislative noch der Monarch tyrannisch ausarten könnten, meint aber mit Rousseau, dass ein großes Reich einen Fürsten brauche, während die Republik einem begrenzten Territorium angemessen sei. Diese Genfer Sicht lässt der republikanische Saint-Just selbstverständlich hinter sich. Zwar entwickelt er nun keine aktuelle Form der Demokratie. Seine Bemerkung, dass in einer Demokratie die Magistrate keinen größeren Einfluss als das Volk haben dürften47, klingt konventionell und bleibt ohne legitimatorische oder organisatorische Folgen. Doch er wendet sich vielmehr im Stil der Staats- und Gesellschaftsphilosophien des 18. Jahrhunderts dem genetischen Zusammenhang von Mensch, Gesellschaft und Herrschaft zu. Dabei kann er von wesentlichen Grunddaten ausgehen: Frankreich begreift sich inzwischen als ein einheitliches Staatswesen, Staatsgebiet und Staatsvolk; die Ständegliederung des Ancien Rgime und die Monarchie sind erledigt; Nation und Volk tragen die Legitimität und Souveränität im Staat; der Staat, dessen Begriff – l tat – 44

Ebd.: Duval 2003 (Fn. 5), S. 289 ff mit S. 299 ff. Esprit de la Rvolution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 299 ff.; in „De la nature, de l tat civil, de la cit“ – l. c., S. 921 ff., – wird „l tat civil“ mit der Selbständigkeit und Gleichheit der Bürger in Verbindung gebracht. 46 Dazu Rolf Grawert, Reich und Republik – Die Form des Staates von Weimar, Der Staat 28 (1989), S. 481 ff. 47 Rapport au nom de Comit de Salut Public v. 23. Vent se an II: Duval 2003 (Fn. 5), S. 722, 728. 45

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ähnlich wie bei Bodin mit dem der Republik konvergiert, ist Träger der völkerrechtlichen Souveränität; die Organisation dieser Republik richtet sich nach den Prinzipien der Repräsentation und Organschaft; die Ausübung der Staatsgewalt geht vom stimmberechtigten – männlichen – citoyen aus; Verfassung und Gesetz sind die Regelwerke des gesellschaftlichen und politischen Lebens der sich autonom und säkular formierenden Gemeinschaft. Dazu erläutert die Schrift „De la nature, de l tat civil, de la cit“ dass die Gesellschaft kein Konstrukt, sondern eine sozialhistorische Gegebenheit ist. In der politischen Praxis hat Saint-Just es zwar mit den tradierten gesellschaftlichen Kräften seiner Zeit zu tun; zeitlebens setzt er sich deshalb mit dem konservativen, provinziellen Besitzbürgertum und der aufrührerischen Stadtbevölkerung auseinander. Doch seinen Konzepten unterstellt er eine Gesellschaft, die in der Verbindung von Menschen – Franzosen – realiter besteht, aber einen sozialen Zusammenhang, eine Einheit bildet. Insoweit geht er strukturell nicht hinter die Errungenschaften der Monarchie zurück, die eine vereinheitlichte Untertanenschaft hergestellt hatte, wertet sie aber in eine aktive Körperschaft um.48 Diese Einheit erscheint bei Saint-Just nicht als Natur-, sondern als Kultur- und Politikereignis. „Natur“ ist lediglich ein vorgesellschaftlicher Zustand;49 Rousseau verbindet den Begriff mit inneren und äußeren Fakten und stellte sie in einen Gegensatz zur Erziehung.50 Saint-Just lässt diese Gesellschaft nicht nach den Vertragstheorien entstehen, weil sie dann vom Willen der einzelnen Vertragspartner abhinge, wie der Zivilvertrag lehrte, sondern als historische, sozio-kulturelle Einheit bestehen. Auch sie besteht aus dieser Sicht vor dem und nicht durch den Staat. Saint-Just interessiert weniger die Erklärung ihrer Entstehung als die ihres Zusammenhangs und Zusammenhaltes.51 Eine eigene, konsistente Theorie hat er dazu zwar nicht entwickelt, doch nennt er Elemente der Vergemeinschaftung: Liebe und Freundschaft, Bodenständigkeit, Erziehung und – seit 1789 selbstverständlich – die Nation, die die Zivilgesellschaft überpersonalisiert.52 Das Verhältnis von „socit“, „peuple“ und „nation“ wird von Saint-Just allerdings nicht begriffsscharf geklärt. Irgendwie erscheinen alle drei Größen als funktionierende und legitimierende Kollektiventitäten. Von seinen philosophischen Vorbildner kann er dazu wenig Konkretes erfahren. Denkt er also mit zu abstrakten Ideen oder ist er an der unübersichtlich rumorenden Masse der Franzosen nur als Legitimationsfetisch, aber nicht wirklich interessiert, weil sie die Leitung der Republik nur stört? 48

Dazu Rolf Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, 1973, S. 37, 114 ff. Der Begriff der Natur taucht in der Philosophie des 18. Jh. in verschiedenen Varianten auf; zuweilen im physischen u. psychischen, zuweilen in moralischen u. zuweilen im historischen Sinn (so im Text). – „Natur“ u. „Freiheit“ sind auch die Leitbegriffe der zeitgleichen, frühbürgerlichen, antifeudalistischen Bewegung des „Sturm und Drang“ in Deutschland. 50 Rousseau, Bekenntnisse (Fn. 11), S. 14. 51 Ähnlich Monar, Saint-Just (Fn. 4), S. 197. – Vgl. dagegen Jean Jacques Rousseau, Du contrat social, 1762, c. 6: Durch den Gesellschaftsvertrag geht jedes Gesellschaftmitglied mit allen seinen Rechten in der Gesamtheit ohne Vorbehalte auf. 52 Eine interessante Variante dazu bietet de Sade, Justine (Fn. 7), S. 57 f. 49

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Mit der Gesellschaft („socit“) argumentiert er vornehmlich bei der Diskussion der Vertragstheorien, in der er sich zum Teil von Rousseau absetzt. „Peuple“, Volk, ist dagegen ein mehrdeutiger Begriff, weil er einmal die Gesamtheit der Franzosen als unterdrückten, jetzt befreiten Widerpart des Monarchen, dann die Quelle des allgemeinen Willens und spezieller die Stadtbevölkerung von Paris im Sinne von Pöbel bezeichnet, der auch die Montagnards das Fürchten lehrt. Saint-Just hat das Volk erlebt, wie es wankelmütig jubelt und tobt. Das Volk sei ein ewiges Kind53, folgert er daraus, dem Vernunft nicht zuzutrauen sei; deshalb schon die Ablehnung eines Volksurteils gegen den König und deshalb die Abneigung gegen Verfahren der direkten Demokratie. Das Volk erwächst demnach erst in seiner verfassten Form als Wahlbürgerschaft in den Kommunen zu einer verlässlichen Quelle der Legitimation. Die Nation erscheint bei Saint-Just dagegen als ein Wertbegriff, der die Franzosen ungeachtet aller sozialen, regionalen und politischen Unterschiede zu einer einigen Einheit qualifiziert. Sie ist das Resultat einer schicksalhaften politischen Bewegung und deshalb eine identifizierbare Gemeinschaft. Saint-Just identifiziert sie nach innen und nach außen als Inbegriff des souveränen des Volkes und Staates.54 Die Menschen, die Volk und Nation bilden, sind, wie Saint-Just meint, von Natur aus gut und zur Vereinigung bereit wie geschaffen.55 Zu dieser Annahme benötigt er keinen Schöpfergott, der den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe, sondern seine Vernunft und Einsicht in die erlebten Verhältnisse. Er hält sich damit an den intellektuellen Comment seines Jahrhunderts, das sich bemüht, die Position Gottes durch ein ebenso metaphysisches Bekenntnis zur Natur abzulösen und die Vernunft vom Mittel der Erkenntnis zur autonomen Moral zu erhöhen.56 Saint-Just übernimmt zur Strukturierung der Gesellschaft ein genetisches Muster: Ihrer Sozialnatur folgend, bilden die Menschen zuerst Familien, dann Stämme, dann eine Nation.57 Erst die Nation bringt diese Geschichte der Vergemeinschaftung zu ihrem Höhepunkt. Die Konstruktion bildet aus sich heraus einen konsistenten Zusammenhalt. Im Unterschied zu Hobbes und Montesquieu hält Saint-Just die Menschen also nicht für ursprünglich wild und auf einen Kampf aller gegen alle angelegt. Er glaubt aber auch nicht wie andere Zeitgenossen an den guten Wilden. Wild, schlecht und gewalttätig seien die Menschen erst in der tyrannisch beherrschten Gesellschaft infolge schlechter Gesetze geworden – eine Theorie der umgekehrten Evolution. Die philosophische Quelle dieser Evolution ist wohl Rousseau, der den „Mensch(en), wie er durch seine Mitmenschen geworden ist,“ mit dem „natürlichen Menschen“ ver53

Esprit de la Rvolution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 282. Auch Vattel, Droits des gens (Fn. 36), 1. Buch 1. Kap. §§ 1 ff. (S. 31), identifiziert Nation u. Staat zu einem politischen Körper u. den Inhaber der Binnensouveränität als Souverän – in der „Demokratie“ die Nation, in der Monarchie der Monarch. 55 Discours sur la Constitution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 417. 56 de Sade, Justine (Fn. 7), S. 53 ff., 207 ff., trägt dazu durch seine dialogischen Begründungen bei, die dem französischen Atheismus bis heute als Vorbilder dienen; zu de Sades Atheismus eingehend Camus, Der Mensch (Fn. 7), S. 32 ff. 57 Rapport: Duval 2003 (Fn. 5), S. 727. 54

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gleicht.58 Saint-Just führt diesen Vergleich herrschaftskritisch aus. Er konzentriert sich auf das Ancien Rgime als Verfallsepoche und versteht „wild“ im Unterschied zu den Vertragstheoretikern im moralisch und politisch wertenden Sinne, so dass er vernünftige und strenge Gesetze zur Restitution seines Ideals einer freien Republik verlangen kann. Die Verdorbenheit der Menschen führt er auch auf deren Besitzgier und Eigennutz zurück, Einstellungen, die dem Gemeinwohl zuwiderliefen und die er ebenfalls durch vernünftige Gesetze in eine Republik der Tugend überführen möchte. Dazu schlägt er eine – begrenzte – Bodenreform vor, die Spannungen in den zivilrechtlichen Beziehungen und im „ordre sozial“ abbauen soll.59 Der Sache nach verfolgt er also ein (klein)bürgerliches Programm. Der Republikaner vertraut den Gesetzen und dem Gesetzgeber diese Formung der Gesellschaft an. Außer auf die Legalität setzt er auf die Erziehung der Menschen, um deren Persönlichkeit zu formen und die Sitten zu festigen. Auch das hatte Rousseau bereits gesagt.60 Saint-Just widmet diesem Thema etliche, heute nicht mehr interessierende Ausführungen, die dem Staat die Aufgabe überantworten, die in der politischen Gemeinschaft Lebenden zu Tugend und Moral und so zum richtigen Staatsbürgertum zu bewegen. Dabei akzeptiert Saint-Just an und für sich die soziale Schichtung der Gesellschaft, doch stimmt er Montesquieu zu, dass Privilegien abgeschafft werden sollen,61 und tritt für die soziale Förderung der Armen, der Unterschichten ein, um deren Angehörigen eine gewisse soziale Unabhängigkeit zu verschaffen. Die Behebung sozialer Notlagen, nicht Einebnung ist das Ziel. Insoweit distanziert er sich von dem sagenhaften Lykurg62, dessen spartanische Gesetzgebung er ansonsten als Vorbild zitiert, dessen angeblich radikale Bodenreform er jedoch nicht nachvollziehen will. Die Bodenreform, die Saint-Just vorschlägt, soll nur die entrechteten Adligen und sonstige Vaterlandsfeinde belasten, aber nicht zur Umschichtung der bestehenden Gesellschaft führen. Das machtpolitische Programm der Flurbereinigung durch Enteignung, „terreur“ und Guillotine wird so sozialpolitisch arrondiert. Eine Gleichstellung erfolgt aber in staatsbürgerlicher Hinsicht, indem jedem erwachsenen Franzosen die Teilhabe an der Souveränität der Nation gewährleistet wird. Saint-Just reflektiert insoweit die neueste Praxis, denn der Nationalkonvent ist aufgrund eines personal und regional allgemeinen Wahlrechts besetzt und legitimiert worden. Statt sozial-ökonomischer Gleichschaltung programmiert Saint-Just die staatsbürgerliche Bildung der Nation. Je mehr die außenpolitischen Gefahren und die innenpolitischen Gruppenkämpfe eskalieren, spitzt dieses Programm sich allerdings auf die politische Konformität der Staatsbürger zu: Der den politischen Gegnern abgenommene Boden wird politisch zuverlässigen Mitstreitern zugedacht; die Menschenrechte spielen dabei keine 58

Rousseau, Bekenntnisse (Fn. 11), S. 383. Vgl. Esprit de la Rvolution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 276 ff; Discours, prononc  la Convention Nationale dans le sance du 24 avril 1793: Duval 2003 (Fn. 5), S. 415 ff. 60 Rousseau, Bekenntnisse (Fn. 11), S. 404. 61 Esprit de la Rvolution: Duval 2003, S. 299. 62 Vgl. Karl-Wilhelm Welwei, Aufstieg und Niedergang einer antiken Großmacht, 2004, S. 35 ff., 613. 59

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Rolle mehr. Das Menschenbild, das sich aus diesen Vorstellungen und Maßnahmen herauskristallisiert, ist also das eines zur Staatsbürgerlichkeit fähigen und bereiten, selbständigen Sozialwesens, das sich der Staatsbildung anvertraut und von ihr geformt wird. Schließlich bildet – eine Volte – der Staat die Gesellschaft, die der Nation angemessen ist: nach außen durch Grenzen und Verteidigung, nach innen durch Erziehung, Gesetze, Disziplin und Terreur. V. Die Herrschaftsordnung der Republik Im Zentrum der theoretischen Überlegungen Saint-Justs steht demnach die Herrschaftsordnung, die aus der Revolution von 1789/91 entstanden ist und entwickelt werden soll. Der angehende Politiker entwickelt seine verschiedenen Konzepte situationsnah, aber aufgrund des Axioms von der Volkssouveränität. Solange die Monarchie und der Monarch noch existieren, arrangiert er seine Vorschläge mit diesen Gegebenheiten. Nach der Ausrufung der Republik perfektioniert er ein System der volont gnrale, das eine steuerbare, kontinuierliche und vernünftige Politik ermöglichen soll. Von einem Herrschaftsvertrag will Saint-Just nichts mehr wissen, hat er doch schon im Prozess gegen Ludwig XVI. dargelegt, dass ein solcher Vertrag nur einseitige Rechte begründet und Grundlage der Untertänigkeit und Unfreiheit ist. Anstelle des Monarchen würdigt er die vom Volk legitimierten Versammlungen, einst die Assemble Nationale, jetzt der Nationalkonvent, weil sie, statt durch Willkür zu herrschen, legitime Interpreten der volont gnrale seien. Allerdings rät er zur Effektivierung des Gemeinwillens, indem er dem Konvent eine Herrschaft der Repräsentanten zumisst. Indem Saint-Just diese Art von Herrschaft als Gegenmodell zur monarchischen Tyrannis begründet, diszipliniert er zugleich die Anarchie des als präsent vorgestellten Volkes, das unmittelbar zur Entscheidung oder Bestätigung anzurufen, er nicht nur fallweise, sondern grundsätzlich zu verhindern sucht. Dem monarchischen Willen und dessen Willkür begegnet er also mit der Institution eines legislativ leitenden Gremiums von Repräsentanten und mit dessen Verfahren der öffentlichen und publizierten Diskussion – in der er persönlich brillieren kann. Bis zur Rede am 9. Thermidor im Jahre 1794 setzt Saint-Just auf das Mittel der Überzeugung, durch Argumente, die die volont gnrale richtig zum Ausdruck zu bringen vermögen. Dass letztlich die Mehrheit den Ausschlag gibt, ist Saint-Just offenbar eine Selbstverständlichkeit, die nicht besonders thematisiert zu werden braucht, doch organisiert SaintJust tatsächlich ihm genehme Mehrheiten. Die öffentliche Meinung reflektiert er dabei als aktuellen Faktor, aber nicht als Maßstab der Vernunft. VI. Die Wertordnung der Republik Die Herrschaft der Repräsentanten nimmt in Saint-Justs Version allerdings aristokratische, schließlich diktatorische – Saint-Just müsste sagen: tyrannische – Züge an, je stärker die außenpolitische Bedrohung und der innenpolitische Widerstand werden. Dagegen schärft er das Profil der erstrebten Republik und konzipiert eine Herr-

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schaft qualifizierter Repräsentanz. Seine einst materiell gehaltvolle Republik konvergiert zum hoheitlich steuernden und durchgreifenden Staat und, mit dem fernen Kant gesprochen, vom Rechts- zum Machtstaat. Man kann ein solches Konzept den Schriften in Verbindung mit der politischen Praxis entnehmen. Die Qualifikation ergibt sich gestaffelt aufgrund der Volkswahl und gemäß dem republikanischen Ausweis. SaintJust disqualifiziert nicht nur klassenspezifisch abtrünnige Adlige und Religiose, sondern immer mehr einstige Mitstreiter, die zu liberaler Mäßigung neigen und denen er deshalb misstraut. Die von ihm bevorzugte Herrschaft der Repräsentanten konzentriert sich gemäß diesen verschärften Wertungen und Legitimitätsanforderungen auf die Richtung der Republik, die Robbespierres Flügel der Bergpartei genehm ist. So vollzieht Saint-Just praktisch und theoretisch die Wendung zu einer parlamentarischen Diktatur des Konventes, dann der kooperierenden Ausschüsse für Wohlfahrt und Sicherheit und schließlich der eigenen Gruppe um Robbespierre. Angeblich gilt der als nachdenklich, moralisch, rechtschaffen und abwägend, während Saint-Just für schneidig, rücksichtslos, inhuman und strikt zielorientiert gehalten wird. Lamartine nennt Saint-Just sogar einen „geborenen Tyrannen“.63 Mag dem so gewesen sein. Saint-Just plädiert jedenfalls in der sich zuspitzenden Lage für zugespitzte Lösungen. Man kann sie Fraktions- oder Gruppendiktatur nennen, obwohl Saint-Just Zeit seines Lebens gegen Fraktionen polemisiert. Welche Wirkkräfte gibt Saint-Just seiner Republik? Seine Schriften lassen historische, formelle, materielle und moralisch wertende Begriffselemente erkennen. Als historisches Ereignis ist diese Republik antimonarchisch und antityrannisch; als Ideal ist sie die Form der Freiheit und Einheit der Nation, die nur durch den allgemeinen Willen und die Einheit seiner Repräsentation garantiert werden kann64 – und soll. Diese Einheit gilt als ein Höchstwert, der den vereinigten Einsatz aller verlangt, der Opfer erfordert und notfalls die Vernichtung von Leben rechtfertigt; die tätige Republik zeichnet sich durch ihre Tugendhaftigkeit, Gerechtigkeit und Vernünftigkeit aus und setzt diese Maßstäbe bei ihren Staatsbürgern voraus oder gibt sie ihnen, notfalls zwangsbewehrt, auf. Während heutige Interpreten die republikanische Staatsform oft nur ex negativo zu bestimmen wissen, verwendet Saint-Just die Begriffe Tugend, Vernunft und Gerechtigkeit als mögliche Wirklichkeiten. Die Begriffe sind dem Zeitalter als Mentalitäten und Wertmaßstäbe geläufig. Sie sind damals modern und dienen den verschiedensten Interessen. Montesquieu und Rousseau gehen sie fließend aus ihren Federn, um die soziale und politische Gemeinschaft zu konstruieren. Rousseau kennt eine ausgleichende „Waage der Vernunft“.65 De Sade reklamiert seine persönliche Vernunft zur privaten, höchstpersönlichen Lebensgestaltung.66 Saint-Just verwendet den Begriff appellativ, programmatisch und legitimatorisch, 63

Lamartine, Histoire (Fn. 17), 8. Bd., S. 154. Discours sur la Constitution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 425: „L unit de la rpublique … ne peut Þtre garantie que par l exercise de la volont gnrale et l unit de la reprsentation.“ 65 Rousseau, Bekenntnisse (Fn. 11), S. 236. 66 Vgl. z. B. Donatien Alphonse Francois Marquis de Sade, Briefe, hg. v. Gilbert Lely, 1965, S. 111: „Der vernünftige Mensch, der die Vorurteile der Dummen verachtet“. 64

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ohne konzise Inhalte mitzuteilen. Doch in seinem Begriff der Tugend vollzieht er eine Abkehr vom Ancien Rgime, indem er nicht auf ererbte, sondern auf erworbene, nicht auf ständisch zugeschriebene, sondern auf staatsbürgerliche Tugenden Wert legt, die die persönliche Charakterbildung auf das Gemeinwohl ausrichten. Der Begriff löst Erwartungen aus, deren Erfüllung dem einzelnen und dessen Staat korrespektiv aufgegeben sind. So gesehen, ist Tugend keine private, sondern eine öffentliche Angelegenheit, und der Staat darf, ja muss sie einüben, notfalls eintrichtern und erzwingen.67 Der Religion weist Saint-Just dabei keine sinn- und stilbildende Rolle zu. Die Freiheit des Glaubens und der Religionsausübung behandelt er nicht fundamentalistisch, sondern nach Gesichtspunkten der politischen Zweckmäßigkeit.68 So ist auch seine Empfehlung religiöser Toleranz zu verstehen.69 Obwohl die Politik der Montagnards kirchenfeindlich ist, obwohl Kirchen in Tempel der Vernunft umgewidmet werden und die Vernunft an die Stelle Gottes und auf die Sockel der Heiligen gestellt wird, erlässt der Konvent auf Initiative Robbespierres am 6. 12. 1793 ein besonderes Dekret, das die freie Religionsausübung bestätigt. Von den Beamten erwartet SaintJust allerdings, dass sie keiner „Sekte“ angehören, fordert aber auch in der Phase des eskalierenden Kirchenkampfes keine allgemeine, radikale Entchristianisierung, wohl um die Stabilität der Gesellschaft70 und die Einheit der Republik nicht zu beeinträchtigen. Zwar lässt die Inthronisierung der neuen republikanischen Göttin der Vernunft darauf schließen, dass die verantwortlichen Politiker eine Leerstelle dort vermuten, wo ein Gott nicht mehr geduldet und die Religion samt dem Ritus der Kirche nicht mehr praktiziert wird, doch scheint Saint-Just spirituelle, mystische Verankerungen nicht für erheblich zu halten, legt er doch seinen Gesellschaft- und Staatskonzepten nicht die Staatsreligion des Höchsten Wesens zugrunde, die die Republik offiziell feiern lässt. Er setzt eher auf die persönliche und korporative staatsbürgerliche Vernunft, wohl im Sinne der Klugheit Montesquieus. Die Vernunft und nicht die Tradition kennzeichnen die Republik. Sie regiert und agiert in den Schriften Saint-Justs nach strengen, rationalen Prinzipien und Regeln. Als es um die Schicksale Ludwigs XVI., Dantons, der Herbertisten und anderer „Staatsfeinde“ geht, widerstrebt diese Vernunft konsequenterweise auch „weichen“ Maßstäben wie Humanität und Gnade. Gnade ist eine Ausnahme vom Gesetz; sie stammt aus anderen Sphären der Legitimität, die die Republik nicht mehr akzeptiert. Saint-Just vertritt diese Haltung bereits in seiner ersten Rede zur Begründung der Todesstrafe und praktiziert sie bis zum eigenen Ende.71 67 Dies ist wohl der Grund, weshalb de Sade, Justine (Fn. 7), S. 94 f., 136, gemäß seinem extrem individualistischen Freiheitsbegriff diese bindende Tugend kategorisch ablehnt. 68 Vgl. dazu besonders den unvollendeten u. zu Lebzeiten unveröffentlichten Essay „De la nature, de ltat civil, de la cit“ von 1792: Duval 2003 (Fn. 5), S. 921, 930 ff. 69 Aufruf v. 28. Niv se des Jahres II: Duval 2003 (Fn. 5), S. 651 ff.: „la politque ne marche pas sans tolrance“. 70 Vinot, Saint-Just (Fn. 5), S. 209. 71 Vgl. dazu ausführlicher Monar, Saint-Just (Fn. 4), S. 208.

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Auch die Menschenrechte spielen in den Konzepten Saint-Justs keine tragende Rolle. Obwohl der Adept Montesquieus weiß, dass auch eine Republik tyrannisch ausarten und despotisch agieren kann, pointiert er Freiheit und Gleichheit nicht in erster Linie als Individual- und Abwehrrechte, sondern als Institutionen der Gerechtigkeit und als Ordnungsprinzipien für Gesellschaft und Staat. Schon der „Esprit de la Rvolution et de la Constitution“ von 1791 schätzt die beiden Errungenschaften der Revolution von 1789 so ein. Das Prinzip der Freiheit wird dort durch vernünftige Gesetze, das Prinzip der Gleichheit durch die gleiche Teilhabe jedermanns – und somit aller – an der Souveränität definiert. Diese positive Definition der Gleichheit ergibt sich als Reflex ihrer Negation, die auf die Freiheit verweist, indem der „Geist der Gleichheit“ nicht in der Macht (puissance) von Menschen, sondern in der Idee vom Gemeinwohl erkannt wird.72 Die Freiheit, für die etwa ein de Sade eintritt, um den Eigenarten der Individuen Raum zu geben, ist nicht die Saint-Justs. Dessen Freiheit ist ein Ferment der Staatsräson. Sie besteht außer in der Unabhängigkeit eines Volkes nach außen hauptsächlich in der unpersönlichen Herrschaft der Gesetze. Das sieht auch der skeptische Voltaire so.73 Die Gesetze verdienen Respekt hier wie dort nur, sofern sie vernünftig und nicht Ausdruck von Willkür sind. In diesem Kontext lassen die an sich widerstrebenden Wertmaßstäbe Freiheit und Tugend sich vereinbaren. Sie wirken konträr, wenn die Freiheit das Individuum nur auf sich stellt – etwa aufgrund seiner vermeintlichen „Natur“ –, die Tugend aber in die Sitten und in einen Verantwortungszusammenhang von Mitmenschen einbindet. Zivilisiert man aber die Freiheit als „verantwortliche“, hält man sie nicht für vorstaatlich „wild“, sondern für konstituiert, dann kann man Saint-Just folgen, der ihre Ausgestaltung dem vernünftigen Gesetzgeber anvertraut, steht aber gleichwohl vor dem Problem der Abwägung, ob die – und welche – Freiheit dem Menschen oder der Gemeinschaft nützen soll. Saint-Just gibt offenbar und immer mehr im Laufe der Verschärfung der Staatskrise der Gemeinschaft und dem gestaltenden Gesetzgeber den Vorzug. In seinem zweiten republikanischen Discours sur la Constitution de la France“ von 1793, bekräftigt Saint-Just seine institutionelle Sicht, indem er die Kraft und Dauer einer Verfassung zur Voraussetzung der Freiheit des Volkes erklärt.74 Statt der individuellen betont er die kollektive, korporative Freiheit. Denn die Bedeutung, die in Saint-Justs Konzepten von Staat und Gesellschaft den Gesetzen und der Verfassung zukommt, verträgt sich eigentlich nicht mit der Vorstellung von individuellen Abwehrrechten gegen den Staat, gestünden sie dem Einzelnen doch eine Gegenmacht zu, die seiner Zugehörigkeit zum „corps collectif“ widerspräche. Die im Jahre 1789 proklamierte Rechtedeklaration wird von Saint-Just wohl deshalb nicht so hervorgehoben, wie sie verkündet wurde. Die Pressefreiheit wird zwar besonders er72 Esprit de la Rvolution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 288 f. Vgl. ergänzend l. c., S. 339: In der Monarchie sei nur der Monarch, d. h. nur ein einzelner Mensch, frei; die Konsequenz: in der Republik ist das Volk, sind also alle frei. 73 Vgl. Voltaire, Oeuvres compltes, Ausgabe 1876, S. 192, zu „Gouvernement“: „ tre libre, cest ne dependre que des lois.“ 74 Discours sur la Constitution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 418.

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wähnt, doch dient sie eher der öffentlichen Diskussion als der Persönlichkeit Privater. Saint-Just respektiert dagegen Rechte unter Gleichgeordneten. Sein Essay „De la nature, de l’’tat, de la cit“ von 1792 enthält die Thesen, das Recht im Verhältnis von Mensch zu Mensch sei die Unabhängigkeit, von Bürger zu Bürger der Besitz und von Volk zu Volk die Macht.75 Besitz und Macht sind demnach die Faktoren, die ein Volk einerseits als sozialen, andererseits als politischen Körper ausmachen. Diese Faktoren gemeinverträglich zu organisieren, ist dem Gesetzgeber aufgegeben. Nach außen, im Verhältnis zu anderen Völkern, also im „tat politique“, herrscht, wie gesagt, das von Machtauseinandersetzungen geprägte droit des gens. Die Binnenordnung der Republik der Freiheit und Vernunft modelliert Saint-Just als Projekt einer durch Prinzipien geleiteten, rationalen Organisation: Er vertritt normalerweise eine Art Gewaltenteilung, fordert eine Staatsleitung durch Gesetze der Volksrepräsentanten und unterstellt den Staat dem Programm einer kodifizierten Konstitution. Das Prinzip der Gewaltenteilung beobachtet er schon in seinem „Esprit de la Rvolution“ als Form einer Mischverfassung aus demokratischen, aristokratischen und monarchischen Elementen, mit der er an aristotelische Überlieferungen und an Modellvorstellungen Montesquieus anknüpft, ohne dass dessen im „Esprit“ XI, VI, I. verstecktes Vorbild ausdrücklich in Erscheinung tritt. Auch für die Republik empfiehlt Saint-Just die Unterscheidung von staatsleitender Gesetzgebung und administrativer Regierung, wie sie denn auch der modifizierte Verfassungsentwurf des Jahres II (1793) vorsieht. Bis zu seinem Ende betont er machthemmende Faktoren, auch wenn er sie zeitweilig aussetzen zu müssen meint. Indem Saint-Just den Gesetzen, selbstverständlich: den gerechten und dem Gemeinwohl verpflichteten Gesetzen, die Maß und Ziel bestimmende Steuerung von Staat und Gesellschaft anvertraut, überantwortet er dem Gesetzgeber die dominierende Rolle in der Republik. Die institutionelle Freiheit, die das Volk der Republik verkörpert, gerät so zur Freiheit des repräsentativen Gesetzgebers. Von diesem erwartet Saint-Just die Regelung der Erziehung, die Ausformung der Gerechtigkeit und die Festigung der Ordnung, insbesondere durch Strafgesetze, weil und insoweit dies der volont gnrale entspricht. Er verficht ein theoretisch strenges Legalitätsprinzip, das „lois“ und „droit“ in ein Gefüge bringen soll. Dabei ist der Gesetzgeber, der die „volont dune nation“ zum Ausdruck bringt, zwar an keine Vorgaben gebunden, soll aber die Moral und die guten Sitten zur Grundlage seiner Gesetzgebung machen,76 was deren Inkarnation voraussetzt. Saint-Justs Beiträge zu einer angemessenen, republikanischen Gesetzgebungslehre sind allerdings nicht derart konsistent, dass sie seiner oder der nachfolgenden Epoche hätten ein Profil geben können. Man vernimmt einen Verschnitt von Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“, wenn man liest: „Der allgemeine Wille (volont gnrale) im eigentlichen Sinne und im Sinne der Freiheit bildet sich aus der Mehrheit der einzelnen Willen (volonts particulires), die ohne Fremd75 76

De la nature: Duval 2003 (Fn. 5), S. 933 f. So der Discours sur la Constitution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 422 f.

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einfluss individuell eingebracht werden: das so gebildete Gesetz repräsentiert notwendigerweise das allgemeine Interesse (l intrÞt gnral), weil aus der Mehrheit der Willen die der Interessen resultiert, wenn jeder seinen Willen bestimmt.“77 In der parlamentarischen Praxis pflegt der Autor die öffentliche Diskussion ebenso wie die interfraktionelle Abstimmung von Gesetzesentwürfen und -beschlüssen; er rechnet mit Nachbesserungen, die frühere Entscheidungen der repräsentativen volont gnrale vorläufig erscheinen lassen; aber er thematisiert nicht das Verhältnis von Verfahren und Vernunft, weder in Bezug auf das suspensive Veto des konstitutionellen Monarchen noch in Bezug auf den später allein kompetenten Nationalkonvent als corps lgislatif. Immerhin widmet er dem Gesetzgebungsverfahren in seinem dem Konvent zugedachten Verfassungsentwurf ein ähnlich umfangreiches Ensemble von Normen wie der offizielle Entwurf des Jahres II, so dass man ein ausgeprägtes Bewusstsein der Zeitgenossen für die Bedeutung dieser Materie erkennen kann. Wenn Saint-Just in seinem früheren „Esprit de la Rvolution“ auf der strikten Positivität der Gesetze besteht, um keinen Raum für Phantasien und Vorurteile offen zu lassen,78 dann zeigt sich ein Misstrauen des erfahrenen Juristen und Parlamentariers gegen die offene Auslegung durch Gesetzesanwender, die nicht die Legitimation des Gesetzgebers besitzen. In Preußen denkt man zu derselben Zeit ähnlich.79 Saint-Just trägt die die Vernunft positivierenden „lois“ seiner Republik wie ein Panier voran. Wechseln auch Gesetzgeber und Gesetze, so überdauert doch der „Geist der Gesetze“, den er hier ohne Montesquieus Hilfe erkennen zu können meint,80 die kurzen Legislaturperioden, die sein und des Konvents Verfassungsentwurf vorsehen, weil, so muss man wohl ergänzen, der das Volk und dessen Repräsentanten erhellende „Geist“ nicht nur solche Perioden sondern auch Generationen überdauert. Der ältere Voltaire urteilt skeptischer, weil er dort Interessen walten sieht,81 wo Saint-Just die abstrakte Vernunft idealisiert. Saint-Justs normalerweise strengem Verständnis von Legalität und Legitimität entspricht sein Konstitutionalismus. Zwar bewegt er sich damit im Kontext der konstitutionellen Bewegungen seiner Zeit. Aber sein Engagement geht über die journalistische Mitwirkung hinaus. Zweimal legt er den Gesetzgebern eigene Verfassungsentwürfe vor, zuerst um die Verfassungsdiskussionen von 1791, dann um die von 1793 77

Discours sur la Constitution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 422. Esprit de la Rvolution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 299. Saint-Justs Verfassungsentwurf von 1793 schreibt vor, dass Fälle, die im Gesetz nicht berücksichtigt sind, vom Richter den „lgislateurs“ vorgelegt werden sollen; Gesetze dürfen nicht retroaktiv sein – außer gegen Vaterlandsverräter! 79 Vgl. ALR Einl. §§ 46 ff. – Der Willkür des Richters zu begegnen, empfahl Carl Gottlieb Svarez schon 1788 der Berliner Mittwochsgesellschaft: vgl. Vorträge über Recht und Staat, hg. v. Hermann Conrad / Gerd Kleinheyer, 1960, S. 625, 629. 80 Esprit de la Rvolution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 293. 81 Vgl. Voltaire, Oeuvres (Fn. 73), Bd. 18, S. 432: „Il est difficile q il y ait une seule nation qui vive sous de bonnes Lois. Ce n est pas seulement parce qu elles sont l ouvrage des hommes … Mais les lois ont t tablies dans presque tous les tats par l intrÞt du lgislateur, par le besoin du moment, par l ignorance, par la superstititon. On les a faites  msure, au hasard …“. 78

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zu beeinflussen, und jeweils begründet er seine Projekte durch theoretische Erwägungen, die sie in einen allgemeinen theoretischen Kontext stellen sollen. Das Projekt einer Verfassung für die Republik gerät ihm, wie gesagt, besonders ausführlich. Warum, wenn doch Adel, Hof und Monarch als Quellen der Willkür, der Unterdrückung und des Sittenverfalls bereits ausgeschaltet sind? Saint-Just rechnet damit, dass auch republikanische Funktionäre und Institutionen zu Willkür und Despotismus neigen können, und bemüht sich daher intensiv um Vorabfestlegungen des politischen Lebens vom Wahlrecht bis zur Gesetzgebung und Verfassungsänderung. In seinem letzten Verfassungsentwurf sichert er seinen Verfassungsbegriff sogar menschenrechtlich ab, indem er den Wertungsbegriff des Artikels 16 der Rechtserklärung von 1789 mit bezeichnenden Abwandlungen übernimmt: „Die Verfassung eines Staates besteht in der Anwendung der legitimes Rechte und Pflichten der Menschen. Ein Volk, das sich nicht zur Anwendung und Garantie derselben Rechte und Pflichten als Prinzip der Sozialordnung bekennt, hat keine Verfassung.“82 Das Motiv ist auch hier die institutionelle Vorbeugung gegen Willkür durch Rechtsnormen. Bemerkenswert sind die den Rechten beigesellten Pflichten, vermitteln sie doch dem Gesetzgeber die Kompetenz, nicht nur die Staatsbürger, sondern alle dem Volk angehörenden Menschen in die Staatsanstalt einzupassen.

VII. Die diktatorische Republik Saint-Justs Begriff von der Form einer Verfassung verändert sich im Zuge seiner politischen Praxis: Galt ihm am Anfang seiner Karriere die ungeschriebene Traditionsordnung der Monarchie des Ancien Rgime als „constitution“, so wird die Kodifikation der Verfassung ihm seit 1791 zu einer Selbstverständlichkeit, die keiner weiteren Begründungen bedarf. Als die Tagespolitik das Projekt von 1793 überrollt, verlässt Saint-Just allerdings dieses formalisierte Verfassungsprogramm. Öffentlich bedauert er das vorläufige Ende der Konstitutionalisierung der Republik. Das Bedauern klingt durchaus echt. Offenbar betrachtet er die Konstitution als Mittel zur Herstellung der Rechts- und Staatseinheit Frankreichs und eines Zustandes, den man in Deutschland zu dieser Zeit auf den Begriff der Rechtstaatlichkeit bringt.83 SaintJust kann diesen Weg nur einige Schritte gehen. Der Kriegszustand, in dem Frankreich sich befindet, und dessen innere Unruhen veranlassen den Wohlfahrtsausschuss zu einer Ausnahmeordnung, die Saint-Just dem Nationalkonvent federführend vorstellt: „Rapport fait au nom du Comit de Salut Public sur la ncessit de dclarer le Gouvernement rvolutionnaire jusqu a la paix, prsent a la Convention Nationale dans la Sance du 19 du 1er mois de l an II“.84 Lorenz von Stein wird diese Abkehr 82

Discours sur la Constitution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 425. Vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), § 45, in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. IV, 1966, S. 431 ff.; zur historischen Entwicklung des Rechtsstaatsbegriffs vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders. (Hrsg.), Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 143 ff. 84 Rapport: Duval 2003 (Fn 5), S. 520 ff. 83

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vom Verfassungsprogramm später verständnisvoll kommentieren: Die Gesellschaft Frankreichs sei im Jahre 1793 eben noch nicht reif für eine Konstitution gewesen; von Stein sieht die Gesellschaft als bewegende Kraft der Staatsform.85 Deshalb konzentriert er seinen Bericht auf den Entwurf eines Dekrets, dessen erster Artikel bestimmt: „Die provisorische Regierung Frankreichs ist bis zum Friedensschluss revolutionär.“ Der Provisorische Exekutivrat, die Minister, die Generäle und die Körperschaften werden dem Wohlfahrtsausschuss unterstellt. Der Ausschuss überwacht alle Sicherheitsmaßnahmen. Die so genannten Revolutionsgesetze sind umgehend zu vollziehen. Dann folgen Maßnahmen zur Kriegswirtschaft, zur Militärführung und eine vorläufige, rudimentäre Finanzordnung In diesem Zusammenhang gewinnt der Artikel für Artikel wiederholte Begriff „revolutionär“ eine spezifische Bedeutung, die er 1789/91 noch nicht hatte: Er bezeichnet jetzt den verfassungslosen Ausnahmezustand, der Abweichungen vom Legalitätsprinzip notwendig macht und den Einstieg in die Diktatur des Wohlfahrtsausschusses und dessen Führung rechtfertigen soll.86 Die Formel vom Gemeinwohl wird zur Formel des Machterhaltes. Die Rechtfertigung gilt einer strikt auf die Macht orientierten Politik, die sich antiliberal verhält, staatsbürgerliches Engagement und militärische Disziplin fordert und die Unbeugsamkeit als Richtlinie praktiziert. Man kann das Dekret als Notstandsverfassung verstehen. Immerhin plädiert Saint-Just nicht für eine Stunde der Exekutive, sondern für eine Legalordnung, die er vorläufig nennt und befristen will. Der führende Wohlfahrtsausschuss ist ein Ausschuss des Nationalkonventes und soll mit diesem auch unter Druck und in Eile kooperieren, doch reduziert diese Konstruktion sich letztlich auf eine Herrschaft führender Repräsentanten des Wahlvolkes, die im Namen der Nation regieren. Offenbar ist die Führung der revolutionären Republik zu der Ansicht gelangt, dass ein diskutierendes Gremium den Entscheidungsanforderungen nicht genügt. SaintJust hatte diese Erfahrung bereits als Kriegskommissar bei der Rhein- und Nordarmee gemacht, wo er, ein Zivilist, militärisch ohne weiteres durchgreift und für die Brotversorgung, Verteidigung und Bewaffnung der Truppen sorgt. Statt einer abgewogenen, ausgleichenden Gerechtigkeit herrschen nun die Maßnahmegewalt und das Herrschaftsmittel des Terreur. Der Wohlfahrtsausschuss schafft sich ein eigenes Polizeibüro. In den Strafverfahren zum Schutz der Republik überholt der Schutzzweck den Rechtsschutz. Justiz bedeute nicht Milde, sondern Strenge, bekundet nun SaintJust. Schnellgerichte sorgen für rasche Entscheidungen und Urteile in Schnellverfahren, oft nach Verdacht. Die Tugend legitimiert diesen Terror. Während Robespierre „die schreckliche Notwendigkeit“ des staatlichen Terrors und Tötens um der politischen „Raison d Þtre“ zu bedauern scheint87, proklamiert Saint-Just die Terrorherr85 Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich seit 1789 bis auf unsere Tage, 1. Bd., hg. Gottfried Salomon, 1921 / 1959, S. 288. 86 Dazu ausführlich Monar, Saint-Just (Fn. 4), S. 437. 87 Robbespierre, Erinnerungen (Fn. 1), S. 176; später (l.c., S. 229) beruft er sich auf ein Naturrecht der Nation, „die Feinde der Nation auszurotten – gemeint sind Danton, Desmoulin usw.; Ähnliches hat Saint-Just zur Tötung Ludwig XVI. vorgetragen.

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schaft mit offenbar reinem ideologischen Gewissen. Dieses Gewissen hat allerdings eine Metamorphose hinter sich. Als Saint-Just noch vom „Esprit de la Rvolution“ handelt, ist er ein strikter Gegner der Todesstrafe und kritisiert sogar sein Idol Rousseau, weil er diesen für einen Befürworter einer solchen Strafgewalt des Staates hält.88 Jetzt verfolgt er eine Politik grundsätzlichen Misstrauens. Er geißelt seine Gegner, verficht den „terreur“ offensiv89 und ermächtigt die Henker. Statt der vermeintlichen volont gnrale herrscht nun der Zweck, und der Zweck lautet: die Republik so zu radikalisieren, dass sie die Krise durchsteht. Saint-Just erklärt die Erhaltung der Revolution für das oberste Gesetz des Staates.90 Seine Entwürfe zu Dekreten degenerieren zu dezisionistischen ad-hoc-Entscheidungen. Er schlägt dem Konvent etwa vor, bestimmte Personen per Dekret zu Verrätern zu erklären; er will Verrat und Verschwörungen gegen die Republik mit Strafnormen begegnen, die sich durch unbestimmte, programmatische Tatbestandsbegriffe und durch Rückwirkung auszeichnen: typische Diktaturmaßnahmen.91 Jetzt bewahrheitet sich seine jugendliche Einsicht, dass man nicht unschuldig regieren kann. Doch für sich und die Robbespierrianer reklamiert er die Partei der „vrit“.92 Im Rückblick scheint es, als habe die Diktatur der römischen Republik in Paris Pate gestanden93, doch beruft Saint-Just sich darauf nicht. Er bewundert vielmehr den Brutus und verabscheut den Caesar als Tyrannen. Die römische Diktatur wurde auf ein Jahr befristet; das Ende von Saint-Justs Vorläufigkeit ist dagegen nicht absehbar. Der radikale Republikaner Saint-Just handelt nach seinem an der Front bewährten Erfolgsrezept: Befehl und Disziplin. Zur Rechtfertigung beruft er sich auf einen machtbewussten Lykurg, der Sparta mit mitleidsloser Rigidität zum guten Ende geführt haben soll – und dann ins Exil gegangen sei.94 Ein Lebensentwurf? Der „Discours“ vom 9.Thermidor lässt das erahnen. Er erinnert an die Zeit, als SaintJust vom „fivre republicaine“ ergriffen wird und sich mit Brutus vergleicht: „si Brutus ne tue point les autres, il se tuera lui-mÞme“.95 Seine letzte bedeutende Rede im Konvent, die Rede vom 9. Thermidor zur Verteidigung des angegriffenen Freundes 88

Esprit de la Rvolution: Duval 2003 (Fn. 5), S. 325; zu Rousseaus Auffassung vgl. Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, 2. Aufl. 1968, 191 f. 89 Rapport v. 8. Vent se des Jahres II: Duval 2003 (Fn. 5), S. 706. 90 Rapport au nom du Comit de salut public et du Comit de suret gnrale sur les personnes incarcres v. 8. Vent se des Jahres II: Duval 2003 (Fn. 5), S. 698, 701; ähnlich schon in der Rede gegen die Girondisten, in: Duval 2003 (Fn. 5), S. 459: „le statut de la patrie est la loi suprÞme“. 91 Vgl.z.B. den Vorschlag im Rapport au nom du Comit de Salut Public v. 23. Vent se an II, in: Duval 2003 (Fn. 5), S. 722, 5737: „corruption des citoyens“, „subversion des pouvoirs et de lesprit publik“, „avoir excit des inquitudes“, „la rsistance au gouvernement rvolutionnaire et rpublicain, dont la Convention nationale est le centre, est un attentat contre la libert publique“ usw. 92 Discours v. 9. Thermidor des Jahres II (1794): Duval 2003 (Fn. 5), S. 916. 93 So Vinot, Saint-Just (Fn. 4), S. 280). 94 Rapport v. 8. Vent se des Jahres II: Duval 2003 (Fn. 5), S. 704. 95 So im Brief an Daubigny v. 25. 7. 1792: Duval 2003 (Fn.5), S. 363 f.

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Robbespierre, erhellt die Götterdämmerung der radikalen Revolutionäre.96 Saint-Just nennt die Revolution jetzt „une entreprise hroique“, und er fügt hinzu: „On ne fait point de Rpublique avec des mnagements, mais avec la rigeur farouche, la rigeur inflexible envers tous ceux qui ont trahi.“97 Im Konvent wird er während seines Vortrags unterbrochen, dann zusammen mit Robbespierre und anderen Mitstreitern verhaftet, dann guillotiniert. Das ist das Ende der radikalen Republik. Saint-Just begann seinen Weg in diese Republik mit dem Ruf nach Freiheit. Dieses Programm ist nun absurd geworden. Als Saint-Justs gelockter Kopf fällt, ist den Zeitgenossen noch der letzte Auftritt der Madame Rolland gewärtig: Als sie auf dem Weg zur Guillotine die Freiheitsstatue passierte, rief sie: „Oh, Freiheit! Welche Verbrechen werden in deinem Namen begangen!“98 Ob der jugendliche Saint-Just einst hatte hoffen können, das Motto „faisant le mal, et croyant faire bien“ werde das rechte Licht auf sein Bild in der Geschichte werfen?

VIII. Zusammenfassung Bestätigt das Werk den Nachruhm, den die historische Person durch ihr Aussehen, ihre Selbststilisierung, ihre Intelligenz, ihren Auftritt und ihren Ruf als Faszinosum der Französischen Revolution bis in die Gegenwart hält? Dass die “Sämtlichen Werke” eines siebenundzwanzigjährigen Politstars noch heute durch eine sorgfältige Edition gewürdigt werden, hebt den Autor über zahlreiche seiner Zeitgenossen hinaus, die damals die intellektuelle und politische Führung ausübten. Was lehrt dieses Werk über seine Anlässe hinaus? Saint-Just lehrt, wie ein Staat in Existenznot die Selbsterhaltung der Staatsgewalt zum höchsten Gesetz erhebt. Saint-Just konzentriert diesen Staat im Kern auf dessen konzentrierte Staatsgewalt. Der abwehrbereite und abwehraktive Staat gestaltet seine Souveränität durch Machtausübung nach innen und außen. Solange Saint-Just sein Frankreich noch auf einem geordneten Weg in die Zukunft sah, solange er die Revolution noch als Evolution zu den Zielen erlebte, die das 18. Jahrhundert philosophisch vorbereitet hatte: Freiheit, Gerechtigkeit, Tugendhaftigkeit, Vernünftigkeit, solange er die Republik noch nicht existenziell bedroht sah, solange vertrat er ein idealistisches Konzept von Gesellschaft und Staat, deren Grundlagen die geeinte Nation aus ordentlichen, vernünftigen, dem Gemeinwohl verbundenen und jedenfalls zugänglichen Staatsbürgern war. Als er seine ideale Republik aber bedroht, als er im Innern Verrat, Chaos und Umsturz vermutete, als Frankreich von allen Seiten befehdet wurde und die Revolution, 96 Vgl. dazu die dramatische Schilderung von Michelet, Geschichte (Fn. 2), Bd. 9, S. 146 ff., 182 f. 97 Rapport v. 11. Germinal des Jahres II: Duval 2003 (Fn. 5), S. 761. 98 Lamartine, Historie (Fn. 17), 7. Bd., S. 243, Madame Roland, Frau des gleichnamigen Ministers, war ein intellektuelles u. gesellschaftliches Zentrum der Gironde; Lamartine beschreibt ihre Rolle u. l.c., S. 223 ff., mitfühlend ihre letzten Tage.

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wie er meinte, zu scheitern drohte, tauschte er die Idealität gegen die Radikalität aus und warb und agierte für die radikale Republik, die ihre Existenz und Staatlichkeit zielorientiert verteidigt. Die Mittel dieser Radikalisierung sind noch heute vorbildlich für diktatorische Regime. Ob Saint-Just der geborene Tyrann war, wie Lamartine später meinte, oder ob er durch die „nature des choses“ zur Diktatur kam, ist dafür ohne Belang. Interessant sind die Elemente und Prozesse, die ein System zur Diktatur werden lassen. Da Saint-Just sein Credo: Volk und Nation, das er seinen philosophischen Meistern und der Revolution von 1789 nacheiferte, von der idealen in die radikale Republik übernahm und als Legitimitätsgrundlagen für die politische Gemeinschaft wie für die Armee mangels anderer Optionen übernehmen musste, wurde ihm die politische Homogenität der Staatsbürger zur Überlebensgrundlage des Staates. So schaltete er schon die ständischen Widerstände des Adels, Hofes und Monarchen aus, so redete er gegen Fraktionen und Parteien, so expatriierte und exekutierte er die Opposition, so sorgte er für eine ideologische Gleichschaltung der Staatsbürger, die nicht nur parteipolitische Gegner, sondern auch Wankelmütige und Liberale abdrängte. Bis heute steht die Ausbürgerung Missliebiger auf der Agenda von Diktaturen, und auch die Verwendung interpretationsbedürftiger Homogenitäts- und Programmbegriffe ist ein gängiger Weg in den Unrechtsstaat geblieben. Hielt Saint-Just anfangs die Bedeutung von Recht, Gesetz und Verfassung sehr hoch, so bevorzugte er im Zuge der revolutionär-republikanischen Radikalisierung kurze Dekrete, die situationsbedingte und personenscharfe Maßnahmen treffen. Die ursprünglich fast rechtsstaatlich anmutende Rolle der Gesetzgebung pervertierte zur Diktaturgesetzgebung, wie sie auch spätere Diktaturen kennzeichnet. Zu dieser Politik der Dezision passte das Programm einer Konstitution, die die Staatsleitung absehbar steuern und für eine auf Dauer angelegte Rechtsordnung sorgen sollte, nicht mehr. Die provisorische Rechtssetzung erfolgte zunächst noch im und durch den volksgewählten Konvent, konzentrierte sich dann aber im Wohlfahrtsausschuss. Die Republik erfuhr durch die Konzentration und Zentralisierung der Staatsgewalten ihre spezifische Form einer diktatorischen Oligarchie, über die schon Herodot berichtet hatte, sie könne nur der Übergang zur Herrschaft des mächtigsten Oligarchen sein.99 Als Leitwerte, auf den alle Politik dieser Republik auszurichten war, galten die Existenz, die Einheit, die Unabhängigkeit und die Handlungsfähigkeit des Staates. Indem Saint-Just dafür plädierte, die Leitung der Armeen den herrschenden Kräften der Politik zu unterstellen, erklärte er die Sicherung der inneren Souveränität der Staatsleitung zur Voraussetzung der äußeren Souveränität.

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Herodot, Neun Bücher der Geschichte, Kap. Thalia.

Die Konstitutionalisierung der juristischen Hermeneutik Von Hasso Hofmann, Berlin Einer der zentralen Begriffe, mit denen Rainer Wahl die überfällige Historisierung der bundesrepublikanischen Rechtsordnung eindrucksvoll in Angriff genommen hat, ist der der „Konstitutionalisierung“1. Damit wird die Prägung des einfachen Rechts durch das Verfassungsrecht bezeichnet. Grundlage und Anstoß für die inhaltliche Ausrichtung der Rechtsordnung auf die Verfassung als eine namentlich mit den Grundrechten etablierte „Wertordnung“ war bekanntlich das viel beredete Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 19582, diese „Geburtsurkunde des eigenständigen und spezifischen deutschen Grundrechtsdenkens unter dem Grundgesetz“3. Indem die Grundrechte so eine objektiv-rechtliche Dimension hinzugewinnen4 – die Fragwürdigkeit der dem Zeitgeist verpflichteten wertphilosophischen Terminologie tut nichts zur Sache –, mutieren sie zu den „ranghöchsten Inhaltsnormen der Rechtsordnung“ und „prägen nicht nur den Staat, sondern auch die Gesellschaft“5. Die Hauptrolle in diesem Prozess spielte (und spielt) das Bundesverfassungsgericht mit seiner außerordentlich dichten Grundrechtsjudikatur. Ist die Rechtsordnung mithin allemal nicht nur formal von der Verfassung her zu denken, nötigt das zu einer Verfassungsorientierung auch der juristischen Methode. I. In den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts erlebte die juristische Methodenlehre eine Hochblüte.6 Hervorgerufen war sie – direkt und indirekt – durch den Vorgang wissenschaftstheoretischer Modernisierung in jener bewegten Entwick1 Siehe Rainer Wahl: Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff, in: FS Brohm, 2002, S. 191 ff.; ders., Herausforderungen und Antworten: Das öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 32 f., 36. 2 BVerfGE 7, 198. Dazu Rainer Wahl: Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte I, 2004, S. 419 Rn. 1, 12 ff. 3 Wahl, Herausforderungen (Fn. 1), S. 32. 4 Dazu Horst Dreier: Dimensionen der Grundrechte, 1993. 5 Wahl, Herausforderungen (Fn. 1), S. 33. 6 Dieses Thema wird der Verf. demnächst mit detaillierten Nachweisen in einem internationalen Gemeinschaftswerk in dem größeren Zusammenhang der Entwicklung der deutschsprachigen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie seit 1945 behandeln.

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lungsphase, in die die Bundesrepublik nach den Gründerjahren, nach den Jahren des Aufbaus, d. h. des Neubaus und der Restauration, eingetreten war und die Eckart Conze in seiner Geschichte der Bundesrepublik mit Blick v. a. auf die Jahre 1966 bis 1974 als „Reformzeit“ apostrophiert hat.7 Unter dem Sigel „1968“ ist an illustrativen Stichworten kein Mangel: Erste wirtschaftliche Rezession, „Bildungskatastrophe“, Studentenbewegung, Reform der juristischen Ausbildung, Protest gegen den Vietnamkrieg, Generationskonflikt, Kampf gegen die Notstandsgesetze, Justizkritik, APO, Neue Linke, Antiautoritarismus, Linksterrorismus, Auflösung traditioneller Milieus, Pluralismus der Lebensformen, Lockerung der Sexualmoral, „Planungseuphorie“ u.a.m. In und hinter alledem war ein gesellschaftlicher Prozess der Liberalisierung, Dynamisierung und „Verwestlichung“ („Amerikanisierung“) im Gange. Für den Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften bedeutete er die Nachholung angelsächsischer, zu einem guten Teil von deutschsprachigen Emigranten betriebenen Theorieentwicklungen.8 Im Zentrum stand die vom Neopositivismus des „Wiener Kreises“ um Moritz Schlick und Paul Carnap ausgehende „Analytische Philosophie“, die es unternahm, philosophische Probleme durch Sprachkritik zu lösen (oder aufzulösen).9 Für diese antimetaphysische Abkehr von den Dingen, insbesondere von den nur gedachten Dingen und Sachverhalten als solchen hin zu den Aussagen, Begriffen, Prinzipien und Axiomen der Wissenschaften hat sich der von Richard Rorty (einem Schüler von Carnap und Hempel) 1967 in Umlauf gebrachte Terminus Linguistic Turn eingebürgert.10 Rortys Philosophie verbindet zudem die für die ganze Entwicklung charakteristischen Begriffe: Sprachkritik, Logik, Rhetorik, Hermeneutik und Pragmatik. In der rechtsphilosophischen Nacharbeit erscheinen sie als Bezeichnungen von Teildisziplinen der Rechtstheorie.11 Sie rückte anstelle der Rechtswerte wieder die Rechtsnormen in den Mittelpunkt. Aufs Ganze gesehen ist der „rasante Aufschwung“ spezifisch rechtstheoretischer Fragestellungen „in seiner Breitenwirkung allenfalls mit der Naturrechtsrenaissance nach 1945 zu vergleichen“.12 Dabei signalisierte der Terminus „Theorie“ allemal metaphysikfreie Wissenschaftlichkeit und Offenheit gegenüber den empirischen Sozialwissenschaften, kurz: Modernität. „Die Rechtsphilosophie ist tot. Es lebe die Rechtstheorie!“Auf diese Formel brachte Ralf Dreier die Situation 1974 in seiner Antrittsvorlesung auf dem im Zuge der Reformen neu errichteten Lehrstuhl allein für „Allgemeine Rechtstheo-

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Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit, 2009, S. 331 ff. Dazu das Vorwort von Ernst Topitsch zu: Logik der Sozialwissenschaften, hrsg. v. dems.: 1965, S. 13 f. 9 Dazu statt aller Victor Kraft: Der Wiener Kreis, 2. Aufl., 1968. 10 Richard Rorty, The Linguistic turn, Chicago, 1967. 11 Dazu Ralf Dreier, Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie? (1975), in: ders. (Hrsg.), Recht-Moral-Ideologie, 1981, S. 17 ff. (20, 25). 12 Hans-Peter Schneider, Rechtstheorie ohne Recht?, in: FS E. Wolf, 1972, S. 108 ff. 8

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rie“.13 In der Methodologie bedeutete das die Ablösung der klassischen von Savigny sich herleitenden Lehre der Gesetzesauslegung nach Wortlaut, Sinnzusammenhang, systematischer Bedeutung, Entstehungsgeschichte und Zweck durch eine „Argumentationstheorie“, andererseits aber auch durch eine neue Hermeneutik, die gegen alle theoretischen Strukturanalysen die Sinnerfassung des Ganzen postulierte. II. Die breiteste Wirkung entfaltete zunächst die Wiederbelebung der Topik. Die Bahn hatte das schmale Bändchen über „Topik und Jurisprudenz“ von Theodor Viehweg schon 1956 gebrochen. Seine Wendung gegen die nur vermeintlich objektive Lösung juristischer Probleme durch angebliche Deduktion aus einem vorausgesetzten System von Normen und Begriffen und sein Plädoyer für eine problemorientierte, sachgerechte und konsensfähige Entscheidung auf der Basis der Erörterung aller einschlägigen Gesichtspunkte nach dem Vorbild der antiken Topik von Aristoteles und Cicero trafen den Nerv der „Reformzeit“. Das verhalf der Schrift zwischen 1963 und 1974 zu vier weiteren Auflagen. Das Rezept der allumfassenden Erörterung problembezogener Argumente förderte die Beschäftigung mit den Voraussetzungen und Regeln juristischer Argumentationen umso mehr, als die bloße Sammlung von Topoi offenkundig nicht weit führte. So sprach schon Viehweg selbst in den späteren Auflagen seiner Programmschrift über eine Fortentwicklung zu einer zeitgenössischen rhetorischen „Argumentationslehre“.14 Die rhetorische Perspektive rückt mit der Gesprächssituation die Situationsbezogenheit der Argumentation in den Mittelpunkt. Aus der herkömmlichen Methodenlehre wird so eine juristische Kommunikationstheorie, sie wird in der Terminologie von Charles William Morris „pragmatisch“.15 Diese Entwicklungslinie, für die etwa Robert Alexys „Theorie der juristischen Argumentation“ von 1978 oder – kritisch dazu – die „Juristische Begründungslehre“ von Hans-Joachim Koch und Helmut Rüßmann aus dem Jahre 1982 stehen können, ist hier jedoch nicht weiter zu verfolgen. Den stärksten philosophischen Einfluss auf die juristische Methodenreflexion jener Jahre hatte indes die Erneuerung der Hermeneutik durch Hans-Georg Gadamers epochemachendes Werk „Wahrheit und Methode“, das zwischen 1960 und 1975 in vier Auflagen erschien.16 Es ist der Möglichkeit von Verstehen überhaupt gewidmet und erhebt die Geschichtlichkeit des Verstehens in seiner zirkulären Struktur mit den Vorurteilen als Bedingungen des Verstehens zum „hermeneutischen Prinzip“17.

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Siehe Fn. 11. Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl., 1974, S. 111. 15 Charles William Morris, Zeichen, Sprache und Verhalten, 1973. 16 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode – Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. Aufl., 1965. 17 Ebd. S. 250 ff.; die folg. Zit. S. 277 f. 14

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„Die Antizipation von Sinn, die unser Verständnis eines Textes leitet, ist nicht eine Handlung der Subjektivität, sondern bestimmt sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet. Diese Gemeinsamkeit aber ist in unserem Verhältnis zur Überlieferung in beständiger Bildung begriffen. Sie ist nicht einfach eine Voraussetzung, unter der wir schon immer stehen, sondern wir erstellen sie selbst, sofern wir verstehen, am Überlieferungsgeschehen teilhaben und es dadurch selber weiter bestimmen.“

Dabei setzen wir, um einen Text zu verstehen, zunächst in einem hermeneutischen „Vorgriff“ notwendig dessen vollkommene Sinneinheit voraus. Indem Gadamer der juristischen Hermeneutik ausdrücklich „exemplarische Bedeutung“ beimaß, sofern sie das Recht durch Vermittlung zwischen dem allgemeinen Gesetz und dem besonderen Fall konkretisiert18, sprach er die Juristen direkt an. Ein besonders eindrucksvolles Zeugnis der starken Resonanz bei den Juristen ist Arthur Kaufmanns Aufsatz von 1975 mit dem signifikanten Titel „Durch Naturrecht und Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik“.19 Im Vertrauen auf die „Erkenntnis“ der „neueren philosophischen Hermeneutik“ gibt Kaufmann seine eigene ontologische Auffassung vom Recht als feststehenden objektiven Relationen auf und folgt Gadamers zirkulärer Philosophie des Verstehens. Nur auf diesem Wege könne der Methodendualismus von Sein und Sollen und die Identifikation des Rechts mit den Gesetzesnormen überwunden werden. Differenzierter hatte der Zivilrechtler und Rechtsvergleicher Josef Esser 1970 mit „Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung“ reagiert.20 Die beispielhafte Bedeutung der juristischen Hermeneutik sieht Esser darin, dass der hermeneutische Zirkel hier als „Anwendungszirkel“ erscheint, insofern der Jurist die Verstehbarkeit des Textes von dessen möglichem Anwendungssinn her bestimmt. Die „Normbefragung“ steht m. a. W. unter einem „entscheidungsbezogenen Vorverständnis der Konfliktsituation“, die den allgemeinen, nichtindividuellen „Erwartungshorizont“ für die richterliche Entscheidung definiert. Esser sieht den interpretierenden Richter als Vermittler zwischen diesem gesellschaftlichen Rechtsverständnis der Beteiligten, einem u. U. also neuen Erwartungshorizont, und der „dogmatischen Ordnungstradition des Rechtssystems“. Da jedoch auch diese Tradition allemal nur „zeit- und gesellschaftsabhängig“ begriffen wird, ist auch die von daher geprägte „dogmatische Einstellung des Interpreten“ letztlich eingespannt in die „allgemeinen Veränderungen der Bewusstseinslage“. Was sich sachlich damit ändert, sind offenbar gewisse gemeinsame Vorstellungen von Gerechtigkeit und Vernunft, die freilich stets nur im hermeneutischen Vorgriff auf das Ganze sichtbar werden. In diesem zentralen Punkt beruft sich Esser ausdrücklich auf Gadamer, aber auch auf Jürgen Habermas. Er hatte 1963 in der Festschrift für Adorno die Dialektik der sog. kritischen Theorie Frankfurter Provenienz gegen die analytische 18

Dazu ebd. S. 35 ff., 307 ff., 312 ff., 489 ff. Arthur Kaufmann, Durch Naturrecht und Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik (1975), jetzt in: ders. (Hrsg.), Beiträge zur Juristischen Hermeneutik, 1984, S. 79 ff. 20 Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl., 1972. Die folg. Zit. S. 139 ff. Dazu schon Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Rechtsfortbildung des Privatrechts, 1956. 19

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Wissenschaftstheorie mit einem dialektischen, nur in einem „hermeneutischen Vorgriff“ zu fassenden Totalitätsbegriff des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs verteidigt und zugleich das entsprechende hermeneutische Verfahren der dialektischen Theorie bei der Entschlüsselung des objektiven Sinnzusammenhangs der geschichtlichen Situation erläutert.21 Mit Essers hermeneutischem Stichwort von den „allgemeinen Veränderungen der Bewusstseinslage“ der Interpreten ist die Dimension angesprochen, in der sich auch die Konstitutionalisierung des Rechtsdenkens vollzieht.

III. Aber bevor noch die Konsequenzen des Umstandes, dass nicht mehr der Gesetzgeber das letzte Wort hat, dass sein Wort nun vielmehr unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit mit den höherrangigen Rechtsprinzipien einer übergeordneten Normenebene steht, welche die allgemeinen Vorstellungen von Recht und Rechtsordnung durchdringen, richtet sich das neu erwachte, aus verschiedenen Quellen gespeiste Interesse an den Fragen der juristischen Interpretation natürlich auf eben jene höhere Normenschicht selbst, also auf die Verfassung und auf die Tätigkeit des eigens für ihre Auslegung mit umfassenden Zuständigkeiten geschaffenen Gerichts. Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer hat das auf ihrer Freiburger Tagung von 1961 mit der Behandlung des Themas „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ dokumentiert.22 Im Vorfeld hatte es wegen eines Angriffs auf die angebliche „Umbildung des Verfassungsgesetzes“ durch die geisteswissenschaftlich-werthierarchische Interpretation der Grundrechte aus dem Geist der Smendschen Integrationslehre, den Ernst Forsthoff ausgerechnet in der umstrittenen Festschrift für Carl Schmitt vorgetragen hatte, einige Unruhe gegeben.23 In Freiburg blieben die Sympathiebekundungen für die traditionelle juristische Methodenlehre dann jedoch recht spärlich; zum Erbe des staatsrechtlichen Positivismus wollte sich niemand mehr bekennen. Stattdessen beherrschten die Stichworte der neuen Hermeneutik das Feld: Problemdenken, Topik, Einheit der Verfassung, Vorverständnis. Als neue Autoritäten erschienen Gadamer, Esser und Viehweg. Und Horst Ehmke prägte mit seinem Postulat einer Verfassungstheorie als Grundlage der Verfassungsinterpretation24 das zukunftweisende Symbolon der Bewegung gegen die Dominanz der Staatslehre und den „Staat als Argument“.25 21

Im Einzelnen dazu die in Fn. 6 angezeigte Arbeit. VVDStRL 20 (1963), S. 1 ff.: Berichte von Peter Schneider und Horst Ehmke. 23 Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: FS für Carl Schmitt, 1959, S. 35 ff. Maßgebliche Kritik bei Alexander Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 85 (1960), S. 241 ff. Zum Ganzen: Frieder Günther, Denken vom Staat her – Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949 – 1970, 2004, S. 216 f., 228 f. 24 Ehmke (Fn. 22), S. 52 ff. (62 ff.). 25 Dazu Günther (Fn. 23), S. 243 ff.; Christoph Möllers, Staat als Argument, 2000. 22

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15 Jahre später hat Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 25. Geburtstag des Bundesverfassungsgerichts die inzwischen hauptsächlich vertretenen Methoden der Verfassungsinterpretation dargestellt und in einer sehr eindringlichen Weise kritisch analysiert.26 Im Einzelnen behandelt er zunächst Forsthoffs vergeblichen Appell, zu den klassischen Interpretationsregeln Savignys zurückzukehren (der sie bewusst für das Privatrecht entwickelt hatte). Forsthoffs Versuch musste, da hatte Böckernförde sicher Recht, an der strukturellen Differenz zwischen Gesetz und Verfassung scheitern. Während das Gesetz zumeist als Regel „in einem Kosmos schon bestehender strukturgleicher Regelungen“, also im Zusammenhang einer in sich korrespondierenden Rechtsordnung erscheint, ist die Verfassung „fragmentarisch und bruchstückhaft“, enthält Prinzipien, Zielbestimmungen, „Lapidarformeln“ und „Formelkompromisse“.27 Schwierigere Aufgaben für die Analyse stellen sodann die „topisch-problemorientierte Methode“ (wie sie insbesondere Ehmke verfochten hatte), die wirklichkeitswissenschaftlich orientierte Verfassungsinterpretation i.S. Smends und die „hermeneutisch-konkretisierende Auslegungsmethode“, für die in erster Linie der Name Konrad Hesse steht. An dessen Versuch, die Rationalität der Verfassungsinterpretation ohne prinzipielle Absage an die Offenheit von Topik und Problemdenken durch den Begriff der „Konkretisierung“ des den Interpreten bindenden Verfassungstextes zurückzugewinnen28, kritisiert Böckenförde den zirkulären Charakter. Wie könnte die unbestimmte Norm, die ihren Inhalt erst in der konkretisierenden Auslegung gewinnt, zugleich Bindungselement der Auslegung sein, zumal Hesses „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“, wie „Einheit der Verfassung“, „praktische Konkordanz“, „funktionelle Richtigkeit“, „integrierende Wirkung“ und „normative Kraft der Verfassung“, ja selbst nur Auslegungsgesichtspunkte ohne normativen Charakter seien?29 Einen Hermeneutiker, der durch die Schule Gadamers gegangen ist, wird diese Frage allerdings kaum erschüttern. Besonders aufschlussreich ist Böckenfördes Einbeziehung der „wirklichkeitswissenschaftlich orientierten Verfassungsinterpretation“ Smends. Dessen berühmter Text „Verfassung und Verfassungsrecht“ von 1928 und sein einflussreicher Bericht auf der Münchener Staatsrechtslehrertagung 1927 über „Das Recht der freien Meinungsäußerung“ waren in der Sammlung seiner „Staatsrechtlichen Abhandlungen“ 1955 und dann 1968 in 2. Auflage neu gedruckt worden. Da das Lüth-Urteil von einem grundrechtlichen „Wertsystem“ gesprochen hatte, das „für alle Bereiche des Rechts gelten“ und alle Zweige der Staatstätigkeit leiten müsse30, lag wegen der Terminologie und des identischen Streitthemas „Meinungsfreiheit“ der methodologi26 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, NJW 1976, S. 2089 ff. Siehe dazu auch die Textsammlung von R. Dreier/ F. Schwegmann (Hrsg.): Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976. 27 Böckenförde (Fn. 26), S. 2091. 28 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, zit. nach der 8. Aufl., 1976, S. 25 ff. 29 Böckenförde (Fn. 26), S. 2096. 30 BVerfGE 7, 198 (205, 207).

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sche Rückbezug auf Smends Interpretationslehre nahe. Böckenförde dagegen erkennt, dass „Wertsystem“ bei Smend nur eine vordergründige Bezeichnung für die eigentliche Orientierung der Verfassungsinterpretation ist. Sie liege in der Integrationswirkung der Verfassung, „verstanden als fortlaufender Verwirklichungs-, d. h. Stabilisierungsprozess zur Errichtung und Erneuerung der Lebenstotalität des Staates“31. Da auf diese Weise „sozialwissenschaftliche Funktionsaussagen“ über die Verfassung „normative Relevanz“ erhielten und die „Polarität von Norm und Wirklichkeit“ eingeebnet werde, handele es sich im Kern um eine „soziologische Verfassungsinterpretation“32. Damit ist freilich zugleich der Abstand zwischen Smends Konstitutionalisierung der juristischen Interpretation im legendären Weimarer „Methodenstreit“33 und der Konzentration der neuen, vergleichsweise ungeschichtlichen juristischen Hermeneutik auf das Bonner Grundgesetz markiert.34 Denn zwar hatte Smend von einem Wertsystem der Grundrechte gesprochen. Indes lag ihm der Entwurf einer abstrakten systematischen Grundrechtsdogmatik völlig fern. Er meinte damit ein geschichtlich gewachsenes nationales „Kultursystem“ als Mittel der „Volksintegration“ und als „wichtigste Legitimitätsquelle“ für die Bewährung der „Kerninstitute“ der „bisherigen bürgerlichen Rechtsordnung“. Die aktuelle methodologische Bedeutung Smends liegt eher darin, dass seine Integrationslehre mit der These von der „fließenden Geltungsfortbildung des gesetzten Verfassungsrechts“35 geeignet ist, gewisse Erscheinungsformen der topisch-problemorientierten Methode zu stützen und zu schärfen, wie sich das etwa bei Peter Häberle zeigt.36 Den Hauptgegenstand von Böckenfördes Analyse und Kritik bildet denn auch die topisch-problemorientierte Hermeneutik, die inzwischen der ,Altmeister der Zunft, Ulrich Scheuner, als „eine spezifisch verfassungsrechtliche“ bezeichnet hatte, „die sich an Problemen, Zusammenhängen und Prinzipien orientiert, nicht aber an der Herstellung einer logisch oder scheinlogisch ableitbaren Systemeinheit“.37 Und namentlich mit dem „Grundlagenvertragsurteil“, dem „Radikalen-“ und dem „Diätenurteil“ hatte das Bundesverfassungsgericht selbst begonnen, sich dieser Methode zu bedienen.38 Böckenfördes zentrale Kritik richtet sich gegen die Reduzierung der Verfassung (samt der dazu i. S. Ehmkes entwickelten Verfassungstheorie) auf eine Sammlung von Problemlösungsgesichtspunkten neben anderen, über deren Relevanz 31

Böckenförde (Fn. 26), S. 2095. Ebd. mit Fn. 75. 33 Dazu mit Nachw. Hasso Hofmann, Recht und Kultur, 2009, S. 50 ff. 34 Dazu Horst Dreier, Interpretation durch Verfassung?, in: FS Hans-Peter Schneider, 2008, S. 71 ff. (86 ff.); Hofmann (Fn. 33), S. 55. Hier auch die Belege für das Folgende. 35 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119 ff. (242). 36 s. Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff.; jetzt mit einem Nachtrag in: ders. (Hrsg.), Verfassung als öffentlicher Prozess, 2. Aufl., 1996, 156 ff. 37 Ulrich Scheuner, Pressefreiheit, VVDStRL 22 (1965), S. 1 ff. (38 Fn. 111). 38 s. BVerfGE 36, 1; 39, 334; 40, 296. 32

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normativ nicht die Verfassung, sondern das jeweils konsensgetragene Vorverständnis entscheide. „Damit geht“ in der Tat „auch die Funktion der Einheitsstiftung bzw. -vermittlung, die der Verfassung als rechtlicher Grundordnung des politischen Lebens zukommt, letztlich auf dieses Vorverständnis über“.39 Eine Interpretationsmethode aber, die in so hohem Maße Inhaltsbestimmung statt nur Inhaltsermittlung ist, verlangt in einem demokratischen Gemeinwesen notwendig ihre eigene Demokratisierung. Sie hat, wie Böckenförde darlegt, in beispielhafter Weise Peter Häberle propagiert. Nicht von ungefähr ist Häberles Aufsatztitel: „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ zu Schlagwortberühmtheit gelangt.40 Dessen Kernthesen gehen dahin, dass an den Prozessen der Verfassungsinterpretation potentiell „alle Staatsorgane, alle öffentlichen Potenzen, alle Bürger und Gruppen“ beteiligt sind und zwar schon dadurch, dass sie die Verfassung in irgendeiner Weise – also nicht nur durch Mitwirkung bei juristischen Entscheidungen – „aktualisieren“ und dass all das „ein Stück Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung selbst“ ausmacht. Funktionieren kann das, wendet Böckenförde ein, allerdings nur auf der Grundlage eines schon vorhandenen, nicht erst herzustellenden Basiskonsenses. Damit verfehle dieses im Grunde unpolitische Harmoniemodell den politischen Charakter der Verfassung, die die Wahrung der Einheit gerade auch dort ermöglichen soll, wo politische Konflikte aufbrechen und gegensätzliche Werthaltungen hervortreten.41 Folglich sei eine wahrhaft „verfassungsgemäße Verfassungstheorie“ vonnöten, die auch dann noch – und darum gehe es erstlich und letztlich – die verfassungsrechtlichen Entscheidungen als authentische Verfassungsinterpretationen anleiten könne. Um die Normativität der Verfassung zurückzugewinnen, müsse sie die Verfassung als Rahmenordnung für die politische Entscheidungsgewalt, als gewaltenteilende Grenz- und zugleich als Richtungsbestimmung für die politische Handlungs- und Entscheidungsgewalt durch Vorgabe von Handlungszielen und Gestaltungsprinzipien begreifen. Folglich habe sie von den „Grundentscheidungen und tragenden Prinzipien“ der Verfassung auszugehen, von „den übernommenen oder modifizierten Elementen der Verfassungstradition, der errichteten Zuordnung und Balancierung der Funktionen/Gewalten u.a.m. Sie muss die darin sich ausdrückende leitende Ordnungsidee, die auch eine komplexe sein kann, ermitteln und zu einer systematischen Orientierung zu entfalten suchen“, um ein „Äquivalent für das ,historisch-dogmatische Ganze der Rechtsordnung“ zu bieten, von dem einst Savigny gesprochen hatte.42 IV. Dass hier Carl Schmitts Verfassungslehre mit ihrem „positiven“ (d. h. dezidiert politischen) Verfassungsbegriff Licht und Schatten wirft, das zu merken, ist so schwer 39

Böckenförde (Fn. 26), S. 2093. s. Häberle Fn. 36. Die folg. Zit. ebd. S. 156, 167. Man erinnert sich hier an Smends Ausführungen über Integration, in: Verfassung und Verfassungsrecht (Fn. 35), S. 136. 41 Böckenförde (Fn. 26), S. 2094. Das Folg. nach S. 2007 f. 42 Ebd. S. 2008. 40

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nicht. Damit wären wir wieder bei Günthers Untersuchung der bundesdeutschen Staatsrechtslehre „zwischen Dezision und Integration“.43 Aber darum geht es hier so wenig wie um die Fülle der nur gestreiften Detailprobleme. Auch mag die nahe liegende elementare Frage beiseite bleiben, ob nicht zumindest ein Teil der Verwirrung durch eine klare Trennung der geisteswissenschaftlich-soziologischen Perspektive einer Beobachtung des Lebens und Wirkens, der Entwicklung und des Wandels einer Verfassung von der von Fall zu Fall auf die Unterscheidung des Verfassungsgemäßen vom Verfassungswidrigen gerichteten Perspektive der unmittelbar am Entscheidungsprozess Beteiligten behoben werden könnte.44 Für den Historiker handelt es sich um etwas anderes. Er sieht Böckenfördes Aufsatz als einen Meilenstein in der Konstitutionalisierung der juristischen Hermeneutik. Denn nach dieser eindringlichen Analyse der Problematik und ihrer Diskussion ist klar, dass und warum eine Rückkehr der Verfassungsauslegung zur klassischen zivilistischen Interpretation in der Nachfolge Savignys ausgeschlossen war und ist. Hatte der seinerzeit führende zivilistische Methodologe noch 1969 die Meinung vertreten, dass die Probleme der Verfassungsinterpretation sich nicht wesentlich von denen der allgemeinen juristischen Hermeneutik unterschieden, so heißt es in späteren Auflagen seines Standardwerks nur noch, dass die allgemeinen Auslegungsgrundsätze „wenigstens prinzipiell auch auf die Verfassungsinterpretation anzuwenden“ seien.45 Das wird niemand bestreiten, aber die eigentliche Problematik ist damit offenbar nicht in den Griff zu bekommen. Ein anderes wesentliches Moment im Fortgang der Konstitutionalisierung ist das Gebot verfassungskonformer Auslegung des „einfachen“ Gesetzesrechts. Es ist dies eine zwingende Konsequenz aus dem Vorrang der Verfassung46 mit ihren nach dem Lüth-Urteil auf alle Bereiche der Rechtsordnung ausstrahlenden rechtsethischen Prinzipien („Wertesystem“)47. Das Gebot verfassungskonformer Auslegung besagt bekanntlich, dass eine Norm verfassungskonform auszulegen ist, wenn von mehreren möglichen Auslegungen mindestens eine der Verfassung widerspricht, mindestens eine andere ihr aber entspricht. Gestritten wird bei diesem „völlig unstreitige(n) Instrument“48 im Wesentlichen nur über dreierlei – das allerdings ausgiebig: die Möglichkeit und Notwendigkeit der Unterscheidung der verfassungskonformen von einer verfassungsorientierten Auslegung, über die verfassungstheoretische Begründung 43

s. oben bei Fn. 23. Dazu Hasso Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 5. Aufl. 2011, S. 23 ff. 45 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 1969, S. 148, 6. Aufl., 1991, S. 363. 46 Dazu schon klassisch Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 985 ff. 47 Vom BVerfGE 2, 266, (282) allerdings schon aus der Vermutung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes abgeleitet. Gesetzliche Anerkennung 1970 durch Änderung des § 79 Abs. 1 BVerfGG, die von einer vom BVerfG für unvereinbar mit dem GG erklärten „Auslegung einer Norm“ spricht. 48 Max-Emanuel Geis, Die „Eilversammlung“ als Bewährungsprobe verfassungskonformer Auslegung, NVwZ 1992, S. 1025 ff. (1029). 44

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(Vermutung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, Einheit der gestuften Rechtsordnung, Normerhaltung) und über die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz im Verhältnis zu den Fachgerichten49. Der Kern all dessen ist die entschiedene Ausrichtung aller juristischen Auslegung auf die Verfassung, insbesondere auf die objektiv-rechtlichen Gehalte der Grundrechte, diese „bedeutsamste Weiterentwicklung der Grundrechtstheorie nach 1949“.50 Außer dieser derart von den Grundrechten dominierten Hierarchisierung der gesamten Rechtsordnung und der Entwicklung einer speziellen Interpretationsweise der Verfassung, von der davor im Anschluss an Böckenförde die Rede war, hat die Konstitutionalisierung der juristischen Hermeneutik noch eine dritte Dimension. Sie zeigt sich in dem Entwurf einer von der Fassung ausgehenden, dem Anspruch nach jedoch allgemeinen juristischen Interpretationslehre, die, von Verfassungsrechtlern konzipiert, in Konkurrenz tritt mit den herkömmlichen Methodenlehren von Straf- und Zivilrechtlern. Es sind zwei öffentlich-rechtliche Habilitationsschriften aus den Jahren 1966 und 1967, die diesen Wendepunkt markieren. Die Überschriften konnten symptomatischer und zeittypischer nicht sein. Martin Kriele titelte: Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation. (Der ersten Auflage von 1967 folgte 1976 eine zweite.) Thematisch eher noch weiter griff Friedrich Müller 1966 aus: „Normstruktur und Normativität – Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik, entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation“. V. Seinen Versuch, die juristischen Denkprozesse im Verfassungsrecht unter die „rationale Kontrolle“ durch die Rechtswissenschaft zu bringen, macht Kriele ausdrücklich „unter den Bedingungen der Herrschaft des Bonner Grundgesetzes“ und im Blick auf die Methode, die hier „im Großen und Ganzen“ geübt wird.51 Die Vernunftbasis aller dieser rechtswissenschaftlichen Operationen sieht er in der Rationalität, die sich als eine „Fortschrittsgeschichte“ in „unser(em) Rechts- und Verfassungssystem… niedergeschlagen hat“.52 Gegenüber der großen Tradition römischer Jurisprudenz schiebt sich so westlich-liberales Vernunftrechtsdenken in den Vordergrund.53 Maßgeblich sind jetzt die „geschichtlichen Bedingungen der europäischen Vernunfttradition“54, die im freiheitlichen Verfassungsstaat ihre Krönung erfährt. 49

Dazu detailliert Clemens Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 171 ff. Rainer Wahl, Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, JuS 2001, S. 1041 ff. (1045). 51 Martin Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 2. Aufl., 1976, S. 155, 158. 52 Ebd. S. 185, 336. 53 Über die größeren Zusammenhänge Hasso Hofmann, Das antike Erbe im europäischen Rechtsdenken – Römische Jurisprudenz und griechische Rechtsphilosophie, in: Walter/Seidensticker (Hrsg.), Ferne und Nähe der Antike, 2003, S. 33 ff. 54 Kriele, Theorie (Fn. 51), S. 338. 50

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Detaillierter ist der Prozess der Konstitutionalisierung in der Entwicklung von Friedrich Müllers Interpretationslehre zu verfolgen. Müller greift die traditionelle Gegenüberstellung von Norm und Faktum auf, will sie aber nicht theoretisch überwinden, sondern in der Denkbewegung der Auslegung der Norm „hermeneutisch“ auflösen und zwar so, dass er zwischen der normativen Anordnung des Gesetzes und dem angezielten Lebenssachverhalt eine „hermeneutische“, d. h. im Prozess der Auslegung und Anwendung wirksame, aber nicht reale, nicht objektiv fassbare Vermittlungsebene einzieht. Sie dient als eine Art fallbezogene Tatbestandsbestimmung der Konkretisierung des Gesetzes, gehört insofern – als die von Müller so genannte „Normstruktur“ – zur positiven Norm, ohne jedoch mit ihrer Erfassung der sachlichen Problemstruktur am Anordnungscharakter der Norm teilzuhaben, also zu der eigentlichen Normativität der Norm zu gehören. In der Tat müssen ja den meist offenen und vielfach unvollständigen, aus sich heraus nicht exekutierbaren Normsätzen der Verfassung durch die Zuordnung und Anpassung von Tatbeständen erst operationalisiert werden. „Der Normbereich bezeichnet als typologische Zwischenstufe einen real möglichen Strukturbereich für potentiell der Vorschrift zuzuordnende reale, einzelne Fälle. Topische Hermeneutik vermittelt über die Zwischenstufe der nach Normprogramm und Normbereich akzentuierten Konkretisierungstypik ,den Fall mit ,der Norm, die beide nicht isolierte Endpunkte der Applikation bilden, sondern in diese integral einbezogen sind“.55 Der hermeneutische „Fortschritt“ muss wohl darin gesehen werden, dass erstens jene Vermittlung sich nicht im Kreise um das sinnerschließende und zugleich abzuarbeitende Vor-Urteil drehen, sondern in einer Ellipse um die Pole Normprogramm und Normbereich bewegen soll56, und dass zweitens aus der Topik das Postulat einer nach Fallgruppen geordneten Typologie wird.57 Dieses Verfahren vermindert die begründungsbedürftigen Gesichtspunkte freilich nicht, sondern vermehrt sie im Sinne einer feineren, ausgefeilteren Interpretation. Die deutlichste Spur der Konstitutionalisierung des Rechtsdenkens zeigt sich dabei in dem Paradox, dass der sog. Normbereich zwar als hermeneutischer Bestandteil der Norm betrachtet wird, die demnach also nicht mit ihrem Wortlaut identisch ist, die topische Interpretation über diesen Wortlaut aus rechtsstaatlichen Gründen aber keinesfalls soll hinausgehen dürfen.58 In seiner allgemeinen, nicht mehr primär auf die Verfassungsinterpretation bezogenen „Juristischen Methodik“, die Müller aus den hier angedeuteten Anfängen entwickelt hat59, ist die Konstitutionalisierung der juristischen Methodologie zum Schluss gekommen:

55 Friedrich Müller, Normstruktur und Normativität – Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik, entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation, 1966, S. 191 f. 56 Ebd. S. 186 f., 196. 57 Ebd. S. 189. 58 Ebd. S. 147 ff. 59 Friedrich Müller, Juristische Methodik, hrsg. v. Ralf Christensen, 7. Aufl., 1997. Das folg. Zit. ebd. S. 208.

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„Da Methodenfragen Sachfragen sind, können die Probleme einer hier und heute zu leistenden Methodik von der Eigenart dieses Grundgesetzes, von seinen Sachbereichen und vom Schicksal dieser verfassungsrechtlichen Ordnung in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht getrennt werden“.

Vom öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnis her denken: Erste Etappen auf dem „Entwicklungspfad“ der deutschen Staatsrechtslehre Von Olivier Jouanjan, Strasbourg 1. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in der „Gründungsphase einer Nach-DiktaturGesellschaft“, wurde die Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht in der Bundesrepublik neu belebt. Nach den geistigen Zerstörungen der NS-Zeit nahm die Figur des subjektiv-öffentlichen Rechts in der Rechtsordnung eine viel kraftvollere Stellung ein als diejenige, die sie im späten Kaiserreich und unter der Weimarer Verfassung besessen hatte. Sie begann, die ganze Sphäre des öffentlichen Rechts nach ihrer Struktur und Begrifflichkeit neu zu ordnen. Es geschah eine „fundamentale Subjektivierung des Rechts“, insbesondere des Staats- und Verwaltungsrechts: „Vorangetrieben wurde die bald sichtbare Expansion des subjektiven-öffentlichen Rechts in einer Art Zangenbewegung, sowohl durch den materialen Gedanken der Subjektivierung wie durch die Garantie des lückenlosen Rechtsschutzes.“ Die alte Bühlersche Lehre war nun offensichtlich ungenügend, um den neuen Gehalt und die neue Tragweite des subjektiven Rechts dem Staat gegenüber weiterhin zu tragen. Die Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht musste sich aus der Enge der traditionellen Theorien weithin befreien. Wenn auch die „Entdeckung“ der „objektiv-rechtlichen Seite“ der Grundrechte im Lüth-Urteil eine neue Balance im System brachte, wurde diese grundsätzliche Subjektivierung der Nachkriegszeit für die deutsche Rechtsordnung nachhaltig prägend: somit war auch der „Entwicklungspfad“ dieser Rechtsordnung vorgezeichnet. Im Rahmen seines Programms einer „Historisierung des geltenden Öffentlichen Rechts“ hat Rainer Wahl diese vielschichtige und weit verzweigte Entwicklung in der neueren Geschichte des deutschen Rechts vorzüglich analysiert1. Nähme man eine parallele Historisierung des geltenden öffentlichen Rechts in Frankreich vor, würde sich zeigen, wie die Rechtsprechung der unmittelbaren Nachkriegszeit ihre Bewältigungsarbeit2 statt mit einer Betonung und Bekräftigung der (subjektiven) 1 Für alle oben angeführte Zitate und Andeutungen: Rainer Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, insbes. S. 14, 18, 23. Ein Teil dieses Textes wurde ins Französische übersetzt: Aux origines du droit public allemand contemporain, Revue du droit public 3/2007, S. 795 – 821. 2 Trotz der Legende der Unbescholtenheit der Verwaltungsgerichtsbarkeit während des Vichy-Regimes – die gerade aus dem Conseil dtat heraus gern tradiert wurde – zeigen neuere Studien, wie wenig Widerstandskraft die Verwaltungsgerichtsbarkeit auch gegen die

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Rechte durch die Behauptung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen („principes gnraux du droit“) leistete3; das Heil lag im objektiven Recht. Diese Parallele zeigt deutlich, wie zwei unterschiedliche Rechtstraditionen, zwei verschiedene „Entwicklungspfade“ in der entscheidenden Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg unterschiedlich reagierten. In Deutschland war der Weg der Subjektivierung sozusagen vorgeschrieben; in Frankreich boten sich die damals schon prägenden, überlieferten Mittel des „Objektivismus“ an4. Die „Subjektivierung“, die die deutsche Rechtsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg erfahren hat, kommt also nicht aus dem Nichts und auch nicht von ungefähr. Sie war durch die Überlieferung des deutschen Rechts und der deutschen Wissenschaft vom (öffentlichen) Recht vorgezeichnet. Dieser „Entwicklungspfad“ des deutschen Rechts hat tiefe historische Wurzeln. Sehr wahrscheinlich spielt die Tradition des „germanischen“ Naturrechts – eine Linie, die sich von Grotius5 über Pufendorf bis Wolff zieht – eine maßgebliche Rolle, mit welcher Rousseau – als Gründer einer „französischen“ Tradition – sehr bewusst gebrochen hat. Das kann hier nicht näher verfolgt werden. Grundlegend für die weitere Entwicklung des Rechtsdenkens in Deutschland war vielmehr die deutsche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. Im Folgenden geht es darum, das subjektive öffentliche Recht als eine sozusagen emergente Eigenschaft des Systems des deutschen Rechts zu deuten, wobei die Rechtswissenschaft nicht als eine vom Recht getrennte Größe (nach dem Schema Subjekt/Objekt) sondern als einer der konstituierenden Faktoren des Rechtssystems selbst gesehen wird6. Für die Entwicklung des subjektiven öffentlichen Rechts als Bestandteil der deutschen Rechtsordnung spielt die Rechtswissenschaft auf jeden Fall die entscheidende Rolle, insbesondere durch das Werk von Georg Jellinek: System der subjektiven öffentlichen Rechte (1892, 19052). Eine solche Deutung setzt voraus, dass mit schlimmsten Seiten der Kollaborationspolitik und der heimischen Judenverfolgung aufbrachte. Wegweisend: Jean Marcou, Le Conseil dtat sous Vichy (1940 – 1944), Diss., Grenoble, 1984. Siehe auch : Jean-Pierre Dubois, La jurisprudence administrative, Le Genre Humain, 30/31 (Le droit antismite de Vichy), 1996, S. 339 – 362; Philippe Fabre, Le Conseil dtat et Vichy : le contentieux de lantismitisme, 2001 (insbes. S. 325 ff., zur korporativen Konstruktion der Unbescholtenheits-Legende). 3 Zum Aufkommen der principes gnraux du droit in der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung, statt anderer: Benot Jeanneau, Les principes gnraux du droit dans la jurisprudence administrative, 1954. 4 Mit dem Ausdruck „Objektivismus“ wird hier an den französischen Staatsrechtslehrer Lon Duguit erinnert, der dem deutschen, „metaphysischen“ Subjektivismus den klaren, „positiven“ französischen „Objektivismus“ gegenüberstellte. Siehe: Lon Duguit, Trait de droit constitutionnel, 3. Aufl., Bd. 1, 1927, S. 14 ff., passim. 5 Siehe: Peter Haggenmacher, Droits subjectifs et systme juridique chez Grotius, in: Luc Foisneau (Hg.), Politique, droit et thologie chez Bodin, Grotius et Hobbes, 1997. 6 Diese Grundposition habe ich bereits verschiedentlich dargelegt: Olivier Jouanjan, Une histoire de la pense juridique en Allemagne (1800 – 1918), 2005. Zusammenfassung in deutscher Sprache: ders., Philosophische Verwicklungen in der Rechtswissenschaft: zur Geschichte des deutschen juristischen Denkens im 19. Jahrhundert, Savigny-Zeitschrift – Germ. Abt., 125, 2008, S. 367 ff.

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dem entsprechenden Moment der Rechts(wissenschafts)geschichte nicht (nur) narrativ umgegangen wird. Es geht vielmehr darum zu zeigen, wie sich dieses bis in die Grammatik des Rechts einschleicht. Mit der historischen Rechtsschule in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand die Vorstellung, es sei die grundlegende Aufgabe der Rechtswissenschaft, diese Grammatik der (deutschen) Rechtsordnung aufzuzeigen. Man sprach damals von dem inneren System des Rechts7. Die Darstellung eines positiven Rechts wird also erst zu einer wissenschaftlichen, wenn sie grammatisch korrekt (fundiert) ist. Es handelt sich nicht mehr darum, ein Natur- bzw. Vernunftrecht als äußeres Kriterium eines positiven Rechts auszuarbeiten, sondern die inneren Konstitutions- und Konstruktionsregeln des bearbeiteten Rechts zu beherrschen, wodurch die juristische Beschreibung und Auslegung ihren wissenschaftlichen Charakter erhält. Diese grammatische Bearbeitung wurde somit zur Bedingung der Möglichkeit einer („echten“, „eigentlichen“) Systematisierung des Rechts. Die folgenden Bemerkungen dienen dazu, zu zeigen, wie am Ende des 19. Jahrhunderts der Begriff des subjektiven öffentlichen Rechts sich als ein notwendiger Bestandteil der deutschen Grammatik des öffentlichen Rechts anbot. 2. Georg Friedrich Puchta (1798 – 1846) hat der Generation der deutschen Juristen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seinen Stempel aufgedrückt8. Diese Behauptung gilt nicht nur für die Pandektistik, sondern auch für die Wissenschaft des Staatsrechts. Der eigentliche Gründer der modernen deutschen Staatsrechtswissenschaft, Carl Friedrich Gerber (1823 – 1891)9, studierte um 1840 in Leipzig bei Puchta und blieb stets von seiner Lehre tief geprägt10. Puchta hinterließ seinem Schüler eine allgemeine Grammatik des Rechts, anhand derer nun Gerber die spezielle Grammatik des Staatsrechts schreiben sollte. Mit der historischen Rechtsschule wurden das subjektive Recht sowie das Rechtsverhältnis zu Grundbegriffen der allgemeinen Rechtsgrammatik. In der Organologie Savignys waren Rechtsverhältnis und Rechtsinstitut die primären Größen im System11. Puchta kritisierte diesen Vorrang des Rechtsverhältnisses und legte das subjektive Recht seinem eigenen System als Zentralbegriff zugrunde. Von dieser Prioritätsfrage abgesehen, bedeutete das Vermächtnis der historischen Rechtsschule, dass die 7

Das Wort „Grammatik“ kann aber auch daran erinnern, dass die historische Schule – und Savigny insbesondere – das Recht als historisch-systematisches Ganzes oft mit der Sprache verglichen hat. Im Zusammenhang mit den „symbolischen“, „förmlichen Handlungen“ des alten Gewohnheitsrechts spricht Savigny selbst von der „eigentliche(n) Grammatik des Rechts“ (Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1813, S. 10). 8 Zu Puchta, nun: Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die Begriffsjurisprudenz, 2004. 9 Über die Staatslehre Gerbers, nun: Carsten Kremer, Die Willensmacht des Staates. Die gemeindeutsche Staatsrechtslehre des Carl Friedrich von Gerber, 2008. 10 Siehe die nicht nur förmliche Lobrede über Puchta in: Carl Friedrich Gerber, System des Deutschen Privatrechts (18481), 5. Aufl., 1855, S. viii. 11 Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 6 ff.

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Frage nach der besonderen Charakteristik des öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses zentrale Bedeutung für das System des Staatsrechts gewann. Im Werk Puchtas spielte die bekannte Enzyklopädie seines Cursus der Institutionen12 eine wichtige Rolle dem wissenschaftlichen Nachwuchs gegenüber. In der Tat ist sie der einzige Versuch, eine philosophische Deduktion der Grundpositionen der historischen Schule systematisch darzulegen. Es geht darum, die „Genealogie“ der juristischen Begriffe zu erstellen und somit die konstitutiven Prinzipien der allgemeinen Grammatik des Rechts „nach geschichtlicher Ansicht“ herauszuarbeiten. Der Stammbegriff dieser Genealogie – ihr „Keim“ – ist weder die Natur noch die Vernunft – damit wird vom Naturrecht der Aufklärung Abschied genommen –, sondern die Freiheit13. Der rechtliche Begriff der Freiheit ist aber die „abstrakte“ Freiheit, d. h. die „Möglichkeit sich zu etwas zu bestimmen“14 und somit der Wille als Möglichkeit sich zu bestimmen, unabhängig davon, wozu man sich bestimmt: der Wille „als Potenz, als Macht“15, die einer Person rechtlich zukommt16. Der Grundbegriff des Rechts ist also die abstrakte Freiheit17, die einen formalen Begriff des Willens als „Potenz“ (unabhängig von seinem Inhalt) beinhaltet, und die rechtliche Persönlichkeit als Subjekt der rechtlichen Freiheit voraussetzt. Daher kommt die klassische Deutung des subjektiven Rechts als „Willensmacht“. 3. Wenn Carl Friedrich Gerber das Privatrecht als ein System „freier Willensmöglichkeiten“ bestimmt18, klingt es sehr deutlich nach der Lehre Puchtas. Der rechtliche Willensbegriff muss aber dem Staatsrecht auch sein Fundament liefern. Es geht bei Gerber eben darum, das Staatsrecht der eigentlichen „wissenschaftlichen“ Methode gemäß zu systematisieren, von der Politik zu trennen und somit als echtes Recht zu deuten. Es kann also nicht anders sein: „Auch das Staatsrecht ist ein System von Willensmöglichkeiten“19. Seinem Wesen nach muss das Staatsrecht dem (wissenschaft-

12 6. Aufl. durch Rudorff, Bd. 1, 1865, S. 3 – 95. Die Hauptteile dieser Enzyklopädie habe ich erstmals ins Französische übersetzt: Georg Friedrich Puchta, Encyclopdie, in: Lesprit de lcole historique du droit, Annales de la Facult de droit de Strasbourg, nouvelle srie Nr. 7, 2004, S. 33 – 74. 13 „Der Grundbegriff des Rechts ist die Freiheit. Daraus folgt, daß sich nicht von dem Begriff der Vernunft aus zu dem Recht gelangen läßt“: Puchta, Enzyklopädie, a.a.O., S. 4. 14 Ebend., S. 6. 15 Ebend., S. 10. 16 „Als Subjecte eines solchen in der Potenz gedachten Willens heißen die Menschen Personen (…) Persönlichkeit ist also die subjective Möglichkeit eines rechtlichen Willens (…)“: G.F. Puchta, Lehrbuch der Pandekten, 9. Aufl. durch Rudorff, 1863, S. 37. 17 Der konkrete Begriff der Freiheit, als Entscheidung für das Gute, ist der Begriff, mit welchem die Moral operiert. Zwischen den beiden Begriffen zieht sich also die Grenzlinie zwischen Recht und Moral. Dazu: Enzyklopädie, a.a.O., S. 13 ff. 18 Carl Friedrich Gerber, Gesammelte juristische Abhandlungen, 1872, S. 216. 19 Carl Friedrich Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1865, S. 4, Fn. 2.

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lichen) Begriff des Rechts entsprechen: es ist also ein System der Rechte20. Und das Subjekt der öffentlichen Rechte – der Staat – muss auch als „Person“ juristisch konstruiert werden21. Staatsrecht und Privatrecht sind die zwei Subsysteme des allgemeinen Systems des Rechts. Somit wird die Staatsrechtsdogmatik nichts anderes sein als die Weiterführung der wissenschaftlichen Leistung, die Puchta für das römische Privatrecht vollbracht hat, für den Bereich des öffentlichen Rechts. Diese Subsysteme unterscheiden sich von einander also nicht dem Wesen nach, sondern nach der jeweiligen Modalität des Willens. Die spezifische Modalität des staatsrechtlichen Willens ist für Gerber, wie bekannt, das Herrschen22. Die Bestimmung des Staatsrechts als System von Willensmöglichkeiten trennt es von der Politik, anders gesagt: vom durch „politische Professoren“ bisher praktiziertes Staatsrecht. Die Charakterisierung des Staatswillens als Herrschen unterscheidet das öffentliche Recht vom Privatrecht und markiert die Autonomie des ersteren gegenüber dem letzteren. Als Gemeinsamkeit bleibt, dass das Staatsrecht von Grund auf ebenso subjektiv angelegt ist wie das Privatrecht. Später wird der französische Staatsrechtler Lon Duguit diese Grundlegung des (Staats-)Rechts als deutschen, metaphysischen „Subjektivismus“ tadeln. Wie dem auch sei, ist somit der deutsche „Entwicklungspfad“ im öffentlichen Recht vorgezeichnet. Von diesem „Subjektivismus“ her wird die Hauptaufgabe der deutschen Staatsrechtswissenschaft darin bestehen, das Spezifikum des öffentlichrechtlichen „Rechtsverhältnisses“ zu bestimmen und weiter zu entwickeln. Das Rechtsverhältnis ist Puchta nach ein „Complex“ von subjektiven Rechten23. Es setzt verschiedene subjektive Rechtspositionen voraus. Im deutschen Staatsrecht wird also die Grundfrage des öffentlichen Rechts die Folgende: wie kann man ein Herrschaftsverhältnis als Rechtsverhältnis denken bzw. konstruieren? 4. Es war das besondere Anliegen des Systems der subjektiven öffentlichen Rechte von Jellinek24, eben diese Frage nochmals zu behandeln, und wenn möglich zu lösen. Es steckte ein radikaler Widerspruch in der sogenannten „Gerber-Laband Schule“: Einerseits wurde mit der neuen Grundlegung des Staatsrechts die Frage nach dem öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnis zur entscheidenden Frage der neuen Staatsrechtsdogmatik; andererseits wurde die Kategorie der subjektiv-öffentlichen Rechte der Untertanen grundsätzlich abgelehnt25. Die rechtliche Stellung des Untertanen er20 Deshalb heißt konsequent die erste Abhandlung Gerbers zum Staatsrecht: Ueber öffentliche Rechte, 1852. 21 Wie bekannt erfolgt die Anerkennung der Staatspersönlichkeit bei Gerber erst 1865. Nun liegt aber in der Persönlichkeit des Staates „der Ausgangs- und Mittelpunkt des Staatrechts“: Grundzüge, a.a.O., S. 3. 22 Der rechtliche Wille der Staatsperson „ist das Herrschen“: Gerber, ebend., S. 4, Fn. 2. 23 Puchta, Enzyklopädie, a.a.O., S. 11. 24 18921, 19052. 25 Gerber, Grundzüge, a.a.O., S. 32, Fn. 2, S. 46, Fn. 4. In einem Anhang zur 2. Aufl. der Grundzüge, der sich eben mit der Frage nach der Natur des öffentlich-rechtlichen Rechtsver-

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schöpfte sich nach Gerber darin, Gegenstand der Staatsgewalt zu sein26. Hier lag aber ein grundlegendes Problem: Wie kann die Beziehung des Bürgers zum Staat als ein „Rechtsverhältnis“, d. h. als ein „Complex“ von subjektiven Rechten, bezeichnet werden, wenn es auf der einen Seite der Beziehung, auf der Bürgerseite, nur einen „Gegenstand“ gibt, dem allerhöchstens „Reflexrechte“ zukommen? Dann wird das Versprechen der Staatrechtswissenschaft nicht gehalten: Das Herrschaftsverhältnis passt immer noch nicht in die Kategorie des Rechtsverhältnisses27. Das System der subjektiven öffentlichen Rechte stellt den Versuch Jellineks dar, das zentrale Problem des Staatsrechts von Grund auf neu anzugehen. Es ging um die Haltbarkeit überhaupt des wissenschaftlichen Systems des Staatsrechts. Um seine Lösung auszuarbeiten, nimmt Jellinek einige feine, ausgeklügelte Umgestaltungen in der Grammatik des Staatsrechts vor. Dafür braucht er aber auch eine wissenschaftstheoretische Position, die er aus dem neukantianischen Denken seiner Zeit übernimmt und die ihn von der eher naiven Epistemologie der Geber-Laband Schule radikal abgrenzt28. „Eine Rechtsordnung, die nur eine Persönlichkeit berechtigt, ist ein Unding29.“ Es ist kein Staatsrecht – als objektives sowie als subjektives Recht des Staates – denkbar, solange man „Herrscher und Beherrschte als solche“ nicht als „Rechtsgenossen“ betrachtet30. Um zu diesem Ergebnis zu kommen, müssen mindestens zwei prinzipielle Änderungen in der Staats- und Rechtslehre durchgeführt werden. 5. „Herrschen“ heißt, dass der Wille des Einen (des Herrschers) die Fähigkeit besitzt, den Willen des Anderen (des Beherrschten) zu bezwingen. Ohne Einwilligung des Beherrschten kann der Herrscher dem Beherrschten Verpflichtungen auferlegen. Dem Wesen der Herrschaft entspricht die Einseitigkeit des staatlichen Handelns31. Es liegt auf der Hand, dass in einer solchen Herrschaftsbeziehung der Wille des Beherrschten eben keine Rolle spielt, auf Null reduziert ist. Deshalb ist es von Gerber hältnisses beschäftigt, übernimmt Gerber den von Jhering herausgearbeiteten Begriff der „Reflexwirkung“ bzw. „Reflexrechte“ (Grundzüge eines deutschen Staatsrechts, 18802, S. 225 ff.). 26 Grundzüge, a.a.O., S. 42. 27 Diese grundsätzliche Schwierigkeit sah schon in aller Klarheit Hermann Schulze: „Nehmen wir hier, wie Gerber, den herrschenden Staatswillen zum alleinigen Ausgangspunkt, so erhalten wir nur den Gegensatz von Wille und Gegenstand. Nie kann aber ein Rechtsverhältnis gedacht werden, wo nur eine, allein berechtigte Person bloßen Gegenständen gegenübersteht, die gar keine selbstständigen Rechte haben können“: Über Princip, Methode und System des deutschen Staatsrechts, Aegidis Zeitschrift, I, 1867, S. 424. 28 Zum Neukantianismus bei Jellinek: Olivier Jouanjan, Une histoire de la pense juridique, a.a.O., S. 296 ff.; ders., Georg Jellinek ou le juriste philosophe, Vorwort zu: Georg Jellinek, Ltat moderne et son droit, Neudr. 2005, S. 15 ff.; ders., Georg Jellinek als Philosoph, in Ralf Christensen/Bodo Pieroth (Hg.), Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht. Freundesgabe zum 70. Geburtstag von Friedrich Müller, 2008, S. 135 ff. 29 Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, S. 10. 30 Ebend. 31 Bekanntlich hielt Otto Mayer den Begriff des öffentlich-rechtlichen Vertrages für eine contradictio in adiecto: Zur Lehre vom öffentlich-rechtlichen Vertrag, AöR (1888), S. 1 ff.

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konsequent, daraus zu deduzieren, dass dem Beherrschten keine „Willensmacht“ zukommt, und damit auch kein subjektives Recht. Diese Folgerung setzt aber zweierlei voraus: 1. Das subjektive Recht bleibt als Willensmacht bestimmt; 2. Die Beziehung zwischen Staat und Bürger erschöpft sich vollständig im Herrschen. Um die Beziehung zwischen Staat und Bürger überhaupt denken zu können, muss sich also die Grammatik des öffentlichen Rechts in diesen zwei Punkten ändern. Zunächst muss die Definition des subjektiven Rechts modifiziert werden. Als er sein System der subjektiven öffentlichen Rechte schreibt, verfügt Jellinek über eine neue, alternative Bestimmung des subjektiven Rechts, die er aufnimmt. Jhering hatte die Unzulänglichkeit des „formalen“ Elements – die Willensmacht – in der nun klassischen Definition des subjektiven Rechts als „Willensformalismus“ kritisiert32. Das „materiale“ Element, das Interesse muss seinen Platz in dieser Bestimmung finden. Das subjektive Recht ist „rechtlich geschütztes Interesse“. Das System von Jellinek ist nicht umsonst Jhering gewidmet. Im juristischen System des abstrakten, formalen, und von seinem Wesen her leeren Willens ist der Wille des Staates – als souverän gedacht – prinzipiell unbegrenzt; der Wille des Beherrschten, umgekehrt, gleich Null. Das materiale Element, das Interesse grenzt ab. Souverän ist der Staat in seinem exklusiven Interessenbereich. Autonom („staatsfrei“) ist der Bürger in seinem eigenen Interessenkreis. Das materiale Element verbindet aber auch: Interessen können zusammenlaufen und sich wechselseitig stützen. Das Spiel der Interessen läuft also in zwei Richtungen: die der gegenseitigen Ausgrenzung einerseits, die der Konvergenz andererseits. Diese Feststellung erklärt die berühmte Statuslehre Jellineks. Es sind in der Tat zwei Status der gegenseitigen Ausgrenzung: status passivus bedeutet die ausschließliche Geltung des Staatsinteresses33 ; status negativus, die ausschließliche Geltung des Bürgerinteresses. Und zwei Status der Konvergenz: status activus bedeutet, dass der Bürger sich für die Interessen des Staats einsetzt (Teilnahme am Staat); status positivus bedeutet, dass der Staat im Interesse des Bürgers handelt. Die Statuslehre ist ohne diese Dimension des Interesses überhaupt nicht konstruierbar und verständlich; für Gerber wäre sie schlicht undenkbar gewesen. Jellinek bleibt aber Positivist. Welches die Interessen sind, die geschützt werden müssen, ist a priori nicht deduzierbar und bleibt der Rechtswissenschaft unzugänglich. Es kann nur festgestellt werden, dass die Dynamik des westlichen Staates weitgehend dadurch bestimmt ist, dass die politische Macht zunehmend den Untertanen (als Bürger im Werden) mit seinen legitimen Interessen anerkennt34. Jede Rechtsord32

Rudolf Jhering, Geist des römischen Rechts, III/1, 2. Aufl., 1871, S. 317 ff. Im Kreis des status passivus wird in der Tat der Bürger nur als Objekt der Staatsgewalt behandelt. 34 Das Wort „Anerkennung“ spielt bei Jellinek eine bisher unterschätzte Rolle. Denkt man aber an seine Geschichte der Menschenrechte (Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1895), an seine Staatsgeschichte in der Allgemeinen Staatslehre, so wird einigermaßen klar, dass diese Dynamik der Anerkennung diesen geschichtlichen Ausführungen ihren eigentlichen Sinn gibt. 33

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nung, jeder Staat35 bestimmt den Umfang dieser legitimen, anerkannten Interessen. Ein Staat aber, wo der „Bürger“ nur im status passivus steht, wo nur pure Herrschaft herrscht, hat kein Staatsrecht, und ist rechtlich überhaupt nicht erfassbar. Das ist aber der Staat Gerbers und Labands! Ein Staatsrecht ohne Recht, und auch ohne (juristisch konstruierbaren) Staat. Staatsrecht gibt es erst, wenn das Interesse des Untertanen (Bürgers) vom Staat anerkannt und sodann geschützt wird36. Dieses Fazit muss mit einer grundlegenden These von Jellinek in Verbindung gebracht werden, wonach der rechtliche Begriff der „Person“ nicht in der Kategorie der Substanz, sondern in derjenigen der Beziehung gedacht werden muss: Die Staatsperson ist also keine isolierte, souverän herrschende Größe, sondern Relation, ein Gebilde, das nur durch äußere und innere Beziehungen Bestand und Sinn beanspruchen kann. Diese Relativitätstheorie der Persönlichkeit vom Staat lässt sich auch mit der zweiten grundlegenden Modifikation begrifflich verbinden, die Jellinek in der „GerberLabandschen“ Konstruktion des Staatsrechts anbringt. Als Person muss der Staat nicht mehr als „Anstalt“, sondern als „Körperschaft“ definiert werden37. Diese Bestimmung des Staats als Körperschaft ist ein besonders wichtiges Element in der Lehre Jellineks. Daraus folgt die „subjektive Natur des Volkes“ als (formal-juristische) Einheit einer Vielheit von Individuen, die einer gemeinsamen Herrschaft unterworfen sind38. Während er die Theorie des realen Organismus Gierkes ablehnt, übernimmt Jellinek trotz alledem eine der Leitideen des „Genossenschaftstheorie“, wonach der Begriff der Körperschaft ermöglicht, die Beziehungen zwischen dem Ganzen und seinen Mitgliedern als „wirkliche Rechtsverhältnisse“ zu denken39. Der Staat ist so nicht mehr den Individuen gegenüber etwas rein „Fremdes“40, pure Heteronomie, und der „Untertan“ wird zum Bürger. Als Mitglied des Staats kann der Bürger nicht mehr nur als Gegenstand der Staatsgewalt betrachtet werden. Das Herrschaftsverhältnis lässt sich als Rechtsverhältnis konstruieren.

35 Der bei Jellinek schon m. E. – Kelsen vorwegnehmend – juristisch nur als Rechtsordnung gefasst werden kann. 36 Es kann hier nicht gezeigt werden, wie die Lehre von der „Selbstbeschränkung des Staates“ mit dieser neuen Grundlegung des subjektiven Rechts innig verbunden ist. Eine Selbstbeschränkung des Staates als reiner, einseitiger Herrschaftswille ist aber völlig undenkbar. Die Selbstbeschränkung lässt sich auch nur in der Kategorie der Relation denken. 37 Siehe: Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat, 1997, S. 235 ff.; ders., Ein Liberaler zwischen Staatswille und Volkswille, in: Paulson/Schulte (Hrsg.), Georg Jellinek – Beiträge zu Leben und Werk, 2000, S. 3 ff. (19 ff.). 38 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1914, S. 407. 39 Otto Gierke, Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, 1887, S. 182. 40 Es ist ein Leitmotiv bei dem französischen Staatsrechtler Raymond Carr de Malberg, dass im Staat als „kollektive Person“, als Körperschaft, die die „Nation“ personifiziert, die Staatsgewalt dem Bürger nicht ganz „fremd“ ist, dass der Staat als öffentliche Gewalt gegenüber dem Bürger nicht als „Dritter“ erscheint. Raymond Carr de Malberg, Contribution  la thorie gnrale de ltat, Bd. 1, 1920, insbes. S. 254, 320.

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6. Diese kurze, allzu konzentrierte Skizze trachtet selbstverständlich nicht danach, eine Epoche der deutschen staatsrechtlichen Dogmatik darzustellen. Es gilt vielmehr und nur, zu zeigen, wie in dem entscheidenden Moment der Gründung der klassischmodernen Staatsrechtswissenschaft der „Entwicklungspfad“ des deutschen öffentlichen Rechts vorgezeichnet wurde. Zusammengefasst lautet die hier vertretene These: Die Frage und Suche nach der Bestimmung des öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses bestimmten den Weg der deutschen Rechtswissenschaft (und damit auch des deutschen Rechts). Dass eben diese Frage für die deutsche Staatsrechtswissenschaft zentral wurde, lässt sich wie folgt erklären: Das Rechtsverhältnis wurde schon am Anfang des 19. Jahrhunderts zum zentralen Begriff der deutschen Privatrechtswissenschaft. Diese hatte sich als „echte“ wissenschaftliche Behandlung des Rechts um 1850 schon durchgesetzt. Als Prunkstück der deutschen Kultur hatte sie europäische Resonanz. Die sich nun als „echte Wissenschaft“ gründende Staatsrechtsdogmatik musste es mit diesem privatrechtlichen Muster an Wissenschaftlichkeit aufnehmen können. Die Übernahme des Begriffs des Rechtsverhältnisses war eine Bedingung der Wissenschaftlichkeit des Staatsrechts. Die Bestimmung des öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses war also die Bedingung der Anerkennung der deutschen Staatsrechtsdogmatik als „echte Wissenschaft“. Es liegt deshalb in der Konsequenz dieses Entwicklungswegs – vor allem durch die erstaunliche Leistung Jellineks –, dass das deutsche öffentliche Recht „subjektiviert“ wurde. Das französische öffentliche Recht nahm einen anderen Weg, einen „objektiven“. Ich möchte als Schluss eine Stelle zitieren, wo Maurice Hauriou – einer der Gründerväter der Verwaltungs- und Verfassungsrechtswissenschaft in Frankreich – die Trennlinie zwischen Deutschland und Frankreich klar zieht. Dort sieht man eben, wie der Begriff „Rechtsverhältnis“ (rapport de droit) einen „objektiven“ Konkurrenten im französischen Staatsrechtsdenken hat, und zwar den der „Rechtslage“ (situation juridique). Ich erlaube mir, diese Stelle im Original wiederzugeben: Mais si lon pose la question des relations, on pose directement la question de ce qui schange entre les deux hommes, on ne pose pas directement la question de la diffrence de leurs situations. Cette observation tend  tablir que la notion du ,rapport de droit ne doit pas Þtre introduite partout et que la doctrine allemande a eu le tort de lui faire jouer un rle prpondrant dans la technique du droit public, parce quelle ne peut pas rendre compte des ralits de lorganisation politique. Par exemple, analyser les situations de domination et de sujtion en des ,rapports de domination et de sujtion cest fausser la perspective, parce que cest poser au premier plan lchange des relations tandis que ce qui doit lÞtre cest la diffrence des situations. Cest pourquoi (…) nous avons substitu au rapport de droit, comme lment de la technique juridique du droit public en vue de lexplication objective des phnomnes dorganisation, la notion de ,situation tablie41.

41 Maurice Hauriou, Principes de droit public, 2. Aufl., 1916, S. 256 f. Die Thesen von Hauriou sind bei Carr de Malberg diskutiert : a.a.O., S. 251 ff.

Über den Gedanken des Verfassungsvertrags in der Geschichte der deutschen Verfassungstheorie Von Hisao Kuriki, Tokyo I. Einleitung – Beruht die Verfassung auf einem Vertrag oder auf einem Gesetzesbeschluss? 1. Fragestellung Jan Rolin hat in einem ausgezeichneten Buch auf die wachsende Bedeutung des Gedankens des Verfassungsvertrages in der Staatsvertragstheorie seit dem späten 18. Jahrhunderts hingewiesen.1 Als Beleg für seine These, dass die kontrakturelle Staatslegitimationstheorie bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts fortwirkte, hat er sich auf Wilhelm Snell berufen.2 Allerdings hat Snell zwar den Staat auf den Vertrag gegründet, die Verfassung aber nicht auf dem Vertrag, sondern auf einem Gesetzesbeschluss beruhen lassen. Was die Verfassung angeht, hat er Vertrag und Gesetzesbeschluss in ein Gegensatzverhältnis gebracht.3 Ist die Berufung auf Snell durch Rolin problematisch? Nicht ganz. Denn Snell hat zwar für den freien Staat die Verfassung entschieden auf einen Gesetzesbeschluss zurückgeführt, für die konstitutionelle Monarchie hingegen die Möglichkeit der Verfassunggebung durch einen Vertrag zwischen Fürst und Volk anerkannt.4 Es ist beachtenswert, dass Snell angesichts der konkreten politischen Situation seine Theorie variiert und die Abweichung von seiner Theorie für möglich gehalten hat. Ja, das Problem der Beziehung von Vertrag und Beschluss bei der Verfassunggebung ist kompliziert, besonders im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Manchmal koexistierten in der Theorie desselben Schriftstellers Elemente des Vertrages und Elemente des Beschlusses. Manchmal wird die Verfassung oder das Grundgesetz mit dem Vertrag gleichgesetzt. Eventuell wird unter der Anerkennung des Verfassungsvertrages die Konstruktion der Verfas1

Jan Rolin, Der Ursprung des Staates: die naturrechtlich-rechtsphilosophische Legitimation von Staat und Staatsgewalt im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts, 2005, S. 100, 140, 144. 2 Rolin, (Fn. 1), S. 97 f. 3 Wilhelm Snell, Naturrecht, 1857, S. 168 ff. 4 Snell, (Fn. 3), S. 221.

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sunggebung als eines Beschlusses versucht. Solches komplizierte Nebeneinander von Vertragselement und Beschlusselement bei der Verfassunggebung kennzeichnet die deutsche Verfassungslehre in dieser Zeit. 2. Sowohl als auch Das moderne Naturrecht gründet sich, ungeachtet seiner konkreten Folgerungen, auf den grundlegenden Gedanken der gemeinsamen Teilhabe aller am staatlichen Leben. Dieser Gedanke erscheint in der Konstruktion des Gesellschaftsvertrages zunächst als Argumentation zur Staatsentstehung. Die Gesellschaftsvertragstheorie beschränkte in ihrem frühen Stadium die Idee der Teilhabe aller am Staat allein auf die Phase der Bildung des Staates und der Begründung der Herrschaft; sie interessierte sich nicht für die Art und Weise der Ausübung der einmal begründeten Herrschaftsgewalt. Die Funktion der frühen Gesellschaftsvertragstheorie erschöpfte sich daher in der Legitimierung der Herrschaftsgewalt. Dabei wurde die theoretisch gerechtfertigte Herrschaftsgewalt mit der konkreten Herrschaftsgewalt in dem jeweiligen Land gleichgesetzt. Allmählich entwickelte die Gesellschaftsvertragstheorie ihren Grundgedanken der Teilhabe aller am staatlichen Leben konsequent dahin fort, dass sie daraus die Forderung nach der wirklichen Teilnahme aller am Staatsleben in verschiedenen Formen ableitete. In dem Maß, in dem die Lehre vom Gesellschaftsvertrag sich der konkreten Art und Weise der Herrschaftsausübung zuwandte, ließ sie auch alle Bürger an der Festsetzung der Verfassung oder des Grundgesetzes als der allerersten Phase des staatlichen Lebens teilnehmen.5 Nun gibt es im Grunde genommen zwei Wege für die Teilnahme an der Festsetzung der Verfassung oder des Grundgesetzes durch alle, wenn man an der Idee des Gesellschaftsvertrages festhält: nämlich den Weg des Beschlusses durch alle oder den Weg des Vertrages unter allen. Man kann dabei sagen, dass der Weg des Beschlusses durch alle dem Gedanken der verfassunggebenden Gewalt des Volkes entspricht. Beide Wege sind insofern gegensätzlich, als der Beschluss der Verfassung ein einseitiger Akt ist, während die durch Vertrag entstehende Verfassung einen zwei- oder mehrseitigen Akt bildet. Im deutschen Naturrecht und dem davon beeinflussten Staatsrecht war zwar der Weg des Vertrages vorherrschend, aber auch der Weg des Beschlusses wurde von einigen Theoretikern vertreten. Überdies traten vielfältige Mischformen auf, bei denen Vertragselemente und Beschlusselemente kombiniert wurden. Gerade in diesen Mischformen kann man vielleicht eine deutsche Eigentümlichkeit sehen. Im Folgenden sollen verschiedene Theorien, die die deutsche Besonderheit kennzeichnen, historisch verfolgt werden.

5 Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, 1976, S. 178 ff.; Rolin, (Fn. 1), S. 130 ff.

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II. Die Theoretiker im 18. Jahrhundert 1. Die Gleichsetzung der Grundverträge mit den Grundgesetzen durch die Staatsrechtslehre des alten Reiches Zunächst sei kurz auf die Staatsrechtslehre in der Zeit des alten Reiches eingegangen. Sie hat die wichtigen Verträge des Reiches als Grundgesetze begriffen und die Verbindlichkeit der Grundgesetze auf ihren Charakter als Vertrag zurückgeführt.6 Zwar waren die damaligen Grundgesetze keine Grundgesetze im modernen Sinne. Insbesondere waren die Grundverträge des Reiches typische Verkörperungen des feudalen Systems, weil die Vertragsparteien auf privilegierte Statusinhaber beschränkt waren. Aber wir können in der Auffassung der Grundgesetze als gewaltenbeschränkende Rechtsnormen einen Ansatz zum modernen Konstitutionalismus sehen. Und die Gleichsetzung der Grundverträge mit den Grundgesetzen oder der Grundgesetze mit den Grundverträgen durch die Reichsstaatsrechtslehre ist angesichts der späteren Entwicklung beachtenswert und symbolisch. 2. Der Anfang des Gedankens der verfassunggebenden Gewalt des Volkes Nun müssen wir unsere eigentliche Betrachtung mit Emer de Vattel beginnen lassen, weil er zum ersten Mal den Begriff der Verfassung entwickelt hat. Vattel hat die Grundgesetze im Plural in der Verfassung als Singular zusammengefasst und die Verfassung als „das Grundgesetz, das die Art und Weise der Ausübung der öffentlichen Gewalt“, oder als „die Aufstellung des Systems, nach welchem eine Nation gemeinschaftlich für die Erlangung der Vorteile arbeiten will, zu deren Erreichung die politische Gemeinschaft errichtet worden ist“, definiert.7 Nach Vattel steht die Souveränität oder öffentliche Gewalt ursprünglich der Nation zu. Als Ausfluss aus der Souveränität schreibt Vattel sowohl die verfassunggebende Gewalt als auch die verfassungsändernde Gewalt der Nation zu.8 Es ist auch konsequent, dass Vattel zwar die souveräne Gewalt der Nation einem Senat oder einer einzelnen Person anvertrauen will, dies aber nicht durch Vertrag, sondern durch Beschluss geschehen lässt. Aus dieser Konstruktion der Nation als neuer übergeordneter Instanz durch Vattel hat Mohnhaupt gefolgert, dass „diese autonome Stellung der Nation der bis dahin üblichen Ver-

6 Dazu vor allem Gerhard Henkel, Untersuchungen zur Rezeption des Souveränitätsbegriffs durch die deutsche Staatstheorie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, 1967; Rudolf Hoke, Die Reichsstaatsrechtslehre des Johannes Limnaeus: ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft im 17. Jahrhundert, 1968, S. 85 f., 91 f., 102, 122. 7 Über Vattel siehe z. B. Hasso Hofmann, Recht – Politik – Verfassung: Studien zur Geschichte der politischen Philosophie, 1986, S. 277, 291. 8 Emer de Vattel, Le droit des gens ou principes de la lois naturell, (übers. v. Wilhelm Euler) 1959, S. 43, 46.

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tragskonstruktion der lois fondamentales den Boden entzog“.9 Zwar liegt der Theorie von Vattel der Vertragsgedanke zugrunde, aber er beschränkt den Vertrag auf „den ursprünglichen Gemeinschaftspakt“.10 Man kann sagen, dass bei Vattel die Urform der Theorie der verfassunggebenden Gewalt vorliegt. 3. Der Anfang der Gleichsetzung der Verfassung oder des Grundgesetzes mit dem Vertrag a) Nun findet man bei Gottfried Achenwall und Johann Stephan Pütter ein frühes Beispiel für das Verständnis des Grundgesetzes als einesVertrages. Zwar gebraucht Achenwall-Pütter den Begriff „Verfassungsvertrag“ nicht, sondern nur die Begriffe „Vereinigungsvertrag“ und „Unterwerfungsvertrag“. Aber Achenwall-Pütter nennt den Unterwerfungsvertrag, „der zwischen dem Volk und dem Herrscher über die Oberherrschaft eingegangen wird“, im Hinblick auf den Staat „Grundgesetz der Herrschaft“.11 Achenwall-Pütter behauptet, dass das Grundgesetz der Herrschaft wie ein wahrer Unterwerfungsvertrag zu beurteilen ist, und dass es den Herrscher ebenso wie das Volk als die beiden vertragschließenden Parteien bindet.12 Daraus folgert Achenwall-Pütter, dass das Grundgesetz ohne die beiderseitige Übereinstimmung weder aufgehoben noch geändert werden kann. Es kann jedoch im beiderseitigen Einvernehmen geändert, aufgehoben und verbessert werden.13 Es ist beachtenswert, dass Achenwall-Pütter die in dem Grundgesetz zu bestimmenden Inhalte näher erörtert. Diese Inhalte betreffen nicht nur die Art und Weise der Ausübung der Oberherrschaft, sondern auch die dem Volk vorzubehaltende natürliche Freiheit und die Notwendigkeit des Einholens der Einwilligung des ganzen Volkes oder gewisser Personen aus dem Volk bei der Entscheidung des Herrschers.14 Also kann man sagen, dass der von Achenwall-Pütter gebrauchte Begriff des Unterwerfungsvertrags inhaltlich – wenigstens teilweise – dem Begriff des Verfassungsvertrags entspricht und der Unterwerfungsvertrag als Verfassungsvertrag mit dem Grundgesetz gleichgesetzt wird. Man kann auch feststellen, dass bei Achenwall-Pütter diese Gleichsetzung die Verbindlichkeit des Grundgesetzes stärkt. b) Nach Rolin ist das früheste Beispiel für den Gedanken des Verfassungsvertrages die „Einleitung in das natürliche Staatsrecht mit Anwendung auf das Reich und Teutsche Staaten“ von Christoph Friedrich Cotta (1786). Auch Cotta, der zusätzlich zum pactum unionis und pactum subiectionis einen „Verfassungs-Vertrag“ verlangt, nennt diesen Verfassungsvertrag, der die Form, den Gebrauch und die Erlangung der Regie9 Heinz Mohnhaupt, Verfassung (1), in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 859. 10 Vattel (Fn. 8), S. 43. 11 Gottfried Achenwall/Johann Stephan Pütter, Anfangsgründe des Naturrechts (Elementa Iuris Naturae, 1750), hrsg. u. übers. v. Jan Schröder, 1995, S. 239. 12 Achenwall-Pütter (Fn. 11), S. 239. 13 Achenwall-Pütter (Fn. 11), S. 239. 14 Achenwall-Pütter (Fn. 11), S. 243 f.

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rung bestimmt, „das Staats-Grundgesetz“.15 Nach Rolin hat die Einbeziehung der in der Regel politische Teilhaberechte der Stände verbriefenden Fundamentalgesetze in einen weiteren zwischen Untertanen und Herrscher zu schließenden Vertrag in der Realität das ständische Moment im Absolutismus gestärkt.16 4. Die Koexistenz des Gedankens der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und des Verfassungsvertrages a) Der von Johann Heinrich Gottlob von Justi vertretene Gedanke von der die Grundgesetze oder die Grundverfassungen festsetzenden Grundgewalt des Volkes17 ist eine deutsche Version des Gedankens der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Justi behauptet, dass die Grundgewalt als das Ergebnis der Vereinigung des Willens und der Kräfte aller Einzelnen und als die über Freiheit und Eigentum aller Einzelnen verfügende Gewalt dem Volk als der aufgrund der Willens- und Kräftevereinigung entstandenen Gesellschaft gehört.18 Zwar bleibt deren Substanz beim Volk, aber die Grundgewalt muss, um wirklich gebraucht (oder ausgeübt) zu werden, einem bestimmten Subjekt zugeordnet werden. Diese zum wirklichen Gebrauch bestimmte und dem konkreten Subjekt zugeordnete Kraft nennt Justi die oberste Gewalt.19 Nun lässt Justi das Volk als das Subjekt der Grundgewalt festsetzen, „wie, auf was Art und von Wem die gesamte Kraft ausgeübt und gebraucht werden soll.“20 Diese Festsetzung der Grundgesetze oder der Grundverfassungen lässt Justi als die Anordnung des gesamten Volkes geschehen.21 Dann betrachtet Justi das Verhältnis zwischen der Grundgewalt und der obersten Gewalt als Verhältnis zwischen Vertragsparteien. So „vergleicht das Volk sich mit jemand vertragsweise, dass er die Verwaltung und Ausübung der obersten Gewalt nach Maßgebung der Grundgesetze übernehmen soll“.22 Deswegen hat Justi zwar den Gedanken der verfassunggebenden Grundgewalt des Volkes vertreten – er hat auch das Recht der Änderung der Grundgesetze dem Volk vorbehalten23 –, aber diesen Gedanken nicht konsequent verfolgt, sondern durch die Konstruktion des Verhältnisses zwischen der Grundgewalt und der obersten Gewalt als eines gleichrangigen Vertragsverhältnisses beschränkt. Das spiegelte sicherlich die damalige politische Situation Deutschlands wider. Bei Justi wird also in den Ge15

Rolin (Fn. 1), S. 39. Rolin (Fn. 1), S. 39 f. 17 Zur Theorie der Grundgewalt des Volkes bei Justi siehe Marcus Obert, Die naturrechtliche „politische Metaphysik“ des Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717 – 1771), 1992, S. 141 ff. 18 Johann Heinrich Gottlob von Justi, Die Natur und Wesen der Staaten, 1969 (Nachdruck d. Ausg. v. 1771), S. 49 ff. 19 Justi (Fn. 18), S. 110 f. 20 Justi (Fn. 18), S. 98. 21 Justi (Fn. 18), S. 98. 22 Justi (Fn. 18), S. 102 f. 23 Justi (Fn. 18), S. 91, 99. 16

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danken der verfassunggebenden Gewalt des Volkes – wenn auch nicht auf derselben Ebene – ein Element des Vertrages aufgenommen. b) Fast zur gleichen Zeit wie Cottas „Einleitung“ trat der Begriff vom Verfassungsvertrag in „Die Rechte der Menschheit oder der ewige wahre Grund aller Gesetze, Ordnungen und Verfassungen“ (1784) von Johann August Schlettwein auf.24 Schlettwein behauptet, dass zwar der Gesellschaft, die durch den Vereinigungsvertrag entsteht, die Grundgewalt zusteht, aber die Gesellschaft durch den Unterwerfungsvertrag den Gebrauch der Grundgewalt einem bestimmten Glied oder einem Teil der Glieder der Gesellschaft (Oberhaupt) überträgt. Auch nach der Übertragung des Gebrauchs der Grundgewalt behält die Gesellschaft die Grundgewalt selber.25 Die Gesellschaft bestimmt die besondere Art, wie die Rechte der Grundgewalt, um den Endzweck der Gesellschaft zu befördern, ausgeübt werden. Schlettwein nennt diese besondere Art die Grundverfassung der Gesellschaft und lässt die Bestimmungen der Verfassung durch den Vertrag entstehen. Die inhaltlichen Bestimmungen der Verfassung nennt Schlettwein Grundgesetz der Gesellschaft.26 Dazu erklären Dieter Grimm,27 Diethelm Klippel28 und Mathias Roggentin,29 dass Verfassungsvertrag und Grundgesetz als zwei Seiten ein und derselben Sache erscheinen. Der Verfassungsvertrag stelle auf den Prozess ab, die Grundgesetze bezeichneten hingegen das Ergebnis dieses Prozesses. Wenn aber die Gesellschaft die Grundgewalt hat und behält, dann könnte sie doch aufgrund dieser Grundgewalt die Verfassung durch Beschluss hervorbringen. Warum hat Schlettwein die Verfassung also nicht durch Beschluss, sondern durch Vertrag entstehen lassen? Es ist zu vermuten, dass Schlettwein dem traditionellen Vertragsschema verhaftet blieb und es unter dem politischen System des Absolutismus schwierig war, der Gesellschaft die Grundgewalt geradeheraus zuzuweisen. c) Karl Heinrich Heydenreich, der das dreigliedrige Schema von Vereinigungs-, Verfassungs- und Unterwerfungsvertrag konstruiert, lässt die Grundgesetze, die die Art bestimmen, wie der allgemeine Wille realisiert und die höchste Gewalt ausgeübt werden soll, durch die Übereinstimmung des Willens aller entstehen und nennt diese Übereinstimmung des Willens aller hinsichtlich dieser Grundgesetze den Verfassungsvertrag.30 Also entstehen auch bei Heydenreich die Grundgesetze als Vertrag. Vermutlich geht das darauf zurück, dass der Verfassungsvertrag in das dreigliedrige Staatsvertragssystem fest eingegliedert ist, zumal Heydenreich behauptet, dass die 24

Dazu siehe Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1. Aufl., 1991, S. 102. Johann August Schlettwein, Die Rechte der Menschheit oder der einzige wahre Grund aller Gesetze, Ordnungen und Verfassungen, 1784, S. 362. 26 Schlettwein (Fn. 25), S. 364. 27 Grimm (Fn. 24), S. 102. 28 Klippel (Fn. 5), S. 155. 29 Mathias Roggentin, Über den Begriff der Verfassung in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, 1978, S. 123. 30 Karl Heinrich Heydenreich, Grundsätze des natürlichen Staatsrechts, 1795, 1. Teil, S. 82 f. 25

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zusammentretenden Menschen durch den Vereinigungsvertrag zum Eingehen des Verfassungsvertrages verpflichtet sind.31 Da die Grundgesetze bei Heydenreich der erklärte allgemeine Wille sind und Heydenreich den Oberherrn, der seine Würde und seine Rechte durch Einwilligung erlangt, durchaus unter den Grundgesetzen stehen lässt,32 hätte es auch die theoretische Möglichkeit gegeben, die Grundgesetze durch einen Beschluss des allgemeinen Willens entstehen zu lassen. Aber Heydenreich entscheidet sich für den Weg des gemeinschaftlichen Zusammenwirkens von Oberherr und Untertanen für den Zweck des Staates. Das bei diesem Zusammenwirken vorauszusetzende Einverständnis über die Bedingungen der Vernunft- und Rechtmäßigkeit des wahren Staates sieht er dabei als einen stillschweigenden Vertrag an,33 der einem ausdrücklichen Vertrag entspricht.34 d) Immanuel Kant, der mit seinen Werken: „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785), „Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ (1793) und „Metaphysik der Sitten“ (1797) einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung des Naturrechts gewonnen hat, hat zwar das Wort „Verfassungsvertrag“ nicht gebraucht, aber für das Problem „Verfassung und Vertrag“ in zwei Punkten einen wichtigen Beitrag geleistet. aa) Einerseits hat Kant den Anstoß zur Entwicklung des Verständnisses der Verfassung als des Vertrages gegeben.35 Kant verneint zwar den ursprünglichen Kontrakt (Vertrag) als ein historisches Faktum, erkennt ihn aber zugleich als eine Idee der Vernunft an.36 Er lässt die Idee des ursprünglichen Vertrages (des Sozialkontraktes) als Vernunftprinzip der Beurteilung aller öffentlichen Verfassungen37 oder als Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes38 funktionieren. Deshalb fordert Kant, dass die öffentliche Verfassung der Idee des ursprünglichen Vertrages entsprechen muss.39 Insofern kann man von einer Gleichsetzung der Verfassung mit der Idee des ursprünglichen Vertrages40 oder der Verbindung des Verfassungsbegriffs mit dem Vertragsgedanken bei Kant41 sprechen. Ferner fordert Kant, dass die Verfas31

Heydenreich (Fn. 30), 1. Teil, S. 104. Heydenreich (Fn. 30), 1. Teil, S. 112. 33 Heydenreich (Fn. 30), 2. Teil, S. 23. 34 Heydenreich (Fn. 30), 2. Teil, S. 25. 35 Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Verfassungsbegriff in der Staatslehre der Aufklärung und des Historismus: Untersuchungen zu den Vorstufen eines hermeneutischen Verfassungsdenkens, 1967, S. 94. 36 Immanuel Kant, Die Metaphysik, in: ders., Werke in sechs Bänden (hrsg. v. Wilhelm Weischedel), Bd. VI, 1975, S. 434. 37 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: ders., Werke in sechs Bänden (hrsg. v. Wilhelm Weischedel), Bd. VI, 1975, S. 100, 159. 38 Kant, Gemeinspruch (Fn. 37), S. 153. 39 Klippel (Fn. 5), S. 188. 40 Schmidt-Aßmann (Fn. 35), S. 94. 41 Schmidt-Aßmann (Fn 35), S. 95. 32

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sung, um der Idee des ursprünglichen Vertrages zu entsprechen, sich auch inhaltlich auf die Prinzipien „die Freiheit jedes Gliedes der Sozietät als Menschen“, „die Gleichheit desselben mit jedem anderen, als Untertanen“ und „die Selbständigkeit jedes Gliedes eines gemeinen Wesens, als Bürger“ gründen muss.42 bb) Andererseits stellt Kant zugleich das Verständnis der Verfassung als des Vertrages in Frage. Erstens lässt Kant die Idee des ursprünglichen Kontraktes im Prinzip der Gesetzgebung durch den vereinigten Willen des Volkes als die höchste Gewalt verkörpern.43 Dann müsste er aber eigentlich auch die Verfassung auf dem vereinigten Willen des Volkes beruhen lassen. Zweitens lässt Kant die Bedeutung des Staatsbürgervertrages gegenüber dem Institut der Vereinbarung zurücktreten.44 Nach SchmidtAßmann ist die Vereinbarung „die Willenseinigung zum Zweck der Befriedigung gemeinsamer Interessen, während der Vertrag der Befriedigung entgegengesetzter oder doch nicht kongruierender Interessen dient“.45 Nach Schmidt-Aßmann hat Kant „an die Stelle des vertraglichen Aushandelns eines Interessenausgleichs“ „die gleichgerichtete Beteiligung des Einzelnen an dem vernunftgebotenen Akt“ treten lassen.46 Deshalb ist nach dem Verständnis Schmidt-Aßmanns der eigentliche Vertragsgedanke bei Kant nur noch „eine Hülle, die in nuce die Interessengleichheit in sich trägt“.47 Aus diesem Gesichtspunkt sagt Schmidt-Aßmann: „Die Konzeption Kants hätte. . . direkt zum Verständnis der Verfassung als des fundamentalen Gesetzes führen müssen“.48 e) Auch die Theorie von Johann Adam Bergk, der Kant deswegen kritisiert, dass er auch unter der nicht republikanischen Verfassung das Recht auf Revolution verneinte,49 hat zwei Dimensionen. aa) Einerseits macht Bergk die Einführung einer Verfassung zur Pflicht der Menschen50 Er fordert dabei, dass die Einführung einer Verfassung durch den Gesellschaftsvertrag aller mit allen geschieht. Auch der Abschluss des Gesellschaftsvertrags ist für die Menschen eine Pflicht.51 Da Bergk den Gesellschaftsvertrag aus Vereinigungs-, Verfassungs- und Unterwerfungsvertrag zusammensetzt, geschieht die Einführung der Verfassung durch den Verfassungsvertrag als ein Bestandteil des Ge-

42

Kant, Gemeinspruch (Fn 37), S. 145; ders., Metaphysik (Fn 36), S. 432. Kant, Metaphysik (Fn 36), S. 432. 44 Schmidt-Aßmann (Fn 35), S. 95 f. 45 Schmidt-Aßmann (Fn 35), S. 96. 46 Schmidt-Aßmann (Fn 35), S. 96. 47 Schmidt-Aßmann (Fn 35), S. 96. 48 Schmidt-Aßmann (Fn 35), S. 96. 49 Johann Adam Bergk, Die Theorie der Gesetzgebung, 1802, S. 63 f. 50 Johann Adam Bergk, Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrechte mit einer Kritik der neuesten Konstitution der französischen Republik, 1975 (Nachdruck d. Ausg. v.1796), S. 42, 45. 51 Bergk, Untersuchungen (Fn. 50), S. 51 f., 86. 43

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sellschaftsvertrags.52 Dabei versteht Bergk den Gesellschaftsvertrag nicht als den geschichtlichen Entstehungsgrund, sondern als den Rechtsgrund des Staates: „Jeder Staat wird nur durch Verträge rechtlich“,53 „Die Menschen müssen durch Verträge den Staat rechtlich machen“.54 bb) Andererseits macht Bergk das Volk zur Quelle aller Gewalten und ordnet ihm (bzw. der Nation) die Souveränität zu.55 Zwar zieht er daraus nicht die unmittelbare Folgerung der Verfassunggebung durch das Volk. Aber er nimmt dazu indirekt Stellung: „Da jede Verfassung durch und für das Volk eingeführt ist oder doch sein soll, so ist es Pflicht, dass das Volk durch die Regierung das Recht selber ausführe“.56 Bergk meint damit wohl, dass das Volk an der Wahl der verfassunggebenden Volksrepräsentanten teilnimmt. Nach Bergk besteht der einzige unmittelbare Akt der Souveränität, den eine Nation selbst ausüben kann, in der Wahl ihrer Gesetzgeber und Beamten. Die Teilnahme an der Wahl der Volksrepräsentanten schliesst die Teilnahme an der Gesetzgebung ein.57 Bergk schlägt hier letztlich eine konkrete Weise der Verfassunggebung durch das Volk, und zwar durch die Volksrepräsentanten – das ist eine konkrete Weise der Ausübung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes – klar vor. Ferner sagt Bergk über die Souveränität des allgemeinen Willens: „Da nun die Souveränität in dem allgemeinen Willen besteht, und da dieser von der Einsicht und Aufklärung des Volkes abhängt, so hat kein Volk das Recht die Ausübung derselben zu veräußern, weil die Souveränität stetigen Veränderungen unterworfen ist“.58 Dieser Satz weist darauf hin, dass Bergk mit dem Recht des Volkes zur Einführung der Verfassung auf das Recht des Volkes zur Verfassungsänderung abstellt. Unter Bejahung des Rechts des Volkes zur Revolution als der Umänderung der Verfassung59 macht es Bergk also zur Pflicht der Nation, eine neue Konstitution zu erlassen.60 f) Auch Johann Philipp Achilles Leisler macht einen konkreten Vorschlag zur Verfassunggebung durch das Volk. Dabei verbindet er den Gedanken des Verfassungsvertrages mit dem Gedenken der Verfassunggebung durch das Volk auf eigentümliche Weise. Leisler lässt die Gesellschaft (= Volk) und den Volkswillen als den Willen der ganzen Gesellschaft durch den Vereinigungsvertrag entstehen. Der Vereinigungsvertrag wird zum Zweck der Verwirklichung der Herrschaft des Rechtsgesetzes geschlossen. 52 53 54 55 56 57 58 59 60

Bergk, Untersuchungen (Fn. 50), S. 83. Bergk, Untersuchungen (Fn. 50), S. 83. Bergk, Untersuchungen (Fn. 50), S. 85. Bergk, Theorie (Fn. 49), S. 167 f. Bergk, Untersuchungen (Fn. 50), S. 93. Bergk, Untersuchungen (Fn. 50), S. 284. Bergk, Untersuchungen (Fn. 50), S. 108. Bergk, Untersuchungen (Fn. 50), S. 62. Bergk, Untersuchungen (Fn. 50), S. 119 ff. Dazu siehe auch Grimm (Fn. 24), S. 117 f.

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Deshalb ist der Volkswille der Wille, der die Herrschaft des Rechtsgesetzes will.61 Die Eigentümlichkeit der Theorie Leislers besteht darin, dass erstens schon im Vereinigungsvertrag die Vereinbarung über die Gründung der zur Verwirklichung der Herrschaft des Rechtsgesetzes notwendigen Einrichtungen enthalten ist,62 und dass zweitens die Entscheidung über die konkrete Art und Weise solcher Einrichtungen durch den Volkswillen getroffen werden muss.63 Leisler nennt den erklärten Willen des Volkes, dass es den entworfenen Verfassungsplan billige,64 oder dass es diese Verfassung haben will,65 den Verfassungsvertrag.66 Das Verfahren der Verfassunggebung durch das Volk konstruiert Leisler auf folgende Weise: Zuerst konzipieren die zu diesem Zweck gewählten aufgeklärten Personen den Entwurf der Verfassung, der nach der Lage des Volkes der zweckmäßigste und rechtmäßigste ist.67 Dann wird der Verfassungsentwurf dem Urteil des Volkes unterworfen. Dabei urteilt das Volk darüber, ob die entworfene Verfassung die zweckmäßigste und rechtmäßigste ist.68 Wenn das Volk die Verfassung mit Stimmenmehrheit für die zweckmäßigste und rechtmäßigste hält oder sie billigt, wird sie eingeführt.69 Obwohl die den Verfassungsentwurf billigende Willenserklärung des Volkes mit Stimmenmehrheit geschieht, nennt Leisler diese Willenserklärung den Verfassungsvertrag.70 Das kommt daher, dass im Vereinigungsvertrag vereinbart ist, dass diejenige Verfassung eingeführt werden soll, welche das Volk für die zweckmäßigste und rechtmäßigste hält.71 Ähnlich wie für die Billigung der Verfassung fordert Leisler auch für deren Änderung nicht die Einstimmigkeit.72 Auch für Leisler ist die Aufhebung der vorhandenen Verfassung erlaubt, wenn dies zur Einführung einer zweckmäßigeren Verfassung geschieht. Nach Leisler liegt sogar das Wesen des Verfassungsvertrages darin, dass er nicht unabänderlich sein kann.73 Aber dazu wäre eher die Form der Willenserklärung des Volkes geeignet als die Form des Verfassungsvertrages.

61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73

Johann Philipp Achilles Leisler, Natürliches Staatsrecht, 1806, S. 62 und 63. Leisler (Fn. 61), S. 47 f., 85 f. Leisler (Fn. 61), S. 62. Leisler (Fn. 61), S. 85. Leisler (Fn. 61), S. 39. Leisler (Fn. 61), S. 39, 85. Leisler (Fn. 61), S. 48. Leisler (Fn. 61), S. 48. Leisler (Fn. 61), S. 85 f. Leisler (Fn. 61), S. 39. Leisler (Fn. 61), S. 86. Leisler (Fn. 61), S. 86. Leisler (Fn. 61), S. 88.

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5. Zusammenfassende Bemerkungen zur Theorieentwicklung im 18. Jahrhundert a) Der durch eine kurze Darstellung der Theorie der wichtigen Autoren festgestellte Gewichtszuwachs des Verfassungsvertrages in der Staatsvertragslehre war einerseits das Ergebnis des gesteigerten Interesses der Staatsrechtslehre für logisch-theoretische Fragen wie auch für die staatliche Realität. Andererseits beruhte er auf dem Zuwachs der Bedeutung der Verfassung selbst und der stärker werdenden politischen Forderung nach dem Schutz der Freiheit und der Teilhabe der Bürger am Staatsleben. b) Der theoretische Bedeutungszuwachs des Verfassungsvertrages führte dazu, dass die Theoretiker der Staatsvertragslehre die Einführung von Verfassungen ebenso forderten74 wie bestimmte Verfassungsinhalte.75 c) Es ist eigenartig, dass viele Theoretiker zwar theoretisch die Souveränität des Volkes oder des allgemeinen Willens befürworteten, für die Einführung einer Verfassung aber auf einen Verfassungsvertrag – mit oder ohne Gleichsetzung dieses Vertrags mit dem Grundgesetz – setzten und nicht auf die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Der Grund dafür liegt erstens darin, dass das traditionelle Staatsvertragsschema die theoretische Konstruktion weiterhin stark beeinflusste. Zum zweiten war es in der politischen Situation des absolutistischen Regimes schwierig, die verfassunggebende Gewalt des Volkes offen und geradeheraus zu proklamieren. Durch die Verbindung mit dem Verfassungsvertrag wurde die die Wirkung der Proklamation der Theorie der Souveränität des Volkes und des Vorschlages der Verfassunggebung durch das Volk abgemildert. Man kann sagen, dass durch die Form des Verfassungsvertrages die Behauptung und Forderung der – unmittelbaren oder mittelbaren – Verfassunggebung durch das Volk leichter wurde. d) Die Behauptung der Verfassunggebung durch das Volk, ob mit oder ohne der Verbindung mit dem Verfassungsvertrag,,hatte die Tendenz, die Änderung der vorhandenen Verfassung, ob durch Reform oder durch Revolution, anzustreben und zu legitimieren. e) Die Verbindung der Verfassunggebung durch das Volk mit dem Verfassungsvertrag oder die Koexistenz von Verfassunggebung durch das Volk und Verfassungsvertrag konnte überdies suggerieren, dass auch bei der Ausübung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes Raum für vertragliches Aushandeln und Kompromissfindung vorhanden war.

74 75

Rolin (Fn. 1), S. 138; Schmidt-Aßmann (Fn. 35), S. 97. Rolin (Fn. 1), S. 131, 138; Grimm (Fn. 24), S. 132.

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III. Die Entwicklung der Theorien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 1. Der Bedeutungszuwachs der Vertreter der Verfassungsvertragstheorie a) Die Verfassungstheorie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war durch den Bedeutungszuwachs der Vertreter der Verfassungsvertragstheorie geprägt. Das lag an folgenden Umständen: aa) Wie etwa Rolin näher dargelegt hat, behauptete sich die naturrechtliche Vertragstheorie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Dies bedeutete, dass auch der Verfassungsvertrag als ein Element der Staatsvertragslehren aufrechterhalten blieb. bb) Der Verfassungsvertrag musste deshalb eine zentrale Bedeutung gewinnen, weil der Staat selbst schon als wirkliche Tatsache bestand und deshalb die vertragsmäßige Legitimierung eher auf die Verfassung des bereits bestehenden Staates zielen musste. Die Staatsvertragstheorie wollte als Theorie der schon erlassenen oder noch zu erlassenden Verfassung praktische Bedeutung gewinnen. cc) Überdies unterstützte und bestärkte die Tatsache, dass in vielen konstitutionellen Staaten die Verfassung durch den Vertrag zwischen dem Monarchen und den Landständen entstanden war, die Verfassungsvertragstheorie.76 dd) Zudem lag es nicht fern, das auf dem Boden der neuen Verfassungen entwickelte dualistische System von Monarchie und Landständen als Vertragsverhältnis zu deuten.77 b) Andererseits wurde in dieser Zeit auch die Theorie der verfassunggebenden oder konstituierenden Gewalt des Volkes von wichtigen Autoren vertreten.78 Allerdings ist hervorzuheben, dass auch in dieser Theorie das Moment des Vertrages enthalten war. c) Nach Dieter Grimm verschwand der Vertrag stillschweigend aus den meisten Werken der zweiten Jahrhunderthälfte: „Nirgends bildet er mehr die einzig legitimitätsbegründende Entstehungsform der Verfassung“.79 Das hängt mit dem Bedeutungsverlust des Naturrechts und der dieses unterstützenden politischen und geistigen Strömungen zusammen.80 d) Im Folgenden sollen nur einige repräsentative Schriftsteller der Verfassungsvertragstheorie und der Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes erörtert wer76

Als Beispiele dazu siehe Roggentin (Fn. 29), S. 131 ff.; Rolin (Fn. 1), S. 145. Roggentin (Fn. 29), S. 133 f., 142. 78 Rolin behauptet, dass die ursprüngliche Volkssouveränität durch die kontraktuelle Gründung des Staates als erledigt gelten konnte. Rolin (Fn. 1), S. 135. Aber es gab die Vertreter der Theorie der konstituierenden Gewalt des Volkes. 79 Grimm (Fn. 24), S. 137. 80 Grimm (Fn. 24), S. 136. 77

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den, um durch den Vergleich zwischen beiden die Eigentümlichkeit der Verfassungsvertragstheorie aufzuzeigen. 2. Die Vertreter der Theorie des Verfassungsvertrages a) Als Präludium zum Verfassungsvertragsdenken im 19. Jahrhunderts ist Carl Friedrich Haeberlin kurz zu erwähnen.81 Er hebt aufgrund naturrechtlicher Vorstellungen den Gedanken des Verfassungsvertrags besonders hervor. Es ist bemerkenswert, dass Haeberlin zwar alle Mitglieder des Staates wenigstens der Idee nach am Verfassungsvertrag, der die rechtliche Gestalt der Machthabenden konstituieren soll, mitwirken lässt, aber dabei den Regenten und die späteren Untertanen einander als Partner gegenübertreten und die Regierungsform des Staates vertragsweise feststellen lässt. Ferner ist hervorhebenswert, dass Haeberlin die Staatsgrundgesetze des Alten Reiches als Ausprägungen des abstrakten Verfassungsvertrages in der Wirklichkeit sieht. b) Auch der wichtigste Theoretiker des positiven Staatsrechts in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Johann Ludwig Klüber, hat den vertraglichen Charakter der Verfassung betont. Klüber leitet aus dem Recht des Deutschen Bundes ab, dass „die landständische Verfassung allenthalben, wo sie es nicht schon ist, zu einem vertragsmäßigen Hauptbestandteil der Grundverfassung des Staates werde erhoben“.82 Über den Begriff „vertragsmäßig“ führt Klüber aus, dass „seiner Natur nach, das Verfassungswerk ein zweiseitiges Geschäft, ein Act des wechselseitigen Gebens- und Nehmens ist, also keine Pollicitation, nicht eine in jedem Augenblick widerrufliche Verleihung ist“.83 Klüber erkennt an, dass dieses Versprechen und Akzeptieren auch stillschweigend erfolgen kann. Nach Klüber sind in der Theorie paktierte Verfassungsurkunden die Regel, oktroyierte hingegen die Ausnahme.84 Klüber sieht den Rechtsgrund der Gültigkeit der oktroyierten Verfassung deshalb in der Anerkennung oder stillschweigenden Annahme durch das Volk.85 Dies ist vor dem Hintergrund seines Verständnisses der Verfassung als des Vertrages konsequent. c) Johann Christoph Freiherr von Aretin geht vom Prinzip der Volkssouveränität aus. Er lässt das Volk als Ursprung der gesamten staatlichen Machtvollkommenheit diese durch Staatsvertrag dem Fürsten übertragen.86 Dabei kennt er zwei Arten der Entstehung der Verfassung, nämlich durch einen Grundvertrag oder durch das vom 81

Zu Heaberlin siehe Schmidt-Aßmann (Fn. 35), S. 43 f. Johann Ludwig Klüber, Öffentliches Recht des teutschen Bundes und der Bundesstaaten, 4. Aufl., 1840, S. 404. 83 Klüber (Fn. 82), S. 406, Anm. e. 84 Klüber (Fn. 82), S. 407, Anm. e. 85 Klüber (Fn. 82), S. 407, Anm. e. 86 Johann Christian Freiherr von Aretin, Staatsrecht der constitutionellen Monarchie: Ein Handbuch für Geschäftsmänner, Studierende, Jünglinge, und gebildete Bürger, Bd. 1, 1824, S. 154 f. 82

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Fürsten einseitig erlassene Grundgesetz.87 Aber unabhängig von der unterschiedlichen Entstehungsweise der Verfassung geht Aretin vom Verbot der einseitigen Abänderung der Verfassung durch den Fürsten aus. Als Begründung führt er einerseits an, dass „jede auch von Fürsten allein ausgegangene Verfassung durch die Annahme von Seiten des Volkes die Natur eines Vertrages annimmt“,88andererseits dass das Verfassungsgesetz „aus den Grundsätzen der Repräsentativverfassung selbst, nach welchen jedes Gesetz (um wie viel mehr also das Grundgesetz) nur von dem gesetzgebenden Körper, nämlich dem Fürsten vereint mit der Ständeversammlung, gegeben, erläutert oder abgeändert werden kann“.89 Diese Argumente werden von Aretin vor allem für die Notwendigkeit einer gemeinsamen authentischen Auslegung des Verfassungsgesetzes vorgebracht90, sie gelten in der Sache aber auch für die Abänderung der Verfassung. Aretin greift auf sie auch bei der Erklärung der Entstehung der Verfassung zurück.91 d) Carl Theodor Welcker, den Dieter Grimm als entschiedensten Vertreter der späten Vertragstheorie nennt,92 macht das Vertragsprinzip zum höchsten Rechtsprinzip im staatlichen Leben.93 Sein Vertragsprinzip enthält zwei Elemente. Das erste Element ist der Gedanke der Herrschaft des durch den Grundvertrag entstandenen Gesamtwillens.94 Das zweite Element ist das Prinzip der Gegenseitigkeit.95 Das erste Element hat die Tendenz, den Beschluss des Verfassungsgesetzes durch das Volk zu behaupten. Das zweite Element betont eher die vertragliche Komponente. Aber beide Elemente sind nicht klar unterschieden, sondern sogar miteinander vermengt. aa) Welcker fordert, dass alle Akte und Handlungen des Staates sich auf das Vertragsprinzip gründen.96 Er fordert, dass die vertragliche Leitidee wenigstens annähernd verwirklicht wird und die dazu notwendigen und geeigneten Einrichtungen errichtet und Maßnahmen getroffen werden.97 Welcker erwähnt vier Hauptmittel zur Verwirklichung des Vertragsprinzips,98 nämlich: (1) den gemeinschaftlichen Grund87

Aretin (Fn. 86), S. 11. Aretin (Fn. 86), S. 252. 89 Aretin (Fn. 86), S. 252. 90 Aretin (Fn. 86), S. 251. 91 Aretin (Fn. 86), S. 11 und 12 Anm. 3; Dazu siehe Grimm (Fn. 24), S. 130. 92 Grimm (Fn. 24), S. 130. 93 Carl Theodor Welcker, Grundvertrag, in: C. v. Rotteck/C. Th. Welcker (Hrsg.), StaatsLexikon: Encyklopadie der sammtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, 1. Aufl., Bd. 7, 1839, „Grundvertrag“, S. 239, 242, 244, 245, 246. 94 Welcker, Grundvertrag (Fn. 93), S. 256. 95 Welcker, Grundvertrag (Fn. 93), S. 239. 96 Carl Theodor Welcker, Grundgesetz, Grundvertrag, in: C. v. Rotteck/C. Th. Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon, 2. Aufl., Bd. 6, 1847, S. 166. 97 Welcker, Grundvertrag (Fn. 93), S. 239; ders., Grundgesetz, Grundvertrag (Fn. 96), S. 169. 98 Welcker, Grundvertrag (Fn. 93), S. 245 ff; ders., Grundgesetz, Grundvertrag (Fn. 96), S.169 ff. 88

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vertrag sowie die Bewahrung und Garantie desselben, (2) die ausgedehnte grundvertragsmäßige Privat- und besondere Freiheit der Einzelnen und ihrer besonderen Gesellschaft, (3) eine der Herrschaft des freien Gesamtwillens entsprechende grundvertragsmäßige Organisation der Verfassungs- und Regierungsformen und insbesondere ausgedehnte grundvertragsmäßige politische Freiheiten oder öffentliche Rechte der Bürger in Bezug auf die allgemeine Gesellschaftseinrichtung und Regierung, und (4) das unbeschränkte Recht freier Auswanderung. bb) Zuerst muss der Grundvertrag unmittelbar von Allen mit Allen99 über die wesentlichen unabänderlichen Grundbedingungen und Grundbestandteile der Verfassung eingegangen werden.100 Durch diesen Grundvertrag entsteht der Gesamtwille101 und alle Einzelnen unterwerfen sich diesem Gesamtwillen und seiner grundvertragsmäßigen Gewalt zur Verwirklichung des Gesamtzwecks.102 Aber in Bezug auf den Vertragsschluss schafft Welcker in zwei Punkten Erleichterung. Für Welcker ist das Vertragsprinzip wichtiger als der Vertragsabschluss selbst. (1) Welcker begnügt sich mit dem tatsächlichen oder stillschweigenden Vertrag. Für ihn begründen bereits freie gegenseitige Leistungen – friedlicher Schutz und friedliche Gesetzlichkeit oder Schutz und Gehorsam und ihre notwendige, wenigstens tatsächliche Zusage und Annahme – an sich schon den nötigen Vertrag.103 (2) Welcker versteht auch die von der Gesellschaft mittelbar durch die Organe des Gesamtwillens grundvertragsmäßig erlassenen Gesetze als den (mittelbaren) Vertrag.104 Also werden aus seinem Gesichtspunkt auch die aufgrund des Vertragsprinzips, aber mit Stimmenmehrheit, entstandenen Akte des Staates den Verträgen zugerechnet. (3) Die zur Verwirklichung der Herrschaft des Gesamtwillens nötige Verfassung oder Konstitution über die allgemeinen Organisationen oder Formen der Regierung und der regierten Nation lässt Welcker entweder als den Vertrag oder „der Regel nach und größtenteils als einen mittelbaren Vertrag oder bloß ein grundvertragsgemäßes Gesetz der bestehenden natürlichen oder auch schon künstlichen regierenden Organe des Gesamtwillens“ entstehen.105 Welcker zufolge kann die Verfassung also sowohl durch Vertrag als auch durch Gesetz entstehen. Überhaupt ist für Welcker das Grundgesetz der Grundvertrag und das Grundgesetz oder der Grundvertrag auch das Verfassungsgesetz.106 Wenn aber die Konstitution noch besonders vertragsmäßig von der Gesamtheit der Regierten oder ihrer Repräsentanten genehmigt wurde oder 99

Welcker, Grundvertrag (Fn. 93), S. 235. Welcker, Grundvertrag (Fn. 93), S. 258. 101 Welcker, Grundvertrag (Fn. 93), S. 258. 102 Welcker, Grundvertrag (Fn. 93), S. 256. 103 Welcker, Grundvertrag (Fn. 93), S. 255. 104 Welcker, Grundvertrag (Fn. 93), S. 235, 258. 105 Welcker, Grundvertrag (Fn. 93), S. 257. 106 Welcker, Grundvertrag (Fn. 93), S. 236. 100

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durch „die mit selbständigen Rechten versehenen künstlichen Organe, etwa König, paciscirend“ eingewilligt wurde, nennt Welcker diese Konstitution den Verfassungsvertrag im engeren Sinne.107 (4) Aus dem Gedanken der Verfassung als des Vertrages zieht Welcker zwei Folgerungen. Ähnlich wie Klüber argumentiert Welcker, „eine blos octroyirte Verfassung ist gar keine Verfassung. Verfassungsbestimmungen im engeren oder eigentlichen Sinne. . . sind nicht der einseitigen beliebigen Verfügung und Zurücknahme der Regierung anheimgegebene, wandelbare Bestimmungen. . . . Aller wahre Rechtszustand setzt Gegenseitigkeit, gegenseitig sich bedingendes Anerkennen und Zusagen von Rechtsansprüchen und Rechtspflichten, also Vertragsmäßigkeit voraus“.108 Die erste Folgerung aus dem Verständnis der Verfassung als des Vertrag ist es, dass „selbst [eine] blos octroyirte Charte durch Annahme des Volkes oder selbständiger früherer oder späterer Organe zum völligen Vertrage“ wird.109 Welcker behauptet, dass „die blose octroyirte Verfassungsurkunde nur ein Verfassungsvorschlag“ ist und erst „die gegenseitige, vertragsmäßige, freie und ehrliche Annahme und Zusicherung erst sie zur Verfassung“ macht.110 Die zweite Folgerung ist, dass das Verfassungsgesetz „Rechte gegen die Regierung begründet, so daß diese es nicht einseitig nach Belieben aufheben darf“,111 dass das Verfassungsgesetz „nur mit Einwilligung der Regierung und der verfassungsmäßig berechtigten Regierten geändert werden“ kann.112 (5) Welcker nennt das Recht, den Grundvertrag zu schließen und zu ändern, die Verfassungssouveränität. Er lässt sie der ganzen Nation und ihren Organen, also auch der bestehenden Regierung, gemeinschaftlich zustehen.113 Es ist für Welcker charakteristisch, dass er sogar die Verfassungssouveränität dualistisch auf Nation und Regierung verteilt. e) Rolin behauptet, dass die deutsche Naturrechtslehre die Einführung einer Konstitution nur durch den Abschluss eines in der Regel selbständigen Vertrages zwischen allen Staatsmitgliedern für möglich hielt.114 Das ist richtig. Aber es ist zu beachten, dass alle Staatsmitglieder nicht aus der gleichen Ausgangsposition am Abschluss des Verfassungsvertrages teilnehmen, sondern sie zwei Teile mit verschiedenen und unaustauschbaren Positionen bilden, zwischen denen der Vertrag abgeschlossen wird. Zum Beispiel versteht Karl Heinrich Ludwig Pölitz zunächst 107

Welcker, Grundvertrag (Fn. 93), S. 257. Carl Theodor Welcker, Octroyirte Verfassung, in: C. v. Rotteck/C. Th.Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon, 1. Aufl., Bd. 11, 1841, S. 751. 109 Welcker, Grundvertrag (Fn. 93), S. 257. 110 Welcker, Octroyirte Verfassung (Fn. 108), S. 752. 111 Welcker, Grundgesetz, Grundvertrag (Fn. 96), S. 162. 112 Welcker, Grundgesetz, Grundvertrag (Fn. 96), S. 162. 113 Welcker, Grundgesetz, Grundvertrag (Fn. 96), S. 210. 114 Rolin (Fn. 1), S. 138. 108

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(1827) die Verfassung als einen durch den Gesamtwillen abgeschlossenen Vertrag und sieht diesen Gesamtwillen als den Willen aller durch den Vertrag verbundenen Individuen an.115 Wenig später (1831) lässt er hingegen in einem Verfassungsvertrag den Regenten und das Volk als zwei gleiche Größen, als gleichberechtigte und gleichverpflichtete moralische Personen erscheinen.116 Es ist interessant, dass Pölitz es kritisiert, den Verfassungsvertrag als bloßen Ausfluss der sogenannten Volkssouveränität zu denken.117 Nach dem Verständnis von Pölitz ist der Regent in bestehenden monarchischen Staaten bei dem Verfassungsvertrag eine mit dem Volk gleichberechtigte Vertragspartei. Deshalb müssen sich beide Teile auf gleicher Augenhöhe über die Bestimmungen des Verfassungsvertrages einigen.118 3. Die Vertreter der Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes a) Mathias Roggentin behauptet, dass die Theorie des Verfassungsvertrages dem Umstand Rechnung trägt, „daß die verfassunggebende Gewalt (noch) nicht in den Händen des Volkes ruht, was eine Anerkennung der Volkssouveränität zur Voraussetzung gehabt hätte.“119 Aber nicht nur bereits im 18. Jahrhundert, sondern auch und noch stärker im 19. Jahrhundert wurde in der deutschen Staatsrechtswissenschaft bereits die Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes vertreten, und zwar entweder in Verbindung mit dem Verfassungsvertrag oder ohne eine solche Verbindung. b) Ein interessantes Beispiel für die Koexistenz der Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes mit der Theorie des Verfassungsvertrages bietet Paul Achatius Pfizer. aa) Pfizer ordnet dem Volk die konstituierende (verfassunggebende) Gewalt zu.120 Dass „alles, was die Verfassung eines Staats betrifft, Sache des Volks und nur des Volks (ist)“, behauptet Pfizer als eine gewisse Sache,121 obwohl er erkennt, dass „doch in der Wirklichkeit“ „das Volk seine verfassunggebende (konstituierende) Gewalt“ selten unmittelbar übt.122 (1) Pfizer behauptet, dass das Volk seine verfassunggebende Gewalt nicht unmittelbar auszuüben braucht, sondern diese dem Staatsoberhaupt überlassen oder den ei115

Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Natur- und Völkerrecht, Staats- und Staatenrecht, und Staatskunst (Die Staatswissenschaften im Lichte unsrer Zeit, Teil 1), 2. Aufl., 1827, S. 112. 116 Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Das constitutionelle Leben, nach seinen Formen und Bedingungen, 1831, S. 59. 117 Pölitz, Das constitutionellen Leben (Fn. 116), S. 59. 118 Pölitz, Das constitutionellen Leben (Fn. 116), S. 59. Zu Pölitz siehe Schmidt-Aßmann (Fn. 35), S. 183 ff.; Rolin (Fn. 1), S. 138 ff. 119 Roggentin (Fn. 29), S. 142. 120 Paul Achatius Pfizer, Gedanken über Recht, Staat und Kirche, Teil 1, 1842, S. 242. 121 Pfizer (Fn. 120), S. 263. 122 Pfizer (Fn. 120), S. 264.

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gens dazu errichteten Behörden übertragen kann.123 Aber diese Übertragung ist begrenzt: „Vernunftrechtlich können also die konstituirten Staatsgewalten und Behörden mit konstituirender Gewalt immer nur konkurrenter Weise und subsidiarisch, nicht ausschließlich, oder wenn ausschließlich, doch nur widerruflich und zeitweis bekleidet sein“.124 (2) Eine von den konstituierten Staatsgewalten und Behörden beschlossene Verfassungsänderung erlangt „nur durch ausdrückliche oder stillschweigende Genehmhaltung des Volkes fortdauernde Gesetzeskraft“.125 (3) Pfizer behauptet, dass „die souveräne oder konstituirende Mehrheit“ an die in der Verfassungsurkunde vorgeschriebenen Formen für die Verfassungsänderung „nicht gebunden“ ist, sondern „für sich das Recht, . . . in beliebiger Form jede beliebige Verfassungsänderung vorzunehmen“ behält.126 bb) Andererseits erkennt Pfizer auch einen „zwischen dem Fürsten und einer vom Fürsten beliebig zusammengesetzten konstituirenden Versammlung abgeschlossene[n] Verfassungsvertrag“ an. Damit dieser Vertrag das Volk bindet, fordert Pfizer, dass „Grund zu der Annahme vorhanden ist, es habe diesem Vertrag die Mehrheit aller Unterthanen wirklich beigestimmt, diese Verfassung habe die allgemeine Zustimmung des Landes und des Volkes wirklich, . . . “.127 Bemerkenswerterweise nimmt Pfizer auch für den Verfassungsvertrag an, dass „immer in letzter Instanz die konstituirende Gewalt dem Volk bleibt“.128 c) Grundsätzlicher wird die Theorie der konstituierenden Gewalt des Volkes bei Carl von Rotteck entwickelt, der eine führende Rolle in der Theorie und der Praxis des Konstitutionalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte. Aber auch Rotteck mäßigt und mildert seine Theorie im Wege einer Anerkennung der stellvertretenden Ausübung der konstituierenden Gewalt durch den Monarchen und die Beimischung von Elementen des Vertrags. aa) Rotteck fordert die Festsetzung der Verfassung durch die konstituierende Gewalt des Gemeinwillens. (1) Dabei ordnet er die konstituierende Gewalt dem durch den Gesellschaftsvertrag entstandenen Gesamtwillen zu.129 Deshalb müsste eigentlich konsequenterweise der Gesamtwille vermöge seiner konstituierenden Gewalt die Personifikation der

123

Pfizer (Fn. 120), S. 263 f. Pfizer (Fn. 120), S. 264 f. 125 Pfizer (Fn. 120), S. 265. 126 Pfizer (Fn. 120), S. 266. 127 Pfizer (Fn. 120), S. 265 f. 128 Pfizer (Fn. 120), S. 266. 129 Carl von Rotteck, Charte, in: C. v. Rotteck/C. Th. Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon: Encyklopadie der sammtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, 1. Aufl., Bd. 3, 1836, S. 405 ff. 124

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Staatsgewalt und die Formen ihrer Ausübung und die Gewährungen der Rechte eines Volkes130 durch Beschluss des Grundgesetzes feststellen. (2) Aber Rotteck begnügt sich damit, dass der Monarch die konstituierende Gewalt ausübt und die Verfassung als das Grundgesetz festlegt, solange die Gesellschaft unmündig oder mundtot ist (d. h. kein natürliches Organ ihres Gesamtwillens besitzt).131 Dabei erhält Rotteck seine Theorie dadurch aufrecht, dass er den einseitgen Verfassungsoktroi druch den Monarchen als stellvertretende Ausübung der konstituierenden Gewalt des Gesamtwillens deutet.132 (3) Zudem versteht Rotteck die stellvertretende Ausübung der konstituierenden Gewalt durch den Monarchen so, dass die konstituierende Gewalt durch die einmalige Ausübung erschöpft und verbraucht wird133. Der Monarch ist daher nun als die konstituierte Gewalt an die von ihm erlassene Verfassung gebunden. Er kann die von ihm erlassene Verfassung nicht mehr einseitig zurücknehmen oder aufheben.134 Rotteck begründet auf diese Weise die Unmöglichkeit der einseitigen Aufhebung oder Abänderung der oktroyierten Verfassung durch den Monarchen mit der Theorie der konstituierenden Gewalt des Volkswillens. (4) Wenn auch Rotteck die Oktroyierung der Verfassung als „das ganz geeignete Mittel der Emancipation des wahren Gesamtwillens“ begrüßt, so fordert er doch, dass sobald eine derartige Emanzipation wirklich geschehen ist, die jetzt ins Leben tretende natürliche konstituierende Autorität das Recht hat, die bereits eingeführte Verfassung abzuändern.135 Zwar kennt er für die Verfassungsänderung zwei Wege, nämlich den Weg der Gesetzgebung und den Weg der Vertragsschließung,136 aber er wendet sich gegen den Weg der Vertragsschließung.137 Der Vertrag hat für ihn „nur die Bedeutung als ausgesprochenes Anerkenntnis der wirklich erscheinenden Rechtlichkeit und politischen Güte einer eingeführten oder einzuführenden Verfassung“.138 Für Rotteck bleibt es „immer am natürlichsten und angemessensten, den rechtlichen Ursprung jeder Verfassung und jeder Verfassungsänderung in einem Gesetz zu suchen, und zwar in einem idealisch von der Gesamtheit unmittelbar ausgegangenen, nicht blos von der constituirten Gewalt gegebenen Gesetz“.139

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Rotteck, Charte (Fn. 129), S. 402. Rotteck, Charte (Fn. 129), S. 405. 132 Rotteck, Charte (Fn. 129), S. 405. 133 Rotteck, Charte (Fn. 129), S. 405. 134 Rotteck, Charte (Fn. 129), S. 405. 135 Carl von Rotteck, Lehrbuch der allgemeinen Staatslehre (Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaft, Bd. 2), 1964. (Nachdruck d. 2. Aufl., 1840), S. 287. 136 Rotteck, Lehrbuch (Fn. 135), S. 287. 137 Rotteck, Lehrbuch (Fn. 135), S. 287. Rotteck sagt, „Zum Vertrage jedoch nimmt das Vernunftrecht auch jezo nur ungern seine Zuflucht.“ 138 Rotteck, Lehrbuch (Fn. 135), S. 288. 139 Rotteck, Lehrbuch (Fn. 135), S. 289. 131

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(5) Um den Unterschied zwischen pouvoir constituant und pouvoirs constitus hervorzuheben, schlägt Rotteck bemerkenswerterweise vor, dass nach der Billigung der vorgeschlagenen Verfassungsänderung durch den ordentlichen Landtag ein ganz allein für diese Aufgabe gewählter und bevollmächtigter außerordentlicher Landtag darüber entscheidet,140 oder sogar das Volk sich selbst das Recht vorbehält, den „von der Nationalrepräsentation gefaßten und vom Fürsten genehmigten Beschluß“ zu bestätigen oder zu verwerfen.141 bb) Rotteck lehnt dabei die Theorie des Verfassungsvertrages als Argument gegen die einseitige Änderung und Aufhebung der Verfassung durch den Monarchen aus folgenden Gründen ab:. (1) Die vom bisherigen Alleinherrscher über die zukünftigen Formen der Regierungstätigkeit und die Gewährung der Rechte des Volkes gemachte gesetzgebende Verfügung ist auch ohne förmliche Annahme von Seiten des Volkes, d. h. ohne jeden Vertrag gültig. „Wer sollte oder könnte auch die Annahme erklären oder als Vertragsschließender auftreten?“142 (2) Der Monarch ist an die von ihm als Stellvertreter der konstituierenden Gewalt festgesetzten Formen oder Grundsätze gebunden.143 (3) Wenn die Verfassung ein Vertrag wäre, könnte sie „nicht anderes als durch abermaligen Vertrag Aller mit Allen – d. h. also gar nicht – aufgehoben oder abgeändert werden“.144 (4) An und für sich ist freilich das Constitutionswerk kein Gegenstand einer durch Vertrag, folglich privatrechtlich zu treffenden Bestimmung. „Das Princip der Regulirung ist hier blos das öffentliche Wohl und das Recht der Gesamtheit“.145 Es ist bemerkenswert, dass Rotteck das als das Ergebnis der Beratung zwischen dem König und den Landständen über das öffentliche Wohl und das Recht der Volksgesamtheit Vereinbarte nicht als Vertrag, sondern als Gesetz versteht.146 Er hält dabei freilich den Umstand für wichtig, dass König und Landstände – die beide zusammen die vollständige Repräsentation des Volkes ausmachen – gemeinsam, wenn auch von verschiedenen Standpunkten aus, das öffentliche Wohl und das Recht der Volksgesamtheit zu verfolgen haben.147 cc) Rotteck entwickelt konsequent die Theorie der konstituierenden Gewalt des Gesamtwillens. Aber er schwächt seine Theorie ab, indem er ihr Elemente des Vertraglichen hinzufügt. 140 141 142 143 144 145 146 147

Rotteck, Lehrbuch (Fn. 135), S. 291. Rotteck, Lehrbuch (Fn. 135), S. 292. Rotteck, Charte (Fn. 129), S. 403. Rotteck, Charte (Fn. 129), S. 405. Rotteck, Charte (Fn. 129), S. 406. Rotteck, Charte (Fn. 129), S. 407. Rotteck, Charte (Fn. 129), S. 408. Rotteck, Charte (Fn. 129), S. 408.

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(1) Rotteck meint, dass die Idee des Gesamtwillens dessen natürliche und künstliche Organe überwölbt und beide gleichermaßen verpflichtet. Gerade deswegen konstruiert er das Verhältnis zwischen den beiden als gleichberechtigt, und zwar als das wechselwirksame Gegenüberstehen von zwei selbständigen Persönlichkeiten.148 Diese dualistische Konstruktion des Verhältnisses zwischen Monarch und Ständen im Verfassungsleben ist funktionell der einem Vertragsverhältnis ähnlich, zumal das Verhältnis nicht als Über-Unterordnungsverhältnis konstruiert ist.149 (2) Rotteck ist gegenüber dem Vertrag durchaus tolerant: „Es ist möglich, dass eine neue Verfassung durch Vertrag „zwischen Fürst und Volk entstehe“150 und dass „die natürliche constituirende Autorität das Recht der Verfassungsänderung ausübt, und zwar theils gesetzgebend, theils vertragschließend“.151 Auch versteht er die Annahme der Verfassung durch das Volk als das explizite Anerkenntnis der Rechtlichkeit und der politischen Güte einer eingeführten Verfassung und nennt dieses Anerkenntnis den Verfassungsvertrag.152 dd) Insgesamt legt Rotteck allerdings den Schwerpunkt auf die Dimension der Zukunft, die Verfassungsänderung. Für die Verfassungsänderung ist aus seiner Sicht der Weg der Gesetzgebung geeigneter als derjenige der Vertragsschließung. Er behauptet das Recht des Volkes zur Verfassungsänderung. Ferner deutet er die Anerkennung der Rechtlichkeit und der politischen Güte der Verfassung durch das Volk so, dass das Volk „sich durch die ihm vorgeschlagenen oder dargebotenen Formen der Gewalt und Garantien der Freiheit für die Gegenwart befriedigt finde“, dass es aber dadurch irgendein Recht der nachfolgenden Geschlechter nicht aufgibt und nicht aufgeben kann.153 d) Wilhelm Snell, ein schweizerischer Rechtslehrer, behauptet die Theorie des Beschlusses der Verfassung durch den Gesamtwillen und legt bei dieser Theorie den Schwerpunkt auf die Verfassungsänderung. aa) Snell stellt sich die Frage, ob die Verfassung auf einem Vertrag oder auf einem Gesetzesbeschluss beruht.154 Er antwortet, dass die Verfassung aus einem Beschluss, nicht aus einem Vertrag hervorgeht, und behauptet, dass dieses aus dem Wesen des Vertrages („Die Gesellschaft kann nicht mit sich selbst einen Vertrag schließen.“; „Was sie bei sich selbst ausmacht, ist Entschluß und Beschluß. Die Verfassung ist der erste Selbstbestimmungsakt der Gesellschaft.“)155 und aus dem Wesen der Verfassung („Wäre die Verfassung ein Vertrag, so müßten alle Glieder einwilligen, und eine 148 149 150 151 152 153 154 155

Rotteck, Lehrbuch (Fn. 135), S. 93. Rotteck, Lehrbuch (Fn. 135), S. 92 ff. Rotteck, Lehrbuch (Fn. 135), S. 286. Rotteck, Lehrbuch (Fn. 135), S. 287. Rotteck, Lehrbuch (Fn. 135), S. 288. Rotteck, Lehrbuch (Fn. 135), S. 288. Snell (Fn. 3), S. 168. Snell (Fn. 3), S. 169.

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Verfassung könnte nicht zu Stande kommen, wenn auch nur ein einziges Mitglied nicht einwilligte und nicht austreten wollte“) folgt.156 bb) Aufgrund des Vernunftrechts behauptet Snell, dass die öffentliche Gewalt nur im Gesamtwillen der Nation liegt.157 (1) Daraus zieht er die Folgerung, dass „die Verfassung selbst […] das Werk des Gesamtwillens sei, sei es nun, daß die Einwilligung und Zufriedenheit der Nation sich stillschweigend oder ausdrücklich erkläre“.158 (2) Daraus zieht er auch die Folgerung, dass „auch die Aenderung der Verfassung […] dem Nationalwillen vorzubehalten und dafür ein zweckmäßiger Organismus einzuführen und anzuordnen [ist] . . . “.159 Zu der Verfassungsänderung macht er weiterhin folgende Aussagen: (a) Wenn die Verfassung als der Vertrag aufzufassen ist, ist die Verfassungsänderung schwierig, weil jeder Einzelne in die Veränderung einwilligen müsste, während man, wenn die Verfassung ein Gesetz ist, sie durch einen gesetzlichen Beschluss der absoluten Mehrheit abändern kann.160 Die Verfassungsänderung ist deshalb nicht durch einen Vertrag, sondern durch einen Beschluss zu bewirken.161 (b) Wenn ein zweckmäßiger Organismus für die Verfassungsänderung eingeführt und angeordnet ist, wird die zweckmäßige Reform und gesetzmäßige Fortbildung der Verfassung möglich und wird die Revolution oder der gewaltsame Umsturz der ganzen Verfassung verhindert.162 cc) In Bezug auf die Erklärung der Nation über die gegenwärtige Verfassung macht Snell die gleiche Aussage wie Rotteck. Er sagt: „Ja, wenn die Nation selbst die Verfassung für unabänderlich erklärt, kann sie an eine solche Erklärung rechtlich nicht gebunden sein; denn eben der Wille, woraus ein solcher Beschluß hervorgeht, kann diesen zu jeder Zeit wieder aufheben, und jedenfalls kann die jetzige Generation durch ihre Willenserklärung die folgenden Generationen . . . nicht beschränken“.163 e) Es ist bemerkenswert, dass Johann Caspar Bluntschli, der Hauptvertreter der organischen Staatstheorie, die konstituierende Gewalt, d. h. „das Recht, die Formen seines staatlichen Daseins selbständig zu bestimmen, nötigenfalls zu ändern“, dem Volk zuordnet.164 Das kann man einigermaßen gut verstehen, wenn man berücksichtigt, dass Bluntschli das Volk als die politisch gegliederte Gesamtheit, in welcher das 156 157 158 159 160 161 162 163 164

Snell (Fn. 3), S. 169 f. Snell (Fn. 3), S. 219. Snell (Fn. 3), S. 220. Snell (Fn. 3), S. 220. Snell (Fn. 3), S. 170. Snell (Fn. 3), S. 221. Snell (Fn. 3), S. 221. Snell (Fn. 3), S. 221. Johann Kaspar Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, 3. Aufl., Bd. 2, 1863, S. 16.

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Haupt die oberste und jedes einzelne Glied die seiner Natur gemäße Stellung und Aufgabe hat, versteht.165 Deswegen lässt Bluntschli die konstituierende Gewalt des Volkes das Staatshaupt und das Volk gemeinsam ausüben.166 Was die Art und Weise der Ausübung der konstituierenden Gewalt betrifft, verneint Bluntschli sowohl die Oktroyierung der Verfassung durch den Monarchen, den Vertragsschluss wie auch die einseitige Verfassunggebung durch eine Nationalversammlung als Widerspruch zum System der konstitutionellen Monarchie. Nach Bluntschli würdigt die erste Auffassung die Rechte der übrigen Glieder nicht, die zweite spaltet die Staatseinheit und die dritte missachtet das Recht des Staatsoberhauptes.167 Für Bluntschli ist die einzig richtige Form der Ausübung der konstituierenden Gewalt die verfassungsmäßige Gesetzesform, d. h. das Zusammenwirken aller Faktoren unter der Leitung des Hauptes.168 Es ist zu beachten, dass Bluntschli auch für die Ausübung der konstituierenden Gewalt das Zusammenwirken aller Faktoren fordert. IV. Schlussbemerkung 1. Über die Aussagen einiger Wissenschaftler Zuerst sollen die Aussagen einiger Wissenschaftler über die Funktion des Verfassungsvertrages oder der Verfassungsvertragstheorie kommentiert werden. Dabei soll der Vergleich mit der Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes versucht werden. a) Jan Rolin Rolin hebt unterschiedliche Funktionen der Verfassungsvertragstheorie hervor: die Staat und Herrschaft legitimierende Funktion, die sie limitierende Funktion, die die erlassene Verfassung stabilisierende Funktion und die den Vorgang der Verfassunggebung erklärende Funktion.169 Die Verfassungsvertragslehre hat die Einführung der Verfassung (durch den Vertrag) gefordert. Sie hat die Herrschaft aufgrund derartiger Verfassungen legitimiert und zugleich durch die Bestimmungen der Verfassung die Herrschaft limitiert. Sie hat dabei nicht irgendeine Verfassung gefordert, sondern eine Verfassung mit bestimmten Inhalten. Man kann sagen, dass auch die Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in diesem Punkt dieselbe Funktion erfüllt hat. In Bezug auf die stabilisierende Funktion haben beide Theorien zwar dieselbe Funktion erfüllt, dies aber mit verschiedenen Argumenten. Die Verfassungsvertragstheorie bringt nämlich 165

Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht (Fn. 164), S. 10. Johann Kaspar Bluntschli, Monarchie, in: J. K. Bluntschli/K. Brater (Hrsg.), Deutsches Staats-Wörterbuch, Bd. 6, 1861, S. 734. 167 Bluntschli, Monarchie (Fn. 166), S. 734. 168 Bluntschli, Monarchie (Fn. 166), S. 734 f. 169 Rolin (Fn. 1), S. 141 ff. 166

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als Argument gegen die einseitige Änderung oder Aufhebung der Verfassung durch den Monarchen vor, dass die durch den Vertrag entstandene Verfassung nur durch die Übereinstimmung von Monarch und Landständen geändert werden kann. Die Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes argumentiert demgegenüber, dass der Monarch die Verfassung als Stellvertreter der verfassunggebenden Gewalt erlassen hat und deshalb nach deren Einführung als nunmehr konstituierte Gewalt an die von ihm erlassene Verfassung gebunden ist. In Bezug auf die stabilisierende Funktion sind die beiden Theorie gleichrangig. In Bezug auf die Fortbildung der Verfassung ist aber der Theorie der verfassunggebenden Gewalt der Vorzug zu geben. Die verfassunggebende Gewalt kann allein durch ihren Beschluss die Verbesserung der Verfassung durchführen. Allerdings behauptet diese Theorie, dass die konstituierende Gewalt nicht an die von ihr erlassene Verfassung gebunden sei, dass die konstituierende Gewalt der Gegenwart die konstituierende Gewalt der Zukunft nicht binden könne. In diesem Sinne kann die Verfassungsvertragstheorie die jeweils geltende Verfassung besser stabilisieren. Aber man kann nicht sagen, dass das ihr Vorzug ist. Was die Erklärung des Vorgangs der Verfassunggebung angeht, hat die Verfassungsvertragstheorie natürlich dann den Vorzug, wenn die Verfassung in der Wirklichkeit als Vertrag zwischen den Monarchen und den Landständen entstanden ist. Was gilt aber, wenn die Verfassung oktroyiert wurde? Die Verfassungsvertragstheorie erklärt, dass die oktroyierte Verfassung gerade nach dem Vertragsprinzip erst durch die Akzeptanz durch das Volk zur rechtlichen Verfassung werden kann.170 Die Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes erklärt, dass die Oktroyierung der Verfassung nur die stellvertretende Ausübung der konstituierenden Gewalt durch den Monarchen bedeutet. Zudem ist hervorzuheben, dass die Verfassungsvertragstheorie, worauf auch Rolin hinweist, das der Verfassung zugrunde liegende Moment des Kompromisses ausdrücken kann. b) Schmidt-Aßmann Schmidt-Aßmann hat über die Verfassung viele wichtige Aussagen gemacht. Davon sind folgende Aussagen für die Problemorientierung des vorliegenden Beitrages lehrreich: Schmidt-Aßmann weist auf die Wendung des Vertragsgedankens zur Zukunftsgestaltung oder die Überwindung des Staatsrechtfertigungsgedankens durch das Gestaltungsmoment hin.171 Die Verfassungsvertragstheorie war durch die Forderung der Einführung einer Verfassung auf die Zukunft ausgerichtet und wollte den Vertrag zum Kern der Rechtsverfassung machen.172 Dieses Zukunftsmoment ist aber auch in der Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes enthalten. 170 171 172

Rolin (Fn. 1), S. 146 ff. Schmidt-Aßmann (Fn. 35), S. 98. Schmidt-Aßmann (Fn. 35), S. 98.

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Im Zusammenhang mit der Erörterung der Vertragskonzeption Kants hebt Schmidt-Aßmann hervor, dass der Vertrag das Moment des Interessenausgleichs, des Kompromisses enthält. Dieses Moment lag der Theorie der verfassunggebenden Gewalt, wie Schmidt-Aßmann in Bezug auf Kant darlegt, hingegen fern.173 c) Dieter Grimm Dieter Grimm spricht von der liberalen Wendung von der vertraglichen zur gesetzlichen Verfassungsbegründung174 und auch vom stillschweigenden Verschwinden des Vertrages aus den meisten Werken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.175 Dieser Umstand ist dadurch zu erklären, dass für die Liberalen die Entstehung der Verfassung durch Vertrag weniger wichtig war als deren Existenz und Praxis durch die konkrete Gesetzgebung. Überdies waren die Liberalen mit dem System des Zusammenwirkens von Monarchen und Landständen bei der Gesetzgebung zufrieden, das das Prinzip des Vertrags gewissermaßen institutionell verwirklichte. d) Mathias Roggentin Mathias Roggentin hebt zutreffenderweise die Ersatzfunktion der Verfassungsvertragstheorie für die Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes hervor.176 Man muss aber berücksichtigen, dass beide Theorien manchmal bei denselben Autoren koexistierten. Daher lässt sich sagen, dass die Verfassungsvertragstheorie teils die Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ersetzte, teils aber auch abmilderte. 2. Zusammenfassung a) Zwischen der Verfassungsvertragstheorie und der Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes gab es einige Gemeinsamkeiten, die dazu führten, dass beide manchmal auch koexistieren konnten. aa) Die beiden Theorien stammen gemeinsam von der Naturrechtslehre ab, wenn auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Verfassungsvertragstheorie zudem durch den Organismusgedanken unterstützt wurde. bb) Beide Theorien waren gleichermaßen Erscheinungsformen des Bestrebens nach der Teilhabe aller am Staatsleben. cc) Beide Theorien forderten, dass die eingeführte Verfassung letztendlich von allen akzeptiert oder angenommen werden musste. Das gilt nicht nur für die Verfas173

Schmidt-Aßmann (Fn. 35), S. 94. Grimm (Fn. 24), S. 131. 175 Grimm (Fn. 24), S. 137. 176 Roggentin (Fn. 29), S. 142. So habe der Autor dieses Aufsatzes die Aussage von Roggentin interpretiert. 174

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sungsvertragstheorie, die den Vorgang der Entstehung der Verfassung als Vertragsverhältnis (Vorschlag-Annahme) konstruierte, sondern auch für die Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Denn auch diese Theorie forderte und fordert, dass das Ergebnis der Ausübung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes von allen akzeptiert werden muss, auch wenn die verfassunggebende Gewalt vom Volk (in diesem Fall allen Stimmberechtigten) oder den volksgewählten Repräsentanten ausgeübt wird. b) Andererseits gibt es auch Unterschiede zwischen beiden Theorien. Der größte besteht darin, dass bei der Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes „alle“ gleichmäßig am Staatsleben teilnehmen, während bei der Verfassungsvertragstheorie „alle“ in zwei Teile gegliedert sind und in der Form des Gegenüberstehens zweier Teile am Staatsleben teilnehmen. c) Abschließend lässt sich feststellen, dass die Verfassungsvertragstheorie die im Hinblick auf das dualistische System von Monarchen und Landständen177 in Deutschland adäquate Theorie war und die Eigentümlichkeit dieser Theorie gerade darin bestand, diesen Dualismus auf theoretischer Ebene auszudrücken.

177 Es ist zwar ganz richtig, dass Rainer Wahl betont, dass der deutsche Konstitutionalismus als Bewegungsgeschichte aufgefasst werden muss, dass das Verhältnis von Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert beweglich, dynamisch und flexibel war. Man muss aber anerkennen, dass während des ganzen 19. Jahrhunderts der Monarch und das Parlament sich als selbständige und unaustauschbare Faktoren gegenüberstanden. Siehe dazu Rainer Wahl, Der Konstitutionalismus als Bewegungsgeschichte, in: Ulrike Müßig (Hrsg.), Konstitutionalismus und Verfassungskonflikt: Symposion für Dietmar Willoweit, 2006, S. 197 ff.

Wissen und Verstehen in der „Wissensgesellschaft“ Von Johannes Masing, Karlsruhe Wir leben, so geht oft die Rede, in einer „Wissensgesellschaft“.1 Wissen sei das Maß der Zukunft – viel Wissen, schnelles Wissen, richtiges Wissen. In dieser Vorstellung liegt indes die Gefahr einer grundlegenden Fehlinterpretation der Herausforderungen des Informationszeitalters und der Grund vieler Irrwege der Schul- und Hochschulpolitik. Sie stützt sich auf das Leitbild einer optimalen Verfügbarkeit und Verfügbarmachung von vorgegebenen Fakten als Grundlage richtiger Entscheidung. Wissen scheint danach Problembeherrschung durch Kenntnis objektiver Umstände und Zusammenhänge, es zielt auf eine aus der Wirklichkeit abgeleiteten Entscheidungsgewissheit nach dem Kriterium von richtig und falsch. Die Frage nach dem für eine Gesellschaft erforderlichen Wissen scheint allein eine Frage der Maximierung und optimalen Allokation – sie zielt auf Überwindung des Nichtwissens. Gerade die Herausbildung der modernen Informationsgesellschaft, die immer größere Bestände an Informationen verfügbar macht, immer komplexere Kombinationen und Relationen eines rasant wachsenden Datenmaterials erlaubt und einen immer ungehinderteren Austausch von Informationen und Erkenntnissen ermöglicht, zeigt aber, dass die Zunahme des vorhandenen Materials mehr noch als Wissen Nichtwissen hervorbringt. Das Streben nach mehr, besserem, genauerem Wissen, der Versuch der Wissensbeherrschung durch Einverleibung erweist sich deutlicher denn je als unzureichende Antwort auf die Herausforderungen der Moderne. Nicht allein die Vermehrung des Wissens bildet die Herausforderung in der Informationsgesellschaft, sondern der Umgang mit Nichtwissen.2 Hieraus folgt ein grundlegender Perspektivenwechsel: Das Paradigma der Beherrschbarkeit von und durch Wissen wird zurückgenommen in eine relativierte Perspektive, die der wirklichkeitsprägenden Kraft der Subjektivität Raum gibt. Damit wird die Frage nach dem Wissen eingeholt durch 1

Siehe etwa J. Steinbicker, Der Staat der Wissensgesellschaft. Zur Konzeption des Staats in den Theorien der Wissensgesellschaft, in: P. Collin / T. Horstmann (Hrsg.), Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, 2004, S. 90 ff.; ders., Staatliches Wissen im System des Verwaltungsrechts im Kontext der Wissensgesellschaft, in: I. Spiecker gen. Döhmann/P. Collin (Hrsg.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens im System des Verwaltungsrechts, 2008, S. 307 ff. 2 Siehe nur A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, Methoden, Maßstäbe, Aufgaben, Organisation, 2006, § 1 Rn. 11 m.w.Nw. in Fn. 62, sowie die Beiträge in: I. Augsberg (Hrsg.), Ungewissheit als Chance: Perspektiven eines produktiven Umgangs mit Unsicherheit im Rechtssystem, 2009.

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die Frage nach dem Verstehen: Was wir heute wissen müssen, muss in eine Diskussion darüber führen, wie wir heute verstehen können und lernen. In diese Diskussion müssen sich alle Disziplinen einmischen – auch wenn sie damit ihr eigenes unmittelbares Fachgebiet verlassen. Denn die Frage, was „Wissen“ und „Verstehen“ heute sein kann und muss, stellt sich aus der Perspektive verschiedener Fächer je eigens, und nur wenn wir hierüber ins Gespräch kommen wird es gelingen, den Anforderungen der Informationsgesellschaft zum Wohl des gemeinen Ganzen gerecht zu werden. Die vergleichsweise freie Form einer Festschrift gibt Raum, einen solchen Brückenschlag in die Gesellschaftspolitik zu wagen. Rainer Wahl hat sich selbst nie damit begnügt, das Recht nur in seinem Binnenraum zu betrachten. Mit seinen wissenschaftlichen Schwerpunkten in der Verfassungsgeschichte und in der Verwaltungswissenschaft geht sein Blick wie bei nur wenigen anderen über das eigene Fach stets auch hinaus und sucht sein Denken immer auch Anschluss an einen gesellschaftspolitischen Diskurs.3 Und als leidenschaftlichen Lehrer haben ihn gerade auch die Bedingungen und Herausforderungen der Wissens- und Verstehensvermittlung wiederholt beschäftigt.4 Hieran anknüpfend seien ihm die folgenden Überlegungen zu grundlegenden Voraussetzungen für „Wissen“ und „Verstehen“ – und damit auch für Aspekte dessen, was auch heute noch Bildung sein kann – gewidmet. Der Beitrag ist aus der begrenzten und persönlichen Perspektive eines Richters, Rechtswissenschaftlers und Hochschullehrers verfasst, nicht aber auf der Grundlage von sich hiermit schwerpunktmäßig befassenden Wissenschaften wie der Wissenssoziologie, der Medienforschung oder auch der Pädagogik.5 In der für ein Gemeinwesen elementaren Verwiesenheit auf ein gemeinsames Verstehen ist es aber notwendig, die verschiedenen Perspektiven auch außerhalb dieser Wissenschaften in ein Gespräch zu bringen: Nur so können die Erfahrungshorizonte der verschiedenen Fächer auch substantiell verschmelzen.

3 Vgl. nur R. Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003; ders./I. Appel, Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, in: R. Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge. Von der Staatsaufgabe zu den verwaltungsrechtlichen Instrumenten, 1995, S. 1 ff.; R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, und ders., Verfassungsänderung – Verfassungswandel – Verfassungsinterpretation II, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation, 2008, S. 29, 65. 4 Siehe etwa R. Wahl, Die Misere der Betreuungsrelation in der Juristenausbildung. Wie eine Universitätsausbildung durch gesetzlich vorgesehene Normwerte denaturiert wird, in: D. Strempel (Hrsg.), Juristenausbildung zwischen Internationalität und Individualität – auch ein Problem der Gesetzgebung, 1998, S. 379. 5 Es wird in diesem Beitrag dementsprechend von vornherein nicht versucht, die zahlreichen angeschnittenen Diskussionen durch Quellenangaben auch nur repräsentativ nachzuweisen.

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I. Wissen und Verstehen als Grundbedingung der Demokratie Keine politische Ordnung ist so eng verwoben mit dem Glauben an die Intelligibilität des Einzelnen wie die Demokratie – und umgekehrt konnte erst sie die heutige Informationsgesellschaft hervorbringen. Demokratie unterstellt die Möglichkeit, Einsicht zur Grundlage gemeinsamen Handelns zu machen.6 Dabei ist die Vorstellung, dass die Bürger über Recht und Politik auf der Grundlage der Gleichheit selbst bestimmen, höchst voraussetzungsvoll. Sie geht von dem gemeinsamen Wissen einer substantiellen Gleichheit sowie dem Vertrauen in eine hinreichende Urteilsfähigkeit aller Bürger aus, die es erlaubt, politische Fragen als Sachfragen auszutragen. Ein emanzipatives Grundverständnis des einzelnen Bürgers, die gegenseitige Achtung der Bürger untereinander als grundsätzlich Gleiche, der Verzicht auf die Durchsetzung von Absolutheitsansprüchen durch Anerkennung und Begreifen der Regeln sowie damit die Offenheit für Argumentation und Kompromiss sind Voraussetzungen der Demokratie. Ihnen liegt ein gemeinsames Weltverstehen voraus, und sie führen zugleich in eine Gesellschaft hinein, für die Bildung ein Lebenselixier sein muss. Demokratie braucht Bildung.7 Wenn heute Demokratie oft als die einzig legitime, möglicherweise gar menschenrechtsgebotene Staatsform verstanden wird,8 wird solche Voraussetzungshaftigkeit oft vergessen. Mit Soldaten oder institutionellen Arrangements lassen sich diese Voraussetzungen jedenfalls nicht schaffen. Bildung bleibt auch für entwickelte Demokratien eine Herausforderung. Das gilt nicht nur mit Blick auf die wirtschaftliche Prosperität. Die Fähigkeit einer Gesellschaft, mit Wissen oder Nichtwissen umzugehen, entscheidet auch über die Differenzierungsfähigkeit der Rechtsordnung, ihre Anpassungsfähigkeit an sich wandelnde Umstände, ihren Zusammenhalt wie über ihre Gerechtigkeitsstandards. Wir leiden hier an einem zunehmenden Auseinanderdriften von Sachwissen und Entscheidungszuständigkeit.9 Die den politischen Entscheidungen unterliegenden Produktionsprozesse und Handlungssysteme sind durch immer weiter reichende Spezialisierung, technische Überformung, kurzfristige Änderungen und fachwissenschaftliche Fundierung geprägt, so dass politische Entscheidungsträger mehr und mehr von Experten und Beratergremien abhängig werden. Nicht nur für das Parlament, sondern auch für die Regierung und für die Fachministerien wird es immer 6 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl., 2004, § 24 Rn. 69 ff. 7 E.-W. Böckenförde (Fn. 6), § 24 Rn. 67 f. 8 Vgl. BVerfGE 123, 267 (341) – Lissabon (2009) („Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert.“); R. Dworkin, Is democracy possible here?, 2007, S. 131 – 147; kritisch hingegen: E.-W. Böckenförde, Ist Demokratie eine notwendige Forderung der Menschenrechte?, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S. 246 ff. 9 E.-W. Böckenförde (Fn. 6), § 24 Rn. 70.

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schwerer, Entscheidungen aufgrund eines eigenen sachlich fundierten Urteils zu treffen. Ein Problem ist dieses insbesondere dann, wenn auch externe Fachkenntnisse nur in unverrückbarer Verquickung mit Partikularinteressen zur Verfügung stehen. In der Rechtswissenschaft etwa finden sich viele Felder, die – finanziellen Anreizen folgend – allein noch interessenorientiert bearbeitet werden. Auch bezüglich der Finanzkrise dürfte es schwierig sein, kompetente Beratung zu finden, die nicht durch interessengeleitete Aktivitäten vorgeprägt ist. Dies gilt auch für die Wissenschaft. Forscher sind oft zugleich als gut bezahlte Berater tätig – und der zunehmende Druck auf die Universitäten, mit Drittmitteln zu forschen, verstärkt das. Heute wird zum Teil schon die Erstellung ganzer Gesetzesentwürfe von der Regierung an Anwaltskanzleien gegeben, weil nur diese als hinreichend kompetent angesehen werden.10 Dabei vertreten sie aber gleichzeitig auf dem entsprechenden Markt ihre Mandanten. Die Stärkung fachlicher Infrastrukturen wie materiell unabhängiger Forschungseinrichtungen, spezialisierter und zum Teil auch unabhängiger Fachbehörden und pluraler Beratungsgremien ist deshalb unerlässlich. Sie wird das Problem aber nur partiell beheben können. Die Verfachlichung und zunehmende Komplexität der Lebenswirklichkeit stellt die moderne Demokratie auch in Bezug auf die politische Kommunikation vor Herausforderungen. Die Vermittlung politischer Entscheidungen gegenüber der Öffentlichkeit ist auf die Reduzierung von Komplexität verwiesen und dies ist ein Stück weit nicht Schwäche, sondern Stärke der Demokratie: Die sich in Detailfragen verlierenden Diskussionen der Fachwelt müssen geerdet, auf Grundentscheidungen reduziert und in ein prinzipienhaftes Koordinatensystem gebracht werden. Die Auseinandersetzung mit den Fachfragen wird so in ein größeres Koordinatensystem gestellt, ihre Deutung wird fassbar und Entscheidungsvorhaben werden einer praktisch-intuitiven Beurteilung zugänglich gemacht. Hierüber aggregiert sich auch über das einzelne Vorhaben hinaus kollektives Sinngeben, politische Selbstvergewisserung und ein – nicht homogenes, aber aufeinander bezogenes – gemeinsames Verstehen. Je fachlich verschlossener und vielschichtiger die Regelungszusammenhänge jedoch werden, desto höhere Ansprüche stellt eine solche Vermittlungsleistung. Lassen sich die Fragen nicht mehr hinreichend abschichten, droht die Gefahr populistischer Effekthascherei, moralisierender Symbolpolitik und kurzatmiger Beschäftigung mit Symptomen. Mit der Fähigkeit der Öffentlichkeit, auch komplexere Zusammenhänge noch in ihren Grundstrukturen zu verstehen, entscheidet sich, welche Fragen ein Gemeinwesen noch diskutieren und anspruchsvoll entscheiden kann. Wie sehr es hierauf ankommen kann, wurde in der U.S.-amerikanischen Diskussion zur Gesundheitsreform deutlich. Was hier für uns in der Außensicht besonders plastisch ist, gilt nicht minder auch für zahlreiche Diskussionen in Deutschland (exemplarisch auch hier im Übrigen nicht zuletzt im Sozialversicherungsrecht).

10 Vgl. zu den Problemen eines solchen „Outsourcing“ von Gesetzesentwürfen etwa J. Krüper, Lawfirm – legibus solutus?, JZ 2010, S. 655 ff.

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Es ist insoweit freilich offensichtlich, dass es von vornherein ein aussichtsloses und unsinniges Unterfangen wäre, solchen steigenden Anforderungen an die allgemeine Bildung durch eine Maximierung und Vervollständigung öffentlicher Wissensbestände entsprechen zu wollen. Maßgeblich ist vielmehr die Förderung der Kenntnis gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Grundstrukturen sowie im Übrigen einer auf das öffentliche Leben bezogenen Differenzierungsfähigkeit, die aus übergreifenden Zusammenhängen heraus eine praktische Urteilskraft verleiht. Der in den USA erneut aufgebrochene Streit, ob für eine Gesellschaft die Natur- oder Geisteswissenschaften größere Bedeutung haben,11 scheint dafür allerdings nicht weiterführend. Die verschiedenen Disziplinen lassen sich nicht gegenseitig ausspielen. Gerade in einer stetig komplexer werdenden Welt bedarf es einer breiten Vielfalt von Denkrichtungen, Stilen und ganz unterschiedlichen Kapazitäten des Wissens und Verstehens – wozu im Übrigen auch Fächer gehören, deren konkreter gesellschaftlicher Nutzen oder Wissensbedarf nicht absehbar ist. Die Informationsgesellschaft muss jedoch für alle Fächer einen Fragenhorizont als Hintergrund wachhalten, vor dem sich Lernende, Studierende oder Forschende zur Welt und das jeweilige Fach zur Gesellschaft verhalten. Indem die Demokratie das öffentliche Ringen um die richtige Entscheidung und die gemeinsame Sorge um das Wohl aller zum Ausgang nimmt, bezieht sie die Sinnfrage des Einzelnen auf das gesellschaftliche Ganze. Unser Gemeinwesen – und hier nicht zuletzt die Bildungspolitik – muss darauf bedacht sein, dass bei der Jagd nach verifizierbarem Wissen die Frage des Um-Willens nicht durch eindimensionale Effizienzkriterien oder gesellschaftliche bzw. ökonomische Nützlichkeitserwägungen verdrängt wird. Schon die Grundlage unserer Ordnung – die Annahme der substantiellen Gleichheit aller Bürger, die diese zu einer gleichberechtigten Mitwirkung am politischen Prozess befähigt12 – ist kontrafaktisch und verlässt als idealistisches Axiom die Ebene beherrschbaren Wissens. Damit die „Wissensgesellschaft“ die Brücke zu der sozialen Verfasstheit der Gesellschaft sowie – auf ganz verschiedenen Abstraktionsstufen – zu Fragen des gemeinsamen Wohlergehens nicht verliert, ist ein geistiges Klima erforderlich, das auch in spezialisierten Fachdisziplinen der Pflege und Förderung bedarf. Eine Medizinerausbildung etwa, in der neben der rein naturwissenschaftlichen Wissensvermittlung kein Raum für die Frage ist, wie unter den Bedingungen eines sozialstaatlich geordneten Gesundheitssystems eine dem Kranken und seinen Lebensumständen gerecht werdende Heilbehandlung möglich ist, ist ebenso einseitig wie eine handwerklich bleibende Juristenausbildung ohne Rückbesinnung auf die legitimatorischen Grundlagen des Rechts und eine realitätsbezogene Macht- und Wirkungskritik.

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Vgl. M. C. Nussbaum, Not For Profit: Why Democracy Needs the Humanities, 2010, und dazu: T. Steinfeld, SZ Nr. 128 v. 8. 6. 2010, S. 11. 12 Vgl. nur J. Masing, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Fn. 2), GVwR I, § 7, Rn 8 ff. m.w.Nw.

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II. Bildung und Ausbildung Unser Bildungssystem trägt diesen Herausforderungen nicht hinreichend Rechnung. Es ist zu viel auf das Erlernen von Wissen und zu wenig auf Verstehen angelegt. Es besteht tiefgreifender Reformbedarf – und zwar weithin in die entgegengesetzte Richtung der bisherigen Reformen. Ohne dass hier auf die komplexe Frage des gegliederten Schulsystems eingegangen werden kann, muss es jedenfalls ein primäres Anliegen unseres Bildungssystems sein, unabhängig von der Herkunft allen Schülern eine gute Ausbildung zu ermöglichen und Ghettoisierungstendenzen wirksamer als bisher aufzufangen.13 Ein freiheitlicher Staat ist nur dann ein solcher, wenn Freiheit mehr als ein bloßes Recht, wenn es eine reale Chance für jeden ist.14 Von einer fördernden Ausbildung hängen zunächst schon die persönlichen Entfaltungschancen des Einzelnen als das zentrale Ziel unseres Gemeinwesens, aber auch der soziale Zusammenhalt ab. Wir brauchen hierfür vielleicht nicht sehr viel gemeinsames Wissen, aber jedenfalls ein gemeinsames Verstehen, aus dem sich Chancen für jeden ergeben. Dabei muss Unterprivilegierten und nicht zuletzt solchen mit Migrationshintergrund ein besonderes Augenmerk gelten. Gerade aber hierbei kann es nicht allein um Wissensvermittlung gehen. Schule und Ausbildung müssen vielmehr soziale Interaktionsfähigkeit sowie geschützte Räume für neue Erfahrungen und selbstbestimmte Weltaneignung vermitteln – es bedarf dazu einer sehr individuellen und menschlich umfassenden Förderung. Einen Irrweg gehen die jüngsten Gymnasial- und Hochschulreformen, die hier, bedingt durch die Perspektive als Hochschullehrer, in den Vordergrund gestellt seien. Mit ihnen wird Bildung weithin auf Wissensvermittlung reduziert und – zusammengepresst auf kürzere Zeiträume – vermeintlich effektiviert: Ab fünf Jahren Einschulung, nach 12 Jahren Abitur und nach drei weiteren Jahren Bachelor – ein Modell, dass auf allen Ebenen Freiräume verschließt. Unter Berufung auf eine europäische Annäherung werden so unter Erschwerung der verschiedenen Eigenheiten und Eigenwege die europäischen Bildungssysteme nach unten nivelliert. Eigeninitiative wird dabei erstickt. Die Kinder werden möglichst früh in Lehrpläne gepresst, deren effektive und möglichst quantifizierbare Durchsetzung durch Tests abgefragt wird. Die Schule verdichtet ihr Programm auf 36 bis 38 Stunden gleichförmigen Unterricht im Klassenverband, verbunden mit Freistunden und Mittagspausen, für deren Gestaltung es oft schon räumlich, geschweige denn bezüglich bereitstehender Ansprechpartner an 13 Vgl. die insoweit bedrückenden Ergebnisse der – ansonsten sicher in vieler Hinsicht diskussionsbedürftigen – Ergebnisse der Pisastudie: E. Klieme u. a. (Hrsg.), Pisa 2009, Bilanz nach einem Jahrzehnt, 2010. 14 Vgl. zur Ausbildungsfreiheit: BVerfGE 33, 303 (331) („Freiheitsrecht wäre ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos“); 112, 226 (245) (zur staatlichen Aufgabe „sozialstaatlicher, auf die Wahrung gleicher Bildungschancen […] bedachter Regelung bei einer Einführung von Studiengebühren“, die „den Belangen einkommensschwacher Bevölkerungskreise angemessen Rechnung“ trägt); BVerwGE 134, 1 (8) (Ausbildungsangebot, das „eine Sonderung der Studierenden nach den Besitzverhältnissen der Eltern verhindert“).

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geeigneten Bedingungen fehlt. Die Umstellung des neunjährigen auf das achtjährige Gymnasium sollte dabei in einigen Ländern zunächst durch Komprimierung des praktisch unveränderten Lehrplans bewältigt werden – geradezu exemplarisch Ausdruck eines Modells, in dem sich Lernen primär auf ein quantifizierbares Problem der Wissensaneignung reduziert. Schulische Nebenveranstaltungen wie Klassenfahrten werden für alle zur effizienzmindernden Belastung und Zusatzangebote wie Kunst, Chor, Orchester, Theater oder Sport, aber auch Extrakurse in Mathematik, Astronomie, Informationstechnik oder Geschichte – sofern noch angeboten – sind von den Schülern praktisch kaum noch zu leisten. Die Schüler müssen früh enge Selektionsentscheidungen treffen, so dass für ernsthafte private Engagements – sei es in Jugendgruppen, sei es für Sport oder Musik, kaum mehr Raum ist. Ein Ausweg ist dann allenfalls der von einigen Eltern über die Schulbildung gestellte Sport- oder Musikhochleistungsdrill, der seinerseits oft nur demselben Muster der Aneignungsmaximierung von fachlichem Können unterliegt. Auch längere Auslandsaufenthalte an Schulen oder Schüleraustausche sind im normalen Turnus immer schwerer unterzubringen. Bepackt mit gespeichertem Wissen sollen dann – wie in anderen Ländern seit langem der Fall – die Jugendlichen schon mit 17 Jahren das Studium aufnehmen. Es liegt auf der Hand, dass nun geistige Eigenständigkeit nicht erwartet und akademische Freiheit nicht eingeräumt werden kann. Es schließt sich wiederum ein Lernbetrieb, nunmehr zur Vermittlung speziellen Wissens, an. Schon vom Alter her müssen die Studierenden, die in vielen Fällen die Heimatstadt oder gar das Elternhaus nicht mehr verlassen,15 zum Teil auch rechtlich alleine noch nicht einmal einen Mietvertrag abschließen können, eng an die Hand genommen werden. Das dem Bolognaprozess zu verdankende Bachelor-Modell16 stellt sicher, dass die Freiheit des Geistes auch nicht nachfolgt. Die Studenten werden nun in einen engen Stundenplan gepresst und mit dem zu erlernenden Stoff konfrontiert, der – dem Paradigma des „Wissenmüssens“ folgend – portioniert, durch ein europaweit vereinheitlichtes Punktesystem quantifiziert und zur stückweisen Aneignung in Form von austauschbaren Modulen präsentiert wird. Vom ersten Tag an zählt fast jede Veranstaltung für das Examen und steht unter der Alternative von Können oder Nichtkönnen. Das Studium wird zu einer Jagd nach Punkten und Noten. Fehlgeschlagene Versuche sind Niederlagen, Erfolg ist sofort gefragt – die Gesamtbeurteilung des Studiums ist die Addition des Einzelwissens. Ein solches Anreizsystem bleibt nicht ohne Folgen. Das Zweckdenken der Vor15 Der Anteil der bei den Eltern wohnenden Studenten betrug in den Jahren von 1991 bis 2009 etwa 21 bis 24 Prozent, vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hrsg.), Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2009, 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System – Ausgewählte Ergebnisse –, 2010, S. 29 (http://www.studentenwerke.de/se/2010/Kurzfassung19SE.pdf). 16 Vgl. hierzu Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur (EACEA P9 Eurydice), Hochschulbildung in Europa 2009: Entwicklungen im Rahmen des Bologna-Prozesses, 2009, S. 9 ff., 17 ff. (http://eacea.ec.europa.eu/education/eurydice/documents/thematic_reports/ 099DE.pdf).

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abitursjahre in der Schule setzt sich fort: Welche Veranstaltung bei welchem Dozenten erlaubt mit geringstem Aufwand das beste Ergebnis? Auf dem Weg des geringsten Widerstands unter optimalem Einsatz des Kurzzeitgedächtnisses und der Beherrschung effektiver Präsentation kommt man am weitesten – bleiben aber Kritik, Selbstreflektion und das Erfassen von Zusammenhängen, kurz: das Verstehen – auf der Strecke. Studium generale, Hochschulpolitik, Zusatzangebote, der Besuch von Vorlesungen anderer Fakultäten – alles Ablenkungen, die ein zielstrebiger, erfolgsorientierter Student sorgfältig in einen absoluten Nachrang zum umfassend fordernden Lernprogramm stellt, und die sich gerade diejenigen versagen, die besondere Ansprüche an sich stellen. Freiräume für individuelle Sonderwege wie etwa Doppelstudien sind unter diesen Umständen – im Übrigen oft schon rechtlich – ohnehin so gut wie verschlossen. Selbst das Auslandsstudium, das der Bologna-Prozess doch erleichtern sollte, ist in ein solch enges Zeitkorsett schwer zu integrieren: Dass Veranstaltungen ganz anderer Universitäten mit je anderem kulturellen Selbstverständnis sinnvoll verrechenbare Surrogate in einem dreijährigen Kurzstudium sein könnten, hat sich voraussehbar als Illusion erwiesen. Die Maxime der Wissensmaximierung ist dabei freilich nicht allein ein Problem des Bachelor-Modells. Auch Studiengänge, die sich – wie die Rechtswissenschaft – dem Modell bisher widersetzen konnten, sind von diesem Geist zunehmend infiziert und machen durch Schwerpunktstudien, enge Regelstudienzeiten und umfangreiche Praktika, mit denen man versucht, auch die Lücken in der vorlesungsfreien Zeit noch in Beschlag zu nehmen, die Entwicklung von Eigeninitiative immer schwerer. All dieses wird auch nicht etwa durch das Masterstudium aufgefangen. Wenn hier in zwei Jahren, oftmals sogar nur in einem, die besten Studierenden eine gehobene oder gar „exzellente“ Ausbildung erhalten sollen, meint dies in der Regel keine akademische Verbreiterung, sondern weitere Spezialisierung: Mehr Spezialwissen, jetzt möglichst ausgefallenes Wissen („Profilschärfung“). Sicher ist das zum Teil sinnvoll und wird Spezialisierung gebraucht – es kann (und will) die akademische Fundierung aber nicht ersetzen. Hinter dieser Entwicklung steht freilich ein unausgesprochener aber grundlegender Konzeptwechsel hinsichtlich der praktischen Bedeutung gymnasialer und universitärer Ausbildung, dem man auch eine Berechtigung zusprechen kann und der zumindest im internationalen Umfeld wohl unausweichlich ist: Wenn die Erhöhung der Studierendenquote17 ein aus sich selbst legitimiertes Ziel ist und die OECD – mit dem Subtext des Vorbilds – zum Teil auf Länder mit Studierendenquoten von 70 % und mehr verweist,18 kann es sich hierbei nicht mehr um eine wissenschaftliche Ausbildung im traditionell universitären Verständnis handeln – mit allen noch nicht ansatzweise verstandenen Folgen, die für die Zukunftserwartungen der Absolventen 17

Die Studienanfängerquote lag nach Angaben einer Autorengruppe im Auftrag der Kultusministerkonferenz und des BMBF 2007 bei 37,1 %, 2008 bei 40,3 % und 2009 (nach vorläufiger Zahl) bei 43,3 %; siehe Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.), Bildung in Deutschland 2010, 2010, S. 291. 18 OECD, Education at a Glance, 2010, S. 43; s. auch die dt. Übersetzung, OECD, Bildung auf einen Blick, 2010, S. 46.

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hiermit verbunden sind: Mit einem Hochschulabschluss ist dann über die beruflichen Chancen kaum mehr etwas gesagt. Man kann sich darum streiten, ob die Banalisierung des allgemeinen Universitätsstudiums für das Anliegen einer Verbreiterung der Bildung der beste Weg war. Auf jeden Fall hat sie Folgen: Wir können nicht mehr als der Hälfte der Bevölkerung mit Wissenschaftlern, die ihr Fach von eigener Forschung inspiriert und mit einem Lehrdeputat von neun Semesterwochenstunden präsentieren, eine auf immer mehr Berufe erstreckte bzw. von konkreten Berufsbildern auch abgelöste Grundlagenausbildung vermitteln; und auch ist es nicht geboten, jedem Jungstudenten in gleicher Weise unstrukturierte Freiräume zur Vertiefung zu schaffen – Freiräume, die früher, als sie bestanden, auch von den wenigen Studenten oft nicht genutzt wurden. Wir werden um diese Transformation noch zu ringen haben. Gerade dann aber, wenn das Studium heute als berufsgrundierende Massenausbildung für eine Mehrheit gelten soll und damit das Ziel hat, gerade auch Normalfähigkeiten weiterzuentwickeln, muss deutlicher von der Vermittlung von Fachwissen – das ohnehin schnell veraltet und auf dem Arbeitsmarkt an Relevanz verliert – auf ein Verstehen von Zusammenhängen hingeführt werden. Anstatt, wie vielfach, durch Collage verschiedener aus dem Zusammenhang gerissener Einzelveranstaltungen thematisch extravagante Patchwork-Studiengänge zu schaffen – deren Beurteilung Außenstehenden kaum möglich ist; großartige Selbstdarstellungen sollten hier eher Anlass zu Skepsis als zu Vertrauen geben – bräuchten wir mehr breit angelegte Grundlagenstudien. Wir fallen hier im Übrigen hinter die angelsächsischen Einsichten zurück. Die Colleges bieten den jungen Absolventen der gemeinbildenden Schulen weithin zunächst eine breite Grundlagenausbildung an, die sich noch keinesfalls als Fachwissensvermittlung für den späteren Beruf versteht. Wenn wir das Studium aber in dieser Weise öffnen, brauchen wir eigene Wege, die echte akademische Vertiefung ermöglichen. Auch wenn dieses keine große Gruppe erreichen muss, braucht unsere Gesellschaft solche Stätten der kritischen Distanz zu Wissensstand und Wissenserwerb – vermutlich in jeder Disziplin. Hier müssen Forschung und Lehre wirklich zusammenfallen, und von hier aus müssen Fragen in die Fächer und darüber hinaus in die Gesellschaft getragen werden. Durch Exzellenzprogramme und die Auslobung von Eliteuniversitäten versucht man dem beizukommen.19 Jedoch gerät man auch hier leicht in die Falle der Quantifizierung und Maximierung als Parameter von Qualität: Noch mehr Wissen in noch weniger Zeit – noch spezialisierter eingegrenzt und noch effektvoller präsentiert. Sind die zielstrebigen Viel- und Schnell-Lerner solcher Lernstätten diejenigen, von denen wir weitsichtige Entscheidungen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft erwarten? Wir brauchen auf allen Ebenen unseres Bildungssystems Freiräume und Flexibilität. Nur diese führen vom Wissen zum Verstehen, zu Kritikfähigkeit, Eigeninitiative 19

Siehe Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern gemäß Artikel 91 b Abs. 1 Nr. 2 des Grundgesetzes über die Fortsetzung der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder zur Förderung von Wissenschaft und Forschung an deutschen Hochschulen – Exzellenzvereinbarung II (ExV II) v. 4. 6. 2009 (http://www.bmbf.de/pubRD/exzellenzvereinbarung_zwei.pdf).

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und Innovation – sowie zu einem inneren Reichtum, aus dem heraus erst Antriebsund Bindungskräfte erwachsen. Diese Freiräume müssen bereits in der Schule geschaffen werden. Das meint nicht die Rückkehr zur Halbtagsschule (und dem damit verbundenen Modell der Hausfrauenehe), sondern die Öffnung der Schulen für individuelle, ggf. auch private Aktivitäten, deren Förderung, Animierung und – auch surrogierende – Verzahnung mit Schulangeboten. Es bedarf hierbei einer persönlichen Förderung, die auch von den Lehrern und der Lehrerausbildung weit mehr als Wissensvermittlung verlangt. Persönlich betreute Freiräume und Flexibilität muss auch die Universität schaffen – und sie kann und muss dieses auch dann anstreben, wenn wir, wie absehbar, im Bologna-Prozess gefangen bleiben. Der Zeitrahmen kann gestreckt, die Modularisierung durch eine inhaltliche Verknüpfung der Veranstaltungen gemindert und durch gesamthafte Abschlussprüfungen ergänzt werden. Zusatzangebote und -aktivitäten müssen honoriert und durch Verlängerung der Regelstudienzeiten gefördert, Doppelstudien im Einzelfall ermöglicht werden. Vielleicht sollte auch und gerade die Begabtenförderung nicht durch eine die Stressresistenz testende Verdichtung, sondern durch Entschleunigung geprägt sein: Für denselben „Stoff“ wie sonst im Studium könnte besonders begabten Studierenden ein Drittel mehr Zeit eingeräumt werden – zur kritischen Vertiefung, Hinterfragung und Inbezugsetzung zu punktuell fachfremden Angeboten. Zu verbinden wäre dies mit einer guten persönlichen Betreuung und einem Forum zum Dialog. Freilich würde das auch von den Hochschullehrern eine erhebliche Umstellung verlangen. In der Tat würde sich so die Ausbildungszeit zum Teil auch wieder etwas verlängern. Aber kann es richtig sein, in einer immer anspruchsvoller werdenden Lebenswelt und bei zunehmend längerer Lebenszeit die akademische Ausbildung um Jahre zu verkürzen? Soll mit 23 Jahren bereits unwiderruflich der Berufsalltag beginnen – oder braucht nicht ein Arzt, Anwalt, Richter, Lehrer oder Banker eine Reifung ermöglichende Basis, die ihn mit der geistigen Nahrung versieht, ein berufliches Ethos gegenüber einer ihm 40 bis 50 Jahre bevorstehenden Berufsroutine durchzuhalten? Die Kosten hierfür sind für ein Gemeinwesen gut investiert. III. Die Bedeutung der Medienordnung Gesellschaftliches Wissen und Verstehen hängt neben der Ausbildung maßgeblich von einer guten Medienordnung ab. Es ist geradezu unheimlich, sich bewusst zu machen, dass annähernd alles, was wir als sicher zu wissen meinen und Grundlage unserer Überzeugungen ist, für uns selbst nicht verifizierbar durch Medien vermittelt wird – aggregiert in einem individuell nicht kontrollierbaren Auswahl- und Interpretationsprozess. Es ist offensichtlich und bekannt, dass dieser Prozess nicht Kriterien der Sachrationalität folgt. Themenauswahl, Information, Interpretation und emotionale Besetzung kristallisieren sich in einem hochkomplizierten Wechselspiel zwischen Medien und Publikum nach publizistischen Kriterien heraus, die Aufmerksam-

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keitseffekte, eingeübte Reflexe und intellektuelle Kapazitätsgrenzen verarbeiten müssen.20 Wir wissen, dass die mediale Wirklichkeit nicht die Sachprobleme unserer Gesellschaft abbildet – müssen unser Urteil aber letztlich doch auf sie stützen. Wie kontingent sowohl unser individuelles wie gesellschaftliches Problemverständnis ist, zeigt sich gerade im Zeichen der Internationalisierung schmerzlich: Das Verstehen der Klimaerwärmung, der Chancen und Gefahren der Atomenergie oder Gentechnik, der Finanzmärkte oder der Herausforderungen der Medizin und Gesundheitsvorsorge unterscheidet sich zwischen den Staaten und Medienwelten grundlegend. Ein besonderes Problem der Wirklichkeitsdefinition durch die Medien liegt in deren ökonomischen Zwängen:21 Privat finanzierte Medien müssen primär wirtschaftlich sein – Tragfähigkeit ist ihre Bedingung, Gewinn oft ihr Ziel. Die Einflussmöglichkeiten drohen insoweit weder dem besseren Argument noch demokratischer Gleichheit zu folgen, sondern wirtschaftlicher Macht. Hier wie immer bei der Freisetzung von Marktkräften bedarf es einer rechtlichen Ordnung, die schädliche Anreize des freien Marktgeschehens auffängt und eine möglichst sachhaltige und vielfältige Wirklichkeitskonstruktion und Willensbildung ermöglicht.22 Freilich ist gerade der Bereich der Medien besonders empfindlich gegenüber staatlicher Einwirkung: Wie nirgends sonst bedarf es hier strikter inhaltlicher Neutralität.23 Aber dies meint nicht, dass der Staat den Markt dem nackten Prinzip privater Gewinnmaximierung unterstellen müsste und gehindert wäre, Strukturen vorzugeben, die eine differenzierte Wirklichkeitsvermittlung fördern. Eine Medienordnung, die durch Rahmenparameter das Entstehen von Medienmächten wie in den USA Fox News zu hindern sucht, ist nicht Zwangsbeglückung, sondern Ausdruck demokratischer Verantwortung für eine differenzierte Kommunikation. Unsere Rechtsordnung kennt hier deshalb zu Recht24 eine besonders strenge Kontrolle zur Verhinderung von Marktmacht, die strenger ist als im Kartellrecht sonst. Ein wesentliches Element ist hierbei aber auch ein starker öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Mit ihm institutionalisiert die Rechtsordnung die Möglichkeit medialer Vermittlung ohne zugleich unmittelbar marktlichen Zwängen und Gesetzen ausgesetzt zu sein. Durch die Gewährleistung einer – staatsfernen – Binnenpluralität können so leichter auch Perspektiven oder Fragen aufgenommen werden, die nach marktwirtschaftlich-publizistischen Gesichtspunkten keinen Raum haben. Gewährleistet der öffentlich-rechtliche Rundfunk hier ein überzeugendes Niveau, was freilich nicht von selbst gewährleistet ist,25 kann dieses auch standardsetzend auf den privaten Rundfunk zurückwirken und 20 Vgl. etwa I. Sjurts, Einfalt trotz Vielfalt in den Medienmärkten: eine ökonomische Erklärung, in: M. Friedrichsen/W. Seufert (Hrsg.), Effiziente Medienregulierung, 2004, S. 71 (77 ff.). 21 Vgl. nur BVerfGE 119, 181 (216 f.); J. Heinrich, Medienökonomie, Bd. 2, 1999, S. 120 ff., 138 ff. 22 R. Stürner, Markt und Wettbewerb über alles?, 2007, S. 87 ff., 170 ff. 23 Vgl. BVerfGE 90, 60 (88 ff.); 119, 181 (220 ff.); 121, 30 (51 ff.). 24 Vgl. BVerfGE 95, 163 (172 f.); 119, 181 (216 f.). 25 Vgl. BVerfGE 119, 181 (217 f., 219 f.).

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verhindern, dass das inhaltliche Programm nur zum Köder für das Werbeprogramm wird. Das Bundesverfassungsgericht sieht insoweit die organisatorische Gewährleistung einer Rundfunkordnung als öffentliche Aufgabe an und hat aus der Rundfunkfreiheit für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine Bestands- und Entwicklungsgarantie abgeleitet, die es ihm ermöglicht, auch unter sich verändernden Bedingungen seine Aufgaben zu erfüllen.26 Weiteres wichtiges Element einer differenzierten Medienordnung ist ein wirksames Äußerungsrecht, d. h. gerichtlich effektiv durchsetzbare Regeln über Gegendarstellung, Unterlassung und Widerruf: Handhabbare Regelungen, die einerseits gerichtlichen Schutz vor unzumutbaren, insbesondere entstellenden oder unfairen Persönlichkeitsrechtsverletzungen gewährleisten, andererseits aber eine Bevormundung der Presse durch eine richterliche Stil- und Qualitätskontrolle vermeiden. Um sie muss immer neu gerungen werden. Der Bedeutung dieser Regeln entspricht eine differenzierte Rechtsprechung, die sowohl vom Bundesverfassungsgericht als auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sorgfältig überwacht wird.27 Vor ganz neuartige Herausforderungen stellt uns schließlich das Internet. Die fundamentalen Veränderungen im Zuge der Entwicklung der Informationstechnik bilden nicht nur die Grundlage der Internationalisierung und der hieraus folgenden Auflösung staatlicher und überhaupt hoheitlicher Handlungsfähigkeit (die Finanzmarktprobleme zeigen das ebenso wie die Probleme des Umweltschutzes). Sie werden durch die raum- und zeitüberwindenden Möglichkeiten des Wissensaustauschs auch das gesellschaftliche Verstehen in einer Weise revolutionieren, die noch nicht annähernd erfasst wird. Wissensvermittlung im Netz folgt eigenen Strukturen: Sie ist schneller, punktueller und speist sich aus vielfach nicht zuordenbaren Quellen. Wie die Online-Enzyklopädie Wikipedia exemplarisch zeigt, kann das gut funktionieren.28 Es führt aber auch zu neuen Unsicherheiten. Verantwortliche Zurechnung ist kaum mehr möglich, und Berichte können von Interessierten bewusst manipuliert oder „gepflegt“ werden. Für den kurzlebigen Wissensaustausch mag dies im Grundsatz ausreichen – und die schnelle billige Verfügbarkeit ist unermesslicher Gewinn. Auch hier aber werden wir lernen müssen, die weiter zugenommene Schnelligkeit des bloßen Wissensaustausches mit einem reflektierten Verstehen in eine Balance zu bringen. Schon heute werden Schulreferate fast ausnahmslos mit freeware aus dem Internet vorbereitet. An der Universität wird dieses immer öfter auch schon versucht. Recherchierte Literatur, die nicht frei im Netz zu haben ist, bleibt damit zunehmend auf der Strecke. Für Kochrezepte mag dies angehen – aber für andere Themen werden wir hierauf eine Antwort suchen müssen.

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Vgl. BVerfGE 74, 297 (342); 78, 101 (103 f.); 83, 238 (298); 87, 181 (198); 89, 144 (153); 90, 60 (91); 119, 181 (214). 27 Vgl. nur BVerfGE 97, 125 (144 ff.); 101, 361 (379 ff.); 120, 180 (196 ff.); EGMR, von Hannover gegen Deutschland, Urteil vom 24. 6. 2004, No. 59320/00, §§ 43 ff. 28 Vgl. nur C. Stegbauer, Wikipedia: das Rätsel der Kooperation, 2009.

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Unbewältigt ist auch die tiefgreifende Spannung zwischen dem punktuell-momentan geprägten Charakter der Internetkommunikation einerseits und der Dauerhaftigkeit ihrer Datenspuren andererseits.29 Das Netz lädt ein zum spontan formlosen Kontakt im Schutz der Unverbindlichkeit und Anonymität – und kann doch fast jede Bewegung und Äußerung für immer speichern und verfügbar halten. In der Informationsgesellschaft besteht je länger je mehr die Gefahr, dass fast jede Lebensäußerung rekonstruierbar festgehalten ist – beginnend bei dem privaten Austausch über das Netz und keineswegs endend bei den Rabatt-, Kredit-, Gesundheits- und Jobkarten. Dies schafft neuartige Freiheitsrisiken, und es ist noch nicht ausgemacht, ob es gelingen kann, diese durch rechtliche Regeln aufzufangen. Dabei muss es kein Verlust sein, wenn auch privates Handeln öffentlich verfügbarer wird und wir als Personen insgesamt öffentlicher werden – dies ist wohl unausweichliches signum der Informationsgesellschaft. Es wird jedoch darauf ankommen zu verhindern, dass – wie es das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat – hierüber tendenziell Daten zu allen Aktivitäten der Bürger gespeichert und rekonstruierbar festgehalten werden.30 Differenzierter Regeln bedarf es dann insbesondere für deren Nutzung. So macht es einen Unterschied, ob die Polizei für die Strafverfolgung auf bestimmte Daten zugreifen kann oder ein Unternehmen ohne individualbezogenes Interesse zur Unterbreitung von Werbung – oder wieder anders zur Kontrolle der Arbeitnehmer. Auch hier freilich liegt die eigentliche Bewährung der Gewährleistung einer freiheitlichen Ordnung in der Frage internationaler Handlungsfähigkeit: Gegenüber den staatlichen Sicherheitsbehörden können staatliche Instanzen Grenzen aufzeigen, gegenüber internationalen Wirtschaftsakteuren sind sie weithin machtlos. Wie hier Freiheit und Schutz der Bürger gegenüber partikularen Gewinn- und Eigeninteressen gewährleistet werden können, ist eine der dringenden Fragen unserer Zeit. Die mit Blick auf das Internet und die Informationstechnik regelungsbedürftigen Probleme sind auch sonst unübersehbar. Sie beginnen beim Recht des geistigen Eigentums, das einerseits die Freiheit und das Innovationspotential des Netzes bedroht, indem es goldene Käfige über die scheinbar freien Internetangebote stülpt und durch seine intransparenten Folgen zunehmend Verunsicherung schafft, und das andererseits vor allem durch kommerzielle Aneignung und Ausnutzung von fremden Leistungen selbst in Gefahr gerät. Sie setzen sich fort in den Problemen der Bekämpfung von illegalen Internetangeboten, der Datensicherheit und des gleichmäßigen Netzzugangs.31 In allen Bereichen besteht wegen der Unübersichtlichkeit der Problemlagen und des Unterlaufens jedes Regelungsansatzes spätestens im internationalen Kontext

29 Vgl. dazu etwa die BGH-Urteile zu Onlinearchiven vom 15. 12. 2009 – BGHZ 183, 353 und VI ZR 228/08. 30 Vgl. BVerfGE 65, 1 (42 f.) und BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 2.3.2010 – 1 BvR 256/08 u. a. – (Vorratsdatenspeicherung), Rn. 218. 31 Vgl. dazu etwa B. Holznagel, Netzneutralität als Aufgabe der Vielfaltssicherung, K&R 2010, S. 95; vgl. ebenso F. Ufer, Der Kampf um die Netzneutralität oder die Frage, warum ein Netz neutral sein muss, K&R 2010, S. 383.

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eine gewisse Ratlosigkeit, ist aber ein rechtlicher Rahmen für Wissensgenerierung, Innovation und Verstehen in der Informationsgesellschaft zentral.32 Die vielleicht folgenreichsten Probleme des Internets für die Konstituierung gesellschaftlichen Wissens und Verstehens begründen dessen zentrifugale Kräfte. Dezentralität und Individualität schaffen nicht nur ein Gegengewicht zur Macht der Massenmedien, sondern heben auch deren Bindungskraft auf. Im Netz konstituieren sich communities ohne räumliche und lebensweltliche Grenzen nebeneinander. Die große Chance, dass auch Minderheiten und Randgruppen ein Forum und Zusammenhalt finden, hat ihren Preis: Die Einbindung und Integration der vielen Stimmen in einen übergreifenden Kommunikationsprozess schwächt sich ab. Ein auf die politischen Strukturen bezogenes, die demokratische Willensbildung anleitendes gemeinsames Verstehen wird unter diesen Bedingungen schwieriger. Die Probleme bei der Integration von Migranten sind insoweit nur Ausdruck eines allgemeineren Problems. IV. Wissen und Nichtwissen Der Partikularisierung der Kommunikation entspricht eine Partikularisierung des Wissens. Ähnlich wie unter diesen Bedingungen demokratische Herrschaft an ihre Grenzen geführt wird, verliert sich auch die Beherrschbarkeit der Informationsmengen: Die exponentielle Vermehrung des verfügbaren Wissens erleichtert nicht, sondern erschwert das Verstehen. Zunächst ist das Anwachsen der Informationen und insbesondere ihre automatisierte Auswertung und Rekombination eine neue Ressource, die insbesondere in den Naturwissenschaften in atemberaubendem Umfang und Tempo Fortschritte erlaubt. Dort jedoch, wo eine Nutzung nicht mehr durch Addition, Abgleich und Spezifizierung, sondern erst in der individuell-gedanklichen Verarbeitung fruchtbar wird, stößt die Menge des zuhandenen Wissens schnell an Kapazitätsgrenzen. Harmlos erscheint zunächst noch das Beispiel des Konzerns BP, der im Internet um Ideen bat, wie das Ölleck im Golf von Mexiko geschlossen werden könnte:33 Wie sollten die ca. dreihunderttausend Vorschläge, die in einer Vielzahl von Sprachen eingegangen sind, ausgewertet werden? Vielleicht handelt es sich hier auch nur um einen PR-Gag. Dahinter verbirgt sich aber eine sehr ernsthafte Herausforderung, die durch die Informationstechnik zwar nicht neu geschaffen, aber in eine neue Dimension überführt wird: Wird es gelingen, die unbeherrschbare Masse von Informationen zu einem Verstehen zu verarbeiten, das in einer immer enger miteinander verknüpften Welt sachlich fundierte Entscheidungen und vernünftige Orientierung erlaubt?

32 Vgl. auch W. Hoffmann-Riem, Grundrechts- und Funktionsschutz für elektronisch vernetzte Kommunikation, AöR 134, 2009, S. 513. 33 Vgl. den Bericht der Zeitschrift Stern vom 3. Juni 2010 über den Internetauftritt http:// www.horizonedocs.com/ (http://www.stern.de/wissen/natur/abstruse-ideen-mit-atombombengegen-die-oelpest-1571403.html).

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Es ist Ausdruck des Problems selbst, dass sich über die Dimension dieser Frage keine allgemein fundierten Aussagen, die die jeweiligen Bereiche der Natur-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften übergreifen, machen lassen: Wahrscheinlich gibt es niemanden, der über einen solchen Erfahrungs- und Verstehenshorizont verfügt. Für das gesellschaftswissenschaftliche und insbesondere rechtswissenschaftliche Verstehen sind die Herausforderungen jedenfalls unbewältigt und als Anfrage an die Fähigkeit der politischen und rechtlichen Institutionen zu rationalem Entscheiden folgenreich. An die Grenzen der Verarbeitungsmöglichkeiten gelangt schon die rechtswissenschaftliche Fachdiskussion selbst. Die Wahrung eines Überblicks über die Fachliteratur ist schon innerstaatlich längst nicht mehr möglich – weder über die des Faches, noch des Teilfachgebietes, noch auch nur über den Bereich der Lehrbefugnisse, wie sie üblicherweise verliehen werden. Selbst über grundlagenbezogene Einzelthemen kann heute oftmals der Diskussionsstand nicht mehr überblickt werden. Dieses wäre oft auch gar nicht gewinnbringend – zu viel wiederholt sich angesichts der kaum mehr begrenzten Publikationsmöglichkeiten. Rationale Kriterien der Auswahl bestehen dann aber nur sehr begrenzt. Vielmehr entstehen so oft beziehungslos nebeneinander herlaufende Einzeldiskussionen zu ähnlichen oder auch zu denselben Themen – und nicht selten erscheinen die Veröffentlichungen als Monologe der Autoren, die unter dem Zeit- und Veröffentlichungsdruck des Wissenschaftsbetriebs kaum mehr rezipiert werden. Die Gegenbewegung ist eine Spezialisierung in technische Einzelfragen oder in die anwendungsbezogene Aufarbeitung der Rechtsprechung um den Preis, den Anschluss an Parallelfragestellungen und die Rückbindung an fundierende Grundprinzipien zu verlieren. Vollends fehlt es an auch nur ansatzweise hinreichenden Verarbeitungskapazitäten für ein Verstehen anderer Rechtsordnungen. Als Beispiel diene hier nur die politisch bedeutsame Frage verschiedener Regulierungsregime und ihre Folgen. Schon zwischen Frankreich und Deutschland, zwei eng verbundenen Rechtsordnungen bei relativ guten gegenseitigen Sprachkenntnissen, bestehen hier hinsichtlich der Grundkategorien, Institutionen, Legitimationsvorstellungen und Entscheidungsmechanismen rechtliche Diskrepanzen,34 die – beide Seiten durchdringend – von praktisch keinem Wissenschaftler mehr nachvollzogen, geschweige denn zusammengeführt werden können. Erst recht gilt das, wenn man den Kreis der Länder erweitert. Macht man sich bewusst, dass in der eng gewordenen Welt der Informationsgesellschaft Regulierung in praktisch allen Bereichen international zumindest anschlussfähig, wenn nicht abgestimmt sein muss und dass es Aufgabe der Rechtswissenschaft ist, solche Regelungsmöglichkeiten zu erarbeiten, gibt das Anlass zur Sorge. Solche Grenzen des Verstehens werden auch in der Praxis der Gerichte bereits ein Problem – und zwar selbst dort, wo es ein scheinbar so klares gemeinsames Fundament wie die Menschenrechte gibt. Im Dreieck der „Grundrechtsgerichte“ (Europäi34 Vgl. dazu nur J. Masing/G. Marcou (Hrsg.), Unabhängige Regulierungsbehörden. Organisationsrechtliche Herausforderungen in Frankreich und Deutschland, 2010.

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scher Gerichtshof für Menschenrechte, Gerichtshof der Europäischen Union und die einzelstaatlichen Verfassungsgerichte) wäre es heute eigentlich angemessen, in Grundsatzfragen einen Überblick über das Rechtsverständnis auch anderer Länder zu haben. Selbst ein Gericht wie das Bundesverfassungsgericht ist damit aber schnell überfordert. Im Vorfeld einer Grundsatzentscheidung zur Meinungsfreiheit wurden etwa für das Verständnis der Rechtsprechung allein des EGMR ca. 40, teils nur in englischer und in französischer Sprache zugängliche Entscheidungen durchgesehen sowie eine gleichfalls große Zahl von Urteilen des U.S. Supreme Court sowie weiterer Gerichte aus anderen Ländern in den Blick genommen – allein die drei jüngsten unmittelbar einschlägigen Urteile aus Kanada umfassten 300 Seiten. Und auch dann mussten viele Länder noch unberücksichtigt bleiben. Nicht erst die Sprachgrenze markiert hier eine Grenze der verständigen, letztlich individuellen Verarbeitung – eine Verarbeitung, die auch ein Mitarbeiterstab nur vorbereiten, nicht aber ersetzen kann. Noch zugespitzter stellt sich dieses Problem auf der Ebene der europäischen Gerichte. Wenn der Gerichtshof der Europäischen Union früher allgemeine europäische Rechtsgrundsätze aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten abzuleiten suchte, ist ihm dies jedenfalls heute in einem fundierten Sinne objektiv unmöglich. Auch sein insoweit bemerkenswert gut ausgestatteter Stab kann das nicht mehr leisten. Beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Jurisdiktion mittlerweile 47 Länder mit 34 Sprachen35 umgreift, gilt dieses erst recht. Ein Verstehen der Bedeutung der einzelnen Entscheidungen für all diese Länder ist hier für die nicht in ihrer Muttersprache entscheidenden Richter von vornherein nicht möglich – obwohl zugleich jede Entscheidung als Präzedenzfall in diese einwirkt. Es fehlt hier schon sprachlich die Möglichkeit der Richter, die verschiedenen Diskurse und Kritiken in der jeweils mitgliedstaatlichen Literatur auch nur zur Kenntnis zu nehmen: Wenn die deutsche oder die bulgarische Presse und Fachliteratur die Rechtsprechung kritisch kommentiert – wie soll dies der ukrainische Richter erfahren? Dabei sind nur wenige Fragen durch einzelstaatliche Traditionen so geprägt wie das Recht, und auch hinsichtlich der Menschenrechte besteht zwischen den Rechtskulturen hier auch nicht annähernd Übereinstimmung. Unbezweifelbar aber muss der Gerichtshof dennoch kraftvoll entscheiden und ist unter internationalisierten Wirtschafts- und Lebensbedingungen ein gemeinsamer Mindeststandard an Grundrechten ein Gebot der Stunde. Die Informationsgesellschaft macht es möglich und notwendig, immer mehr zu wissen. Wir können dem jedoch auch nicht annähernd nachkommen. Von der Energieversorgung über den Klimaschutz bis zur Ordnung der Finanzmärkte müssen wir im Kern in Unwissenheit entscheiden – was umso leichter dazu führt, dass wir in internationalen Verhandlungszusammenhängen überhaupt nicht mehr zu Entscheidungen finden. Die moderne Wissenssoziologie sieht denn auch in der Rationalisierung des Umgangs mit Nichtwissen eine der großen Herausforderungen eines Verstehens 35 Siehe die inoffiziellen Übersetzungen der Konvention in die Sprachen der Mitgliedstaaten: http://www.echr.coe.int/echr/en/header/basic+texts/the+convention+and+additional+protocols/the+european+convention+on+human+rights.

Wissen und Verstehen in der „Wissensgesellschaft“

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im Informationszeitalter.36 Jedenfalls ist deutlich, dass das richtige „Wissen-Müssen“ heute nicht allein in der optimierenden Ansammlung und Allokation von Kenntnissen liegen kann, sondern mehr denn je die Reflektion der Beschränktheit menschlicher Erkenntnisse umfassen muss. Wir müssen nicht nur wissen, sondern auch verstehen – und dabei auch verstehen, dass wir oft handeln müssen, ohne zu wissen.

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Vgl. zur Erörterung im juristischen Kontext: A. Scherzberg, Wissen, Nichtwissen und Ungewissheit im Recht, in: C. Engel/J. Halfmann/M. Schulte (Hrsg.), Wissen – Nichtwissen – Unsicheres Wissen, 2002, S. 113 (insb. 121 ff.); I. Appel, Methodik des Umgangs mit Ungewissheit, in: E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 327 (327, 336 ff.).

Der Staat – Folge eines Fluchs. Konstitutionalismus und Staatlichkeit in der politischen Philosophie Schellings Von Walter Pauly, Jena

I. Aus einem Tagebuch der Revolution 1848/49 Die Paulskirchenverfassung steht für eine „Verbindung von individueller und politischer Freiheit“.1 Um so mehr verwundert der Widerwille, mit dem der bekennende Freiheitsphilosoph Friedrich W.J. Schelling (1775 – 1854) die Revolution von 1848 betrachtete. Der alte Schelling erlebte sie als Zeitzeuge vornehmlich in Berlin und bedachte sie in seinen Tagebüchern mit ablehnenden Worten. Ganz anders erscheint noch der junge Schelling, der sich im Tübinger Stift mit Hegel und Hölderlin für die Französische Revolution begeistert hatte und in den Verdacht geraten war, aufwieglerisch die Marseillaise ins Deutsche übertragen zu haben.2 Trotz guter Quellenlage blieb allerdings die Frage einer „jugendliche Aufsässigkeit“ übersteigenden revolutionären Aktivität letztlich offen.3 Die für Schellings abschätzige Beurteilung der Paulskirchenbewegung einschlägigen Tagebücher der Jahre 1848 und 1849 sind erst 1990 bzw. 2007 veröffentlicht worden.4 Bereits die Pariser Februarrevolution nannte Schelling im Anschluss an ein „Brüsseler Blatt“ ein „großes Verbrechen gegen die ganze europäische Gesellschaft“5 und vermerkte bereits vor ihrem Ausbruch, es sei nicht nur beabsichtigt, eine Regierung oder Dynastie, sondern „die ganze Gesellschaft umzustürzen.“6 Mehrfach betonte Schelling denn auch die Auf1 Wahl, Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl., 2003, S. 70. 2 Von revolutionären „Machenschaften“, die Schelling an den Rand eines Verweises aus dem Stift brachten, spricht Tilliette, Schelling, 2004, S. 18 ff. m. w. Nw.; zu Schellings Rolle in dem als „Unsinnskollegium getarnten politischen Club“ in der Stiftszeit Jacobs, Schellings politische Philosophie, in: Hasler (Hrsg.), Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte, 1981, S. 289 ff. 3 Jacobs, Zwischen Revolution und Orthodoxie? Schelling und seine Freunde im Stift und an der Universität Tübingen, 1989, S. 11 ff., 45 u. 111. 4 Zur Forderung, die 1809 einsetzenden, in der Akademie der Wissenschaften der DDR zu Berlin lagernden Diarien „endlich“ öffentlich zu machen, vgl. Sandkühler, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 1970, S. 23. 5 Schelling, Das Tagebuch 1848. Rationale Philosophie und demokratische Revolution, hrsg. v. Sandkühler, 1990, S. 46. 6 Schelling (Fn. 5), S. 24.

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spaltung der revolutionären Bewegung in „Bürger“ einerseits und „Proletarier“ andererseits,7 die er schon zu Beginn der Revolution in ihrem Interessengegensatz erfasste, wenn er am 19. März 1848 festhielt, nach Abzug der königlichen Truppen aus Berlin „wird jetzt plötzlich die Bürgerschaft bewaffnet, als angeblich einziges Mittel, den Pöbel, die Proletarier, niederzuhalten“.8 Und Anfang April bilanziert Schelling: „In der Tat mit dem wissenschaftlichen Communism fings an“.9 Auch im Rückblick über drei Jahre bezeichnete er das „Proletariat“ als „den großen Stein des Anstoßes aller neuern Entwicklung“.10 Diese Einlassungen widerlegen die Einschätzung, Schelling habe der Kenntnis über die sozialen Ursachen der Revolution entbehrt.11 Denn erst daneben erblickte Schelling den Auslöser der Revolution in den „unsicher hin und her tastenden Maßnahmen der Regierung, – der Halbheit und Unentschiedenheit“12 und verurteilte insbesondere die „Nachgiebigkeiten der elenden süddeutschen Fürsten (heute sogar des Bundestags) in Ansehung Pressfreiheit etc. etc.“.13 So sei der entscheidende „18. März für Berlin und Preußen ein bloßer Putsch“ gewesen, der „nur durch die Feigheit, Schwäche und zum Theil den Verrath der augenblicklichen Gewalthaber zur Revolution wurde.“14 Den einzigen Anhaltspunkt für eine „unbestreitbare zeitweilige Hoffnung“ Schellings auf eine „konstitutionelle Entwicklung Deutschlands“15 in der Revolutionssituation 1848 liefert eine Passage aus einem Brief an den bayerischen König von Anfang April, in der er sich gegen eine Erklärung der Revolution „durch bloßen Zufall“ wendet und sich auf „Gottes Fürsehung“ beruft, in der eine „große Regeneration Deutschlands und dadurch der Welt“ beschlossen liege.16 Schelling spricht von einer „Wiedergeburt, nicht ohne schmerzvolle Wehen und unter – jetzt von der 7

Schelling (Fn. 5), S. 50. Schelling (Fn. 5), S. 52. 9 Schelling (Fn. 5), S. 64; zu Schellings Sozialismus- bzw. Kommunismusverständnis zusammenfassend Sandkühler, Revolution, bürgerliche Gesellschaft, Recht und Staat. Schelling und Hegel, in: Ameriks/Stolzenberg (Hrsg.), Der Begriff des Staates. Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 2 (2004), S. 288 ff. m. w. Nw. 10 Schelling, Brief an König Maximilian II. vom 15. Februar 1851, in: Trost/Leist (Hrsg.), König Maximilian II. von Bayern und Schelling. Briefwechsel, 1890, S. 200. 11 Schraven, Schelling und die Revolution von 1848, in: Jaeschke (Hrsg.), Philosophie und Literatur im Vormärz, 1995, S. 205, der angesichts entsprechender Übernahmen aus Zeitungsausschnitten Schelling die Schuld namentlich auch bei „Volksverführern“ und „Aufwieglern“ suchen lässt. 12 Schelling (Fn. 5), S. 64. 13 Schelling (Fn. 5), S. 47. 14 Schelling, Brief an seinen Bruder Karl vom 24. Juni 1849, in: Plitt (Hrsg.), Aus Schellings Leben. In Briefen, Bd. 3 (1821 – 1854), 1870, S. 220. 15 So Sandkühler, F.W.J. Schelling – Philosophie als Seinsgeschichte und Anti-Politik, in: Pawlowski u. a. (Hrsg.), Die praktische Philosophie Schellings und die gegenwärtige Rechtsphilosophie, 1989, S. 216, mit Fehlzitat in Fn. 39. 16 Schelling, Brief an König Maximilian II. vom 2. April 1848, in: Trost/Leist (Fn. 10), S. 149 f. 8

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Menge freilich nicht geahndeten Schwierigkeiten“, wobei allerdings „von dem Weg selbst […] nicht mehr zurückzutreten“ sei, schon um im Mitgehen „der Bewegung mächtig zu bleiben“ und um auf diese Weise „neben der Freiheit auch die Gesetzmäßigkeit“ erhalten zu können.17 Um der dauernden Sicherung dieser Verbindung willen erklärt Schelling sodann nicht nur „eine mit allen Attributen der Macht ausgerüstete, starke Regierung für gemeinsame Angelegenheiten“ über den deutschen Einzelstaaten zur Notwendigkeit, sondern ebenso „ein ehrfurchtgebietendes Oberhaupt, mit einem das allgemeine Bewusstsein wirklich vertretenden Parlament an der Seite!“ Dass Schelling sich die zitierte große Regeneration gerade nicht von der Paulskirche18 erhoffte, in der zu dieser Zeit das „Vorparlament“ tagte, belegt ein kurz darauf verfasster Brief an seinen Bruder Karl, der lediglich die „ferne Aussicht“ einer radikalen Heilung von Deutschlands langem Elend herausstellt: „aber Du und ich werden es nicht mehr erleben.“19 Und wenn Schelling dem ihm keineswegs wohlgesonnenen Zeitgenossen Varnhagen von Ense zufolge zu diesem Zeitpunkt „alle Fassung verloren“ hatte und „so blindwütend war“, dass er äußerte, „das Volk müsste man mit Kartätschen zusammenschießen“,20 dann widerlegt dies an die tagespolitischen Vorgänge geknüpfte, hoffnungsfrohe politische Erwartungen. Das Tagebuch verzeichnet denn auch eine Tendenz, „die Zeitungen nicht mehr zu lesen“, da es „zu schmerzhaft sei“, auf diese Weise täglich „neue Verkehrtheiten“ zur Kenntnis nehmen zu müssen.21 Schellings Sicht der Paulskirche und der proletarischen Revolution ist im Tagebuch stark durch die Perspektive persönlicher Qualitäten, Haltungen, Einsichten und vor allem Bildung geprägt, die er nicht nur dem Proletariat absprach, wenn er die „Nichtintelligenz“ nunmehr auf die „Schaubühne“ gebracht sah.22 Die sozialökonomische Lage, die Klassen- und Produktionsverhältnisse spielten bei ihm dagegen kaum eine Rolle. Er registriert „Tausende von Schneidern, Schustern, Tischlern“, die Kleider- und Möbelhandlungen zerstören, Bäckerläden bedrohen, ins Zeughaus eindringen, um „Flinten, Pistolen, Schwerter (selbst Trophäen), Kugeln etc.“ zu entführen, und Wahlgesetze, die „Tagelöhner, Gärtner und dergleichen“ statt „Geistlicher oder überhaupt Gebildeter“ ins Parlament bringen.23 Von der Demolierung des Palais 17

Schelling (Fn. 16), S. 150. So aber Sandkühler, Einleitung. Positive Philosophie und demokratische Revolution, in: Schelling (Fn. 5), S. XL, unter der Annahme, Schellings politisches Urteil sei „ambivalent“ ausgefallen. 19 Schelling, Brief an seinen Bruder Karl vom 4. April 1848, in: Plitt (Fn. 14), S. 213. 20 Varnhagen von Ense, Brief an Troxler vom 5. April 1848, in: Stiftung von Schnyder von Wartensee (Hrsg.), Der Briefwechsel zwischen Ignaz Paul Vital Troxler und Karl August Varnhagen von Ense 1815 – 1858, 1953, S. 337 im Postskriptum. Dass Schelling vor der Revolution bereits „allem Konstitutionswesen gründlich entgegen“ gewesen sei, aber dennoch dafür plädierte, „Reichsstände zu berufen“, die der König dann „scharf im Zügel halten müsse“, berichtet Varnhagen am 22. März 1846 unter Berufung auf den Grafen Kleist, der Schelling am Vorabend besucht hatte; vgl. Varnhagen von Ense, Tagebücher, Dritter Band, 1862, S. 321. 21 Schelling (Fn. 5), S. 64, notiert unter dem 10. April 1848. 22 Schelling (Fn. 5), S. 67. 23 Schelling (Fn. 5), S. 68, 76 f. u. 88. 18

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des Prinzen von Preußen kann die Masse nur durch den Verweis darauf abgehalten werden, dass es sich um „Bürger- und National-Eigentum“ handele, was denn auch „mit großen Buchstaben“ an die Mauern geschrieben wird.24 Schelling notiert hintereinander die „Zerstörung der Taunuseisenbahn – Verbrennung herrschaftlicher Schlösser – Vertreibung der Juden“, hält fest, dass schändlicher „Neid“ die Zeit regiere, in der es „ein Verbrechen ist, etwas zu besitzen“ und in der der „ungeschickte Tagelöhner“ ebenso entlohnt werden wolle wie der geschickte.25 Bei seinen Spaziergängen „Unter den Linden“ erfährt Schelling „wenig Erbauung über so viele müßige branntwein-[…] Arbeiter“ und schimpft auf „zungenfertige Müßiggänger […], die der Welt durch unmögliche Institutionen goldene Berge und ein Narrenparadies verheißen“.26 In diesem Sinne habe Deutschland auch „nichts mehr geschadet als die vielen kleinen Staaten mit Verfassung und ständischen Versammlungen, die sich berufen glauben, über Staats-Angelegenheiten zu reden, […] und unter denen sogar, je kleiner die Staaten, desto unfehlbarer der Trieb, sich bedeutend zu machen, wozu Skandal das Hauptmittel“ sei.27 Über das Vorparlament heißt es dann auch, „sinnlosere Diskussionen“ habe man nie gesehen, Dahlmanns Verfassungsentwurf wird als „höchst schwach“ befunden und im November 1848 das „ganze Schülerhafte der Frankfurter Versammlung“ betont.28 Die Einsetzung des Erzherzogs Johann von Habsburg als Reichsverweser hatte Schelling bereits im Juli mit „die Dummheit in Frankfurt a. M. ist vollbracht“ kommentiert und dabei die Rede von „Johann ohne Land“ aufgenommen.29 Damit sei der „preußische Geist erwacht“ und mit „Worten ohne Taten“ lasse sich nichts ausrichten, sondern derjenige, der „zuerst mit höherer gelungener Tat sich ausweist, wird Herr sein; dem wird alles zufallen.“30 Wegen der ausgreifenden Inanspruchnahme von Kompetenzen seitens der Frankfurter Reichsversammlung exzerpiert Schelling aus der Augsburger Zeitung, „wir haben jetzt gar keinen Rechtsboden mehr“.31 Gagerns kühner Griff, die „Verkündung der Volks-Souveränität“, habe in den „einzelnen Staaten das Ansehen von Recht und Gesetz aufs tiefste erschüttert“, wie überhaupt durch den andauernden Revolutionszustand „dem Volke der Sinn für die Heiligkeit eines Rechtszustandes ganz verloren“ gegangen sei.32 Den Sieg der Gegenrevolution in Wien begrüßt Schelling im Spätherbst 1848 als „glückliches Augurium“ und äußert im Hinblick auf das merkliche Widerstreben der vertagten preußischen Nationalversammlung, allein ein „echter Despotismus wie der 24

Schelling (Fn. 5), S. 54. Schelling (Fn. 5), S. 67 u. 166. 26 Schelling (Fn. 5), S. 82 f.; Schelling wohnte seit 1844 „Unter den Linden 71“, vgl. Tilliette (Fn. 2), S. 400. 27 Schelling (Fn. 5), S. 59. 28 Schelling (Fn. 5), S. 67, 75 u. 168. 29 Schelling (Fn. 5), S. 100. 30 Schelling (Fn. 5), S. 100. 31 Schelling (Fn. 5), S. 171. 32 Schelling (Fn. 5), S. 171. 25

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russische“ scheine ein „Ende der jetzigen Bewegung in Aussicht zu stellen“.33 Im Abgesang auf die gescheiterte Paulskirche schreibt Schelling, es sei „herzlich dumm und einfältig“ gewesen, „dem König von Preußen zuzumuten, ein angestammtes wohlgeordnetes, einheitliches, kräftiges Reich aufzugeben für eine Phantasiekrone“, um sich später „mit um so leichterer Mühe auch vom Kaiserstuhl vertreiben zu lassen.“34 In der sog. „Reichsverfassungskampagne“ sieht er Heinrich von Gagern nun „offen zu den Feinden alles Rechts und alles Gesetzes übergehen“, um mit ihrem „Machwerk der Unsittlichkeit und des Verderbens zu leben und zu sterben“.35 Noch im September 1849 erinnert Schelling an die „Strafpflicht“ des Staatsoberhauptes.36 Gleichwohl kann Schelling nicht ohne weiteres als politischer Reaktionär eingeordnet werden.37 Gewiss, er wies Gagerns „wahren Aberglauben an die monarchischrepräsentative Verfassung“ zurück,38 und für ihn gab das „demokratische Konstitutionswesen […] den Mittelmäßigkeiten Carte blanche“.39 Zugleich konnte er indes gegenüber dem bayerischen König Ende 1848 „die Wahlen tüchtiger Handwerksmeister und solider, ihren wahren Vorteil verstehender Gewerbsleute so schlimm nicht finden“.40 Seine Ablehnung der Republik stützte Schelling gerade auf das Argument, sie sei die „mit wahrer Freiheit unverträglichste Staatsform“.41 Denn bei einer „monarchischen Verfassung“ könne „jeder Staatsangehörige weit ungestörter seinem Berufe nachgehen, sich selbst heben und in seiner Individualität entwickeln“, als dies die „republikanische Verfassung“ zulasse.42 Die Monarchie steht danach für die „geräuschlose Studierstube des Gelehrten, die stille Werkstatt des Künstlers, die Zurückgezogenheit des Philosophen“ und führt auf diese Weise zu „immer höherer Vollkommenheit“ des Staates, während in der Republik „das Geräusch der Oberfläche“ alle Vertiefung hindert und auch das „demokratischste Parlament“ wie alle konstitutionellen Rechte am Ende die „Innerlichkeit verschliessen“, indem sie die „Äußerlichkeit öff33

Schelling (Fn. 5), S. 165. Schelling, Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1849. Niederlage der Revolution und Ausarbeitung der reinrationalen Philosophie, hrsg. v. Schraven, 2007, S. 61. 35 Schelling (Fn. 34), S. 61. 36 Schelling (Fn. 34), S. 90. 37 Die zeitgenössische Bezeichnung als „großen Reactionär[]“ in der Casseler Beilage der Augsburger Allgemeinen Zeitung überträgt Schelling (Fn. 5), S. 150, unkommentiert in sein Tagebuch. Dass diese Charakterisierung nicht „hinreichend“ ist, betont Schraven, Philosophie und Revolution. Schellings Verhältnis zum Politischen im Revolutionsjahr 1848, 1989, S. 125. Dagegen stellt Jaspers, Schelling. Größe und Verhängnis, 1955, S. 251, eine „fraglose Einmütigkeit mit den konservativen Mächten“ heraus; deutlicher Widerspruch bei Hollerbach, Der Rechtsgedanke bei Schelling. Quellenstudien zu seiner Rechts- und Staatsphilosophie, 1957, S. 273 m. w. Nw. 38 Schelling (Fn. 5), S. 167. 39 Schelling (Fn. 34), S. 46. 40 Schelling, Brief an König Maximilian II. vom „heiligen Christfeste 1848“, in: Trost/Leist (Fn. 10), S. 169. 41 Schelling (Fn. 5), S. 82. 42 Schelling (Fn. 5), S. 86. 34

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nen“.43 Der Staat soll danach, wie Schelling gegenüber dem bayerischen König resümierte, nicht als „Gegenstand und Zweck der individuellen Freiheit“, sondern als deren „Bedingung und Voraussetzung“ fungieren.44 Studierzimmer und Werkstatt belegen, dass Schelling hierbei durchaus bürgerliche Freiheiten vor Augen standen. Die Stände waren ihm zufolge auf „häusliche Angelegenheiten“ verwiesen und sollten sich von den „Staats-Angelegenheiten“ fernhalten,45 auf welchem Gebiet sie die Regierungen ohnehin nur „hemmen“ und „hindern“ statt „verbessern“ würden.46 Erfordert war Schelling zufolge dabei eine qualifizierte Mitwirkung, die er insbesondere am Bildungsstand festmachte. Selbstredend blieb damit für den Gedanken politischer Gleichheit oder gar Volkssouveränität kein Raum. Ende 1848 sah Schelling für die deutschen Fürsten den Augenblick gekommen, nicht nur „ihre und ihrer Länder Angelegenheiten selber wieder in die Hand“ zu nehmen, sondern auch „dem Reich eine Verfassung“ zu oktroyieren.47 Schelling favorisierte eine „Triarchie“ bestehend aus Österreich, Preußen und Bayern, um „sogleich die unerläßliche Dictatur“ zu übernehmen.48 In einem Brief an seinen Schwiegersohn,49 den Verfassungshistoriker Georg Waitz, der der Frankfurter Nationalversammlung angehörte, plädierte Schelling für eine großdeutsche Lösung, die auf eine umfassende Einbeziehung Österreichs abzielte. Nicht ein „homogenes Deutschland“, sondern ein „Volk von Völkern“ sei die Sache der Deutschen.50 Preußen und Österreich seien geborene Oberhäupter dieses Reiches, aber der „wahre Kaiser“ als „drittes Element“ sei durch Wahl zu bestimmen.51 Hierfür hatte Schelling seinen Zögling, den bayerischen König Maximilian II., vorgesehen, dem er schon früh empfahl, 43 Schelling (Fn. 5), S. 86 f.; für die entsprechende Abneigung gegen die „konstitutionellen Schematisten“, namentlich „Gagernsch[e] Familienprodukt[e]“, denen der „kühne Greifer seine Weihe gegeben“ hat, vgl. ders. (Fn. 34), S. 60. Schellings Verortung als Sympathisant der „gemäßigten Konstitutionalisten mit ständischer Prägung“ bei Cesa, Die politische Philosophie des „deutschen Idealismus“. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, in: Fetscher/Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 4, 1986, S. 228, erscheint von daher zumindest präzisierungsbedürftig. 44 Schelling, Brief an König Maximilian II. vom 17. Dezember 1853, in: Trost/Leist (Fn. 10), S. 243. Dass das Freiheitsanliegen nicht die „theoretisch eben so grundseichten als praktisch grundschlechten Grundrechte“ der Paulskirche heiligte, ergibt sich aus Schellings Brief an König Maximilian II. vom 5. Mai 1849, ebd., S. 175; im Brief vom 15. Februar 1851 ist von „heillosen Grundrechten“ die Rede (ebd., S. 201). 45 Schelling (Fn. 5), S. 59. 46 Schelling (Fn. 34), S. 115. 47 Schelling (Fn. 40), S. 168. Ausführliche Schilderung der politischen Optionen Schellings in der Revolutionsphase bei Kampffmeyer, Schelling und Deutschland, Diss. phil. Heidelberg 1939, S. 363 ff., 390 ff. u. 409 ff. 48 Schelling (Fn. 40), S. 169. 49 Georg Waitz hatte 1842 Schellings Tochter Clara geheiratet; seine Tochter Caroline besuchte in Berlin den liberal gemäßigten „Konstitutionellen Klub“ wie auch sein Sohn Hermann und Schwiegersohn Carl Ulrich Ritter und Edler von Zech; vgl. Schelling (Fn. 5), S. 70 f. 50 Schelling, Brief an Waitz vom 12. Februar 1849, in: Plitt (Fn. 14), S. 215. 51 Schelling (Fn. 50), S. 216.

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„sich selbst“, quasi als Opfer, für die deutsche „Einheit und Größe“ zu geben.52 Hiervon unbeeindruckt trat Waitz in der Paulskirche jedoch für eine kleindeutsche Lösung ein und stimmte bei der Kaiserwahl für den Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV., dem auch Schelling persönlich verpflichtet war.53 Schellings bayerischen Pläne gingen nicht auf und er zeigte sich schließlich enttäuscht, als die Bayern auch noch dem preußisch geführten Dreikönigsbündnis fernblieben.54 II. Variationen des Staatsgedankens 1. Der Staat soll aufhören Hegels Abschrift des mutmaßlich vom jungen Schelling um das Jahr 1776 verfassten55 sog. „Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus“ enthält die entschlossene Ankündigung, „das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfaßung, Regierung, Gesetzgebung – bis auf die Haut“ zu entblößen.56 Die radikale Forderung lautet, „wir müßen also auch über den Staat hinaus!“, denn vom Staat gebe es „keine Idee“, da er nicht „Gegenstand der Freiheit“ sei. Jeder Staat müsse „freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln“ und das solle er nicht: „also soll er aufhören.“ Kongenial zerreibt Schelling zur selben Zeit sogar das Naturrecht, das sich „in seiner Consequenz“ selbst zerstöre und „alles Recht aufhebe“,57 weshalb man seine Anfang 1796 entstandene58 „Neue Deduktion des Naturrechts“ auch eine „Destruktion“59 desselben genannt hat. Ausgehend von der moralischen Forderung, „abso52

Schelling (Fn. 16), S. 151. Von Friedrich Wilhelm IV. 1841 als Waffe gegen den Hegelianismus von München nach Berlin berufen, fand Schelling zunächst zahlreiche, bald aber enttäuschte Hörer, darunter Sören Kierkegaard, Friedrich Engels, Alexander v. Humboldt, die Historiker Burckhardt, Droysen und Ranke, Carl Friedrich v. Savigny und Michail Bakunin. Nach verlorenem Prozess über ungenehmigt publizierte Vorlesungsnachschriften hielt Schelling, enttäuscht von der ausgebliebenen Intervention des Königs, nur noch vereinzelt Akademievorträge und verkehrte gelegentlich bei Hofe; vgl. Schraven (Fn. 11), S. 193 f. 54 Schelling, Brief an König Maximilian II. vom 22. Juli 1849, in: Trost/Leist (Fn. 10), S. 178. 55 Zur Autorschaft Schellings Tielliette (Fn. 2), S. 46 m. w. Nw.; Ausschluss von Hegels Verfasserschaft bei Jaeschke, Hegel-Handbuch, 2003, S. 79, sowie zum Streitstand ebd., S. 76 ff. m. w. Nw. 56 Zitiert nach dem Abdruck in: Jamme/Schneider (Hrsg.), Mythologie der Vernunft. Hegels „ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus“, 1984, S. 11 f. 57 Schelling, Neue Deduktion des Naturrechts, in: K.F.A. Schelling (Hrsg.), Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke, 1. Abt., Bd. 1, 1856, S. 279 (§ 162). 58 Jacobs, Neue Deduction des Naturrechts. Editorischer Bericht, in: Buchner u. a. (Hrsg.), Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Historisch-Kritische Ausgabe, Reihe I: Werke, Bd. 3, 1982, S. 125, unter Aufzählung der Schelling vorliegenden, kurz zuvor im „Philosophischen Journal“ erschienenen Naturrechtsaufsätze und Schilderung seiner Absicht, Fichte zuvorzukommen, ebd., S. 122 ff. 59 Zeltner, Schelling, 1954, S. 174. 53

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lut=frei zu seyn“, etabliert Schelling zwar eine Ethik als „Ausdruck des allgemeinen Willens“, aber nur, um hierdurch den individuellen Willen zu sichern, so dass die „Materie des allgemeinen Willens“ durch die „Form des individuellen Willens“ bestimmt sei.60 Die Individualität des Willens der Form nach zu behaupten und zu entfalten, obliegt dagegen dem Recht und seiner Wissenschaft, das anders als die „entgegengesetzte“ Wissenschaft der Ethik nicht von den Pflichten, sondern vom „Dürfen“ handelt.61 Abgeleitet wird „gegen den allgemeinen Willen ein Recht auf Selbstheit des Willens“, das in das „Recht der völligen Freiheit des individuellen Willens in Rücksicht auf material gesetzmäßige so gut als auf material gesetzwidrige Handlungen“ mündet, d. h. „zu jeder Handlung, wodurch ich die Selbstheit meines Willens rette“, mit der Konsequenz: „Der allgemeine Wille existiert nicht mehr, sobald es Rettung der Freiheit gilt.“62 Da im Zwang das Streben liege, die Selbstheit des Willens aufzuheben, berechtigt dies dazu, Zwang entgegenzusetzen, wodurch „mein Recht im Gegensatz gegen fremden Willen zum Zwangsrecht“ werde.63 Die hiermit verbundene Aufhebung der Form des Willens lässt das Gegenüber „bloßes Objekt für mich“, „bloßes Naturwesen“ werden und das Naturrecht zu einem „Recht, das ich nach bloßen Naturgesetzen behaupte“.64 Die Erhaltung des durch die wechselseitige Instrumentalisierung ruinierten Rechts verweist folglich auf nichts anderes als die „physische Uebermacht.“65 Weil die Vernunft aber fordere, „die physische Macht des Individuums mit der moralischen des Rechts identisch zu machen“, also „auf der Seite des Rechts immer auch die physische Gewalt“ zu haben, schließt Schelling mit der dunklen Andeutung, die „Lösung dieses Problems“ falle in das „Gebiet einer neuen Wissenschaft“, die er allerdings nicht benennt.66 Wegen der geforderten Verbindung von Macht und Recht liegt es überaus nahe, die neue Wissenschaft im Staatsrecht zu erblicken.67 Ähnlich wie Hobbes68 würde Schel-

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Schelling (Fn. 57), S. 248 (§ 4) u. 252 f. (§§ 32 – 34). Schelling (Fn. 57), S. 257 (§ 52), 261 (§ 72) u. 262 ff. (§§ 77 ff.). 62 Schelling (Fn. 57), S. 268 (§ 105) u. 275 f. (§§ 140 f. u. 144). Zur Ableitung der Urrechte aus der Form des Willens, u. a. eines „auf Willensfreiheit sogar in bezug auf gesetzwidrige Handlungen“, vgl. Zantwijk, Gibt es Urrechte der Person? Schelling und die Naturrechtsdebatte 1795, in: Buchheim/Hermanni (Hrsg.), „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“. Schellings Philosophie der Personalität, 2004, S. 111 ff.; zu den deduzierten „ursprünglichen Rechten“ zählt des weiteren das der „formalen Gleichheit“ wie das Recht „auf Sachen, auf Objekte überhaupt“ als „Naturrecht im engern Sinne“; vgl. Schelling, ebd., S. 275 (§ 140). 63 Schelling (Fn. 57), S. 277 (§ 149 f.). 64 Schelling (Fn. 57), S. 279 (§ 160 f.). 65 Schelling (Fn. 57), S. 279 (§ 162). 66 Schelling (Fn. 57), S. 279 (§ 163). 67 Lapidar erklärte Fischer, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Zweites Buch: Schellings Lehre, 1877, S. 410, die Problemauflösung enthalte das Staatsrecht; aus jüngerer Zeit etwa Baumgartner/Korten, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 1996, S. 48. Laut Metzger, Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des deutschen Idealismus, 1917, S. 242, sollte in der neuen Wissenschaft „das Recht als objektive Institution, der Staat, behandelt werden“. 61

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ling dann die wirkliche Rechtsbegründung in den Staat verlegen und eben diesen Weg hat denn auch kurz nach Schellings Schrift bei vergleichbarer Problementwicklung Fichte beschritten. Ihm zufolge war „kein rechtliches Verhältnis zwischen Menschen möglich, ausser in einem gemeinen Wesen und unter positiven Gesetzen“.69 Aber warum fällt das erlösende Wort „Staat“ bei Schelling nicht? Und wie passt eine entsprechende Interpretation, abgesehen von der gemutmaßten Autorschaft am staatsfeindlichen „Systemprogramm“, mit jenem Aufhören des die individuelle Freiheit aufhebenden Zwangs zusammen, von dem Schelling bereits in der 1795 publizierten Schrift „Vom Ich“ handelt?70 Erfolgen diese knappen Ausführungen auch im Zusammenhang der „platonischen Republik“ und gelten sie einer „Identificirung der Rechte und Pflichten eines jeden einzelnen Individuums“ als höchstes Ziel, „worauf alle Staatsverfassungen“ hinwirken müssten,71 so tendieren sie gleichwohl auf eine Überwindung des zwangsverhafteten Staates.72 Deswegen präsentiert Schelling von seinem radikal individualistischen Standpunkt73 aus auch nicht einfach Staat und Staatsrecht als Auflösung der naturrechtlichen Aporie,74 sondern hält die Frage einstweilen offen.75 68

Schelling lehnte allerdings jede staatsvertragliche Lösung ab, da deren Absicherung „eine unendliche Reihe von Verträgen“ erfordern würde; vgl. Schelling (Fn. 57), S. 263 (§ 85 Anm. 1). 69 Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796), in: I.H. Fichte (Hrsg.), Fichtes Werke, Bd. III, Nachdruck 1971, S. 148, womit der Staat zum „Naturzustand des Menschen“ werde und seine Gesetze das „realisirte Naturrecht“ bildeten (ebd., S. 149). Abriss der Fichteschen Theorieentwicklung bei Pauly, Freiheit und Zwang in Fichtes Staatsphilosophie, in: Lück/Schildt (Hrsg.), Recht – Idee – Geschichte, 2000, S. 591 ff. m. w. Nw. 70 Schelling, Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen, in: K.F.A. Schelling (Fn. 57), 1. Abt., Bd. 1, 1856, S. 234, noch Anm. 1. 71 Schelling (Fn. 70), S. 233, Anm. 1. 72 Überzeugend Hollerbach (Fn. 37), S. 96; Hofmann, Über den Staat hinaus. Eine historisch-systematische Untersuchung zu F.W.J. Schellings Rechts- und Staatsphilosophie, 1999, S. 89, beschreibt Schellings Anliegen einer „Überwindung des bürgerlichen Staates“ und sah ihn „zur Formulierung einer sozialen Utopie genötigt“ (ebd., S. 106). Als weitere Deutungsvariante führt Hofmann noch die „Naturphilosophie“ an, entscheidet sich dann aber im Rekurs u. a. auf das „Systemprogramm“ für eine kunstphilosophisch unterlegte „Philosophie der Neuen Mythologie“ (ebd., S. 88 ff.). 73 Cesa, Schellings Kritik des Naturrechts, in: Pawlowski u. a. (Fn. 15), S. 197, spricht von einer „Ontologie der Subjektivität“. 74 So auch Hollerbach (Fn. 37), S. 117, gestützt auf die Annahme, dass „Schelling auch das Staatsrecht ad absurdum geführt hätte, da auch rechtlich sanktionierter und mit physischer Übermacht übereinstimmender Zwang nur durch naturgesetzlichen Mechanismus, der die Freiheit zerstört, möglich wäre.“ Hollerbach, der „unzweifelhaft“ von einer Autorschaft Schellings am „Systemprogramm“ ausgeht (ebd., S. 85), meint denn auch „letzten Endes“ hätte Schelling wohl wieder auf das „allgemeine Vernunftreich“ rekurriert, weshalb die „Geschichtsphilosophie“ die Lösung biete (ebd., S. 117). 75 In diese Richtung auch Osten, Der Naturrechtsbegriff in den Frühschriften Schellings, Diss. iur. Köln 1969, S. 73 f., der auf die „Nachschrift“ abstellt, in der Schelling sich unter Berufung auf die „neuesten Bearbeitungen“, darunter ungenannt auch die von Fichte, vorbehält,

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2. Vom mechanischen zum organischen Staatsbegriff Im Abstand weniger Jahre greift Schelling die Problemstellung erneut auf und will nun die wechselseitige Einschränkung der Handlungsfreiheit aller Vernunftwesen „durch die Möglichkeit des freien Handelns aller übrigen“ nicht länger der „Willkür“ und dem „absoluten Zufall“ überlassen.76 Der hierzu nicht gegen die Freiheit, sondern den „eigennützigen Trieb“ gerichtete Zwang basiert auf der „Rechtsverfassung“ als einer „zweiten Natur“, in der ein „Naturgesetz zum Behuf der Freiheit“, d. h. das Rechtsgesetz, „unerbittlich“ auf jeden „Eingriff in fremde Freiheit“ augenblicklich „Widerspruch“ auslöst.77 Die Rechtslehre als „rein theoretische Wissenschaft“ deduziere damit den „Naturmechanismus“, unter dem allein „freie Wesen als solche in Wechselwirkung gedacht werden können“.78 Als Ursache und Wirkung verbindende „bloße Naturordnung“ trennt Schelling die rechtliche Verfassung von der Moral und bezeichnet sie als eine „Maschine, die auf gewisse Fälle zum voraus eingerichtet ist, und von selbst, d. h. völlig blindlings wirkt, sobald diese Fälle gegeben sind“.79 Da die rechtliche Ordnung zunächst nicht durch die Vernunft, sondern durch die Not der Umstände, sprich die „allgemein ausgeübte Gewalttätigkeit“, gestiftet worden sei, trügen solche „bloß temporäre Verfassungen […] den Keim ihres Unterganges in sich“.80 Aber auch die wahren Rechtsverfassungen blieben deswegen „vom offenbarsten Zufall abhängig“, weil trotz der „oberflächlich ausgedachten“ Gewaltenteilung die Sicherungsnotwendigkeit jeden Staates nach außen das „entschiedenste Übergewicht

im Wege einer „reiferen Betrachtung […] seine Grundsätze vollständiger zu entwickeln“; vgl. Schelling (Fn. 57), S. 280; letztlich sieht Osten allerdings bereits „im Schlussparagraphen“ das Staatsrecht angesprochen (ebd., S. 76). Vgl. weiter Smid, Moral bei Schelling und Hegel, in: Hösle (Hrsg.), Die Rechtsphilosophie des deutschen Idealismus, 1989, S. 145, mit Hinweis auf den „aphoristischen Charakter“ der Darstellung Schellings. 76 Schelling, System des transzendentalen Idealismus (1800), in: K.F.A. Schelling (Fn. 57), 1. Abt., Bd. 3, 1858, S. 582. Zur hier maßgeblichen Perspektive des sich in der Geschichte explizierenden Selbstbewusstseins, die das Recht als „notwendiges Ingredienz der transzendentalen Bewusstseinsgeschichte“ begreift, Dierksmeier, Mechanischer oder organischer Rechtsbegriff?, in: Danz u. a. (Hrsg.), 200 Jahre Schellings „System des transzendentalen Idealismus“, 2001, S. 59 u. 61. 77 Schelling (Fn. 76), S. 582 f.; das Vernunftwesen werde lediglich „bestimmt“, „sich selbst zu zwingen“, und nur der Trieb gezwungen, „gegen sich selbst zu handeln“ (ebd.). Mit dem Begriff der Natur verweist Schelling auf die „Kategorie der Notwendigkeit“, vgl. W. Marx, Schelling: Geschichte, System, Freiheit, 1977, S. 17. Der Begriff des Naturrechts wird vermieden und das Recht übersteigt nunmehr die Sphäre des Dürfens mit einer Wendung „ins Objektivistische“, die auf ein „Miteinander-Sein“ als „Ur-Konstituens des Menschen“ verweist; vgl. Hollerbach (Fn. 37), S. 124 u. 135. 78 Schelling (Fn. 76), S. 583. 79 Schelling (Fn. 76), S. 583 f.; eine moralische Funktionalisierung des Rechts führt nach Schelling unweigerlich zum „Despotismus in der furchtbarsten Gestalt“ (ebd., S. 584). 80 Schelling (Fn. 76), S. 584 f., der hier „Rechte“ des Volks andeutet, „die es nicht auf ewig veräußern kann“, gleichwohl aber jede „Insurrektion“ gegen die Maschine ausschließt (ebd., S. 586). Zur Aporie eines vorläufig gewaltgegründeten Rechts Simon, Die Wirklichkeit der Freiheit, in: Pawlowski u. a. (Fn. 15), S. 341 f.

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der exekutiven Gewalt“ innerhalb der „Staatsmaschine“ zwangsläufig bedinge.81 Eine rechtliche Absicherung gegenüber dem „guten Willen“ der höchsten Gewalthaber kann Schelling zufolge nur durch eine „über den einzelnen Staat hinausgehende Organisation, eine Föderation aller Staaten, die sich wechselseitig untereinander ihre Verfassung garantieren“, also einen Verfassungsverbund, erfolgen.82 Hierfür müssten sich die „Grundsätze der wahren Rechtsverfassung“ allgemein verbreiten und die Staaten sich einem „gemeinschaftlichen Gesetz unterwerfen“; die Konstitutionalisierung umfasst auch noch eine Überweisung der „Streitigkeiten der Völker untereinander“ an einen aus „Mitgliedern aller kultivierten Nationen“ zusammengesetzen „Völkerareopag“, dem „gegen jedes einzelne rebellische Staatsindividuum“ die gebündelte Macht aller anderen Staaten zur Verfügung stehe.83 Die Verwirklichung dieser Ordnung denkt Schelling als geschichtlichen Vorgang. Das „einzig wahre Objekt der Historie“, ihren einzigen Grund soll „das allmähliche Entstehen der weltbürgerlichen Verfassung“ bilden,84 womit alle Geschichte sich am Ende als Verfassungsgeschichte erweist. Gut zwei Jahre später, im Sommer 1802, erklärt Schelling im Rahmen seiner Jenaer Methodenvorlesungen den Staat identitätsphilosophisch zum „objektiven Organismus der Freiheit“, in dem die „Harmonie der Notwendigkeit und der Freiheit“ erreicht sei.85 Die mechanistische Sichtweise gilt nun als ebenso unbefriedigend wie das damit einhergehende Verständnis des Staates „nur als Mittel“ und sei es, wie von Schelling selbst bis in die Formulierung vertraut, um „das Zusammenleben freier Wesen unter den Bedingungen der möglichsten Freiheit“ zu erreichen.86 Das Organismuskonzept erhebt den Staat zum Selbstzweck, weil das „Besondere“ und das „Allgemeine“, Privatleben und öffentliches Leben, in ihm unter Absage an die „so-

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Schelling (Fn. 76), S. 586. Schelling (Fn. 76), S. 586. 83 Schelling (Fn. 76), S. 586 f. 84 Schelling (Fn. 76), S. 591 f.; die Erreichung des Endzustandes könne allerdings nicht gewusst oder bewiesen werden, sondern sei ein „ewiger Glaubensartikel des wirkenden und handelnden Menschen“ (ebd., S. 593). Da diese Objektivität nicht durch freies Individualverhalten entstehen könne, bedürfe es zur Realisation der ganzen Gattung Mensch (S. 596 f.) und einer höheren absoluten Identität von Subjektivem und Objektivem (S. 600), so dass sich die Geschichte als „fortgehende allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten“ ereigne (S. 603); Rekonstruktion der letztlich religionsphilosophischen Argumentation bei Hollerbach (Fn. 37), S. 130 ff., der Schelling wegen des mechanistischen Naturalismus einen werkbezogenen Anachronismus attestiert (ebd., S. 136). 85 Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803), in: K.F.A. Schelling (Fn. 57), 1. Abt., Bd. 5, 1859, S. 307 u. 312. 86 Schelling (Fn. 85), S. 316, der an dieser Stelle den Kantischen Juristen ein „Schnappen nach Begriffen“ vorwirft. Die Positionsveränderung wie die explizite Kritik an Fichtes Naturrecht war wohl durch Hegels Abhandlung „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts“ beeinflusst, die im gemeinsam herausgegebenen „Kritischen Journal der Philosophie“ 1802/3 erschienen war, worauf Hollerbach (Fn. 37), S. 169 ff., hinweist. 82

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genannte bürgerliche Freiheit“ verschmelzen.87 Hierauf basiert auch der Primat des „öffentlichen“ Rechts, demgegenüber sich ein hiervon abgetrenntes Privatrecht mechanisch und unphilosophisch ausnimmt.88 Da das organistische Staatsideal nicht der Erfahrung entnommen werden könne, bedürfe es einer „wissenschaftlichen Konstruktion des Staats“, die ihn als nach Ideen geschaffenes „Kunstwerk“ erscheinen ließe.89 Wie diese Konstruktion die „bloß negative Seite der Verfassung“, die auf die „Sicherstellung der Rechte“ gehe, übersteigen soll, um zur „positiven Veranstaltung“ zu gelangen,90 lässt Schelling weitgehend offen.91 Eine „wahre Revolution“ soll es jedoch sein, die den „wahren“ Vernunftstaat an die Stelle der „Verstandes-Staaten“, meint „Zwang- und Nothstaaten“, setzen werde, in dem sich dann Wissenschaft, Religion und Kunst „auf lebendige Weise“ durchdringen, d. h. in Gesetzgebung, öffentlicher Sittlichkeit und Schönheit des schöpferisch inspirierten öffentlich Lebens kulturstaatlich objektivieren würden.92 3. Folge des auf der Menschheit ruhenden Fluchs In seiner 1809 vorgelegten Freiheitsschrift löst sich Schelling von seinen identitätsphilosophischen Grundlagen93 und entwickelt einen radikalen, von ihm real und lebendig genannten Freiheitsbegriff,94 der das „Vermögen des Guten und des 87 Schelling (Fn. 85), S. 313 f.; zur Herkunft des Organismusbegriffs Hollerbach (Fn. 37), S. 140 ff. m. w. Nw.; die Ausformung des Modells zeigt ein „antikisierendes Gepräge“ und „hochgradigen Aristokratismus“, wie Metzger (Fn. 67), S. 246 f., betont. 88 Schelling (Fn. 85), S. 312 f. 89 Schelling (Fn. 85), S. 258, 312 f. u. 315. 90 Schelling (Fn. 85), S. 316. 91 Kritisch vermerkt bereits bei Krieken, Ueber die sogenannte organische Staatstheorie, 1873, S. 69. 92 Schelling, System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (aus dem handschriftlichen Nachlaß) (1804), in: K.F.A. Schelling (Fn. 57), 1. Abt. Bd. 6, 1860, S. 564 u. 585 f.; da es jedoch im Bereich der Vernunft, anders als in dem des Verstandes, keinen „Fortschritt“ gebe, findet sich das „goldene Zeitalter hinter uns verlegt“ und sei nicht durch „unruhiges Fortschreiten und Wirken nach außen“, sondern „durch eine Rückkehr […] zu der inneren Identität mit dem Absoluten“ zu suchen; es würde „von selbst kommen, wenn es jeder in sich darstellte“ (ebd., S. 563 f.). Zur Annäherung an die Volksgeistlehre und zum Rekurs auf die Nation in der organologischen Werkphase Hollerbach (Fn. 37), S. 177 f.; dass es in einem solchen Staat keiner Gebote mehr bedürfe und das Handeln aus „göttlicher Notwendigkeit frei“ erfolge, betont Hofmann (Fn. 72), S. 151. Von einer „Apotheose des Staates“, der die Rechtsordnung übersteige und das „Ganze einer nationalen Lebensgemeinschaft in der Totalität ihrer sozialen, politischen und kulturellen Wirksamkeit“ umfasse, spricht Metzger (Fn. 67), S. 250. Eine Konstruktion von „Totalität“ notiert auch Schmitt, Politische Romantik, 4. Aufl., 1982, S. 80. 93 Vgl. Hollerbach (Fn. 37), S. 179 ff.; zu den Wandlungen Schellings in dieser Zeit vgl. Fuhrmans, Schellings Philosophie der Weltalter, 1954, S. 152 ff., der jedoch vor einer irrtümlichen Abstempelung zu einem „Proteus“ warnt (ebd., S. 150). 94 Insgesamt sieben Freiheitsbegriffe in der Schrift zählt Heidegger, Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), 1971, S. 100 ff.

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Bösen“ bezeichnet, letztlich unabhängig und sogar im Abfall von Gott.95 Hierauf aufbauend entwirft Schelling in seinen „Stuttgarter Privatvorlesungen“ im Jahre 1810 eine neue Staatstheorie. Durch den Sündenfall hätte die Menschheit ihren „wahren Einheitspunkt“ in Gott verloren und müsste folglich ersatzweise eine neue Einheit im Staat suchen, der aber nur eine „Natureinheit“ biete, die freien Wesen nicht genüge und von daher nur ein „vergängliches Band“ darstelle.96 Insofern sei der Staat „eine Folge des auf der Menschheit ruhenden Fluchs“ und trage in sich einen „Widerspruch“, weil er als „physische Einheit“ lediglich über „physische Mittel“ gebiete. Regiert „mit einiger Vernunft“ wisse er selbst, dass er bei geistigen Wesen hiermit nichts ausrichten könne.97 Also könne „der Staat als solcher“ keine „wahre und absolute Einheit finden“ und seien „alle Staaten nur Versuche […], organische Ganze zu werden, ohne sie je wirklich werden zu können“.98 Da der wahre Staat einen „Himmel auf Erden“ voraussetze, existiert er Schelling zufolge auch „nur im Himmel“.99 Der auf die Offenbarung gestützte Versuch, durch eine „andere Anstalt“ die „innere Einheit“ hervorzubringen, sei mit Blick auf die „neuere Geschichte“ eben-

95 Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: K.F.A. Schelling (Fn. 57), 1. Abt., Bd. 7, 1860, S. 352 ff.; hierzu Sturma, Präreflexive Freiheit und menschliche Selbstbestimmung, in: Höffe/Pieper (Hrsg.), F.W.J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 1995, S. 154 ff. Zur notwendigen Gründung der Möglichkeit des Abfalls im (Gegen)Absoluten in Gott und zum „dunklen“ Grund von Endlichkeit, „Ichheit“ und Persönlichkeit, verknüpft mit Schuld und Strafe, vgl. Baumgartner/Korten (Fn. 67), S. 108, 112 u. 120, die aber auch betonen, dass das Böse bei gebotener Trennung von Grund und Existenz gleichwohl freie und „eigenste“ Tat des Individuums bleibt, insofern aber notwendig, als es im intelligiblen Wesen und individuellen Charakter des Menschen beschlossen liegt. Zur trügerischen „Selbstzentrierung“ des Menschen bei gleichzeitiger Dezentrierung zum Medium durch das sich offenbarende Absolute vgl. Zizek, Der nie aufgehende Rest. Ein Versuch über Schelling und die damit zusammenhängenden Gegenstände, 1996, S. 100; mit dem so verfolgten „falschen Anspruch“ entfremde sich der Einzelne vom Staat, wogegen Schelling zufolge letztlich eine ekstatische Selbstüberwindung und depersonalisierende Unterwerfung gefordert ist (ebd., S. 100 ff.). 96 Schelling, Stuttgarter Privatvorlesungen (aus dem handschriftlichen Nachlaß) (1810), in: K.F.A. Schelling (Fn. 57), 1. Abt., Bd. 7, 1860, S. 461; die staatliche Einheit bleibe von daher immer „precär und temporär“ (ebd.). 97 Schelling (Fn. 96), S. 461; hierzu gehöre „ein höherer Talisman”, eine Lenkung durch „höhere und geistige Motive“ (ebd.). 98 Schelling (Fn. 96), S. 462; insofern stellt Sandkühler, Freiheit und Wirklichkeit. Zur Dialektik von Politik und Philosophie bei Schelling, 1968, S. 210, ein Abrücken Schellings vom organischen Staatskonzept fest. Von einer „Wende von einem hellen Optimismus zu einer kritischen Distanzierung vom Staat“ spricht Hollerbach (Fn. 37), S. 194. Eine wahre Einheitsbegründung im Staat ist Schelling zufolge insbesondere nicht mittels von Konstitutionen möglich, weil die Verleihung der „Kraft-Einheit“ zum „abscheulichsten Despotismus“ führe, die verfassungsrechtliche Beschränkung hingegen zur misslichen Schwächung, wie Schraven, Recht, Staat und Politik bei Schelling, in: Sandkühler (Hrsg.), F.W.J. Schelling, 1998, S. 198 m. w. Nw., unter Auswertung einer von Vetö edierten Vorlesungsversion ausführt. Gerade die konsequenteste Ausführung der „Idee eines vollkommenen Staates“ ende im „ärgsten Despotismus“ wie in Fichtes geschlossenem Handelsstaat; vgl. Schelling (Fn. 96), S. 462. 99 Schelling (Fn. 96), S. 462.

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falls gescheitert.100 Statt in ihrer „Reinheit von allem Aeußeren zu bleiben“, habe die Kirche die „Formen des Staats in sich“ aufgenommen, den Fehler gemacht sich hierarchisch zu strukturieren und „Feinde anzuerkennen“.101 Wahre Einheit bleibt für Schelling gleichwohl „nur auf dem religiösen Wege erreichbar“, und eine entsprechende Erkenntnis und Entwicklung könne die Menschheit befähigen, „den Staat, wo nicht entbehrlich zu machen und aufzuheben“, so doch allmählich „von der blinden Gewalt“ zu befreien und zur „Intelligenz“ zu verklären.102 Kirche und Staat sollten sich nicht gegenseitig beherrschen, aber der Staat solle „in sich das religiöse Prinzip“ entwickeln und auch der „große Bund aller Völker“ solle auf der „Grundlage allgemein gewordener religiöser Ueberzeugungen“ beruhen.103 In einem nicht eindeutig datierbaren, wohl in zeitlich naher Folge verfassten Aufsatzfragment erinnert Schelling an die ausschließlich metaphysische Begründbarkeit staatlicher Organizität und rechnet scharf mit einer Karikatur des Naturrechts ab, die eine „absolute Personalität des Einzelnen“, die „unsinnigste Anmaßung absoluter Egoität“, und ein „allen zu allem […] gleiches Recht“ kennzeichne.104 Aus der „trüben Quelle schnödester Selbstsucht und Feindseligkeit aller gegen alle“ entstehe hiernach der Staat „durch menschliche Uebereinkunft und gegenseitigen Vertrag“ in einem Modell, das „keine innerlich bindenden Pflichten“ und „positiven Handlungen“ vorsehe, sondern allein „Unterlassungen“, „Einschränkungen“ und „äußeren Zwang“.105 Den von ihrem ursprünglichen Recht „übrig bleibenden Rest“ genössen die Einzelnen „in selbstgenügsamer Abgeschlossenheit“, während Tugenden fehlten, „die sich nur im Zustand eines öffentlichen und gemeinsamen Lebens entwickeln und äußern können“.106 Wenn der Staat auch durch die „vollkommene Mechanisierung“ kein „Ganzes“ werde, suche man den Grund hierfür in einer „Unvollkommenheit des Mechanismus“ und füge „neue Räder“ ein.107 Individualität werde in diesem System vernichtet, und zur Herrschaft gelangten die „gewöhnlichsten Talente und am meisten mechanisch aufgezogenen Seelen“.108 Hiergegen setzt die zur Zeit der Befreiungs-

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Schelling (Fn. 96), S. 463 f. Schelling (Fn. 96), S. 464. 102 Schelling (Fn. 96), S. 464 f. 103 Schelling (Fn. 96), S. 465; zur ursprünglich von Novalis herrührenden Idee eines christlich gegründeten Völkerbundes Jäger, Schellings politische Anschauungen, 1940, S. 86. 104 Schelling, Ueber das Wesen deutscher Wissenschaft. Fragment (aus dem handschriftlichen Nachlaß), in: K.F.A. Schelling (Fn. 57), 1. Abt., Bd. 8, 1861, S. 10; hierbei hebt Schelling (ebd.) den mit aller Metaphysik einhergehenden „Sinn für Totalität“ hervor. Wahrscheinlich stammt das Fragment aus dem Jahr 1811, wird teils aber früher (1807) datiert. 105 Schelling (Fn. 104), S. 10 f. 106 Schelling (Fn. 104), S. 10 f. 107 Schelling (Fn. 104), S. 11. Diese Ausführungen erinnern Hollerbach (Fn. 37), S. 201 u. 204, der allerdings zu stark eine Differenz zu den „Stuttgarter Privatvorlesungen“ betont, an das „Systemprogramm“ und die „Methodenvorlesung“. 108 Schelling (Fn. 104), S. 12. 101

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kriege entstandene Abhandlung auf die Religiösität der deutschen Nation und das Bedürfnis jedenfalls des deutschen Gemüts nach einem innigeren Band.109 III. Der Staat als Träger der „Gesellschaft“ in der Spätphilosophie Nach dem Scheitern einer Geschichtsphilosophie des Absoluten, die von Dante inspiriert eine Theo- wie Kosmogonie in Gestalt der Weltalterfragmente seit 1811 versucht hatte,110 geht Schelling zur Ausbildung einer positiven Philosophie über, die die bislang selbstgenügsame Vernunftphilosophie ergänzen111 und überschreiten soll. Die Krisis der das Absolute nur als Resultat übernehmenden Vernunftwissenschaft verlange Einsicht in die Endlichkeit der Vernunft und eine Explikation der unvordenklichen Existenz Gottes als einer dem Denken immer schon voraus und zugrunde liegenden Wirklichkeit. Diese spät- oder nachidealistische Phase112 setzt um 1827 ein und formt sich in einer Philosophie der Mythologie113 aus, alsbald ergänzt um eine christologische Offenbarungsphilosophie. Hiermit einher geht eine dezidierte Kritik Hegels, bei dem das Problem des Anfangs verkannt, die Vorgeschichte des bereits fertigen Subjekts114 ganz nach Art der negativen Philosophie übergangen und mit einer „Vergöttlichung des Staates“115 geendet werde. Dagegen gehört der Staat, „so viel positives er in sich schliesst“, Schelling zufolge „gegen alle Erscheinungen des höheren und geistigen und sittlichen Lebens auf die Seite des Negativisten“.116 Der Staat findet sich nun auf „ein Tragendes eines höheren Lebens“ reduziert, d. h. er ist nur noch notwendige Bedingung, aber nicht mehr Selbstzweck.117 In seiner dienenden Funktion zeigt er sich als „der Organismus, der das höhere, geistige, sitt109 Schelling (Fn. 104), S. 13. In einem Brief an Georgii vom 8. Oktober 1813, in: Plitt (Fn. 14), Bd. 2 (1803 – 1820), S. 339, wünscht Schelling einen „Gesetzgeber, der vom Himmel käme, […] um den Deutschen (da das Alte einmal nicht wohl wiederkommen kann) die Verfassung zu geben, die zu ihrem dauernden Glücke nothwendig ist.“ 110 Hierzu Iber, Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip, 1994, S. 201 ff. m. w. Nw.; vgl. weiter Hogrebe, Prädikation und Genesis, 1989, S. 40 ff.; Hutter, Geschichtliche Vernunft, 1996, S. 112 ff. 111 Kritik der fehlenden Preisgabe bei Habermas, Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus, in: ders. (Hrsg.), Theorie und Praxis, 3. Aufl., 1982, S. 211 f. 112 Vgl. Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, 2. Aufl., 1975, S. 8, 167 ff. u. 321 ff. 113 Drei Phasen von Schellings Auseinandersetzung mit der Mythologie, einsetzend bereits im Tübinger Stift und auch im „Systemprogramm“, unterscheidet Peetz, Die Philosophie der Mythologie, in: Sandkühler (Fn. 98), S. 150 ff. 114 Hierzu Smid, Folgen der Kritik des Geschichtskonzepts in der Hegelschen Rechtsphilosophie durch Schelling für die Staatsphilosophie, ARSP Bd. 73 (1987), S. 352 ff. m. w. Nw. 115 Schelling, Grundlegung der positiven Philosophie. Münchener Vorlesung WS 1832/33 und SS 1833, hrsg. u. kommentiert v. Fuhrmans, 1972, S. 235. 116 Schelling (Fn. 115), S. 235. 117 Schelling (Fn. 115), S. 235; entsprechende Belege aus einer anderen Vorlesungsmitschrift bei Hollerbach (Fn. 37), S. 210 m. w. Nw.

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liche und religiöse Leben zu tragen bestimmt ist“118, zwar selbst ein Negatives, aber in der hehren Rolle eines Mittels zur Erreichung eines Positiven. Dies erfordert eine Beschränkung seiner Wirksamkeit. Daher sei es die „wahre, aber sehr missverstandene Aufgabe unserer Zeit“, also des Vormärzes, „den Staat überhaupt, d. h. in jeder seiner Formen zu beschränken, nicht bloß etwa in der monarchischen.“119 Entscheidender als die Staatsform ist mithin der Staatszweck, die individuelle Entfaltung in den Sphären des höheren Lebens zu ermöglichen.120 Wer den Staat jedoch „zum absolut Höchsten“ mache, liefere ein „wesentlich illiberales“ System.121 Ihren Abschluss findet Schellings Staatsphilosophie nach 1850 in der 22. bis 24. Vorlesung zur „Philosophie der Mythologie“ ausgehend von dem aus der „Freiheitsschrift“ vertrauten Abfall des Menschen von Gott, woraus die „große Krisis“, die Scheidung der „materiellen von der intelligiblen Welt“ resultierte.122 Aus dieser intelligiblen Welt rühre die „Ungleichheit“ der Menschen her, die zwar dem menschlichen Gefühl widerstreiten möge, aber jenem, bereits von Aristoteles formulierten „großen Gesetz alles Seyenden“ entspringe, demzufolge „keine Art von Gemeinschaft aus lauter Gleichen“ bestehen könne, wonach also „von Geburt an“ eine Differenz vorliegt, indem „das eine herrscht, das andere beherrscht wird“ und jedem seine „Stelle“ in dieser Welt zugewiesen sei.123 Obschon im Gewissen der Menschen präsent, schreibt die „intelligible Ordnung“ ihr „Gesetz“ durch die „äußere mit zwingender Gewalt ausgerüstete Vernunftordnung“ namens Staat in eine „Welt von thatsächlichem Seyn“ ein, in der auch der Staat „nur eine thatsächliche Existenz hat“.124 Erst in dem vom Willen des Einzelnen unabhängigen und nicht einmal im Gedankenexperiment überzeugend kontraktuell konzipierbaren Staat erlangt der Mensch „wirkliche Freiheit“, wird er „Person“ und wird ihm eine „Gesinnung erst möglich gemacht“.125 Nur unter Verkennung der Ableitung des Staates aus der objektiven Ver118

Schelling (Fn. 115), S. 235. Schelling (Fn. 115), S. 235. Mit der Beschränkung des Staates selbst ist „sowohl Monarch als Volk beschränkt“ (ebd.). Vgl. auch ders., Philosophie der Mythologie (1842), in: K.F.A. Schelling (Fn. 57), 2. Abt., Bd. 2, 1857, S. 282: „Im Interesse der Freiheit liegt es nicht, wie man insgemein sich vorstellt, daß die herrschende Gewalt des Staats, die vielmehr nicht kräftig genug seyn kann, sondern daß der Staat selbst beschränkt werde“. 120 So treffend Hofmann (Fn. 72), S. 177. 121 Schelling (Fn. 115), S. 235. 122 Schelling, Einleitung in die Philosophie der Mythologie, Zweites Buch: Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie (zwischen 1847 und 1852), in: K.F.A. Schelling (Fn. 57), 2. Abt., Bd. 1, 1856, S. 500 (21. Vorlesung). 123 Schelling (Fn. 122), S. 530. 124 Schelling (Fn. 122), S. 533; die „mit thatsächlicher Gewalt bewaffnete Verfassung“ soll durch ein „Gesetz, das nicht von dieser Welt“ sei, geheiligt sein (ebd.). Wegen seines Abfalls von Gott habe der Mensch das, was der Staat von ihm fordere, als „Schuld” zu tragen (ebd., S. 547); der Staat sei eine „rächende“ Macht (ebd., S. 535). Zu Schellings Staatsverständnis im Sinne einer „Geißel Gottes“ und „Zuchtrute“ vgl. Frank, Der unendliche Mangel an Sein, 1975, S. 265 m. w. Nw. 125 Schelling (Fn. 122), S. 536 f. 119

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nunft und auf den Wegen der subjektiven Vernunft sei die Vorstellung entstanden, dass man „Staaten und Verfassungen machen“ könne.126 Über der „unfreiwilligen“ Gemeinschaft des Staates erhebt sich Schelling zufolge die „Gesellschaft“ als „freiwillige und darum höhere Gemeinschaft“, zusammengesetzt aus der Ausübung persönlicher und in diesem Sinne gesellschaftlicher „Tugenden“.127 Sie sind dem Individuum nicht vorgeschrieben, sondern ebenso wie die „Gesinnung“ zwar staatlich ermöglicht, aber dennoch mit der Begrenzung des Staates auf die „Sorge“ um die äußere Gerechtigkeit freigestellt: „Insofern ist der Staat der Träger der Gesellschaft“.128 Auch wenn der Staat die „individuelle Freiheit“ statt zu unterdrücken erst ermögliche, empfinde das Individuum gleichwohl den Staat „als Druck“, dem sich zu entziehen, Schelling für durchaus statthaft hält, „wenn es auf die rechte Weise versucht wird.“129 Des Staates Aufgabe sei es geradezu, „dem Individuum die größte mögliche Freiheit (Autarkie) zu verschaffen“, d. h. eine Freiheit, die „über den Staat hinaus“ wirke, „jenseits des Staats“, nicht jedoch „rückwärts auf den Staat“ oder gar „im Staat“.130 Hierher rechnet Schelling sowohl „einzelne autonome Kreise“ berufsständischer Natur als auch insbesondere die Gewährung von „Muße“, wie sie das höhere geistige Leben voraussetze, die aber keineswegs durch konstitutionelle Absorption des Individuums, sondern durch dessen politische Schonung angesichts eines sich hierfür aufopfernden Monarchen befördert werde.131 Jenes „innerlich über den 126 Schelling (Fn. 122), S. 537; Schelling fasst demgegenüber den Staat als tatsächlich existierenden, erkenn- aber nicht erforschbaren „Act der ewigen, dieser thatsächlichen Welt gegenüber wirksamen, d. h. eben practisch gewordenen Vernunft“ (ebd., S. 538). In diesem „Act der intelligiblen Welt“ erblickt er eine „Denknothwendigkeit (auf Treu und Glauben des Denkens)“, die ihn auf einen „einsamen Weg“ geführt habe, ohne „irgend einer Partei des Tages gefallen zu wollen“ (ebd., S. 539). Den im Denken „weniger Geübten“ empfiehlt Schelling eine geschichtliche Anschauung dieses Aktes anhand der „Herrschaft eines Einzelnen erst über die Familie, dann über den ganzen Stamm, dann über mehrere Stämme, wodurch ein Volk entsteht“ (ebd., S. 539 f.). 127 Schelling (Fn. 122), S. 541. 128 Schelling (Fn. 122), S. 541. Dabei könne der Staat die „Entwicklung der Gesellschaft hemmen“ und umgekehrt die Gesellschaft versuchen, „den Staat zu schwächen oder sich zu unterwerfen“ wie in der „Volksherrschaft oder Demokratie“, wo sich die Gesellschaft „zum Träger (Grundlage) des Staats“ mache (ebd., S. 552). Der anschließende verfassungsgeschichtliche Abriss führt von den morgenländischen Despotien, über die athenische Demokratie, die römische Staatsidee und Weltherrschaft bis zur Reformation als der eigentlichen Tat des deutschen Volkes; nunmehr habe „der Deutsche die Aufgabe“, eine „wahre Theokratie“ (ebd., S. 546), wohl in Form eines neuen christlichen Reiches, aufzurichten; vgl. Hofmann (Fn. 72), S. 200 f. 129 Schelling (Fn. 122), S. 546 f. 130 Schelling (Fn. 122), S. 551. Den Versuch, den Staat gar aufzuheben, vergleicht Schelling mit dem Verbrechen des Elternmordes (ebd., S. 547). Zur Parallelisierung von Auflehnung gegen den Staat mit der gegen Gott vgl. Baumgartner/Korten (Fn. 67), S. 209, die Schellings Verständnis von Volkssouveränität als „Selbstherrlichkeit“ des Volkes schildern, gesteuert von individueller statt objektiver Vernunft. 131 Schelling (Fn. 122), S. 547 u. 561. Hierzu und zur von Schelling geforderten Personalität von Herrschaft Hollerbach (Fn. 37), S. 234 f.

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Staat hinaus seyn“ lässt Schelling für ein „unpolitisches Volk“ plädieren, da die Muße, die „Geist und Gemüth für andere Dinge frei lässt, für ein größeres Glück“ zu achten sei, als ein „jährlich wiederkehrendes, nur zu Parteiungen führendes politisches Gezänke, zu Parteiungen, deren Schlimmstes ist, daß durch sie auch der Unfähigste Namen und Bedeutung gewinnt“.132 Nicht mehr als eine „Unterlage“ und einen „Durchgangspunkt“ bildet hiernach der Staat, der etwas sei, „mit dem man sich abfindet, wogegen man sich ganz passiv verhalten kann“, dem niemand verfalle, denn das über ihn „Hinausgehende“ und „Fortschreitende“ sei das Individuum.133 Wenn Schelling die „gemäßigte Monarchie“ zur bestmöglichen Staatsverfassung erklärt, so unter dem Vorbehalt, auch sie sei nicht das „Ideal einer der Vernunft vollkommen entsprechenden Staatsverfassung“,134 denn für „diese Welt“ als vorübergehenden Zustand gebe es kein solches „Ideal von Verfassung“.135 Angesichts des wahren Schlusses der Geschichte in der kommenden Welt des wahrhafte Gerechtigkeit bringenden Jenseits deklariert Schelling jedes säkulare „Ideal der menschlichen Gesellschaft“ zur „Schwärmerei“, am konsequentesten ausgeführt immerhin im „Communismus“, dessen Anhänger deswegen auch „ganz recht haben, die sogenannten Constitutionellen als auf halbem Wege stehen gebliebene zu verlachen und zu verachten.“136 Schelling selbst relativiert Staat und Verfassung im Blick auf das „Reich Gottes“, ihmzufolge „der letzte und höchste Zweck auf Erden“,137 und konzipiert Freiheit partiell antipolitisch als ein „innern Reich“, das quasi juristisch lautlos „über den Staat hinaus“ führt.138 Weil diese fragile, den Staat transzendierende Freiheits- und Gesellschaftskonstruktion gleichwohl auf staatlicher Trägerschaft ruht, kann Schelling bruchlos gegenüber in seinen Augen staatsgefährdenden politischen Strömungen und Umstürzen, wie er sie mit der Revolution 1848/49 befürchtete, nach dem „starken Staat“ rufen.139 Indem Schelling das bürgerlich-liberale Anliegen seiner Zeit lediglich 132

Schelling (Fn. 122), S. 549. Schelling (Fn. 122), S. 553. 134 Schelling (Fn. 122), S. 552. 135 Schelling, Beilage 3, in: Trost/Leist (Fn. 10), S. 277. 136 Schelling, Beilage 3, in: Trost/Leist (Fn. 10), S. 278; weil die „sogenannten constitutionellen Erörterungen“ mit einem beständigen „in Frage-Stellen“ der Grundlagen des Staates einhergingen, entweihten sie „eine Art von Mysterium“ und damit ein wie die Natur „uns Unantastbares“, das man „in seinem Geheimnis ruhen laßen“ solle (ebd., S. 279). 137 Schelling, Brief an König Maximilian II. vom 17. Dezember 1853, in: Trost/Leist (Fn. 10), S. 243. 138 Schelling (Fn. 122), S. 548; im Anschluss an Sandkühler versteht Hofmann (Fn. 72), S. 210, Schellings Philosophie „von Beginn weg als Anti-Politik“, während Schraven (Fn. 37), S. 186, ihm einen auf „Moral, Bildung und Religion reduzierten Begriff des Politischen“ attestiert. Zum Konzept einer „negativen Politik“, die das Politische als einen „Ort ohne Bestimmtheit“ ausweist, „der der eigenen Endlichkeit ausgeliefert ist“, Solla, Schatten der Freiheit. Schelling und die Politische Theologie des Eigennamens, 2006, S. 163 ff. 139 In den Augen von Sandkühler, Das Recht und der Staat. Schelling, in: ders. (Hrsg.), Handbuch Deutscher Idealismus, 2005, S. 198, besteht hier ein unvermitteltes Nebeneinander von philosophischer Staatskritik einerseits und etatistischer tagespolitischer Forderung andererseits; harmonisierend dagegen Schraven (Fn. 37), S. 184. 133

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sektiererisch aufnimmt, überwiegend aber ablehnt, die sozialökonomische Herausforderung jedoch fast gänzlich übergeht, die Ursache des Proletariats im „Branntwein“ und die Problemlösung in „mildthätiger Wirkung“ und „Kinder-Bewahranstalten“ sieht,140 bleibt ihm zeitgenössisch nur ein reaktionärer Resonanzboden und eine Kritik, die ihn, gewiss böswillig, einen „Justifikatoren dessen, was da ist“,141 und seine Philosophie „preußische Politik sub specie philosophiae“142 schilt. Trotz aller proteusartigen Wandlungen zieht sich jedoch eine kaum oder nur kurz unterbrochene staatskritische und -begrenzende Linie durch Schellings staatsphilosophisches Oeuvre, das den Staat alsbald zugleich als notwendige Institution in einer gefallenen Welt voraussetzt.

140 Schelling, Brief an König Maximilian II. vom 15. Februar 1851, in: Trost/Leist (Fn. 10), S. 200 f. 141 Heine, Die romantische Schule (1833), in: ders., Werke in fünf Bänden, hrsg. v. Toman, Bd. 3, 1995, S. 95, auch Hegel einbegreifend. Kurz darauf bissig Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1835), ebd., Bd. 3, S. 310: „Herr Schelling windet sich wurmhaft in den Vorzimmern eines sowohl praktischen wie theoretischen Absolutismus, und er handlangert in der Jesuitenhöhle, wo Geistesfesseln geschmiedet werden“. 142 Marx, Brief an Ludwig Feuerbach vom 3. Oktober 1843, in: Feuerbach, Gesammelte Werke, hrsg. v. Schuffenhauer, Bd. 18, 1988, S. 287. Laut Zizek (Fn. 95), S. 62, unterminiert Schelling die „falsche Alternative, den Staat entweder als ethisches Königreich zu glorifizieren oder ihn als Instrument der Unterdrückung abschaffen zu wollen.“ Einen ebenso überraschenden wie aufschlussreichen „Katalog der Schelling-Marx-Affinitäten“, der gerade auch die Marxsche Hegelkritik kräftig aus den „Schellingschen Ressourcen“ schöpfen sieht, liefert Frank, Auswege aus dem Deutschen Idealismus, 2007, S. 288 ff.

„Neue“ Staatlichkeit „Neue“ Staatswissenschaft? Zu den Aufgaben einer Staatswissenschaft heute Von Gunnar Folke Schuppert, Berlin In unserem Essay zu Ehren des Jubilars, der die Entwicklung des öffentlichen Rechts der letzten fünf Jahrzehnte ebenso kundig wie engagiert aufgearbeitet hat,1 möchte ich über die heutigen Herausforderungen der altehrwürdigen Disziplin der Staatswissenschaft sprechen und dies in fünf Schritten tun; damit möchte ich einige Akzente zu setzen versuchen, die über die bisherige Diskussion zu diesem Thema hinausgehen. Im ersten Schritt geht es zunächst noch um einen „evergreen“ der disziplinären Vergewisserung über das Schicksal der Staatswissenschaft, nämlich die Frage, ob ihr nicht ihr Gegenstand – der Staat – eigentlich inzwischen abhanden gekommen ist. I. Staatswissenschaft ohne Staat? Diese Frage zu stellen, ist überaus beliebt; so befasst sich etwa Andreas Voßkuhle eingangs seines Aufsatzes über die Renaissance der Allgemeinen Staatslehre mit dem Einwand ihr – der Staatslehre – „sei mit dem Abschied vom Staat der ureigene Erkenntnisgegenstand abhanden gekommen“2. Damit diese Frage, deren Beantwortung immer nur unnützen Zeitverbrauch verursacht, ein für allemal von der Tagesordnung verschwindet, scheint eine klare Ansage unverzichtbar: der Staat lebt und angesichts der Beobachtungen, die man bei den Bewältigungsversuchen der letzten Finanzkrise machen konnte, „seems he to be back in“, und zwar so tatentschlossen wie schon lange nicht mehr.3 Wenn der renommierte Historiker Wolfgang Reinhard demgegenüber zu Protokoll gibt: „Der moderne Staat […] hat bereits aufgehört, zu existieren“4, so liegt hier ganz offensichtlich ein Missverständnis zugrunde, das ebenfalls ein für allemal ausgeräumt werden sollte. Was Reinhard ganz offensichtlich beklagt, ist nicht der Untergang des Staates als solchem, sondern eines bestimmten, mit unangefochtener innerer 1 Rainer Wahl, Herausforderungen und Antworten. Das öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, Berlin 2006. 2 Andreas Voßkuhle, Die Renaissance der „Allgemeinen Staatslehre“ im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, in: JUS 2004, S. 2 ff. 3 Vgl. dazu die Überlegungen bei Hendrik Enderlein, Global Governance der internationalen Finanzmärkte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 8/2009, S. 3 ff. 4 Wolfgang Reinhard, Geschichte des modernen Staates. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2007, S. 122.

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und äußerer Souveränität begabten Staatstyps, eines Staatstyps, den man mit einer weit verbreiteten angelsächsischen Redeweise als „The Westphalian State“ bezeichnen könnte. Über diesen „allround“ souveränen Staat sind die Zeitläufe in der Tat hinweggegangen, wie gerade am Beispiel des Prozesses der Europäisierung leicht veranschaulicht werden kann. Rainer Wahl5 hat diesen Sachverhalt der Mutation des klassischen souveränen Nationalstaates zum Mitgliedsstaat einer supranationalen Gemeinschaft für die Bundesrepublik in einem einzigen Satz wie folgt auf den Punkt gebracht: „Deutschland ist weiterhin ein Staat, gewiß, aber in vielerlei Hinsicht ist es treffender, es als Mitglied-Staat zu charakterisieren.“ So mögen also bestimmte Staatstypen untergehen, erodieren oder ausfransen, der Staat als Ordnungsmodell politischer Herrschaft aber bleibt davon offenbar unberührt, ja wir könnten vielmehr – wie der Titel eines von Wolfgang Reinhard u. a. herausgegebenen Bandes6 lautet – von einer „Verstaatlichung der Welt“ sprechen. Diese auffallende Diskrepanz zwischen dem Befund, dass der Staat als Ordnungsmodell politischer Herrschaft keineswegs ausgedient hat, gleichzeitig aber verschiedene Typen von Staatlichkeit ihren Zenit überschritten haben oder inzwischen – sternschnuppengleich – verglüht sind, scheint darauf hinzudeuten, dass „der Staat“ eine wandlungsfähige Institution ist und verschiedenerlei Gestalt annehmen kann: „Die Nachricht vom Tod des Staates war also offenbar eine Ente. Wenn sich dies aber so verhält, bedarf es offensichtlich einer Theorie des Wandels von Staatlichkeit, so dass das eigentliche Problem nicht in dem Verlust des Staates, sondern im Fehlen einer gegenstandsangemessenen Staatstheorie besteht.“7 Nachdem dies soweit geklärt ist, wollen wir in einem zweiten Schritt einige staatswissenschaftliche Orte aufsuchen, und zwar nicht als Erinnerungsorte, an denen einer sich überlebt habenden Disziplin gedacht wird, sondern an denen Staatswissenschaft gelehrt oder sonstwie gepflegt wird. II. Staatswissenschaftliche Orte 1. Staatswissenschaften in Erfurt Bei dem Besuch verschiedener staatswissenschaftlicher Orte möchte ich mit der vor zehn Jahren gegründeten staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt beginnen, weil ich ihre Entstehung mitverfolgt und auch an ihr gelehrt habe. Leider sind die Selbstauskünfte zum Inhalt des dortigen staatswissenschaftlichen Konzepts eher wortkarg; sie beschränken sich im Wesentlichen auf den als zentral erachteten

5

Wahl (Fn. 1), S. 95. Wolfgang Reinhard et al. (Hrsg.), Verstaatlichung der Welt. Europäische Staatsmodelle und außereuropäische Machtprozesse, München 1999. 7 Gunnar Folke Schuppert, Staat als Prozess. Eine staatstheoretische Skizze in sieben Aufzügen, Frankfurt a. M./New York 2010, S. 10 f. 6

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Aspekt der Interdisziplinarität, zu dem es in der „Selbstdokumentation zum Antrag auf Akkreditierung“ aus dem Jahre 2004 wie folgt heißt:8 „Weiterhin steht die Idee der Interdisziplinarität im Mittelpunkt der Reformbemühungen an der Universität Erfurt. Bereits die Gründung einer staatswissenschaftlichen Fakultät trägt diesem Anliegen Rechnung, ohne dass damit eine Rückbesinnung auf die Idee der Staatswissenschaften des 19. Jahrhunderts intendiert wäre. Dennoch war nicht ein reines Nebeneinander der einzelnen Disziplinen geplant, sondern – gerade in der Lehre – auch die Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven. Neben dieser Interdisziplinarität in der Fakultät tragen das Studium Fundamentale und die Veranstaltungen im so genannten Berufsfeld dazu bei, den Studierenden einen Blick über den Tellerrand ihrer Fachdisziplinen hinaus zu ermöglichen.“

2. Staatswissenschaftliches Studium an der Universität Passau Etwas auskunftsfreudiger zeigen sich die von der Studienberatungsstelle der Universität Passau herausgegebenen Informationen (Stand März 2010): schon der Titel des Studiengangs kommt – ein eigenes Profil reklamierend – anders als in Erfurt daher und lautet „Bachelorstudiengang Governance and Public Policy – Staatswissenschaften“; sein Konzept wird in dem genannten Informationsblatt wie folgt näher erläutert: „Der Bachelorstudiengang ,Governance and Public Policy – Staatswissenschaften gründet in Disziplinen, die sich klassischerweise mit dem Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Wirtschaft befassen. In diesem Studiengang werden politikwissenschaftliche, historische, ökonomische, philosophische, (völker-)rechtliche und soziologische Aspekte miteinander verbunden. ,Staatlichkeit als Gegenstand und Mittelpunkt des Studiengangs umfasst sowohl die nationalstaatliche Perspektive als auch die verschiedenen Formen des politischen Agierens (innerstaatlich, zwischenstaatlich, überstaatlich), die auf multi- und interdisziplinärer Ebene reflektiert werden. Es soll nach deren historischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Voraussetzungen gefragt, Staatlichkeit und Globalisierung zueinander in Bezug gesetzt, Strukturen und Prozesse politischen Handelns gleichermaßen untersucht werden, wobei auch die politischen Dimensionen des Wirkens nicht-staatlicher Akteure und die besondere Bedeutung der Öffentlichkeit für demokratisches Regieren zu berücksichtigen sind.“

Hieraus lässt sich ziemlich klar erkennen, um was es in den Passauer Staatswissenschaften gehen soll, wobei sich dieses Konzept – wenn wir es richtig verstehen – in den folgenden drei Stichworten zusammenfassen lässt: • Der Staat im Prozess der Globalisierung • Allgemeiner: Wandel von Staatlichkeit • Kooperation staatlicher und nicht-staatlicher Akteure, also Governance pur.

8 Universität Erfurt, Selbstdokumentation zum Antrag auf Akkreditierung (der staatswissenschaftlichen Studiengänge), Erfurt, September 2004.

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3. Die Zeitschrift „der moderne Staat“ Staatswissenschaftliche Orte müssen nicht unbedingt staatswissenschaftliche Fakultäten oder Institute sein; interessant sind immer auch Neugründungen von Zeitschriften9, deren „message“ in aller Regel in dem das erste Heft eröffnenden „Editorial“ formuliert wird. So auch im Editorial der im Jahre 2008 gegründeten Zeitschrift „der moderne Staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management“, in dem die Herausforderungen, denen sich die Zeitschrift stellen will, wie folgt beschrieben werden:10 „Die in den letzten drei Jahrzehnten entfachten Debatten um die Rolle des Staates in entwickelten Demokratien ebenso wie um das Scheitern von Staaten anderer Gesellschaften hat zahlreiche Versuche zur theoretischen Einordnung und Bewertung einer breiten empirischen Evidenz hervorgerufen, die anzeigen, dass etwas Neues entsteht, das sich noch nicht auf den Begriff bringen lässt. Unprätentiös formuliert geht es darum, den massiven Wandel der Bestimmung und Erfüllung öffentlicher Aufgaben nach Inhalt, Struktur und Organisation, Prozessen und Ergebnissen zu begreifen. Diese Veränderung fordert alle Fachwissenschaften heraus, die man mit dem ehrwürdigen Begriff der Staatswissenschaften kennzeichnen könnte. Dieser Herausforderung will sich die neue Zeitschrift stellen.“

Interessant an dieser Aufgabenbeschreibung ist zweierlei: einmal die Parallele zur Erfurter Selbstauskunft, in dem in nahezu gleichsinniger Weise die altehrwürdige Staatswissenschaft zwar angerufen, aber nicht einfach wiederbelebt werden soll. Zweitens, dass es auch an diesem publizistischen staatswissenschaftlichen Ort um Veränderungen der Rolle und der Aufgabe des Staates, also letztlich um Wandel von Staatlichkeit gehen soll. Damit sind wir schon fast in Bremen angelangt, genauer: in dem dort beheimateten Sonderforschungsbereich 597, der sich dem Thema „Staatlichkeit im Wandel“ verschrieben hat. 4. Der Bremer Sonderforschungsbereich „Staatlichkeit im Wandel“ Das „mission statement“ des Bremer Sonderforschungsbereichs „Staatlichkeit im Wandel“, mit dessen Arbeit ich mich an anderer Stelle ausführlich auseinandergesetzt habe,11 findet sich erwartungsgemäß in der Einleitung des Einrichtungs- und Finanzierungsantrages an die Deutsche Forschungsgemeinschaft;12 der nachstehend abgedruckte erste Absatz spricht für sich und bedarf keiner weiteren Kommentierung, aber einer nicht unwichtigen Ergänzung: 9

Zur „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ siehe Gunnar Folke Schuppert, Staatswissenschaft, Baden-Baden 2003, S. 23 f. 10 Editorial, Der moderne Staat, Heft 1/2008, S. 3. 11 Gunnar Folke Schuppert, Was ist und wie misst man Wandel von Staatlichkeit?, in: Der Staat, Band 47/2008, S. 325 ff., mit der Replik von Philipp Genschel und Stephan Leibfried unter dem Titel „Schupperts Staat. Wie beobachtet man den Wandel einer Formidee?“, ebenfalls in: Der Staat 2008, S. 359 ff. 12 Staatlichkeit im Wandel (Changes in Statehood), Antrag auf Einrichtung des Sonderforschungsbereiches 597 und Finanzierung für die Jahre 2003 – 2006 vom 17.8.2002.

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„Der Staat gehört zweifellos zu den Institutionen moderner Gesellschaften, die die Lebenschancen der Menschen besonders nachhaltig bestimmt haben und noch immer bestimmen. Doch der moderne Nationalstaat westlicher Prägung scheint seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert einem grundlegenden Transformationsprozeß zu unterliegen. Obgleich ein solcher Wandel der Staatlichkeit epochale Konsequenzen haben könnte, ist er bislang weder hinreichend beschrieben noch in seinen Ursachen und Wirkungen hinreichend erforscht worden. Der geplante Sfb „Staatlichkeit im Wandel“ zielt deshalb auf eine systematisch-empirische Erfassung der gegenwärtigen Wandlungsprozesse moderner Staatlichkeit. Es geht darum zu untersuchen, ob moderne Staatlichkeit, wie sie sich in den Kernländern der OECD-Welt in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts herausgebildet hat, einem allgemein beobachtbaren oder gar uniformen Veränderungstrend unterliegt, woher der entsprechende Veränderungsdruck gegebenenfalls stammt, und wie sich diese Veränderungsprozesse auswirken.“

Wie aus diesem knappen Selbstporträt hervorgeht, steht die Welt der OECD-Staatlichkeit eindeutig im Vordergrund des Forschungsinteresses des SFB; da aber die Welt voller Staaten ist, die hinsichtlich zentraler Staatsfunktionen wie Sicherheit, Wohlfahrt und Rechtsstaatlichkeit zum Teil massive Defizite aufweisen – manche schätzen den Anteil solcher begrenzter Staatlichkeit auf etwa 70 Prozent der Gemeinwesen unseres Planeten – muss eine ihren Namen verdienende Staatswissenschaft auch diese Nicht-OECD-Staatlichkeit nicht nur im Blick haben, sondern systematisch-empirisch analysieren. Dies ist das Ziel eines weiteren Sonderforschungsbereiches, dem wir ebenfalls einen Blitzbesuch abstatten wollen. 5. Der Berliner Sonderforschungsbereich „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ Da ich selbst in diesem SFB 700 mit dem Titel „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“13 mit einem Teilprojekt vertreten bin,14 möchte ich davon absehen, ihn werbend vorzustellen; ich beschränke mich auf die Nennung einiger Stichworte sowie zweier Gründe, die es erforderlich erscheinen lassen, sich auch mit solchen Räumen prekärer Staatlichkeit zu befassen. Zunächst zu den Stichworten: der SFB untersucht • wie Regieren vonstatten geht, wenn weder ein durchsetzbares Gewaltmonopol des Staates besteht, noch eine funktionsfähige Infrastruktur von Institutionen wie Bürokratie und Gerichtsbarkeit. • wie Regieren funktioniert, wenn die Herrschaftslogik nicht den „rule of rules“ im Weberschen Verständnis entspricht, vielmehr überwiegend personale Herrschaft ist (Klientelismus, Patrimonialismus etc.).

13

Nähere Erläuterungen bei Thomas Risse/Ursula Lehmkuhl, Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Neue Formen des Regierens? Das Forschungsprogramm des Sonderforschungsbereichs 700, SFB Governance Working Paper Series, Nr. 1, Berlin, Dezember 2006. 14 Der Titel des Teilprojekts lautet: „Rule of Law als Governance-Ressource“.

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• welche funktionalen Äquivalente ausgemacht werden können,15 die Regieren trotz fehlender oder begrenzter klassischer Staatlichkeit ermöglichen. Was die Gründe angeht, die es unabweisbar machen, sich mit den sog. Räumen begrenzter Staatlichkeit zu beschäftigen, so sind es die folgenden zwei: Der erste Grund ist der, dass die schon seit längerem geführte Diskussion über sogenannten „failing states“16 durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 eine neue Dimension erhalten hat: „Die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben ein Thema zurück auf die internationale Agenda gebracht, das bereits Anfang der neunziger Jahre die Weltöffentlichkeit beschäftigt hatte: das Problem zerfallender oder gescheiterter Staaten. […] Galten zerfallende Staaten in der Vergangenheit als eine regionale Angelegenheit, die aus primär humanitären Gründen zum Eingreifen zwinge (siehe Somalia 1992), wird das Phänomen in der westlichen Welt seit dem 11. September verstärkt als unmittelbare Gefährdung der eigenen nationalen Sicherheit wahrgenommen. In ihrer ,Nationalen Sicherheitsstrategie vom September 2002 zog die Bush-Regierung daher die Schlussfolgerung: ,America is now threatened less by conquering states than we are by failing ones.“17

Die Debatte über Failing States hat also ihren Schwerpunkt eindeutig verlagert, nämlich von einer eher entwicklungspolitisch und humanitär geprägten Diskussion hin zu einer sicherheitspolitischen Betrachtungsweise. Failing States sind aber nicht nur ein Sicherheitsproblem, sie stellen darüber hinaus – wie Schneckener zu Recht bemerkt – auch ein Strukturproblem der internationalen Ordnung dar: „Darüber hinaus stellt Staatszerfall grundsätzlich ein Strukturproblem internationaler Ordnung dar, da der Staat eine ,Doppelrolle spielt: Einerseits übernimmt er Ordnungsfunktionen für eine Bevölkerung innerhalb konkreter Territorialgrenzen; andererseits beruht das internationale System selbst primär auf Staaten. Der Staat ist nach wie vor das zentrale Ordnungsmodell, was auch daran deutlich wird, daß selbst jene, die ihn aktiv bekämpfen (z. B. Rebellen oder Separatisten), oftmals lediglich einen Regimewechsel oder aber einen eigenen, neuen Staat anstreben, aber keinesfalls die Idee des Staates per se in Frage stellen.“18

Der zweite Grund ist der, dass wesentliche Teile der Räume begrenzter Staatlichkeit sogenannten „post-conflict-countries“ sind, in denen es nicht darum geht, trotz erodierender Staatlichkeit eine gewisse Regierbarkeit des jeweiligen Staates zu gewährleisten, sondern darum, eine infolge kriegerischer Auseinandersetzungen zu15 Zu diesem Aspekt der funktionalen Äquivalente siehe Tanja Börzel/Thomas Risse, Governance without a state. Can it work?, in: Regulation & Governance, Vol. 4, Issue 2, 06/ 2010, S. 113 ff. 16 Überblick bei Martin Kahl, Wann ist Staatlichkeit prekär?, in: Nord-Süd aktuell, Jg. XVIII (2004), S. 462 ff.; siehe ferner die Beiträge in: Marianne Beisheim/Folke Schuppert (Hrsg.), Staatszerfall und Governance, Baden-Baden 2007. 17 Ulrich Schneckener, States at Risk. Zur Analyse fragiler Staatlichkeit, in: Stiftung Wissenschaft und Politik (Hrsg.), States at Risk. Fragile Staaten als Sicherheits- und Entwicklungsproblem, SWP Studien 43/04, Berlin 2004, S. 5. 18 Schneckener, States at Risk (Fn. 17), S. 6.

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sammengebrochene Staatlichkeit wieder aufzubauen, also das zu tun, was im internationalen Jargon „state building“ heißt.19 Es liegt eigentlich auf der Hand, dass eine zeitgemäße Staatswissenschaft sich dafür interessieren muss, was „state building“ ist, wie also Staatlichkeit wiederhergestellt werden kann. Bekanntlich kommen dafür die folgenden vier Strategien in Betracht,20 die zu diskutieren einem staatswissenschaftlichem Seminar wohl anstünde. Statebuilding-Strategien im Überblick Strategie

Prioritäten (Beispiele)

Liberalization First

Demokratisierung Wirtschaftsreformen Privatisierung Integration in den Weltmarkt

Security First

Stärkung des Gewaltmonopols und des Sicherheitsapparats Sicherheitssektorreform

Insitutionalization First

Stärkung politischer und administrativer Institutionen Stärkung der Rechtssicherheit

Civil Society First

Stärkung des sozialen Zusammenhalts Verbesserung der Partizipationschancen Förderung von NGOs, Verbänden, Parteien

6. The Mission and Vision of the Hertie-School of Governance Unser letzter Besuch gilt der in Berlin von der Hertie-Stiftung eingerichteten Hertie School of Governance (HSoG), deren Entstehen ich von Anfang an begleitet habe und an der ich als sogenannten „adjunct professor“ regelmäßig lehre; sie hat ihre „guiding principles“ in den folgenden fünf Punkten zusammengefasst, die sich wie ein Programm einer staatswissenschaftlichen Hochschule lesen:21 „(1) Interdisciplinarity The Schools teaching and research activities address real-world concerns, balancing a practical, problem-oriented approach based on the insights from across the social sciences, as well as law and history, with a sound conceptual understanding of underlying patterns and processes of governance and policy-making. (2) A tri-sectoral approach New governance structures and policy fields are developing at the intersections of the state, the economy, and civil society. With the public sector remaining a central focus, the School

19 Siehe eingängig dazu Francis Fukuyama, State-Building. Governance and World Order in the Twenty-First Century, New York 2004. 20 Ulrich Schneckener, Internationales Statebuilding. Dilemmata, Strategien und Anforderungen an die deutsche Politik, SWP-Studie, Berlin 2007, S. 5 ff. 21 Mission and Vision of the Hertie School of Governance, Academic Senate, 29. April 2010.

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recognises the growing importance of private institutions (business, civil society) and models of multi-sector governance. (3) Internationality Such new governance models and policy fields are found at all levels: national, regional, and international. In this respect, the School focuses on the potential of multi-level governance in a globalising world. The School brings together students, faculty, and practitioners from Europe, North and South America, Asia, Africa, the Middle East, and other world regions and is an integral part of a network of leading policy schools. (4) Practice orientation The creative tension between the analysis and the practise of policy characterises the Schools approach to leadership education: an emphasis on applied research issues; the integration of practitioners into teaching to bring in ,real-world perspectives; the placement of students in outside institutions to expose them to the complexities of modern governance and policy-making; and the Schools assistance in identifying opportunities for students upon graduation. (5) Ethics and leadership responsibility Stewardship for the common good requires deep-seated understanding of the ethical and moral basis of leadership, public trust, and social responsibility. The School seeks to imprint appropriate values, dispositions, and behaviours in students throughout the curriculum, giving special attention to the ethical and moral implications of leadership and policy-making in modern societies. Together, these principles constitute the Hertie Approach: The three ,Is (interdisciplinary, inter-sectoral, international) form the bedrock of the Schools self-understanding and determination.“

7. Zwischenbilanz Wenn wir unsere gemeinsame Reise zu den sechs von uns identifizierten staatswissenschaftlichen Orten noch einmal Revue passieren lassen, so sind wir geneigt, eine rundherum positive Bilanz zu ziehen, und zwar aus zwei Gründen: a) Erstens hat die Reise gezeigt, dass die Disziplin der Staatswissenschaft nicht nur lebt, sondern der Sache nach in kräftiger Blüte steht, auch wenn die Mehrzahl der staatswissenschaftlichen Orte den Begriff selbst nicht auf ihre Fahnen schreibt, sondern Staatswissenschaft unter dem Dreiklang „Governance, Public Policy und Recht“ betreibt. Wenn wir die Zeitschrift „der moderne Staat“ noch einmal durchblättern, so haben wir in einem staatswissenschaftlichen Publikationsorgan gelesen und wenn wir uns die Zusammensetzung des Lehrkörpers der Hertie School of Governance ansehen, so wären wir nicht überrascht, stünde am Eingang zu diesem staatswissenschaftlichen Ort „School of Governance, Public Policy and Law – Staatswissenschaften“; für die Zusammenschau der Teilprojekte des SFB „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ gilt nichts anderes. Aus diesem Befund sind u. E. zwei Folgerungen zu ziehen:

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• Einer Ausrufung einer „Neuen Staatswissenschaft“22 bedarf es nicht. Nach den inzwischen auch von uns gemachten Erfahrungen mit der Proklamation von etwas Neuem – heiße diese Neuigkeit „Neue Staatswissenschaft“, „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“23 oder „New Governance“24 – hat diese Tätigkeit als Herold häufig unintendierte Nebeneffekte von beträchtlichem Ausmaß. Man sollte das Neue einfach tun, statt sich als unerhörter Muezzin zu versuchen. • Ferner sollte man von der Redeweise von der „altehrwürdigen“ Staatswissenschaft beherzt Abschied nehmen und keine Scheu haben, auch mit „neuartigen Verpackungen“ der staatswissenschaftlichen Tradition zu leben. Wem daran gelegen ist, mit anderen Disziplinen als der eigenen zu kommunizieren, muss auch den inzwischen üblichen Sprachgebrauch berücksichtigen. Dann heißt manches staatswissenschaftliche Tun heute Governance, Public Policy oder what so ever. b) Zweitens hat die Reise zu den sechs staatswissenschaftlichen Orten ziemlich klar gezeigt, was Staatswissenschaft ist bzw. sein sollte; der Befund lässt sich in den folgenden fünf Stichworten zusammenfassen. (1) Das „Projekt Staatswissenschaft“ ist notwendig ein interdisziplinäres Projekt; dies darf als unbestritten gelten. (2) Das „Projekt Staatswissenschaft“ ist sinnvoller Weise ein trisektorales Projekt; es blickt nicht nur auf den Staat, sondern auch auf die Sektoren der Wirtschaft und Zivilgesellschaft und analysiert ihre jeweiligen Beiträge zu moderner Staatlichkeit. Insoweit könnte das Motto „The New Interplay between the State, Business and Civil Society“25 lauten. (3) Ein – wenn nicht der – zentrale Forschungsschwerpunkt des „Projekts Staatswissenschaft“ hat der Wandel von Staatlichkeit zu sein. Auch darüber scheint mir Konsens zu bestehen. (4) Das „Projekt Staatswissenschaft“ hat sich um seiner Anschlussfähigkeit Willen der Governance-Perspektive zu öffnen.26 Nur mit der in dem „Semantic Shift“ von Government zu Governance und von Steuerung zu Governance sich ausdrückenden 22 Voßkuhle, Die Renaissance der „Allgemeinen Staatslehre“ (Fn. 2); ferner derselbe, Der „Dienstleistungsstaat“. Über Nutzen und Gefahren von Staatsbildern, in: Der Staat, Bd. 40 (2001), S. 495 ff. 23 Vgl. dazu meine Überlegungen „Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft im Wandel. Von Planung über Steuerung zu Governance?“, in: AöR, Bd. 133, 2008, S. 79 ff. 24 Statt von „New Governance“ sollte man lieber von „New Modes of Governance“ sprechen; vgl. dazu Gunnar Folke Schuppert, New Modes of Governance and the Rule of Law. The Case of Transnational Rule-Making, in: Randall Peerenboom/Andr Nollkemper/Michael Zürn (Hrsg.), The Dynamics of Rule of Law (i.E.). 25 Dazu Klaus-Dieter Wolf, Emerging Patterns of Global Governance. The new interplay between the state, business and civil society, in: Andreas Georg Scherer/Guido Palazzo (Hrsg.), Handbook of Research on Global Corporate Citizenship, Cheltenham 2008, S. 225 ff. 26 Vgl. dazu die Beiträge in: Gunnar Folke Schuppert/Michael Zürn (Hrsg.), Governance in einer sich wandelnden Welt, PVS-Sonderheft 41, Wiesbaden 2008.

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Perspektivenerweiterung durch die Governance-Forschung kann es gelingen, das von Arno Scherzberg zutreffend als Zentralproblem des modernen Staates ausgemachte „Zusammenwirken von öffentlicher und privater Handlungskompetenz“ angemessen zu erfassen.27 (5) Das „Projekt Staatswissenschaft“ hat sich um alle relevanten Erscheinungsformen von Staatlichkeit zu kümmern, also nicht nur um die OECD-Staatlichkeit, sondern auch um die „Räume begrenzter Staatlichkeit“; nur so kann der Blick geschärft werden für das, was Christoph Zürcher die „variety of statehood“ genannt hat.28 III. What should Staatswissenschaft do? Da von den thematischen Schwerpunkten einer zeitgemäßen Staatswissenschaft soeben schon die Rede war, geht es nunmehr um einige zusätzliche Präzisierungen wie auch Ergänzungen; dabei gehen wir in drei Schritten vor: 1. Staatswissenschaft und Wandel von Staatlichkeit Dass Wandel von Staatlichkeit das Zentralthema einer modernen Staatswissenschaft zu sein hat, dürfte unbestritten sein.29 Wir sehen innerhalb dieses Mega-Themas drei inhaltliche Schwerpunkte, die dieses „weite Feld“ strukturieren könnten: a) Fünf Schlüsselbegriffe zur Erfassung des Wandels von Staatlichkeit Unter der Überschrift „Schlüsselbegriffe, die neue Denkbahnen aufschließen, neuartige Entwicklungen markieren und einen interdisziplinären Dialog ermöglichen“, haben wir in unserer staatstheoretischen Skizze mit dem Titel „Staat als Prozeß“ die folgenden fünf Schlüsselbegriffe aufgelistet,30 die bis auf den letzten, so noch nicht geläufigen keiner näheren Erläuterung bedürfen: • Europäisierung und Transnationalisierung31 • Ausfransung staatlicher Aufgabenwahrnehmung: Pluralisierung, Privatisierung, Kooperationalisierung • Ökonomisierung von Staat und Verwaltung 27 Arno Scherzberg, Wozu und wie überhaupt noch öffentliches Recht? Erfurter Beiträge zu den Staatswissenschaften, Heft 1, Berlin 2003. 28 Christoph Zürcher, When Governance meets Troubled States, in: Marianne Beisheim/ Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Staatszerfall und Governance, Baden-Baden 2007, S. 11 ff. 29 Voßkuhle, Die Renaissance der „Allgemeinen Staatslehre“ (Fn. 2); gleichsinnig Schuppert, Staatswissenschaft (Fn. 9), S. 22 ff. 30 Schuppert, Staat als Prozess (Fn. 7), S. 145 ff. 31 Zu Europäisierung und Transnationalisierung siehe näher Gliederungspunkt IV, 2.

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• Verantwortungsteilung oder „The New Interplay between the State, Business and Civil Society“ • Ko-Produktion von Staatlichkeit. Diesen Begriff der Ko-Produktion von Staatlichkeit zu den Schlüsselbegriffen des Wandels von Staatlichkeit zu rechnen, rechtfertigt sich weniger daraus, dass er die allenthalben zu beobachtende Tendenz einer kooperativen Erbringung öffentlicher Güter – von der Gewährleistung von Sicherheit über die Bereitstellung von Infrastruktur bis zur arbeitsteiligen Normenproduktion – auf den Begriff bringt und dadurch das schon erwähnte Thema des Zusammenwirkens von staatlicher und privater Handlungskompetenz zuspitzt und radikalisiert, sondern weil er – ganz im Sinne der Erschließung neuer Denkbahnen – eine neuartige Perspektive auf den Staat ermöglicht. Diese neuartige Perspektive versteht das, was wir gemeinhin als Staat verstehen, als ein Produkt, das in einem bestimmt gearteten Produktionsprozess hergestellt wird, und zwar von mehreren, arbeitsteilig zusammenwirkenden Akteuren, so dass wir von einer Pluralität von Staatlichkeitsproduzenten auszugehen haben. Das Besondere an dieser Perspektive ist, dass sie die Produktperspektive und die Prozess- oder Herstellungsperspektive miteinander verbindet und damit zwei Fragen ermöglicht: erstens, wie das Produkt Staat beschaffen ist oder beschaffen sein sollte, zweitens, wer an der Herstellung dieses Produkts in welchem Ausmaß beteiligt war oder ist. Diese nicht nur interessante, sondern weiterführende Perspektive verdanken wir zwei Publikationen von Christoph Zürcher32, in denen er für manche der von ihm untersuchten Räume begrenzter Staatlichkeit eine Strategie der lokalen Machthaber ausgemacht hat, sich auf bestimmte staatliche Kernfunktionen zu beschränken, andere hingegen wie wirtschaftliche Entwicklung oder Bildung ganz bewusst durch andere Akteure – NGOs oder Internationale Organisationen – erledigen zu lassen, ein Vorgang, den er Outsourcing von Staatlichkeiten nennt. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt zu dem generelleren Problem, ob man nicht verschiedene „Provider of Statehood“ unterscheiden und ihr Zusammenwirken untersuchen muss. Dies wäre in der Tat ein interessantes Untersuchungsfeld für eine moderne Staatswissenschaft. b) Wandel der Staatssemantik Andreas Voßkuhle hat in seinem Beitrag über den Dienstleistungsstaat ausführlich über die Funktion von Staatsbildern gesprochen;33 auch uns interessiert diese Bildersprache sehr und darüber hinaus die Frage, ob in einem veränderten Sprachgebrauch in der Redeweise über den Staat – sogenannten „semantic shifts“ – auch inhaltliche 32

Zürcher, When Governance meets Troubled States (Fn. 28); ferner derselbe, Gewollte Schwäche. Vom schwierigen analytischen Umgang mit prekärer Staatlichkeit, in: Internationale Politik, Jahrgang 60 (2005), S. 13 ff. 33 Voßkuhle, Der „Dienstleistungsstaat“ (Fn. 22).

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Wandlungsprozesse zur Sichtbarmachung drängen. Wir haben uns deshalb die Mühe gemacht, einmal die Metaphorik durchzumustern, in der in den letzten 20 oder 30 Jahren über den Staat gesprochen wurde und wird und haben dabei zwei Gruppen von Metaphern identifiziert, die aus staatswissenschaftlicher Perspektive überaus interessant sind, weil sich in ihnen der Versuch widerspiegelt, tatsächliche oder erwünschte Wandlungsprozesse auf den Begriff zu bringen; es sind dies:34 • Schicksalsmetaphern, die von unausrottbarer Zählebigkeit sind, obwohl sie zum Staatsdiskurs nur relativ wenig beizutragen wissen; dazu rechnen vor allem drei: erstens die Redeweise vom Untergang oder Verfall des Staates, eine Metapher, zu der wir schon eingangs dieses Beitrages das Nötige gesagt haben. Zweitens gehört dazu das beliebte Bild vom Rückzug des Staates, das insofern missverständlich ist, als bei näherem Hinsehen der Staat eigentlich kaum Terrain wirklich preisgibt, sondern – wie etwa bei den großen Privatisierungen – als Regulierungsstaat durchaus noch als gewichtiger Akteur vorhanden bleibt.35 Drittens schließlich gehört in diese Gruppe das nunmehr häufiger verwendete Bild von der Rückkehr des Staates, als wäre dieser auf einer längeren Weltreise gewesen und nunmehr zurückgekehrt. • Interessanter sind die Rollenmetaphern, die ebenfalls in dreifacher Gestalt auftreten. Da gibt es einmal die Diätmetapher, die die Botschaft vom „schlanken Staat“ zu transportieren suchte, der sich auf seine Kernaufgaben konzentriert und alle anderen entweder dem Markt oder dem Dritten Sektor überlässt.36 Zweitens ist hier das Leitbild des aktivierenden Staates zu nennen, mit dem die erste rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder an das angelsächsische Konzept des „enabling state“ anzuknüpfen suchte. Drittens schließlich gehört hierher die von uns für wichtig gehaltene Metapher vom Rollenwechsel des Staates, wie sie überaus treffend in dem Aufsatz von Philipp Genschel und Bernhard Zangl über „Metamorphosen des Staates – Vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager“ beschrieben worden ist.37

c) Vom säkularen zum postsäkularen Staat? Eine seismographische Staatswissenschaft – was darunter zu verstehen ist, werden wir am Schluss dieses Beitrages näher erläutern – wird nicht nur Wandlungsprozesse im Bereich des staatlichen Selbst zu beobachten und zu analysieren haben, sondern 34 Näher zur Bedeutung von „semantic shifts“ und zur Verwendung von Metaphern vgl. Schuppert, Staat als Prozess (Fn. 7), S. 115 ff. 35 Näher dazu Gunnar Folke Schuppert, Rückzug des Staates? Zur Rolle des Staates zwischen Legitimationskrise und politischer Neubestimmung, in: DöV 1995, S. 761 ff. 36 Werner Jann, Der Wandel verwaltungspolitischer Leitbilder von Management zu Governance?, in: Klaus König (Hrsg.), Deutsche Verwaltung an der Wende zum 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2002, S. 279 ff. 37 In: Leviathan, Jg. 36 (2008), S. 430 ff.

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sich auch mit den – wie Jürgen Habermas es unlängst formuliert hat – „vorpolitischen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates“38 zu beschäftigen haben, ein Thema, das Ernst-Wolfgang Böckenförde bereits 1967 in häufig zitierter Weise auf die Tagesordnung gesetzt hat,39 das aber erst jetzt aufgrund der Beschäftigung mit Islam und Islamismus seine volle Brisanz zu entfalten beginnt. Das prekäre Verhältnis von religiösen und politischen Regimen betritt nunmehr als Thema die öffentliche Bühne und zwingt zum Nachdenken darüber, wie sich die Rechtsgemeinschaft des Verfassungsstaates und die Rechtsgemeinschaften der großen Offenbarungsreligionen miteinander arrangieren sollten.40 Plötzlich ist die Rede von der – um erneut Habermas zu zitieren – postsäkularen Konstellation41 und gewinnen Überlegungen an Bedeutung, wie religiöse Liberalität gewährleistet werden kann, was die Bereitschaft von Glaubensgemeinschaften voraussetzt, „den Vorrang demokratischer politischer Entscheidungen gegenüber weltanschaulichen Geltungsansprüchen zu akzeptieren und konkurrierende religiöse Überzeugungen zu tolerieren.“42 Ob und in welchem Umfang wir tatsächlich Zeugen einer Entwicklung vom säkularen zum postsäkularen Staat sind,43 diese Frage wird auch von einer staatswissenschaftlich inspirierten Forschung nicht aus den Augen verloren werden dürfen. 2. Staatswissenschaft und Governance Eine seismographische Staatswissenschaft, die nicht nur registriert, wie Staatlichkeit sich wandelt, sondern auch, welche Entwicklungen sich in denjenigen Disziplinen vollziehen, die sich näher mit dem Staat beschäftigen, wird kaum umhinkönnen, sich mit dem kometenhaften Aufstieg der Governance-Forschung zu beschäftigen44 und den Perspektivenveränderungen, denen sie diese steile Karriere verdankt. So formuliert Werner Jann in seinem lehrreichen Bilanzaufsatz über „50 Jahre Policy-Analyse und Verwaltungsforschung“45 gar die Sorge, dass sich Governance zur allumfassenden Grundlage politikwissenschaftlicher Policy- und Verwaltungsforschung ent38

Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: Jürgen Habermas/Josef Ratzinger (Hrsg.), Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg 2005, S. 16 ff. 39 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie. Festschrift für Ernst Forsthoff, Stuttgart 1967, S. 75 ff. 40 Näher dazu jetzt Gunnar Folke Schuppert, When Governance meets Religion: Governancestrukturen und Governanceakteure im Bereich des Religiösen (i.E.). 41 Habermas (Fn. 38), S. 33. 42 Karsten Fischer, Die Zukunft einer Provokation. Religion im liberalen Staat, Berlin 2009, S. 39. 43 Vgl. dazu die Überlegungen bei Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2007. 44 Erste bilanzierende Überlegungen bei Gunnar Folke Schuppert, Was ist und wozu Governance?, in: Die Verwaltung, Bd. 40, 2007, S. 463 ff. 45 Werner Jann, Praktische Fragen und theoretische Antworten. 50 Jahre Policy-Analyse und Verwaltungsforschung, in: Politische Vierteljahresschrift (PVS) 2009, S. 476 ff.

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wickeln könnte und fragt mit skeptischem Unterton „Nunmehr alles Governance oder was?“, eine Fragestellung, die wir gerne aufgenommen haben46. Wie dem auch sei; aus drei ausgewählten Gründen erscheint es sinnvoll, dass sich eine moderne Staatswissenschaft den aus der Governance-Forschung zu gewinnenden Anregungen47 gegenüber aufschließt und sie in ihre eigene Forschung aufnimmt: a) Staatswissenschaft und Governance als Brückenkonzepte Dass dem Governance-Konzept eine wichtige Brückenfunktion zukommt,48 kann inzwischen als ausgemacht gelten.49 In dem Einleitungsbeitrag des Handbuchs Governance heißt es dazu im Ton einer Sachstandsmitteilung wie folgt:50 „Governance ist damit nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein wissenschaftlicher ,Brückenbegriff (Schuppert 2005: 373), der eine problemorientierte Kommunikation zwischen unterschiedlichen Subdisziplinen der Politikwissenschaft sowie zwischen wissenschaftlichen Disziplinen ermöglicht.“

Und in einem internen Diskussionspapier des SFB 700 (Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit) zur Reise- und Exportfähigkeit des Governance-Konzepts heißt es bei Thomas Risse und Ursula Lehmkuhl51 wie folgt: „During the last 20 years the governance paradigm has developed into a conceptual bridge enabling fruitful conversations between political science, sociology, law, and history. At the same time it enables scholars to talk about policy and politics beyond a narrow focus on the state […]“

Nichts anderes gilt auch für die Disziplin der Staatswissenschaft als einem „interdisziplinär angelegten Gesprächsrahmen“52, der von dem Dialog der Disziplinen lebt: der Disziplin der Staatswissenschaft kommt daher auch – wie wir an anderer Stelle

46

Gunnar Folke Schuppert, Alles Governance oder was? Zur Leistungsfähigkeit des Governance-Konzepts, erscheint in: Schriftenreihe des Münchner Zentrum für GovernanceForschung, 2011. 47 Siehe neben Arthur Benz et al. (Hrsg.), Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder, Wiesbaden 2007; auch Gunnar Folke Schuppert, Governance im Spiegel der Wissenschaftsdisziplinen, in: derselbe (Hrsg.), Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2. Aufl., Baden-Baden 2006, S. 371 ff. 48 Siehe Schuppert, Governance im Spiegel der Wissenschaftsdisziplinen (Fn. 47). 49 Vgl. etwa Kees van Kersbergen/Frans van Waarden, „Governance“ as a bridge between disciplines. Cross-disciplinary inspiration regarding shifts in governance and problems of governability, accountability and legitimacy, in: European Journal of Political Research 43 (2004), S. 143 ff. 50 Arthur Benz/Susanne Lütz/Uwe Schimank/Georg Simones, Einleitung, in: dieselben (Hrsg.), Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder, Wiesbaden 2007, S. 16. 51 Von Oktober 2009. 52 Voßkuhle, Der „Dienstleistungsstaat“ (Fn. 22).

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hervorgehoben haben53 – die Aufgabe zu, einen solchen dialogischen Kommunikationsprozess zu organisieren und dafür ein Forum des Austausches bereitzustellen. Diese der Staatswissenschaft immanente Interdisziplinarität bedeutet aber – wie Voßkuhle vollkommen zu Recht betont, keine Einladung zur Disziplinlosigkeit:54 „Das ,Verlassen der eigenen Disziplin muß insofern nicht zur ,Disziplinlosigkeit führen, sondern schärft bei entsprechender Reflexion das Bewußtsein für die Vorzüge und Grenzen der jeweiligen Betrachtungsweise. Vor allem bewahrt ein differenziert-integratives Methodenverständnis den Juristen davor, politische, ökonomische oder ethische Überlegungen immer gleich in entscheidungsbedürftige Fragen der Verfassungsinterpretation zu transformieren – die materiale Aufladung der Verfassung in den letzten Jahrzehnten läßt sich insofern durchaus als Reaktion auf den Niedergang der Allgemeinen Staatslehre interpretieren.“

Sind also – um diesen Punkt zusammenfassend abzuschließen – Governance wie Staatswissenschaft der Sache nach Brückenkonzepte, so sollten sie in der Lage sein, voneinander zu lernen und sich insbesondere über Methodenfragen intensiv zu unterhalten. b) Wandel von Staatlichkeit als Changes in Governance Es ist mehr als auffällig, dass die Governance-Perspektive in der Literatur häufig mit dem Diskurs über „Wandel von Staatlichkeit“ in Verbindung gebracht wird; zwei Belegstellen für diese gegenüber dem allgemeinen Wandel-Diskurs erkennbare Aufschließungsfunktion des Governance-Konzepts wollen wir dafür heranziehen: Die erste Belegstelle findet sich in dem „Bilanzaufsatz“ von Julia von Blumenthal, in dem es zum Zusammenhang von Wandel von Staatlichkeit und der GovernancePerspektive wie folgt heißt:55 „Häufig wird auch eine Verbindung zwischen dem zunehmenden wissenschaftlichen Interesse an Governance und politischen Veränderungen hergestellt. Neben den bereits erwähnten Prozessen der Globalisierung sind es insbesondere die Finanzkrise der öffentlichen Haushalte sowie ein ,ideological shift towards the market in Politik und Wissenschaft, die zur Erklärung der Popularität des Konzeptes herangezogen werden. Die Diskussion über Governance gehört so in den weiten Kontext der Analyse und Beschreibung des Wandels von Staatlichkeit. Dabei nimmt auch die Governance-Forschung in Teilen eine Gegenposition zu Szenarien einer Krise oder gar des Endes von Staatlichkeit ein und sieht vielmehr in Governance einen Beleg für die Anpassungsfähigkeit von Staaten an externe soziale und ökonomische Veränderungen.“

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Schuppert, Staatswissenschaft (Fn. 9). Voßkuhle, Der „Dienstleistungsstaat“ (Fn. 22), S. 504. 55 Julia von Blumenthal, Governance. Eine kritische Zwischenbilanz, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 15 (2005), S. 1153. 54

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Die zweite Belegstelle verdanken wir dem Beitrag von Claudio Franzius über „Governance und Regelungsstrukturen“56 in dem er die Karriere des Governance-Ansatzes ausdrücklich als Reaktion auf den Wandel von Staatlichkeit deklariert: „Daraus sollte keine neue Verfallsgeschichte des Staates geschrieben werden. Notwendig sind vielmehr Analysen der ,Staatlichkeit im Wandel mit Blick auf die Verschiebung der Grenzen, die damit einhergehen. Governance beobachtet und thematisiert die Verschiebung von Grenzen, nimmt verschiedene Regelungsebenen in den Blick, fragt nach funktionalen Äquivalenten und nach solchen Ordnungsleistungen, die in einer fragmentierten, gleichermaßen durch Entgrenzung wie Vernetzung der politischen Räume gekennzeichneten Welt erbracht werden können.“

Aber es geht nicht nur um ein wie auch immer geartetes Näheverhältnis von Governance und Wandel von Staatlichkeit, sondern es geht darum, diesen diffusen Prozess des Wandels von Staatlichkeit zu präzisieren und analytisch schärfer zu fassen. Dieses leistet das Governance-Konzept, weil es Wandel von Staatlichkeit konkretisierend in Wandel von Governancemodi und Governancestrukturen zu übersetzen vermag. Damit wird Wandel von Staatlichkeit präziser erfassbarer und analysierbar. Gewissermaßen als „proof of the pudding“ wollen wir einen Blick auf eine äußerst hilfreiche Abhandlung von Michael Kempa et al. werfen,57 die die in der „governance community“ sozusagen anerkannten „changes in governance“ in sieben Punkten zusammenfassen, von denen wir die folgenden vier herausgreifen wollen: „(1) There is fairly wide agreement that it no longer makes sense to conceive of the state as the monopolist of governance. Once it was dogma that our collective world was divided into two fundamentally different spheres: the public sphere – which was the realm of governance; and, the private sphere – the realm of the governed. This crucial distinction has eroded. States do not enjoy a monopoly on governance, and themselves are often governed by non-state actors. (2) It now makes more sense to describe our world as polycentric, with multiple agencies and sites of governance who govern through a variety of forms of power and largely in their own interests with far reaching collective impacts. This is as true at the international level (where the proliferation of non-state governing actors has been characterized as a ,post-Westphalian regime) as it is at the local (where, for example, more public order services are provided by private security guards than by public police). (3) None of this means that states are no longer important governors. Many states retain decisionmaking powers in many spheres. Moreover, states are deliberately ,sharing power as a means of exercising it. Much of this falls under the umbrella of ,partnership approaches to governance, wherein the state attempts to maintain a hand on the tiller ,steering governance processes in the public interest. (4) The structure of governance today is widely described in network terms. Writers point to phenomena as diverse as information the Internet, public-private partnerships, markets, in56

Claudio Franzius, Governance und Regelungsstrukturen, in: Verwaltungsarchiv 97 (2006), S. 186. 57 Michael Kempa/Cliffort Shearing/Scott Burris, Changes in Governance. A Background Review, Paper prepared for the Salzburg Seminar on the Governance of Health, S. 2 f.

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formal policy networks at the international level, and ,whole of government initiatives as examples of networked governance in action. Though there are distinct differences in how the network metaphor is used, network accounts of governance tend to emphasize the importance of information flow as a means and measure of good governance.“

c) Relativierung der Staatszentriertheit In der Politikwissenschaft ist die Versuchung seit jeher groß, „den Staat“ – in der Regel verwendet als Abkürzung für hierarchisches, gar obrigkeitliches Regieren – wenn nicht in offener Schlacht, so doch zumindest semantisch aus dem Felde zu schlagen.58 Nachdem aber „der Staat“ alle diesbezüglichen Versuche der semantischen Ignorierung – man denke nur an die Ersetzung des Staatsbegriffs durch den des „politischen Systems“ – offenbar unbeschadet überstanden hat, scheint der Governance-Begriff eine zweite Chance zu bieten, kommt er doch sozusagen staatsfrei daher, so dass man meinen könnte, der Staat verschwände durch einen semantischen Coup – einem Zauberkunststück gleich – von der Bildfläche, die hinfort vom Governance-Begriff dominiert oder gar beherrscht wird. So einfach ist es hingegen nicht. Wenn schon der Staat nicht durch einen semantischen Coup zur Gänze verschwindet, bliebe vielleicht noch der subtilere Weg, den Governance-Begriff eng zu schneidern und damit das, was man am Staat nicht mag, erfolgreich auszublenden. Denn der Staatsgehalt des Governance-Ansatzes ist umso geringer, je enger der zugrunde gelegte Governancebegriff ist. Versteht man nämlich den Governancebegriff so, dass er eigentlich nur die nicht-hierarchischen Governanceformen erfasst – wobei die Gleichung Hierarchie = Staat immer mitgedacht ist – so will Governance eindeutig eine andere als die staatliche Perspektive sein; diese gewollte Selektivität der Sichtweise des Governance-Ansatzes könne – so Arthur Benz59 – „damit gerechtfertigt werden, dass wir so besondere Formen der Politik, des kollektiven Handelns in der modernen Gesellschaft besser verstehen als etwa mit dem Konzept des Staates oder Regierungssystems“. Ist Governance in diesem engeren Sinne als ein Gegenbegriff zu hierarchischer Steuerung zu verstehen, so wird damit der Staat als Akteur allerdings nicht abgeschafft; er ist damit aber „nur noch“ ein Governanceakteur unter anderen, und zwar eingebunden in nicht-hierarchische, auf die Kooperation mit nicht-staatlichen Akteuren zielende Regelungsstruktur. Aber auch dem subtileren Weg einer Staatsbeschneidung durch Begriffsverengung dürfte kein Erfolg beschieden sein; denn es gibt – so will uns scheinen – in der Gover58 Die Formulierung, die gegenwärtig offenbar eine besondere Konjunktur erlebt, ist die von „Staatlichkeit ohne Staat“; vgl. etwa Nicole Deitelhoff/Jens Steffek, Einleitung. Staatlichkeit ohne Staat?, in: dieselben (Hrsg.), Was bleibt vom Staat? Demokratie, Recht und Verfassung im globalen Zeitalter, Frankfurt a. M./New York 2009, S. 7 ff. 59 Arthur Benz, Einleitung. Governance. Modebegriff oder nützliches sozialwissenschaftliches Konzept?, in: derselbe (Hrsg.), Governance. Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2004, S. 20.

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nance-Forschung inzwischen so etwas wie einen allgemeinen Konsens darüber, dass ein weiter Governance-Begriff vorzugswürdig ist,60 der es erlaubt, die ganze Bandbreite der Governanceformen in den Blick zu nehmen. Daher verdient die von Renate Mayntz geprägte „Erfolgsdefinition“ volle Zustimmung, die unter Governance das „Gesamt aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte von der institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Selbstreglung über verschiedene Formen des Zusammenwirkens staatlicher und privater Akteure bis hin zu hoheitlichem Handeln staatlicher Akteure“ versteht.61 Es wäre – so möchten wir hinzufügen – in der Tat eine schwer nachvollziehbare Verkürzung des Governancebegriffs, würde die historisch wohl erfolgreichste Governancestruktur – das Organisationsprinzip der Hierarchie und die Institution der Bürokratie62 – aus dem Governancebegriff ausgeblendet. Mit anderen Worten: der Governance-Ansatz ist ein staatsrelativierendes, kein den Staat ausblendendes Konzept und es wäre daher wenig hilfreich, Staat und Governance gegeneinander auszuspielen.63 Der Governancebegriff erweitert aber – und daher ist er zu Recht so erfolgreich – die Perspektive und vermeidet die mit jeder Staatszentriertheit verbundene Gefahr der Blickverengung. Eine solche Relativierung der bisher staatszentrierten Perspektive würde auch einer erneuerten Staatswissenschaft gut anstehen. IV. Staatswissenschaft beyond the nation-state Eine seismographische Staatswissenschaft hat nicht nur die Wandlungsprozesse zu beobachten, die der Staat selbst durchläuft, sondern auch die Entwicklungen, die sich jenseits des Nationalstaates vollziehen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie ganz offensichtlich auf einen zunehmenden Bedeutungsverlust klassischer Nationalstaatlichkeit hinauslaufen. In diesem Sinne hätte eine zeitgemäße Staatswissenschaft die folgenden drei Prozesse aufmerksam zu begleiten:

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Siehe stellvertretend Schuppert/Zürn, Governance (Fn. 26), sowie daraus: Gunnar Folke Schuppert, Governance. Auf der Suche nach Konturen eines „anerkannt uneindeutigen Begriffs“, S. 13 ff. 61 Renate Mayntz, Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie?, in: Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung (Fn. 47), S. 11 ff. 62 Siehe dazu Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2000. 63 So zutreffend Margrit Seckelmann, Keine Alternative zur Staatlichkeit. Zum Konzept der „Global Governance“, in: Verwaltungsarchiv 98 (2007), S. 30 ff.

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1. Der Fundamentalvorgang der Europäisierung oder Staatswissenschaft als Europawissenschaft Vor einigen Jahren hatten wir versucht, wegen der nach wie vor anhaltenden Europäisierung klassischer Nationalstaatlichkeit die Notwendigkeit einer „Europawissenschaft“ zu reklamieren64 – allerdings mit einem mehr als überschaubaren Erfolg; das ist um so erstaunlicher, als das, was wir Europawissenschaft nennen, vielfach praktiziert wird, an europarechtlichen Lehrstühlen und Instituten wie an – der Sache nach – europawissenschaftlichen Studiengängen. Aber wie dem auch sei: vollkommen unbestritten dürfte sein, dass es sich bei der sogenannten Europäisierung nicht nur um einen fundamentalen, sondern zugleich präzedenzlosen Vorgang handelt, der zu einem präzedenzlosen Herrschaftsgebilde eigener Art geführt hat,65 das weder Staat noch klassischer Staatenbund ist und daher insbesondere die Disziplin der Rechtswissenschaft, die gewohnt ist, in klaren Kategorien zu denken, in einer immer noch anhaltenden begrifflichen Ratlosigkeit zurückgelassen hat. Ein solch fundamentaler Vorgang verlangt nach einer „starken Erklärung“; eine solche starke Erklärung finden wir von Rainer Wahl präsentiert, die in großer Klarheit herausarbeitet, dass es sich beim Fundamentalvorgang der Europäisierung nicht etwa um einen Zerfaserungsprozess oder ähnliche Auflösungserscheinungen des Nationalstaates handelt, sondern um eine Mutation des Nationalstaates vom klassischen souveränen Einzelstaat zum Mitgliedsstaat. Wir haben es mit einem fundamentalen Rollenwechsel vom klassischen, mehr oder weniger autonom gedachten Nationalstaat zum Mitgliedsstaat zu tun, der als Mitglied-Staat eine andere Beschaffenheit und Qualität aufweist als der „Nur-Nationalstaat“, der er vorher war66 und den es durch die Mitgliedwerdung als solchen auch nicht mehr gibt; Rainer Wahl – dem wir dazu direkt das Wort geben wollen – kommentiert den Vorgang aus rechtswissenschaftlicher Sicht eindringlich wie folgt:67 „Deutschland ist weiterhin ein Staat, gewiß, aber in vielerlei Hinsicht ist es treffender, es als Mitglied-Staat zu charakterisieren. Seine Rechtsordnung ist nicht mehr autark oder autonom. Das Recht in einem Mitgliedstaat ist pluralisiert. Das in Deutschland geltende Recht ist nicht nur deutsches Recht, sondern ein aus mehreren Quellen stammendes, zusammengesetztes und ineinander verwobenes Recht. Dieser Grundsachverhalt bestimmt die Ausgangslage für nahezu jedes Rechtsgebiet. Es gibt kein Refugium mehr, in dem ein deutsches Rechtsgebiet mit sich selbst allein ist. Stattdessen ist es zur Normallage geworden, daß jedes konkrete Rechtsgebiet in dem Sinne europäisiert worden ist, daß es vorrangiges Gemeinschaftsrecht und eine Reihe von indirekten Wegen der Beeinflussung gibt.“ 64 Gunnar Folke Schuppert/Ingolf Pernice/Ulrich Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005. 65 Jürgen Neyer, Postnationale politische Herrschaft. Verrechtlichung und Vergesellschaftung jenseits des Staates, Baden-Baden 2004. 66 Zur Veränderung sowohl der nationalstaatlichen wie der europäischen Ebene im Prozess der Europäisierung siehe Daniel Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 50 (1991), S. 97 ff. 67 Wahl (Fn. 1), S. 95 f.

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2. Auf dem Weg zu „transnational governance“ Je länger wir darüber nachdenken, desto mehr neigen wir der Auffassung zu, dass wir es nicht nur mit dem Fundamentalvorgang der Europäisierung zu tun haben sowie mit einer intensiven Internationalisierung (dazu sogleich), sondern einen weiteren Vorgang beobachten können, den man als Transnationalisierung bezeichnen kann und dem insofern etwas Fundamentales anhaftet, als er – wie der Prozess der Europäisierung – Neues und Anderes hervorbringt, das die beobachtenden Wissenschaftsdisziplinen vor neue analytische und begriffliche Herausforderungen stellt. Zur Probe dafür, dass es sich hier um etwas Neues handelt, verwenden wir einen am Wissenschaftszentrum Berlin erarbeiteten vierfachen Fragesatz,68 der die „changes in governance“-Perspektive in vier Dimensionen näher zu entfalten sucht, nämlich im Hinblick auf • sich wandelnde und neue Akteurskonstellationen, wobei hiermit an die Akteursperspektive der Steuerungstheorie zwar angeknüpft, diese aber zugleich prozesshaft „dynamisiert“ wird. • sich wandelnde und neue institutionelle Arrangements und Regelungsstrukturen, wobei hiermit auf die von Renate Mayntz angemahnte institutionalistische Wende angeknüpft und vor allem institutionenkulturell angereichert wird. • sich auflösende bzw. verwischende bisherige Grenzziehungen wie etwa zwischen national und international, öffentlich und privat, formal und informal etc., wobei diesem Fokus die Annahme zugrunde liegt, dass die beobachtbaren Prozesse des Wandels von Staatlichkeit sich vor allem als Prozesse von Entgrenzungen und Grenzverwischungen vollziehen. • sich wandelnde oder neu zu entwickelnde Legitimationskonzepte, die die Geborgenheit nationalstaatlicher Legitimationsstränge überwinden und legitimatorische Anforderungen an neue, insbesondere transnationale Governanceformen stellen. Wenn man so vorgeht, wird man durch reichen Ertrag belohnt, und zwar hinsichtlich aller vier Dimensionen: • Im transnationalen Raum stoßen wir auf eine Fülle neuartiger Akteure und neuartiger Akteurskonstellationen, seien dies – um nur zwei Beispiele zu nennen – transnationale Normsetzungsnetzwerke69 oder die vielfältigen Erscheinungsformen transnationaler Behördenkooperation.70 68 Sebastian Botzem/Jeanette Hofmann/Sigrid Quack/Gunnar Folke Schuppert/Holger Straßheim, Die Dynamik des Governance-Ansatzes. Vier Dimensionen von Wandel, in: dieselben (Hrsg.), Governance als Prozess. Koordinationsformen im Wandel, Baden-Baden 2009, S. 11 ff. 69 Kristine Kern, Globale Governance durch transnationale Netzwerkorganisationen. Möglichkeiten und Grenzen zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation, in: Dieter Gosewinkel et al. (Hrsg.), Zivilgesellschaft – national und international, WZB-Jahrbuch 2003, Berlin 2004, S. 285 ff.

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• Manche sehen im transnationalen Raum eine neue Form von Recht entstehen, das als sogenanntes transnationales Recht „durch die Rechtschöpfungskräfte einer globalen Zivilgesellschaft geschaffen und entwickelt“ wird.71 • Ganz typisch für die häufig netzwerkartigen Strukturen im transnationalen Raum sind die sich auflösenden Grenzen72 zwischen öffentlich und privat, formal und informal, national und international wie man etwa an neuartigen Formen von „rulemaking“ durch Standardsetzung und Codes of Conduct73 studieren kann. • Diese Befunde führen nahezu zwangsläufig zu Problemen der Legitimation und Verantwortlichkeit: entstehen – um nur ein Beispiel zu nennen – im transnationalen Raum neuartige Regulierungsformen, die zwar kein verbindliches Recht sind, bei funktionaler Betrachtung aber wie Recht wirken, so stellt sich von ganz allein die Frage, ob und wie solche nicht-staatliche Regelsetzung – etwa durch prozedurale Anforderungen – legitimiert werden kann.74 Jedenfalls – so können wir diesen Punkt zusammenfassen – wird eine zeitgemäße Staatswissenschaft nicht umhin können, sich mit dem Phänomen von „transnational governance“75 auseinanderzusetzen. 3. Zum anhaltenden Bedeutungsgewinn Internationaler Organisationen Der Staat ist – das haben schon unsere bisherigen Überlegungen beweiskräftig belegt – nicht mehr der alleinige Akteur auf den Bühnen von Politik, Governance und Rechtsetzung. Wir beobachten nicht nur einen ständigen Bedeutungsgewinn nichtstaatlicher Governanceakteure76 sowie Verschiebungen im Verhältnis von öffentli-

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Christoph Möllers, Transnationale Behördenkooperation. Verfassungs- und völkerrechtliche Probleme transnationaler administrativer Standardsetzung, ZaöRV 65 (2005), S. 351 ff. 71 Gralf-Peter Calliess, Transnationales Verbrauchervertragsrecht, in: RabelsZ 68 (2004), S. 244 ff.; skeptisch gegenüber dem Phänomen eines transnationalen Rechts Niels Ipsen, Private Normenordnungen als transnationales Recht?, Berlin 2009. 72 Vgl. dazu Christoph Möllers, Netzwerk als Kategorie des Organisationsrechts. Zur juristischen Beschreibung dezentraler Steuerung, in: Janbernd Oebbecke (Hrsg.), Nicht-normative Steuerung in dezentralen Systemen, Stuttgart 2005, S. 285 ff. 73 Ausführlich zu diesen neuen Regelungsformen Gunnar Folke Schuppert, Governance und Rechtsetzung. Grundfragen einer modernen Regelungswissenschaft, Baden-Baden (i.E.). 74 Lothar Michael, Private Standardsetzer und demokratisch legitimierte Rechtsetzung, in: Hartmut Bauer et al. (Hrsg.), Demokratie in Europa, Tübingen 2005, S. 431 ff.; ferner Schuppert, New modes of governance (Fn. 24). 75 Marie-Laure Djelic/Kerstin Sahlin-Anderson (Hrsg.), Transnational Governance. Institutional Dynamics of Regulation, Cambridge 2006; Christian Joerges/Inger Johanne Sand/ Gunther Teubner (Hrsg.), Transnational Governance and Constitutionalism, Oxford/Portland 2004. 76 Siehe dazu die Beiträge in Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Global Governance and the Role of Non-State Actors, Baden-Baden 2006.

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chem und privatem Sektor,77 sondern auch und vor allem eine immer wichtiger werdende Rolle Internationaler Organisationen;78 dies ist gerade bei den Bewältigungsversuchen der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise noch einmal deutlich geworden: globale Wirtschafts- und Finanzkrisen79 sind die Stunde global agierender Organisationen wie etwa des Internationalen Währungsfonds. Als Autoren, die für uns diesen Befund des Bedeutungsgewinns internationaler Organisationen noch einmal zusammenfassen, wollen wir Michael Zürn und Tim Gemkow in den Zeugenstand rufen, die dazu Folgendes zu Protokoll gegeben haben:80 „The past two to three decades have brought changes that undermined Westphalian sovereignty. International institutions nowadays play an active and often crucial role in many policy-areas. They make decisions in a majoritarian mode in such important organizations like the World Bank, the IMF and the EU, thus cancelling the vetoes of individual states and overcoming blockades. They adjudicate in cases of diverging interpretations of the rules and expect states to follow such rulings as for instance in the case of the WTO Dispute Settlement Body. We can even observe an increased readiness for actions of international institutions with which they respond to a violation of international rules. Implementation committees, liability regimes, legal sanction mechanisms either as part of the constitutive treaty (Kyoto Protocol) or as part of contracts (World Bank) and even a preparedness to use for – especially since 1989, cases of gross violation of human rights have increasingly been responded to with military force and economic sanctions.“

Wenn dieser Befund richtig ist, dann üben Internationale Organisationen zunehmend politische Herrschaft in einer Art und Weise aus, die wir früher – zu Zeiten des souveränen Nationalstaates81 – als Ausübung von Staatsgewalt bezeichnet hätten, die immer einer demokratisch-rechtsstaatlichen Legitimationsbasis bedarf. Dieses Legitimationsproblem stellt sich jedenfalls dann, wenn internationale Organisationen – wie Zürn/Gemkow konstatieren – Entscheidungen zu treffen vermögen, die nicht nur für Staaten, sondern zunehmend auch für Individuen verbindlich sind: „International institutions thus have become a site of political authority. International institutions have authority when states recognize, in principle or in practice, their ability to make binding decisions on matters relating to a stets domestic jurisdiction, even if those decisions are contrary to a states own policies and preferences. In this sense, both activities that bind 77

Vgl. dazu die Beiträge in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem Staat“. Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff eines sich verändernden Verhältnisses von öffentlichem und privatem Sektor, Baden-Baden 1999. 78 Vgl. dazu die Beiträge in: Michele Knodt/Markus Jachtenfuchs (Hrsg.), Regieren in internationalen Institutionen, Opladen 2002. 79 Siehe dazu Werner Plumpe, Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, München 2010. 80 Michael Zürn/Tim Gemkow, Constraining International Authority Through the Rule of Law. Legitimatory Potential and Political Dynamics, in: Peerenboom/Nollkemper/Zürn (Fn. 24). 81 Stephan Leibfried/Michael Zürn, Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, in: dieselben (Hrsg.), Transformationen des Staates?, Frankfurt a. M. 2006, S. 10 ff.

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states thus affecting private actors only indirectly and those that affect individuals directly such as decisions of the United Nations Security Council Al-Qaida and Taliban Sanction Committee or of transitional administrations are indications of a public authority of international institutions.“82

Kurz zusammengefasst heißt dies: Entscheidungskompetenzen wandern, nicht nur innerstaatlich, sondern insbesondere im internationalen Bereich, in dem wir feststellen können, dass sie sich zunehmend an internationale Organisationen „anlagern“, was spiegelbildlich zu einer „Zerfaserung“ des Nationalstaates führen kann.83 Solche Wandlungsprozesse zu beobachten und zu analysieren, wäre eine wichtige Aufgabe einer zeitgemäßen Staatswissenschaft.

V. Seismographische Staatswissenschaft 1. Dimensionen des Wandels Wie wir gesehen haben, gibt es für eine Staatswissenschaft, die auf der Höhe der Zeit sein will, viel zu beobachten und zu analysieren. Dies gilt zunächst für all das, was man unter dem weiten Dach des Wandels von Staatlichkeit zusammenfassen kann, handle es sich um externen oder internen Wandel.84 Stets ist etwas „going on“, Entwicklungen für die sich Begriffe eingebürgert haben, die Prozesse benennen, wie etwa Europäisierung, Internationalisierung, Ökonomisierung, Privatisierung, Ausfransung, Kooperationalisierung oder was auch immer. Will man dies alles verallgemeinern und verdichten, so kann man – wie wir dies vorgeschlagen haben – von Staat als Prozess85 sprechen. Aber es geht nicht nur um Wandlungsprozesse des Forschungsgegenstandes Staat selbst, sondern um zumindest zwei weitere Handlungsprozesse, für die sich eine zeitgemäße Staatswissenschaft zu interessieren hat: • Gemeint ist zunächst einmal der Wandel im Sprachgebrauch, der den Wandel von Staatlichkeit beobachtenden Institutionen und Disziplinen. Dies nennen wir „semantic shifts“ wie etwa der vom Dritten Sektor zu Zivilgesellschaft oder von Government zu Governance. Hier stellt sich die Frage, ob es sich hierbei lediglich um modische Umettikettierungen handelt oder um Anzeichen für tiefergreifende Wandlungsprozesse, die nach ihrer sprachlichen Ausdrucksfähigkeit drängen. • Zweitens aber – und wichtiger – geht es um Entwicklungsprozesse in den von der Staatswissenschaft gebündelten Disziplinen, wofür wir nur zwei prominente Bei82

Zürn/Gemkow (Fn. 80). Siehe dazu Philipp Genschel/Bernhard Zangl, Die Zerfaserung von Staatlichkeit und die Zentralität des Staates, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 20 – 21 (2007), S. 10 ff. 84 Zu dieser Unterscheidung Helmuth Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Wissenschaft. Dimensionen einer nur scheinbar akademischen Fragestellung, in: derselbe (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Berlin 2007, S. 11 ff. 85 Schuppert, Staat als Prozess (Fn. 7). 83

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spiele nennen wollen. Das eine Beispiel ist der folgenreiche Perspektivenwechsel von der Steuerungswissenschaft zur Governancetheorie, ein Prozess, der von Renate Mayntz für den Bereich der Politikwissenschaft mit großer Klarheit beschrieben worden ist86 und Werner Jann gar zu der besorgten Frage „Alles Governance oder was?“ veranlasst hat.87 Das zweite Beispiel ist in der Wissenschaft vom öffentlichen Recht der Perspektivenwechsel von einer normtextorientierten Interpretationswissenschaft zu einer problem- und regelungsorientierten Entscheidungswissenschaft, ein Wandlungsprozess, der in der Ausrufung einer „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“88 seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden hat.

2. Zur Notwendigkeit einer seismographischen Staatswissenschaft Wenn all diese hier nur kurz skizzierten Entwicklungen beobachtet werden sollen, dann muss eine dies leisten sollende Staatswissenschaft notwendig eine seismographische Staatswissenschaft sein, die nicht nur die Aufgabe zu organisieren hat, den Wandel von Staatlichkeit zu verfolgen, sondern die auch Horchposten unterhält, mittels derer sie in der Lage ist, Paradigmen- und Perspektivenwechsel in denjenigen Disziplinen „mitzubekommen“, die für das Projekt Staatswissenschaft besonders wichtige Beiträge leisten. Dies ist – wenn man so will – eine Form von Governance durch Wissen89 und erinnert an die Aufgabenstellung einer „Intelligence Agency“, deren Tätigkeit man sicher nicht als das Bedienen toter Briefkästen vorstellen darf, sondern als systematische Erhebung wissenschaftlich valider Informationen über den Zustand und den Wandel bestimmter „target states“90. Bloß ist hier nicht primär die Befindlichkeit bestimmter Staaten das Forschungsobjekt – aber, wie das Beispiel der failing states zeigt, dies durchaus auch – sondern der „state of the art“ staatlichkeitsorientierter Wissenschaftsdisziplinen. Aber dies ist nur ein erster, wenn auch wichtiger Schritt. Die zweite zentrale Aufgabe des interdisziplinären Projekts Staatswissenschaft bestünde darin, den Dialog der Disziplinen zu fördern und darin, damit ein Forum für fach- und problemübergreifende Reflexion bereitzustellen.91 Wir selbst haben diese Aufgabe in unserem Grundriss der Staatswissenschaft dahingehend beschrieben, dass der Staatswissenschaft die

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Mayntz (Fn. 61). Jann, Praktische Fragen und theoretische Antworten (Fn. 45). 88 Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/ Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, München 2006, § 1, S. 1 ff. 89 Vgl. dazu Gunnar Folke Schuppert, Governance von und durch Wissen. Überlegungen zum Verhältnis von Macht und Wissen aus governancetheoretischer Perspektive, in: derselbe/ Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Governance von und durch Wissen, Baden-Baden 2008, S. 259 ff. 90 Erhellend dazu Eva Horn, Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a. M. 2007. 91 Voßkuhle, Der „Dienstleistungsstaat“ (Fn. 22), S. 504 f. 87

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„Rolle einer institutionalisierten Metakommunikation“ zukomme;92 um diese Rolle auszufüllen, bedarf es nicht nur staatswissenschaftlicher Forschungsstätten – von diesen staatswissenschaftlichen Orten war schon die Rede –, sondern auch staatswissenschaftlicher Zeitschriften,93 vor allem aber eines Typus von Wissenschaftlern, die die anspruchsvolle Pflege eines interdisziplinären Projekts94 glaubhaft verkörpern95 – wie dies unserem Jubilar aus ganzem Herzen bescheinigt werden kann.

92 Schuppert, Staatswissenschaft (Fn. 9), S. 47; zustimmend aufgegriffen von Voßkuhle, Die Renaissance der „Allgemeinen Staatslehre“ (Fn. 2), S. 6. 93 Die Zeitschrift „Staatswissenschaften und Staatspraxis“ war ein solcher Versuch, ein Forum des Dialogs und der disziplinenübergreifenden Reflexion bereitzustellen, ist aber aus Gründen, die nicht in der Natur des Faches Staatswissenschaft begründet liegen, nach über 10 erfolgreichen Jahren leider nicht fortgesetzt worden. 94 Stanley Fish, Being Interdisciplinary Is So Very Hard to Do, in: derselbe (Hrsg.), Theres No Such Thing as Free Speech, New York 1994, S. 231 ff. 95 Vgl. dazu meine Überlegungen in „Die Verwaltungswissenschaft als Impulsgeberin der Verwaltungsrechtsreform“, in: Wolfgang Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft. Ausgewählte Schriften von Wolfgang Hoffmann-Riem mit begleitenden Analysen, Tübingen 2010, S. 1041 ff.

Was heißt und zu welchem Ende studiert man Völkerrechtsgeschichte? Von Heinhard Steiger, Linden I. Mit Enthusiasmus schildert Friedrich Schiller in seiner Antrittsvorlesung als Professor für Universalgeschichte in Jena am 26. und 27. Mai 1789 „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte“ den Zustand Europas: „Endlich unsere Staaten – mit welcher Innigkeit, mit welcher Kunst sind sie ineinander verschlungen! Wieviel dauerhafter durch den wohltätigen Zwang der Not als vormals durch die feierlichsten Verträge verbrüdert! Den Frieden hütet jetzt ein ewig geharnischter Krieg, und die Selbstliebe eines Staats setzt ihn zum Wächter über den Wohlstand des andern. Die europäische Staatengesellschaft scheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenossen können einander anfeinden, aber hoffentlich nicht mehr zerfleischen.“ Diese Preisung der friedensbewehrten Ordnung Europas ist Teil eines Gesamtgemäldes seines Zeitalters, der „gegenwärtigen Gestalt der Welt“, die er in den strahlenden Farben eines gehobenen Zustandes der Nutzung der Meere und des Landes, eines Fortschrittes der Schöpfungen der Kunst und des Wissens, einer humanen Verbesserung der Gesetze malt. So stellt sich Schiller die Welt als eine wohl geordnete, hoch entwickelte, fortschrittliche, der wachsenden und sich verwirklichenden Vernunft geöffnete Welt dar. Wie, so seine Frage, sei es von den alten Zuständen der Zeit der Kelten und der Germanen aber auch des Mittelalters, das für ihn wohl eine finsteres war, zu der gegenwärtigen positiven Ordnung gekommen? Die allgemeine Geschichte oder Universalgeschichte gebe die Antwort, des Weges des Menschen vom ungeselligen Höhlenbewohner zum geistreichen Denker und gebildeten Weltmann, und damit zu all den anderen positiven Elementen seiner Zeit. Aber zu dieser Weltgeschichte gehören für den Historiker Schiller auch die Kriege, die eine Art Geburtshelferfunktion für die Friedensordnung haben. Die „ganze Geschichte“ hat Höhen und Tiefen, ihre „Erfindungen, Entdeckungen, Staats- und Kirchenrevolutionen“. So ist Universalgeschichte alles, was aus dem Blick von heute zurückgehend die Ursachen und Wirkungen der Ereignisse und Begebenheiten für die Gegenwart, „welche auf die heutige Gestalt der und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben“, politische wie kulturelle und ökonomische Ereignisse. „Fruchtbar und weit umfassend ist das Gebiet der Geschichte; in ihrem Kreise liegt die ganze moralische Welt“. Universalgeschichte ist gerichtet auf „alle Zustände, die der Mensch erlebte, alle abwechselnden Gestalten

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der Meinung, seine Torheit und seine Weisheit, seine Verschlimmerung und seine Verbesserung“, aber immer im Blick auf die Gegenwart und ihren gehobenen Stand. Da dazu auch das Völkerrecht gezählt werden kann, könnte das für eine Völkerrechtsgeschichte bedeuten, daß sie uns Verständnis für den völkerrechtlichen Zustand der Gegenwart und Aufschluß über sein Werden gibt. Aber Schiller selbst verweist auf das Grundproblem. „Vollzählig überschauen“ aber könne der Mensch die gesamte Menschheit schon aus Gründen der Überlieferung nicht. So könne „Weltgeschichte nie etwas anderes sein als ein Aggegrat von Bruchstücken“. Das gilt auch für die Völkerrechtsgeschichte, die auf schriftliche Überlieferung angewiesen ist. Den Ausweg sucht Schiller in der Philosophie, die die Bruchstücke mit dem Hilfsmittel der Analogie zu einem „vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen“ verbinden würde. Sie müsse aber mit Vorsicht gehandhabt und durch „einen erheblichen Zweck gerechtfertigt“ werden. Der Philosoph wird in der Verknüpfung der Vergangenheit mit der Gegenwart in seiner inneren Vorstellung immer mehr dazu neigen, was zunächst nur Ursache und Wirkung ist, als Mittel und Absicht zu verbinden und zu einem übereinstimmenden Ganzen zu fügen. Er wird dann weiter versuchen „einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte“ zu bringen. Letztlich irgendwann in spätesten Zeiten sollte es gelingen, „das Problem der Weltordnung aufzulösen und dem höchsten Geist in seiner schönsten Wirkung zu begegnen“. Zu diesem Ende, so Schiller, studiert man Weltgeschichte. Wir sind von diesem Enthusiasmus einer auf diese letzte Begegnung zielende Geschichte weit entfernt, gerade auch für die Völkerrechtsgeschichte. Dazu haben nicht zuletzt grundlegende Enttäuschungen des Ganges der Weltgeschichte geführt. Wenige Tage vor Schillers Antrittsvorlesung hatte am 8. Mai die französische Revolution mit dem Zusammentritt der Generalstände ihren Lauf begonnen. Am 17. Juni 1789 konstituierte sich der 3. Stand als „Assemble nationale“ und stürzte damit das ancien rgime nicht nur in Frankreich um, sondern hob es als europäischen Verfassungszustand dem Grunde nach auf. Im April 1792 beschloß die Nationalversammlung den Krieg, der zu den napoleonischen Umstürzen der von Schiller gepriesenen Ordnung Europas und deren völligen Zusammenbruch führte. Die Hausgenossen im Haus Europa zerfleischten sich erneut und mit größter Heftigkeit. II. Aber gab es 1795 nicht doch mit dem Friedensvertrag von Basel zwischen der Französischen Republik und Friedrich Wilhelm II. neue Hoffnung für Europa? In demselben Jahr wiederholte Immanuel Kant in seinem Essay „Zum ewigen Frieden“ noch einmal mit allem Nachdruck, daß es ein Gebot der Vernunft „vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt“ sei, den gesetzlosen Naturzustand des Krieges durch ein foedus pacificum zu überwinden. Hoffte er, der Baseler Friedensvertrag könne der Anfang dieses foedus sein, den er bereits 1784 im Achten Satz seines Essays „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ und

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erneut in seiner Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn im dritten Teil seines Essays von 1793 „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“, der das Völkerrecht betrifft, begründet hatte? Dort hatte er diese Föderation als „moralische Absicht“ auf dem bereits eingeschlagenen Wege des „immerwährenden Fortschritts zum Besseren“ zur „Pflicht“ erklärt. Kant selbst war Realist genug, den vollkommenen Völkerstaat oder die Weltrepublik mit einer gewissen Skepsis zu beurteilen und sich mit dem von den Staaten selbst zu stiftenden Völkerbund zufrieden zu geben. Dieser ist für ihn auch keineswegs eine Naherwartung und angesichts des Widerstrebens der Staaten schwierig zu verwirklichen. Aber da er eine Notwendigkeit der praktischen Vernunft ist, wird er wegen der Übel der Kriege und auch der Wohltaten des Handels kommen. Kant formulierte mit seinem Vernunftgebot nach den Kriterien der Praktischen Vernunft neu, was im Alten Testament, bei Cicero, Augustinus, Alkuin, Thomas v. Aquin, Erasmus v. Rotterdam, in den Flugblättern des Dreißigjährigen Krieges, in den Friedensplänen von König Podiebrad bis Jean Jacques Rousseau, aber auch in der völkerrechtlichen Literatur immer wieder ersehnt, gefordert worden war, und was auch im Völkerrecht immer neu im Westfälischen Frieden 1648 über den Pyrenäenfrieden von 1659 zum Frieden von Oliva 1660, und wieder in den Friedensschlüssen nach dem Spanischen Erbfolgekrieg von Utrecht und Rastatt 1713/1714 und zahlreichen partikularen Friedensverträgen im Ansatz organisiert wurde, der allgemeine europäische Frieden. Die frühen Darstellungen der Geschichte des Völkerrechts, die in die allgemeine geschichtsphilosophische Tendenz der Epoche eingebettet waren, konnten sich daher als die Geschichte eines Fortschritts begreifen. So verfaßte Henry Wheaton die erste wirklich umfassende Völkerrechtsgeschichte unter dem Titel „Histoire des progrs du droit des gens en Europe et en Amrique“, zunächst seit dem Westfälischen Frieden, aber dann seit der Antike.1 Zunächst aber verlief die Geschichte weiterhin in der eingeschlagenen Bahn, beschleunigte sich sogar. Denn Frankreich und sein aufsteigender Feldherr, Erster Konsul und schließlich Kaiser Napoleon gewannen durch das Ausscheiden Preußens aus der antifranzösischen Koalition Entlastung und damit einen größeren Spielraum für die militärischen Aktionen, die Europa durcheinander wirbelten. Am Ende entging auch Preußen dem „neuen Tamerlan“ nicht.

III. Auch nach dem „napoleonischen Naturzustand“ wurde erneut im Frieden von Paris 1814 und auf dem Wiener Kongress 1815 eine Friedensordnung für Europa begründet. Jedoch hielt auch sie nur genau 100 Jahre. Sie war zudem als „Völkerrecht der zivilisierten Staaten“ doppelgesichtig, nach innen, d. h. innerhalb dieser Gruppe 1 3. Aufl. Leipzig 1853. Sie war entstanden als Ausarbeitung auf eine Preisfrage der Französischen Acadmie des Sciences morales et politiques von 1839 „Quels sont les progrs qua faits le droit des gens en Europe depuis la Paix de Westphalie?“

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zwar auf Frieden ausgerichtet, rechtfertigte sie nach außen gegenüber den „halbzivilisierten“ Staaten und vor allem den „Wilden“ oder barbarischen Völkern, also dem größeren Teil der Welt eine imperialistische Politik der Gewalt und der Unterwerfung. Den Frieden untereinander konnten die europäischen Mächte im Streit um diese Beute auch nur bewahren, indem sie auf der Berliner Kongokonferenz 1884/85 Afrika unter sich ohne Rücksicht auf die „wilden“ Afrikaner aufteilten. Jedoch konnten sie 1914 bis 1918 den bis dahin katastrophalsten Krieg nicht vermeiden. Zwar wurde 1919 sogar der Versuch unternommen, durch einen „Völkerbund“ den neuen Frieden institutionell stabiler zu machen. Aber er scheiterte in der völligen Auflösung aller Ordnung ab 1939 in einem endgültigen, absoluten Naturzustand zwischen Staaten und Menschen, wie er nach den fortschrittlichen, wie es schien, allgemein geteilten Konzepten der Sicherung des Friedens, mochten sie religiösen oder vernünftig-praktischer Provenienz sein, in einer „zivilisierten Welt“ nicht mehr vorstellbar erschien. Aber diese Kriege machen nur wieder bewußt und erlebt, daß es in der europäischen Geschichte und der allgemeinen Weltgeschichte nicht nur die Tradition des Friedens, sondern, wie Schiller hervorgehoben hatte, ebenso die Tradition des Krieges gibt. Beide gingen in Europa immer Hand in Hand. Sie sind Gegenbilder, und doch von einander abhängig. Kriege wurden nicht nur tatsächlich geführt, sondern in der theologischen, philosophischen, politischen und auch völkerrechtlichen Tradition in Lehre und Praxis im Verhältnis zum Frieden unter bestimmten Voraussetzungen legitimiert sowie geregelt und geordnet. Völkerrecht ist ius belli ac pacis. 1939 brach jedoch eben dieser Zusammenhang von Krieg und Frieden auf. Dieser Krieg war nicht darauf gerichtet, am Ende Frieden herzustellen, der seit altersher in der europäischen Tradition mit der Gerechtigkeit verbunden ist. Die vom Deutschen Reich gegen die Staaten, Völker und Menschen in Osteuropa ab 1939 geführten Kriege und die in ihnen angewandte Gewalt waren auf Eroberung, Unterwerfung, Vernichtung oder Versklavung des Feindes gerichtet. Für Völkerrecht wurde darin kein Platz gelassen. Deswegen war er die pure rechtlose Gewalt des Naturzustandes. Es war wohl diese elementare Zerstörung der bisherigen Ordnung, die 1945 den neuen Versuch, eine stabile, gerechte Friedensordnung durch ein neues Völkerrecht herzustellen, auf grundsätzlich neue Grundlagen stellte, indem es endlich gelang, die Anwendung von Gewalt zwischen den Staaten und Völkern und damit Krieg in Art. 2 Abs. 4 SVN allgemein zu verbieten und gleichzeitig ein institutionelles System der gegenseitigen Sicherheit mit dem Sicherheitsrat als zentralen, wenn auch politischstaatlichen Entscheidungsorgan zur Wahrung des „Weltfriedens“ einzurichten. Da zudem versucht wird, durch universelle Verträge den Schutz der Menschenrechte, gegenseitige Solidarität sowie andere inhaltliche Postulate der Frieden rechtlich zu verankern, also Frieden auch inhaltlich durch mehr Gerechtigkeit zwischen den Völkern aufzufüllen, könnte Völkerrechtsgeschichte vom heutigen Ende her gesehen doch als eine Geschichte eines intendierten Fortschritts erscheinen. Der Blick auf den tatsächlichen Zustand der gegenwärtigen völkerrechtlichen Ordnung rät zur Vorsicht. Denn trotz des Gewalt- und Kriegsverbotes finden in der

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Welt ständig Kriege zwischen Staaten und Bürgerkriege in Staaten statt. Die Wirksamkeit des Systems gegenseitiger Sicherheit zur Verhinderung von Kriegen funktioniert nur sehr eingeschränkt. Noch immer nehmen große aber auch kleinere Staaten die Letztentscheidung für sich in Anspruch und setzen ihre Souveränität u. U. auch mit Gewalt durch. Andererseits hat der zuständige Weltsicherheitsrat selbst Kriege mandatiert. Die Menschenrechte werden von vielen Staaten gründlich mißachtet und gebrochen, im Innern wie auch nach außen. Viele der zentralen Elemente einer gerechten universellen Friedensordnung werden zwar auf großen Konferenzen immer aufs Neue erörtert. Aber es gelingt nicht, zu verbindlichen universellen Vereinbarungen zu gelangen. Freizügigkeit, Freihandel, freier Kapitalverkehr in bisher unbekanntem Maße haben zwar Wohlstand für einige Regionen der Welt gebracht, in anderen aber wachsende Verarmung nicht verhindern können, vielleicht sogar befördert, haben auch zu tiefgreifenden ökonomischen Krisen geführt. Die Entwicklung der europäische Friedensunion wird von den Mitgliedstaaten zwar nicht mehr im Namen dynastischer Interessen, aber im Namen einer konservativ verstandenen demokratischen Staatssouveränität gebremst. Mag also 1945 auch ein normativer Fortschritt erreicht worden sein, ein tatsächlicher Fortschritt läßt sich nur in Ansätzen und nur in einigen Regionen der Welt, insbesondere in Europa feststellen. Daher herrscht in der Völkerrechtslehre bei vielen Autoren Skepsis über die Tragfähigkeit der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung. Es ist, bei aller Zustimmung, aufs Ganze der Welt gesehen schwer, in dem neuen Versuch mit Kant eine wirklich neue „Stufe der Sittlichkeit … des uns bekannten Weltlaufs“ im „immerwährenden Fortschritt zum Besseren“ zu sehen. IV. Die geschichtsphilosophischen Interpretationen der Weltgeschichte selbst, insbesondere der Historismus sind inzwischen auch überholt. Zielgerichtete Entwicklungslinien auf einen Fortschritt hin lassen sich in einer säkularen Theorie offenbar nicht begründen, allenfalls in einer Geschichtstheologie. So hat Reinhart Koselleck das im 18./19. Jahrhundert entstandene Konzept der „einen Geschichte“ oder „Geschichte an sich“, das die Erzählungen der Geschehnisse aus der Vergangenheit ablöste oder aufsaugte, grundsätzlich in Frage gestellt.2 Die Einzelgeschichten treten wieder in den Vordergrund, ohne aber die „Geschichte“ als deren Gesamtheit aufzugeben. Wie sie sich ineinander fügen, wird zur Frage der Geschichtstheorie. Das legt es nahe, auch die Leitfrage an die Disziplin der Völkerrechtsgeschichte neu zu stellen. Zwar wird sie sich auf Krieg und Frieden als die Grundstrukturen der Zwischen-Mächte-Beziehungen richten. Aber zunächst geht es allein darum zu klären, ob und wie Krieg und Frieden zwischen den politischen Mächten in früheren Zeiten und den Regionen oder Räumen der Welt normativ geordnet und geregelt worden sind. Erst wo das jedenfalls in Ansätzen der Fall ist, kann von „Völkerrecht“ in einem 2 Reinhart Koselleck, Wozu noch Historie?, in: HZ 212 (1971), S. 1 – 18, wieder abgedruckt in, ders. (Hrsg.) Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Berlin 2010, S. 32 – 51.

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unspezifischen Sinn bzw. entsprechenden normativen Äquivalenzen die Rede sein. Krieg wird unbeschadet schwieriger Differenzierungen im einzelnen als die Anwendung von bewaffneter militärischer Gewalt zwischen den politischen Mächten verstanden. Frieden wird alle Beziehungen nicht gewalttätiger Art zwischen den Völkern bzw. den Herrschaften umfassen, welcher Art auch immer. Man wird davon ausgehen müssen, daß normative Regelungen und Ordnungen eine gewisse Stabilität und Ruhe der beteiligten Mächte, also Ansätze eines Friedens oder doch eines Friedenswillens voraussetzen. Das ist gewiß nicht zu allen Zeiten und überall der Fall gewesen. Oft hatten die Beziehungen zwischen den Mächten eher den Charakter eines kriegerischen Naturzustandes mit Überfällen und Einbrüchen fremder Völker von außen, mit Plünderungen, Eroberungen, Zusammenbrüchen und Begründungen neuer Herrschaft und Reiche, die ihrerseits wieder gestürzt wurden, aber auch innerer Zerfall und Neuformation etc. Wenn alte Reiche zerbrachen, waren auch die bestehenden Ordnungen bedroht, sowohl beim Zusammenbruch des Reiches der Hethiter, aber auch bei dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft im Westreich oder der Mogulherrschaft in Indien. Mit der Neuformierung der politischen Mächte und ihrer Beziehungen folgen Zeiten des ungewissen Übergangs auch für die normativen Regelungen und Ordnungen, wenn nicht eines völligen Zusammenbruchs und Neuanfangs. Wenn es dann gelingt, diesen Naturzustand oder doch Unruhezustand jedenfalls halbwegs zu überwinden, kann das als ganz praktischer Fortschritt angesehen werden. Diese Phasen sind in den Völkerrechtsgeschichten zweifellos von besonderem Interesse. Der Blick auf die verschiedenen Zeiten und Räume oder Regionen normativer Ordnung wird somit nicht von moralischem Pathos, sondern von funktionaler Analyse geleitet. Diese Einzelgeschichten erzählen Geschichten über Normen, Institutionen, Strukturen, Ordnungen und Systeme politischen Verhaltens in den Beziehungen zwischen den politischen Mächten in verschiedenen Regionen der Welt und zu verschiedenen Zeiten unter den jeweiligen politischen, gesellschaftlichen, kulturellen, normativen Verhältnissen und Vorstellungen. In den Analysen der Zwischen-Mächte-Beziehungen und ihrer Normativität kommt es nicht auf die Organisationsform dieser Mächte an, seien es moderne demokratische Staaten, die Staaten der europäischen Frühen Neuzeit, europäische Herrscher oder andere Mächte des Mittelalters, Herrscher, Reiche oder Städte der Antike, islamische Kalifen oder Sultane, hethitische Könige, deren Vasallen, ägyptische Pharaonen, assyrische und babylonische Herrscher, israelitische Könige, chinesische oder indische Kaiser, indonesische Kleinkönige, afrikanische Könige, indianische Stämme oder deren chiefs, oder andere Herrschaften oder Herrschaftsträgern. Schon die Aufzählung dieser sehr unterschiedlichen politischen Herrschaftsmächte zeigt, daß die normativen Regelungen oder Ordnungen sehr verschieden gestaltet sein müssen. Man kann das ZwischenMächte-Normativität in einem sehr weiten und allgemeinen Sinn nennen. Insofern ist Völkerrechtsgeschichte als Disziplin, als Historie des Völkerrechts zwar nach Zeiten und Räumen allgemein angelegt, aber jede Zeit steht in jedem Ordnungsraum für sich.

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Deren Abgrenzungen sind nicht vorgegeben, können nicht von heute her gesehen bestimmt werden. Sie sind als Teil der Forschung aus ihrer allgemeinen Geschichte zu konstruieren. Die europäischen Epochen sind nicht auf Asien übertragbar, zumal sie selbst umstritten sind. Räume verändern sich. Der europäische Ordnungsraum in der Antike ist ein anderer als der des Frühmittelalters oder des späteren Mittelalters oder der Frühen Neuzeit oder der Gegenwart. Zwei der wichtigsten Änderungen in Neuer Zeit mit allgemeiner Bedeutung bilden der Übergang von dem europäischen Ordnungsraum im Mittelalter zu den europäisch-amerikanischen und europäisch-asiatischen Ordnungsräumen ab dem 16. Jahrhundert und dann von diesen zu einem globalen Ordnungsraum im 19. Jahrhundert. Ordnungsräume bilden in der Vergangenheit auch nicht stets fest oder doch deutlich umgrenzte oder umfänglich beherrschte Gebiete oder setzen sich aus solchen zusammen, sondern werden, wie u. a. der portugiesische Herrschaftsraum in Asien im 16. Jahrhundert, durch ein System untereinander verbundener Herrschaftsorte oder über dauerhafte Kommunikations- und Austauschwege wie den Handelsstraßen und auch Heerstraßen von Europa nach Asien und in Asien bestimmt, sei es über Land, sei es über das Meer. Auch die Normen der Regelungen und Ordnungen haben sehr verschiedenen Charakter. Im Vordergrund stehen keineswegs immer rechtliche Normen. Religiöse, ethische, konventionelle Normen, Spielregeln können in verschiedenen Kombinationen und Gewichtungen in einer mehrschichtigen Multinormativität mit oder u. U. auch ohne rechtliche Normen die Gesamtordnung bilden. Innerhalb des Rechts werden Rechtsgewohnheiten, gesetzte Normen des Völkerrechts, des Verfassungsrechts u. a. zusammenwirken. All diese Begriffe entstammen zudem dem europäischen Recht, seiner Theorie und seiner Praxis der letzten Jahrhunderte und sind daher für andere Zeiten und Räume allenfalls analog anwendbar. Das gilt bereits für den älteren Begriff Völkerrecht selbst und den jüngeren International law, die seit ungefähr 400 Jahren das Recht zwischen Staaten bezeichnen. Das gilt trotz mancher Erweiterung als Grundstruktur auch in der Gegenwart. Da „Staat“ aber selbst eine spezifische historische europäische Erscheinung politischherrschaftlicher Organisation ist, besteht die Gefahr, falsche Perspektiven für die Einzelgeschichten zu entwickeln. So hat man lange Zeit das Vorhandensein von „Völkerrecht“ für das Mittelalter, die Antike, Asien oder andere Zeiten und Räume verneint, da die damaligen Herrschaftsverbände keine „Staaten“ im heutigen Verständnis gewesen seien. Zwar ist dieser eingeengte Zustand der Disziplin inzwischen zu Recht überwunden. Aber dabei ist die Orientierung am „Staat“ als solche vielfach nicht aufgegeben, sondern durch dessen begriffliche Ausweitung und Aufweichung „gerettet“ worden. So wird in vielen Studien und Darstellungen nach wie vor der Begriff „Staat“ auf die ganze Breite der genannten Herrscher und Herrschaftseinheiten angewandt. Das aber verzerrt die grundlegenden Differenzierungen der Herrschaftsorganisation, die ihrerseits die Strukturen und Formen der Beziehungen zwischen den Mächten und deren normative Regelungen etc. bestimmen.

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So schlossen Karl der Große und Michael II. den Vertrag von 813 unter sich, nicht für ihre „Staaten“. Der Vertrag zwischen dem hethitischen König Hattusilis und dem ägyptischen Pharao Ramses II. um 1270 v. Chr. bezeichnet diese und nicht ihre Reiche als Partner. In beiden Fällen lagen keine „Staatsverträge“, sondern personale Herrscherverträge vor. Sie gelten auch nur für die Lebenszeit der Partner, nicht aber dauerhaft für die Herrschaftseinheit als solche, wie heute. Um Dauer zu erreichen, müssen die Nachfolger sie erneuern. V. Läßt sich aus den vielen Einzelgeschichten der normativen Regelungen und Ordnungen eine allgemeine Völkerrechtsgeschichte konstruieren? Bereits die Frage nach den normativen Regelungen und Ordnungen der Beziehungen der politischen Mächte in verschiedenen Zeiten und Regionen oder Räumen setzt eine grundsätzliche Allgemeinheit in diesen Einzelgeschichten voraus. Da diese aber nicht als Wirkungs- und Entwicklungsgeschichte ausgeführt werden kann, muß versucht werden, sie als Strukturgeschichte zu rekonstruieren. Völkerrechtsgeschichte der Einzelgeschichten geht des weiteren davon aus, daß es zu allen Zeiten und in allen Teilen der Welt Erscheinungen der Beziehungen zwischen den politischen Mächten im Krieg und vor allem im Frieden gibt, die zwar in den konkreten Gestaltungen an die jeweiligen geschichtlichen Verhältnisse gebunden sind, aber eine Art konstantes Grundmuster dieser Beziehungen bilden und überall aufgefunden werden können. Die vielen Geschichten der normativen Regelungen und Ordnungen dieser Erscheinungen machen Unterschiede aber auch Entsprechungen oder Analogien sichtbar und ermöglichen es, über der Ebene der konkreten geschichtlichen Regelungen und Ordnungen selbst durch Vergleichung auf einer zweiten reflexiven Ebene eine allgemeine Völkerrechtsgeschichte zu konstruieren. Zu diesen Konstanten können für den Krieg gehören: der Kriegsbeginn, die Führung des Krieges, die Behandlung der Feinde, das Eingehen von Bündnissen u. a.; für den Frieden: seine Herstellung, seine Sicherung, seine Inhalte, die Regelung der Austauschbeziehungen der Gesandten und des Handels, die Behandlung der Fremden, der politischen und rechtlichen Handlungsinstrumente; die Nutzung der Meere als Verkehrswege, als Kriegsschauplatz, als Ressource für verschiedenste Güter für den Menschen u. a. Dabei spielt u. a. eine Rolle, wie die Beziehungen dem Grunde nach geregelt sind, eher hierarchisch oder eher paritätisch. Aber auch hierarchische Beziehungen, wie zwischen den Hethiterkönigen und ihren Vasallen oder in den lehnsrechtlichen Ordnungen im Mittelalter, stellen grundsätzlich Zwischen-Mächte-Beziehungen dar. Die Unterschiede und Entsprechungen können recht tief reichen. So hatten zu fast allen Zeiten vom Alten Orient bis in das Europa des 18. Jahrhunderts trotz der grundlegenden strukturellen politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Unterschiede zwischen den Reichen der Hethiter, den poleis der Griechen, der römisch bestimmten Epoche, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit die Ordnungen dieser Zeiten und

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Regionen religiöse Normen, wenn auch in sehr unterschiedlicher Funktion und Reichweite eine grundlegende Bedeutung für die Ordnung der Welt. Das weist auf einen religiös-transzendenten Zusammenhang dieser Ordnungen. Erst im 19. Jahrhundert entsteht die säkular-immanente Ordnung der Gegenwart im Übergang von der partikularen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts grundsätzlich christlichen europäischen zur universellen religiös und weltanschaulich pluralen Weltordnung. Der Umgang mit Krieg und insbesondere mit den Menschen im Krieg weist zwar für lange Zeit einander entsprechendes Verhalten der Grausamkeit und der Zerstörung auf. Aber dann gab es Neuansätze, die schließlich zum Kriegsverbot und zum humanitären Völkerrecht unserer Tage führten. Aber auch in den Einzelkomplexen zeigen sich Unterschiede und Entsprechungen. So nutzten, anders als die Staaten im Völkerrecht in der Gegenwart, byzantinische und chinesische Kaiser sowie indische Moguln das einseitige Privileg zur Regelung ihrer Beziehungen zu anderen Mächten, die aber inhaltlich häufig auf Verabredungen beruhten. Auch im europäischen Lehnsrecht konnte das Privileg an die Stelle von Verträgen treten. Dem liegen hierarchische Konzepte zu Grunde. Die genannten strukturellen Unterschiede der Herrscherverträge im Alten Orient oder im Frühmittelalter zu den heutigen Staatsverträgen zeigen zwar, daß Vertrag ein allgemeines Instrument zur Regelung der Beziehungen ist, das aber in den konkreten Gestaltungen erhebliche Unterschiede aufweist. Ein besonderes Problem ist überall zu allen Zeiten die Garantie seiner Einhaltung. Bis in das 19. Jahrhundert war jedenfalls in unserem Kulturkreis und zumindest eine Zeitlang auch im Islam der Eid gebräuchlich, durch den die Partner in frühen Zeiten unter Anrufung der je eigenen Götter als eine Selbstverfluchung, in christlicher Zeit unter Berufung auf den gemeinsamen Gott in einem sacramentum iuris den Willen zur Einhaltung besonders absicherten. Später traten Drittmächte als Garanten auf. Im säkularen Völkerrecht ohne höhere Instanz ist die subjektive Verpflichtung zur Einhaltung eines Vertrages im objektiven Recht begründet. Schriftlichkeit ist zwar nicht zu allen Zeiten und überall üblich, erscheint aber immer wieder, sei es auf Tontafeln, steinernen oder bronzenen Stelen, Pergament oder auf Papier, stets verbunden mit Öffentlichkeit. In der Disziplin wird immer wieder der Schutz der Gesandten als eine Konstante durch alle Zeiten, als angeblich „ältester Völkerrechtssatz“, herangezogen. Denn dieser ist im Vorderen Orient über die Antike und das Mittelalter, auch zwischen christlichen und islamischen Mächten von beiden Seiten, bis heute ein durchgehender fester Bestandteil der Ordnung zwischen den Mächten. Jedoch zeigt sich bei näherem Zusehen, daß er in verschiedenen Epochen und Räumen sehr unterschiedlich ausgestaltet ist. Der religiöse Schutz der Gesandten durch den geheiligten Herold in der griechischen Antike, in dessen Begleitung er auftrat, entspricht zwar im Ergebnis der heute rechtlich festgelegten Immunität, ist aber in einer anderen normativen Struktur verankert. Maßgebend ist für beide Lösungen das grundlegende Bedürfnis für diesen Schutz zur Sicherung der Funktion des Gesandten. Aber er muß aus der allgemeinen Ordnung gewonnen werden.

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Das Seerecht ist ein besonders reiches Feld der Variationen der Regelungen und Ordnungen nach Zeiten und Räumen der verschiedenen Meere, aus dem erst sehr spät im 19. und 20. Jahrhundert „das Meer“ als ein tatsächlich und rechtlich einheitlicher Raum wurde. In neuerer Zeit kann man den Weg vom mare nostrum in der römischen Antike, über das mare clausum im Mittelalter und 16. Jahrhundert zum mare liberum in der Neuzeit und neuestens zur Aufteilung der Meeresgebiete nach Nutzungen in mehrere Zonen in der Gegenwart verfolgen. VI. Wenn auch eine auf alle Zeiten und Räume oder Weltteile ausgerichtete allgemeine Völkerrechtsgeschichte aus Völkerrechtsgeschichten in sich keine Entwicklungsgeschichte auf die Gegenwart hin ist, so kann sie es doch in einem Strang, dem europäischen Völkerrecht seit dem ausgehenden Mittelalter sein. Aus ihm sei, so die allgemeine These, das gegenwärtige universale Völkerrecht hervorgegangen. Daher definierte sich die Völkerrechtsgeschichte von daher und konzentrierte sich über sehr lange Zeit auf diese europäische Geschichte des Völkerrechts.3 Dieser Eurozentrismus hat gute Gründe, weil seit dem 18. und verstärkt seit dem 19. Jahrhundert europäische Staaten sich der Welt bemächtigten, ihre Imperien aufbauten und ihre Ordnungsvorstellungen mit dem genannten „international law of civilized nations“ einer in zivilisierte, halbzivilisierte und barbarische Staaten und Völker dreigeteilten Welt überstülpten. Trotzdem führt die Ausrichtung auf die europäische Sicht auch für diesen einen Strang zu einer Verengung der Blickweise und Wahrnehmung. Sie war weithin westeuropäisch und lateinisch orientiert und bezog die byzantinischorthodoxe Linie, die sich in den russischen Entwicklungen von Kiew bis zum moskowitischen Reich und dessen Ausdehnungen in Asien wie in Europa fortsetzt, allenfalls bis zu Moskaus Auftauchen im westlichen Europa im 17. Jahrhundert eher am 3

Exemplarisch Wilhelm Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1. Aufl., BadenBaden 1984, der nach dem europäischen Mittelalter die Völkerrechtsgeschichte ab 1500 bis 1919 in das spanische, das französische, das englische Zeitalter einteilt und nur das Europäische Völkerrecht dieser Epochen behandelt. Ihm folgt Karl-Heinz Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl., München 2007, der jedoch, anders als Grewe, innerhalb dieser „europäischen“ Epocheneinteilung auch die islamische Welt in seine Darstellung einbezieht. Auch Dominique Gaurier, Histoire du droit international, Rennes 2005, stellt das Völkerrecht beginnend im Alten Orient strikt europäisch dar. Die Artikel zu „History of the Law of Nations“ in der Encyclopedia of Public International Law Bd. 2; Amsterdam 1995, umfassen hingegen neben den alten Artikeln „Völkerrechtsgeschichte“ der 2. Aufl. des „Wörterbuchs des Völkerrrechts“, Bd. 3, Berlin 1962, in englischer Übersetzung für den Hauptstrom der regionalen altorientalischeuropäischen und globalen Völkerrechtsgeschichten auch die regionalen Völkerrechtsgeschichten Afrikas, des fernen Ostens, des Islam, Latein-Amerikas und Süd- und Süd-Ost Asiens. In der Online-Edition der EPIL Stand 2010 sind zwar unter dem neuen Stichwort „History of International Law“ zunächst wiederum die alten Artikel aufgenommen, aber ergänzt einerseits durch neue Artikel zum Völkerrecht seit dem 1. Weltkrieg und zum anderen durch eine ausführliche Darstellung von Mohammad Fadel: International Law, Regional Developments: Islam.

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Rande mit ein. Ausgenommen die Beziehungen zum osmanischen Reich vernachlässigte bzw. verzerrte sie die Lage der Beziehungen zwischen den europäischen Staaten und den nicht-europäischen, vor allem den islamischen und asiatischen Herrschaftsverbänden, vom Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert hinein. Deren innere politischen Entwicklungen und ihre Beziehungen untereinander blieben lange Zeit ausgeklammert. In der allgemeinen Geschichtswissenschaft hat sich längst eine eher globale Perspektive durchgesetzt. So handelt der Oxforder Historiker John Darwin nicht getrennt von Europa und Asien, sondern bereits für das Mittelalter von Eurasien, das er in drei große Zivilisationen gliedert, Europa oder der christliche Westen, der mitteleurasische Islam und der Ferne Osten, die ihrerseits in Imperien gegliedert waren. Deren Entwicklungen für sich und in ihren Beziehungen untereinander für diese 600 Jahre werden erzählt.4 Es zeigt sich, daß erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Stellung der europäischen Mächte, insbesondere Großbritanniens, in Asien dominant zu werden beginnt. Diese Beziehungen stehen zudem in Wechselwirkungen mit den Verhältnissen der europäischen Mächte in Amerika. So wird auch für die Völkerrechtsgeschichte der letzten 500 Jahre die eurozentrische Ausrichtung schon vor der von Europa ausgehenden ersten Globalisierung des Völkerrechts im 19. Jahrhundert durch einen wesentlich breiteren, global-interagierenden Ansatz überwunden werden müssen. Es gilt, nicht nur den Blick von Europa auf die Regionen der Welt, sondern auch umgekehrt von diesen auf Europa zu richten. Dabei werden auch Unterschiede der Ordnungen sichtbar werden. Denn die Verknüpfungen mit den ausgebildeten mächtigen Herrschaftsverbänden Asiens sind normativ anders gestaltet, als die Beziehungen europäischer Mächte mit den weniger mächtigen Herrschaftseinheiten Südostasiens, Ozeaniens, Afrikas oder Amerikas. Sie unterliegen auch gewissen Entwicklungen, die von äußeren Faktoren abhängen, bis hin zu einer Umkehrung der Verhältnisse. So kann europäische Völkerrechtsgeschichte in dem Rahmen der letzten vier bis fünf Jahrhunderte auch Wirkungs- und Entwicklungsgeschichte für die Gegenwart sein. Jedoch ist zu differenzieren. Da seit dem 13. Jahrhundert das ius gentium zusammen mit dem ius naturale in Europa zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion der Philosophie, Theologie und Iurisprudenz geworden ist, ist Völkerrechtsgeschichte nicht mehr nur Geschichte der völkerrechtlichen Praxis, wie sie es weithin für frühere Zeiten auch in Europa und für andere Räume sein wird, sondern auch Geschichte eben dieser Reflexion. Die Zusammenhänge zwischen beiden Dimensionen, die Wirkung der Theorien auf die Praxis und umgekehrt, ist immer wieder neu zu klären. Oft sind es Langzeitwirkungen. So setzte sich die theoretische Begründung des mare liberum schließlich in der Praxis durch. Gewiß hat auch die europäische Idee des Völ-

4 John Darwin, After Tamerlan, The Rise and Fall of Global Empires 1400 – 2000, London 2007, dt.: Der imperiale Traum, Die Globalgeschichte Grosser Reiche 1400 – 2000, Frankfurt/ New York 2010.

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kerbundes als Friedensbund auf die Gründung des „Völkerbundes“ 1919 und die „Organisation der Vereinten Nationen“ 1945 eingewirkt. Zum Ausgangspunkt einer praktischen Entwicklungs- oder Wirkungsgeschichte wird für Europa gerne der Westfälische Friede von 1648 genommen, in dessen Folge das „westfälische System“ der souveränen Staatenwelt entstanden sei, das erst in der Gegenwart der post-westfälischen Ära weiche. Aber genaueres Hinsehen zeigt einerseits, daß die grundlegenden strukturellen Entwicklungen einer pluralen Staatenbildung bereits im 16. Jahrhundert ansetzen, die 1648 allenfalls einen Schub erhalten, aber nicht ausgelöst werden, und andererseits älteres Herkommen der respublica christiana noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts festgehalten wird. Der Bruch des Europäischen Völkerrechts ab 1792 und der Neuanstaz 1814/ 15 begründen einen viel tieferen Einschnitt der Völkerrechtsentwicklung. Andererseits kann vom Augsburger Religionsfrieden 1555 über den Vertrag von Osnabrück 1648 bis zum säkularen Völkerrecht der Gegenwart ein im einzelnen allerdings sehr komplexer, vielschichtiger Wirkungszusammenhang in Verbindung mit gegenwärtigen Anforderungen konstruiert werden. VII. Zu welchem Ende also studiert man Völkerrechtsgeschichte, kann man aus der Völkerrechtsgeschichte gar etwas für Gegenwart und Zukunft lernen? Historia iuris gentium magistra vitae populorum? Da es „die eine Völkerrechtsgeschichte“ als zielgerichtete, allgemeinen Prinzipien folgende Geschichte nicht gibt, können daraus allenfalls sehr abstrakte Lehren der Erfahrung gezogen werden, daß Krieg besser nicht sein soll, sondern Frieden hergestellt und gesichert werden muß. Da aber jede normative Ordnung in die konkreten politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Verhältnisse eingebettet ist, von ihnen bestimmt wird, auf ihre Probleme, Konflikte, Herausforderungen bezogen ist, können konkrete Handlungsweisungen allenfalls aus dem Studium der Völkerrechtsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte im Wege der Analogie gewonnen werden. Man kann aus den Völkerrechtsgeschichten nichts, jedenfalls nichts Konkretes lernen. Da man aber durch die Völkerrechtsgeschichten etwas über die jeweiligen Zeiten und durch sie etwas über die Menschen und Völker, ihr Leben, ihre Verhältnisse, Vorstellungen, Ordnungskonzepte erfahren kann, werden Denkmöglichkeiten für geschichtliches Argumentieren eröffnet. Dieses dreht sich jedoch gewissermaßen um. Hatte Hugo Grotius auf die alttestamentarischen und antiken Geschichten im Sinne von tragenden, bestätigenden exempla seiner grundsätzlich rational-naturrechtlichen Argumentationen zurückgegriffen, zeigt eine Völkerrechtsgeschichte in Geschichten: Es bleibt sich nicht alles gleich, sondern alles oder doch das meiste ändert sich. Wiederholungen scheinen nur solche zu sein. Die Vielfältigkeiten der geschichtlichen Herausforderungen und der angebotenen „Lösungen“ verweisen darauf, daß jedes geschichtliche Argumentieren um normative Regelungen und Ordnun-

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gen nur im Blick auf die konkreten Umstände der Herausforderungen zu vernünftigen, zeitgemäßen Lösungen kommen kann, mögen diese selbst, wie der Krieg, der Schutz der Gesandten oder die Ordnung der Meere auch immer wiederkehren. Es geht in der Völkerrechtsgeschichte nicht um Anwendung, sondern um Verstehen. So kehren wir noch einmal zu Schiller zurück. „Der philosophische Kopf“, so sein Eingang zum Studium der Universalgeschichte, „hat sich überzeugt, daß im Gebiete des Verstandes, wie in der Sinnenwelt, alles ineinander greife, und sein reger Trieb nach Übereinstimmung kann sich mit Bruchstücken nicht begnügen. Alle seine Bestrebungen sind auf Vollendung seines Wissens gerichtet. … Neue Entdeckungen im Kreis seiner Tätigkeit, …, entzücken den philosophischen Geist.“ Das Studium der Völkerrechtsgeschichte aus Völkerrechtsgeschichten hat in diesem Sinne philosophischen, keinen praktischen Wert. Jedoch kann ein Blick in die geschichtliche völkerrechtliche Praxis auch, was nicht unterschätzt werden soll, in nicht seltenen Fällen eine nützliche Bedeutung haben. Aktuelle Konflikte zwischen Staaten, nicht nur bezüglich gemeinsamer Grenzen, haben ihren Grund nicht selten in geschichtlichen Vorgängen, sei es im „Herkommen“, sei es in Regelungen durch Verträge, Schiedssprüchen etc. Derartige Konflikte können daher auch durch Aufhellung dieser geschichtlichen Gründe, die oft Jahrhunderte zurückliegen, gelöst, gegebenenfalls durch den IGH entschieden werden. Zwar gilt das nur für einen recht kleinen Ausschnitt der Völkerrechtsgeschichte. Jedoch vereinigt sich an dieser schmalen Stelle der völkerrechtliche „Brotgelehrte“ mit dem völkerrechtsgeschichtlichen „philosophischen Kopf“, eine für Juristen, die Rechtswissenschaft und die Rechtspraxis in allen Bereichen höchst förderliche, ja notwendige Symbiose.

Zum Wiederaufbau des Rechtsstaats nach 1945 am Beispiel Bayerns* Von Udo Steiner, Regensburg I. Der Anfang „Angesichts des Trümmerfeldes, in das eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des Zweiten Weltkriegs geführt hat“, formuliert die Präambel der Bayerischen Verfassung von 1946. Vom „Blick auf Deutschland in Trümmern und Tränen“ spricht Carlo Schmid als Mitglied des Herrenchiemseer Konvents noch 1948.1 Das ist der moralische, militärische und rechtliche Ausgangspunkt der auf 1945 folgenden Jahre, die Vieles sind, aber vor allem eben auch Jahre des Wiederaufbaus des Rechtsstaats im westlichen Deutschland. Staatsrechtlich ist es – anscheinend oder scheinbar – die berühmte Stunde „Null“. Der bedingungslosen militärischen Kapitulation vom 8. Mai 1945 folgt am 5. Juni 1945 die in der sog. Berliner Erklärung2 verkündete politische Kapitulation, mit der die Alliierten Siegermächte die oberste Regierungsgewalt in Deutschland übernehmen.3 Alle Befugnisse der deutschen Regierung, des Oberkommandos der Wehrmacht und der Regierungen, Verwaltungen und Behörden der Länder, Städte und Gemeinden, gehen auf die Alliierten Siegermächte über.4 In nichts mehr sind die Deutschen Herr in ihrem Haus, und sie sind es auch nicht in Bezug auf ihr Rechtswesen. Nicht nur die Amerikaner in ihrer Besatzungszone, die westlichen Alliierten allgemein wollen Deutschland auf den Weg des Rechtsstaa* Der vielfach ausgewiesene Verfassungsgeschichtler Rainer Wahl möge dem Verfasser nachsehen, dass er ihm einen Amateurbeitrag widmet. Dieser geht auf einen Vortrag am 23. Juni 2010 im Rahmen der Regensburger Ringvorlesung „Rechtsgeschichte von 1945 – 1949“ zurück. 1 Zit. nach Horst Säcker, in: Fürst/Herzog/Umbach (Hrsg.), Festschrift Wolfgang Zeidler, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Konvent von Herrenchiemsee, 1987, Bd. 1, S. 268. 2 Dazu Michael Stolleis, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 7 Rn. 25 ff. 3 Einzelheiten zur Situation des deutschen Staates unter der Besatzungsherrschaft bei Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V: Die geschichtlichen Grundlagen des Staatsrechts, 2000, S. 909 ff.; Stolleis (Fn. 2), § 7 und Georg-Christoph von Unruh, Der Weg zur Bundesrepublik Deutschland, in: Deutsche Verwaltung zwischen 1945 und 1949, 1987, S. 87 ff. (dort jeweils mit Nachweisen zu den im Folgenden zitierten besatzungsrechtlichen Rechtsgrundlagen). 4 Dazu und zum Folgenden Dieter Waibel, Von der wohlwollenden Despotie zur Herrschaft des Rechts. Entwicklungsstufen der amerikanischen Besatzung Deutschlands 1944 – 1949, 1996, S. 1. Siehe auch Stern (Fn. 3), S. 1021 ff.

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tes bringen. Die Proklamation Nr. 3 des Kontrollrats der Besatzungsmächte vom 26. Oktober 1945 formuliert, was die fundamentalen Grundsätze der Rechtsreform als Grundlage eines demokratischen Gemeinwesens sein sollen: Es ist vor allem eine Rechtsprechung in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Gleichheit vor dem Gesetz, des öffentlichen Prozesses ohne Aufschub, des Rechtsbeistandes zur Verteidigung. Schließlich, nahe liegend: Kein Verbrechen darf aufgrund des sog. gesunden Volksempfindens definiert werden. Dieser Aufbruch in den Rechtsstaat, von den Besatzungsmächten erzwungen und doch auch von den Deutschen gewollt, soll im Folgenden skizziert werden in drei Schwerpunkten von unterschiedlichem Gewicht, aber keiner ganz unwichtig als Schritt auf dem Weg zum Rechtsstaat: Juristenausbildung und Rechtswissenschaft, die Rechtsentwicklung, insbesondere der Weg zum verfassten Rechtsstaat, sowie institutionelle Entwicklungen und dabei insbesondere der Aufbau der Gerichte. II. Juristenausbildung und Rechtswissenschaft 1. Juristenbedarf und Bedarfsdeckung a) Deutschland benötigt nach 1945 Juristen. Rechtsstaat ohne Juristen kann es nicht geben. Die Juristischen Fakultäten nehmen zum WS 1945/1946 und danach ihren Lehrbetrieb wieder auf, soweit es die räumliche Situation ermöglicht und Lehrpersonal zur Verfügung steht. Die Studierenden – meist Kriegsteilnehmer – sitzen in Mänteln in ungeheizten Räumen, arbeiten mit hektographierten Skripten auf dünnstem Papier, hören Römisches Recht und Sachenrecht, mehr Verfassungsgeschichte als Verfassungsrecht. Um die sog. Kriegsassessoren und deren kriegsbedingten Verlust an Wissen kümmert sich die gerichtliche Praxis. Nicht wenige der Hochschullehrer sind politisch belastet. Aber man benötigt sie für den Lehr- und Forschungsbetrieb. Anders als bei der Deutschen Wiedervereinigung 1990 kann man nicht auf rechtsstaatlich ausgebildete Universitätsjuristen aus Westdeutschland zurückgreifen. Nicht selten gehören die belasteten Professoren zu den besten Köpfen ihres Faches. Auch darin ist ein Unterschied zwischen 1945 und 1990 begründet. Die juristischen Ausbildungsstätten in der Deutschen Demokratischen Republik haben regelmäßig keine Rechtslehrer hervorgebracht, deren Qualität einer differenzierten und komplexen Rechtsordnung wie der der Bundesrepublik Deutschland 1990 gerecht werden konnte. 1945 steht keine unbelastete Nachfolge- oder Ersatzgeneration zur Verfügung.5 Die Amerikaner erkennen übrigens relativ früh, dass die Erziehung der jüngeren deutschen Juristen zu Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte eine Schlüsselfrage der nachhaltigen Demokratisierung Deutschlands ist. Sie legen allerdings erst im Februar 1949 ein geeignetes „Cultural Exchange Program“ auf.6 Es ge5 Dazu Walter Pauly, Verfassungs- und Verfassungsprozessrecht, in: Dietmar Willoweit (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, 2007, S. 883 ff. 6 Waibel (Fn. 4), S. 282.

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hört zu den Paradoxien der deutschen Nachkriegsstaatsrechtslehre, dass das erste Lehrbuch zum neuen deutschen demokratischen und rechtsstaatlichen Staatsrecht aus der Feder von Theodor Maunz stammt,7 den man wegen seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen wohl zu den belasteten Staatsrechtslehrern des Dritten Reichs rechnen muss. 1945/1946 hilft er in den Senaten des BayVGH als Hilfsrichter aus. Er berät als Hochschullehrer in Freiburg das Land Baden in Staatsrechtsfragen.8 In Bayern gelingt ihm eine glänzende akademische und politische Karriere.9 b) Es fehlt der Juristenausbildung nicht nur an Räumen, Literatur und Sachmitteln. Es fehlt auch an Ausbildungs- und Prüfungsordnungen für Studierende und Referendare. Es gibt also zunächst noch keine Staatsprüfungen für Juristen10 (was nur vordergründig ein angenehmer Zustand zu sein scheint). Das Problem des Juristenmangels haben allerdings auch bis 1948 die amerikanischen Militärgerichte, die, weil die deutsche Gerichtsbarkeit aufgelöst ist, an die Stelle deutscher Gerichte treten und als Strafgerichte überlastet sind. Die Militärgerichte sprechen zunächst Recht durch juristisch nicht ausgebildete Militärs, und dies führt zu beachtlichen rechtsstaatlichen Mängeln: Nichtbeachtung von Verfahrensgarantien, uneinheitliche Strafzumessung, ein offenbar nicht selten völlig überzogenes Strafmaß.11 Dies ist für die amerikanische Besatzungsmacht eine unangenehme Erfahrung, weil gerade ihre Gerichtsbarkeit den Deutschen auch vermitteln soll, was im Gerichtsverfahren rechtsstaatliche Bedingungen bedeuten. Man kann es deshalb durchaus als eine historische Pointe bezeichnen, dass die zuständigen Stellen in Washington und Berlin im Juli 1947 ein Programm für die amerikanische Justiz in Deutschland mit dem Ziel starten: „The return to rule of law“.12 2. Die juristischen Fachzeitschriften a) Die bedeutende Tradition der juristischen Fachzeitschriften in Deutschland wird 1945 und in den folgenden Jahren trotz schwierigster äußerer Bedingungen wieder belebt. Einige Fachzeitschriften starten neu, andere knüpfen zumindest an die Tradition früherer Fachzeitschriften an. Redaktionen haben es schwer. Briefe dauern

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Pauly (Fn. 5), S. 887. Siehe dazu Säcker (Fn. 1), S. 267. 9 Zum Ganzen siehe Bettina Limperg, in: E.-W. Böckenförde (Hrsg.), Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, 1985, S. 44 ff.; Birgit v. Bülow, Die Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit (1945 – 1952), 1996, S. 166 ff.; Horst Dreier/Walter Pauly, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL Bd. 60 (2001), S. 9 ff. und Eva Schumann (Hrsg.), Kontinuitäten und Zäsuren, Rechtswissenschaft und Justiz im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit, 2008. 10 Siehe dazu Benno Vogel, Die Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Referendare und Gerichtsassessoren im Kammgerichtsbezirk vom 31. Mai 1947, JR 1947, S. 1 (2 ff.). 11 Waibel (Fn. 4), S. 250 ff. 12 Waibel (Fn. 4), S. 1, 255. 8

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über die Besatzungszonen hinweg fünf Tage und mehr.13 Will man sich treffen, muss man sich Einreiseerlaubnisse in die jeweiligen Besatzungszonen verschaffen. Es soll in jedem Fall Neustart sein und zugleich Anknüpfung an die gute Rechtstradition. Die MDR erinnert 1947 in Heft 1 an das große Prinzip: Justitia regnorum fundamentum. Zur Übersicht wollen die Fachzeitschriften beitragen in einem höchst unübersichtlichen Rechtsraum. Herausgeber und Verlag der NJW klagen im Geleitwort vom Oktober 1947: Der Kontrollrat erlässt Gesetze mit Wirkung für alle Länder. Die Militärregierung in jeder der vier Zonen behält sich vor, Gesetze für ihren Zonenbereich zu dekretieren. Die deutschen Regierungen geben für ihre Länder Gesetze, soweit Militärregierung und Kontrollrat ihnen das Recht hierzu belassen. Der Weg zum Rechtsstaat, der Übersicht voraussetzt über das, was rechtens ist, muss auch ein Weg zur Rechtseinheit werden. b) In den Beiträgen geht es naturgemäß um zeitnahe Themen, nicht immer grundsätzlich, aber doch oft existenziell: die Firma des Flüchtlings,14 die Doppelehe des vermeintlich Verwitweten,15 Haftung der Gemeinden für Ruineneinstürze.16 Es gehört in der juristischen Literatur aber auch die Auseinandersetzung mit Fragen dazu, die man die Volkskriminalität dieser Tage und Jahre nennen könnte: die zivilrechtlichen Wirkungen von Schwarzmarktgeschäften,17 die listige Sachverschaffung auf dem Schwarzen Markt18 und natürlich: Schwarzschlachtungen und kein Ende.19 Es geht um die tägliche Bewältigung von Mangel. Gewissensprobleme hat man deshalb nicht, eher Furcht vor der Entdeckung. Ein Hindernis auf dem Weg zum Rechtsstaat ist es nicht. Es finden sich in den Fachzeitschriften aber auch schon früh Grundsatzbeiträge zum Aufbau von Recht und Rechtsstaat: zur Legitimität der Verfassung,20 zum Aufbau der Gerichtsbarkeit in allen Zweigen, über den Wiederaufbau einer freien Anwaltschaft und über das Verhältnis von Staat und Recht, und natürlich Begrüßungsaufsätze zur Bayerischen Verfassung von 1946 und dann später zum deutschen Grundgesetz.21

13 Siehe dazu Alfred Flemming, Aus der Gründungsgeschichte der NJW, in: NJW 50 Jahre. Jubiläumsheft 1997, S. 14. 14 Bertermann, Die Firma des Flüchtlings, NJW 1949, S. 284. 15 Grund, Die Doppelehe des vermeintlich Verwitweten, NJW 1949, S. 293; dazu auch Däubler, Nochmals zur Frage der Doppelehe des vermeintlich Verwitweten, NJW 1949, S. 857. 16 Hans Diester, Haftung der Gemeinden für Ruineneinstürze, NJW 1949, S. 538. 17 Heinz Brandt, Die zivilrechtlichen Wirkungen von Schwarzmarktgeschäften, MDR 1948, S. 165 (201). 18 August Wimmer, Die listige Sachverschaffung auf dem schwarzen Markt, NJW 1947/48, S. 241. 19 Günther Witte, Schwarzschlachtungen und kein Ende, NJW 1949, S. 526. Die Notare waren u. a. mit Umstellungs- und Lastenausgleichsfragen befasst. Siehe Ludwig Röll, 100 Jahre Deutsche Notar-Zeitschrift, in: DNotZ Sonderheft 2001, S. 105*, 143*. 20 Siehe etwa Karl Schmid, DRZ 1946, S. 1. 21 Siehe etwa Wilhelm Grewe, DRZ 1949, S. 313.

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III. Die Entwicklung des Rechts und insbesondere der Weg zum verfassten Rechtsstaat 1. Der Wiederaufbau der staatlich-demokratischen Ordnung a) Die amerikanische Besatzungsmacht will den Wiederaufbau des deutschen Rechtsstaats auf demokratischer Grundlage, die Herrschaft des Rule of law. Dies ist eine der primären amerikanischen Besatzungsziele.22 Aber auch die zur Neugestaltung der politischen und rechtlichen Verhältnisse in Deutschland berufenen Deutschen wollen es. Historiker weisen darauf hin, dass auswärtige Mächte an der inneren Gestaltung Deutschlands mehrfach mitgewirkt haben: 1648 schon, weiter in der Zeit von 1800 bis 1815, dann 1918/1919,23 und nach 1945 zum unstreitigen Vorteil Deutschlands und seiner Rechtsentwicklung. Vor allem die amerikanische Besatzungsmacht leistet Hilfe zur Selbsthilfe, unterstützt die unbelasteten Kräfte des guten Willens, nimmt aber auch Einfluss auf die spätere Bayerische Verfassung bis zum Abschluss des Verfahrens der Verfassungsgebung.24 Der Rechtsstaat soll einen demokratisch legitimierten Rechtsrahmen erhalten. Rechtsstaat und Demokratie gehören zusammen. Im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee stellt Hermann Drexelius25 klar: In einer Demokratie ist das gesetzte Recht grundsätzlich so geartet, dass es keinen Konflikt mit einem demokratischen Gewissen auslösen kann. Er reagiert damit auf Vorschläge im Konvent, den künftigen rechtsstaatlichen Richter – in Abkehr zur (angeblich) formalen Gesetzesanwendung im Dritten Reich – auch auf das Gewissen und nicht nur auf das Gesetz zu verpflichten.26 Die Formulierung von der „Stunde Null“ suggeriert – so Walter Pauly – in ahistorischer Metaphorik einen voraussetzungslosen Neuanfang ohne geschichtliche Vorprägung und Vorbelastung.27 Diesen Neuanfang gibt es 1945 natürlich dankenswerterweise auch in Bezug auf Staat und Recht nicht. Es herrscht zwar das Gefühl des absoluten rechtsstaatlichen Beginns vor. Das liest sich im Geleitwort der Deutschen Richterzeitung vom Januar 1946 so: „Wir müssen neu beginnen, ganz von vorn beginnen mit dem Aufbau der Rechtsgrundlagen, Rechtsetzung, der Justiz, der Verwaltung. Es gibt nichts, das einfach fortgesetzt werden könnte.“ Aufbau des Rechtsstaats in Deutschland nach 1945 ist aber Wiederaufbau des Rechtsstaats der Weimarer Reichsverfas22

Waibel (Fn. 4), S. 124. Karl Michaelis, Die Deutschen und ihr Rechtsstaat, 1980, S. 6. 24 Dieser Einfluss ist im Einzelnen nachgezeichnet in: Barbara Fait, Demokratische Erneuerung unter dem Sternenbanner. Amerikanische Kontrolle und Verfassungsgebung in Bayern 1946, 1998; Wilhelm Högner, Lehrbuch des Bayerischen Verfassungsrechts, 1949, S. 20 ff.; Manfred Treml, Geschichte des modernen Bayern. Königreich und Freistaat, 3. Aufl. 2006, S. 422 ff. 25 Zit. nach Säcker (Fn. 1), S. 273 Rn. 28. 26 Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Nationalsozialismus an wichtigen Stellen gerade die Gesetzesbindung gelöst und auf „höhere Werte“ (Überzeugung der Rechts- und Volksgemeinschaft, Führerentscheidungen) gesetzt hat und sich dabei bevorzugt der im Dritten Reich ausgebildeten Juristen bediente. 27 Pauly (Fn. 5), S. 885. 23

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sung, ist durchaus Kontinuität. Die Verfassungen der Länder zwischen 1946 und 1949 lehnen sich zumindest redaktionell an das Vorbild der Reichsverfassung von 1919 an.28 b) Die deutschen Gerichte werden nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 4 vom 30. Oktober 1945 in Übereinstimmung mit dem GVG von 1877 umgestaltet. Es ist die Rechtsstaatsidee der WRV: das Gesetz, das die Befugnisse der öffentlichen Gewalt vom Rechtsstatus des Bürgers abgrenzt, seine Rechte und Freiheiten gegenüber dem Staat fixiert, und die Kontrolle der Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns – so formuliert es die Staatsrechtslehre 1930/1932, kurz vor Beginn des Dritten Reiches, als den zentralen Gedanken des Rechtsstaats.29 Nichts anderes wollen die deutschen Juristen nach 1945: eine feste Rechtsordnung, unabhängige Richter, Rechtseinheit. Dies ist Rechtsstaat – so formuliert es die Juristische Rundschau „Zum Geleit“ im Juli 1947, als sie erstmals erscheint. Es kommt aber etwas Neues gegenüber den Weimarer Zeiten hinzu, die Verfassungsgerichtsbarkeit, die mehr sein soll als Staatsgerichtsbarkeit und Staatsgerichtshof, und der Staatsrechtslehrer Willibald Apelt30 drückt es 1947 so aus, wenn er die Bayerische Verfassung und den Bayerischen Verfassungsgerichtshof vorstellt: „Es ist eine Einrichtung, die der Vollendung des Rechtsstaatsprinzips dient und aus einer neuen deutschen Verfassung nicht mehr hinweg zu denken ist.“ Es ist der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, der dann die verfassungsgerichtliche Brücke bildet zwischen der Bayerischen Verfassung und dem deutschen Grundgesetz. Einberufen als „Sachverständigenausschuss für Verfassungsfragen“ von der Ministerkonferenz der drei Westzonen (das entspricht elf Ländern) tagt er vom 10. bis 23. August 1948 im Kloster Herrenchiemsee und erarbeitet Richtlinien für ein künftiges Grundgesetz.31 Eingeladen hatte die Bayerische Staatsregierung, traditionell gastfreundlich, aber auch traditionell politisch. Man will das „Heimspiel“ nutzen, um Einfluss auf das künftige Grundgesetz zu nehmen. Die Verfassungsbeschwerde für jedermann, kombiniert aus der Jedermann-Normenkontrolle des Art. 98 Satz 4 BV und der Verfassungsbeschwerde nach Art. 120 BV, gilt als der „große Wurf“ des Konvents von Herrenchiemsee.32 Bekanntlich sieht dann der Parlamentarische Rat davon ab, die Verfassungsbeschwerde in den Zuständigkeitskatalog des BVerfG (Art. 93 GG) aufzunehmen. Sie hat erst im Zuge der Notstandsgesetzgebung 1969 den Zugang zum Text des Grundgesetzes gefunden. Ganz allgemein setzen die Jahre zwischen 1945 und 1949 auf den unabhängigen, nur an Gesetz und Recht gebundenen Richter als Säule des Rechtsstaats. Kein anderer juristischer Be28 Christian Pestalozza, Verfassungen der deutschen Bundesländer, 8. Aufl. 2005, Einf. Rn. 25. 29 Vgl. Gerhard Anschütz/Richard Thoma, Handbuch des DtStR, 1930, Bd. I, § 16, S. 198; Bd. II, 1932, § 71, S. 131. 30 Willibald Apelt, Die bayerische Verfassung, DRZ 1947, S. 1 (4). 31 Siehe dazu Reinhard Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 8 Rnrn. 39 ff.; 50 Jahre Herrenchiemseer Verfassungskonvent – Zur Struktur des deutschen Föderalismus, hrsg. v. Bundesrat, 1999. 32 Siehe Säcker (Fn. 1), S. 269.

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rufsstand wird dann in Deutschland so aufsteigen wie der Stand der Richter, wird allerdings später aufgrund seiner Kompetenzen und seines Selbstbewusstseins in den Verdacht geraten, Deutschland – als Richterstaat in einem Rechtswegestaat – zu regieren. c) Man gibt den Deutschen zunächst die Selbstverwaltung von Städten und Gemeinden aus vornationalsozialistischer Zeit zurück.33 Die ersten Deutschen, die wieder politische Verantwortung tragen dürfen, sind die Oberbürgermeister und Bürgermeister. Wenn später Art. 11 Abs. 2 Satz 1 der Bayerischen Verfassung – einzigartig in Deutschland – die Gemeinden als ursprüngliche Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts bezeichnet, wird an diese Erfahrung angeknüpft, und nicht etwa die Vorstellung verfassungsrechtlich bestätigt, dass die Gemeinden durch einen staatsrechtlichen Urknall entstanden seien und danach erst der Freistaat Bayern und die Staatskanzlei geschaffen wurden (ein ohnehin ziemlich blasphemischer Gedanke).34 2. Der entscheidende Schritt: Die Entstehung von Landesverfassungen und insbesondere der Bayerischen Verfassung a) In den Besatzungszonen der westlichen Alliierten entstehen Landesverfassungen, soweit nicht – wie in der Britischen Zone – die jeweilige Militärregierung davon absieht, weil das Grundgesetz in Sicht ist, die Landesverfassungen deshalb zunächst Nachrang haben sollen. In Bayern ist der Weg zur Bayerischen Verfassung – der zweitältesten Verfassung nach der von Württemberg-Baden (1. Dezember 1946) – der wichtigste Schritt zur Rechtsstaatlichkeit.35 Wilhelm Högner, Bayerischer Ministerpräsident 1945/1946 (und später noch einmal 1954 – 1957) erklärt vor dem Vorbereitenden Verfassungsausschuss im Juni 1946: „Die künftige Verfassung muss dafür Sorge tragen, dass Bayern wieder ein Rechtsstaat wird. Alle Staatsbürger, insbesondere auch die Regierungen und die Polizei, müssen unter dem Gesetz stehen, das für alle Staatsbürger zu gelten hat: Die Verfassung muss die oberste Quelle allen Rechts sein.“36 Er ist es, den die amerikanische Besatzungsmacht beauftragt, die Bayerische Verfassung vorzubereiten.37 Von Mai bis Juni 1946 ist er Vorsitzender des Vorberei-

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Siehe Waibel (Fn. 4), S. 116; Albert v. Mutius, Kommunalverwaltung und Kommunalpolitik, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. I, 1987, S. 312 ff. 34 Dazu Udo Steiner, Kommunale Selbstverwaltung und 60 Jahre Grundgesetz, BayVBl. 2010, S. 161. 35 Zur Verfassungsgenese siehe Josef Franz Lindner, in: Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, Kommentar, 2009, Vorbem. A Rn. 8 ff. und Karl Schweiger, in: Nawiasky/Leusser/Schweiger/Zacher (Hrsg.), Die Verfassung des Freistaates Bayern, Kommentar, Einl. III, S. 1 ff. 36 Mittelbayerische Zeitung vom 18. 6. 1946. 37 Siehe dazu näher Fait (Fn. 24), S. 122 ff.

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tenden Verfassungsausschusses,38 leitet dessen 15 Sitzungen,39 ist von Juni bis November d. J. dann Mitglied der Verfassunggebenden Versammlung, dessen Beratungen vom Arbeitsergebnis des Vorbereitenden Verfassungsausschusses geprägt sind. Das Verfahren der Verfassunggebung in Bayern entspricht Maximalanforderungen an die demokratische Legitimität: Vorberatungen von Fachleuten und Politikern, beraten und beschlossen durch eine speziell vom Staatsvolk für den Zweck der Verfassunggebung gewählten Versammlung und schließlich Abstimmung über die Verfassung durch Volksentscheid. In Fragen der Legitimität ist die Bayerische Verfassung dem Grundgesetz weit voraus. Es ist das erste Mal in der bayerischen Verfassungsgeschichte, dass das Volk unmittelbar als Verfassungsgeber auftritt und sich eine (demokratische) Verfassung gibt.40 Auch eine Änderung der Bayerischen Verfassung ist nur durch Volksentscheid möglich (Art. 75 BV). b) Bayern ist ein Rechtsstaat, so formuliert der Verfassunggeber in Art. 3 Satz 1 BV.41 Einer der geistigen Väter dieser Verfassung, Hans Nawiasky42, erläutert dazu zusammen mit Claus Leusser knapp: Der nationalsozialistische Staat hat die Rechtsidee, d. h. die Herrschaft objektiver Rechtsnormen, die Rechtssicherheit und die Rechtsgleichheit, aber auch die Gerechtigkeit mit Füßen getreten. Nunmehr soll die Rechtsidee wieder zu Ehren kommen. Heute umfasst die Kommentierung des Rechtsstaatsprinzips in der Bayerischen Verfassung durch Josef Franz Lindner43 immerhin 15 dicht bedruckte Seiten, die Darstellung des Rechtsstaatsprinzips des Grundgesetzes im Handbuch des Staatsrechts durch Eberhard Schmidt-Aßmann44 sogar über 70 Druckseiten, und alles ist eindrucksvoll ausgestaltet: Verfassungsund Gesetzesbindung der Staatsorgane, Gewaltenteilung, Justizgewährleistungsanspruch, rechtsstaatliche Verfahrensgarantien, Beschränkung der rückwirkenden Gesetzgebung. Die Juristen haben längst ihre Rolle „im kommenden Rechtsstaat“ gefunden, wie die Deutsche Richterzeitung 194645 voraussagt.

38 Näheres in: Die Protokolle des Vorbereitenden Verfassungsausschusses in Bayern (8.3. bis 24. 6. 1946), eingeleitet und kommentiert von Karl-Ulrich Gelberg, 2004. 39 Dazu Gelberg (Fn. 38), Vorwort S. 5. 40 Schweiger (Fn. 35), III, S. 4. 41 Im Verfassungsentwurf des Vorbereitenden Verfassungsausschusses war eine entsprechende Formulierung noch nicht enthalten. Auch in den anderen deutschen Landesverfassungen findet sich überwiegend keine entsprechende Rechtstaatsklausel. 42 Hans Nawiasky/Claus Leusser, Die Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946, 1948, S. 80. Zur Rolle von Hans Nawiasky bei der Verfassunggebung siehe Wilhelm Hoegner, in: Staat und Wirtschaft, Festgabe zum 70. Geburtstag von Hans Nawiasky, 1950, S. 1 ff. 43 Lindner (Fn. 36), S. 43 – 62. 44 Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 26. 45 DRZ 1946, S. 36.

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c) Willibald Apelt46 berichtet, als er die Bayerische Verfassung den Lesern der Deutschen Richterzeitung vorstellt, über „gründliche Beratungen“ in der Verfassunggebenden Landesversammlung, aber auch darüber, dass „an heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien und überraschenden Wendungen kein Mangel war“. Die Bayerische Verfassung wird in Erwartung einer deutschen Verfassung erarbeitet,47 aber man weiß noch nicht, was die Bayern mit dieser Verfassung erwartet, und so ist man vorsichtig. Im Verfassungsausschuss besteht zwar beim Zusammentritt am 16. Juli einstimmig die Auffassung, Bayern bekenne sich zur Einheit des Deutschen Volkes und sei bereit zum Eintritt in ein bundesstaatliches und demokratisch geordnetes Deutschland.48 Andererseits kommt der 21. September 1946, an dem die SPD vor der Schlussabstimmung über den Gesamtentwurf die Aufnahme einer offenbar als bedrohlich empfundenen Bestimmung in die Bayerische Verfassung beantragt: „Eine künftige deutsche Verfassung setzt die widersprechenden Artikel der Bayerischen Verfassung außer Kraft.“49 Die CSU-Fraktion lehnt mit ihrer Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung diese Bestimmung geschlossen ab, und die Mitelbayerische Zeitung berichtet am 24. September 1946, bei dieser Ablehnung habe sich die gesamte CSU-Fraktion erhoben.50 IV. Der Aufbau der Gerichtsbarkeit 1. Die Rekonstruktion der Gerichtsbarkeit Mit dem Einmarsch der Alliierten Truppen in Deutschland werden zwar zunächst alle deutschen Gerichte geschlossen. Es ist aber gleichzeitig Aufgabe der „Legal Division“ der amerikanischen Besatzungsmacht, das deutsche Gerichtswesen unter Berücksichtigung der alliierten Ziele und Vorgaben wieder in Gang zu setzen.51 Es kommt nur zu einem kurzen Stillstand der deutschen Rechtspflege. Man liest, dass schon im Frühjahr 1945 die ersten Amtsgerichte ihre Arbeit in der amerikanischen Besatzungszone wieder aufgenommen haben. Die Justizminister der Länder erhalten bereits im Herbst 1945 die Verantwortung für den Wiederaufbau des deutschen Gerichtswesens. Es wird berichtet, dass die Zahl der wieder- oder weiterbeschäftigten Richter und Staatsanwälte mit Mitgliedschaft in der NSDAP (meist seit 1937) kontinuierlich zugenommen hat. 1949 sind 81 % der Richter und Staatsanwälte (insgesamt 752) ehemalige Parteigenossen.52 Auch in der deutschen Staatsrechtslehre stehen Solidarität und Kollegialität bei der Behandlung der belasteten Rechtslehrer im

46 47 48 49 50 51 52

Apelt (Fn. 30), S. 1. Apelt, aaO. Mittelbayerische Zeitung vom 17. 7. 1947. Siehe dazu Högner (Fn. 25), S. 196. Mittelbayerische Zeitung vom 24. 9. 1946. Waibel (Fn. 4), S. 239 ff. Waibel (Fn. 4), S. 279 Fn. 174.

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Vordergrund.53 In der Deutschen Demokratischen Republik verläuft die Entwicklung bekanntlich anders. Hier wird der Bedarf an Rechtsprechungspersonal durch die Absolventen der neu eingerichteten Volksrichterkurse gedeckt.54 Der Entwurf einer neuen Besatzungsdirektive der Amerikaner55 sieht die weitgehende Unabhängigkeit der deutschen Rechtspflege als Teil des amerikanischen Besatzungsprogramms vor. Alliierte Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit sollen nur noch ausnahmsweise dann erlaubt sein, wenn die Gerichte in ihrer Rechtsprechung sozusagen schwere Verstöße gegen den amerikanisch-westlichen ordre public begehen,56 beispielsweise auf nationalsozialistisches Gedankengut zurückgreifen. Das Militärregierungsgesetz Nr. 257 eröffnet zudem die Möglichkeit, jeden deutschen Richter, Staatsanwalt, Notar oder Rechtsanwalt aus seinem Amt oder seiner Funktion zu entlassen. Solche Eingriffe, auch solche in die Rechtskraft von Entscheidungen deutscher Gerichte, erfolgen aber nur selten.58 Es bleibt gleichwohl zumindest ein theoretischer Widerspruch zwischen dem Rechtsstaatsanspruch der amerikanischen Besatzungsmacht und den dargestellten Vorbehalten gegenüber der richterlichen Unabhängigkeit. Es ist dann das Besatzungsstatut, das im Mai 1949 ziemlich zeitgleich mit dem Grundgesetz in Kraft tritt und die Unabhängigkeit des deutschen Richters praktisch vollendet.59 2. Das Rechtsleben „vor Ort“ Die Arbeit der Justiz „vor Ort“ setzt bald nach der Kapitulation wieder ein, insbesondere durch die Tätigkeit der Amtsgerichte.60 Diese Entwicklung lässt sich am Beispiel Regensburgs nachzeichnen. Im März 1946 wird der bisherige Oberbürgermeister der Stadt Regensburg, Gerhard Titze, von der amerikanischen Besatzungsmacht als Präsident des LG Regensburg vereidigt. Die Ernennung gilt als ein markantes Zeichen zum „Neuaufbau des Rechtslebens“.61 Im April 1946 nimmt die Strafkammer ihre Tätigkeit auf und hat gut zu tun. Ein rechtsstaatlich ganz wichtiges Signal kommt hinzu. Im Oktober 1947 wird vor dem Landgericht Regensburg der Prozess wegen des Mordes an dem Domprediger Dr. Johannes Maier eröffnet. Dr. Maier hatte sich am 23. April 1945 öffentlich für eine kampflose Übergabe Regensburgs an die Amerikaner ausgesprochen, und er war in einem standgerichtlichen Verfahren wegen

53 Siehe dazu v. Bühlow (Fn. 9), S. 168 und Horst Dreier, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStL 60, 2000, S. 9 (69 Fn. 291). 54 Waibel (Fn. 4), S. 279 f. Fn. 174. 55 SWNCC 327 (State-War-Navy-Coordinating-Committee) vom 4. 11. 1946. 56 Waibel (Fn. 4), S. 123. 57 Dazu und zum Folgenden Waibel (Fn. 4), S. 268 ff. 58 Waibel (Fn. 4), S. 270. 59 Waibel (Fn. 4), S. 354 f. 60 Waibel (Fn. 4), S. 267. 61 Mittelbayerische Zeitung v. 15. 3. 1946.

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Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt und hingerichtet worden.62 Es ist für die Entwicklung des deutschen Rechtsbewusstseins in dieser Phase wichtig, dass unfassbares Staatsunrecht vor Ort sichtbar gesühnt wird. Auf der großen Gerichtsbühne sind es die Nürnberger Prozesse, die den Menschen den Eindruck vermitteln oder vermitteln sollen, dass Recht über Unrecht siegt.63 Die Tätigkeit der sog. Spruchkammern scheint demgegenüber in der Bevölkerung schon weniger überzeugend zu sein.64 3. Die Rückkehr der Verwaltungsgerichtsbarkeit Zentraler Baustein der Wiederherstellung einer rechtsstaatlichen Ordnung ist der (Wieder-)Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit.65 Sie ist der Prüfstein für den Rechtsstaat schlechthin, weil der Bürger vor den Verwaltungsgerichten sein Recht gegen den Staat im Streitfall durchsetzen kann.66 Wie auch auf anderen Gebieten beginnt die amerikanische Besatzungsmacht überraschend bald nach der Kapitulation, in die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit Vertrauen zu fassen.67 Die Militärregierung ordnet an, dass die Verwaltungsgerichte in Bayern ihre Tätigkeit mit dem 15. November 1945 wieder aufnehmen. Dies ist aber jedenfalls dem BayVGH, der noch formell besteht68, nicht ohne Weiteres möglich. Nur zwei Richter sind greifbar. Akten und Bibliotheken in München sind vollständig zerstört. Es tritt dann am 15. Oktober 1946 das Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 25. September 194669 – das VGG – in Kraft. Es steht für einen beachtlichen Schritt in eine neue Qualität des Verwaltungsrechtsschutzes. Zum Einen enthält es die von vielen ersehnte verwaltungsgerichtliche Generalklausel (schon 1925 hatte Walter Jellinek auf der Staatsrechtslehrertagung prophezeit, der Generalklausel gehöre die Zukunft)70, ferner die abstrakte Normenkontrolle, die Trennung von Gerichtsbarkeit und Verwaltung, und vor allem die Einrichtung unabhängiger Verwaltungsgerichte in allen In62 Der Sachverhalt und das Verfahren sind eingehend dokumentiert. Siehe Christian Feldmann, Der Domprediger. Dr. Johann Maier – ein Leben im Widerstand, 1995; Werner Chrobak, Wie der Krieg in Regensburg zu Ende ging, in: Regensburger Almanach 1995, S. 45; Andreas Eichmüller, Regensburger NS-Prominenz vor dem Strafrichter, aaO, S. 53 ff. 63 Siehe dazu Stern (Fn. 3), S. 965 ff. 64 Siehe dazu Stern (Fn. 3), S. 981 ff. 65 Siehe Georg Christoph von Unruh, in: Deutsche Verwaltung zwischen 1945 und 1949, 1987, II. Kapitel, S. 70 (86). 66 Siehe Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 839: Fehlt die Verwaltungsgerichtsbarkeit, ist der Rechtsstaat unvollendet. 67 Michael Steiner, Die Anfänge der Verwaltungsrechtsprechung nach dem Krieg anhand ausgewählter Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, BayVBl. 1998, S. 263. 68 Dazu Klaus Werner Lotz, Zur Geschichte des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes, BayVBl. 2006, S. 719 (720). 69 GVBl. S. 281. 70 Vgl. Walter Jellinek, Der Schutz des öffentlichen Rechts durch ordentliche und durch Verwaltungsgerichte, VVDStRL 2 (1925), S. 8 ff., 121.

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stanzen. Vor 1933 war nur der BayVGH ein echtes Gericht. Jetzt sind die Gerichte auf der unteren Instanz getrennt von der Verwaltung. Das sind große, bedeutende Schritte in Richtung Rechtsstaatlichkeit, beachtliche rechtsstaatliche Innovationen, auch wenn man die Rechtsqualität der früheren Rechtsspruchstellen, etwa der Landesversicherungsämter und des Reichsversicherungsamtes in sozialrechtlichen Angelegenheiten, nicht unterschätzen darf, vor allem deren knappe Entscheidungen genießt. Bescheiden startet die Verwaltungsgerichtsbarkeit an zunächst fünf Standorten mit ein bis zwei Kammern. Der BayVGH macht deutlich, dass er gewillt ist und sich auch aufgerufen fühlt, in dem neuen Rechtsstaat neues Verwaltungsrecht zu judizieren.71 Aber auch die Einzelfallgerechtigkeit in existenziellen Fragen hat Gewicht. 1948 sind 41 % der Klagen beim BayVGH Fälle zum Wohnrecht und speziell zum Wohnungseinweisungsrecht.72 Das heute vergessene Grundrecht auf angemessenen Wohnraum in Art. 106 BV wird konkretisiert, bei Bedarf auch feinfühlig, wenn der Gerichtshof 1948 judiziert, ein Schriftsteller bedürfe „eines Raumes, in dem er ungestört und ungehindert seiner Arbeit nachgehen kann“.73 Auch sonst sind es die Tagessorgen der Deutschen, die sie vor Gericht bringen: Fürsorgerecht, Preisvorschriften, Flüchtlingswesen, und natürlich will man mit Hilfe der Verwaltungsgerichte Kraftfahrzeuge zurück haben, die während des Krieges aufgrund des Reichsleistungsgesetzes beschlagnahmt worden waren. Sie überhaupt aufzufinden, ist nicht ganz einfach und nicht immer erfolgreich.

V. Der Rechtstaatsgedanke im Wandel Man ist versucht, als jemand, der sich heute mit dem Rechtsstaat beruflich beschäftigt, diejenigen zu beneiden, die 1945 und in den Jahren danach für den rechtsstaatlichen Aufbau gearbeitet haben. Es ging damals um fundamentale Schritte, in der Richtung und meist auch im Detail außer Streit, nicht – wie heute oft – um Fragen des rechtsstaatlichen „Komforts“, Rechtsstaatsfragen teilweise auf subtilem Niveau. Rainer Wahl hat diese Entwicklung meisterhaft für die Jahrzehnte nach 1949 nachgezeichnet.74 Das Verhältnis der Rechte des Bürgers zu den Befugnissen des Staates war zwischen 1945 und 1949 nach den Jahren der Rechtlosigkeit verhältnismäßig einfach zu justieren. Schon die Rekonstruktion des Rechtstaats in den Neuen Bundesländern nach Herstellung der Deutschen Einheit hatte sich mit grundsätzlicher Kritik auseinander zu setzen.75 Die zutreffende rechtsstaatliche Austarierung der Staat-Bürger-Beziehung heute in Zeiten der organisierten Kriminalität und des international 71

M. Steiner (Fn. 67), S. 264. M. Steiner (Fn. 67), S. 267. 73 BayVGH, Entsch. v. 4. 11. 1948, VGH n.F. 1.110. 74 Rainer Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006. 75 Bärbel Bohleys Satz „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ hat auch die Richterschaft herausgefordert. Siehe Renate Jaeger, Noch einmal: Rechtsstaat und Gerechtigkeit, 1996. 72

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agierenden Terrorismus ist ungleich komplexer. Nostalgie nach den Jahren 1945 bis 1949 ist aber nicht angezeigt, vielleicht aber in Erinnerung an diese Zeit mehr Bescheidenheit bei der Formulierung von Ansprüchen an die institutionelle und personelle Ausstattung des deutschen Rechtstaats der Gegenwart.

Staatslehre zwischen etatistischer Tradition und pluralistischer Öffnung Von Michael Stolleis, Frankfurt I. Die Allgemeine Staatslehre, ehemals eine Spezialdisziplin des Naturrechts, die im frühen 18. Jahrhundert unter dem Namen „Ius publicum universale“ neben dem positiven Recht gelehrt wurde, erschien im 19. Jahrhundert als „Philosophisches Staatsrecht“, um schließlich im großen Referenzwerk von Georg Jellinek als soziologische und juristische „Allgemeine Staatslehre“ (1900) kanonischen Charakter zu gewinnen. Es blieb das philosophische Grundlagenfach der Staatswissenschaften. Vom positiven Staatsrecht getrennt, sollte es Auskunft geben über das „Wesen“ des Staates, über seine Entstehung, Ausformung und Legitimation, seine Grenzen und Gefährdungen.1 Im Grunde war es immer noch die aristotelische „Politik“, deren Thematik im Gewand des modernen Staates diskutiert wurde. Verfassungsgeschichte und Verfassungsvergleichung spielten dabei eine bedeutende Rolle, ebenso die sozialwissenschaftliche Theoriebildung seit Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber. Auf diesem Feld war der Methoden- oder Richtungsstreit der Jahre 1925 bis 1930 ausgetragen worden. Zurück blieben die großen, jahrzehntelang diskutierten Werke von Kelsen, Schmitt, Smend und Heller.2 Mit dem Nationalsozialismus brach das Fach zusammen. Alle Voraussetzungen für eine wissenschaftlich bedeutungsvolle Allgemeine Staatslehre waren zerstört. Auch wenn unter diesem Titel noch Bücher veröffentlicht wurden, etwa von Otto Koellreutter3, so waren es doch überwiegend weitergeführte Grundrisse aus der Weimarer Zeit oder deutschnationale, ständische oder völkische Phantasiestücke. Letztere wurden wertlos, als Hitler sich durchgesetzt hatte und der Staat im Konkurrenzkampf mit der NSDAP seine Konsistenz verlor.4 Die Lage in den Jahren nach 1945 war im Vergleich zur Weimarer Zeit eine ganz andere. Zwar herrschte erneut wieder Unsicherheit über Zukunft und Lebensfähigkeit der staatlichen Gebilde in Ost und West. Aber auf beiden Seiten entstanden nicht die 1 Schindler, Die Staatslehre in der Schweiz, JöR NF 25 (1976), 255 – 279 schildert die entsprechende Entwicklung, etwa ab 1848 bis 1975. 2 Stolleis, Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre – ein abgeschlossenes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte?, Stuttgart 2001. 3 Koellreutter, Allgemeine Staatslehre, Tübingen 1933. Hierzu Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band 1914 – 1945, München 1999, 346 f. 4 Stolleis (Fn. 3), 316 ff.; Dreier/Pauly, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL 60, 2001, 9 ff., 59 ff.

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Bedingungen, die für einen intellektuellen Aufbruch des Staatsdenkens, vergleichbar dem Methoden- oder Richtungsstreit, günstig gewesen wären. Im Osten senkte sich erneut die Zensur eines faktischen Einparteienstaates über die Wissenschaftsfreiheit.5 Im Westen gab es zwar diese Freiheit, aber die geistige „Lage“ war eine andere geworden. Die Akteure der zwanziger Jahre waren nicht mehr am Leben (Heller) oder am Lebensende (Triepel, Anschütz, Thoma, Radbruch), im Ausland (Kelsen, Loewenstein), hatten sich anderen Aufgaben zugewandt (Kaufmann, Smend, Huber, Forsthoff) oder waren mit einem Tabu belegt (Schmitt). Nun ging es um den materiellen Wiederaufbau im Rahmen eines nur staatsähnlichen Provisoriums und um ein langsames Begreifen auch der geistigen Katastrophe, die der Nationalsozialismus verursacht hatte.6 Was dieses geistige Vakuum füllte, waren Reprisen – im einfachsten Sinn überarbeitete Nachdrucke älterer Grundrisse, aber auch im übertragenen Sinne des Rückgriffs auf längst Gesagtes. Das war nicht nur Ausdruck der materiellen Not. Es schien einfach nicht möglich, den Methoden- oder Richtungsstreit dort wieder aufzunehmen, wo er 1929 abgebrochen worden war. Die wenigen noch verbliebenen Akteure waren geistig erschöpft oder diskreditiert. Die in der Staatslehre unvermeidliche „Politik“ sollte nun vermieden werden.7 Um dennoch das Bedürfnis der traditionellen Juristenausbildung nach einer Vorlesung „Allgemeine Staatslehre“ zu erfüllen, griff man nach den alten Manuskripten. Rudolf von Laun etwa, der Hamburger Rechtsphilosoph und Völkerrechtler, ließ sofort nach 1945 als „Studienbehelf zu den Vorlesungen“ eine kleine Allgemeine Staatslehre drucken, welche zwischen soziologischer, juristischer und ethischer Staatslehre unterschied und die noch verwendbare ältere Literatur angab.8 Laun blieb Kantianer und insofern überzeugt von klaren Trennungen (Kausalgesetze, Sittengesetz, logisch-mathematische Gesetze) zwischen Sein und Sollen. Recht sollte nur gelten, wenn es mit dem Sittengesetz übereinstimmte. Letzteres blieb allerdings vage, weshalb Laun zur näheren Bestimmung auf ein faktisches „Gesamtbewusstsein“ zurückgreifen musste. Das war der alte, von Kant inspirierte idealistische Ansatz, den Laun zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Staatslehre und Völkerrecht gefunden hatte.9 5 Stolleis, Sozialistische Gesetzlichkeit. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR, München 2009, 138 ff. Das maßgebliche Werk war dasjenige von Polak, Zur Dialektik in der Staatslehre, Berlin 1959. 6 Charakteristisch etwa die Bemerkung von Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, Art. 3 RdNr. 199 Anm. 2): „Die im NS-Staat verheizte übriggebliebene Generation der Bachof, Dürig, Ehmke, Hesse, Lerche, Menger, Obermayer, H. Schneider usw. hat in der Tat keine ,Metatheorie entworfen, weil sie, obwohl ,ihre Wunden leckend, erst einmal wieder Staat, Universität und einiges mehr machen musste“. 7 C. Möllers, Der vermisste Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepublik, Frankfurt 2008, 31. 8 Nach den ersten drei „hektographierten“ Auflagen dann Laun, Allgemeine Staatslehre, 4. Aufl., Hamburg 1947, 9. Aufl. 1964. 9 Die einzige gründliche Würdigung findet sich bei Badura, Die Methoden der neueren allgemeinen Staatslehre, Erlangen 1959, 211 – 216.

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Ein weiterer kleiner, aber viel weniger gehaltvoller Grundriss kam von dem unermüdlich seit 1914 in Frankfurt lehrenden Friedrich Giese.10 Man wird den Verfasser nicht zu den eigenständigen Vertretern der Staatslehre zählen. Was er bot, war ein Vorlesungsgrundriss mit knappsten, aber immerhin klaren Informationen.11 Demgegenüber wird man die „Revision der Staatslehre“ des nun in Nürnberg lehrenden Völkerrechtlers Ernst Wolgast (1888 – 1959)12 nur einen wirren Zettelkasten mit geopolitischen Reminiszenzen nennen können. Hans Helfritz, ehemals Breslauer Deutschnationaler und Monarchist13, griff in Erlangen auf sein 1924 erstmals erschienenes „Allgemeines Staatsrecht“ zurück, das sich in der dritten und vierten Auflage nach dem Studienplan von 1935 „Volk und Staat“ genannt und einige verbale Konzessionen an den Nationalsozialismus gemacht hatte. In der ersten Nachkriegsauflage hieß es dann wieder „Allgemeines Staatsrecht“14, gemeint war aber eine „Allgemeine Staatslehre“. In Bonn gab Richard Thoma seinen – zwar sehr gehaltvollen, aber doch veralteten – Artikel „Staat“ aus dem Handwörterbuch der Staatswissenschaften von 1926 als kleines Büchlein heraus.15 Dort fanden sich eine Typenlehre der Verfassungen, eine Übersicht über die Erscheinungsformen moderner Demokratien sowie eine Darstellung der juristischen Möglichkeiten, den Staat zu fassen, und zwar in pointierter Auseinandersetzung mit Kelsens „Allgemeiner Staatslehre“ von 1925. Wie in allen Umbruchzeiten, in denen die Gemüter aufgewühlt sind, finden sich auf diesem Feld auch Rückgriffe auf religiöse Weltbilder, von denen aus die Distanzen zum weltlichen Staat abgemessen werden. So lieferte Heinrich Kipp (1910 – 1993), der Schüler von Godehard Josef Ebers, eine der katholischen Soziallehre im Sinne der Enzyklika „Quadragesimo Anno“ (1931) entsprechende „Staatslehre“16, also eine von der Familie und anderen kleineren sozialen Einheiten „organisch“ zum Staat aufsteigende Darstellung des „richtigen“ Staates, dessen juristisches Fundament das Naturrecht war. Ein „protestantisches Naturrecht“, das ein Pendant hierzu 10 Giese, Allgemeines Staatsrecht. Ein Grundriß, Tübingen 1948, (95 Seiten). Zu ihm Stolleis, Friedrich Giese (1882 – 1958), in: Diestelkamp/Stolleis (Hrsg.), Juristen an der Universität Frankfurt am Main, Baden-Baden 1989, 117 – 127; Ruppert, „Streng wissenschaftlich und völlig unpolitisch“. Der Frankfurter Staatsrechtler Friedrich Giese in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Kobes/Hesse (Hrsg.), Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945, Göttingen 2008, 183 – 204. 11 Siehe auch den Grundriss des späteren Wiesbadener Rechtsanwalts v. Hartlieb, Staat und Verfassung, Spiegel-Verlag P.I.D. o.O., Hamburg 1947, entstanden aus Vorlesungen und Vorträgen vor Kriegsgefangenen in Ägypten, mit knappen Informationen über Staat und Verfassung, Geschichte der modernen Verfassung und die Verbreitung von Rechts- und Verfassungsstaaten in der Welt. 12 Wolgast, Revision der Staatslehre. Rede zur 30. Wiederkehr des Gründungstages der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zu Nürnberg, Nürnberg 1950. 13 Helfritz, Wilhelm II. als Kaiser und König. Eine historische Studie, Berlin/Zürich/Wien 1954, (391 Seiten). 14 Helfritz, Allgemeines Staatsrecht, 5. Aufl. Detmold 1949. 15 Thoma, Grundriss der Allgemeinen Staatslehre, Bonn 1948, (86 Seiten). Erstmals in Elster u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl. Bd. VII, 1926, 724 ff. 16 Kipp, Staatslehre (Mensch, Recht und Staat), 2. Aufl., Köln 1949.

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hätte bilden können, gab es nur ansatzweise. Die lutherische Zwei-Reiche-Lehre gab der weltlichen Sphäre weitgehende Autonomie; ihr Bezugspunkt war das Individuum. Insofern gelangten die protestantischen Autoren, trotz aller Annäherungen zwischen den Konfessionen, kaum über Entlehnungen aus der katholischen Naturrechtstradition hinaus.17 Meist orientierten sie sich an säkularisierten Wertphilosophien (Th. Litt, E. Spranger, N. Hartmann, M. Scheler). Die Ergebnisse wirkten aber gelegentlich ganz ungeeignet, die Wirklichkeit der Industriegesellschaft zu erfassen, auch wenn die Verfasser praxisnahe Juristen waren, wie der sich an Eduard Spranger und Rudolf Smend anlehnende Rudolf W. Füsslein.18 Er meinte, seiner Staatslehre den „Dualismus als fundamentales Gestaltungsgesetz“ zugrunde legen zu können, um zu den „Urbereichen des Seins“ vorzudringen. Gänzlich esoterisch war der bei Ernst von Hippel (1895 – 1984) zum Juristen gewordene Anthroposoph, Mystiker und 1945 zum Katholizismus konvertierte Valentin Tomberg (1900 – 1973).19 Hippel selbst war nach seinen Anfängen bei den klassischen staats- und verwaltungsrechtlichen Positivisten Paul Schoen, Gerhard Anschütz und Richard Thoma eigene Wege der metaphysischen Verankerung des Rechts gegangen. Er lehrte seit 1940 in Köln, legte nach dem Krieg ältere Bücher wieder auf20 und schrieb nun als Emeritus eine „Allgemeine Staatslehre“21. In ihr entwickelte er verschiedene „Staatsbegriffe“, schilderte die Vorstufen des modernen Staates und vertrat die These, nur eine „moralische Staatslehre“ könne Schutz gegen die letztlich zum Totalitarismus führende Lehre des Positivismus bieten. Für ihn waren Georg Jellinek und vor allem Kelsen die eigentlich verderblichen Theoretiker. Er setzte demgegenüber auf Moral, auf Enthusiasmus für das Gute und den dem Menschen zugesprochenen eigenen Trieb zum Guten und Heiligen. Recht, Moral und Liebe wurden bei Hippel nur stufenweise unterschieden. Trotz dieser zwar sympathischen, aber doch vage bleibenden Metaphy17

Dombois, Strukturelle Staatslehre, Berlin 1952. Füsslein, Die unwandelbaren Fundamente des Staates. Grundzüge einer wertgesetzlichen Staatslehre, Hamburg 1947. – Die spätere Auflage Füsslein, Mensch und Staat. Grundzüge einer anthropologischen Staatslehre, München 1973 bleibt auf dieser Grundlage; Kritisch Häberle, JZ 1974, 303 f. – Füsslein (1900 – 1980) war, nach der Mitarbeit im Parlamentarischen Rat, Ministerialdirigent im Bundesministerium des Innern, Spezialist und Kommentator des Versammlungsrechts, dessen Neufassung vom 24. 7. 1953 (BGBl I, 689) auf ihn zurückging. Siehe ders., Rechtliche Probleme des Versammlungsgesetzes, DVBl 1954, 553 – 557. 19 Tomberg, Degeneration und Regeneration der Rechtswissenschaft, Bonn 1946 (2. Aufl., Bonn 1979). Sein unter dem Namen „Anonymus dOutre Tombe“ veröffentlichtes Hauptwerk „Die großen Arcana des Tarot“ ist von Frau von Hippel übersetzt und 1983 in Basel von Martin Kriele und Robert Spaemann herausgegeben und von dem katholischen Theologen Hans Urs von Balthasar eingeleitet worden (3. erw. Aufl., 1993). Siehe auch Kriele, Anthroposophie und Kirche. Erfahrungen eines Grenzgängers, Freiburg 1996. Inzwischen widmet sich der zur Esoterik weiter gewanderte Kriele den Botschaften, die seine Frau Alexa von Engeln zu empfangen behauptet, und unterstützt sie als Autor bei deren Vermarktung. 20 v. Hippel, Die Krieger Gottes. Die Regel Benedikts als Ausdruck frühchristlicher Gemeinschaftsbildung, Halle 1936 (2. Aufl., Paderborn 1953); ders., Bacon und das Staatsdenken des Materialismus, Halle 1939 (2. Aufl., Wiesbaden 1948); ders., Rechtsgesetz und Naturgesetz, Halle 1942 (2. Aufl., Tübingen 1949). 21 v. Hippel, Allgemeine Staatslehre, Berlin/Frankfurt 1963. 18

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sik mündete dieses Buch in einen sachlich vergleichenden politologischen Teil, in dem einzelne Staaten (Frankreich, Großbritannien, Nordamerika und Sowjetrussland) exemplarisch und mehr oder weniger im Überblick behandelt werden.22 Neben den alten Vorlesungsgrundrissen, den religiös bewegten Staatslehren sowie einigen laienhaften Versuchen gab es Studienliteratur im herkömmlichen Sinn, so etwa ab 1950 von Günther und Erich Küchenhoff23 einen für den „Verwaltungsdienst“ gedachten Grundriss, der sich eine volle Generation als „Lernbuch“ hat erhalten können. Bald darauf legte auch Otto Koellreutter (1883 – 1972) wieder eine „Staatslehre im Umriß“ vor, eine vom Nationalsozialismus gereinigte Fassung seiner „Allgemeinen Staatslehre“ von 1933, nun versetzt mit höchst problematischen Interpretationen des Faschismus und insbesondere des „Hitlerismus“.24 Die Rückkehr zur einst verworfenen parlamentarischen Demokratie war zwar vollzogen, aber geblieben war die zentrale Kategorie des „Volkes“, der Vorrang des Staates vor dem Recht, die insgesamt nationalkonservative Einstellung, die aber andererseits auch wieder durch einen weiten politologischen Überblick über die europäischen Staaten und einen besonderen Akzent auf Ostasien ergänzt wurde.25 Mit den europäischen Einigungsbestrebungen (Europarat, Montanunion) befasste sich Koellreutter nicht; sein Festhalten an der Kategorie des Nationalstaats versperrte ihm hier vielleicht den Blick auf das entstehende supranationale Europarecht, wie ihn gleichzeitig etwa Walter Hallstein, C.W. Ophüls, Wilhelm G. Grewe oder Hermann Mosler entwickelten.26 Ein ganz anders orientiertes Alterswerk legte auch Hans Nawiasky (1880 – 1961) mit seiner „Allgemeinen Staatslehre“ vor, die in Teilbänden seit 1945 erschienen war.27 Ähnlich wie Rudolf von Laun kam Nawiasky aus dem spezifisch österreichischen Rechtspositivismus, ohne sich allerdings den Thesen Kelsens zu verschreiben. Er entwickelte vielmehr Georg Jellineks „Zwei-Seiten-Theorie“ zu einer Dreiheit 22 Die Würdigung des Buches in der Festgabe für Ernst von Hippel zum 70. Geburtstag (Staat – Recht – Kultur, Bonn 1965, 230 – 239) durch Hans Peters ist eine wohlwollende Inhaltsangabe und setzt den Akzent auf die „pädagogische Leistung“, distanziert sich aber in taktvoller Weise von den Inhalten. 23 G. Küchenhoff / E. Küchenhoff, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart/Köln 1950 (6. Aufl., 1967). – Günter Küchenhoff, der sich stark nationalsozialistisch profiliert hatte und längere Zeit auf seine Wiederverwendung an der Universität warten musste, begann nun mit „Naturrecht und Christentum“ (1948), „Staatsrecht. Allgemeiner Teil“ (1950) und vollendete seine Auffassungen in dem Buch „Naturrecht und Liebesrecht“ (1962). 24 Koellreutter, Staatslehre im Umriß, Göttinger Verlagsanstalt, Göttingen 1955. Zur Sowjetunion, zum Faschismus und zum Hitlerismus siehe 184 ff., 196 ff., 202 ff. 25 Auf eine gewisse methodische Verwandtschaft zwischen Koellreutter und Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin – Göttingen – Heidelberg 1953 (= Constitutional Government and Democracy, 1937/1951) weist Badura (Fn.9), 229 f. hin. 26 Stolleis, Europa als Vorstellung und Arbeitsgebiet der westdeutschen Staatsrechtslehre nach 1945, in: Dingel/ Schnettger (Hrsg.), Auf dem Weg nach Europa. Deutungen, Visionen, Wirklichkeiten, Göttingen 2010, 237 – 260. 27 Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, Bd. 1, Einsiedeln/Zürich 1945 (2. Aufl., 1958), Bd. II, 1, 1952, Bd. II, 2, 1955, Bd. III, 1956, Bd. IV, 1958.

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weiter, indem er je eine ideelle, soziale und normative Betrachtung des Staates unterschied.28 Folglich definierte er den Staat auch aus dreifacher Perspektive. Das idealistische Moment steckte in der instrumentellen Auffassung des Staates, der dem Menschen zu dienen habe, also in der Ablehnung der These vom Staat als Selbstzweck. Dem entsprechend war der Staat in der normativen Sicht primär Kompetenzordnung, welche die Gewichte ausbalancieren sollte. Nawiasky wollte deshalb dem Parlament eine zweite Kammer gegenüberstellen. Im Einzelstaat konzipierte er sie eher ständisch – der bayerische Senat in der Verfassung von 1946 war vor allem sein Werk – , im Bundesstaat dagegen als Versammlung der Länderregierungen zur Sicherung des ihm sehr am Herzen liegenden Föderalismus.29 Ebenso meinte er, der Ministerpräsident als Regierungschef brauche auf Länderebene neben sich einen der Integration des Staates dienenden Staatspräsidenten. Schließlich sollte der Grundgedanke der repräsentativen Demokratie auch ein Gegengewicht in direktdemokratischen Elementen finden – letzteres wohl auf Grund seiner Erfahrungen im Schweizer Exil.30 Das gedankenreiche Werk fand wenig Resonanz, wohl weil es in einem insgesamt „antipositivistischen“ Klima dem Positivismus vor dem Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre verhaftet blieb, sich nicht gegenüber der modernen politischen Theorie öffnete und zudem in der Konstruktion des Bundesstaates von der Mehrheitsmeinung abwich. Auch das instrumentelle Verständnis des Staates mochte auf Widerspruch bei denjenigen stoßen, die sich explizit oder implizit an der idealistischen Philosophie, insbesondere an Hegel orientierten. Unterschwellig mag auch Nawiaskys von der Mehrheit abweichende Ansicht in der Frage des Fortbestands des Deutschen Reiches eine Rolle dabei gespielt haben, dass diese Allgemeine Staatslehre nicht als dem Zeitgeist entsprechend empfunden wurde. Nimmt man alle Beiträge der ersten fünfzehn Jahre nach 1945 zur Allgemeinen Staatslehre zusammen, dann fällt auf, dass es die Vertreter der ältesten Generation sind, die nun noch einmal den Anschluss an die theoretischen Positionen der Staatslehre der Weimarer Zeit suchen. Die Geburtsdaten (Thoma 1874, Helfritz 1877, Nawiasky 1880, Kaufmann 1880, Giese 1882, Laun 1882, Koellreutter 1883, Hippel 1895) deuten es schon an. Dass sogar das Buch von Franz Oppenheimer (1864 – 1943) „Der Staat“ von 1907 wieder aufgelegt wurde31, zeigt das theoretische Vakuum, das sich mit und nach dem Nationalsozialismus gebildet hatte.32 Nach allgemeiner Ansicht war der Positivismus insgesamt und speziell im Staatsrecht „überwunden“. Er war der theoretische Popanz, dem man die Schuld am „Totalitarismus“ zuzuschieben suchte. An seiner Stelle standen nun kirchliche Soziallehre, Naturrecht oder – 28

Badura (Fn. 9), 216 – 220. Hierzu sehr früh Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, Tübingen 1920. 30 Zacher, Hans Nawiasky (1880 – 1961). Ein Leben für Bundesstaat, Rechtsstaat und Demokratie, in: Heinrichs u. a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, 677 – 692 (686) m.w.Nachw. 31 Oppenheimer, Der Staat, 4. Aufl., Stuttgart 1954. 32 Dies wird bestätigt durch Badura (Fn. 9), die erste methodische Bilanz und eindringliche Analyse der Materie. Nachkriegsautoren kommen nur am Rande vor. 29

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mehrheitlich – das verfassungsrechtlich garantierte und ontologisch begründete „Wertsystem“. Das Ausland nahm an den deutschen Allgemeinen Staatslehren jedenfalls ein hohes Maß an Metaphysik, eine Ausblendung realistischer Analysen der Macht und eine Schwäche der Verfassungsvergleichung wahr. Das Paradox schien zu sein, dass sich über einen praktizierten staatsrechtlichen Positivismus ein rhetorischer Antipositivismus gelegt hatte – beides gleich ungünstig für historische Vergleichung oder für politikwissenschaftliche Strukturvergleiche der geltenden Verfassungen.33 Die Wiener Schule schien in Deutschland wie ausgelöscht, eine Neuauflage von Kelsens Allgemeiner Staatslehre (1925) gab es nicht. Auch die 1934 in den Niederlanden erschienene und im Deutschland der Nachkriegszeit praktisch unbekannte „Staatslehre“ von Hermann Heller erfuhr erst 1961 eine zweite Auflage, der dann 1963 eine dritte folgte.34 Dann allerdings kam es zu einer Wiederentdeckung Hellers auf breiter Front, mit gewisser Verzögerung auch in Österreich.35 Die Gründe für die fehlende Präsenz der seinerzeit in scharfem theoretischem Gegensatz stehenden Kelsen und Heller in der Nachkriegszeit sind ganz unterschiedlich. Die gemeinsame jüdische Herkunft, die sie in den Tod bzw. die Vertreibung führte, sowie die gemeinsame politische Option für einen demokratischen Sozialismus – das waren ungünstige Merkmale in der bundesdeutschen Atmosphäre der fünfziger Jahre. Bei Kelsen kamen der angeblich „leere“ Normativismus sowie seine Position in der Frage des Fortbestands des Deutschen Reiches als Ablehnungsgründe hinzu. Auch in der DDR distanzierte man sich schärfstens von Kelsen, weil er auf der Trennung von Politik und Recht bestand.36 Dagegen wurden die Schriften der ehemaligen antipositivistischen Wortführer Rudolf Smend und Carl Schmitt im Jahr 1954 gleichzeitig wieder vorgelegt, im Falle Smends durch Wilhelm Hennis zum Goldenem Doktorjubiläum, im Falle von Schmitt als erster Versuch des Schülerkreises und des Verlags Duncker & Humblot, mit einem Nachdruck der „Verfassungslehre“ als eines vom Nationalsozialismus noch unberührten Hauptwerks wieder Türen für den Autor zu öffnen. Beide Texte waren 1928 erschienen und nun 1954 unverändert wieder greifbar. Diese kleine Koinzidenz gibt immerhin einen Hinweis darauf, dass die von Frieder Günther vorgenommene große Zweiteilung der Staatslehre in der frühen Bundesrepublik in „Smendianer“ und „Schmittianer“ mehrere große Körner Wahrheit enthält.37 Denn wenn man Kelsen (1925) und Heller (1934) ausblendete, Nawiasky aus spezifischen Gründen nicht ins Zentrum rückte und alle anderen kleinen Schriften als unbedeutende 33 So die Position von Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl., Tübingen 1969, III ff. (Vorwort) sowie 417 ff. (Einleitung zum Nachtrag). 34 4. Aufl., 1970; 5. Aufl. (in: Ges. Schriften, 3 Bde), 1971: 6. Aufl., 1983. 35 Kühne, Hermann Heller – zögernde Rezeption in Österreich und langsam erwachendes Interesse, in: Müller/Staff (Hrsg.), Der soziale Rechtsstaat. Gedächtnisschrift für Hermann Heller 1891 – 1933, Baden-Baden 1984, 141 – 152. 36 Siehe nur Klenner, Rechtsleere – Verurteilung der Reinen Rechtslehre, Frankfurt 1972. 37 Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949 – 1970, München 2004.

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Studienbehelfe oder schwache Werke qualifizierte38, dann blieben von hohem Rang eben nur die Texte von Schmitt und Smend übrig.39 Letztere haben auf schwer nachzuzeichnenden Wegen gewirkt, die „Verfassungslehre“ von Schmitt zunächst auf eine eher untergründige Weise durch neugierige Leser und durch das von Schmitt selbst gesponnene Netzwerk40, bis mit der Gründung der Zeitschrift „Der Staat“ (1962) auch die öffentliche Debatte über sein Werk wieder eröffnet wurde. Auffällig ist dabei die Gleichzeitigkeit der „Wiederentdeckung“ von Hermann Heller. Smends „Integrationslehre“, die ihre antidemokratischen Verwendungsmöglichkeiten abgestreift hatte41, verbreitete sich primär über den aus dem Göttinger Seminar hervorgegangenen Schülerkreis (W. Hennis, P. v. Oertzen, K. Hesse, H. Zwirner, A. v. Campenhausen u. a.)42, über ihm verbundene Kollegen (U. Scheuner, H. Ehmke, W. v. Simson, A. Hollerbach, M. Heckel) und über das Hineinwirken in die politische Theorie.43 Die Bilanz zeigt, was die Allgemeine Staatslehre angeht, eine verunsicherte Szene. Das Umfeld war nicht geeignet für grundsätzlich neue Positionen. Der westliche Teilstaat Bundesrepublik war noch dabei, sich selbst zu finden. 1955 war die völkerrechtliche Handlungsfähigkeit formell erreicht. Aber trotz wachsender Wirtschaftskraft war dieser Staat noch schwach und sorgsam darum bemüht, wieder Vertrauen zu gewinnen. Weltpolitisch war er ein Staat dritter Ordnung. Die Integration in europäische Zusammenhänge steckte in den Anfängen und sie wurde zunächst in den herkömmlichen staats- und völkerrechtlichen Kategorien begriffen. Die mittlere und jüngere Generation der Staatsrechtslehrer, ohnehin stark dezimiert, hatte in der All38 Kern, Moderner Staat und Staatsbegriff. Eine Untersuchung über die Grundlagen und die Entwicklung des kontinentaleuropäischen Staates, Hamburg 1949; Buß, Allgemeine Staatslehre und Deutsches Staatsrecht, Herford/Köln 1957. 39 Der Ausschluss von Heinrich Triepel, Gerhard Anschütz, Richard Thoma und Erich Kaufmann wirkt vielleicht überraschend, ist aber unter dem Gesichtspunkt einer Allgemeinen Staatslehre doch wohl vertretbar. Das Gesamtwerk von Erich Kaufmann erschien zu dessen 80. Geburtstag in drei Bänden Göttingen 1960 (Autorität und Freiheit; Der Staat in der Rechtsgemeinschaft der Völker; Rechtsidee und Recht). Eine Allgemeine Staatslehre enthielt es nicht, allerdings im dritten Band Auszüge aus den französischen Vorlesungen in Den Haag (1936), in denen es um „die Institution Staat“ und die „Idee des Rechts“ ging. Hierzu im Ton der Zeit der von ihm gerade habilitierte v.d. Heydte, Das rechtsphilosophische Anliegen Erich Kaufmanns – Versuch einer Deutung, in: Um Recht und Gerechtigkeit. Festgabe für Erich Kaufmann, Stuttgart/Köln 1950, 103 – 121. 40 Van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993. 41 Siehe hierzu sehr klar Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., Heidelberg 1932, § 8, Anm.9: „Die politische Funktion der Integrationslehre wie der organischen Theorie besteht aber darin, auch nichtdemokratische Verfassungsformen auf den Volkswillen, zwar nicht den Volkswillen der Mehrheit, aber den integrierenden Willen der Volkheit, einer zahlenmäßig nicht bestimmbaren und kontrollierbaren und deshalb weitgehend nach Belieben konstruierbaren Volksgemeinschaft gründen zu können“. 42 Smend, Integrationslehre, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften Bd. V, Stuttgart u. a. 1956; ders., Integration, in: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., Stuttgart 1987, Bd. 1, 1354 – 1358. 43 Mols, Allgemeine Staatslehre oder politische Theorie?, Berlin 1969.

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gemeinen Staatslehre bis dahin keine eigene Stimme gefunden.44 Das wichtigste Nachbarfach, die Wissenschaft von der Politik, suchte unter ganz ähnlichen Bedingungen einen eigenen Weg und stand als Partner noch nicht zur Verfügung.45 Von einer die intellektuelle Auseinandersetzung elektrisierenden Stimmung wie in den Krisenjahren der Weimarer Republik war also keine Rede. Das Haus der parlamentarischen Demokratie war einzurichten, das Grundgesetz auszudeuten und anzupassen. Es gab wenig Neigung zu prinzipiellen Erörterungen und radikalen Fragen.46 Die Allgemeine Staatslehre, deren Ausgangspunkt, der gerade in Deutschland pointiert vorausgesetzte und durch die idealistische Philosophie überhöhte „Staat“ gewesen war, brauchte also rund zwei Jahrzehnte, um sich nach der Erfahrung eines verbrecherischen Regimes wieder zu regenerieren. Für Grundsatzüberlegungen schien angesichts der Probleme des Wiederaufbaus und der Selbstfindung der Staatsrechtslehre im neuen Gehäuse des Grundgesetzes wenig Raum zu sein. Die Unsicherheit, ob man in einem vollgültigen Staat lebe, wenn dieser sich nur als Teilstaat verstehe, wich erst langsam. Die westlichen Besatzungsmächte waren weiter präsent, wenn nun auch als Verbündete. Schließlich mochte die mindestens unbewusst virulente Frage nach dem „Staat als Verbrecher“ verhindert haben, das sowohl mit Schuld als auch Verantwortung beladene Provisorium zum Gegenstand theoretischer Erörterungen zu machen. So zeigte sich der „Staat als Argument“ teils als Reprise älterer Denkformen, teils als Erneuerung der schon sprachlich attraktiven und nunmehr demokratisch interpretierten Integrationslehre, teils als Gehäuse der ganz dominanten „antipositivistischen“ Grundstimmung.47 II. In dieser Situation mag man es als Ersatzphänomen deuten, dass Rudolf Smends Integrationslehre von 1928 nun zu einer offenen, pluralistischen und demokratischen Verfassungstheorie mutierte. Es schien, als ob man hier das passende Stichwort für die frühe Bundesrepublik gefunden hätte.48 Zwar gab es außer kleinen Erläuterungen von

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Als Parallele siehe auch Benda, Zwerg in Gelee. Das Jahr 1955, in: FAZ v. 3. 1. 2005: „Es war die Zeit der alten Männer in der deutschen Politik…Die nächste Generation fehlte weitgehend. Wo sie da war, konnte sie sich noch kaum durchsetzen“. 45 Moor, Politikwissenschaft als Alternative. Stationen einer Disziplin auf dem Weg zu ihrer Selbständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, Bochum 1988; Söllner, Die Gründung der westdeutschen Politikwissenschaft – ein Reimport aus der Emigration?, in: Crohn/von zur Mühlen (Hrsg.), Rückkehr und Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im öffentlichen Leben Nachkriegsdeutschlands, Marburg 1997, 253 ff.; Göhler/Zeuner (Hrsg.), Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, Baden-Baden 1991; zusammenfassend Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001. 46 Ebenso, wenn auch skizzenhaft, C. Möllers (Fn. 7), 31 ff., der dann das Staatskirchenrecht, die Debatten um den Fortbestand des „Reiches“ und die Wiederbewaffnung als indirekte Foren der Staatstheorie identifiziert. 47 C. Möllers, Staat als Argument, München 2000. 48 Günther (Fn. 37), 159 ff.

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Smend selbst49 keine neuen markanten Werke aus diesem Geist. Aber die Resonanz kam doch wohl aus Quellen außerhalb des Buches. Der Text von 1928 war klar antipositivistisch, relativierte auch den Verfassungstext zugunsten der „wahren“ Verfassung und bewegte sich gefährlich nahe an Formen der Integration durch charismatische „Führung“.50 Dies ist von Zeitgenossen auch kritisch bemerkt worden.51 Nun aber, unter dem Grundgesetz, wurde „Integration“ zur allgegenwärtigen Formel. Integriert werden sollten die Heimatvertriebenen, Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer, vor allem aber die ehemaligen Nationalsozialisten als bedeutende und umworbene Wählergruppe ebenso wie als Reservoir für Fachleute in den Ministerien und Verbänden. Auch die Anfänge der betrieblichen Mitbestimmung in der Montanindustrie dienten der Integration in dem Sinne, dass die Arbeiterschaft durch Partizipation in Entscheidungsprozesse eingebunden werden sollte. Den großen Volksparteien CDU/CSU und SPD gelang die „Integration“ von älteren konfessionellen Gegensätzen einerseits und Splittergruppen andererseits durch breite Programmatik. Schließlich wurde die europäische Einigung in der Montan- und Atomindustrie, in der Verteidigungs- und der Wirtschaftspolitik primär unter dem Leitwort „Integration“ betrieben. Es war das Allerweltswort schlechthin. Eine staatsrechtliche Theorie, welche gewissermaßen werbend und verstehend die Verfassung nicht als Organisationsstatut, sondern als Bekenntnis und Lebensform nahelegte, musste in diesem Milieu der Nachkriegszeit viel attraktiver sein als ein auf den „Ausnahmezustand“ und die „Entscheidung“ zielender Dezisionismus; denn warum sich „entscheiden“, wenn sich doch alles positiv zu entwickeln schien? In der Staatstheorie spiegelte sich auf diese Weise die internationale soziologische Debatte zwischen Integrations- und Konflikttheorien.52 Mochte man auch später dieses 49 Smend, Integrationslehre, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften Bd. V, 1956; ders., Integration, in: Kunst/Grundmann (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart 1966. 50 Smend, Integration, in: Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl. Stuttgart 1975, 1026. Hierzu Mehring, Integration und Verfassung. Zum politischen Verfassungssinn Rudolf Smend, in: Politisches Denken. Jahrbuch 1994, 1995, 19 ff.; v. Campenhausen, Rudolf Smend (1882 – 1975). Integration in zerrissener Zeit, in: Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, Göttingen 1987, 510 ff. 51 Korioth, Integration und staatsbürgerlicher Beruf: Zivilreligiöse und theologische Elemente staatlicher Integration bei Rudolf Smend, in: Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates. Zur Aktualität der Integrationslehre von Rudolf Smend, Baden-Baden 2005, 113 ff. unter Hinweis vor allem auf die scharfe Kritik Kelsens, Der Staat als Integration. Eine prinzipielle Auseinandersetzung, Wien 1930. 52 Siehe etwa Dahrendorf, Klassen und Klassen-Konflikt in der industriellen Gesellschaft, 1957; ders., Die Funktionen sozialer Konflikte, in: ders., Pfade aus Utopia, 1967, 263 f.; Thurlings, Het Sociale Conflict, Nijmegen 1960; Rex, Key problems of sociological theory, London 1961; Coser, Theorie sozialer Konflikte, 1966; Horton, Order and Conflict Theories of Social Problems as Competing Ideologies, in: American Journal of Sociology 71 (1966), 701 – 713; Messelken, Politikbegriffe der modernen Soziologie. Eine Kritik der Systemtheorie und Konflikttheorie, Köln/Opladen 1968. Zur bedeutenden Rolle von „Integration“ (oder Systemkoordinierung) in der Systemtheorie seit Talcott Parsons und Luhmann seien die theoretischen Bemühungen um die Integration von Teilsystemen durch strukturelle Kopplung genannt, etwa von Recht und Politik durch die Verfassung.

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Milieu als bourgeoises „Juste Milieu“ karikieren und anmahnen, den Ausnahmezustand nicht zu verdrängen53, so avancierte doch unbestritten auch die Integrationswirkung der Verfassung (der Parteien, des Bundesverfassungsgerichts, des Bundespräsidenten) zum allseits anerkannten Topos. Man streifte die bei Smend ursprünglich vorhandenen antidemokratischen und antiliberalen Elemente ab, gab auch seine These vom Selbstzweck des Staates auf. So war er zeitgemäß verwendbar. Angesichts der für ihn typischen schwebenden Ausdrucksweise und der geisteswissenschaftlichen Umhüllung war diese Anpassung an die veränderten Umstände auch nicht allzu schwer.54 Bis zum heutigen Tag ist „Integration“ das allen Richtungen der Staatsrechtslehre gemeinsame Wort, wenn die Funktion der Verfassung oder von Ämtern und Institutionen bezeichnet werden soll, in rechtsförmiger Weise Gegensätze zu überwinden. Das neue Grundgesetz war im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik die Integrations-Verfassung schlechthin. Sie integrierte, indem sie vieles gleichzeitig bot: Politische Partizipation und Öffentlichkeit, aber auch geschützte Privatheit, Freiheit für divergierende Weltanschauungen und Meinungen sowie Basiswerte, auf die sich alle verpflichten sollen. Vor allem bot sie die Integration in die Welt der westlichen Demokratien. Die „Ideen von 1914“ waren überwunden und man war auf die Ideen von 1789 eingeschwenkt.55 Der integrative Sprachgebrauch ging umstandslos auch in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über. Dort erschienen die politischen Parteien schon früh als „verfassungsrechtlich relevante Integrationsfaktoren“56 mit „Integrationsaufgaben“57, die Wahlen als ein „auf die Bildung funktionsfähiger Verfassungsorgane gerichteter Integrationsvorgang“ und als „entscheidender Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung“.58 Öffentliche Meinungsbildung und staatliche Willensbildung bildeten zusammen einen „Integrationsprozess“.59 Das mögen insgesamt „eher verbale Adaptionen“ sein60, sie zeigen jedoch die Präsenz und Beliebtheit des Sprachgebrauchs, der eher zur Harmonisierung als zu Konfrontation und Dezision tendierte. „Heute finde ich mich im Zeitalter der ,Integration“, stellte der Münch-

53 Böckenförde, Der verdrängte Ausnahmezustand. Zum Handeln des Staates in außergewöhnlichen Lagen, NJW 1978, 1881 – 1890. 54 Badura, Staat, Recht und Verfassung in der Integrationslehre. Zum Tode von Rudolf Smend (15. Januar 1882 – 5. Juli 1975), Der Staat 16 (1977), 305 (307); Dreier, Integration durch Verfassung? Rudolf Smend und die Grundrechtsdemokratie, in: Hufen (Hrsg. in Verbindung mit Uwe Berlit und Horst Dreier), Verfassungen. Zwischen Recht und Politik, Festschr. z. 70. Geb. für Hans-Peter Schneider, Baden-Baden 2008, 70 – 96. 55 Staff, Zur Rezeption der Ideen der Französischen Revolution von 1789 in der deutschen Staatslehre des 20. Jahrhunderts, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.), Die Ideen von 1789 in der deutschen Rezeption, Frankfurt 1989, 223 – 258. 56 BVerfGE 12, 296 (306). 57 BVerfGE 5, 85 (388). 58 BVerfGE 6, 84 (93); 14, 121 (135 f.). 59 BVerfGE 8, 104 (113). 60 Badura (Fn. 54), 305.

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ner Philosoph Helmut Kuhn 1966 gereizt fest, „deren Wortführer bereits über den Staat hinausgekommen zu sein meinen“.61 Die Bundesrepublik wurde durch die Beliebtheit von „Integration“ zwar nicht zur Konsensdemokratie nach österreichischem oder schweizerischem Muster. Es gab viele und heftige innenpolitische Konflikte. Aber diese Aufbau- und Wohlstandsgesellschaft der ersten beiden Jahrzehnte suchte doch tendenziell nach mittleren Lösungen. Die Opposition war weder unversöhnlich noch unpragmatisch. Auch sie strebte in die gesellschaftspolitische Mitte, wie das Godesberger Programm der SPD von 1959 zeigte. Orthodox-marxistische Positionen (W. Abendroth)62 und Forderungen nach Sozialisierungen (P.v. Oertzen) fanden innerparteilich keine Mehrheit, man trennte sich vom SDS, schwenkte 1960 außenpolitisch in die Mitte und wurde auf diese Weise „Volkspartei“, fähig zur Integration neuer und mittlerer Milieus.63 Ingesamt lässt sich die Smend-Rezeption der frühen Bundesrepublik eher „als großangelegte Suche nicht mehr nach einer Staatslehre, sondern nach einer zeitgemäßen, konsensfähigen materialen Verfassungstheorie deuten“.64 Diese Verfassungstheorie, die sich nun aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit und Offenheit auch leichter mit westeuropäischen Elementen verbinden ließ, ersetzte gewissermaßen die abhanden gekommene Staatslehre. „Verfassung“ war das modernere Paradigma, und es dauerte nicht lange, bis Dolf Sternberger das bis in die Gegenwart reichende Wort des „Verfassungspatriotismus“ in die Debatte gebracht hatte.65 Gleichwohl entstand lange keine „Verfassungslehre“, die einer herkömmlichen „Allgemeinen Staatslehre“ entsprochen hätte. Carl Schmitts „Verfassungslehre“ von 1928 war ohne unmittelbare Nachfolger geblieben. Auch die ihm seit den fünfziger und sechziger Jahren nahe stehende Gruppe von Öffentlichrechtlern (Werner Weber, Hans Schneider, Ernst Forsthoff, Ernst Rudolf Huber, Hans Peter Ipsen, Roman Schnur, Joseph H. Kaiser, Ernst-Wolfgang Böckenförde) hat keine neue „Ver61 Kuhn, Der Staat. Eine philosophische Darstellung, München 1967, 13. Siehe dort auch 396: „Bezaubert von dem Schlagwort der Integration stellt man sich einen allmählichen Übergang vor, von dem [für uns nur rudimentär bestehenden] Nationalstaat zu den Vereinigten Staaten von Europa und von da zu immer umfassenderen Zusammenschlüssen…“. Bezugspunkt war also nicht Smends Konzeption, die in dem Buch gar nicht auftauchte, sondern die von Kuhn kritisierte „europäische Integration“. 62 Hüttig/Raphael, Die „wissenschaftliche Politik“ der „Marburger Schule(n)“ im Umfeld der westdeutschen Politikwissenschaft 1951 – 1975. Ein Beitrag zur Geschichte der Disziplin, PVS 3 (1992), 427 – 454 (etwas umgeschrieben in: Bleek/Litzmann (Hrsg.), Schulen in der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999, 293 – 318). 63 Knappe Darstellung bei Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, München 1970; eingehender Miller, Die SPD vor und nach Godesberg, Bd. 2, Bonn 1974; Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965, Berlin-Bonn 1982; Heimann, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in: Stöss (Hrsg.), Parteien-Handbuch. Nd. II, Opladen 1984, 2025 – 2216. 64 Günther (Fn. 37), 169. 65 Sternberger, Verfassungspatriotismus (1979), in: ders., Schriften Bd. X, Haungs/Landfried/Orth/Vogel (Hrsg.), Frankfurt 1990, 13 – 16.

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fassungslehre“ hervorgebracht. Teils waren die Genannten mit ganz anderen Fragen beschäftigt, etwa Europarecht, Verfassungsgeschichte, Planungsrecht oder generell mit Verwaltungsrecht, teils setzten sie angesichts der allgemeinen Verfassungseuphorie gerade auf „Staat“. Ernst Forsthoff erklärte eine systematische Verfassungslehre auf der Grundlage des Grundgesetzes geradezu für unmöglich. Der Staat, so schrieb er für Carl Schmitt, sei gewissermaßen aus den Fugen und systematisch nicht (mehr) erfassbar, weil der Sozialstaat den Rechtsstaat überwuchere, weil die Interessenverbände den neutralen Staat bedrängten und dieser die politische Einheit nicht mehr repräsentiere.66 Möglicherweise bewirkte aber auf diesem Feld auch das Faszinosum Carl Schmitt eine gewisse Blockade in der Art eines respektvollen Wiederholungsverbots. Die kollektive Verlegenheit nach 1945, wie man es mit dem NS-Engagement von Carl Schmitt zu halten habe, kam hinzu. Da auf der anderen Seite Hermann Hellers „Staatslehre“ von 1934 damals noch fast verschollen war, gab es tatsächlich ein Vakuum. III. Es ist wohl kein Zufall, dass der sprachlich scheinbar nebensächliche, in Wirklichkeit aber fundamentale Übergang von einer „Staatslehre“ zur „Verfassungslehre“ zuerst von Autoren vollzogen wurde, welche als Emigranten die Impulse der amerikanischen Politischen Wissenschaft aufgenommen hatten.67 Gemeint sind damit etwa Carl Joachim Friedrich, Ferdinand A. Hermens, Karl Loewenstein und Ernst Fraenkel. Nicht gemeint ist dagegen der bereits erwähnte Philosoph Helmut Kuhn (1899 – 1991), der zwar auch nach Amerika emigriert war, sich dort aber, abseits des mainstream, an der antiken Philosophie orientierte, zum Katholizismus konvertierte und ab 1949 in Erlangen, 1953 bis 1967 in München großen Einfluss gewann. Er nannte sein hier einschlägiges Werk von 1967 denn auch schlicht „Der Staat“.68 Eine Verfassungslehre im modernen Sinn war dies nicht, sondern eine platonische, dezidiert antihistorische „Wesensschau“ der „guten“ Politik.69 Auch das in Nordamerika sehr einflussreiche Werk des politischen Philosophen Leo Strauss (1899 – 1973), eines frühen Interpreten von Carl Schmitt, das erst seit etwa 1988 durch Heinrich Meier stärkere Beachtung findet70, kommt für die hier interessierende frühe Phase der Öffnung deut66

Forsthoff, Zur heutigen Situation einer Verfassungslehre, in: Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt zum 80. Geburtstag, Barion/Böckenförde/Forsthoff/Weber (Hrsg.), Berlin 1968, 185 – 211. 67 Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, 246 ff. („Die politikwissenschaftliche Emigration“). 68 Kuhn (Fn. 61). Dort 447 – 458 auch die Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, zuerst in: Kantstudien 38 (1933), 190 – 196. 69 Hierzu der Chilene Herrera, Sein und Staat. Die ontologische Begründung der politischen Praxis bei Helmut Kuhn, Würzburg 2005. 70 Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen“. Zu einem Dialog unter Abwesenden, Stuttgart 1988; ders., Die Denkbewegung von Leo Strauss, Stuttgart/ Weimar 1996; ders., Das theologisch-politische Problem: Zum Thema von Leo Strauss,

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schen Staatsdenkens nach Westen nicht in Betracht. Das Gleiche gilt für die seit den sechziger Jahren zunehmend einflussreiche Hannah Arendt mit ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951), das erst 1962 in Deutschland erschien und großes Aufsehen in der nun anbrechenden Phase der Auseinandersetzung mit dem Holocaust erregte, zumal gleich zwei Jahre später (1964) „Eichmann in Jerusalem“ herauskam und sie zu einer der wichtigsten öffentlich wirksamen Intellektuellen machte.71 In ähnlicher Weise blieben Herbert Marcuse und Eric Voegelin mit ihrer Orientierung an der alteuropäischen Philosophie Außenseiter in Amerika und in ihren späteren Jahren in Europa, auch wenn sie zeitweise – jeder an seinem Ort – fast Kultstatus gewannen.72 Die gesamte Szenerie des Wiederaufbaus der Politischen Wissenschaft in Westdeutschland mit ihren Schwerpunkten in Freiburg (Bergstraesser), Berlin (Fraenkel, Flechtheim, Suhr), Hamburg (Landshut), Heidelberg (Friedrich), Köln (Hermens) oder Frankfurt (Horkheimer, Adorno), München (Voegelin) und anderswo muss hier nicht nachgezeichnet werden.73 Weniger wichtig ist auch, ob die einen aus der Weimarer Gewerkschaftsbewegung und Sozialdemokratie kamen, die anderen sich eher als konservative Liberale verstanden. Hervorgehoben seien vielmehr nur jene, die dazu beitrugen, die herkömmliche Allgemeine Staatslehre für die Empirie des Verfassungsvergleichs zu öffnen und den „philosophischen“ Staatslehren den westlichen Pragmatismus sowie die Orientierung an der empirischen und quantitativen Politikwissenschaft entgegenzusetzen. Was sie vor allem mitbrachten, war eine prinzipiell positive Bewertung der „civil society“ und ihre Überordnung über den als dienend angesehenen Staat, wodurch eine starke Spannung zum traditionellen deutschen Staatsbild entstand.74 Dass die meisten von ihnen aber eine starke historische und ideengeschichtliche Komponente behalten hatten, wirkte sich für ihre Rezeption in Europa nun günstig aus. Sie alle hatten zudem im amerikanischen Exil über den Nationalsozialismus nachgedacht und waren in besonderer Weise für die Fragen des rechten und linken „Totalitarismus“ gerüstet.75 Hierfür sind vor allem die Bücher von Franz L. Neumann, S. Neumann, F. Borkenau, Ernst Fraenkel und Hannah Arendt berühmt geworden.76 Einer dieser Politologen war der schon seit 1926 in den USA tätige Carl Joachim Friedrich (1901 – 1984), ein Heidelberger Schüler Alfred Webers, der bald zu den etaStuttgart/Weimar 2003. – Heinrich Meier ist auch Herausgeber der Gesammelten Schriften von Leo Strauss, Stuttgart/Weimar 1996 ff. 71 Graf Kielmannsegg/Mewes/Glaser-Schmidt (Hrsg.), Hannah Arendt und Leo Strauss: German Emigres and American Political Thought after World War II, Washington D. C. 1995. 72 Henkel, Eric Voegelin zur Einführung, Hamburg 1998. 73 Umfassend Bleek, Geschichte (Fn. 67), Kap. 8. 74 Leibholz, Staat und Verbände, VVDStRL 24 (1966), 7 – 11. 75 Eine bis 1965 reichende Zusammenfassung der wichtigsten Beiträge aus der Politischen Wissenschaft bei Seidel/Jenkner, Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1968. 76 Gesamtübersicht bei Söllner, Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration, Opladen 1996.

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blierten Persönlichkeiten der amerikanischen Political Science gehörte, der nicht nur 1952 als einer der Neugründer der Deutschen Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik auftrat77, sondern auch 1953 eine erste Verfassung für eine „Europäische Politische Gemeinschaft“ entwarf.78 Wie Johannes Althusius, dem er sich schon früh intensiv gewidmet hatte, fügte er sich in den aristotelischen Hauptstrom der „Politik“ ein und betonte die Bedeutung von klug konstruierten Institutionen und gut ausgebildeten Eliten, letzteres vielleicht ein Nachklang seiner Anfänge in der politischen Jugendbewegung. Sein großes Lehrbuch „Constitutional Government and Politics“ von 1937, das 1951 „Constitutional Government and Democracy“ hieß, wurde in der deutschen Fassung von 1953 als „Der Verfassungsstaat der Neuzeit“ ein Klassiker des Fachs.79 Es schloss an alteuropäische Traditionen an, befreite sie aber von der idealistischen Überhöhung des 19. Jahrhunderts und legte das Hauptgewicht auf einen empirisch fundierten Realismus. So stellte es gewissermaßen die von Robert von Mohl noch vorausgesetzte Einheit der Staatswissenschaften80 wieder her. Die Schaffung des Verfassungsstaats, seine Institutionen (einschließlich der Verfassungsgerichtsbarkeit), seine praktische „Arbeit“ in Parlament, Exekutive, politischen Parteien und Verbänden, schließlich Krisen und Krisenüberwindung fanden ihre Darstellung, stets mit dem vergleichenden Blick auf die wichtigsten Staaten der Welt. Friedrich wurde in der Tat einer der „Founding Fathers“ der vergleichenden Politischen Wissenschaft.81 Ob diese „Heidelberger Schule“ (A. Rüstow82, D. Sternberger, Carl Joachim Friedrich, Klaus v. Beyme, Rainer M. Lepsius)83 mit ihrem intensiven

77 Friedrich, Grundsätzliches zur Geschichte der Wissenschaft von der Politik, in: Zeitschrift für Politik NF 1 (1954), 325 – 336. Zur Gründung Arndt, Die Besiegten von 1945. Versuch einer Politologie für Deutsche samt Würdigung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1978, 186 ff. ; Bleek, Geschichte (Fn. 67), 271 ff. 78 Lietzmann, Politikwissenschaft im „Zeitalter der Diktaturen“. Die Entwicklung der Totalitarismustheorie Carl Joachim Friedrichs, Opladen 1999; ders., Carl Joachim Friedrich (1901 – 1984), in: Bleek/Lietzmann (Hrsg.), Klassiker der Politikwissenschaft. Von Aristoteles bis David Easton, München 2005, 179 – 191 (187). 79 Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit (Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft), Berlin/Göttingen/Heidelberg 1953. 80 Bleek, Die Tübinger Schule der gesamten Staatswissenschaft, in: ders./Lietzmann (Hrsg.), Schulen in der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999, 105 – 129. 81 v. Beyme, A Founding Father of Comparative Politics: Carl Joachim Friedrich, in: Daalder (Hrsg.), Comparative European Politics. The Story of a Profession, London/Washington D.C. 1997, 7 – 14. 82 Sternberger, Der Gelehrte als Arzt der Gesellschaft. Zu Alexander Rüstows 75. Geburtstag, in: FAZ v. 6.4. 1960; Eisermann, Alexander Rüstow (1885 – 1963), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 15 (1963), 593 – 604; Meier-Rust, Alexander Rüstow. Geschichtsdeutung und liberales Engagement, Stuttgart 1993. 83 Lietzmann, Integration und Verfassung. Oder: Gibt es eine Heidelberger Schule der Politikwissenschaft? in: Bleek/Lietzmann (Fn. 78), 245 – 267, der allerdings, zeitlich ganz zutreffend, Beyme und den Soziologen Lepsius nicht einbezieht. Dennoch scheint es mir richtig, auch sie zu nennen, zum einen wegen des weiten komparativen Blicks des Politologen, zum anderen wegen der einflussreichen Analysen der bundesdeutschen Gesellschaft durch den

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deutsch-amerikanischen Austausch auch mit der um Ernst Forsthoff, Hans Schneider, Karl Doehring, Reinhard Mußgnug und anderen gebildeten Gruppe ausgeprägt konservativer und staatszentrierter Öffentlichrechtler engeren Kontakt hatte, ist eher fraglich. Eine gewisse Parallele zu Friedrichs Wirken in Heidelberg bildete zunächst die Kölner Lehrtätigkeit des früheren Reichskanzlers Heinrich Brüning (1885 – 1970), 1959 gefolgt von Ferdinand A. Hermens (1906 – 1998), einem Schüler des Sozialtheoretikers Götz Briefs (1889 – 1974), der im Exil vor allem an der Georgetown-University in Washington gelehrt hatte. Hermens publizierte 1964 eine „Verfassungslehre“84, deren erster Allgemeiner Teil die Formenlehre des Staates historisch und systematisch entwickelte. Für ihn stand die Funktionsfähigkeit der Organisation im Zentrum, weshalb er zum starken Befürworter des Mehrheitswahlrechts wurde. Im Besonderen Teil verglich er die wichtigsten Herrschaftssysteme der Welt, stets mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Stellung der Parteien und das Wahlrecht. Es ist ein Buch der ausklingenden „Rheinischen Republik“ Adenauers, aber auch Ausgangspunkt für die in Köln und Mannheim entwickelte empirische Wahlforschung (R. Wildenmann).85 Das dritte Beispiel von Emigration und Rückwirkung nach 1945 ist der ehemals Münchner Staatsrechtler und spätere amerikanische Politikwissenschaftler Karl Loewenstein (1891 – 1973).86 Er veröffentlichte sein Buch „Political Power and the Government Process“ (1957) 1958 auf Deutsch als „Verfassungslehre“. Seine Begründung für die Wahl dieses Titels ist von Interesse: In Amerika gebe es weder „Staatslehre“ noch „Verfassungstheorie“, sondern gepflegt werde „political science“, wirklichkeitsnah, pragmatisch und vergleichend.87 Loewenstein zielte denn auch auf die „Wirklichkeit des politischen Machtprozesses“, was die Analyse von Autokratien bewusst einschloss. Dabei kam es ihm vor allem auf vertikale und horizontale Kontrollen an. Verfassungen waren für Loewenstein zeitgebundene Dokumente von Machtprozessen in unterschiedlichen kulturellen Räumen. Für ihn garantierte nur die institutionell und konstitutionell durch Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit gebändigte Macht die Freiheit des Bürgers, während alle anderen Herrschaftsformen zur Autokratie tendierten. Diese „Verfassungslehre“ war, wie bemerkt worden ist, ein unausgesprochener Anti-Schmitt, aber weit moderner als jener: Hier gab es nicht mehr die antiliberale und antiparlamentarische Frontstellung, nicht mehr die Sorge, die souveräne Staatsgewalt werde von den Parteien und Verbänden aufgezehrt. Soziologen. Siehe etwa Lepsius, Die sozialwissenschaftliche Emigration und die Folgen, in: ders., (Hrsg.), Soziologie in Deutschland und Österreich 1918 – 1945, Köln/Opladen 1982. 84 2. Aufl., Köln/Opladen 1968. 85 Bleek, Geschichte (Fn. 67), 270 m.w. Nachw. 86 Loewenstein, Verfassungslehre, Tübingen 1959 (Political Power and the Governmental Process/Chicago 1957, 2. Aufl. 1962, Paperback 1965); 2. deutsche Aufl., 1969; 3. Aufl., Tübingen 1975. 87 Siehe auch Eisenstadt, The Comparative Analysis of Historical Political Systems, New York 1958.

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Trotz der Anerkennung von Konkurrenz und Dissens, die in rechtlich gestützten Prozessen ablaufen, bleibt es beim Letztentscheidungsrecht des Staates.88 Letzterer war keine metaphysische Größe mehr, sondern normativ gebundene Institution. Ein letztes Beispiel für die Öffnung der Allgemeinen Staatslehre durch Einwirkungen der amerikanischen Politischen Wissenschaft lieferte Ernst Fraenkel (1898 – 1975), der Schüler Hugo Sinzheimers.89 Fraenkel war in der Emigration zum Politikwissenschaftler geworden, hatte praktische Erfahrungen in Korea gesammelt und wurde 1951 von Otto Suhr nach Berlin geholt.90 Fraenkel setzte an den zentralen Stellen des traditionellen deutschen Staatsverständnisses an und wies darauf hin, wo die Differenzen zu dem (keineswegs einheitlichen) „westlichen Denken“ lagen. Er nannte das für Deutschland typische Übergewicht der Exekutive vor dem Parlament, die Vorstellung eines objektiv feststellbaren Gemeinwohls und die Abneigung gegen prozedurale und pluralistische Modelle der Willensbildung, schließlich die Bevorzugung eines „wahren“ hypothetischen vor dem empirischen Volkswillen.91 Er argumentierte durchweg historisch-politisch und verband seine amerikanischen Erfahrungen mit dem, was er seit 1951 in der Bundesrepublik beobachtete. Er war in den USA zum überzeugten Liberalen geworden, der freilich seine sozialistischen Anfänge und vor allem die Erfahrungen totalitärer Bedrohungen nicht vergessen hatte.92 „Die Allgemeine Staatslehre und das Verfassungsrecht“, urteilt Alexander von Brünneck, „haben ihn umfassend rezipiert“.93 In der Tat gab es in den siebziger und achtziger Jahren kaum ein wichtigeres Stichwort als „Pluralismus“.94 Es wurde so dominant wie „Integration“ seit den fünfziger Jahren. „Integration“ wurde als Zielformel 88

Loewenstein (Fn. 86), 3. Aufl. 1975, 414 – 416. Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz, Berlin 1927; ders., The Dual State, New York 1941 (Der Doppelstaat, Frankfurt/Köln 1974 und Frankfurt 1984. Siehe auch die Ausgabe: Il doppio Stato, Introduzione Norberto Bobbio, Torino 1983). 90 v. Brünneck, Leben und Werk von Ernst Fraenkel (1898 – 1975), in: Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, v. Brünneck, Frankfurt 1990, 360 – 372. Eine knappe und informative Darstellung auch bei Buchstein/Göhler, Ernst Fraenkel (1898 – 1975), in: Bleek/ Lietzmann (Hrsg.), Klassiker der Politikwissenschaft, München 2005, 151 – 164. 91 Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, Tübingen 1958; ders., Zur Theorie der pluralistischen Demokratie, Bonn 1964; ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964 (6. Auflage 1974, 1979, 8. erw. Aufl. Frankfurt 1991); ders., Beiträge zur Theorie und Kritik der pluralistischen Demokratie, Bonn 1969. Die Gesammelten Schriften, hrsgg. von v. Brünneck/Buchstein/Göhler, sind in vier Bänden Baden-Baden 1999 – 2000 erschienen. 92 Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland, Leverkusen 1977; Jesse, Pluralismustheorie ohne demokratische Alternative, NPL 1979, 145 – 163; Steffani, Pluralistische Demokratie, Opladen 1980; Oberreuter (Hrsg.), Pluralismus, Opladen 1980; Lehner, Ideologie und Wirklichkeit. Anmerkungen zur Pluralismusdiskussion in der Bundesrepublik, Der Staat 1985, 91 – 100; Söllner, Ernst Fraenkel und die Verwestlichung der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, Leviathan 30 (2002), 132 – 154. 93 v. Brünneck (Fn. 90), 370. 94 Loewenstein, Pluralismus, 12. Kapitel, in: Verfassungslehre, 3. Aufl. Tübingen 1975, 367 ff. 89

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nicht wirklich verdrängt, aber sie wurde nun offener und antagonistischer verstanden. Ein „Gemeinwohl“ war nur noch als Resultante des Parallelogramms gesellschaftlicher Kräfte denkbar. Damit rückten Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit in das Zentrum des Interesses.95 Die latenten Spannungen zwischen „Integration“ und „Pluralismus“ waren aber nicht beseitigt. Integration zielte auf Einheit, sei es durch charismatische Führung, Staatssymbolik, Verfassungspatriotismus oder gar nur Wohlstand, während der (Neo-)Pluralismus ergebnisoffen funktionieren sollte – freilich nicht ziellos, sondern zur Erreichung größerer individueller Freiheit und gleichzeitigem sozialem Ausgleich. Dazu musste, ungeachtet des pluralistischen Spiels der gesellschaftlichen Kräfte, das Fundament des Rechts- und Sozialstaats festgehalten werden. So hat es auch Fraenkel gesehen, ja sich des Wortes „Naturrecht“ bedient.96 Die neomarxistische Kritik, die ihm am Ende seiner Lehrtätigkeit in Berlin entgegenschlug, beharrte auf dem Klassencharakter der Gesellschaft und entwertete den Staat zum „Überbau“.97 „Pluralismus“ erschien als bourgeoise Verhüllungsstrategie, was aber nur funktionieren konnte, wenn man planmäßig normative und deskriptive Merkmale vertauschte. Was Fraenkel langfristig einbrachte, waren die Verfassungsvergleichung und damit eine genauere Kenntnis der amerikanischen98, englischen und französischen Verfassungen, der Ersatz der ideologiebefrachteten „Ontologien“ durch empirische Fundierung und unverstellten Blick auf die Meinungsbildungsprozesse einer „offenen Gesellschaft“.99 Diese Sicht bewährte sich nun an der seit etwa 1955 intensiv einsetzenden Debatte um die Stellung der „Verbände“ und um ein zu schaffendes Verbändegesetz. Die alten Vorbehalte gegen intermediäre, die Einheit bedrohende Mächte, die in der Endphase der Weimarer Republik geradezu hysterisch zu Tage traten, waren zunächst immer noch lebendig. Die unbefangenere Betrachtung des Phänomens in Amerika100 und die schon in den dreißiger Jahren vorangekommene soziologische Verbändeforschung101 drangen hier noch nicht durch. Man befürch-

95 Zacher, Pluralität der Gesellschaft als rechtspolitische Aufgabe, Der Staat 1970, 161 – 186; Steinberg, Pluralismus und öffentliches Interesse als Problem der amerikanischen und deutschen Verbandslehre, AöR 1971, 465 – 505; Scheuner, Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem (1976), in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, Berlin 1978, 135 – 170; Häberle, Die Verfassung des Pluralismus, Königstein 1980; Quaritsch, Zur Entstehung der Theorie des Pluralismus, Der Staat 1980, 29 – 56. 96 Detjen, Neopluralismus und Naturrecht, Paderborn 1988. 97 Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen – Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme, in: Kress/Senghaas (Hrsg.), Politikwissenschaft, Frankfurt 1969, 155 – 189. 98 Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, Opladen 1960, 4. Aufl. 1981 m. Vorwort von Steffani. 99 Sontheimer, Politische Wissenschaft und Staatsrechtslehre, 1963. 100 Beginnend mit Bentley, The Process of Government. A Study of Social Pressures, Bloomington 1908 (Neudruck 1949). 101 Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, Berlin 1956, 66 ff. (2. Aufl. 1978).

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tete „Umwälzungen“102 von einer „Herrschaft der Verbände“103, eine „Demontage des Staatlichen“ und ein „Autoritätsvakuum“.104 „Pluralismus“ und „Verbandsmacht“ waren negativ besetzt.105 Nur langsam entdeckte man die Legitimität und Nützlichkeit gesellschaftlicher Selbstorganisation einschließlich ihres grundrechtlichen Schutzes (Art. 9 Abs. 1 GG).106 Die erste grundlegende und die internationale Literatur verarbeitende Untersuchung war diejenige von Joseph H. Kaiser, die jedoch, trotz aller Offenheit gegenüber dem faktischen Phänomen, in der Tradition von Carl Schmitt betonte: „Es gibt nur einen Garanten für die Freiheit des Individuums gegenüber intermediären Oligarchien: die übergeordnete politische Gemeinschaft, die communitas communitatum, den Staat“.107 Von da an riss die Debatte nicht mehr ab.108 Die verfassungsrechtliche Stellung der Verbände wurde immer wieder durchdekliniert109, nicht zuletzt auf der Würzburger Tagung der Staatsrechtslehrer von 1965.110 Herbert Krüger, dezidierter Vertreter eines neutralen, sich „nicht-identifizierenden“ Staates, aber auch praxiserfahren als Geschäftsführer eines Verbandes, widmete ihnen 1964 in seiner großen Allgemeinen Staatslehre ein ausführliches und wohlwollendes Kapitel.111 Er würdigte die „staatsintegrierende“ und sogar die „staatsrepräsentierende“ Funktion der öffentlichen Verbände, blieb aber dadurch im bisherigen Rahmen, dass er allen gesellschaftlichen Aktivitäten, auch denen der Verbände also, die „vornehmste Aufgabe“ zuwies, die „Hervorbringung des in Ämtern und Gesetzen repräsentierenden Staates“.112 Diese Sicht wurde schon damals 102 Huber, Die Umwälzungen im Staatsgefüge durch die Verbände (1954), nun in: Steinberg (Hrsg.), Staat und Verbände. Zur Theorie der Interessenverbände in der Industriegesellschaft, Darmstadt 1985, 58 – 63; ders., Staat und Verbände, Tübingen 1958. 103 Eschenburg, Die Herrschaft der Verbände, Stuttgart 1956; ders., Staatsautorität und Gruppenegoismus, Düsseldorf 1955. 104 Weber, Der Staat und die Verbände, in: Steinberg (Fn. 102), 64 – 76. So auch schon ders., Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1951, wo auf die Unvereinbarkeit von oligarchischer und demokratischer Willensbildung hingewiesen wird. 105 Kaiser (Fn. 101), 315 f. 106 Steinberg, Pluralismus und öffentliches Interesse als Problem der amerikanischen und deutschen Verbandslehre, AöR 96 (1971) 465 ff. 107 Kaiser (Fn. 101), 320. 108 Hennis, Verfassungsordnung und Verbandseinfluss. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang im politischen System, PVS 1961, 23 ff., in: Steinberg (Fn. 102), 76 – 96; Leibholz, Gesellschaftsordnung, Verbände, Staatsordnung, aa0. 97 – 117. 109 Wittkämper, Grundgesetz und Interessenverbände. Die verfassungsrechtliche Stellung der Interessenverbände nach dem Grundgesetz, Köln/Opladen 1963. 110 Leibholz/Winkler, Staat und Verbände, VVDStRL 24 (1966) 5 – 124. Dort die Behauptung von Dürig „…wir entreißen heute den Problemkreis dem Monopol der Soziologen und Politologen und versuchen, die Sache juristisch zu bewältigen“ (aa0. 87). 111 Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964 (2. Aufl. 1966), 379 – 407. 112 Krüger (Fn. 111), 388. – Zur weiteren Debatte siehe Steinberg, Staatslehre und Interessenverbände, Diss. Freiburg 1971; ders., Pluralismus (Fn. 106); ders., Das Verhältnis der Interessenverbände zu Regierung und Parlament. Bestehende Formen ihrer staatsrechtlichen Institutionalisierung, ZRP 1972, 207 ff.; ders., Die Interessenverbände in der Verfassungs-

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mit Kopfschütteln registriert.113 Sie bildete keineswegs das letzte Wort. So unterschiedliche Autoren wie Ulrich Scheuner, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Walter Schmidt, Alfred Rinken oder Gunther Teubner akzeptierten seit den frühen siebziger Jahren Gruppen, Parteien und Verbände als notwendige Elemente der pluralistischen Struktur der modernen Gesellschaft.114 Schritt für Schritt entstand ein anderes Klima. Es wurde Gemeingut, dass ein agogisch und prozedural ermitteltes „Gemeinwohl“ nur durch demokratisch legitimierte Entscheidung in verbindliche Form gebracht werden könne.115 Immer deutlicher wurde auch, dass die theoretische Vorgabe einer strikten Trennung von Staat und Gesellschaft nicht nur positive freiheitsschützende Wirkungen habe, sondern auch einen gesellschaftsfernen Obrigkeitsstaat mit „Untertanen“ konservieren könne. Die zuletzt genannte Frage wurde in den sechziger und siebziger Jahren von Horst Ehmke, Konrad Hesse und Ernst-Wolfgang Böckenförde auf hohem Niveau diskutiert116 und die damaligen Leser erkannten in dieser gewissermaßen „Freiburger Debatte“ charakteristische Akzente: Ehmke provokativ, Hesse stärker „integrativ“ und jene Unterscheidung empirisch relativierend, ohne dem Staat seine legitimierende Stellung zu nehmen, Böckenförde stärker auf Distanz zwischen Staat und Gesellschaft bedacht und die Abwehrfunktion der Grundrechte betonend. Unschwer war hinter dieser Debatte die Trennlinie zwischen „Smendianern“ und „Schmittianern“ erkennbar, die in den ersten drei Jahrzehnten der Bundesrepublik deutlich zu erkennen war, dann aber ihre alten Konturen verlor. Beide Lager (oder: Schulen?) bewegten sich aufeinander zu. Nun erst begann eine neue Generaordnung, PVS 14 (1973), 27 ff.; Leßmann, Die öffentlichen Aufgaben und Funktionen privatrechtlicher Wirtschaftsverbände, Köln [u.a.] 1976; v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, Frankfurt a.M. 1977; Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, Tübingen 1978. 113 Badura, Die Tugend des Bürgers und der Gehorsam des Untertanen, JZ 21 (1966), 123 – 129. 114 Scheuner, Politische Repräsentation und Interessenvertretung, DÖV 18 (1965), 577 – 587; Rinken, Innere Demokratie in den Verbänden, in: Posser/Wassermann (Hrsg.), Freiheit in der sozialen Demokratie, Karlsruhe 1975, 127 ff.; Böckenförde, Die politische Funktion wissenschaftlich-sozialer Verbände und Interessenträger in der sozialstaatlichen Demokratie. Ein Beitrag zum Problem der „Regierbarkeit“, Der Staat 15 (1976), 457 – 483; Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, 1978. Ein Beitrag zum Problem der „Regierbarkeit“, Der Staat 15 (1976), 457 – 483. Zusammenfassend Schmidt, Gesellschaftliche Machtbildung durch Verbände, Der Staat 17 (1978), 244 – 271. 115 Schmidt, Organisierte Einwirkungen auf die Verwaltung, VVDStRL 33 (1975), 183 – 220. 116 Ehmke, „Staat“ und „Gesellschaft“ als verfassungstheoretisches Problem, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung: Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag, Hesse/ Reicke/Scheuner (Hrsg.), Tübingen 1962, 23 – 49; Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: Rechtsfragen der Gegenwart. Festgabe für Wolfgang Hefermehl zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1972, 11 – 36; Hesse, Bemerkung zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, DÖV 28 (1975), 437 – 443; Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, Opladen 1973.

Staatslehre zwischen etatistischer Tradition und pluralistischer Öffnung

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tion, deren akademische Ausbildung ganz in der Nachkriegszeit gelegen hatte und die seit Anfang der sechziger Jahre auf Lehrstühle des öffentlichen Rechts gekommen war, wieder Allgemeine Staatslehren zu schreiben.117 Erst 1992 allerdings erschien eine „Verfassungslehre“, die es unternahm, eine „normative Theorie der Verfassung“ zu liefern.118 Dies jedoch, die allmähliche Transformation der „Staatslehren“ in „Verfassungslehren“ sowie die jüngsten Äußerungen zum möglichen Ende des (alten) Staates119, gehören nicht mehr in die (alte) Bundesrepublik, die den Rahmen für die vorstehende Skizze bildete.

117 Zippelius, Allgemeine Staatslehre: Politikwissenschaft, München 1969 (16. Aufl., 2009); Herzog, Allgemeine Staatslehre, Frankfurt 1971; Ermacora, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1970; Kriele, Einführung in die Staatslehre, Opladen 1975 (6. Aufl., 2003); FleinerGerster, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1980 (3. Aufl., 2004); Doehring, Allgemeine Staatslehre, Heidelberg 1991 (3. Aufl., 2004). 118 Haverkate, Verfassungslehre. Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung, München 1992. 119 C. Möllers (Fn. 7).

Die Planungsidee in der verfassungsstaatlichen Entwicklung Von Thomas Würtenberger, Freiburg Die Verbindung von Planung mit der Entwicklung des Verfassungsstaates knüpft an zwei zentrale Forschungsbereiche von Rainer Wahl an. Seit seiner Habilitationsschrift zu „Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung“ hat er immer wieder zu aktuellen Fragen des Planungsverwaltungsrechts, auch in ihrer europäischen Dimension, in einer ganz grundsätzlichen Weise Stellung genommen. Der „Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates“ ist Rainer Wahl im Handbuch des Staatsrechts in einem umfassenden Zugriff nachgegangen und hat zudem in wegweisenden Beiträgen die Rolle der Grundrechte im Konstitutionalismus bestimmt. Die Planungsidee mit der Entwicklung des Verfassungsstaates in Beziehung zu setzen, bedarf allerdings der Rechtfertigung. Nach gängiger Lesart haben die Prinzipien des Verfassungsstaates, wie sie sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt haben, nichts mit der Idee und Praxis eines planenden Staates zu tun. Verbinden sich doch mit der Entwicklung des Verfassungsstaates der Freiheitsschutz durch Grundrechte, die Demokratisierung der Gesellschaft, Volkssouveränität, Rechtsstaatlichkeit mit Gewaltenteilung und Gerichtsschutz sowie aus deutscher Sicht zudem Sozialstaatlichkeit und föderative Ordnung. Nur diesen Prinzipien wenden sich die Arbeiten zur Geschichte des Verfassungsstaates zu, der planende Staat bleibt jedoch ausgeklammert. Sehen wir von dem tief in der deutschen politischen Kultur verwurzelten Sozialstaatsprinzip ab, so ist die Liberalität des verfassungsstaatlichen Modells geradezu das Gegenmodell zur Konzeption eines planenden Staates. Gewiss ist seit Adam Smith bekannt, dass auch in einem liberalen wirtschaftlichen System der Staat wichtige Staatsaufgaben, etwa im Bereich der Infrastruktur, zu erfüllen hat1. Dennoch erscheint der planende Staat manchen als Feind der Freiheit, die der Verfassungsstaat gewähren möchte. Sein Schutz von ökonomischen Freiheitsrechten ist Grundlage jenes wirtschaftlichen Liberalismus, der seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staats- und Planungsutopie auf der Siegerstraße ist2. 1 Adam Smith betonte bereits, dass der Staat auch in einem liberalen wirtschaftlichen System wichtige Aufgaben zu erfüllen habe. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips hat er alles vorzuhalten, was die Einzelnen nicht leisten können. Hierzu gehören insbesondere Infrastruktureinrichtungen, öffentliche Fürsorge, ein Rechtsschutzsystem u.a.m. (Pollard, Staat und Wirtschaft im Wandel der Geschichte, in: Pollard/Ziegler [Hrsg.], Markt, Staat, Planung, 1992, S. 1, 3 ff. m. Nw.). 2 Zum Umbruch in der Planungstheorie und Planungspraxis: Kovacs/Dallago (Hrsg.), Economic Planing in Transition, 1990.

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In historischer Perspektive sind es nicht die Gegensätze, die die Entwicklung von planendem Staat und Verfassungsstaat prägen. Die Planungsidee ist seit dem 18. Jahrhundert vielmehr Begleiterin der verfassungsstaatlichen Entwicklung. Sie ist ebenso wie der Verfassungsstaat ein Kind des Rationalismus der Aufklärung. Die Staatstheorie der Aufklärung mündet nicht allein in eine verfassungsstaatliche Entwicklung, sondern liefert zugleich auch eine Theorie des vielseitig steuernden und planenden Staates. Die seit dem 18. Jahrhundert entwickelte Planungstheorie geht davon aus, dass der Staat soziale und ökonomische Problemlagen zu erkennen habe, dass planvolles Handeln eine umfassende Analyse der Wirklichkeit voraussetze, dass die großen Ziele politischer Gestaltung zu definieren und festzulegen seien, dass Mittel und Wege zur Zielerreichung gesucht und deren Durchsetzung kontrolliert und optimiert werden müsse. Die Entwicklung des Verfassungsstaates in ihrem Verhältnis zur Planungsidee als Paradigma realer staatsrechtlich-politischer Gestaltung ist noch nicht umfassend aufbereitet worden. Im Folgenden soll der Blick auf einzelne Epochen gerichtet werden, in denen die Wechselbezüglichkeit und Widersprüchlichkeit von Verfassungsstaat und Planungsidee bewusst geworden sind, in denen die Planungsidee die Entwicklung des Verfassungsrechts wesentlich bestimmt hat, in denen aber auch umgekehrt die Planungsidee als Sünde wider den Geist des freiheitlichen Verfassungsstaates verdrängt worden war. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann die Planungsidee die Staatspraxis zu bestimmen, zugleich traten aber auch die Grundsätze einer freiheitlichen Verfassungsordnung allmählich in den Vordergrund des politisch-rechtlichen Denkens. Eine bemerkenswerte Sicht auf eine dem Fortschritt verpflichtete Staatsorganisation eröffnen französische Konzeptionen des planenden Staates zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die eine wirtschaftliche und wissenschaftliche Elite in das Regierungssystem eines effektiv planenden Staates integriert haben. Die bedeutsame Phase der städtebaulichen Planung, der Genese von Planfeststellungsverfahren und sodann auch der Regional- und Infrastrukturplanung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts3 sei übergangen. Ein dritter Schwerpunkt der folgenden Überlegungen setzt vielmehr in der jüngeren Geschichte ein und behandelt die große Streitfrage des 20. Jahrhunderts: Markt oder Plan. Ein letzter vierter Abschnitt wendet sich der Konstitutionalisierung der politischen Planung unter dem Grundgesetz mit den Phasen der Planungsskepsis, der Planungseuphorie und der nachfolgenden Planungsdistanz zu, um sodann in einem Ausblick auf die Europäisierung der Planung zu sprechen zu kommen.

3 Hierzu zusammenfassend Wahl, Die Fachplanung in der Phase ihrer Europäisierung, in: FS für Bartlsperger, 2006, S. 427, 429 ff. m. Nw.

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I. Die Ambivalenz von Planung und Entwicklung verfassungsstaatlicher Prinzipien in der Staatswissenschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts In der Staatswissenschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts4 – vermieden wird der Begriff der Polizeiwissenschaft mit der negativen Assoziation des Polizeistaates, aber auch der des Kameralismus, der die alte Hausväterliteratur und Grundsätze der Bewirtschaftung der Kammer- und Domänengüter assoziiert – entwickelte sich ein ambivalentes Verhältnis von politischer Planung einerseits und verfassungsstaatlichen Prinzipien andererseits. In allen großen staatswissenschaftlichen Werken seit Mitte des 18. Jahrhunderts ging es zum einen um das Modell eines planenden Staates, zum anderen wurde aber auch sehr vorsichtig, bisweilen mit herausfordernder Deutlichkeit, Gewaltenteilung, Freiheitsschutz, Gerichtsschutz oder demokratische Mitbestimmung eingefordert. Diese staatswissenschaftlichen Werke waren Vorlesungs- und Prüfungsstoff für all jene, die eine Karriere in der öffentlichen Verwaltung anstrebten. Die Staatwissenschaften prägten jene junge Generation von Juristen und Staatswissenschaftlern, die seit Mitte der fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts an den Universitäten ausgebildet wurde und sodann den deutschen Reformabsolutismus vorangetrieben hat. Die Planungsidee war Bezugspunkt der rationalistischen Theorie des aufgeklärten Absolutismus. Leitziel aller politischen Planung war die Sicherung allgemeiner Wohlfahrt, vor allem der Glückseligkeit5, des „größten Glücks für die größte Zahl“6. In den amerikanischen Grundrechteerklärungen wurde als Gründungsmythos zum Ausdruck gebracht, dass jeder individuell sein Glück verfolgen dürfe7. Dieser grundrechtlichen Garantie der individuellen Glücksverwirklichung stand in Deutschland die staatliche Aufgabe der „Beglückung der Gesellschaft“ gegenüber. Diese obrigkeitsstaatliche Reglementierung der „pursuit of happiness“ war seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein sozialstaatliches Staatsziel, das damals ähnliche politische Aktualität hatte wie die heutige Parole der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit. Die Konkretisierung des Leitzieles des allgemeinen Wohls bzw. der allgemeinen Glückseligkeit führte zu weit gefassten Unterzielen bzw. Politikbereichen: Sorge für 4

Zum Begriff: H. Peukert, Das tradierte Konzept der Staatswissenschaft, 2005. Justi, Grundfeste zu der Macht und Glückseeligkeit der Staaten, 2 Bde, 1760/1761; ders., Grundriss einer guten Regierung, 1759, S. 5. 6 Helvetius, De lhomme (1772), in: Oeuvres compltes, Bd. 2 (1818), S. 511 f.: „Toute vrit morale nest quun moyen daccroitre ou dassurer le bonheur du plus grand nombre et … lobjet de tout gouvernement est la flicit publique“; Holbach, Systme social (1773), Neudr. 1969, Bd. 2, S. 11; zum Folgenden Würtenberger, Staat und Glück: Die politische Dimension des Wohlfahrtsstaates, in: Rehbinder/Usteri (Hrsg.), Glück als Ziel der Rechtspolitik, 2002, S. 233 ff. 7 Mandt, Streben nach Glück – Menschenrecht und staatliche Garantie, in: Bellebaum/ Braun/Groß (Hrsg.), Staat und Glück, 1998, S. 53 ff.; Robbins, The Pursuit of Happiness, 1974; Scott, In Pursuit of Happiness?, 1977. 5

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die äußere und innere Sicherheit, Bemühen um eine gesunde Bevölkerungspolitik, Pflege der industriellen und landwirtschaftlichen Ressourcen, Neuerungen im Bereich von Bergbau und Manufakturwesen, Sicherung nationalen Wohlstandes durch Export- und Importregelungen, Bereitstellung von Wohlfahrtseinrichtungen usw. Dieses neue Verständnis des Staates, auch das neue Verständnis vom Menschen, der sich nach Hegels Diktum auf den Kopf stellt und die Welt nach diesem erbaut8, machte die bürgerliche Gesellschaft zu einer „Tabula rasa“, der alle dem Gemeinwohl dienenden Programme aufgeprägt werden können. Man fühlte sich imstande, manche Zwänge geschichtlicher Entwicklung durch eine rationale Gestaltung der Zukunft zu überwinden. In diesem Zusammenhang tauchte ein berühmter Gemeinplatz der politischen Philosophie der Aufklärung auf, die Analogie von Regierung und Maschine. So schrieb etwa Justi: „Ein wohl eingerichteter Staat muss vollkommen einer Maschine ähnlich sein, wo alle Räder und Triebwerke auf das genaueste ineinander passen, und der Regent muss der Werkmeister, die erste Triebfeder oder die Seele sein, wenn man so sagen kann, die alles in Bewegung setzt.“9 Die planende Gestaltung erforderte eine Verwissenschaftlichung der Politikberatung, wie sie auch heute bekannt ist. So befasste sich etwa Sonnenfels, der große österreichische Staatswissenschaftler, u. a. mit der Gesetzgebungslehre, nämlich mit den „Mitteln, einen hohen Begriff von der Gesetzgebung zu erwecken“10. Die Staatswissenschaften öffneten sich der Realität von Staat und Gesellschaft; man bemühte sich um neue Formen der staatlichen Statistik, um Datensammlungen über die Struktur des Territoriums, über die Bevölkerungsentwicklung oder über die wirtschaftliche Entwicklung. Ähnlich wie heute, um nur zwei Bereiche herauszugreifen, spielten Bevölkerungsund Beschäftigungspolitik eine große Rolle. Ein starker Staat bedurfte eines wachsenden Steueraufkommens und damit einer wachsenden, gut ausgebildeten und gut beschäftigten Bevölkerung11. Peuplierung geschah u. a. durch eine planvolle Besiedlung im Osten Preußens oder der österreichischen Erbländer. Die österreichischen Besiedlungspläne etwa regelten den Stadtgrundriss, die Verteilung des Landes, den Kirchenbau, die Anstellung eines Arztes und nicht zuletzt das Halten des Dorfstieres. Die Auswanderung in den Osten Europas führte damit in einen Raum geordneter Freiheit, in einen Raum, in dem erhebliche kulturelle und ökonomische Leistungen erbracht werden konnten12.

8 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Glockner (Hrsg.), Sämtliche Werke, Bd. 11, 4. Aufl., 1961, S. 557. 9 Justi, Gesammelte Politische und Finanz-Schriften (1764), Neudr. 1970, Bd. 3, S. 86 f. 10 Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanz, 8. Aufl., 1818, S. 150 ff. 11 Aus der Vielzahl der praktischen Vorschläge vgl. die anonym erschienene Abhandlung „Plan in sich enthaltend viele so leichte, als untrügliche Mitteln die gesammten österreichischen Erblanden auf die höchsten Stufen der Grösse zu erheben, und auf selben zu behaupten“, 1781. 12 Würtenberger, Die Planung im kameralistischen Staat, in: Ziechmann (Hrsg.), Panorma der Friedericianischen Zeit, 1985, S. 455, 458.

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Peuplierung geschah zudem durch eine gezielte Einwanderungspolitik. Die Toleranzedikte nach preußischem oder österreichischem Muster besagen weniger etwas über religiöse Toleranz im Geiste aufgeklärter Philosophie. Sie wollten vielmehr aus anderen Staaten Handwerker und Unternehmer in das eigene Land einwandern lassen, die zur Verbesserung der Produktion beitragen sollten. Hinzu trat die Überlegung, die Zahl der Beschäftigten am gesellschaftlichen Bedarf zu orientieren. So wurde denn auch sehr frühzeitig bemerkt: Wenn es „mehr Doktoren als Kranke … mehr Edelleute als Untertanen [gibt], so stehts kahl um selbiges Land.“13 Bereits Mitte des 17. Jahrhunderts, etwa bei von Seckendorff14, steht der Aufbau eines Bildungssystems unter dem Ziel, dem Arbeitsmarkt leistungsfähige Beschäftigte zur Verfügung zu stellen. Die Planungstheorie und Planungspraxis der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fanden von unterschiedlicher Seite heftige Kritik. Zum einen forderten die deutschen Physiokraten, wie etwa Schlettwein, ein auf Privatinitiative beruhendes marktwirtschaftliches System15. Zum anderen befürchtete man in konservativen Kreisen eine Zerstörung der historisch gewachsenen politischen Institutionen durch die Planungen einer aufgeklärten Regierung16. Justus Möser, einer der deutschen Kritiker aufgeklärter Regierung, wandte sich dagegen, dass die Spitzen in der Verwaltungshierarchie zur „einzigen Triebfeder der ganzen Staatsmaschine“ werden sollten. Deren einheitliche und detaillierte Regelungen würden insbesondere die Freiheit und den „Reichtum der Mannigfaltigkeit“ beeinträchtigen können17. Andere sprachen abschätzig von dem „viel verschmitzten Planen“ einer neuen Bürokratie18. In den großen staatswissenschaftlichen Werken suchte man Kompromisse zwischen Planung und Freiheit. So wurde etwa bei Justi19 und bei fast allen Autoren 13

Becher, Politischer Discurs von den eigentlichen Ursachen des Auf- und Abnehmens der Städte und Länder (1668), Neuausgabe 1759, bearb. von Georg Heinrich Zincken, S. 31. 14 von Seckendorff, Deutscher Fürstenstaat (1665), Neudr. 1976, Bd. 1, S. 333 ff. Vgl. hierzu auch Fertig, Veit Ludwig von Seckendorff: Patriarchalischer Fürstenstaat und territoriale Erziehungspolizei, ebd., S. 52 ff. 15 Schlettwein, Grundfeste der Staaten oder die politische Oekonomie, 1779, insb. S. 89 ff., 319 ff.; ders., Die wichtigste Angelegenheit für das ganze Publikum, oder die natürliche Ordnung in der Politik, 2 Bde., 1772/73; w. Nw. bei Klippel, Die Theorie der Freiheitsrechte am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten, 1991, S. 348 ff. 16 Gegen eine Planung der Gesellschaft etwa Gentz, Betrachtungen über die französische Revolution, 2. Teil, 2. Aufl., 1794, S. 147. 17 Möser, Der jetzige Hang zu allgemeinen Gesetzen und Verordnungen ist der gemeinen Freiheit gefährlich, in: Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Hrsg.), Sämtliche Werke, Bd. 5, 2. Abtl.: Patriotische Phantasien und Zugehöriges, 1945, S. 22. 18 von Schmalz, Handbuch der Rechtsphilosophie, 1807, S. 225. 19 Zu dessen Eintreten für Handels- und Gewerbefreiheit sowie für eine Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in einer freien Wirtschaftsgesellschaft: Würtenberger, Von der Aufklärung zum Vormärz, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2004, § 2 Rn. 39.

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des ausgehenden 18. Jahrhunderts, z. B. bei Schlözer oder Johann Heinrich Jung20, der Planungstheorie des aufgeklärten Absolutismus eine rechtlich geschützte wirtschaftsliberale Ordnung zur Seite gestellt. Privatinitiative und individuelles Interesse bezeichnete Justi als wichtigste Triebfeder des Wirtschaftslebens im Staat. Seiner Meinung nach muss der Sektor der Staatswirtschaft nach Möglichkeit klein gehalten werden21. Die aus historischer Distanz betrachtet allzu einseitige Gegenreaktion gegen einen Staat der Glücksverwirklichung und der planvollen Verwirklichung allgemeiner Wohlfahrt zu Ende des 18. Jahrhunderts ist bekannt. Die Staatsphilosophie des aufgeklärten Absolutismus wurde durch Kant überwunden. Dieser hatte im Hinblick auf unsere Fragestellung 1793 in seiner Schrift „Über den Gemeinspruch“ festgestellt, dass das Prinzip der Glückseligkeit im Staatsrecht Böses anrichtet: „Der Souverän will das Volk nach seinen Begriffen glücklich machen und wird Despot; das Volk will sich den allgemeinen menschlichen Anspruch auf eigene Glückseligkeit nicht nehmen lassen, und wird Rebell.“22 Wilhelm von Humboldt formulierte in seinen „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ (1791/92) mit aller Schärfe: „Das Prinzip, dass die Regierung für das Glück und das Wohl, das physische und moralische der Nation sorgen muss, [ist] aber ärgster Despotismus.“23 Dies bedeutete eine Zeitenwende in doppelter Hinsicht: Zum einen wurde der Staatstheorie des alten Wohlfahrtsstaates und ihrer planenden Verwaltung ein Modell des liberalen Staates mit seinen Freiheitsrechten und vor allem mit dem Recht des Einzelnen zur Verfolgung individuellen Glückes entgegengesetzt. Zum anderen zeigt sich die Zeitenwende in einem grundlegenden kollektiven Bewusstseinswandel. Das kollektive Bewusstsein der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft orientierte sich nicht mehr an der staatlich verordneten Verwirklichung von Wohlfahrt und Glück, sondern an autonomer Entfaltung, Leistungsstreben, demokratischer Mitbestimmung und rechtsstaatlicher Sicherung von Freiheit. Dass allerdings auch dieser freiheitliche Staat einer Planung der Rahmenbedingungen der Freiheit bedarf, wird bei Kant oder Humboldt nicht thematisiert. Wie lassen sich Theorie und Praxis aufgeklärter Planung, die Integration wirtschaftsliberaler Elemente in einen Planungs- und Vorsorgestaat sowie die liberale und auf einen Verfassungsstaat zielende Wende im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts bewerten? Im Spiegel ausländischer Bewertungen der eigenen politisch-rechtlichen Geschichte erkennt man sich oftmals am besten. So kann der Amerikaner Lindenfeld in seinem groß angelegten Band über die deutsche Staatswissenschaft des 18. 20

Zu ihnen vgl. Peukert (Fn. 4), S. 23 ff., 27 ff. Zu grundrechtlicher Freiheit als Forderung des wirtschaftlichen Frühliberalismus: Würtenberger (Fn. 19), § 2 Rn. 39. 22 Kant, Über den Gemeinspruch, in: Weischedel (Hrsg.), Werkausgabe, 2. Aufl., 1978, S. 261. 23 W. von Humboldt, Akademie-Ausgabe, Bd. 1, 1903, S. 83. 21

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Jahrhunderts überrascht zusammenfassen: Sie sei „un-Teutonic“, sei erfrischend gewesen, sie verknüpfe Wertorientierung mit politischer Theorie und mit praxisorientierten Handlungsanweisungen auf hohem Niveau24. Dieses Urteil von jenseits des Atlantiks lässt sich paraphrasieren: Die Staatswissenschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit ihrer epochalen Leistung einer Verknüpfung von Ansätzen einer freiheitlichen politischen Ordnung und planender staatlicher Rahmensetzung erscheint nach wie vor unvereinbar mit deutschen Vorurteilen vom absolutistischen Polizeistaat jener Epoche. Eine Neubewertung der Staatswissenschaften der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts kann vielleicht auch zu einer Neubewertung der politisch-rechtlichen Geschichte Deutschlands in dieser Epoche führen. II. Effektive politische Planung als Leitlinie der Gestaltung des Regierungssystems Wechseln wir die Perspektive und wenden wir den Blick nach Frankreich. Mit Frankreich verbinden sich die großen Klassiker der politischen Theorie der Aufklärung. Eine wie in Deutschland breit angelegte Staatswissenschaft gab es aber nur am Rande. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurde das Nachdenken über die Organisation des Staates nicht nur durch die neuen verfassungsstaatlichen Prinzipien, sondern auch durch die Idee des Fortschritts als der treibenden Kraft der Geschichte geprägt. 1794 veröffentlichte Condorcet sein großes Werk über den Fortschritt des menschlichen Geistes25 und brachte damit den Fortschrittsoptimismus der neuen bürgerlichen Gesellschaft auf den Begriff. Entsprechend dem Optimismus der Aufklärungsphilosophie sollte der Fortschritt zur Verbesserung der Produktionsbedingungen, des Lebensstandards und der Sozialordnung führen. Der Fortschritt determiniert die Richtung des Verlaufs der Geschichte, nicht aber ihre Geschwindigkeit. Hier war Raum für planende Eingriffe des Menschen26. Auf dieser Grundlage entwickelte Saint-Simon27 eine Planungstheorie, die den Umbruch von der alten feudalen zur neuen am Fortschritt orientierten bürgerlichen Gesellschaft steuern sollte. Er suchte nach einem Plan, um diesen Umbruch schnell, leicht und friedvoll zu bewältigen28. Industrie und Wissenschaft wurden von Saint24

D. F. Lindenfeld, The practical imagination: The German sciences of state in the nineteenth century, 1997, S. 3 f. 25 Condorcet, Esquisse d’un tableau du progrs de l’esprit humain, 1794. 26 Saint-Simon, Lindustrie ou discussions politiques, morales et philosophiques (1817), in: Oeuvres, Bd. 2/1, 1966, S. 140. 27 Zu Leben und Werk von H. de Saint-Simon: Ramm, Die großen Sozialisten als Rechtsund Sozialphilosophen, Bd. 1, 1955, S. 210 ff.; Fehlbaum, Saint-Simon und die Saint-Simonisten, 1970; Rappaport, Zur Staats- und Gesellschaftslehre Saint-Simons, Zeitschrift für öffentliches Recht 10 (1931), S. 281 ff.; Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Bd. 2: Politischer Messianismus, 1963, S. 22 ff. 28 Zu Saint-Simons Beitrag zur Entwicklung der Planungsidee: Schäfers, Voraussetzungen und Prinzipien der Gesellschaftsplanung bei Saint-Simon und Karl Mannheim, in: ders. (Hrsg.),

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Simon als die bewegenden Elemente und als die Voraussetzungen allen sozialen Fortschritts bezeichnet. Sie steigern das Sozialprodukt, vermindern die Zahl der Unbeschäftigten und beseitigen soziale Missstände. Die Erkenntnisse der Wissenschaft gilt es in die Realität umzusetzen und so die soziale Situation der Bevölkerung zu verbessern. Zu diesem Zweck müssen Wissenschaft und Industrie zur Steigerung des Sozialprodukts beitragen29. Dieser Ansatz führte Saint-Simon und seine Schule zu einem planungsorientierten wissenschafts- und wirtschaftsdemokratischen System. Wissen doch Wissenschaft und Industrie am ehesten, wie die Produktion optimiert und der gesellschaftliche Fortschritt am besten auf den Weg gebracht werden kann. Die politische Planung wurde einem Parlament von Wissenschaftlern, Industriellen und Künstlern anvertraut. Die wissenschaftliche, künstlerische und industrielle Elite der Nation soll hier vereinigt sein. Die Modelle für dieses Parlament waren variabel. Auf längere Sicht soll das parlamentarische Regierungssystem nur ein notwendiges Durchgangsstadium zum „rgime industriel“, zu einem industriellen Regierungssystem sein. So lange man am parlamentarischen System festhält, sollen nach Saint-Simons Vorschlag in die Abgeordnetenkammer nur leitende Persönlichkeiten aller Industriezweige gewählt werden dürfen. Nach einem anderen Modell möchte er die Abgeordnetenkammer in eine Erfindungskammer, in eine Prüfungskammer und in eine Ausführungskammer aufteilen30. Ähnliche Überlegungen fanden sich in der Demokratie- und ParlamentarismusTheorie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit dem Zensus-Wahlrecht soll ein Parlament mit einer „majorit des capables“31, mit einer Mehrheit derer gesichert werden, die in der Wirtschaft und in anderen Berufszweigen zu den Erfolgreichen gehören. Das Saint-Simonistische Konzept beruhte auf einem tiefen Vertrauen in eine Elite von Wissenschaftlern und Industriellen, die den ökonomischen und sozialen Fortschritt zu verwirklichen in der Lage sind. Staat, Wissenschaft und Industrie können nur in planvoller Zusammenarbeit die Probleme der entstehenden Industriegesellschaft bewältigen. Bei Saint-Simon legitimierte die Steigerung der Produktion und

Gesellschaftliche Planung, 1973, S. 102 ff.; Lutz, Wirtschaftliche Entwicklung in der Sicht ökonomischer Denker, in: R. W. Meyer (Hrsg.), Das Problem des Fortschritts heute, 1969, S. 183 ff.; Sombart, Krise und Planung. Studien zur Entwicklungsgeschichte des menschlichen Selbstverständnisses in der globalen Ära, 1965, S. 7 ff. 29 Saint-Simon (Fn. 26), S. 186. 30 Saint-Simon, Du systme industriel (1821), in: Oeuvres, Bd. 3/1, S. 106, 117, 151; ders., Lorganisateur, ebd., Bd. 2/2, S. 51. 31 Zur damit verbundenen Legitimation des Zensuswahlrechts: Würtenberger, Zur Geschichte des allgemeinen Wahlrechts in vergleichender Perspektive, in: FS für Hans-Peter Schneider, 2008, S. 537, 544 ff.

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damit des Wohlstandes den Staat der industriellen Gesellschaft. Sein Ideal war eine politische Ordnung auf technisch-wissenschaftlicher Grundlage32. Dass Staat, Wissenschaft und Industrie bei der Bewältigung der Zukunftsprobleme zusammenarbeiten müssen, wurde bei Saint-Simon in einer Radikalität formuliert, die die verfassungsstaatliche Regierungsorganisation in der Regel verdeckt. Das demokratische Prinzip macht in seiner idealen Form keine Konzessionen an die Träger des Fortschritts, also an die wirtschafts-, wissenschafts- und kulturellen Eliten eines Staates. Dass Zukunftsplanung jedoch auch in einem demokratischen Staat immer nur im Schulterschluss mit den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur erfolgen kann, hat zu den bekannten Herausforderungen der Demokratietheorie geführt. Als Stichworte seien nur der Reichswirtschaftsrat in der Weimarer Verfassung als Modell für vergleichbare Regelungen in jüngeren Verfassungstexten33, die konzertierten Aktionen und die vielfältigen Formen runder Tische seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts34, die in Deutschland stärker als anderswo in Europa gepflegte wissenschaftliche Politikberatung35, die Legitimierung des Verbändeeinflusses auf die Gesetzgebung36, neue Formen konsensualer Politikgestaltung und Rechtsetzung zwischen Staat und Wirtschaft37 oder die Einsetzung außerparlamentarischer gesetzesvorbereitender Räte und Kommissionen38 genannt. Gerade Letzteres führt zu einer zunehmenden Entparlamentarisierung des demokratischen Willensbildungsprozesses. Denn was in Kommissionen bzw. nationalen Räten mit hohem Sachverstand erarbeitet wurde und sodann auf dem Resonanzboden der (Medien-) Öffentlichkeit Bestand hatte, kann vom Parlament de facto nur noch „ratifiziert“ werden39.

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Jonas, Geschichte der Soziologie, Bd. 2, 1968, S. 51; Schelsky, Über die Abstraktheiten des Planungsbegriffes, in: Zur Theorie der allgemeinen und der regionalen Planung (Beiträge zur Raumplanung, Bd. I), 1969, S. 11. 33 Art. 165 Abs. 3 WRV; Art. 69 Französische Verfassung von 1958. 34 Zur damit verbundenen Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen: Zippelius/ Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, § 11 Rn. 53 f. 35 In Deutschland sind anders als in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union fast alle Gesetzesvorhaben von rechtlichen und verfassungsrechtlichen Expertisen aus dem universitären oder gesellschaftlichen Bereich begleitet. Um nur noch einen weiteren Bereich zu benennen: Bei Prognosen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vertraut das zuständige Ministerium weniger auf eigene Analysen der Wirtschaftsentwicklung (wie etwa in Frankreich), sondern vielmehr einem Sachverständigenrat. 36 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 16. Aufl. 2010, § 26 III m. Nw. 37 Vgl. etwa die „Atom-Konsens-Vereinbarung“ zwischen der Bundesregierung und Vertretern der vier größten deutschen Energieversorgungsunternehmen im Jahr 2000; hierzu Huber, Konsensvereinbarungen und Gesetzgebung, ZG 2002, S. 245 ff. 38 Z. B. der Nationale Ethikrat. 39 Herdegen/Morlok, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL 62 (2003), S. 7 ff., 37 ff.; Ruffert, Entformalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdung der Verfassung?, DVBl. 2002, S. 1145 ff.

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Wie sehr der Saint-Simonistische Ansatz einer wissenschafts- und wirtschaftsdemokratischen Planung ein Widerpart zur reinen Demokratie des Verfassungsstaates herkömmlicher Prägung ist, zeigt sich derzeit vor allem am Beispiel der Hochschulplanung und -politik. Die Hochschulen wurden bis vor kurzem jenseits ihres Bereiches verfassungsrechtlich verbürgter Autonomie durch parlamentarische Gesetzgebung und ministerielle Kontrolle gesteuert. Ihr für den Standort Deutschland gewichtiger Beitrag zur ökonomischen und sozialen Entwicklung wurde, blickt man auf die chronische Unterfinanzierung und die schwindenden Möglichkeiten zur Grundlagenforschung40, lange Zeit gering geschätzt. In den letzten Jahren hat ein Perspektivenwechsel eingesetzt. Mit den beiden Exzellenz-Initiativen werden an die leistungsfähigsten Hochschulen nicht vom Staat, sondern nach dem Modell einer elitären wissenschaftlichen Selbstverwaltung von einer Gruppe höchstrangiger ausländischer und nationaler Peers Mittel für Forschung in vorrangig wirtschaftlich relevanten Fachrichtungen in bislang unvorstellbarer Höhe verteilt. Den Hochschulen wird zudem für den Bereich ihrer Entwicklungsplanung zunehmend Autonomie gegenüber dem parlamentarisch-demokratischen System gewährt. Dies hat zu mancherlei scharfsinnigen Untersuchungen der Frage geführt, ob Universitätsräte mit ihren Mitgliedern aus der wirtschaftlichen und kulturellen Elite (jedenfalls der Idee nach) mit dem Demokratieprinzip vereinbar sind41. Denn diese Universitätsräte sollen die Verantwortung für die Entwicklung von Hochschulen übernehmen, diese also in einem zentralen Bereich nicht mehr durch Ministerium und Parlament kontrolliert werden. Saint-Simon jedenfalls hätte derartige Entwicklungen sehr begrüßt. Die Staatsrechtslehre muss sich die kritische Frage gefallen lassen, ob Lehren wie etwa die von den demokratischen Legitimations- und Kontrollketten die Augen vor der Realität des planenden und leistenden Staates verschließen42. Hat vielleicht die spezifisch deutsche Demokratietheorie ihre Anschlussfähigkeit an die staatliche Realität verloren?

40 Der gewünschte Typ des Hochschullehrers in der neueren Hochschulpolitik ist der erfolgreich Drittmittel einwerbende Dozent. Am Drittmittelvolumen orientieren sich vielerlei Formen von Rankings. Dass aber Grundlagenforschung für die Exzellenz von Forschung und auf längere Sicht auch für die ökonomische Entwicklung von entscheidender Bedeutung ist, wurde weithin verkannt. Ebenso gravierend ist, dass durch Erhöhung von Lehrdeputaten und Prüfungslasten Forschung zur Nebenaufgabe wird und nur noch in der „Freizeit“ erfolgt (Würtenberger, Forschung und Lehre, 2003, S. 478 ff.). 41 Kempen, Grundfragen des institutionellen Hochschulrechts, in: Hartmer/Detmer (Hrsg.), Hochschulrecht, 2004, S. 41 f.; Krüger, Der Hochschulrat aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Deutscher Hochschulverband (Hrsg.), Streitfall Hochschulrat, 1998, S. 69 ff.; Burgi/Gräf, Das (Verwaltungs-)organisationsrecht der Hochschulen im Spiegel der neueren Gesetzgebung und Verfassungsrechtsprechung, DVBl. 2010, 1125 ff. 42 Zur Kritik vgl. Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 285 ff.

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III. Marktrationalität und Planrationalität als Leitlinien verfassungsrechtlicher Gestaltung Verlassen wir die Anfangszeit verfassungsstaatlicher Entwicklung und wenden wir uns der Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg zu. Der Verlauf des 20. Jahrhunderts war durch die Auseinandersetzung zwischen Markt und Plan, zwischen Marktrationalität und Planrationalität43 geprägt. Marktrationalität streitet dafür, dass unter Marktgesetzen in Wirtschaft oder Politik der größte Vorteil für die größte Zahl erreicht wird. Marktgesetze regeln lediglich das Spiel eines freien Marktes. Was die Ergebnisse des Marktes sein werden, bleibt aber im Ungewissen. Nur eines ist offenbar gewiss: Der Markt garantiert eine optimale Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse oder auch den gerechten Preis. Demgegenüber führt Planrationalität zur inhaltlichen Normierung der sozialen Ordnung. Welche Ziele erreicht werden sollen, wie und in welchem Umfang diese zu erreichen sind, ist normativ aufgrund von Planung vorgegeben. Planrationalität lebt von Gewissheit: Man kann die sozialen und ökonomischen Bedürfnisse und Konflikte vorhersehen, man kennt die erforderlichen Mittel zu ihrer effektiven Lösung. Seit dem Zusammenbruch der Planungssysteme des real existierenden Sozialismus zum Ende des 20. Jahrhunderts besteht allgemeiner Konsens darüber, dass planrationale politische Systeme ineffizient sind. Ein eben solcher Konsens dürfte auch darüber bestehen, dass ein reiner Laisser-faire-Liberalismus zu destabilisierenden gesellschaftlichen Verwerfungen führt. In diesem Sinn hat das Bundesverfassungsgericht sehr früh im Investitionshilfeurteil44 die reinen Formen der Markt- und Planrationalität als nicht vereinbar mit dem Grundgesetz bezeichnet. Soll eine Ordnung der Freiheit zugleich auch ein angemessenes Maß an Gleichheit in der Gesellschaft gewährleisten, bedarf es planvoller staatlicher Intervention45. Soll Wettbewerbsfreiheit zugleich auch Wettbewerbsgleichheit umfassen, muss der Staat nach dem Konzept der Freiburger Schule des Ordoliberalismus Rahmenbedingungen für die Wettbewerbsordnung regeln. In den Konzepten einer sozialen oder ökologischen Marktwirtschaft verbinden sich ebenfalls Planungselemente mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung. So gesehen lässt das Grundgesetz prinzipiell offen, wie viel Marktrationalität mit wie viel Planrationalität und umgekehrt verfassungsrechtlich vereinbar sind. Wichtige gesellschaftliche Bereiche, wie etwa die Sozialversicherung, sind traditionell den Staatsaufgaben zugeordnet. Ihre Realisierung folgt weitgehend dem Modell der Planrationalität. In solche planrational gesteuerte Bereiche marktrationale Elemente einzubauen, stößt bekanntlich auf Probleme der Akzeptanz derjenigen, die auf den Fortbestand staatlicher Planung vertraut haben. So stehen vor allem der Li43 44 45

Hierzu Dahrendorf, Markt und Plan. Zwei Typen der Rationalität, 1966. BVerfGE 4, 7, (17 f.). Zum Ausgleich zwischen Markt- und Planrationalität: Dahrendorf (Fn. 43), S. 8 ff.

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beralisierung der derzeitigen Systeme sozialer Sicherung das verfassungsrechtliche Gebot des Vertrauensschutzes und das Rückwirkungsverbot entgegen. In den vergangenen fünf Jahrzehnten ist ein deutlicher Wandel zur Marktrationalität zu beobachten. Die Lehren von Hajeks, neuere Ansätze der Institutionenökonomie, das neue Steuerungsmodell sowie die notorische Finanzkrise des Staates führen zunehmend zur Privatisierung von Staatsaufgaben. Die Grundgesetzänderungen zur Privatisierung von Post, Telekommunikation und Bahn wurden nicht nur mit Blick auf entsprechende zwingende europarechtliche Vorgaben nötig. Sie wurden auch deshalb nötig, weil diese Bereiche weder technisch effizient noch finanziell leistbar in staatlicher Regie betrieben werden konnten. Das Grundgesetz lässt allerdings, ebenso wie das Recht der Europäischen Union, keine volle (materielle) Privatisierung der im Verfassungsstaat zu erfüllenden Staatsaufgaben zu. Im üppig wuchernden Regulierungsrecht bleibt es bei der Gewährleistungsverantwortung des Staates. So wird in Deutschland aus den Grundrechten, in Frankreich aus der Idee des „service publique“ hergeleitet, dass der Staat die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen von Kommunikation und Daseinsvorsorge zu garantieren habe46. Solche Gewährleistungsverantwortung folgt dem Prinzip der Planrationalität: Die zu garantierenden Standards und die Verfahren ihrer Durchsetzung setzt der Staat fest. Er schreibt sich mehr oder minder glaubwürdig auch die wirtschaftliche und soziale Mächtigkeit zu, diese Standards im Falle eines Marktversagens durchzusetzen. Planrationalität legt fest und garantiert bestimmte Standards der flächendeckenden und kostengünstigen Versorgung oder, um einen besonderen Bereich zu benennen, hohe Standards einer dem Würdeprinzip entsprechenden Altenpflege. Um dies nochmals am Gegensatz von Markt- und Planrationalität auf den Begriff zu bringen: An der planenden Festlegung der Standards bei der Erfüllung von Staatsaufgaben ändert sich nichts. Geändert wird nur die Modalität der Aufgabenerfüllung. Diese erfolgt nach der Rationalität des Marktes mit staatlicher Interventionspflicht bei Marktinsuffizienz47. IV. Die Planungsidee als Agent bei der Fortentwicklung des Grundgesetzes Die Ambivalenz von Markt und Plan hatte erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung der verfassungsrechtlichen Ordnung in Deutschland. Die Planungsidee und die Rolle der Planung unter dem Grundgesetz durchlief drei Phasen: die Planungsabstinenz bis Mitte der sechziger Jahre, die sich daran anschließende Planungseuphorie bis etwa Ende der siebziger Jahre und die seither wieder nüchternere, bisweilen skeptische Einschätzung der Erfolgschancen politischer Planung; diesen Begriff meidend spricht man nun weniger vom planenden, sondern eher vom steuernden Staat. 46 47

Zippelius/Würtenberger (Fn. 34), § 35 Rn. 12 m. Nw. Vgl. Schuppert, Staatswissenschaft, 2003, S. 341 f.

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1. Zur Planungsabstinenz Bis Mitte der sechziger Jahre war Planung kein Begriff des Verfassungsrechts und aus der verfassungsrechtlichen Diskussion verbannt. In dieser vom Ordoliberalismus Freiburger Schule geprägten Anfangsphase der Bundesrepublik verband man mit politischer Planung lediglich faschistische und sozialistische Systeme. Dass aber auch in einem marktwirtschaftlichen System staatliche Planungen ihren legitimen Platz haben können, wurde nicht thematisiert. Aus welchen Gründen auch immer wollte man nicht wahrhaben, dass die politische Realität seit Verabschiedung des Grundgesetzes von vielerlei Planungen begleitet war. So äußerte etwa 1954 das Bundeswirtschaftsministerium unter seinem Minister Ludwig Erhard, dass Raumordnung und Marktwirtschaft nicht vereinbar seien. Trotz solch prominenter Aussagen fand seit den Anfangsjahren der Bundesrepublik zunächst in den Ländern48 und sodann im Bund eine durchaus effektive Raumordnung und Landesplanung statt. Der nationalsozialistisch belastete Begriff der Raumordnung, der mit Volksordnung und Ordnung des Lebensraumes gleichgesetzt war49, wurde in Art. 75 Abs. 1 Nr. 4 GG übernommen. Damit war nicht nur eine bedeutsame Planungskompetenz des Bundes, sondern auf Teilgebieten auch planerische Kontinuität über den Systemwechsel hinweg möglich. Es wurden Konzepte fortgesetzt, die zu Ende der Weimarer Zeit entwickelt und im nationalsozialistischen Deutschland auf den Weg gebracht worden waren50. Nach dem Achsenkonzept, nach dem bereits im Dritten Reich der Ausbau der Reichsautobahnen51 und des Eisenbahnnetzes erfolgte, wurden die großen industriellen Achsen etwa von Rhein und Ruhr über Neckar und Main bis nach München weiter ausgebaut. Hinzu trat das Zentrale Orte-Konzept, das die Infrastruktur im lokalen und regionalen Bereich bestimmte52. Die geistigen Urheber und jene, die diese Konzepte in den dreißiger Jahren vorangetrieben hatten, bestimmten auch in den fünfziger Jahren die Weiterentwicklung53 dieser Konzepte.

48 Keil, Zur Entwicklung der Landesplanung aus persönlicher Sicht, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Raumordnung und Landesplanung im 20. Jahrhundert, 1971, S. 87 ff. (zur Raumordnungsplanung in Schleswig-Holstein). 49 Herzberg, Raumordnung im nationalsozialistischen Deutschland, 1997, S. 20 ff. 50 Umlauf, Zur Entwicklungsgeschichte der Landesplanung und Raumordnung, 1986, S. 5 ff., zur „Reichsstelle für Raumordnung“ mit dem Auftrag einer zusammenfassenden und übergeordneten Planung des deutschen Raumes; Weigmann, Politische Raumordnung. Gedanken zur Neugestaltung des deutschen Lebensraums, 1935; R. Wahl, Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, Bd. 1, 1978, S. 171 ff. 51 Zur Kontinuität in der Ausbauplanung der Autobahnen und Fernstraßen: Bartlsperger, Straßenrecht zwischen Bewahrung und Technizität, DVBl. 1979, S. 1, 2 m. Nw. 52 Zur organisatorischen und inhaltlichen Kontinuität: Umlauf (Fn. 50), S. 11 ff.; Kirsten, Zentrale Orte als Instrument der Regionalpolitik, 1983, S. 19 ff. 53 Herzberg (Fn. 49), S. 169 ff.

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2. Zur Planungseuphorie und zur Konstitutionalisierung der Planung Zu Beginn der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts war politische Planung nicht nur eine Tochter erster ökonomischer Krisenerscheinungen, sondern wurde in Deutschland ebenso wie in Westeuropa insgesamt rasch zum großen Zug der Zeit54. Das bislang eher ein Schattendasein fristende Sozialstaatsprinzip wurde verfassungsrechtlich aufgewertet, so dass die Planung als typische Handlungsform des Sozialstaates in den Vordergrund treten konnte. Sozialstaatliche Planung wurde zum Bezugspunkt der Rechts- und Verfassungsreformen der sozial-liberalen Koalition. Mit Art. 91a und Art. 91b GG fanden zudem Infrastrukturplanung und Hochschulausbauplanung Eingang in das Grundgesetz. Mit der Änderung des Art. 109 GG verbindet sich die mittelfristige Finanzplanung55. Es entstand ein neues Planungsverfassungsrecht. Ausgangs der 60er Jahre entwickelte sich geradezu eine Planungseuphorie. Unter Ehmke und Jochimsen sollte das Bundeskanzleramt zu einer zentralen Planungs- und Leitstelle der Politik ausgebaut werden, was allerdings wegen einer Überschätzung der Planbarkeit des Regierungshandelns scheiterte. Weiter etwa verpflichtete das Hochschulrahmengesetz von 1976 die Hochschulen zur Aufstellung von Hochschulentwicklungsplänen, die die Entwicklung von Forschung und Studienplätzen regeln, und verpflichtete das Land zur Aufstellung eines Hochschulgesamtplanes, der die Entwicklung aller Landeshochschulen erfassen sollte. Diese Pläne waren wiederum in die mittelfristige Finanzplanung, in den Rahmenplan zur Hochschulbauförderung und in die Planung der Raumordnung zu integrieren (§§ 67 – 69 HRG). Auch dieses hybride Planungssystem ließ sich bekanntlich nicht erfolgreich realisieren. Diese Planungseuphorie war nicht auf Deutschland beschränkt. Zeitgleich erfolgte in Frankreich ebenfalls eine bedeutsame Ausdifferenzierung des Planungsinstrumentariums. Anders als in Deutschland war im Nachkriegsfrankreich politische Planung seit jeher ein unbestrittenes Instrumentarium der Regierungspolitik. Verwiesen sei nur auf das „Commissariat gnral du plan“, das 1946 von de Gaulle eingerichtet wurde. Die Instrumente der französischen „Planification“ wurden seit Mitte der sechziger Jahre durch mittelfristige Planungen und durch Kosten-Nutzen-Untersuchungen verfeinert. Von dieser überkommenen Planungsidee hat man in Frankreich mittlerweile Abstand genommen. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass man nun von „amnagement du territoire“ spricht und 2006 das vorgenannte „Commissariat“ zum „Centre danalyse stratgique“ werden ließ.

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Kaiser, Vorwort in: ders. (Hrsg.), Planung I, 1965, S. 7. Altmann, Planung in der Marktwirtschaft? Zur Neuausrichtung der westdeutschen Wirtschaftspolitik durch das Stabilitätsgesetz von 1967, in: Haupt/Requate (Hrsg.), Aufbruch in die Zukunft, 2004, S. 31 ff. 55

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Anders als etwa in Frankreich hat man in Deutschland die politische Planung verfassungsrechtlich überformt und damit konstitutionalisiert56. In zahlreichen Untersuchungen57 wurden die demokratischen, rechtsstaatlichen und föderalistischen Anforderungen an eine politische Planung entwickelt. Zu den großen Fragestellungen jener Jahre gehörte, ob politische Planung eine genuin exekutivische Tätigkeit sei, ob sie zur gesamten Hand von Parlament und Regierung zu erfolgen habe und wie sie in ein demokratisches System integriert werden könne. Zu Ende der Phase der Planungseuphorie gelang damit ein wichtiger Schritt: Politische Planung wurde in das verfassungsrechtliche System des Grundgesetzes integriert58. Der Verfassungsstaat hatte nun die Realität des politisch planenden Staates in sein Koordinatensystem eingebunden. Eine vergleichbare Konstitutionalisierung vollzog sich auf der Ebene der planenden Verwaltung. Verwaltungsplanungen mit Planfeststellungsverfahren gab es bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Erst seit Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts wird diese Verwaltungsplanung an rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien orientiert. Das rechtsstaatliche Abwägungsgebot und die demokratische Partizipation in Planfeststellungsverfahren sind Marksteine dieser Entwicklung.59 Die Demokratisierung der Verwaltungsplanung war und ist ein umstrittenes Thema der Staats- und Verwaltungsrechtslehre. Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts war bewusst geworden, dass die planende Verwaltung erhebliche rechtliche und damit politisch auszufüllende Gestaltungsspielräume gewann. Grund war die Zunahme von Planungsgesetzen, in denen der Gesetzgeber nur Ziele und Verfahren, aber nicht Inhalte der planenden Verwaltung vorgab. Dieser Paradigmenwechsel in Rich56 Hierzu grundlegend (und skeptisch): Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff, in: FS für Brohm, 2002, S. 191 ff.; vgl. weiter Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000. 57 Graf Vitzthum, Parlament und Planung, 1978; Würtenberger, Staatsrechtliche Probleme politischer Planung, 1979; Butterwegge, Alternativen der Wirtschaftslenkung. Zur Begründung eines Konzepts gesamtgesellschaftlicher demokratischer Planung, 1976, S. 121 ff. (zu den Grundzügen eines basisdemokratisch-sozialistischen Planungsmodells); Schröder, Planung auf staatlicher Ebene, 1974, S. 46 ff. (zur Beteiligung des Parlaments an der Planung); Fischer, Staatliche Planung und Demokratie. Möglichkeiten und Grenzen demokratischer Planungsorganisation, 1978; Azizi/Griller (Hrsg.), Rechtsstaat und Planung, 1982. 58 Zur „Planung im Gefüge der Staatsfunktionen“ vgl. den Überblick bei Hoppe, Artikel Planung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 3. Aufl., 2006, § 77 Rn. 34 ff.; zur Mitwirkung des Parlaments an der politischen Planung: Würtenberger (Fn. 57), S. 187 ff., 195 ff., 325 ff. m. Nw.; zum Einfluss der Wesentlichkeitstheorie auf die parlamentarische Beteiligung an politischen Planungen: NRW VerfGH, NVwZ-RR 1998, 473 f.; zur Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze: Breuer, DVBl. 1970, 101 f. einerseits und Hoppe, a.a.O. Rn. 73 andererseits; zur Planung als Mittel der Grundrechtsverwirklichung: Hoppe, a.a.O. Rn. 80 („keine Prägung der Planung durch ein institutionelles Grundrechtsverständnis); Würtenberger, a.a.O. S. 402 ff. 59 Zu den hier zu beobachtenden Wechselwirkungen zwischen Literatur und Rechtsprechung: Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 50 ff.

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tung auf eine bloß finale Steuerung der Verwaltung durch den Gesetzgeber hat zu erheblichen staatsrechtlichen und demokratietheoretischen Kontroversen geführt: Sind die von Verwaltungsplanungen rechtlich oder faktisch betroffenen Bürger lediglich als Informationsquelle zur Optimierung der Planung oder nach Grundsätzen einer partizipatorischen Demokratie in das Planungsverfahren einzubeziehen? Tritt neben die vom Grundgesetz verfasste repräsentative Demokratie von oben als zweite Säule eine partizipatorische Demokratie von unten? Die Staats- und Verwaltungsrechtslehre ist bis in jüngste Zeit zurückhaltend, die Bürgerbeteiligung an Planungsverfahren der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes zuzuordnen60. 3. Vom planenden zum steuernden Staat Seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist die Planungseuphorie der 70er Jahre einer nüchterneren Betrachtung gewichen. Die Erkenntnis, dass politische Planung mehr an Rationalität verspricht, als sie zu leisten vermag, ließ die Planungsdiskussion verstummen. Die Diskussion neuer Steuerungsmodelle wird nun zum Thema, das die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen beherrschen sollte. An die Stelle des Planungsparadigmas wird eine ergebnisorientierte, dezentrale Steuerung gesetzt, an der unterschiedliche Akteure in Staat und Gesellschaft beteiligt sind und die in neuen Regelungsstrukturen erfolgt61. Ein neuer steuerungstheoretischer Ansatz soll Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft vereinend62 zu einer Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft führen63. U. a. das Aufkommen neuer Formen der Planung, die die klassische Verwaltungsrechtswissenschaft kaum zu bewältigen wusste, hat Anstoß für das Konzept einer Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft gegeben64. Diese möchte interdisziplinäre Ansätze verfolgend die Gesetzgebung ebenso wie die Rechtspolitik in ihr Programm einbeziehen. Ihre Leitidee ist eine rechtsetzungsorientierte Handlungs- und Entscheidungswissenschaft65. Mit New Public Management, Deregulierung, Privatisierung, „aktivierendem Staat“, electronic government und Governance als neuen Reformkonzepten bestehen durchaus Berührungspunkte66.

60 Vgl. Würtenberger, Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, 1996, S. 24 ff.; Schliesky (Fn. 42), S. 285 ff.; Zippelius/Würtenberger (Fn. 34), § 10 Rn. 20 f.; kritisch Dederer, Korporative Staatsgewalt, 2004, S. 200 ff. 61 Mayutz, Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie?, in: Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung, 2. Aufl., 2006, S. 11 ff. 62 Voßkuhle, Verwaltungsrecht & Verwaltungswissenschaft = Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, BayVBl. 2010, 581 ff. 63 Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 1; skeptisch Wahl (Fn. 59), S. 87 ff. 64 Voßkuhle, BayVBl. 2010, 581, 583 f. 65 Wahl (Fn. 59), S. 89. 66 Voßkuhle (Fn. 63), § 1 Rn. 49 ff.

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Wenn es um die Entwicklung von Zielvorgaben geht, ist nach wie vor auf Planrationalität zurückzugreifen, nämlich auf die Festlegung von sozialen und ökonomischen Zielen und Prioritäten; hier geht es um die Festlegung des Reformbedarfs, was seinerseits eine umfassende Lageanalyse und eine immer mit Unsicherheit behaftete Prognose der Entwicklung erfordert. Mit Schuppert sei daran festgehalten, dass Planung „das wesentliche Element sozialstaatlicher Aufgabenerledigung“ bleibt67. Gewandelt haben sich die Verfahren der Verwirklichung der Planungsziele. Früher standen hier insbesondere Nutzen-Kosten-Analysen sowie eine Steuerung über die Mittelzuweisung im Haushaltsplan im Vordergrund. Gesteuert wird zwar nach wie vor über Ziele, die gemäß einer strategischen politischen Planung zu erreichen sind, die Zielerreichung wird nun aber an den Bedürfnissen der „Kunden“, am Markt und am Wettbewerb orientiert. Der zentral erfolgenden Zielplanung wird eine dezentral-flexible Realisierung an die Seite gestellt. Zu den wesentlichen Neuerungen gehört: An die Stelle der kameralistischen Haushaltsführung treten eine dezentrale Ressourcenverantwortung bzw. eine produktorientierte Output-Steuerung68. Die neue Steuerungslehre schreibt ältere planungstheoretische Ansätze fort, um den Anforderungen einer gewandelten Staatlichkeit und dem Perspektivenwechsel in der Erfüllung der Staatsaufgaben gerecht zu werden. Auch das neue Steuerungsmodell verzichtet nicht auf eine planmäßige Erarbeitung der politischen Ziele und der Standards, die vom Staat zu erreichen bzw. zu garantieren sind. In die Phase der Realisierung werden jedoch beachtliche Flexibilitäten und oftmals marktrationale Strukturen eingebaut. Verfassungsrechtlich stellt sich die bereits seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts bekannte Frage: Wie kann die parlamentarische Demokratie im neuen Steuerungsmodell ihre verfassungsrechtlich geforderten Steuerungs- und Kontrollleistungen erbringen?69 V. Ausblick Wenn nicht alles täuscht, ist das Verhältnis von Planung zur Entwicklung des Verfassungsstaates in eine neue Phase getreten. Globalisierung und Europäisierung haben das Koordinatenkreuz des nationalen Verfassungsstaates ebenso wie seiner seit jeher betriebenen Planung wesentlich verändert. Entscheidende Weichenstellungen finden immer weniger im Raum der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, als

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Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 99; zur Renaissance der Planung Köck, Pläne, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2008, § 3 Rn. 6. 68 Korioth, Finanzen, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, 2009, § 44 Rn. 57 ff.; ausführlich zu den Steuerungsfunktionen von Plänen: Köck (Fn. 67), § 37 Rn. 38 ff. 69 Jann, Neues Steuerungsmodell, in: Blanke u. a. (Hrsg.), Handbuch zur Verwaltungsreform, 2. Aufl., 2001, S. 82, 90 ff.; Mehde, Neues Steuerungsmodell und Demokratieprinzip, 2000, S. 572 ff. zum neuen Steuerungsmodell als demokratiekonformem Konzept der Verwaltungsorganisation; weitere Kritikpunkte bei Korioth (Fn. 68), Rn. 61.

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vielmehr in zunehmendem Maße in der Europäischen Union statt70. Dort werden raumbezogene Planungen, Planungen im Bereich von Infrastrukturpolitik, von Umweltpolitik, von Forschungsförderung und teilweise auch im Bereich der Beschäftigungs-, Sozial- oder Agrarpolitik mehr oder weniger in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten auf den Weg gebracht71. Der Unionsraum ist bzw. soll ein kohärenter Wirtschafts-, Verkehrs- und Siedlungsraum werden, was der Integration mitgliedstaatlicher Planungen in unionsweite Planungen und Planungsverfahren bedarf. Darüber hinaus bestimmen Normen der Europäischen Union in ganz erheblichem Maß nationale Planungsverfahren und ihre Leitlinien72. Dies zeigt, um nur ein Beispiel zu nennen, die Planung der transeuropäischen Netze73, deren Trassierung die Fachplanungen in den Mitgliedstaaten wesentlich beeinflussen. Nach Art. 170 ff. AEUV trägt die Europäische Union zum Auf- und Ausbau transeuropäischer Netze in den Bereichen der Verkehrs-, Telekommunikationsund Energieinfrastruktur bei. Die Leitlinien, durch die vor allem die Vorhaben von gemeinsamen europäischem Interesse ausgewiesen werden, und die Trassierung der europäischen Netze werden im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren vom Europäischen Parlament und Rat und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen festgelegt (Art. 172 Abs. 1 AEUV). Die Kommission erarbeitet die Entscheidungsgrundlage, die dem Rat und dem Europäischen Parlament unterbreitet wird. Zudem bedarf es der Billigung des betroffenen Mitgliedsstaates, wenn transeuropäische Netze sein Hoheitsgebiet betreffen (Art. 172 Abs. 2 AEUV). Im Bereich der Planung der transeuropäischen Netze wird ebenso wie in der Regionalplanung74 die nationale Rechtsetzung und Planung durch die Europäische Union präjudiziert. Im Bereich der raumbezogenen Umweltplanung oder der Förderung strukturschwacher Gebiete haben sich zudem neue Formen eines Planungsverbundes bzw. einer multilevel Governance75 zwischen Kommission, Rat und betroffenen Mitgliedsstaaten entwickelt76. In diesem europäischen Planungsverbund bedarf 70 Zum Folgenden Wahl, Europäisches Planungsrecht – Europäisierung des deutschen Planungsrechts, in: FS für Blümel, 1999, S. 617 ff.; Gärditz, Europäisches Planungsrecht, 2009; Hoppe (Fn. 58), § 77 Rn. 65 ff.; Jarass, Europäisierung des Planungsrechts, DVBl. 2000, S. 945 ff.; Sydow, Strukturen europäischer Planungsverfahren, DÖV 2003, S. 605 ff. 71 Zu den gemeinschaftseigenen Planungen in gestuften Verbundverfahren: Gärditz (Fn. 70), S. 13 ff. 72 Gärditz (Fn. 70), S. 96 ff. 73 Diese bezeichnet Wahl (Fn. 70, S. 625) als „spektakulärste(n) Beitrag des Gemeinschaftsrechts zu den Fachplanungen“. 74 Zum europäischen Konzept der Metropolregionen, das wesentliche Auswirkungen auf die Landesentwicklungs- und Regionalplanung haben wird: Würtenberger, Neugliederung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl., 2008, § 132 Rn. 16 ff. m. Nw. 75 Hierzu Benz, Multilevel Governance, in: ders./Lütz/Schimank/Simonis (Hrsg.), Handbuch Governance, 2007, S. 297 ff. 76 Sydow, DÖV 2003, S. 605 ff.; Gärditz (Fn. 70), S. 108 ff.

Die Planungsidee in der verfassungsstaatlichen Entwicklung

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es neuer Formen einer verbundspezifischen Ausprägung des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips77. Deren Eckpunkte können u. a. Transparenz, Kohärenz, Subsidiarität, Akzeptanz und Partizipation sein. Derzeit ist die demokratische Determination der im Planungsverbund zu treffenden Entscheidungen geschwächt, was u. a. zur Forderung einer stärkeren Verrechtlichung und damit rechtsstaatlichen Kontrolle führt. Dies deutet in die Richtung einer verstärkten Konstitutionalisierung des Gemeinschaftsplanungsrechts78, also seine Einbindung in die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung der Europäischen Union, woran es freilich noch weitgehend mangelt.

77 Schmidt-Aßmann, Verfassungsprinzipien für den Europäischen Verwaltungsverbund, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Fn. 63), § 5 Rn. 49 ff. 78 Gärditz (Fn. 70), S. 126.

B. Verfassungsrecht

Die Lehre von den verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken – Oder: Vom Schicksal der Freiheit in einer Dogmatik ohne Theorie Von Christoph Enders, Leipzig

I. Die Lehre von den verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken Die Geschichte der Lehre von den verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken lässt sich in wenigen Schritten rekonstruieren: Im Grundgesetzentwurf des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee mündete der Abschnitt mit den Grundrechtsgewährleistungen in eine Regelung, die neben einem Verbot der Beseitigung von Grundrechten (Art. 21 Abs. 1 HChEntw.) und der Anordnung ihrer Verbindlichkeit für die staatliche Gewalt (Art. 21 Abs. 2 HChEntw.) zwei auf sämtliche Grundrechte anwendbare Schrankenbestimmungen enthielt: Danach waren zum einen die Grundrechte „soweit sich aus ihrem Inhalt nichts anderes ergibt, im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung zu verstehen“ (Art. 21 Abs. 3 HChEntw.). Zum anderen waren gezielte gesetzliche Einschränkungen erlaubt, unter der Voraussetzung „dass es die öffentliche Sicherheit, Sittlichkeit oder Gesundheit zwingend erfordert“ und „das Grundrecht als solches unangetastet“ bliebe (Art. 21 Abs. 4 Satz 1 und 2 HChEntw.).1 Der Parlamentarische Rat verabschiedete sich schon bald von diesem Modell einer generalklauselartigen Schrankenregelung. Er setzte stattdessen seinen Ehrgeiz in eine Positivierung von Grundrechtsnormen, die je abschließende und aus sich heraus verständliche Regelungen bilden sollten.2 Demgemäß wurden den Grundrechtsgewährleistungen von Fall zu Fall mehr oder weniger ausdifferenzierte Schrankenbestimmungen zugunsten gesetzlicher Regelung im Normbereich des Grundrechts zu1 Denn: Es konnten und sollten die Grundrechte „nicht auf eine schrankenlose Freiheit ab(zielen), was einer Anarchie gleichkäme, sondern auf eine Freiheit in der Ordnung“, so der Bericht des Unterausschusses I (für Grundsatzfragen) über die Erwägungen des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, hrsg. v. Deutschen Bundestag und v. Bundesarchiv, Bd. 2, 1981, S. 228. 2 Vgl. Hermann v.. Mangoldt, Bericht an das Plenum des Parlamentarischen Rats zum Grundrechtsabschnitt, in: Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 1948/49, S. 5 – 13, 5 f.; dens., Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, 1953, Vorbem., Anm. 4, S. 37. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Bestreben nicht verkannt, vgl. BVerfGE 32, 54 (75).

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geordnet. Einige Grundrechte indessen weisen keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt auf. Hermann v. Mangoldt, der Vorsitzende des Ausschusses für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rats,3 hat dies später dahingehend erläutert, dass, wo ausdrückliche Einschränkungsbefugnisse fehlten, nach dem Willen des Parlamentarischen Rats die Schranke der allgemeinen Rechtsordnung, weil allgemein, selbstverständlich mitzudenken sei.4 Zum Konzept abschließender Vollregelung spezieller Grundrechtsgarantien passt dies indessen schlecht. Und so blieben Irritationen nicht aus, die in Hans Nawiaskys Exzessbeispielen gipfelten, nach dem Normtext des Grundgesetzes müsse wohl auch das rituelle Menschenopfer aus Gründen der Religion oder der künstlerisch motivierte Mord auf der Theaterbühne angesichts der Vorbehaltlosigkeit der Gewährleistungen grundrechtlich vor staatlichem Zugriff geschützt erscheinen.5 Aber auch jenseits solcher Argumentation ad absurdum musste sich in ganz alltäglichen Fallgestaltungen über kurz oder lang die Frage stellen, wie vorbehaltlos gewährleistete Freiheit zu begrenzen und so die Regelungslücke des Grundgesetzes in methodisch adäquater, systemkonformer Weise, kurz: grundrechtsdogmatisch überzeugend zu schließen sei.6 Das Bundesverfassungsgericht widmete sich der Bewältigung dieser Aufgabe der Grundrechtsdogmatik zwar nicht ohne Rücksicht auf die Literatur, weitgehend indessen in durchaus eigenständiger Rechtsarbeit, vor allem aber, wie es der Rechtsprechung eigen ist, nach Maßgabe des Problemanfalls. Sehr schnell war – mit der Elfes-Entscheidung aus dem Jahre 1957 – klar, dass die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“, obwohl das Bundesverfassungsgericht ihre Gewährleistung (in Art. 2 Abs. 1 GG) in die Rechtsstaatstradition der allgemeinen Handlungsfreiheit stellte und als Grundformel aller rechtlichen Freiheit interpretierte, nicht die Basis für die Begrenzung vorbehaltloser Grundrechte würde bieten können. Zwar sah das Gericht in der „Schrankentrias“ einen der Allgemeinheit des Freiheitsrechts korrespondierenden allgemeinen Eingriffsvorbehalt. Aber es betonte doch, dass auch die allgemeine Handlungsfreiheit als selbständiges Grundrecht gewährleistet sei.7 Ein anderen Freiheiten übergeordnetes, durchgängiges Prinzip, aus dem man „selbstverständliche“

3 Zu seinen Einlassungen im Verlauf der Beratungen Klaus-Berto v. Doemming/Rudolf Werner Füsslein/Werner Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JÖR N.F. Bd. 1 (1951), S. 177. 4 Hermann v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz (Fn 2), Vorbem., Anm. 2 a.E., S. 36, Anm. 4, S. 37. 5 Hans Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes, 1950, S. 24. 6 Allgemein zu Begriff und Rolle der Rechtsdogmatik Winfried Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, in: VVDStRL 30 (1972), S. 245, 246. Zur Grundrechtsdogmatik etwa Karl-Eberhard Hain, Ockhams Razor – ein Instrument zur Rationalisierung der Grundrechtsdogmatik?, JZ 2002, S. 1036. 7 BVerfGE 6, 32 (36).

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Schranken für sämtliche, vor allem aber vorbehaltlose Grundrechte hätte ableiten können, ließ sich also aus dieser Grundrechtsgewährleistung nicht gewinnen.8 Die Schrankenfrage selbst blieb indessen noch längere Zeit in der Schwebe. Den Glaubensabwerbungsfall (aus dem Jahre 1960) nahm das Bundesverfassungsgericht nicht zum Anlass, eine tragfähige, fallübergreifende Lehre von den Schranken vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte zu entwickeln. Möglicherweise vermengten sich hier – der Beschwerdeführer hatte in der Strafhaft unter seinen Mitgefangenen für den Kirchenaustritt geworben und ihnen für den Fall des Austritts Tabak versprochen – zu viele dogmatisch ungeklärte Fragen: Neben der Frage nach dem Schutzbereich und den Schranken der Glaubensfreiheit stand hier die gleichfalls offene Frage nach deren Wirksamkeit im besonderen Gewaltverhältnis des Strafvollzugs im Raum. Das Bundesverfassungsgericht kommt angesichts der Problemhäufung zu einer kurzen Lösung, mit der bereits der – teleologisch über eine allgemeine Missbrauchsklausel reduzierte – Grundrechtstatbestand ausgeschlossen wird: Der Staat könne und müsse den – grundrechtlich nicht geschützten – Missbrauch der hier einschlägigen Glaubensfreiheit verhindern, der anzunehmen sei, wenn die Würde der Person anderer verletzt werde, indem etwa „jemand unmittelbar oder mittelbar den Versuch macht, mit Hilfe unlauterer Methoden oder sittlich verwerflicher Mittel, andere ihrem Glauben abspenstig zu machen oder zum Austritt aus der Kirche zu bewegen“.9 Über solche teils negativen Aussagen, teils nur punktuellen Ansätze zur Konstruktion der Schranken vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte ging das Bundesverfassungsgericht dann mit zwei Entscheidungen aus den Jahren 1970 und 1971 hinaus und kam so – in leicht differierenden Wendungen – zur heute noch gültigen Formel von den verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken. In seiner Entscheidung zur Reichweite des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung (1970), Art. 4 Abs. 3 GG, hebt das Bundesverfassungsgericht darauf ab, dass nur „kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte … mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung ausnahmsweise imstande (sind), auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen begrenzen“.10 Gleichsinnig postuliert wenig später die Mephis8 Vgl. nochmals BVerfGE 30, 173 (192). In der Sache gerichtet etwa gegen Günter Dürig, Art 2 des Grundgesetzes und die Generalermächtigung zu allgemeinen polizeilichen Maßnahmen, AöR 79 (1953/54), S. 57, 59 f., 63; dens., in: Theodor Maunz/Günter Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. I, Rn. 50, Art. 2 Abs. I, Rn. 70, 72 (1958); Ernst Rudolf Huber, Der Streit um das Wirtschaftsverfassungsrecht (II), DÖV 1956, S. 135, 141; Theodor Maunz, Deutsches Staatsrecht, 3. Aufl. 1954, S. 82. Konsequenz der Lehre von der selbständigen Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit war der materiell- wie verfahrensrechtlich subsidiäre Auffangcharakter der Gewährleistung, BVerfGE 6, 32 (37, 41). 9 Das Gericht fährt fort: „Wer demjenigen, der sich von seinem Glauben lösen soll, unter Ausnutzung der besonderen Verhältnisse des Strafvollzuges hierfür Genußmittel [Tabak] verspricht und gewährt, genießt nicht den Schutz des Artikels 4 Abs. 1 GG“, BVerfGE 12, 1 (4 f.). Die allgemeine Handlungsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht trotz Verneinung des Schutzbereichs der Glaubens- und Religionsfreiheit nicht geprüft. 10 BVerfGE 28, 243 (261).

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to-Entscheidung (1971), es komme der Vorbehaltlosigkeit des Grundrechts der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) „die Bedeutung zu, dass die Grenzen der Kunstfreiheitsgarantie nur von der Verfassung selbst zu bestimmen sind … (weshalb) ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen (ist)“.11 Die Entscheidung über den genauen Schrankenverlauf kann dabei „nur unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalles getroffen werden“.12 Denn die von der Verfassung als Schutzgüter anerkannten Belange weisen als solche keine Rangunterschiede auf, sie erscheinen als abstrakt gleichberechtigte Interessen, deren (Vorrang-)Verhältnis zueinander erst in der fallbezogen wertenden Abwägungsarbeit zutage tritt,13 die demgemäß nur zu einer „Zurückdrängung des Grundrechts in einzelnen Beziehungen (führt) und seinen Grundwertgehalt nicht antastet“.14

II. Der theoretische Hintergrund der grundrechtsdogmatischen Konstruktion verfassungsimmanenter Grundrechtsschranken 1. Der materiale Rechtsstaat als Voraussetzung des Schrankenmodells Mit dieser durch das Bundesverfassungsgericht etablierten grundrechtsdogmatischen Konstruktion verfassungsimmanenter Schranken vorbehaltloser Grundrechte15 ist auf der einen Seite die Einsicht festgehalten, dass es dem Staat als Rechtsstaat nicht erlaubt ist, das Tun und Lassen seiner Bürger inhaltlich – als sinnvoll oder nutzlos, moralisch gut oder schlecht – zu bewerten. Er ist zur Distanz verpflichtet und zieht dem individuellen Freiheitsbelieben rein äußere Schranken, die ihre Rechtfertigung im Rechtsgüterschutz finden.16 Die Schranken vorbehaltlos gewährleisteter grundrechtlicher Freiheit werden deshalb nach dem Modell des Bundesverfassungsgerichts nicht – wie noch im Glaubensabwerbungsfall – als wertungsabhängige Missbrauchsschranken entwickelt, sondern mit dem allgemeinen Schutzbedürfnis von Belangen begründet, die die Verfassung anerkannt und mit eigenem Geltungs- und Durchset11

BVerfGE 30, 173 (193). BVerfGE 30, 173 (195); in der Sache auch BVerfGE 28, 243 (261 f.); std. Rspr. 13 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte 1986, S. 78 ff., 151 f.; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. (unveränd. Neudruck) 1999, Rn. 72; Wolfgang Kahl, Grundrechte, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 24, Rn. 23 in Fn. 119. BVerfGE 83, 130 (143, 146). Zum Ganzen Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, S. 299; auch Sebastian Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, 2006, S. 207 ff. 14 BVerfGE 28, 243 (262, bereits S. 261). 15 Zusammenfassend nochmals BVerfGE 83, 130 (139). 16 BVerfGE 107, 275 (281); 111, 147 (156); 124, 300 (323, 327). Vgl. Enders (Fn. 13), S. 68, 292. 12

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zungsanspruch ausgestattet hat. Der gleichberechtigt auf Verfassungsebene angesiedelte Geltungs- und Durchsetzungsanspruch begrenzt das von der Verfassung gewährleistete Entfaltungsinteresse von außen her.17 Auf der anderen Seite korrespondiert die Lehre von den verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken unübersehbar der Nachkriegs-Wendung zum materialen Rechtsstaat.18 Denn blieben die staatsgerichteten Grundrechte formal-rechtsstaatlich auf die liberale Abwehrfunktion beschränkt, könnten sie mit anderem Verfassungsrecht, das in seiner limitierenden Wirkung – solange es sich nicht um ausdrücklich normierte Grundpflichten der Bürger handelt – gleichfalls an den Staat und nicht an die Bürger adressiert ist, unter keinen Umständen kollidieren. Umgekehrt könnte Verfassungsrecht dem Grundrechtsgebrauch keine Schranken ziehen. Erweist sich demgegenüber der Staat als materialer Rechtsstaat, weil er sich – auch verfassungsrechtlich – einer höheren Idee guter Ordnung verpflichtet weiß, deren allgemeinverbindliche und auf umfassende Realisierung angelegte Gerechtigkeitsprinzipien wiederum die Grundrechte verkörpern,19 so werden die formalen Strukturen einer bloß negativen Abgrenzung der individuellen Freiheitssphäre von der staatlichen Herrschaftssphäre von einem umfassenderen Ordnungszusammenhang überlagert. Die Verfassung wird zur rechtlichen Grundordnung des Gemeinwesens.20 Weil sie als solche auch in die Gesellschaft hineinwirkt,21 fordert sie zwischen den Bürgern Beachtung. Und allein deshalb ist sie imstande, ein Modell der Beschränkung individuellen Freiheitsgebrauchs dem Grunde nach normativ zu tragen. 2. Grundrechtsdogmatik und Grundrechtstheorie Welche Theorie steht nun hinter der dogmatischen Figur der verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken? Dass Dogmatik überhaupt der Theorie bedarf, ergibt sich aus der Forderung, dass es nicht darum gehen kann, den Rechtsstoff einfach einer irgendwie praktikablen (funktionstüchtigen), womöglich sogar historisch bewährten, letztlich aber zufälligen Ordnung zu unterwerfen. Der Rechtsstoff soll dogmatisch

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Nachweise bei Lenz, (Fn. 13) S. 206 in Fn. 8. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 143, 164 ff.; mit Blick auf die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts Rainer Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2004, § 19, Rn. 14 ff. 19 Alexy (Fn. 13), S. 16, 479, 494 f. Kritische Analyse bei Enders (Fn. 13), S. 61 f., 298 f.; Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 77 f.; vgl. auch Lenz (Fn. 13), S. 86 f. 20 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 159, 198; vgl. auch Wahl (Fn. 18), § 19, Rn. 4, b. Fn. 20. 21 Vgl. BVerfGE 7, 198 (211: „Wenn aber das Grundrecht der freien Meinungsäußerung auch in den Privatrechtsverkehr hineinwirkt und sein Gewicht sich hier zugunsten der Zulässigkeit einer Meinungsäußerung auch dem einzelnen Mitbürger gegenüber geltend macht …“). 18

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systematisiert und auf durchgehende Prinzipien zurückgeführt werden.22 Inwieweit diese Forderung uneingeschränkt auf jede denkbare Rechtsmaterie Anwendung finden muss, mag dahinstehen. Die Grundrechte des Grundgesetzes jedenfalls basieren allesamt auf einem mit Art. 1 GG anerkannten, vom Bundesverfassungsgericht in unzähligen Entscheidungen in Bezug genommenen Prinzip, nämlich der „Vorstellung des Grundgesetzes, dass es zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden“.23 Sie basieren mit anderen Worten auf dem Prinzip gleicher Freiheit, das den Sinn und Zweck der Einzelgrundrechte bestimmt. Dieses Freiheitsprinzip wird durch die Grundrechte als Recht bereichsweise verbürgt und systematisch, nicht zuletzt über die Schrankenanordnungen der Freiheitsrechte, entfaltet.24 Dass das Bundesverfassungsgericht diese Wirkung des Freiheitsprinzips sieht und respektiert, erweist sich nicht allein in seiner weitgreifenden These von der „prinzipielle(n) Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte“, mit der die Grundrechte – als zentrale Wertentscheidungen für die recht verstandene Freiheit des Einzelnen – auf die gesamte Rechtsordnung (auch in der „Drittrichtung“) ausstrahlen25 und so das Fundament des materialen Rechtsstaats des Grundgesetzes bilden.26 Die Wirkung des grundrechtlichen Freiheitsprinzips macht sich vielmehr immer wieder in der dogmatischen Arbeit am Einzelfall bemerkbar. So geht etwa das Gericht mit Blick auf die Meinungsfreiheit von der „grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in

22 Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 21 f.; vgl. auch Friedrich Schoch, Die Rolle der Rechtsdogmatik bei der Privatisierung staatlicher Aufgaben, in: Rolf Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010, S. 91 ( 99). 23 BVerfGE 115,118 (153). Vgl. auch Johannes Masing, Der Rechtsstatus des Einzelnen im Verwaltungsrecht, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, § 7, Rn. 9 ff. 24 Hermann v. Mangoldt, 32. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 11. 1. 1949, in: Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, hrsg. v. Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv, Bd. 5/ II, 1993, S. 918: „Es ist überhaupt … der Art. 2 die Generalklausel für die ganzen Grundrechte. Wir haben folgenden Aufbau: Oben darüber steht die Menschenwürde, dann kommt die allgemeine Freiheit, die alles in sich schließt. Art.3, 4 und 5 sind alles Freiheiten, die aus dieser allgemeinen Freiheit fließen und eine Spezialisierung dieser allgemeinen Freiheit darstellen. So muß der ganze Aufbau gesehen werden.“ Insoweit lässt sich dann die dogmatische Beschäftigung mit dem geltenden Recht – der Grundrechte – nicht im Sinne eines reinen Innenverhältnisses, vgl. Schoch (Fn. 22), S. 99, hermetisch von ihren theoretischen Grundlagen abschotten. Nur so ist es auch möglich, die Grundrechte, wie vom Grundgesetzgeber gewollt, im Lichte der ihnen voraus- und zugrundeliegenden menschenrechtlichen Prinzipien interpretatorisch weiterzuentwickeln, Hermann v. Mangoldt, 4. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 23. 9. 1948, in: Der Parlamentarische Rat, aaO, Bd. 5/I, S. 64, 68. 25 BVerfGE 7, 198 (205). Zu den Implikationen und Folgewirkungen Wahl (Fn. 18), § 19, Rn. 23, 27. Zur Aktualität des Terminus Kahl (Fn. 13), Rn. 14, 18, 19 f. Vgl. aus jüngster Zeit BVerfG-K NJW 2010, 3501. 26 Wahl (Fn. 18), § 19, Rn. 4: „der Drittwirkungslehre vorausliegende Theorie der Grundrechte“.

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allen Bereichen, namentlich aber im öffentlichen Leben“ aus.27 Oder es konstatiert, dass die juristische Wirkungskraft des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung am stärksten entfaltet werde, wenn nach dem Sinn des Freiheitsschutzes der Begriff der Wohnung überhaupt die räumliche Privatsphäre meine und Geschäfts- und Betriebsräume einbeziehe.28 Vor allem stellt es in unterschiedlichen Wendungen immer wieder klar, dass keine überhaupt je denkbare Begründung es rechtfertigen könne, bei der Schrankenziehung das im jeweiligen Grundrecht verkörperte Freiheitsprinzip als solches aufzuheben.29 Zwar kann das grundrechtliche Freiheitsprinzip umgekehrt auch eine teleologisch einschränkende Auslegung und Anwendung von Grundrechtsnormen begründen helfen.30 Das Bundesverfassungsgericht hat demgemäß etwa das Grundrecht der Versammlungsfreiheit auf den Schutz der Teilhabe an der Meinungsfreiheit begrenzt gesehen, der „die zwangsweise oder sonst wie selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen“ von vornherein nicht erfasst.31 Oder es hat herausgearbeitet, dass nach dem Sinn und Zweck der Berufsfreiheitsgarantie die Desinformiertheit des Publikums kein den Wettbewerbern grundrechtlich garantierter Vorteil ist, weil das Grundrecht nicht gegen Informationsmaßnahmen schützt, mit denen der Staat eben die Funktionsbedingungen herstellt, die das Freiheitsgrundrecht seinem liberalen Modell nach selbstverständlich voraussetzt.32 Stets aber muss die Präzisierung des Freiheitsschutzes auf das Freiheitsprinzip und seine systematisch abgestufte Entfaltung in den Grundrechten rückbezogen bleiben. Die Einsicht, dass dies gerade auch im Hinblick auf die Grenzen grundrechtlicher Freiheit gilt, markiert den argumentativen Ausgangspunkt der Mephisto-Entscheidung in der Schrankenfrage: Eine wahllose Übertragung anderweit zugeordneter Grundrechtsschranken auf die ohne ausdrücklichen Vorbehalt gewährleistete Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) hat das Bundesverfassungsgericht hier als systemwidrig und insofern schädlich für die „Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit der Kunst“ 27

BVerfGE 7, 198 (208). BVerfGE 32, 54 (71 f.). 29 BVerfGE 124, 300 (331 f., 334). Bereits BVerfGE 6, 32 (40 f.), vor allem dann BVerfGE 7, 198 (208 f.) zur „Wechselwirkung“ zwischen beschränkendem allgemeinem Gesetz und wertsetzendem Grundrecht der Meinungsfreiheit; auch BVerfGE 7, 377 (403); Lenz (Fn. 13), S. 68 f. 30 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, Der Staat, Bd. 42 (2003), S. 165 (178); Wolfgang Hoffmann-Riem, Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch, Der Staat, Bd. 43 (2004), S. 203 (217 ff.). Kritisch Wolfgang Kahl, Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt, Der Staat, Bd. 43 (2004), S. 167 (insbes. 184 ff.); Christoph Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, 1973. 31 BVerfGE 104, 92 (105). 32 BVerfGE 105, 252 (265 ff., insbes. 266 f.); Hoffmann-Riem (Fn. 32), S. 203 (218). Vgl. auch Johannes Masing, Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifend geregelt werden?, Gutachten D zum 66. DJT, 2006, S. D 158: „Die Teilnahme am Wettbewerb wird [vom Staat] […] begleitend mitgestaltet […]. Weder Art. 12 noch Art. 14 GG gewährleisten die Freiheit, eine marktbeherrschende Stellung ungehindert auszunutzen […].“ 28

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gekennzeichnet.33 Die Entscheidung des Grundgesetzgebers, das Freiheitsprinzip durch die Einzelgrundrechte und ihre abgestuften Schrankenvorbehalte zu einem wohlgeordneten System grundrechtlichen Schutzes zu entfalten, würde durch eine diesem System gleichgültig gegenüberstehende, freiheitsblinde Schrankendogmatik konterkariert. 3. Das Freiheitsprinzip in der Lehre von den verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken Die Frage, durch welche dogmatischen Mechanismen nun die Bestimmung der ungeschriebenen verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken von Fall zu Fall auf das Freiheitsprinzip der Grundrechte grundrechtstheoretisch rückbezogen wird, um die durchgängige Geltung des Freiheitsprinzips sicherzustellen, findet gleichwohl weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur eine befriedigende Antwort. Dass schrankenlose Freiheit in einem Gemeinwesen zu Anarchie und Chaos führt und darum, wie das Bundesverfassungsgericht schon frühzeitig betont, nicht das „isolierte souveräne Individuum“ als idealtypischer Träger der Grundrechte vorgestellt werden darf, sondern die gemeinschaftsbezogene und –gebundene Person im Zentrum der grundgesetzlichen Freiheitsordnung steht,34 ist ein Gedanke ganz allgemeiner Art, der erläutert, warum rechtliche Freiheit stets begrenzt ist. Die dogmatischen Mittel zur Bewältigung der damit gestellten Begrenzungsaufgabe benennt er nicht. Die Lehre von den verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken geht dann zwar darüber hinaus und umreißt den Rahmen, in dem die normativ begrenzenden Gesichtspunkte zu suchen und aufzufinden sind. Da es aber zwischen den wechselseitig sich begrenzenden Verfassungsgütern ein festes (abstraktes) Rangverhältnis nicht geben kann,35 läuft alles auf eine gewichtende Abwägung (des individuellen Freiheitsanspruchs mit gegenläufigen Verfassungswerten) und damit eine inhaltliche Bewertung der Freiheit von Fall zu Fall hinaus.36 Aber was hat im Einzelfall mehr Gewicht: die ständige und jederzeitige volle Einsatzbereitschaft der Streitkräfte oder die kategorische Gewissensentscheidung des Kriegsdienstverweigerers, die auch in Friedenszeiten Beachtung verlangt;37 die Intim- und Privatsphäre Dritter oder das aus diesem Lebensstoff (zu Lebzeiten oder nach dem Tode der realen Vorbilder) kreativ geschöpfte Romanwerk des Künstlers;38 die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit eines Presseorgans oder die Freiheit zur Beschaffung und Verbreitung 33

BVerfGE 30, 173 (191 ff.). BVerfGE 4, 7 (15 f.); vgl. insb. die Bezugnahme in BVerfGE 30, 173 (193). Ferner BVerfGE 77, 240 (253); 81, 278 (292). 35 Oben bei und in Fn. 13. Eine Ausnahme macht nach h.A. die Würde des Menschen, Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG, vgl. BVerfGE 7, 198 (205). 36 Beispielhaft: BVerfGE 30, 173 (195); 77, 240 (253); 81, 278 (292 f.); 119, 1, (28). Vgl. Jürgen Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 90 f., 317 ff.; Alexy (Fn. 13), S. 324, 326. 37 BVerfGE 28, 243 (261 f.); vgl. BVerfGE 12, 45 (53 f.). 38 BVerfGE 30, 173 (195); 119, 1 (28). 34

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von (redaktionsinternen) Informationen, an denen möglicherweise ein Interesse der Öffentlichkeit besteht?39 Die unumgängliche Abwägung im Einzelfall bedürfte, wie das Bundesverfassungsgericht zu Recht anmahnt, der „Grundsätze …, welche die Entscheidung des Einzelfalles normativ zu leiten imstande sind“.40 Eine im Freiheitsprinzip fundierte, verfassungsrechtsdogmatisch tragfähige Regel für die streitentscheidende Verteilung der Gewichte im konkreten Konfliktfall41 ist indessen nicht in Sicht. Nur das „Ob“ der Abwägung steht fest, das „Wie“ der gewichtenden Verhältnisbestimmung bei der Streitentscheidung ist verfassungsrechtlich nicht definiert und bleibt offen. Die Hoffnung, eine grundrechtstheoretisch ambitionierte Literatur, werde diese Begründungslücke schließen helfen, wird enttäuscht. An einer eigenständigen Grundrechtstheorie mangelt es schon deshalb, weil die Verfassungsrechtswissenschaft sich weithin als eine die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstehende und strukturierende, nicht aber sie im Grundsätzlichen kritisierende „Verfassungsrechtsprechungswissenschaft“ begreift,42 die den allgemeinen Teil der vom Bundesverfassungsgericht gepflogenen Grundrechtsdogmatik zu erarbeiten sucht.43 So bleibt es von vornherein bei einer „Grundrechtstheorie en miniature“.44 Diese macht – folgt man exemplarisch Alexys Grundrechtstheorie – einerseits klar, dass es auf (bedingte, auf die Umstände bezogene) Vorrangrelationen ankommt, wenn die Grundrechte kraft ihrer wertsetzenden, objektiv-prinzipiellen Wirkung mit anderen – abstrakt gleichrangigen – Verfassungswerten (insbes. Grundrechten Dritter) kollidieren.45 Zum anderen besagt sie, dass in dieser Situation eine „richtige“ und d. h. eine rational strukturierte und insofern nachvollziehbare Abwägung zwischen den einander widerstreitenden Prinzipien notwendig wird.46 Die von Verfassung wegen gebotene, auf das grundrechtliche Freiheitsprinzip in seiner jeweiligen Ausprägung rückführbare Anleitung einer abwägungsspezifischen Begründung bleibt dieser Ansatz indessen schuldig. Auf den beiden Seiten der Glei39

BVerfGE 66, 116 (139, 141 f.). BVerfGE 66, 116 (138). 41 Entsprechend dem rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip, das vom grundsätzlichen Vorrang der individuellen Freiheit gegenüber der freiheitsbegrenzenden Durchsetzung öffentlicher Interessen ausgeht, vgl. Josef Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 26, Rn. 103; Ralf Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 123 f. 42 Alexy (Fn. 13), S. 17, 521. 43 Alexy, (Fn. 13), S. 18. 44 Kahl (Fn. 13) , § 24, Rn. 27. Kritik: Enders (Fn. 13), S. 302 ff.; Walter Leisner, Der Abwägungsstaat, 1997, S. 96 ff., 152 ff.; Jestaedt (Fn. 19) , S. 222 ff., insbes. S. 229 ff. Jetzt auch allgemein Ralf Poscher, Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, Rechtswissenschaft 1 (2010), S. 349 – 372. 45 Alexy (Fn. 13), S. 79 ff., insbes. S. 84 zum „Kollisionsgesetz“. 46 Alexy (Fn. 13), S. 143 ff. zum „Abwägungsgesetz“. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist nach Alexy mit dem Abwägungsgesetz identisch, aaO, S. 149 in Fn. 222, 317. 40

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chung, deren Auflösung das Abwägungsergebnis hervorbringen müsste, stehen sich Ausdrücke mit gleich vielen Unbekannten gegenüber. Jeweils hängt der Grad der Erfüllung (d. h. Durchsetzung) des Prinzips von seiner Wichtigkeit im konkreten Fall ab.47 Für eine Bestimmung der Wichtigkeit im Verhältnis der kollidierenden Prinzipien zueinander fehlt es aber an einem verbindlichen Kriterium,48 zumal der Wortlaut der Verfassung seinerseits nur prinzipiellen Vorrang, keine absolute Verbindlichkeit beanspruchen kann und gegebenenfalls den besseren Gründen weichen muss.49 Die für die grundrechtliche Bewältigung der Kollisionslage unumgängliche Wertungsentscheidung bedient sich darum zwangsläufig grundrechts-, ja verfassungsexterner Argumente.50 Diese werden zwar tunlichst Verfassungsnähe signalisieren (indem sie auf Würde, Freiheit, Gleichheit des Menschen, überhaupt Verfassungsprinzipien abheben), entstammen im übrigen aber dem Argumentationsarsenal des allgemeinen moralisch-praktischen Diskurses, ohne auf eine spezifische, durch Auslegungsmethoden gesicherte Zuordnung zur Verfassung verweisen zu können.51 Die Abwägung orientiert sich so letztlich an den Vorrangregeln einer mutmaßlich – nach dem subjektiven Dafürhalten des Verfassungsinterpreten – von der Verfassung vorausgesetzten oder gebilligten, in Wahrheit jedoch nicht rechtsnormativ (i.S. von Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) verbürgten, „herrschenden“ Moral.

III. Schrankenbestimmung im Lichte des grundrechtlichen Freiheitsprinzips 1. Die Schrankenbestimmung bei vorbehaltlosen Grundrechten Dabei ist eine auf das Freiheitsprinzip der Grundrechte theoretisch bezogene Schrankenlehre durchaus denkbar. Sie argumentiert nicht von den außerhalb der zu beschränkenden Freiheitsgewährleistung angesiedelten, garantieexternen Normbefehlen der Verfassung her. Sie geht, wie es die Vorbehaltlosigkeit der Gewährleis47 Plastisch BVerfGE 83, 130 (146 f.). Demgegenüber heißt es bei Alexy (Fn. 13), S. 146: „Nach dem Abwägungsgesetz hängt das zulässige Maß der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips vom Wichtigkeitsgrad des anderen ab“; ebenso S. 149. 48 Vgl. Alexy (Fn. 13), S. 149 f. 49 Alexy (Fn. 13), S. 121 f. (zum Beispiel des Apothekenurteils, BVerfGE 7, 377 [401]), 156 f., 503 f. Dagegen Jestaedt (Fn. 19), S. 150 ff., 234 f.; Lenz (Fn. 13), S. 211 f.; Kahl (Fn. 13), Rn. 5. 50 „Welche Lösung nach einer Abwägung für richtig gehalten wird, hängt von Wertungen ab, die durch das Verfahren der Abwägung selbst nicht kontrollierbar sind“, Alexy (Fn. 13), S. 494. 51 Alexy (Fn. 13), S. 152, 154, insbes. S. 494 f., 520 f.; bereits S. 19: „Öffnung des Rechtssystems gegenüber dem System der Moral“. Kritisch vermerkt auch von Jestaedt (Fn. 19), S. 237 f. Anders, nämlich nicht unmittelbar rechtlich-dogmatisch gemeint, versteht sich Hasso Hofmanns zutreffende Beobachtung, die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit bis hin zum Postulat sozialer Gerechtigkeit bildeten den „Verfassungshumus“ der bundesrepublikanischen Gesellschaftsordnung, Recht, Politik und Religion, in: ders., Recht und Kultur, Drei Reden, 2009, S. 65, 73.

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tungen nahelegt, von Sinn und Zweck der Freiheitsgewährleistungen selbst aus und fragt nach dem Grund ihrer Vorbehaltlosigkeit. Ihren Grund findet die Vorbehaltlosigkeit der Grundrechtsgewährleistungen ersichtlich in der Notwendigkeit eines verstärkten Schutzes. Die Notwendigkeit verstärkten Schutzes wiederum folgt aus der besonderen Bedeutung dieser Freiheiten und ihrer unreglementierten Betätigung – auch für das freiheitlich-demokratische Gemeinwesen: Denn die vorbehaltlos gewährleisteten Freiheiten sind ganz überwiegend Ausprägungen der Geistesfreiheit, deren Eigenart sie nicht nur als das Kernelement lebendiger rechtsstaatlich-demokratischer Freiheit überhaupt ausweist,52 sondern sie zugleich als besonders gefährdet erscheinen lässt. Ist eine geistige Aussage – gleichgültig, ob auf religiös-weltanschaulichem, politisch-moralischem, künstlerischem oder wissenschaftlichem Gebiet – einmal in der Welt, kommt ihr, infolge der im Einzelnen weder nachweisbaren noch kontrollierbaren geistigen Wirkungen, ein latentes Störpotential zu, mit dem sie gewohnte Positionen und Abläufe verunsichern, am Ende womöglich die staatliche Ordnung in ihrer Funktionstüchtigkeit beeinträchtigen kann. Entsprechend groß ist die umgekehrte Neigung, potentiell störende geistige Aussagen gezielt zu unterdrücken, um nachteilige Wirkungen im Keim zu ersticken. Gegen solche Absichten wendet sich die – wie die anderen Grundrechte auch zunächst der Abwehr staatlicher Eingriffe dienende53 – grundrechtliche Gewährleistung geistiger Freiheit, gerade in ihrer Vorbehaltlosigkeit: Die für jedermann geltenden gesetzlichen Schranken der allgemeinen Rechtsordnung stehen zwar auch mit Rücksicht auf besondere Beweggründe von ideeller (innerer) Verbindlichkeit, d. h. auf religiös-weltanschauliche, künstlerische, wissenschaftliche Motive keineswegs zur Disposition. Jedoch sind gezielte staatliche Eingriffe in die geistige Freiheit und die Freiheit geistigen Wirkens, darauf gerichtete Verbote, Vereinnahmung, Reglementierung von hoher Hand absolut unzulässig.54 Für die Freiheit der Wissenschaft 52 BVerfGE 5, 85 (205): Der Einzelne „soll … in möglichst weitem Umfange verantwortlich auch an den Entscheidungen für die Gesamtheit mitwirken. Der Staat hat ihm dazu den Weg zu öffnen; das geschieht in erster Linie dadurch, dass der geistige Kampf, die Auseinandersetzung der Ideen frei ist, dass mit anderen Worten geistige Freiheit gewährleistet wird. Die Geistesfreiheit ist für das System der freiheitlichen Demokratie entscheidend wichtig, sie ist geradezu eine Voraussetzung für das Funktionieren dieser Ordnung; sie bewahrt es insbesondere vor Erstarrung und zeigt die Fülle der Lösungsmöglichkeiten für die Sachprobleme auf“; vgl. BVerfGE 7, 198 (208). 53 Vgl. Poscher (Fn. 41), S. 42 ff., 161. 54 Zur Gewissensfreiheit BVerfGE 12, 45 (56); dabei steht der Entpflichtungsanspruch aus dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Fall echter „Erlaubnistoleranz“ (zu diesem Begriff Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, 2003, S. 42), vgl. BVerfGE 28, 243 (263), unter besonderen Voraussetzungen, Christoph Enders, Toleranz als Rechtsprinzip? Überlegungen zu den verfassungsrechtlichen Maßgaben anhand höchstrichterlicher Entscheidungen, in: Christoph Enders/Michael Kahlo (Hrsg.), Toleranz als Ordnungsprinzip?, 2007, S. 243 (257 ff.). Zur Glaubensfreiheit Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG, BVerfGE 33, 23 (29, 30), 102, 370 (386), 108, 282 (299 f.); zur Wissenschaftsfreiheit BVerfGE 5, 85 (145); 35, 79 (112 f.); 90, 1 (12); zur Kunstfreiheit BVerfGE 30, 173 (190), 75, 369 (377), 81, 278 (291), 83, 130 (139). Privilegiert geschützt ist durch die Reduktion der Einschränkungsmöglichkeiten auch die Meinungsfreiheit

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etwa bedeutet das, dass vor allem die „Freiheit der Fragestellung“ (Rainer Wahl)55 keinerlei Einschränkungen duldet, aber auch die wissenschaftliche Methodik, mit der die Antworten erarbeitet werden sollen, und die Bewertung der Ergebnisse frei von staatlicher Ingerenz bleiben müssen und ausschließlich der Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft überantwortet sind.56 Eine Schrankenziehung wie sie etwa im Tierschutzgesetz,57 im Embryonenschutzgesetz58 oder im Stammzell-Gesetz59 stattgefunden hat, schließt das nicht von vornherein aus. Denn der unlimitierte und insoweit privilegierte Zugriff auf eigenständig in der Rechtsordnung anerkannte Schutzgüter ist von der so verstandenen Schrankenfreiheit der Wissenschaft gerade nicht umfasst. Es sind aber die Verbotsgründe auf ihre Vereinbarkeit mit der Wissenschaftsfreiheit zu befragen. Sie dürfen nicht in eine inhaltliche Bewertung der wissenschaftlichen Arbeit münden.60 2. Die Übertragung von Schrankenregelungen auf vorbehaltlose Grundrechte Die Möglichkeit einer derart grundrechtsspezifischen – und dadurch auf das grundrechtliche Freiheitsprinzip bezogenen – Schrankenbegründung auch bei vorbehaltlosen Freiheitsgarantien liegt jenseits des Horizonts des herrschenden grundrechtsdogmatischen Modells, das die Freiheitsschranken mit Blick auf die Vorbehaltlosigkeit der Gewährleistungen zwar verfassungsimmanent („Einheit der VerfasBVerfGE 90, 241 (247). Die vorbehaltlos gewährleistete Freiheit, sich in geschlossenen Räumen zu versammeln, Art. 8 Abs. 1 GG, gehört jedenfalls mittelbar in diesen Zusammenhang. Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG läuft demgemäß für vorbehaltlose Gewährleistungen leer, weil Einschränkungen im Sinne des Art. 19 Abs. 1 GG von vornherein untersagt sind. Der Wesensgehalt des Grundrechts findet seinen Schutz im absoluten Verbot gezielter Eingriffe, vgl. Enders (Fn. 13), S. 481; anders die h.M., vgl. Lenz (Fn. 13), S. 69 m.w.N. 55 Rainer Wahl, Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, Freiburger Universitätsblätter H. 95 (1987), S. 19, 33; verallgemeinernd Bodo Pieroth/Bernhard Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 26. Aufl. 2010, Rn. 666, 668; 676. Zum besonderen Problem der Schranken der Glaubens- und Religionsfreiheit, Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG, ebenda Rn. 576 f., ferner Stefan Muckel, in: Karl Heinrich Friauf/Wolfgang Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 4, Rn. 5, 52 (April 2009); Friedrich Schoch, Die Grundrechtsdogmatik vor den Herausforderungen einer multikonfessionellen Gesellschaft, in: Joachim Bohnert u. a. (Hrsg.), Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, 2001, S. 149. 56 Dagegen etwa Michael Fehling, in: Rudolf Dolzer u. a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. 3, Rn. 147, 166 (2004). 57 Tierschutzgesetz v. 18. 5. 2006, BGBl. I S. 1206, 1313 (m. späteren Änderungen). 58 Embryonenschutzgesetz v. 13. 12. 1990, BGBl. I S. 2746 (m. späteren Änderungen). 59 Stammzellgesetz v. 28. 6. 2006, BGBl. I S. 2277 (m. späteren Änderungen). 60 Zu Tierversuchen und der Beschränkung durch das Tierschutzgesetz , vgl. BVerfG NVwZ 1994, S. 894; Robert Lange, Wissenschaft zwischen Verfassungsgarantie und Staatszielbestimmung, KritV 2004, S. 171 (175 f.); Friedhelm Hufen, Staatsrecht II – Grundrechte, 2. Aufl. 2009, § 34, Rn. 46. Anders Matthias Ruffert, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, in: VVDStRL 65 (2006), S. 146, 206 ff.

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sung“), gleichzeitig jedoch grundrechtsextern bestimmen und durch Abwägung konkretisieren will. Die Grundrechtsdogmatik der verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken erklärt also die freiheits- und damit grundrechtsunspezifische Schrankenbestimmung zum Programm. Das bleibt nicht ohne Folgen. Denn der zutreffende Ausgangspunkt der Mephisto-Entscheidung, dass die anderweit zugeordneten Schrankenklauseln nicht systemwidrig auf vorbehaltlose Gewährleistungen übertragen werden dürften, hat keinen am Freiheitsprinzip orientierten Rückhalt in der Grundrechtstheorie. Unter den Sachzwängen fallorientierter Entscheidungspraxis erscheint er, wie überhaupt das Argument einer textlich fixierten und begrenzten Normativität der Verfassung von nachrangiger Bedeutung:61 Die Begründung von Freiheitsschranken bedarf plausibler verfassungsimmanenter Anhaltspunkte. Warum sollten diese Anhaltspunkte am Ende nicht aus anderen (grundrechtsexternen) Schrankenregelungen gewonnen werden, mit denen der Grundgesetzgeber immerhin eine gewisse Wertschätzung der schrankenförmig normierten Schutzgüter zum Ausdruck gebracht hat? So hat das Bundesverfassungsgericht ohne Bedenken die Schranke des Jugendschutzes, die systematisch ausschließlich den Kommunikationsfreiheiten nach Art. 5 Abs. 1 GG zugeordnet ist (Art. 5 Abs. 2 GG), auch auf die vorbehaltlose Freiheit der Kunst (Art. 5 Abs. 3 GG) angewendet.62 Es propagiert eine hoheitliche Bewertung des Kunstwerks nach Maßgabe der Schädlichkeit seiner geistigen Wirkung, die es offenbar im umgekehrten Verhältnis zur zunehmenden künstlerischen Qualität schwinden sieht. Der (potentiell jugendgefährdenden) Kunst soll nämlich umso eher der Vorrang gebühren, „je mehr die den Jugendlichen gefährdenden Darstellungen künstlerisch gestaltet … sind“.63 Der Grundgesetzgeber wollte solches Kunstrichtertum gerade vermeiden. Nicht anders ist das Gericht in der Sache mit der Schranke des Ehrenschutzes verfahren. Sie soll offenkundig – ohne dass dies ausdrücklich eingeräumt würde – wie für Meinungs- und Pressefreiheit auch für die Freiheit der Kunst gelten. Zur Begründung mag man auf die Gewährleistung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verweisen, aus der sich auf dem Boden der herrschenden (grundrechtsunspezifischen) Schrankenlehre der verfassungsrechtliche, allgemein freiheitsbeschränkende Rang des Ehrenschutzes ableiten lässt. Die grundrechtsspezifische Perspektive führt zu einem anderen Ergebnis: Dass der Grundgesetzgeber die Schranke des Ehrenschutzes systematisch ausschließlich den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG, insbes. der Meinungs- und Pressefreiheit, zugeordnet, die Freiheit der Kunst demgegenüber ohne jeden Vorbehalt gewährleistet hat, zeigt, dass er diese spezielle Kommunikationsfreiheit (ebenso wie die Freiheit der Wissenschaft) von der „üblichen“ Abwägung mit Belangen der Ehre hat freigestellt wissen wollen. Die künstlerische Darstellung der Eigenschaften von Romangestalten und intimer Bege61 62 63

Vgl. oben in Fn. 49. BVerfGE 83, 130 (139 f.). BVerfGE 83, 130 (147 f.); vgl. BVerwGE 91, 111.

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benheiten aus ihrem Leben wird sonst – wenn in den „Abbildern“ der Romangestalten die realen Urbilder zu erkennen sind64 – am selben rechtlichen Maßstab gemessen, wie er für Tatsachenbehauptungen im gesellschaftlichen Diskurs gilt. Unter dem Einfluss der Lehre von den (grundrechtsunspezifischen) verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken wandelt sich dann aber die Freiheit der Kunst zur bloßen Meinungsfreiheit der Kunstschaffenden.65 Die Freiheitsgewährleistung in ihrer spezifischen Vorbehaltlosigkeit wird offenkundig überflüssig.66

3. Die Übertragung verfassungsimmanenter Schranken auf Grundrechte mit (qualifiziertem) Vorbehalt Geht man statt dessen vom Sinn und Zweck vorbehaltloser Grundrechtsgewährleistungen aus, die gezielte staatliche Eingriffe67 vor allem in die Freiheit des Geistes absolut verbieten,68 dann schließt diese spezifische rechtliche Ausformung des Freiheitsprinzips eine Übertragung oder sonst entsprechende Anwendung der Schrankenregelungen aus anderen Grundrechten a limine aus. Der Umstand, dass die Verfassung die begrenzenden Schutzgüter irgendwo an anderer Stelle anerkennt, rechtfertigt nicht eine Relativierung der Vorbehaltlosigkeit der Gewährleistung, die regelmäßig deren Regelungsziel unterliefe. Dann verbietet sich aber auch umgekehrt, die Lehre von den verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken auf Grundrechte anzuwenden, die ausdrücklich unter (qualifiziertem) Gesetzesvorbehalt stehen.69 Denn dadurch wird die Menge der schrankensetzenden Rechtsgüter entgegen der bewussten Entscheidung des Verfassungsgebers ohne Rückbindung an die zu beschränkende Freiheit (Art. 1 Abs. 3 GG) vermehrt.70 Eine solche dogmatische Konstruktion, wie sie erstmals die Bild-Wallraff-Entscheidung bemüht hat,71 erweist sich aber bei näherem Hinsehen auch als überflüssig. Weil die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit eines Presseorgans (Bildzeitung) gegen 64

BVerfGE 119, 1 (28 f.); vgl. bereits BVerfGE 30, 173. Über die dargestellten „Abbilder“ darf die Kunst aus Respekt vor den realen „Urbildern“ nur mehr „wahre“ Tatsachen mitteilen, auch dies aber nur, wenn die Tatsachen nicht dem Privatund Intimbereich entstammen, vgl. BVerfGE 97, 391 (403 f.); 99, 185 (196 f.). 66 Kritik: Christoph Enders (Entscheidungsanmerkung), JZ 2008, S. 581; Benjamin Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, 2009, S. 238 ff.; Mareike Riedel, Die Vermutung des Künstlerischen, 2011. 67 Auch: zivilprozessuale Eingriffe, insbes. Unterlassungsgebote, BVerfGE 7, 198; 30, 173; 119, 1. 68 Vgl. Enders(Fn. 13), S. 479 ff.; im Ansatz ähnlich mit teils abweichenden Folgerungen Lenz (Fn. 13), S. 231 ff. 69 So aber BVerfGE 66, 116 (136); 111, 147 (157). In der Sache auch BVerfGE 124, 300 (327 f.): Eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts sei der Gewährleistung des Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 GG für Bestimmungen, die die propagandistische Gutheißung des NS-Regimes begrenzen, „immanent“. 70 Herbert Bethge, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 5, Rn. 176 f. 71 BVerfGE 66, 116. 65

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den investigativen Angriff Unbefugter (Wallraff) in Schutz genommen werden sollte, die Zivilgerichte indessen das darauf sich richtende Unterlassungsbegehren des Presseunternehmens abgewiesen hatten,72 trat das Grundrecht der Pressefreiheit in seiner drittgerichteten Schutzfunktion in Aktion. Für die obligatorische Abwägung zwischen dem Schutzinteresse des Presseunternehmens auf der einen, dem durch die Meinungs- und Pressefreiheit gewährleisteten Entfaltungsinteresse an der Verbreitung der vertraulichen Informationen auf der anderen Seite schien indessen das Gesetzesrecht keine Anhaltspunkte zu bieten. Der gesetzlichen Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Vertraulichkeitsschutzes durch positive Anspruchsnormen (§§ 823 Abs. 1, 826, 1004 BGB) vermochte das Bundesverfassungsgericht keine den Schutzanspruch begrenzenden allgemeinen Gesetze zuzuordnen, die sich für das gegenläufige, gleichfalls grundrechtsgeschützte Interesse an der Verbreitung der vertraulichen Informationen hätten anführen lassen. Als Begrenzungsnormen kamen – so sah es das Bundesverfassungsgericht – nur unmittelbar in der Verfassung normierte Handlungsrechte in Betracht: das Recht (Dritter) eine Meinung frei zu äußern und die Pressefreiheit als Recht, Meinungsäußerungen zu publizieren (Art. 5 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 GG).73 Heute ist diese Konstellation einer unterobligatorischen Schutzgewährung durch die Fachgerichte längst vertraut.74 Die ihr zugrunde liegende Interessenkollision wird, ausgehend von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte, regelmäßig ohne Rückgriff auf verfassungsimmanente Grundrechtsschranken einer verfassungsrechtlichen Lösung zugeführt. Denn die einschlägigen Zivilrechtsnormen fundieren nicht nur den positiven Anspruch auf Verteidigung einer (grund)rechtlich anerkannten Verfügungssphäre (meist: des allgemeinen Persönlichkeitsrechts) in der Drittrichtung.75 Als rechtlich nicht absolut, sondern stets nur durch Gegenrechte begrenzt gewährte Abwehr- und Unterlassungsansprüche limitieren sie ihn zugleich. Abwehrund Zugriffsrecht bilden also, allgemein gesprochen, zwei Pole desselben Rechtsverhältnisses wechselseitig sich begrenzender Rechtspositionen, das – in Konflikten mit der Meinungs- und Pressefreiheit – durch die allgemeinen Gesetze, die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und das Recht der persönlichen Ehre ausgestaltet wird. Der Schutzanspruch (z. B. auf Wahrung der Vertraulichkeit) ist darum nach verfassungsrechtlichen Maßstäben verletzt, wenn das angerufene Gericht das gegenläufige Entfaltungsinteresse (z. B. der Informationsbeschaffung und -verbreitung) in Verkennung seiner verfassungsmäßigen Schranken (aus Art. 5 Abs. 2 GG)

72

BVerfGE 66, 116 (131). BVerfGE 66, 116 (136). 74 Etwa BVerfGE 99, 185 (194 f.); insbes. 114, 339 (346 f.). Sie setzt voraus, dass man die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte anerkennt und – in ihrem Rahmen – die staatliche Schutzpflicht für subjektiv einklagbar hält, hierzu kritisch Johannes Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, 1993, S. 204 ff., 212, 244 f. 75 Alexy (Fn. 13), S. 176 f. spricht von „Rechte(n) auf die Nichtbeeinträchtigung von Eigenschaften und Situationen“. 73

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im Verhältnis zum Schutzanspruch überdehnt,76 insbes. bei der einfachgesetzlich gebotenen Güter- und Interessenabwägung die verfassungsrechtlichen Kriterien des Ausgleichs verfehlt.77 Des Rückgriffs auf eine grundrechtsunspezifische Schrankenklausel bedarf es auch hier nicht. IV. Freiheit und Staatsraison Den steten Rückbezug auf das grundrechtliche Freiheitsprinzip, damit den spezifischen Grundrechtsschutz als Ziel der Grundrechtsauslegung und –anwendung gerade bei der Begrenzung der Freiheit im Auge zu behalten, liegt noch aus einem anderen Grunde nicht nur im Interesse grundrechtstheoretisch fundierter und systematisch betriebener Dogmatik, sondern erweist sich als unabdingbares Erfordernis politisch lebendiger Freiheitskultur: Sehr leicht wird sonst der Freiheitsgedanke zum Opfer der Staatsraison. Selbstverständlich, so hatte Rudolf Smend in seinem Staatsrechtslehrervortrag im Jahre 1927 mit Überzeugung und zur Erläuterung seines materiellen Begriffs des „allgemeinen Gesetzes“ (Art. 118 WRV) formuliert, sei ein Gesetz, das Kritik an der Regierung verbiete, kein „allgemeines Gesetz“ und ein solches Kritik-Verbot daher verfassungswidrig.78 Denn das verständliche Interesse einer Regierung, möglichst unkritisiert zu regieren, kann keinen Vorrang vor der Freiheit der Meinungsäußerung (oder jeder anderen Äußerung eines geistigen Standpunkts) beanspruchen, soll deren Freiheitsprinzip nicht im Kern getroffen und entwertet werden. Das Bundesverfassungsgericht hat den Schutz staatlicher Institutionen und ihrer Akzeptanz freilich immer schon als berechtigtes, auch gegenüber der Meinungsund Kunstfreiheit zu wahrendes Interesse anerkannt. So hat es Strafgesetze, die ihm dienen (§§ 185, 194 Abs. 3 Satz 2 StGB), obwohl sie Äußerungen allein um ihrer geistigen Wirkung willen sanktionieren, als allgemeine und grundsätzlich mit der Meinungsfreiheit verträgliche Gesetze qualifiziert: „Ohne ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz vermögen staatliche Einrichtungen ihre Funktion nicht zu erfüllen“.79 Sie dürfen also auch vor rein geistigen Angriffen (durch Meinungsäußerungen oder seitens der Kunst) geschützt werden, die diese Voraussetzungen zu un76 Insbes. BVerfGE 114, 339 (347: „Die dem Beschwerdeführer nachteilige Äußerung des Beklagten ist nicht durch das Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt“). 77 Vgl. für das Zivilrecht BGH NJW 1997, S. 2513; Heinz Thomas, in: Otto Palandt, BGB, 70 Aufl. 2011, § 823, Rn. 95 ff. Für das Strafrecht die Nachweise bei Karl Lackner/Kristian Kühl, Strafgesetzbuch , 27. Aufl. 2010, § 201, Rn. 13, § 201a Rn. 9, § 203, Rn. 25; teils existieren spezielle Regelungen: § 193 StGB, § 201 Abs. 2 Satz 3 StGB. 78 Rudolf Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: VVDStRL 4 (1928), S. 44, 53. 79 BVerfGE 93, 266 (291) – Soldaten sind Mörder, zur Meinungsfreiheit. Die Entscheidung verweist auf BVerfGE 81, 278 (292 f.) zur Kunstfreiheit, durch deren Betätigung (etwa: künstlerische Verunglimpfung der Bundesflagge, Art. 22 Abs. 2 GG) nach Auffassung des Gerichts das Funktionieren der staatlichen Ordnung gefährdet werden kann.

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tergraben drohen. Intellektelle Unbotmäßigkeit kann keinen Anspruch auf verfassungsrechtliche Anerkennung mehr erheben, wenn die Respektlosigkeit – ungeachtet ihrer reellen Wirkungschance – einen (nicht näher ausgewiesenen) Intensitätsgrad überschreitet, der sie als schädlich erscheinen lässt. Offenkundig gehört diese Argumentation, mit der die Staatsraison als verfassungsimmanente Grundrechtsschranke etabliert wird, seit Anbeginn zum festen Bestand des grundrechtsdogmatischen Instrumentariums der Freiheitsbegrenzung unter dem Grundgesetz. Bereits die Elfes-Entscheidung hat, so sorgsam sie – insoweit dem Freiheitsprinzip verpflichtet – um eine funktionsadäquate Auslegung der Grundrechte der Freizügigkeit einerseits und der Persönlichkeitsentfaltung andererseits und um deren Abgrenzung voneinander bemüht war, mit der Meinungsfreiheit kurzen Prozess gemacht: Sei das Recht zur Ausreise „zum Schutze eines übergeordneten Rechtsguts“ – im zu entscheidenden Fall zum Schutz erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland – beschränkt, dann könne sich der Adressat der Beschränkung „nicht auf Art. 5 GG berufen, nur um seine Meinung auch im Ausland kundzutun“.80 Aber diese Darstellung verzeichnet das Verhältnis von Eingriffszweck und Nebenfolgen des Eingriffsmittels und leugnet die Problematik des Elfes-Falles.81 Zwar mag die Ausreisefreiheit als solche durch das im Sinne der allgemeinen Handlungsfreiheit interpretierte Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit geschützt sein. Die Gewährleistung der Meinungsfreiheit garantiert nicht das Recht, seine Meinung an jedem beliebigen Ort kundzutun. Dem Beschwerdeführer Elfes, der am Kongress der Völker für den Frieden in Wien (12.–19. Dezember 1952) teilgenommen und dort die gegenüber der Politik der Bundesrepublik kritische „Gesamtdeutsche Erklärung“ unterzeichnet hatte,82 war indessen der Pass und damit die Ausreise verweigert 80

BVerfGE 6, 32 (44) – Elfes. Vgl. BVerwGE 3, 171. 82 In dieser Erklärung hieß es (zitiert nach BVerwGE 3, 171 [177]):„Immer deutlicher zeigt es sich, dass Bonn die Verfassung und die demokratischen Grundrechte missachtet, um dem Willen Washingtons nach Aufstellung einer deutschen Armee beschleunigt nachzukommen. Die Völker Westeuropas wissen jedoch aus eigener schmerzlicher Erfahrung, dass schon einmal die Vernichtung der demokratischen Freiheit Deutschlands der Auftakt zur Vernichtung der Freiheit in ganz Europa war. Mögen die Völker die große Gefahr erkennen, die zwangsläufig aus der Politik der Gewalt und Kriegsvorbereitung erwächst. Die Wiederbelebung des deutschen Militarismus bedroht nicht nur Osteuropa, sondern auch die Völker Westeuropas“. Das Bundesverwaltungsgericht hatte die Passversagung mit der Erwägung gebilligt, dass die Verlesung der Erklärung durch Elfes ein Missbrauch seiner Freiheit gewesen sei und die freiheitliche Entwicklung in der Bundesrepublik gefährdet habe. „Indem der Kläger diese Erklärung unterschrieben und auf dem Kongreß in Wien verlesen hat, hat er sich diese Propaganda (scil.: der SED-Funktionäre gegen die Bundesrepublik) zu eigen gemacht. Die Erklärung musste bei den unbeteiligten Teilnehmern des Kongresses, der nach den Angaben des Klägers aus mehr als 80 Staaten beschickt wurde, den Eindruck erwecken, als ob die Bundesrepublik den Krieg vorbereite, die freiheitlichen Rechte der Bürger vernichte und so eine Gefahr für den Frieden der Völker sei. Mit dieser Erklärung hat der Kläger die Bundesrepublik verleumdet und das internationale Vertrauen untergraben, an dessen Herstellung und Förderung die Bundesregierung und die parlamentarische Opposition gemeinsam arbeiten“, BVerwGE 3, 171 (178). Zum Ganzen auch Gernot Biehler, Auswärtige Gewalt, 2005, S. 194 ff. 81

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worden, um eine weitere Verleumdung des Ansehens der Bundesrepublik im Ausland zu verhindern. Das eigentliche Eingriffsziel der Passversagung war also die Unterdrückung von Meinungsäußerungen (im Ausland) und es hätte die Frage gestellt und beantwortet werden müssen, ob die einschlägigen Ermächtigungsnormen als „allgemeine Gesetze“ (nach Art. 5 Abs. 2 GG) den Eingriff in die Meinungsfreiheit tragen konnten. Diese Frage hätte ernsthaft kaum bejaht werden können: Ein Ausreiseverbot, das Kritik an der Regierungspolitik unterbinden und den guten Ruf des Heimatstaates gegen anstößige Bezichtigungen in Schutz nehmen will, ist alles andere als meinungsneutral.83 Mit ihm wird letztlich die Staatsraison zur verfassungsimmanenten Grundrechtsschranke deklariert und über das Prinzip der Freiheit geistiger Äußerung gestellt, wie es u. a. durch die Garantie der Meinungsfreiheit verbürgt wird, Art. 5 Abs. 1 GG.84 Die Staatsraison, nicht das Prinzip geistiger Freiheit, bildet schließlich auch die Quelle, aus der die Grundsätze fließen, die die Wunsiedel-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts normativ leiten. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung das strafrechtliche Verbot der Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft nach § 130 Abs. 4 StGB ohne verfassungskonform einschränkende Maßgaben (etwa: eines tatbestandsergänzenden Militanzerfordernisses) in der weiten Auslegung durch das Bundesverwaltungsgericht85 als ausnahmsweise zulässiges Sonderrecht gegen Meinungsinhalte gebilligt.86 Aus dem seinem Wortlaut nach konkreten Erfolgsdelikt, das eine Störung des öffentlichen Friedens verlangt, wird unter der Hand ein abstraktes Gefährdungsdelikt, das die Verbreitung national-sozialistischen Gedankenguts wegen seiner regelmäßig schädlichen Wirkung untersagt.87 Ohne weitere Begleitumstände „friedensstörend“ kann die an sich rein geistige Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts freilich überhaupt nur wirken, weil das Bundesverfassungsgericht in der demonstrativen Abkehr von der Gewalt- und Willkürherrschaft des NS-Regimes den identitätsstiftenden Kern bundesrepublikanischen Selbstverständnisses erkennt. Dieses Selbstverständnis prägt aber nicht allein die herrschende Sozialmoral, es ist im Zeichen der offiziellen Staatsraison als ungenanntes Verfassungsgut geschützt. Darum überschreitet der öffentliche Angriff auf die identitätsstiftende Abgrenzung zur Vergangenheit die verfassungsrechtlich anerkannte 83

Vgl. Pieroth/Schlink (Fn. 55), Rn. 638; BVerfGE 124, 300 (322, 324). Zutreffend zum umgekehrten – aber vergleichbaren – Fall eines Einreiseverbots BVerfG DÖV 2007, S. 202, 204 – Einreise des Gründers der „Vereinigungskirche“ (Mun); Christoph Enders, in: Klaus Stern/Florian Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 1, Rn. 107. Abweichende Wertung bei Stefan Muckel, Entwicklungen im deutschen Staatskirchenrecht, in: Jörg Ennuschat u. a. (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft in Staat und Gegenwart, Gedächtnisschrift Peter J. Tettinger, 2007, S. 593, 602 ff. 85 BVerwGE 131, 216; dazu Christoph Enders, Die Freiheit der Andersdenkenden vor den Schranken des Bundesverwaltungsgerichts, JZ 2008, S. 1092. 86 BVerfGE 124, 300 = JZ 2010, S. 298 m. Anm. von Christoph Degenhart und Tatjana Hörnle, S. 306 und 310. 87 BVerfGE 124, 300 (329, 331, 336, 341). 84

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Sphäre der freien Meinungsäußerung und verstößt gegen die Verfassungsordnung88 – auch wenn er rein geistig vorgetragen wird. In der Folge kann die friedensstörende Meinungsäußerung losgelöst von ihren ausdrücklich normierten Freiheitsschranken unterdrückt und bestraft werden.89 Die besonderen verfassungsrechtlichen Kautelen (vgl. Art. 9 Abs. 2, 18, 21 Abs. 2 GG) zum Schutz der Geistesfreiheit, nach denen das Verbot eines intellektuellen Standpunkts eines besonderen Verfahrens bedarf und jedenfalls eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung voraussetzt,90 sind ohne Gewicht, wenn das Verfassungsganze auf dem Spiel steht. V. Freiheit des Geistes und Geist der Freiheit Wird das Argument der Freiheitsbeschränkung aus dem Ganzen der Verfassung geführt, geht das regelmäßig auf Kosten der theoretischen Anbindung der Grundrechtsdogmatik an das Freiheitsprinzip der Grundrechte und damit auf Kosten der individuellen Freiheit. Vielfach bleibt dabei – das zeigt besonders der Konflikt mit der verfassungsimmanenten Schranke der Staatsraison – zuerst und vor allem die Freiheit des Geistes auf der Strecke. Dieser Schlag trifft nicht einfach eine einzelne, gemessen am übergeordneten Gesamtinteresse vielleicht verzichtbare Freiheitsäußerung. Die geistige Auseinandersetzung verkümmert insgesamt. Die freiheitlich-demokratische Staatsordnung wird ihres Lebenselements beraubt,91 der Geist der Freiheit stirbt ab. Denn eine geistige Auseinandersetzung, die nur auf der von der Staatsraison eingezäunten Spielwiese des verfassungsrechtlichen Wertefundaments ausgetragen werden darf,92 verliert überhaupt ihren Reiz und ihre legitimierende Kraft. Dann gewinnen Prinzipien der Machtorganisation und -erhaltung die Oberhand, gegen deren Vorherrschaft sich das Freiheitsprinzip wendet, seit es formuliert wurde.

88

Vgl. Hufen (Fn. 60), § 30, Rn. 38. Ein Sonderrechtsregime zur Bekämpfung nationalsozialistischen Gedankenguts hat das Grundgesetz nur im Interesse des Entnazifizierungsprozesses anerkannt, Art. 139 GG. Die Vorschrift belegt entgegen der These von der Verfassungsimmanenz des anti-nationalsozialistischen Impetus die Notwendigkeit expliziter verfassungsrechtlicher Regelung zur Unterdrückung der Geistesfreiheit. Sie ist freilich mit Abschluss der Entnazifizierung obsolet geworden und entfaltet keine rechtfertigende Wirkung mehr, Gertrude Lübbe-Wolff, Zur Bedeutung des Art. 139 GG für die Auseinandersetzung mit neonazistischen Gruppen, in: NJW 1988, S. 1289; Michael Kniesel/Ralf Poscher, Die Entwicklung des Versammlungsrechts 2000 bis 2003, NJW 2004, S. 422, 427. 90 BVerfGE 5, 85 (141). 91 BVerfGE 5, 85 (205); BVerfGE 7, 198 (208). 92 Dies befürwortet Uwe Volkmann, Die Geistesfreiheit und der Ungeist – Der WunsiedelBeschluss des BVerfG, NJW 2010, S. 417, 420. 89

Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Pflichtteilsrechts Kritische Überlegungen zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts v. 19. 4. 2005 (BVerfGE 112, 332) Von Rainer Frank, Freiburg I. Zur Ausgangslage Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG gewährleistet „das Erbrecht“. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG). Schon früh hat das BVerfG klargestellt, dass Art. 14 Abs. 1 GG die Testierfreiheit als bestimmendes Element der Erbrechtsgarantie schützt.1 Was das Pflichtteilsrecht naher Angehöriger (§§ 2303 ff. BGB) anbelangt, so begnügte sich das BVerfG lange Zeit mit der Feststellung, dieses verletze nicht den Wesensgehalt der Testierfreiheit (Art. 19 Abs. 2 GG), sondern stelle eine vom Verfassungsgeber vorgegebene immanente Schranke des Erbrechts im Sinne von Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG dar.2 Zur Frage, ob das Pflichtteilsrecht ebenso wie die Testierfreiheit verfassungsrechtlich gewährleistet ist und wie gegebenenfalls das Spannungsverhältnis zwischen Testierfreiheit und Pflichtteilsrecht aufzulösen ist, hat das BVerfG erstmals in der Entscheidung BVerfGE 112, 3323 Stellung genommen. Es hat allerdings seine Überlegungen auf das Pflichtteilsrecht von Kindern beschränkt, sich also nicht zum Pflichtteilsrecht von Ehegatten, Eltern und Kindeskindern geäußert. Der entscheidende Leitsatz lautet: „Die grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass wird durch die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet.“ Bezüglich der Pflichtteilsentziehung meint das BVerfG, es könne dem Erblasser „bei einem besonders schwerwiegenden Fehlverhalten des Kindes ihm gegenüber unzumutbar sein, eine Nachlassteilhabe dieses Kindes hinnehmen zu müssen“4. Ein derartiges Fehlverhalten könne jedoch den unbeschränkten Vorrang der Testierfreiheit nur dann rechtfertigen, „wenn es über die Störung des familiären Beziehungsverhältnisses deutlich hinausgeht, die üblicherweise vorliegt, wenn der Erb1

BVerfGE 67, 329, 341. BVerfGE 67, 329, 342; 91, 346, 360; NJW 2001, 141. 3 Zugleich NJW 2005, 1561 und FamRZ 2005 m. Anm. Kleensang ZEV 2005, 277, Lange ZErb 2005, 205, Stüber NJW 2005, 2122, J. Mayer FamRZ 2005, 1441, Otte JZ 2005, 1007. 4 BVerfGE 112, 332, 355. 2

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lasser seine Kinder von der Erbfolge durch letztwillige Verfügung ausschließt“5. Eine „allgemeine Zerrüttungs- oder Entfremdungsklausel“, wie sie in der rechtspolitischen Diskussion vorgeschlagen werde, sei außerdem schon deshalb unzulässig, weil sie nicht den Grundsätzen „der Normenklarheit, der Justiziabilität und der Rechtssicherheit“ genüge.6 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betraf zwei Verfassungsbeschwerden: Fall 1: Die Erblasserin hatte ihren älteren Sohn zum Alleinerben eingesetzt und ihrem geisteskranken jüngeren Sohn den Pflichtteil mit der Begründung entzogen, er habe sie mehrfach tätlich angegriffen und dabei ihren Tod in Kauf genommen. Kurze Zeit später erschlug der Sohn seine Mutter, zerstückelte die Leiche und versteckte Leichenteile im Wald. Der Betreuer des Sohnes klagte auf Auszahlung des Pflichtteils, weil die Pflichtteilsentziehung nach § 2333 Nr. 1 und 2 BGB a. F. wegen fehlender Schuldfähigkeit des Sohnes unwirksam sei. Das OLG gab der Klage statt; hiergegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde. Fall 2: Der Erblasser, der an einer Lungenerkrankung und an Herzrhythmusstörungen litt, hatte sich mit seinem Sohn überworfen. Dieser lehnte jeden Kontakt des Erblassers mit seinem Kind, dem Enkel des Erblassers, ab. Der Erblasser entzog daraufhin seinem Sohn den Pflichtteil u. a. mit der Begründung, dieser habe durch sein Verhalten eine gesundheitliche Schädigung des Erblassers billigend in Kauf genommen (§ 2333 Nr. 2 BGB a. F.). Nach dem Tod des Erblassers machte der Sohn einen Pflichtteilsanspruch gegen die Ehefrau des Erblassers geltend, die testamentarisch als alleinige Vorerbin eingesetzt worden war. Der Sohn obsiegte vor den Zivilgerichten, wogegen sich die Verfassungsbeschwerde der Ehefrau richtet. II. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Pflichtteilsrechts 1. Entscheidungsrelevanz der Frage Das BVerfG nahm die beiden Fälle zum Anlass, um nach einer eingehenden Prüfung von Art. 14 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG zu dem Ergebnis zu gelangen, dass eine grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass durch die Verfassung gewährleistet werde. Die Höhe des Pflichtteils sei allerdings „nicht verfassungsrechtlich strikt vorgegeben.“ Es müsse lediglich eine „angemessene“ Teilhabe der Kinder am Nachlass des Erblassers sichergestellt werden, was nach der Regelung des BGB der Fall sei.7 5 6 7

BVerfGE 112, 332, 355. BVerfGE 112, 332, 356. BVerfGE 112, 332, 355.

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Man kann schon daran zweifeln, ob es überhaupt notwendig war, zur verfassungsrechtlichen Garantie des Pflichtteilsrechts Stellung zu nehmen. Zutreffend meint J. Mayer, dass das BVerfG in seinem Beschluss „weit über das hinausgeht, was aufgrund der beiden Anlassfälle eigentlich zu entscheiden gewesen wäre.“8 Was den makaberen ersten Fall anbelangt, so gelangt das BVerfG entgegen der bislang herrschenden Ansicht zu dem Ergebnis, dass „der Pflichtteilsentziehungsgrund des § 2333 Nr. 1 BGB a.F. durchaus in dem Sinne ausgelegt und angewendet werden (kann), dass es auf ein Verschulden des Klägers im strafrechtlichen Sinne nicht ankommt.“9 Es genüge, wenn ein psychisch Kranker mit „natürlichem“ Vorsatz handele. Gegen die Rechtmäßigkeit der Pflichtteilsentziehung bestünden somit keine Bedenken. Ob das GG das Pflichtteilsrecht garantiert oder nicht, ist für die Entscheidung ohne Belang. Der zweite Fall bot schon eher Anlass, zur verfassungsrechtlichen Garantie des Pflichtteilsrechts Stellung zu nehmen. Da es für eine Pflichtteilsentziehung nach § 2333 Nr. 2 BGB a.F. (körperliche Misshandlung) am erforderlichen Nachweis des Verschuldens fehlte, blieb nur die Frage, ob im Falle einer Zerrüttung des Vater-Kind-Verhältnisses eine Pflichtteilsentziehung möglich ist. Das BGB sieht für diesen Fall eine Pflichtteilsentziehung nicht vor. Die Frage, ob aus verfassungsrechtlichen Gründen die Einführung eines entsprechenden Pflichtteilsentziehungsgrundes geboten erscheint, hätte man durchaus mit einem klaren Nein beantworten können, ohne auf die Frage der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Pflichtteilsrechts näher einzugehen. Schließlich war vor der Entscheidung des BVerfGs von namhaften Vertretern der Lehre, auch von Verfassungsrechtlern, die Ansicht vertreten worden, das Pflichtteilsrecht werde verfassungsrechtlich nicht garantiert,10 aber keiner dieser Autoren war je auf den Gedanken gekommen, im Falle einer bloßen Zerrüttung des Eltern-Kind-Verhältnisses aus verfassungsrechtlichen Gründen die Möglichkeit einer Pflichtteilsentziehung zu fordern.

2. Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts Vor der Entscheidung des BVerfGs war die Frage, ob das Pflichtteilsrecht verfassungsrechtlich garantiert ist, umstritten. Die Befürworter11 einer verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Pflichtteilsrechts meinten, das Pflichtteilsrecht zähle als 8

FamRZ 2005, 1441. BVerfGE 112, 332, 360. 10 Wieland, in: H. Dreier, Kommentar zum GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 14 GG Rdnr. 520 f.; Soergel-Stein, 2002, Rdnr. 5, 7 f. vor § 1922; Lange/Kuchinke, Erbrecht, 5. Aufl. 2001, § IV 2c; Dauner-Lieb DNotZ 2001, 460, 463 und FF 2001, 78, 79 f. 11 BGH NJW 1990, 911, 913; BGHZ 98, 226, 233 („in einem gewissen Umfang auch unter dem Schutz der Art. 14, 6 Abs. 1 GG“), Papier, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG (2002), Art. 14 GG Rdnr. 302; Wendt, in: Sachs, Kommentar zum GG, 3. Aufl. 2002, Art. 14 GG Rdnr. 200; MünchKommBGB/Leipold, Bd. 9 (Erbrecht), 4. Aufl. 2004, Einleitung Rdnr. 30; Martiny, Gutachten zum 64. Dt. Juristentag (2002), S. A 75. 9

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Ausgleich zwischen Testierfreiheit und Verwandtenerbfolge zu den traditionellen, das BGB-Erbrecht prägenden Rechtsgrundsätzen und habe engen Bezug zur Familiensolidarität, einem Leitprinzip der Verfassung. Die Gegner12, die in der Minderheit waren, verwiesen u. a. auf den gesellschaftlichen Wandlungsprozess: „In einem Gesellschaftssystem, das maßgeblich durch das Leistungsprinzip und den Gedanken der Chancengleichheit geprägt wird, erscheint eine Einschränkung der Verfügungsfreiheit über das selbsterworbene Vermögen durch bedarfsunabhängige Teilhabeansprüche, die allein an die Biologie anknüpfen, zumindest fragwürdig. Es sei zu hoffen, dass das BVerfG nicht ohne Not seinen verfassungsrechtlichen Schutz einem System gewährt, dessen Blütezeit längst vorüber ist.“13 Für eine verfassungsrechtliche Garantie des Pflichtteilsrechts könne sich nur erwärmen, wer „weder nach den Ursachen der überkommenen Regelung fragt, noch ihre gegenwärtige Gestalt im Hinblick auf ihre soziale Bedeutung neu einschätzt.“14 Es gab vor der Entscheidung des BVerfGs sogar Autoren, welche die Auffassung vertraten, das geltende Pflichtteilsrecht sei verfassungswidrig.15 Das BVerfG argumentiert weitgehend historisch. Die Entstehungsgeschichte des BGB mache deutlich, dass die grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass zu keiner Zeit ernsthaft in Zweifel gezogen worden sei. „An diese traditionelle Ausgestaltung des Erbrechts mit der grundsätzlichen Anerkennung eines Pflichtteilrechts der Kinder hat der Grundgesetzgeber durch die Gewährleistung in Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG angeknüpft.“16 Die Regelung des BGB entspreche den Erbrechtsordnungen anderer europäischer Länder, die ebenfalls vom römischen Recht beeinflusst sind. Zitiert werden Österreich, Polen, Italien und Frankreich.17 Die schwierige Frage, ob die tradierten historischen Kernelemente des deutschen Pflichtteilsrechts von der Institutsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG erfasst sind, also Verfassungsqualität aufweisen, versucht das BVerfG mit Hilfe von Art. 6 Abs. 1 GG zu beantworten: Das Pflichtteilsrecht stehe in einem engen Sinnzusammenhang mit dem durch Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutz des Verhältnisses zwischen dem Erblasser und seinen Kindern. „Die strukturprägenden Merkmale der Nachlassteilhabe von Kindern sind Ausdruck einer Familiensolidarität, die in grundsätzlich unauflösbarer Weise zwischen dem Erblasser und seinen Kindern besteht. Art. 6 Abs. 1 GG schützt dieses Verhältnis zwischen dem Erblasser und seinen Kindern als lebenslange Gemeinschaft, innerhalb derer Eltern wie Kinder nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind, sowohl materielle als auch persönliche Verantwortung zu übernehmen. (…) Hieran anknüpfend hat das Pflichtteilsrecht die Funktion, die Fortsetzung des ideellen und wirt12 13 14 15 16 17

Vgl. Fn. 10. Dauner-Lieb FF 2001, 78 (79 f., 82). Lange/Kuchinke, Erbrecht 5. Aufl. 2001, § IV 2c. Petri ZRP 1993, 205. BVerfGE 112, 332, 351. BVerfGE 112, 332, 351 f.

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schaftlichen Zusammenhangs von Vermögen und Familie – unabhängig vom konkreten Bedarf des Kindes – über den Tod des Vermögensinhabers hinaus zu ermöglichen.“18 Folgerichtig stützt das BVerfG seine Entscheidung nicht nur auf Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG sondern auch auf Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG. 3. Kritik Die Grundthese des BVerfGs, das Pflichtteilsrecht von Kindern sei verfassungsrechtlich gewährleistet, steht in Einklang mit der herrschenden Ansicht. Nicht mehr in Einklang mit der herrschenden Ansicht stehen indessen die beiden weiteren Thesen, die Verfassung garantiere ein bedarfsunabhängiges Pflichtteilsrecht, das überdies Kindern auch im Falle zerrütteter Eltern-Kind-Beziehungen nicht entzogen werden könne. Aus rechtsvergleichender Sicht bestehen allerdings schon gegen die Ausgangsthese Bedenken, obwohl in Deutschland niemand ernsthaft daran denkt, das Pflichtteilsrecht von Kindern abzuschaffen. Das BVerfG weist zur Begründung seiner These, das Pflichtteilsrecht sei verfassungsrechtlich gewährleistet, darauf hin, dass für die Entscheidung der Ersten Kommission zur Schaffung eines Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahre 1875 maßgebend war, „dass der Gedanke einer Beschränkung (der Testierfreiheit) des Erblassers durch ein Pflichtteils- oder Noterbrecht fast zu allen Zeiten und bei allen Völkern vorhanden gewesen sei.“19 Obwohl dieses Zitat ausweislich der Motive zum Teilentwurf des Erbrechts von 1879 richtig ist, erweckt es doch unzutreffend den Eindruck, das Pflichtteilsrecht von Kindern sei weltweit geradezu eine Selbstverständlichkeit. Dem ist indessen nicht so. Weder das angloamerikanische20 noch das das chinesische21 Erbrecht sehen Pflichtteilsansprüche für Kinder vor. Bedenkt man weiter, dass zahlreiche Rechtsordnungen nur ein bedarfsabhängiges Pflichtteilsrecht von Kindern kennen (vgl. dazu S. 312 ff.), volljährige Kinder aber i. a. nicht mehr unterhaltsbedürftig sind, dann trifft der Satz, dass fast alle Völker ein Pflichtteils- oder Noterbrecht von Kindern kennen, jedenfalls für die Gegenwart nicht mehr zu. Wenn das BVerfG weiter meint, das in Deutschland geltende Pflichtteilsrecht der Kinder entspreche „im Grundsatz denjenigen Rechtsordnungen anderer europäischer Staaten, die ebenfalls vom römischen Recht beeinflusst sind“22, und beispielhaft auf 18

BVerfGE 112, 332, 352 f. BVerfGE 112, 332, 350. 20 Süß, in: Mayer, Süß u. a., Handbuch des Pflichtteilsrechts, 2. Aufl. 2010, S. 1003 ff.; Meston, Familienerbrecht in Schottland und England, in: Henrich/Schwab (Hrsg.), Familienerbrecht und Testierfreiheit im europäischen Vergleich, Beiträge zum europäischen Familienrecht, Bd. 7, Bielefeld 2001, S. 73, 81 ff.; Martiny (Fn. 11) S. A 77 f. 21 Heuser, Einführung in die chinesische Rechtskultur, 3. Aufl. 2007, S. 369; Bu, Einführung in das chinesische Recht, 2009, S. 99 f. 22 BVerfGE 112, 332, 351. 19

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Österreich, Polen, Italien und Frankreich verweist, so bedarf auch diese Feststellung einer Klarstellung: In Österreich wurde im Jahre 1989 die Möglichkeit geschaffen, Pflichtteilsansprüche von Kindern im Falle einer Zerrüttung des Eltern-Kind-Verhältnisses um die Hälfte zu reduzieren (sog. Pflichtteilsminderung).23 § 773a ABGB in seiner heute geltenden Fassung lautet: „Standen der Erblasser und der Pflichtteilsberechtigte zu keiner Zeit in einem Näheverhältnis, wie es in der Familie zwischen solchen Verwandten gewöhnlich besteht, so kann der Erblasser den Pflichtteil auf die Hälfte mindern.“ Eine derartige Bestimmung wäre für Deutschland aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zulässig. Was Polen anbelangt, so wäre ein klärender Hinweis wünschenswert gewesen, dass Art. 991 Abs. 1 ZGB bezüglich der Höhe der Pflichtteilsansprüche volljähriger Kinder danach differenziert, ob diese arbeitsfähig sind oder nicht.24 Eine solche Differenzierung erlaubt das BVerfG für das deutsche Recht aber gerade nicht; es stellt vielmehr apodiktisch fest, das Pflichtteilsrecht von Kindern dürfe aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht von deren konkretem Bedarf abhängen. Bezüglich des traditionsbewussten französischen Rechts, das lange Zeit nur in extremen Sonderfällen eine Erb- bzw. Pflichtteilsunwürdigkeit ex lege (de plein droit) kannte, wäre darauf hinzuweisen, dass im Jahre 2001 in den Code civil zahlreiche den Pflichtteilsentziehungsgründen des deutschen Rechts ähnliche Fallkonstellationen aufgenommen wurden, die eine gerichtliche Unwürdigerklärung auf Antrag ermöglichen (Art. 727 Cc). Abgesehen davon sind die romanischen Rechtsordnungen heute keineswegs mehr unerschütterliche Bastionen für ein Pflichtteilsrecht von Kindern. So wurde auf dem Kongress der französischen Notare im Jahre 2000 das Pflichtteilsrecht von Abkömmlingen durchaus in Frage gestellt. Ein Redner meinte:25 „Qu est-ce qui justifie les droits de lhritier rservataire? Vous allez me dire que cest la loi du dbut du XIXme sicle. Vous ne connaissez pas des personnes ges qui ne voient jamais leurs hritiers rservataires, pourtant ils ont des droits sur le capital? On a le droit de dpenser son argent quand on est en vie et on a pas le droit de transmettre comme on veut quand on est  la fin de sa vie?“

23

Ferrari, Familienerbrecht und Testierfreiheit in Österreich, in: Henrich/Schwab (Hrsg.) (Fn. 20), S. 173, 182 f.; Koziol-Welser, Bürgerliches Recht, Bd. II, 12. Aufl. 2001, S. 505. 24 Maczynski, Länderbericht Polen, in: Henrich/Schwab (Hrsg.) (Fn. 20), S. 191, 200. 25 Ferrand, Rserve hrditaire, ordre public et autonomie de la volont en droit franÅais des successions, in: Castelein/Foqu/Verbeke (Hrsg.), Imperative Inheritance Law In A Late-Modern Society, 2009, S. 189, 196: „Was rechtfertigt das Pflichtteilsrecht? Sie werden sagen, das Recht des beginnenden 20. Jh. Kennen Sie keine älteren Menschen, welche ihre Pflichtteilsberechtigten niemals zu Gesicht bekommen, denen aber dennoch ein Recht an ihrem Vermögen zusteht? Man hat das Recht, sein Geld zu Lebzeiten auszugeben, aber man hat nicht das Recht, über sein Geld nach dem Tod zu verfügen?“.

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Auch in Spanien und Belgien wird über eine Abschaffung des Pflichtteilsrechts durchaus nachgedacht, wie Arroyo i Amayuelas26 und Walter Pintens27 berichten. Die große Reform des Erbrechts in den Niederlanden im Jahre 2002, deren Ziel es u. a. war, den überlebenden Ehegatten weder im Falle gesetzlicher noch im Falle testamentarischer Erbfolge irgendwelchen Ansprüchen der Kinder auszusetzen,28 wäre in Deutschland nach Ansicht des BVerfGs nicht möglich; denn die These, jedem Kind sei eine bedarfsunabhängige Mindestteilhabe am Nachlass von Vater und Mutter garantiert, verträgt sich nicht mit dem Bemühen, Pflichtteilsansprüche von Kindern auf die Zeit nach dem Tode des zuletzt versterbenden Elternteils zu verschieben. Gerade eine derartige Regelung wird aber in Deutschland von vielen Eltern gewünscht, wenn sie ein sog. Berliner Testament errichten und mit ausgeklügelten Pflichtteilsstrafklauseln, insbesondere mit der Jastrowschen Klausel, versehen. Es ist nicht auszuschließen, dass das BVerfG bei der einen oder anderen Strafklausel nunmehr auch hier sein Veto einlegen wird.29 Auch für das de lege ferenda gelegentlich geforderte gesetzliche Alleinerbrecht des Ehegatten30 dürfte nach der Entscheidung des BVerfGs kein Platz mehr sein. Wirft man außerdem noch einen Blick auf die ehedem sozialistischen Rechtsordnungen Osteuropas, wo Pflichtteilsansprüche typischerweise nur Personen zustehen, die „arbeitsunfähig“ sind (dazu näher S. 313 f.), so darf konstatiert werden, dass auch dort Kinder eher im Ausnahme- als im Regelfall pflichtteilsberechtigt sind. Ob es notwendig, insbesondere ob es klug war, Pflichtteilsansprüche von Kindern in Deutschland mit einer verfassungsrechtlichen Garantie zu versehen, erscheint bei dieser Ausgangslage durchaus einer Diskussion wert. III. Bedarfsunabhängiges Pflichtteilsrecht Die These, das Pflichtteilsrecht werde in Art. 14 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleistet, nötigte das BVerfG zu einer Antwort auf die Frage nach dessen Inhalt. Die Behauptung, Pflichtteilsansprüche garantierten eine „bedarfsunabhängige“ Mindestteilhabe am Nachlass des Verstorbenen, hat die Rechtslehre überrascht, war doch in der jahrzehntelangen Reformdiskussion die Bedarfsabhängigkeit ausschließlich als ein rechtspolitisches, nicht als ein verfassungs-

26 Pflichtteilsrecht in Spanien, in: Röthel (Hrsg.), Reformfragen des Pflichtteilsrechts, 2007, S. 257, 272 f. 27 Pflichtteilsrecht in Belgien und in den Niederlanden, in: Röthel (Hrsg.) (Fn. 26), 215, 224. 28 Bremhaar, Familiäre Bindung und Testierfreiheit im neuen niederländischen Erbrecht, in: Henrich/Schwab (Hrsg.) (Fn. 20), S. 147, 160, 171. 29 So zutr. J. Mayer ErbR 2010, 70, 73. Zur Jastrowschen Formel vgl. Frank/Helms, Erbrecht, 5. Aufl. 2010, S. 150 ff. 30 Insbes. Stöcker FamRZ 1970, 444 und 1971, 609, 611 ff.

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rechtliches Problem gesehen worden.31 Dauner-Lieb schrieb etwa im Jahre 2001:32 „Man könnte daran denken, die Pflichtteilsansprüche der Abkömmlinge von vornherein davon abhängig zu machen, dass der Erblasser ihnen unterhaltspflichtig ist. (…) Die Politik muss letztlich entscheiden, ob die Zeit dafür reif ist.“ Bei Staudinger/Haas (1998)33 heißt es: „Geht man von einer Familiengebundenheit des Erblasservermögens aus, so ist dem Gesetzgeber unabhängig davon, auf welche dogmatische Grundlage man den Schutz des Pflichtteilsrechts stützt, hinsichtlich der Ausgestaltung des Pflichtteilsrechts ein weiter Gestaltungsspielraum zuzubilligen. (…) Dies gilt (auch) bezüglich der Voraussetzungen des Pflichtteilsanspruchs (z. B. Bedürftigkeit des Berechtigten)“, und Gernhuber bezeichnet das Pflichtteilsrecht kurz und bündig als ein „funktionelles Korrelat“34 der lebzeitigen Unterhaltspflicht des Erblassers. Richtig ist, dass in der Literatur ein bedarfsabhängiges Pflichtteilsrecht, wie es ausländischen Rechtsordnungen bekannt ist, vor der Entscheidung des BVerfGs im Ergebnis weitgehend abgelehnt wurde, z. B. von Martiny, dessen Thesen Nr. 17 und 18 in seinem Gutachten zum 64. Deutschen Juristentag (2002)35 lauten: These Nr. 17: „Eine Bedürftigkeitsprüfung als Voraussetzung für ein auf einen festen Wertanteil gerichtetes Pflichtteilsrecht ist wegen rechtssystematischer Bedenken, ungereimter Ergebnisse und praktischer Schwierigkeiten abzulehnen.“ These Nr. 18: „Gegen den Ersatz des Pflichtteilsrechts durch eigenständige Unterhaltsansprüche gegenüber dem Nachlass sprechen die Unzulänglichkeiten des Konzepts der Bedürftigkeit sowie Schwierigkeiten bezüglich Zeitpunkt, Höhe der Leistungen und Nachlassabwicklung.“ Verfassungsrechtliche Bedenken meldete Martiny indessen ebenso wenig an wie andere Autoren, die sich mit dieser Frage beschäftigten. Dass ein bedarfsabhängiges Pflichtteilsrecht Probleme insbesondere deshalb aufwirft, weil die Bedürftigkeit auf einen willkürlich anmutenden Zeitpunkt, nämlich den des Erblassertodes, zu beziehen wäre, liegt auf der Hand. Aber im Ausland ist es durchaus gelungen, dieses Problem zu bewältigen. Außerdem gibt es Mischsysteme, die unterschiedliche Pflichtteilsquoten kennen, je nachdem ob der Pflichtteilsberechtigte minderjährig oder volljährig ist, oder die darauf abheben, ob er arbeitsunfähig ist, seine Ausbildung abgeschlossen hat usw.36 Auch solchen Überlegungen hat das BVerfG nunmehr einen 31 Für ein bedarfsabhängiges Pflichtteilsrecht: Bamberger/Roth/J. Mayer, Kommentar zum BGB, 2003, § 2333 Rdnr. 2; MünchKommBGB/Frank, 3. Aufl. 1997, § 2303 Rdnr. 4; Kick, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1996, 167, 179, 182; Kuhla, Testierfreiheit und Pflichtteil, in: FS Bezzenberger, 2000, S. 496, 501 f. Gegen ein bedarfsabhängiges Pflichtteilsrecht: Martiny (Fn. 11) S. A 86 ff.; Otte AcP 2002, 317, 348 ff.; Schlüter, Die Änderung der Rolle des Pflichtteilsrechts im sozialen Kontext, in: Festschr. 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. I, 2000, S. 1047, 1068 ff. 32 DNotZ 2001, 460, 465. 33 Vorbem zu §§ 2303 ff. Rdnr. 16. 34 FamRZ 1960, 326, 329. 35 Wie Fn. 11, S. A 119. 36 Vgl. S. 313 ff.

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Riegel vorgeschoben. Kritisch meint Leipold37: „Bei weitem wichtigstes rechtliches Element der vom BVerfG beschworenen Familiensolidarität ist heute die Unterhaltspflicht. (…) Es hätte daher die Frage nahe gelegen, ob das Pflichtteilsrecht nicht auch im Zusammenhang damit zu sehen ist, dass mit dem Tod die Unterhaltspflichten des Erblassers erlöschen.“ Wenn das BVerfG die verfassungsrechtliche Garantie des Pflichtteilsrechts im Wesentlichen historisch begründet, hätte man sich außerdem eine Klarstellung gewünscht, dass die Diskussion um ein bedarfsabhängiges Pflichtteilsrecht seit den Vorarbeiten zum BGB nie verstummt ist. In einer Entscheidung des Reichsgerichts vom 26. 9. 188138 heißt es zum ALR: „Schon die Naturrechtslehrer (…), unter deren Einfluss die Redaktoren des ALR standen, waren der Ansicht, dass ein Pflichtteilsrecht nur insoweit eine innere Berechtigung habe, als die Eltern verpflichtet seien, für die Erziehung und Alimentierung unerwachsener Kinder auch nach ihrem Tode die nötigen Mittel zu schaffen.“ Endemann39 schreibt zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Die innere Rechtfertigung eines imperativen gesetzlichen Pflichtteilsrechts beruht auf dem Gedanken, dass die zwischen Vorfahren, Abkömmlingen und Ehegatten bestehende Unterhaltspflicht an dem Familienvermögen haftet und mit dem Tode sich in eine Hinterlassungspflicht umwandelt.“ Über die Frage, welchem Zweck das Pflichtteilsrecht letztlich dient, bestand Ende des 19. Jahrhunderts ebenso wenig Klarheit wie in der Diskussion unserer Tage. Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte wird in einem Juristentagsgutachten von 1878 ausgeführt, das Pflichtteilsrecht sei in Deutschland „so bunt und verschieden gestaltet, dass von einer erkennbaren Volksüberzeugung, die für den Gesetzgeber einen ganz bestimmten Weg bei der Regelung vorgebe, schwerlich die Rede sein kann“.40 Als sich der 49. Deutsche Juristentag im Jahr 1972 mit dem Thema „Empfiehlt es sich, das gesetzliche Erb- und Pflichtteilsrecht neu zu regeln?“ beschäftigte, wurde erneut auf den Versorgungscharakter des Pflichtteils hingewiesen, ohne dass auch nur einer der Autoren verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet hätte.41 Gleiches gilt für die lebhafter werdende Diskussion um ein bedarfsabhängiges Pflichtteilsrechts gegen Ende des 20. Jahrhunderts.42 Bei dieser Ausgangslage überzeugt es nicht, wenn das BVerfG über 50 Jahre nach Inkrafttreten des GG die Diskussion mit dem überraschenden Argument beendet, das GG lasse ein bedarfsabhängiges Pflichtteilsrecht überhaupt nicht zu. Auch die Rechtsvergleichung macht deutlich, dass die Einführung eines bedarfsabhängigen Pflichtteilsrechts schwerlich gegen den Wesensgehalt von Art. 14 und 9 37

MünchKommBGB/Leipold, 5. Aufl. 2010, Einleitung vor §§ 1922 ff. Rdnr. 42. RGZ 6, 247, 248. 39 Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Bd. III (Erbrecht), 9. Aufl. 1919/20, 2. Halbbd., S. 1204. 40 Zitiert nach Mertens, Die Entstehung der Vorschriften des BGB über die gesetzliche Erbfolge und das Pflichtteilsrecht, 1970, S. 83. 41 Reichert-Facilides, Referat, S. A 67 ff.; Kühne JR 1972, 221, 226; Coing (der sich allerdings gegen eine Bedarfsabhängigkeit aussprach), Gutachten, S. A 46 f. 42 Nachweise Fn. 31. 38

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GG verstoßen kann. Wie bereits festgestellt, steht Kindern weder im angloamerikanischen noch im chinesischen Recht überhaupt ein Pflichtteilsanspruch zu. Allerdings können sowohl im angloamerikanischen als auch im chinesischen Recht in Härtefällen Mittel aus dem Nachlass zur Verfügung gestellt werden. Das gilt insbesondere für das englische Recht, wo nach dem Inheritance (Provisions for Family and Dependants) Act 1975 Gerichte in der Lage sind, zur Sicherung des Unterhalts von abhängigen Angehörigen auf Antrag Anordnungen zu treffen.43 Die Gewährung von Family Provision für Kinder, die zur Zeit des Erbfalls in aller Regel volljährig sind, ist indessen eine seltene Ausnahme. Unterstützung wird in der Praxis i. a. nur Kindern zuteil, die entweder minderjährig, in Ausbildung befindlich oder behindert sind. „Kinder“ im Sinne des Inheritance Act sind dabei nicht nur leibliche Kinder oder Adoptivkinder sondern schlechthin alle „children of the family“, die vom Erblasser vollständig oder teilweise unterhalten wurden, ggf. also auch Stief- oder Pflegekinder. Das Gericht kann nach freiem Ermessen entscheiden, in welcher Form Family Provisions zu gewähren sind (wiederkehrende Leistungen, Einmalzahlung, Zuweisung bestimmter Vermögensgegenstände usw.). Die Regelungen in anderen vom englischen Mutterland beeinflussten Rechten, wie etwa in Australien44 und Kanada45, sehen ähnlich aus, während in den USA pflichtteilsähnliche Schutzmechanismen zugunsten unterhaltsbedürftiger minderjähriger Kinder in der Praxis kaum eine Rolle spielen.46 Das chinesische Erbgesetz vom 10. 4. 1985 enthält nur einen einzigen Artikel (Art. 19), der die Testierfreiheit einschränkt und lautet: „Das Testament hat arbeitsunfähigen Erben ohne Existenzgrundlage einen notwendigen Teil des Nachlasses vorzubehalten.“ Nach Yuanshi Bu47 verdankt dieser an sich unerwünschte Eingriff in die Testierfreiheit seine Existenz der Tatsache, dass es in China „zumindest beim Erlass des Erbgesetzes noch an einem funktionsfähigen sozialen Sicherungssystem fehlte.“ Präziser als im angloamerikanischen und chinesischen Recht werden sowohl der pflichtteilsberechtigte Personenkreis als auch die Voraussetzungen eines Unterhaltsanspruchs naher Angehöriger gegen den Nachlass in Israel48 und Mexiko49 umschrieben. Pflichtteilsähnliche Unterhaltsansprüche sind in diesen Ländern mehr als nur ein 43

Vgl. Fn. 20; außerdem Lowe/Douglas, Bromleys Family Law, 10. Aufl. 2007, S. 1105 ff. Süß, Fn. 20, S. 961 m. Hinw. 45 Süß, Fn. 20, S. 1028 f. m. Hinw. 46 Süß, Fn. 20, S. 1104 ff. m. Hinw.; außerdem Hay, US-Amerikanisches Recht, 4. Aufl. 2008, Rdnr. 546; Brennan, Disinheritance of Dependent Children: Why Isnt America Fulfilling Its Moral Obligations?, 14 Quin.Prob.L.J. 125 (1999). 47 Wie Fn. 21, S. 100. 48 Süß, Fn. 20, S. 1015; Rauscher, Reformfragen des gesetzlichen Erb- und Pflichtteilsrechts, Bd. II 2, 1993 S. 14; Ferid/Firsching/Dörner/Hausmann, Loseblattsammlg., unter Israel. 49 Süß, Fn. 20, S. 1032; Rauscher, Fn. 48, S. 11; Ferid/Firsching/Dörner/Hausmann, Fn. 48, unter Mexiko. 44

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Tropfen sozialen Öls in Notsituationen. Diejenigen Angehörigen, denen ein Unterhaltsanspruch gegen den Nachlass gesetzlich zugestanden wird, werden exakt benannt. Geregelt wird nicht nur die in concreto erforderliche Bedarfssituation, sondern auch die Frage, wie sich spätere Veränderungen der Lebensumstände bei geteiltem oder ungeteiltem Nachlass auswirken – ein Problem, das im Übrigen auch von denjenigen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen bewältigt werden muss, die zwar nicht die Versorgung der Kinder, wohl aber die Versorgung des überlebenden Ehegatten mit Hilfe eines Unterhaltsanspruchs gegen den Nachlass sicherstellen.50 Dies gilt sogar für das deutsche Recht, wo gem. § 1586b Abs. 1 S. 1 BGB der Unterhaltsanspruch des geschiedenen Ehepartners auf den Erben als Nachlassverbindlichkeit übergeht. Was die Höhe des Unterhaltsanspruchs anbelangt, so werden im mexikanischen Recht Parallelen zu den romanischen Rechtsordnungen sichtbar, wenn es etwa in Art. 1372 S. 3 ZGB heißt: „Die Unterhaltsleistung darf keinesfalls die Höhe der Erträgnisse übersteigen, welche sich aus einem für den betreffenden Fall zu Gunsten des Unterhaltspflichtigen angenommenen gesetzlichen Erbteile ergeben würde. Andererseits darf die Unterhaltsleistung nicht unterhalb der Hälfte besagter Erträgnisse liegen.“ Werfen wir noch einen Blick auf die kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen: In Westeuropa steht Kindern grundsätzlich eine bedarfsunabhängige Mindestteilhabe am Nachlass ihrer Eltern zu. Aber es gibt durchaus auch Ausnahmen. So lautet etwa § 27 Abs. 1 S. 1 des dänischen Erbgesetzes: „Ein bedürftiges Kind des Erblassers hat Anspruch auf angemessenen Unterhalt und angemessene Ausbildung bis zum 21. Lebensjahr.“ Dieser im Gesetz als Voraus bezeichnete Anspruch kann durch Testament nicht eingeschränkt werden (§ 27 Abs. 2 S. 1 ErbG) und geht anderen Erbansprüchen vor. Er ist nur dann aus dem Pflichtteil des Bedürftigen selbst zu befriedigen, wenn die Mittel des Nachlasses im Übrigen nicht ausreichen (§ 27 Abs. 2 S. 2 ErbG). Ähnliche Regelungen enthalten auch die anderen nordischen Staaten51 und fast wortgleich das niederländische Recht (Art. 35 BW). Da Unterhalts- und Ausbildungskosten den Nachlass ohne Weiteres aufzehren können, kann in den genannten Staaten schwerlich von einem egalitären und bedarfsunabhängigen Pflichtteilsrecht der Kinder gesprochen werden. Es wäre eine lohnende Aufgabe, einmal die zahlreichen westeuropäischen Rechtsordnungen, die wie Deutschland traditionell ein bedarfsunabhängiges Pflichtteilsrecht von Kindern kennen, daraufhin zu durchforsten, ob nicht doch in Sondersituationen der konkrete Bedarf eine Rolle spielt. Selbst das dem deutschen Recht nahestehende österreichische Erbrecht enthält in § 795 ABGB folgende Regelung: „Einem Noterben, der von seinem Pflichtteile gesetzmäßig ausgeschlossen wird, muss doch immer der notwendige Unterhalt ausgemessen werden.“ Was die ehedem sozialistischen Staaten Osteuropas anbelangt, so standen dort Kindern Pflichtteilsansprüche vornehmlich nur dann zu, wenn sie auch bedürftig waren. Das galt auch für die ehemalige DDR, wo sowohl das Pflichtteilsrecht von 50 51

Frankreich (Art. 767 Abs. 1 Cc); Österreich § 796 ABGB; Portugal (Art. 2018 Cc). § 36 norwegisches und Kapitel 8 , § 1 ff. finnisches Erbgesetz.

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Kindern als auch das von Eltern von deren Unterhaltsberechtigung abhängig war (§ 396 Abs. 1 Nr. 2 ZGB). Von der DDR einmal abgesehen, hat sich an diesem Grundmuster trotz zahlreicher Reformen bis auf den heutigen Tag nichts geändert. Auch heute noch hängt die Existenz eines Pflichtteilsanspruchs typischerweise von der „Arbeitsunfähigkeit“ des Berechtigten ab. So beschränkt Estland52 das Pflichtteilsrecht auf „arbeitsunfähige Kinder“. Oft wird auch zwischen minderjährigen und volljährigen Kindern differenziert und nur der Pflichtteilsanspruch Volljähriger von deren Arbeitsunfähigkeit abhängig gemacht (z. B. Russland53, die Ukraine54, Polen55, Kasachstan56, Kirgisistan57). In Tschechien (§ 479 ZGB) müssen minderjährige Abkömmlinge „mindestens ihren gesetzlichen Erbteil“ erhalten, während volljährigen Abkömmlingen „mindestens die Hälfte ihres gesetzlichen Erbteiles“ zusteht. Im Übrigen waren die Erbgesetze der sozialistischen Staaten keinesfalls „gleichgeschaltet“. Das rumänische Erbrecht beispielsweise orientierte sich auch unter der Herrschaft des Kommunismus am französischen, das ungarische am deutsch-österreichischen Recht. Beiden Rechtsordnungen war und ist deshalb ein bedarfsabhängiges Pflichtteilsrecht fremd. Das wiederum zeigt, dass die Bedarfsabhängigkeit des Pflichtteilsrechts in Osteuropa keineswegs „systembedingt“ war. Die Rechtsvergleichung beweist, dass das Pflichtteilsrecht durchaus bedarfsabhängig ausgestaltet werden könnte. Der Vorwurf, die Befürworter eines bedarfsabhängigen Pflichtteilsrechts seien bislang „die Konkretisierung ihrer Vorstellung schuldig geblieben“58, ist fehl am Platz. Dutta59 macht im Übrigen deutlich, dass sich schon im geltenden deutschen Recht die Unterhaltsfunktion des Pflichtteilsrechts „plastisch im Ineinandergreifen von Unterhalt und Pflichtteil beim Tod des Unterhaltspflichtigen zeigt“. Er schreibt: „Verstirbt der Unterhaltspflichtige, so macht das Unterhaltsrecht das Schicksal des Unterhaltsanspruchs davon abhängig, ob der Unterhaltsberechtigte pflichtteilsberechtigt nach dem Unterhaltspflichtigen ist: Ist der Unterhaltsberechtigte pflichtteilsberechtigt, so kann der Unterhaltsanspruch erlöschen, wie es bei Abkömmlingen und Eltern (§1615 Abs. 1 BGB) sowie bei Ehegatten (§§ 1360a Abs. 3, 1361 Abs. 4 S. 4, 1615 Abs. 1 BGB) des Unterhaltspflichtigen der Fall ist. Ist der Unterhaltsberechtigte dagegen nicht pflichtteilsberechtigt, dann sieht das Unterhaltsrecht konsequenterweise eine Fortdauer des Unterhaltsanspruchs vor. So ist der geschiedene überlebende Ehegatte zwar nicht mehr pflichtteilsberechtigt, sein nachehelicher Unterhaltsanspruch nach §§ 1569 ff. BGB bleibt aber gegen die Erben des Unterhaltspflichtigen nach § 1586b Abs. 1 S. 1 BGB bestehen, jedoch in der

52 53 54 55 56 57 58 59

§ 104 Erbgesetz. Art. 1149 Abs. 1 ZGB. Art. 1241 Abs. 1 ZGB. Art. 991, § 1 ZGB. Art. 1069 ZGB. Art. 1149 ZGB. Otte, Pflichtteilsrecht und Unterhaltssicherung, in: Röthel (Hrsg.) (Fn. 26), S. 203, 205. AcP 2009, 760, 776.

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Höhe begrenzt auf den hypothetischen Pflichtteil, der dem Ehegatten vor der Scheidung güterstandsunabhängig zugestanden hätte, § 1586b Abs. 1 S. 3, Abs. 2 BGB.“60

Entscheidend geht es, das sei noch einmal klargestellt, nicht um die Frage, ob das Pflichtteilsrecht durch Elemente des Bedarfs umgestaltet oder ergänzt werden soll, sondern allein um die Frage, ob sich der Gesetzgeber nach der Entscheidung des BVerfGs überhaupt noch mit derlei Fragen befassen kann und befassen wird. In Anbetracht des klaren Wortlauts der Entscheidung wird er das nicht tun61, auch wenn Otte62 meint, der Entscheidung sei „kein endgültiges Verbot“ der Berücksichtigung von Bedarfsabhängigkeit bei einer Umgestaltung des Pflichtteilsrechts zu entnehmen. IV. Pflichtteilsentziehung und Zerrüttung des Eltern-Kind-Verhältnisses 1. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Bei einem „besonders schwer wiegenden Fehlverhalten“63, so meint das BVerfG, könne es dem Erblasser unzumutbar sein, die Nachlassteilhabe eines Kindes hinnehmen zu müssen. Ein derartiges Fehlverhalten rechtfertige den unbeschränkten Vorrang der Testierfreiheit aber nur dann, „wenn es über die Störung des familiären Beziehungsverhältnisses deutlich hinausgeht, die üblicherweise vorliegt, wenn der Erblasser seine Kinder von der Erbfolge durch letztwillige Verfügung ausschließt. Nicht jedes Fehlverhalten, das zu einer Entfremdung oder zu einem Zerwürfnis mit dem Erblasser führt, rechtfertigt den Vorrang der Testierfreiheit, da sonst das Pflichtteilsrecht der Kinder leerliefe und jede praktische Bedeutung verlöre.“64 An anderer Stelle erteilt das BVerfG einer allgemeinen Zerrüttungs- oder Entfremdungsklausel auch deshalb eine Absage, weil sie „die Grundsätze der Normenklarheit, der Justiziabilität und der Rechtssicherheit“ verletze.65 Die apodiktische Feststellung des BVerfGs, eine Zerrüttungs- oder Entfremdungsklausel sei verfassungswidrig, hat die Rechtslehre ebenso überrascht wie die bereits angesprochene Feststellung, eine Mindestteilhabe der Kinder am Nachlass ihrer Eltern dürfe nicht vom konkreten Bedarf abhängen. Dass die Pflichtteilsentziehungsgründe des geltenden Rechts zu eng sind, war schon lange Zeit vor der Entscheidung des BVerfGs erkannt worden. Einigkeit bestand auch darüber, dass eine „den zeitge60 So ganz stimmt die Parallele allerdings nicht: Eltern können z. B. durchaus zu Lebzeiten des Erblassers unhaltsberechtigt sein, ohne dass ihnen nach dem Tod des Erblassers ein Pflichtteilsanspruch zusteht (weil der Erblasser z. B. Abkömmlinge hinterlässt). Entsprechendes gilt für Großeltern, die unter keinen Umständen pflichtteilsberechtigt sind. 61 Aus dem BMJ verlautet andeutungsweise, dass man sich nur nach einer Verfassungsänderung an eine große Reform des Pflichtteilsrechts heranwagen würde. 62 Wie Fn. 58, S. 204. 63 BVerfGE 112, 332, 355. 64 BVerfGE 112, 332, 355 f. 65 BVerfGE 112, 332, 356.

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mäßen Anschauungen entsprechende und die Entziehung erleichternde Fassung des § 2333 Nr. 5 BGB a.F.“66 (= Pflichtteilsentziehung wegen ehrlosen und unsittlichen Lebenswandels) gefunden werden müsse. Ob allerdings eine allgemeine Zerrüttungsklausel die richtige Lösung sei, war streitig. Martiny jedenfalls schlug in seinem Gutachten zum 64. Deutschen Juristentag (2002) vor, eine Pflichtteilsentziehung in den Fällen der gänzlichen Zerrüttung der Beziehungen zwischen Pflichtteilsberechtigtem und Erblasser zuzulassen, „wenn ein Näheverhältnis zwischen beiden nicht bestand und dies auch nicht auf das Verhalten des Erblassers zurückgeführt werden kann“.67 Klingelhöffer meinte beispielhaft, eine Pflichtteilsentziehung müsse möglich sein, „wenn sich der Sohn ohne Grund in den letzten dreißig Jahren nicht beim Erblasser gezeigt hat“.68 Auch andere Autoren sprachen sich für eine allgemeine Zerrüttungsklausel aus.69 Natürlich gab es auch Gegenstimmen, die sogar in der Mehrheit gewesen sein dürften.70 Aber zu keiner Zeit beherrschten verfassungsrechtliche Überlegungen die Diskussion. Nach dem Verdikt des BVerfGs fügte sich die Zivilrechtslehre rasch in die „neue Rechtslage“. Deutlich fällt die Kritik von Leipold71 aus: „Die kühle Feststellung des BVerfG, gerade in gestörten Situationen entfalte das Pflichtteilsrecht seinen Sinn, wird dem Problem nicht gerecht. Es ist zu bedauern, dass das BVerfG mit seinen Bedenken gegen eine Art Generalklausel im Grunde den Gesetzgeber beeinflussen will, auch von einer Reform in dieser Richtung die Finger zu lassen. Überzeugend sind diese Vorbehalte nicht. Schließlich arbeitet das Zivilrecht an vielen Stellen mit mehr oder weniger unbestimmten wertausfüllungsbedürftigen Begriffen, wobei die Konkretisierung durch die Rechtsprechung ein gewisses Maß an Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit zu gewährleisten vermag.“

2. Die Reform des Pflichtteilsentziehungsrechts (Gesetz vom 24. 9. 2009)72 Ob die Vermutung von Leipold, das BVerfG habe mit seinen Bedenken gegen eine Art Generalklausel den Gesetzgeber beeinflussen wollen, von einer Reform in dieser Richtung „die Finger zu lassen“, richtig ist, mag dahinstehen. Tatsache ist, dass der Gesetzgeber vor den Ausführungen des BVerfGs offenbar so großen Respekt hatte, dass er die Reform mehr oder weniger auf eine zeitgemäße Umformulierung der Pflichtteilsentziehungsgründe beschränkte, ohne in der Sache Nennenswertes zu verändern. Das selbst gesteckte Ziel des Gesetzgebers, die Pflichtteilsentziehungsgrün66 So der auf dem 49. Dt. Juristentag (1972) gefasste Beschluss, in: Verhandlungen des 49. Dt. Juristentags, Bd. III (Sitzungsberichte), Teil K S. 163. 67 s. A 119 (These 22). 68 ZEV 202, 293, 295. 69 Z. B. Kluge ZRP 1976, 285; Leisner NJW 2001, 126, 127. 70 Schlüter, Die Änderung der Rolle des Pflichtteilsrechts im sozialen Kontext, in: FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 1047, 1068 ff.; Otte AcP 2002, 317, 348 ff. 71 MünchKommBGB/Leipold, Buch 5 (Erbrecht), 5. Aufl. 2009, Einleitung Rdnr. 43. 72 BGBl. I S. 3142; zur Begründung vgl. BT-Drucks. 16/8954, S. 22 – 25.

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de „an die heutigen veränderten Familienstrukturen und Wertvorstellungen anzupassen“73, wurde auch nicht andeutungsweise erreicht. Von einer „Stärkung der Testierfreiheit“, wie sie das BMJ in einer Pressemitteilung vom 30. 1. 2008 ankündigte,74 kann keine Rede sein. Die Neufassung des § 2333 BGB läuft vielmehr, wie J. Mayer zutreffend feststellt, „in ihren praktischen Auswirkungen weitgehend leer“. Zur Reform75 ein paar kurze Erklärungen: Die nicht mehr zeitgemäße Generalklausel des ehrlosen und unsittlichen Lebenswandels (§ 2333 Nr. 5 BGB a.F.) wurde ersatzlos gestrichen. An eine neue Generalklausel wagte sich der Gesetzgeber nicht heran. Geblieben ist der Entziehungsgrund „eines Verbrechens oder eines schweren vorsätzlichen Vergehens gegen den Erblasser“ (früher § 2333 Nr. 3, jetzt § 2333 Nr. 2 BGB).76 Neu hinzugekommen ist die rechtskräftige Verurteilung eines Abkömmlings „wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ohne Bewährung“ unter der Voraussetzung, dass die Teilhabe des Abkömmlings am Nachlass aus diesem Grund für den Erblasser unzumutbar ist (§ 2333 Nr. 4 BGB). Pflichtteilsentziehungen wegen einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zählen nun allerdings nicht gerade zu den Fällen, die in der Praxis eine zentrale Rolle spielen. Sie hätten jedenfalls eine groß angekündigte Reform der Pflichtteilsentziehungsgründe nicht notwendig gemacht. Außerdem stört an der Neuregelung, dass ein Erblasser, der einem Abkömmling den Pflichtteil nach § 2333 Nr. 4 BGB entziehen will, zu einer Strafanzeige genötigt wird, um die erforderliche rechtskräftige Verurteilung herbeizuführen. Eine Pönalisierung des Verhaltens von Abkömmlingen als Voraussetzung der Pflichtteilsentziehung erscheint unverhältnismäßig.77 3. Die historische Bedeutung des ersatzlos gestrichenen Pflichtteilsentziehungsgrundes eines ehrlosen und unsittlichen Lebenswandels Wenn es in der Kommentarliteratur zum Reformgesetz vom 24. 9. 2009 allgemein heißt, die Testtierfreiheit des Erblassers sei durch eine Ausweitung der Pflichtteilsentziehungsgründe moderat gestärkt worden, so ist diese Feststellung zwar nicht falsch, weil der Pflichtteilsentziehungsgrund des ehrlosen und unsittlichen Lebenswandels (§ 2333 Nr. 5 BGB a.F.) längst seine praktische Bedeutung verloren hatte und deshalb auch ersatzlos gestrichen werden konnte. Wer aber 50

73

BT-Drucks. 16/8954, S. 9 f. Abrufbar unter www.bmj.de. 75 Vgl. BT-Drucks. 16/8954, S. 22 – 25; Kroiß FPR 2008, 543; J. Mayer ErbR 2010, 70, 79 f. 76 Neu ist allerdings, dass das Verbrechen oder schwere vorsätzliche Vergehen sich nicht notwendigerweise gegen den Erblasser oder dessen Ehegatten gerichtet haben muss. Es genügt auch, wenn es sich gegen einen anderen Abkömmling oder gegen eine „dem Erblasser ähnlich nahestehende Person“ gerichtet hat (§ 2333 Nr. 2 i. V. m. Nr. 1 BGB n. F.). 77 So zutr. J. Mayer ErbR 2010, 80. 74

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bis 100 Jahre zurück blickt, wird feststellen, dass damals der ehrlose und unsittliche Lebenswandel als Pflichtteilsentziehungsgrund keineswegs bedeutungslos war. Als ich im Jahre 1982 die Aufgabe hatte, das Pflichtteilsrecht im Münchener Kommentar zu erläutern, war es noch allgemeine Meinung, dass das außereheliche Zusammenleben Nichtverheirateter den Tatbestand des § 2333 Nr. 5 BGB a.F. erfüllte. Im Hinblick auf den bereits erfolgten Wertewandel habe ich damals dieses Verständnis als „bedenklich“ bezeichnet.78 In der zweiten Auflage 1989 habe ich dann – dem Zeitgeist entsprechend – zwischen einem ehebrecherischen Konkubinat und einem Konkubinat anderweitig nicht Verheirateter differenziert.79 In der dritten Auflage 1997 schließlich schlug ich in Übereinstimmung mit der damals herrschenden Ansicht vor, auch beim ehebrecherischen Konkubinat auf die konkreten Umstände des Einzelfalles abzustellen.80 Aus der Rechtsprechung der letzten dreißig Jahre sind mir indessen bis zur Reform von 2009 keine Fälle bekannt geworden, in denen einem Abkömmling wegen eines „einfachen“ oder wegen eines „qualifizierten“ Konkubinats der Pflichtteil entzogen worden wäre. Als Beispiele für einen unsittlichen Lebenswandel wurden allerdings noch bis in jüngste Zeit – ohne jede praktische Relevanz – gewerbsmäßige Unzucht, Zuhälterei, Betrieb eines Bordells, unverbesserliche Rauschgift- und Trunksucht, unsinniges Schuldenmachen, gewerbsmäßiges Glücksspiel und anderes mehr genannt.81 Nur der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Paradebeispiel genannte Landstreicher war bereits in der frühen Nachkriegszeit aus der Kommentarliteratur verschwunden.82 Dass außereheliches Zusammenleben früher einmal eine Entziehung des Pflichtteils rechtfertigte, möge eine Entscheidung des RG aus dem Jahre 192383 verdeutlichen: Es ging um einen Fall, in dem die minderjährige Tochter des Erblassers mit einem geschiedenen Mann zusammenlebte, den sie heiraten wollte, später auch geheiratet hat, aber vor Vollendung ihres 21. Lebensjahres nicht heiraten konnte. Die Tochter wurde schließlich am 1. August 1920 volljährig und heiratete ihren Verlobten wenige Tage später am 4. August 1920. In der Entscheidung heißt es: „Der unsittliche Lebenswandel wird auch nicht dadurch beseitigt, dass die Klägerin bestrebt gewesen ist, die Eheschließung zu erreichen. (…) Die Klägerin durfte nicht unbekümmert um das Gebot der Sitte, die einen Geschlechtsverkehr auch unter Verlobten nicht zulässt, und unbekümmert um die versagte Einwilligung zur Eheschließung die Vergünstigungen der Ehe für sich vorwegnehmen, statt ihre Volljährigkeit und die dann mögliche Eheschließung abzuwarten.“

Festzuhalten bleibt, dass der Pflichtteilsentziehungsgrund des ehrlosen und unsittlichen Lebenswandels früherer Zeit durchaus Bedeutung hatte. Nachdem sich 78 79 80 81 82 83

§ 2333 Rdnr. 15. § 2333 Rdnr. 15. § 2333 Rdnr. 15. MünchKommBGB/Frank, 2. Aufl. 1997, § 2333 Rdnr. 15. Wie Fn. 81. LZ 1923, 396, 397.

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die Wertvorstellungen geändert hatten, war es deshalb nur konsequent, auf dem 49. Deutschen Juristentag 1972 die Forderung zu erheben, nach einer neuen Generalklausel Ausschau zu halten, die der heutigen Gesellschaft „eine größere Ableitungsergiebigkeit“ bietet.84 4. Die Notwendigkeit einer zeitgemäßen Generalklausel Die Entscheidung des BVerfGs wird den Fällen nicht gerecht, in denen Kinder seit Jahren oder Jahrzehnten jeden Kontakt zu ihren Eltern ablehnen, ihnen im Alter oder bei Krankheit nicht beistehen, möglicherweise sogar mit Hass begegnen, ohne sich zu scheuen, den Pflichtteil einzufordern, so als hätten sie sich diesen bereits mit Geburt oder Adoption verdient. Dass das BVerfG in Fällen dieser Art eine Pflichtteilsentziehung für verfassungswidrig hält, ergibt sich zum einen daraus, dass es eine allgemeine Zerrüttungs- oder Entfremdungsklausel expressis verbis ablehnt85, und zum anderen daraus, dass es eine Pflichtteilsentziehung nur „bei einem besonders schwerwiegenden Fehlverhalten des Kindes gegenüber dem Erblasser bejaht, das über die Störung des familiären Beziehungsverhältnisses deutlich hinaus geht“.86 Dieses Fehlverhalten muss außerdem ein schuldhaftes sein, das in einem späteren gerichtlichen Verfahren „relativ leicht“87 nachzuweisen ist: „Das Erfordernis des schuldhaften Verhaltens des Pflichtteilsberechtigten ist ein grundsätzlich aussagekräftiges und geeignetes Abgrenzungskriterium für die Entscheidung, ob das verfassungsrechtlich geschützte Recht des Kindes auf unentziehbare Nachlassteilhabe wegen Unzumutbarkeit für den Erblasser hinter dessen Testierfreiheit zurücktreten muss.“88 Lieblosigkeit, Ablehnung oder Hass sind hierfür keine brauchbaren Kriterien. Das BVerfG meint, dass nur ein Verhalten, das entweder gegen strafrechtliche Normen oder gegen zivilrechtliche Pflichten verstößt, die Entziehung des Pflichtteils rechtfertigen kann. Was das Zivilrecht anbelangt, so steht bei Eltern und erwachsenen Kindern das Unterhaltsrecht im Vordergrund. Es überrascht deshalb nicht, dass in § 2333 Nr. 3 BGB die Verletzung von Unterhaltspflichten besonders angesprochen und dem Erblasser eine Pflichtteilsentziehung gestattet wird, „wenn der Abkömmling die ihm dem Erblasser gegenüber gesetzlich obliegende Unterhaltspflicht böswillig verletzt“. Besonders lebensnah ist diese Regelung nicht: Was hat wohl ein Erblasser zu vererben, der auf Unterhaltsleistungen seiner Kinder angewiesen war? Wenn das BVerfG nicht bereit ist, Pflichtteilsentziehungen bei einer schwerwiegenden Verletzung moralischer Pflichten zu ermöglichen, so sei 84 So Dieckmann, Referat zum Thema „Empfiehlt es sich, das gesetzliche Erb- und Pflichtteilsrecht neu zu regeln?“, Bd. II (Sitzungsberichte) Teil K, S. 8 ff. 85 BVerfGE 112, 332, 356. 86 BVerfGE 112, 332, 356. 87 BVerfGE 112, 332, 356. 88 BVerfGE 112, 332, 357.

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an dieser Stelle auf die Vorschrift des § 1600a BGB hingewiesen, die nach schweizerischem Vorbild (Art. 272 ZGB) durch das Sorgerechtsgesetz 1979 in das BGB eingefügt wurde und lautet: „Eltern und Kinder sind einander Beistand und Rücksicht schuldig.“ Diese Regelung gilt auch und gerade für volljährige Kinder. In welchem Umfang diese Bestimmung sittliche Pflichten zu Rechtspflichten verdichtet, ist allerdings umstritten und soll hier nicht vertieft werden. Im Scheidungsrecht war jedoch bis zur Reform von 1976 eine entsprechende Regelung des Eherechts (Pflicht zur ehelichen Lebensgemeinschaft, § 1353 BGB) Grundlage der sog. Verschuldensscheidung. § 1618a BGB könnte m. E. durchaus eine Generalklausel rechtfertigen, die eine Pflichtteilsentziehung im Falle einer schwerwiegenden Verletzung familienrechtlicher Pflichten erlaubt.89 International bieten die Pflichtteilsentziehungsgründe ein buntes Mosaik unterschiedlichster Regelungen, die vom „unsittlichen Lebenswandel“90, „verschwenderischen Leben“91, „Verstoß gegen die Grundsätze gesellschaftlichen Lebens“92 bis hin zur „schweren Verletzung familienrechtlicher Pflichten“93 reicht, zu denen in der Schweiz die erwähnte Verpflichtung zu „Beistand, Rücksicht und Achtung zwischen Eltern und Kindern“ zählt. In Kroatien94, Serbien95 und Slowenien96 genügt die schwerwiegende Verletzung einer sittlichen Pflicht. Eine Zerrüttungsklausel, die zur „Pflichtteilsminderung“ berechtigt, kennt – wie eingangs erwähnt – das österreichische Recht seit 1989 (§ 773a ABGB). Ein Reformgesetz aus dem Jahre 2001 untersagt allerdings eine Pflichtteilsminderung, „wenn der Erblasser die Ausübung des Rechts auf persönlichen Verkehr mit dem Pflichtteilsberechtigten grundlos abgelehnt hat“ (§ 773 Abs. 3 ABGB). In Tschechien ist eine Pflichtteilsentziehung möglich, wenn ein Abkömmling dem Erblasser „bei Krankheit, im Alter oder in einer anderen Notlage keine Hilfe gewährt oder für ihn dauerhaft kein wirkliches Interesse gezeigt hat, das er als Abkömmling hätte zeigen sollen“ (§ 469a ErbG). Ohne eine Generalklausel, die das konkrete Eltern-Kind-Verhältnis näher in den Blick nimmt, kann ein Gesetzgeber auf Dauer nicht auskommen. Es ist zu bedauern, dass das BVerfG hierfür die Grenzen so eng gesteckt hat, dass der allgemeine Wunsch, die Pflichtteilsentziehung zu erleichtern, in Deutschland nur noch mithilfe einer (utopischen) Verfassungsänderung realisiert werden kann.

89 90 91 92 93 94 95 96

Für eine derartige Klausel Lange AcP 2004, 804, 826 ff. Z. B. Ungarn, § 663 ZGB. Lettland, Art. 422 Nr. 4 ZGB („verschwenderisch oder unsittlich gelebt“). Polen, Art. 1008 ZGB. Schweiz, Art. 477 Nr. 2 ZGB. Art. 86 Erbgesetz. Art. 61 Erbgesetz. Art. 42 Erbgesetz.

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Die Entscheidung BVerfGE 112, 332 ist kein Ruhmesblatt für das BVerfG. Der Vorrang der Verfassung97 bewährt sich zwar auch dort, wo die Verfassung schweigt; denn Schweigen kann im Einzelfall durchaus „beredt“ sein. Es kann aber auch Offenheit signalisieren. Für die nach wie vor notwendige Reform des Pflichtteilsrechts hätte man sich mehr Offenheit gewünscht.

97

Dazu grundlegend R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 4 (1981), S. 485 ff.

Grundrechtliche Wettbewerbsfreiheit – Ein Exempel für die Debatte um den Gewährleistungsgehalt der Grundrechte Von Johannes Hellermann, Bielefeld I. Stationen der Diskussion um einen weiten oder engen Grundrechtsschutz Vor knapp 25 Jahren hielt Rainer Wahl anlässlich der Feierlichen Eröffnung des Akademischen Jahres 1986/87 einen – bald darauf in den Freiburger Universitätsblättern publizierten – Vortrag, der der „Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem“ gewidmet war. Der Beitrag galt primär dem grundrechtlichen Schutz der Wissenschaftsfreiheit und der Bestimmung seiner Grenzen dort, wo der Vorgang und der Prozess des Forschens als solcher zu Konflikten mit anderen (Verfassungs-)Rechtsgütern führen.1 Dieses zunächst gegenständlich beschränkte Interesse führte ihn jedoch zu weitergehenden, grundsätzlichen Überlegungen zu dem derzeitigen Stand der Grundrechtsdogmatik, die er so formulierte: „Mein grundsätzliches Unbehagen entzündet sich an der relativen Gehaltsarmut der im Verfassungsrecht alles dominierenden Abwägungsdogmatik. … Für diese alles entscheidende Abwägung zweier sog. Verfassungswerte hat die Dogmatik zwar ein gewisses, überwiegend mit Formalbegriffen arbeitendes Instrumentarium entwickelt. Aber – ich spitze zu – die Abwägungsdogmatik enthält nur ein inhaltlich karges und schmales Entscheidungsprogramm. Dabei hat es zuweilen den Anschein, dass für dieses Abwägen eine nähere Analyse des jeweiligen Grundrechts nicht eigentlich erforderlich ist: der Rang- und Wertvergleich steht im Mittelpunkt mit all seinen Unwägbarkeiten, seiner mangelnden Vorhersehbarkeit und seinen Einbußen an Rationalität des Entscheidens. Ich halte diesen Zustand für eine Sackgasse der Grundrechtsdogmatik. Die gesellschaftlichen Konflikte, die sich rechtlich als Grundrechtsprobleme darstellen, sind so vielfältig, dass es dringend erforderlich ist, alle Möglichkeiten der Differenzierung der inhaltlichen Analyse bei den einzelnen Grundrechten auszuschöpfen, ihre Besonderheiten und ihren spezifischen Gehalt herauszuarbeiten, um nicht alles auf das Abwägen zu setzen.“2 Deshalb genüge es insbesondere nicht, danach zu fragen, ob ein Verhalten dem Schutzbereich eines Grundrechts unterfällt, sondern es sei darüber hinaus geboten 1 Rainer Wahl, Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (19 ff.). 2 Wahl (Fn. 1), S. 29 f.

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zu untersuchen, was denn der Inhalt der für dieses Verhalten grundrechtlich garantierten Freiheit, was denn der Gewährleistungsinhalt und -umfang des Grundrechts ist.3 Für die Wissenschaftsfreiheit soll daraus etwa folgen: „Das Grundrecht stellt den Wissenschaftler nicht generell frei von den Anforderungen der allgemeinen Rechtsordnung.“4 Lange schien es, als sei die von Rainer Wahl5 und anderen6 ausgesprochene Mahnung obsolet geworden, die grundrechtsdogmatische Entwicklung darüber hinweggegangen. Das Bundesverfassungsgericht hat, im Schrifttum mehrheitlich unterstützt, die Linie verfolgt, die grundrechtlichen Schutzbereiche zu weiten, von differenzierter Untersuchung des Gewährleistungsinhalts und -umfangs abzusehen und der Abwägung zentrale Bedeutung für den grundrechtlichen Freiheitsschutz zuzuweisen.7 Für die letzten Jahre ist freilich konstatiert worden, dass das Bundesverfassungsgericht, namentlich sein Erster Senat, in „einer erstaunlichen Fülle von Entscheidungen zur Informationsfreiheit, zur Versammlungsfreiheit, zur Berufsfreiheit, zur Unverletzlichkeit der Wohnung und zur Religionsfreiheit … die Prüfung des Schutzbereichs methodisch intensiviert und im Ergebnis verengt“ habe.8 Diese Entwicklung hat auch in der Wissenschaft die Debatte um eine enge oder weite Bestimmung des grundrechtlichen Schutzumfangs in den letzten Jahren neu entfacht. Einerseits wird konstatiert, dass die Zahl der Autoren zugenommen zu haben scheine, die den Schutzbereich der Freiheitsgrundrechte „nicht mehr im Zweifel weit im Sinne eines Rechts auf beliebiges Verhalten innerhalb des jeweils gegenständlichen Themengebiets auslegen, sondern in den Grundrechten nur noch enger als bisher zu interpretierende punktuelle freiheitliche Gewährleistungen erblicken“.9 Andererseits und vor allem aber sind Stimmen laut geworden, die – teils sehr deutlich und heftig – diese neuere Entwicklung als grundrechtsdogmatisch und sachlich verfehlt kritisieren und für einen weiten Schutzumfang der Freiheitsrechte streiten.10

3

Wahl (Fn. 1), S. 32 f. Wahl (Fn. 1), S. 33. 5 Vgl. auch Rainer Wahl, Forschungs- und Anwendungskontrolle technischen Fortschritts als Staatsaufgabe? – dargestellt am Beispiel der Gentechnik, UTR 14 (1991), 7 (28 ff.). 6 Vgl. nur Bernhard Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, Der Staat 42 (2003), 165 ff. 7 So der Befund bei Christoph Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NVwZ 2005, 1973 (1973). 8 Möllers (Fn. 7), S. 1973. Ähnlich Wolfgang Kahl, Neuere Entwicklungslinien der Grundrechtsdogmatik, AöR 131 (2006), 579 (608). 9 So Kahl (Fn. 8), S. 605. 10 Vgl. insbesondere Kahl (Fn.8), S. 605 ff.; Wolfram Höfling, Kopernikanische Wende rückwärts? in: Stefan Muckel (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Rüfner zum 70. Geburtstag, 2003, S. 329; Stefan Rixen, Wettbewerb im Gesundheitswesen zwischen Gewährleistungsstaat und Grundrechtsschutz, in: Arndt Schmehl/Astrid Wallrabenstein (Hrsg.), Steuerungsinstrumente im Recht des Gesundheitswesens, 2007, S. 109; Möllers (Fn. 7), S. 1973 ff.; Jens 4

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II. Die Debatte um die Reichweite grundrechtlicher Wettbewerbsfreiheit Ein Gegenstand der Kontroverse ist die Reichweite des grundrechtlichen Schutzes der sog. Wettbewerbsfreiheit. Dass die berufliche Betätigung im Wettbewerb vom Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) erfasst ist, dürfte zwar grundsätzlich anerkannt sein;11 mit Recht wird allerdings konstatiert, dass die genauere Bestimmung des hierdurch vermittelten Grundrechtsschutzes unklar geblieben ist.12 Dies macht die Wettbewerbsfreiheit zu einem Objekt des Streits um eine eher extensive oder restriktive Bestimmung der grundrechtlichen Schutzwirkungen. 1. Zwei Beispiele: Der Glykolwein-Beschluss und das Festbeträge-Urteil Vor diesem Hintergrund haben einige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Aufmerksamkeit erregt. Hervorzuheben sind etwa der sog. Glykolwein-Beschluss13 oder das Urteil zu den Festbeträgen14, die hier zunächst exemplarisch betrachtet werden sollen. a) Der Glykolwein-Beschluss In seiner Glykolwein-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht bekanntlich angenommen, dass marktbezogene Informationen des Staates den Gewährleistungsbereich der Berufsfreiheit der betroffenen Wettbewerber nicht beeinträchtigen, sofern der Einfluss auf wettbewerbserhebliche Faktoren ohne Verzerrung der Marktverhältnisse nach Maßgabe der verfassungsrechtlichen Vorgaben für staatliches Informationshandeln, d. h. auf der Grundlage einer staatlichen Aufgabe und im Rahmen der Zuständigkeitsordnung sowie unter Beachtung der Anforderungen an die Richtigkeit und Sachlichkeit von Informationen erfolgen.15 Begründet hat das Bundesverfassungsgericht diese Annahme – knapp zusammengefasst – damit, dass bei einer unternehmerischen Berufsbetätigung am Markt nach den Grundsätzen des Wettbewerbs die Reichweite des Freiheitsschutzes auch durch die rechtlichen Regeln mitbestimmt werde, die den Wettbewerb ermöglichen und begrenzen; in diesem Rahmen sichere Art. 12 Abs. 1 GG die Teilhabe am Wettbewerb nach Maßgabe seiner Funktionsbe-

Kersten, Herstellung von Wettbewerb als Verwaltungsaufgabe, VVDStRL 69 (2010), 288 (294, Fn. 23; 320). 11 Vgl. BVerfGE 105, 252 (265); 106, 275 (298); 116, 202 (221). 12 Josef Franz Lindner, Zur grundrechtsdogmatischen Struktur der Wettbewerbsfreiheit, DÖV 2003, 185 (186); Stefan Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 235; ders. (Fn. 10), S. 116. 13 BVerfGE 105, 252 ff. 14 BVerfGE 116, 275 ff. 15 BVerfGE 105, 252 (LS 1; 268).

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dingungen.16 Hierzu zähle auch, dass ein am Markt tätiges Unternehmen sich der – auch kritischen – Kommunikation über die Qualität seiner Produkte oder seines Verhaltens aussetze; Art. 12 Abs. 1 GG verbürge keine Recht auf uneingeschränkte unternehmerische Selbstdarstellung am Markt und kein Recht des Unternehmens, von anderen nur so dargestellt zu werden, wie es gesehen werden möchte bzw. sich selber sieht.17 Ein hohes Maß an Informationen der Marktteilnehmer über marktrelevante Faktoren sieht das Gericht gerade als Grundlage der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs.18 In Situationen, in denen die am Markt verfügbaren Informationen unvollständig sind oder von den Adressaten nur ungleich aufgenommen und verarbeitet werden können, fördere es die Funktionsweise des Marktes, wenn durch zusätzliche, gegebenenfalls auch staatliche Informationen Gegengewichte gesetzt werden oder wenn die überlegene Informationsmacht einzelner Marktteilnehmer ausgeglichen wird.19 Die Rahmenbedingungen wettbewerbsbezogenen staatlichen Informationsverhaltens sollen dann, auch wenn der Staat selbst hier nicht Wettbewerber ist, insbesondere durch die Regeln des Wettbewerbsrechts geprägt sein20 und sich auch nach den Funktionserfordernissen des Marktes richten.21 Der Gewährleistungsbereich des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG soll deshalb nicht schon beeinträchtigt sein, wenn der Staat den Marktteilnehmern marktrelevante Informationen bereitstellt, auf deren Grundlage diese eigenbestimmte, an ihren Interessen ausgerichtete Entscheidungen über ihr Marktverhalten treffen können, sondern erst dann, wenn die Informationstätigkeit sich in der Zielsetzung und ihren Wirkungen als funktionales Äquivalent eines Grundrechtseingriffs erweist.22 Diese Beurteilung ist in der Literatur zwar keineswegs einheitlich, aber doch überwiegend kritisch aufgenommen worden wegen der restriktiven Annahme eines Eingriffs.23 Vorgehalten wird dem Bundesverfassungsgericht vor allem, es nutze einfachrechtliche Normen, um marktbezogene Informationen aus dem Schutz der Berufsfreiheit herauszunehmen;24 die Begründung dafür, dass es an einem Grundrechtsein16

BVerfGE 105, 252 (265). BVerfGE 105, 252 (266). 18 BVerfGE 105, 252 (266). 19 BVerfGE 105, 252 (267). 20 BVerfGE 105, 252 (267 f.). 21 BVerfGE 105, 252 (272). 22 BVerfGE 105, 252 (273). 23 Im Grundsatz zustimmend etwa Böckenförde (Fn. 6), S. 178; Christian Bumke, Publikumsinformation. Erscheinungsformen, Funktionen und verfassungsrechtlicher Rahmen einer Handlungsform des Gewährleistungsstaates, Die Verwaltung 37 (2004), 3 (21 ff.); Lindner (Fn. 12), S. 192. Krit. hingegen etwa Dietrich Murswiek, Das Bundesverfassungsgericht und die Dogmatik mittelbarer Grundrechtseingriffe, NVwZ 2003, 1 (3); Horst Dreier, Grundrechtsdurchgriff contra Gesetzesbindung?, Die Verwaltung 36 (2003), 105 (135 f.); Peter M. Huber, Die Informationstätigkeit der öffentlichen Hand – ein grundrechtliches Sonderregime aus Karlsruhe ?, JZ 2003, 290 ff.; Friedrich Schoch, Die Schwierigkeiten des BVerfG mit der Bewältigung staatlichen Informationshandelns, NVwZ 2011, 193 (194). 24 Möllers (Fn. 7), S. 1977. 17

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griff fehlen solle, greife dem Duktus nach eher auf Erwägungen zurück, die einer Rechtfertigungsprüfung zuzurechnen wären.25 Diese Kritik wird geübt vor dem Hintergrund der Annahme eines weiten sog. modernen Eingriffsbegriffs, der auch mittelbar-faktische Einwirkungen, die dem Staat zurechenbar sind, als Grundrechtseingriff (oder jedenfalls Grundrechtseingriffsäquivalent) anerkennt und wettbewerbsrelevante staatliche Informationen ohne Weiteres darunter fassen will. Nun ist der These, ein solcher erweiterter moderner Eingriffsbegriff sei längst etabliert,26 im Grundsatz kaum zu widersprechen; auch von staatlichen Realakten ausgehende, bloß tatsächlich oder mittelbar nachteilig wirkende Einwirkungen auf grundrechtsgeschützte Freiheiten können als Eingriff(säquivalent) anzusehen sein. Hinsichtlich der Voraussetzungen für die Annahme eines solchen mittelbar faktisch wirkenden Eingriffs aber besteht keineswegs Einigkeit und Sicherheit; während manche jede für den Grundrechtsträger nachteilige Einwirkung auf den Schutzgegenstand genügen lassen wollen,27 stellen andere auf die Intensität der freiheitsmindernden Wirkung28 oder auf eine wertende Gesamtbetrachtung von Unmittelbarkeit, Finalität und Schwere (Intensität) des staatlichen Handelns und seiner Auswirkungen ab29 oder verlangen, dass dem Grundrechtsträger ein grundrechtsgeschütztes Verhalten ganz oder teilweise unmöglich gemacht wird30. Genau um die Markierung jener Grenze, bei deren Überschreiten das nachteilig wirkende staatliche Informationshandeln als Eingriff(säquivalent) angesehen werden kann, geht es dem Bundesverfassungsgericht. Dass es dabei zu einem anderen Urteil als seine Kritiker kommt, beruht darauf, dass es – anders als diese – nicht jede staatliche Aktivität im Wettbewerb, die sich für Wettbewerbsteilnehmer nachteilig auswirkt, so werten will, vielmehr auch dem Staat die Handlungsmöglichkeiten im Wettbewerb zugesteht, die auch Privaten als Konkurrenten, als Nachfrager oder auch in anderer Rolle offenstehen.31 Dies führt das Bundesverfassungsgericht dazu, die Eingriffsschwelle aus den vorgefundenen, teils auch einfachrechtlich ausgestalteten Sachgesetzlichkeiten des betroffenen Lebensbereichs heraus zu entwickeln.

25

Höfling (Fn. 10), S. 332, 334. So etwa Florian Becker/Ylva Blackstein, Der transparente Staat – Staatliche Verbraucherinformation über das Internet, NJW 2011, 490 (491). 27 Höfling (Fn. 10), S. 339. 28 Friedrich Schoch, Staatliche Informationspolitik und Berufsfreiheit, DVBl. 1991, 667 (670). 29 Huber (Fn. 23), S. 293. 30 Bodo Pieroth/Bernhard Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 26. Aufl. 2010, Rn. 240. 31 Insofern geht die These von Möllers (Fn. 7), S. 1977, das Bundesverfassungsgericht etabliere in dieser Entscheidung eine staatlich gesteuerte Informationsordnung, über das Anliegen des Gerichts hinaus. 26

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b) Das Festbeträge-Urteil Im nachfolgenden Festbeträge-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die gesetzlich bestimmten Verbänden eingeräumte Befugnis, für Arzneimittel bzw. Hilfsmittel Festbeträge (d. h. Höchstpreise, zu denen die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung die Kosten für die Versicherten übernehmen) festzusetzen, verfassungsgemäß ist; insbesondere sei die Festbetragsfestsetzung nicht am Grundrecht der Berufsfreiheit der Pharmaunternehmen, Optiker und Hörgeräteakustiker zu messen.32 Auch hier geht das Gericht davon aus, dass Art. 12 Abs. 1 GG das berufsbezogene Verhalten von Unternehmen am Markt nach den Grundsätzen des Wettbewerbs schütze; insbesondere umfasse die Berufsfreiheit auch das Recht der am Markt Tätigen, die Bedingungen ihrer Marktteilnahme, namentlich auch Art und Qualität sowie den Preis der angebotenen Güter und Dienstleistungen selbst festzulegen.33 Jedoch sei in gleicher Weise auch das Recht der Nachfrager geschützt, zu entscheiden, ob sie zu diesen Bedingungen Güter und Dienstleistungen erwerben wollen; soweit gesetzliche Regeln dieses Recht der Nachfrager beschränkten, sei das an ihren Grundrechten, nicht aber an denen anderer Marktteilnehmer, konkret der Anbieter zu messen.34 Zwar habe im Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung jede Umgestaltung zur Folge, dass sich auch der Umfang dessen ändere, woran die Leistungserbringer teilhaben, doch sei dies nur ein notwendiger und unvermeidbarer Reflex geänderter Leistungsansprüche; die Anbieter hätten am Markt die Möglichkeit, sich darauf einzustellen.35 Auch insoweit werde – wie das Bundesverfassungsgericht einleitend formuliert – die Reichweite des Freiheitsschutzes durch die rechtlichen Regeln mitbestimmt, die den Wettbewerb ermöglichen und begrenzen.36 Auch diese Entscheidung ist auf heftige Kritik gestoßen. Ihr wird vorgehalten, durch eine Verkürzung des grundrechtlichen Schutzbereichs rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in die Berufsfreiheit auszuschließen, die realen Ausübungsbedingungen der Berufsfreiheit zu einer Gewährleistungsaufgabe des Gesetzgebers zu machen und den Wettbewerb einer einfachrechtlich ausgestaltbaren Grundrechtsvoraussetzung anzunähern.37 Diese Bewertung beruht freilich auf einer wesentlichen Voraussetzung: Sie setzt den Wettbewerb als einen Wettbewerb Privater auf einem Markt der Grundrechtsträger voraus;38 auch der Markt der gesetzlichen Krankenversicherung wird als ein Wettbewerbsmarkt der Grundrechtsträger betrachtet, in dem private Anbieter um private 32 33 34 35 36 37 38

BVerfGE 106, 275 (298). BVerfGE 106, 275 (298 f.). Vgl. BVerfGE 106, 275 (299). BVerfGE 106, 275 (301). BVerfGE 106, 275 (298). Rixen (Fn. 10), S. 119 f. So ausdrücklich Rixen (Fn. 10), S. 121 f., 127.

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Nachfrager konkurrieren. In dieser Perspektive wird der eingreifende Charakter der Festbetragsregelung damit begründet, dass der Gesetzgeber die Versicherten zwar nicht zum Erwerb nur festbetragsgebundener Produkte verpflichte, aber durch das nicht-imperative, auf Anreize setzende Instrument der Festbetragsregelung mit gleicher Wirkung auf sie einwirke.39 Indem so allein die Anreizwirkung auf die privaten Abnehmer in den Blick genommen wird, wird erstaunlicherweise übergangen, was die erste und zentrale Rechtswirkung der Festbetragsregelung ist, nämlich die Beschränkung der Erstattungspflicht der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Markt der Gesundheitsversorgung im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung ist eben nicht allein ein Markt der Privaten; vielmehr sind nach dem Sachleistungsprinzip die als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfassten Krankenkassen Vertragspartner der Leistungserbringer. Wer die Begrenzung der Leistungspflicht öffentlich-rechtlicher Aufgabenträger wegen der überschießenden Anreizwirkung auf das Verhalten der privaten Nachfrager als Grundrechtseingriff gegenüber den Leistungsanbietern ansehen will, fordert unter dem Etikett staatsgerichteter Eingriffsabwehr in Wahrheit eine staatliche Leistung ein, wenn nicht unmittelbar in Gestalt staatlicher Finanzleistungen, so doch zumindest in Gestalt gesetzlicher Regelungen, die zu bestimmten Kassenleistungen und korrespondierend zu einer Beitragsinanspruchnahme anderer Privater verpflichten. Die subjektiv- und eingriffsabwehrrechtlich gedachte Wettbewerbsfreiheit kann einen solchen Anspruch schwerlich umschließen.40 2. Zum Umfang individuellen Grundrechtsschutzes beruflicher Betätigung im Wettbewerb In dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – so kann man die Kritik zusammenfassen und zuspitzen – werde das Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG von einem Recht der Marktteilnehmer, ihren Wettbewerb frei zu gestalten, in einen Anspruch verwandelt, am staatlich frei gestalteten Wettbewerb teilzuhaben. Damit werden plakativ zwei unterschiedliche Konzeptionen von berufsgrundrechtlichem Schutz der Wettbewerbsfreiheit einander entgegengesetzt. Auf der einen Seite steht die Vorstellung, Markt und Wettbewerb seien das Produkt der individuellen Ausübung der grundrechtlichgeschützten Wettbewerbsfreiheit der einzelnen.41 Auf der anderen Seite – so lautet der Vorwurf – erfolge eine Umprägung der Wettbewerbsfreiheit im Sinne einer institutionalistischen, nicht-individualistischen Deutung.42 Diese Entgegensetzung einer individuellen und einer institutionellen Sicht auf den Wettbewerb markiert jedoch den entscheidenden Punkt nicht präzise. Denn Wettbe39

Rixen (Fn. 10), S. 126. Vgl. auch Lindner (Fn. 12), S. 192 mit Fn. 48, mit Blick auf die Grundrechtsrelevanz der Vergabe öffentlicher Aufträge; vgl. dazu auch Kersten (Fn. 10), S. 315, Fn. 107. 41 Kersten (Fn. 10), S. 293. 42 Kahl (Fn. 8), S. 609; Rixen (Fn. 10), S. 116. Vgl. auch Möllers (Fn. 7), S. 1977, der davon spricht, die Prüfung des Schutzbereichs werde der individuellen Perspektive entzogen und in einen gesamtgesellschaftlichen Horizont verlegt. 40

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werb ist notwendig überindividuell und besteht nur da, wo mehrere Anbieter und Nachfrager in Interaktion treten.43 Das behauptete Recht der einzelnen Wettbewerber, den Wettbewerb frei zu gestalten, kann nicht mehr sein als die auch vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich anerkannte Freiheit „der am Markt Tätigen, die Bedingungen ihrer Marktteilnahme selbst festzusetzen“;44 die von den anderen (privaten) Marktteilnehmern gesetzten Wettbewerbsbedingungen kann der einzelne selbstverständlich nicht beeinflussen, sondern nur seinerseits darauf im eigenen Wettbewerbsverhalten reagieren. Der entscheidende Punkt ist, dass die sog. individualistische Sicht der grundrechtlichen Beurteilung der beruflichen Betätigung im Wettbewerb die Vorstellung eines prinzipiell staatsfreien Wettbewerbs zugrunde legen und jegliche wettbewerbsrelevante staatliche Aktivität als Eingriff in die Berufsfreiheit der privaten Marktteilnehmer qualifizieren will. Diese Annahme folgt aber keineswegs so selbstverständlich aus einem individualistischen, der personalen Freiheit verpflichteten Grundrechtsverständnis, wie vorgegeben wird. Vielmehr wird damit in das Individualgrundrecht der Berufsfreiheit eine wirtschaftspolitische Konzeption hineingelesen, die mit der Annahme einer grundsätzlichen wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes kaum noch in Einklang zu bringen ist.45 Der hier zugrunde gelegten strikten, undifferenzierten Unterscheidung und Entgegensetzung des privaten und des staatlichen Sektors im Wettbewerb korrespondiert dann umgekehrt auch eine überzeichnende Darstellung der Wettbewerbskonzeption des Bundesverfassungsgerichts, wenn unterstellt wird, danach werde der Wettbewerb zur mehr oder minder frei einfachrechtlich ausgestaltbaren Grundrechtsvoraussetzung46 bzw. Freiheit einer staatlich gesteuerten Ordnung, etwa einer staatlich gesteuerten Informationsordnung unterworfen und nur noch in öffentlich-rechtlicher Form gewährt.47 Weder das Bild eines grundsätzlich staatsfreien Wettbewerbs noch der angebliche Gegenentwurf eines vollständig staatlich gestalteten Wettbewerbs sind jedoch zutreffend. Sie werden dem Umstand nicht gerecht, dass an dem Wettbewerb als einer überindividuellen Veranstaltung neben den einzelnen Privaten auch der Staat in verschiedener Weise Anteil hat. Mit Recht hält die Rechtsprechung – insbesondere im Bezug auf die staatliche Wirtschaftsbetätigung im Wettbewerb – daran fest, dass die nicht43 Vgl. Lindner (Fn. 12), S. 189, der den Wettbewerb treffend umschreibt als „ein subjektunabhängiges Phänomen, ein pluri-subjektives Interaktionssystem, das mehrere wettbewerbende Teilnehmer voraussetzt und einen spezifischen Interaktionsmechanismus der Marktteilnehmer impliziert. Dieses Interaktionssystem ist vom einzelnen Marktteilnehmer nicht steuerbar, sieht man von seinem eigenen Beitrag dazu ab.“ Vgl. auch Rixen (Fn. 10), S. 122: „Der Private ist zusammen mit anderen, die ebenfalls Entscheidungen für die Konkurrenz getroffen haben und sich konkurrierend betätigen, wettbewerbsbestimmender, wettbewerbskreierender Faktor.“ 44 BVerfGE 106, 275 (299). 45 Vgl. auch – mit Blick auf die grundrechtliche Beurteilung von Verwaltungsmonopolen – Joachim Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 2004, Art. 12 Rn. 80. 46 In diese Richtung Rixen (Fn. 10), S. 117, 119. 47 Vgl. Möllers (Fn. 7), S. 1977.

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imperative, quasi-private Beeinflussung des Wettbewerbs durch den Staat von hoheitlich-verbindlichen Vorgaben zu unterscheiden ist. Die Rechtsprechung zur staatlichen Wettbewerbsteilnahme, die erst bei einem staatlichen Verdrängungswettbewerb einen Grundrechtseingriff annehmen will,48 kann man ebenso wie die Beurteilung wettbewerbsrelevanter staatlicher Warnungen im Glykolwein-Beschluss als den Versuch sehen, die Schwelle zu markieren, bei deren Überschreiten mittelbar faktische Einwirkungen des Staates auf den Wettbewerb sich nicht mehr im Rahmen des auch Privaten offenstehenden Verhaltens halten, sondern einen spezifisch hoheitlichen Gehalt gewinnen und zum Äquivalent eines förmlichen Eingriffs werden. Darüber hinaus muss – wie das Festbeträge-Urteil zeigt – auch bei spezifisch hoheitlichen Vorgaben für den Wettbewerb danach differenziert werden, gegenüber wem und in welcher Weise diese Vorgaben erfolgen. Dass damit das Grundrecht der Berufsfreiheit zu einem Grundrecht nach Maßgabe des einfachen Rechts werde und es nach dem Konzept des Bundesverfassungsgerichts überhaupt keinen Eingriff in die Wettbewerbsfreiheit mehr gebe,49 trifft nicht zu. Wenn und soweit der staatliche Gesetzgeber die Freiheit der einzelnen Marktteilnehmer, die Bedingungen ihrer eigenen Marktteilnahme selbst zu bestimmen, beschneidet, liegt darin ein Eingriff in die Berufsfreiheit. Dies kann nicht nur durch einen Eingriff im klassischen Sinn erfolgen, worunter „ein rechtsförmiger Vorgang verstanden [wird], der unmittelbar und gezielt (final) durch ein vom Staat verfügtes, erforderlichenfalls zwangsweise durchzusetzendes Ge- oder Verbot , also imperativ, zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten führt.“50 Dass auch mittelbar faktische Beeinträchtigungen als Eingriffs(äqivalent) anzusehen sein können, hat das Bundesverfassungsgericht in dem Tariftreue-Beschluss, der sich ausdrücklich auf die gleiche Argumentationsbasis stellt wie der Glykolwein-Beschluss und das Festbeträge-Urteil, verdeutlicht.51

III. Die allgemeine Debatte um Gewährleistungsgehalt und tatbestandliche Reichweite der Freiheitsrechte Die – hier zunächst anhand einzelner Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Wettbewerbsfreiheit exemplarisch aufgegriffene – Diskussion weist noch eine allgemeinere grundrechtstheoretische und grundrechtsdogmatische Dimension auf. Der jüngeren Grundrechtsjudikatur zu Art. 12 Abs. 1 GG und zu anderen Freiheitsrechten wird vorgehalten, bewährte grundrechtsdogmatische Standards aufzugeben, die der Grundrechtsprüfung Rationalität verliehen und im Ergebnis freiheitssichernd wirkten.52 Insbesondere der Rekurs auf einen gesondert festzustellenden Ge48 49 50 51 52

Grundlegend BVerwG, NJW 1995, 2938 (2939). Rixen (Fn. 10), S. 120. BVerfGE 105, 279 (300). BVerfGE 116, 202 (221 ff.). So etwa Höfling (Fn. 10), S. 334 ff.; Rixen (Fn. 10), S. 119; Kahl (Fn. 8), S. 604.

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währleistungsinhalt der Grundrechte, der der einfachrechtlichen Ausgestaltung zugänglich sein und zu einer Renaissance der problematischen Kategorie der Grundrechtsausgestaltung führen soll, hat Kritik provoziert.53

1. Zum grundrechtsdogmatischen Stellenwert des „Gewährleistungsinhalts“ In der Tat hat das Bundesverfassungsgericht in der Glykolwein-Entscheidung von dem – nicht berührten – Gewährleistungsbereich des Grundrechts gesprochen.54 Wenn man diese Formulierungen so versteht, als wolle das Bundesverfassungsgericht im Anschluss an den Schutzbereich auch noch gesondert einen Gewährleistungsinhalt des Grundrechts prüfen, um auf dieser Ebene den grundrechtlichen Schutzumfang restriktiver zu bestimmen, würde das Bundesverfassungsgericht damit einen Vorschlag aufgreifen, den – in Anknüpfung an Wahl55 – vor allem Böckenförde prominent in die Diskussion eingebracht hat. Er will unterscheiden zwischen dem grundrechtlichen Schutzbereich, der lediglich den vom Freiheitsrecht erfassten gegenständlichen Sach- und Lebensbereich (Ehe und Familie, Kunst und Wissenschaft, Berufswahl und -ausübung etc.) beschreibe, und dem Gewährleistungsinhalt, der erst normativ aussage, was an Schutz, Freiheit, Teilhabe etc. durch das jeweilige Grundrecht gewährleistet wird.56 In der Sache steht dahinter das Anliegen, einer unreflektierten Ausdehnung des grundrechtlichen Schutzumfangs entgegenzuwirken, die in der Folge dazu nötigt, auf der Rechtfertigungsebene – insbesondere bei den vorbehaltlos gewährleisteten Freiheitsrechten – zu dogmatisch und inhaltlich unbefriedigenden Lösungen zu greifen.57 Der Vorschlag, diesem Anliegen durch die Einfügung einer weiteren, neuen Stufe der Grundrechtsprüfung – genauer: der Prüfung von Freiheitsrechten in ihrer staatsgerichtet-abwehrrechtlichen Funktion – in Gestalt des Gewährleistungsinhalts Rechnung zu tragen, weckt allerdings Bedenken. Es fragt sich schon, ob dieser Vorschlag nicht vorschnell ein unreflektiertes und dann auch extensives Verständnis der grundrechtlichen Schutzbereiche zulässt, indem er darin nur ein deskriptives Element, eine Beschreibung des Einzugsbereichs des jeweiligen Grundrechts sehen will; denn auch in der Anerkennung des so verstandenen Schutzbereichs liegt doch schon ein normatives Element und das Ergebnis einer Interpretation. Wenn in dieser Weise einem Grundrecht zunächst ein eher weiter Schutzbereich in Gestalt eines von ihm erfassten 53

Höfling (Fn. 10), S. 335; Rixen (Fn. 10), S. 117, 119. BVerfGE 105, 252 (268, 273). 55 Vgl. Wahl (Fn. 1), S. 32, mit dem Hinweis auf eine neue Auffassung, die eine dreigliedrige Analyse und ein dreigliedriges Prüfungsschema zugrunde lege: „Sie hält die Frage nicht für trivial, was denn eigentlich damit gemeint, und was geregelt sei, wenn Wissenschaft und Kunst ,frei sind. Es wird nach dem Inhalt der Gewährleistung und nach dem Umfang der Gewährleistung gefragt.“ 56 Böckenförde (Fn. 6), S. 174. 57 Böckenförde (Fn. 6), S. 168 ff. 54

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Sach- und Lebensbereichs zugestanden wird, setzt man sich dann möglicherweise unnötig dem Vorwurf aus, die nachfolgende Abgrenzung zwischen Schutzbereich und Gewährleistungsinhalt sei unscharf58 und der zusätzliche Rekurs auf den grundrechtlichen Gewährleistungsinhalt lasse nicht erkennen, unter welchen Voraussetzungen welche Grundrechtsbestimmung ihre abwehrrechtliche Maßstabsfunktion zu entfalten vermag.59 Diesen Einwänden entgeht man, wenn man den Begriff des Gewährleistungsinhalts nicht auf die sachliche Reichweite der grundrechtlich vermittelten Rechte bezieht, sondern allein auf die – bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen – möglichen Rechtsfolgen (nicht ihrer Ausdehnung, sondern ihrer Art nach). In diesem Sinne formulieren Pieroth/Schlink pointiert: „Das grundrechtliche Freiheitsrecht hat einen Schutzbereich, nämlich einen bestimmten von ihm als Schutzgut erfassten Ausschnitt aus der Lebenswirklichkeit, und es gewährt in diesem Schutzbereich bestimmte rechtlich ausgeformte Schutzwirkungen, insbesondere subjektive Rechte.“60 Seit den Freiheitsrechten nicht mehr nur die staatsgerichtete Abwehrfunktion zukommen soll, sondern darüber hinaus auch Leistungs- und Schutzansprüche gegen den Staat abzugewinnen sein sollen, besteht Anlass, den Gewährleistungsinhalt der Grundrechte, der damit – jedenfalls nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der vorherrschenden Auffassung in der Wissenschaft – mehrdimensional geworden ist, in diesem Sinne zu thematisieren. In eben dieser Bedeutung will Hoffmann-Riem die Kategorie des Gewährleistungsinhalts in die Grundrechtsdogmatik aufnehmen; es gehe darum, „die normativen Vorgaben der Grundrechtsnorm – ihren Gehalt – umfassend zu ermitteln, also das Normprogramm nicht nur in seiner Breiten-, sondern auch in seiner Tiefenwirkung zu erfassen. Dabei sind neben der Abwehrfunktion auch die Dimensionen der Schutzaufträge und Ausstrahlungswirkungen auf andere Normen einzubeziehen. Durch die Wahl des Begriffsbestandteils ,Gewährleistung soll signalisiert werden, dass das grundrechtliche Anliegen sich nicht in dem Schutz vor Eingriffen beschränkt.“61 Hoffmann-Riem will damit den – u. a. von Wahl eingeführten – Begriff des Gewährleistungsgehalts aufnehmen, wendet ihn aber der Sache nach anders. In seiner Verwendung liegen die Begriffe des Gewährleistungsgehalts und des Schutzbereichs auf unterschiedlichen Bedeutungsebenen: Während unter dem Begriff des Gewährleistungsgehalts erörtert wird, welche – eingriffsabwehrenden oder auch weiteren – Rechtswirkungen einem Freiheitsrecht zukommen können, behält der Begriff des Schutzbereichs (sowie des Eingriffs) in der staatsgerichtet-abwehrrechtlichen Dimension die Funktion, die tatbe-

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Kahl (Fn.8), S. 608, Fn. 165. Höfling (Fn. 10), S. 339. 60 So treffend Pieroth/Schlink (Fn. 30), Rn. 219. 61 Wolfgang Hoffmann-Riem, Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch, Der Staat 43 (2004), 203 (227). 59

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standliche Reichweite der staatsgerichtet-abwehrrechtlichen Gewährleistungsfunktion konkret zu bestimmen.62 Der Gewährleistungsgehalt der Freiheitsrechte in ihrer – hier interessierenden – staatsgerichtet-abwehrrechtlichen Funktion wird mitunter darin gesehen, dass sie ein Recht auf Ausübung der Freiheit enthielten und in diesem Sinne Erlaubnisnormen seien.63 Diese Kennzeichnung erscheint in doppelter Hinsicht zweifelhaft. Mit Blick auf den Gewährleistungsgehalt, also die grundrechtliche Rechtsfolge, respektiert sie nicht hinreichend, dass die Freiheit, das Erlaubtsein, schon vorstaatlich gegeben ist und der aus der normativen Anerkennung folgende rechtliche Anspruch darauf zielt, in der selbstbestimmten Entfaltung nicht rechtswidrig gehindert zu werden;64 im Kern dürfte deshalb der Gewährleistungsgehalt insoweit in einem staatsgerichteten Unterlassungsanspruch liegen.65 Zudem kann der Begriff der Erlaubnisnorm mit Blick auf die tatbestandliche Reichweite dieses Unterlassungsanspruchs – zu Unrecht, wie anschließend darzulegen ist – insinuieren, dass Gegenstand des abwehrrechtlichen Schutzes der Freiheitsrechte regelmäßig eine umfassende Verhaltensfreiheit sei. 2. Zur tatbestandlichen Reichweite der Freiheitsrechte in ihrer staatsgerichtet-abwehrrechtlichen Funktion Der die Rechtsfolgen bezeichnende Gewährleistungsgehalt in dem soeben beschriebenen Sinn prägt zugleich auch die tatbestandliche Prüfung der Freiheitsrechte; sie erfolgt für die Freiheitsrechte in ihrer sog. objektiv-rechtlichen Funktion anders66 als in der – hier interessierenden – staatsgerichteten Abwehrfunktion.67

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Entgegen der Annahme von Hoffmann-Riem (Fn. 61), S. 226, taugt der so gefasste Begriff des Gewährleistungsgehalts deshalb nicht dazu, „den Begriff Schutzbereich möglichst zu meiden und durch den … des Gewährleistungsgehalts zu ersetzen“. 63 Höfling (Fn. 10), S. 338, unter Bezugnahme auf Michael Sachs, in: Klaus Stern (Hrsg.), Staatsrecht III/1, 1988, S. 479 ff.; Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 206. 64 Vgl. Christoph Enders, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), GG, 30. ErgL. 2010, Vorbem. vor Art. 1 Rn. 23. 65 Vgl. Johannes Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, 1993, S. 133, sowie Höfling (Fn. 10), S. 339. 66 Insofern, mit Blick auf die Grundrechte in ihrer sog. objektiv-rechtlichen Funktion, ist Wolfgang Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, in: Michael Bäuerle (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht?, 2003, S. 53 (57), zuzustimmen, dass es nicht mehr angemessen ist, das grundrechtliche Schutzkonzept mit Hilfe des Begriffs „Schutzbereich“ zu umschreiben, weil es umfassender um die Gewährleistung von Freiheit gehe. 67 Vgl. Enders (Fn. 64), Vorbem. vor Art. 1 Rn. 129 ff.

Grundrechtliche Wettbewerbsfreiheit

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a) Zweistufige Struktur: Eingriff in den Schutzbereich und Eingriffsrechtfertigung In dieser staatsgerichtet-abwehrrechtlichen Dimension gliedert sich die Prüfung grundrechtlicher Freiheitsrechte, systematisch betrachtet, in zwei Stufen: (1.) die Frage nach dem Eingriff in die grundrechtlich geschützte Freiheit, an der sich entscheidet, ob die fragliche staatliche Maßnahme sich überhaupt vor dem Grundrecht rechtfertigen muss, und ggf. (2.) die Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des in der staatlichen Maßnahme liegenden Eingriffs vor den Anforderungen des Freiheitsrechts.68 Dies ist zu betonen, weil sich inzwischen ein dreistufiger Aufbau (Schutzbereich, Eingriff, Rechtfertigung) weitgehend etabliert hat; diese zunehmend verbreitete Verselbständigung der Eingriffsprüfung dürfte ihre Erklärung darin finden, dass die Beurteilung, ob ein Eingriff vorliegt, mit der Ausweitung des Eingriffsbegriffs an Schwierigkeit und Bedeutung zugenommen hat, ändert aber nichts daran, dass Schutzbereich und Eingriff erst gemeinsam die auf der ersten Stufe zu klärende Frage, ob eine staatliche Maßnahme überhaupt an den Rechtfertigungsanforderungen eines Freiheitsrechts zu messen ist, beantworten. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung, auf der Tatbestandsebene dürften keine Eingriffs- oder Rechtfertigungsaspekte eingebracht werden,69 zu relativieren; für die auf der ersten Stufe zu klärende Frage der Anwendbarkeit des Freiheitsrechts kommt es eben darauf an, ob ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegt, und damit auch auf den Eingriff. b) Zur tatbestandlichen Reichweite des grundrechtlichen Freiheitsschutzes Damit werden die Auslegung des Schutzbereichs und die Konkretisierung des Eingriffsbegriffs maßgeblich für die tatbestandliche Reichweite des Grundrechtsschutzes. Das eingangs referierte Anliegen Wahls und anderer, um der Vermeidung nicht befriedigend zu bewältigender Folgeprobleme auf der zweiten Stufe der Rechtfertigungsprüfung willen einer unreflektierten tatbestandlichen Ausdehnung des Freiheitsschutzes zu wehren, ist dann hier richtig verortet. Im Rahmen der Bestimmung des Schutzbereichs ist insbesondere der von Böckenförde zu Recht geäußerten Befürchtung zu begegnen, das herkömmliche Schutzbereichsverständnis begreife „den Grundrechtsinhalt bei den Freiheitsrechten lediglich als eine Ausfaltung abstrakter Beliebigkeits-Freiheit (Tun-und-Lassen-Können, was man will) auf dem vom Grundrecht benannten Sach- und Lebensbereich“.70 Schon eine sorgfältige Bestimmung des Schutzguts der Freiheitsgewährung kann dieser Fehlvorstellung wehren. Nicht alle Freiheitsrechte wollen ein bestimmtes Verhalten als solches und umfassend in seiner Freiheit gewährleisten, so dass man sie als Hand68 69 70

Vgl. Enders (Fn. 64), Vorbem. vor Art. 2 Rn. 94. Rixen (Fn. 10), S. 121. Böckenförde (Fn. 6), S. 167, 175.

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lungsrechte (oder auch als Freiheitsrechte im engeren Sinn oder „Darfrechte“) kennzeichnen könnte; vielmehr können Freiheitsrechte – als bloße Abwehrrechte – auch nur Unterlassungsansprüche gegen rechtswidrige Beeinträchtigungen an bestimmten Rechts- oder Lebensgütern gewähren.71 Für manche Freiheitsrechte ist das wohl offenkundig und unbestritten; Art. 10 GG ist ein Freiheitsrecht, schützt aber nur vor Beeinträchtigungen des Briefgeheimnisses und nicht etwa das Schreiben von Briefen umfassend vor jeglichen Beschränkungen durch die allgemeine Rechtsordnung. Für andere Freiheitsrechte, namentlich für die Kunst- und die Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG, ist das weniger eindeutig, doch lassen sich auch hier gute Gründe der Schutzbereichsinterpretation dafür angeben, dass eben nicht die künstlerische bzw. die wissenschaftliche Betätigung als solche und umfassend, d. h. vor sämtlichen Beschränkungen durch die allgemeine Rechtsordnung, sondern dass „Kunst“ bzw. „Wissenschaft“ nur vor spezifischen Beeinträchtigungen geschützt sein soll.72 Wo Freiheitsrechte bestimmte Handlungen als solche schützen, bleibt im übrigen die Interpretationsaufgabe bestehen zu klären, was genau diese geschützte Handlung ist; es ist eben nicht selbstverständlich, was z. B. eine Versammlung im Sinne von Art. 8 GG ist.73 Hinsichtlich des Eingriffs wird die tatbestandliche Reichweite des grundrechtlichen Freiheitsschutzes namentlich bei den mittelbar faktisch wirkenden Grundrechtsbeeinträchtigungen prekär. Gegenüber dem Einwand, die als restriktiv wahrgenommene Beurteilung des Vorliegens solcher Eingriffe (oder Eingriffsäquivalente) durch das Bundesverfassungsgericht gefährde etablierte Standards der Grundrechtsdogmatik, ist darauf hinzuweisen, dass auch die großzügige Anerkennung mittelbar faktisch wirkender Eingriffe ihre Folgeprobleme hat. Sie fördert nicht etwa per se die dogmatische Stringenz und Rationalität der Grundrechtsprüfung, sondern kommt selbst in verschiedener Hinsicht in Konflikt mit deren Standards: Die unausweichliche Abgrenzung zwischen eingriffsgleichen und bloß belästigenden mittelbar faktischen Auswirkungen74 nötigt auf der Eingriffsebene zu auf den Einzelfall abstellenden und abwägenden, strukturell eher der Rechtfertigungsebene vorbehaltenen Überlegungen; die Anwendung des Gesetzesvorbehalts wird problematisch;75 einzelne Rechtfertigungsanforderungen wie das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 2 GG sind etwa bei Drittbetroffenen auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts76 71

Zu dieser Unterscheidung der Handlungsrechte von sonstigen Freiheitsrechten vgl. ausführlich Hellermann (Fn. 65), S. 132 ff.; die Anregung zu diesen Ausführungen ist wesentlich Wahl (Fn. 1), S. 29 ff. zu verdanken. 72 Der Frage kann und muss hier nicht umfassend nachgegangen werden; vgl. zu früheren Überlegungen hierzu Hellermann (Fn. 65), S. 144 f. 73 Insofern greift Möllers (Fn. 7), S. 1977, zu kurz mit der These, es sei ein schlichtes, dogmatisches Argument für eine weite Schutzbereichsauslegung, dass „Versammlung“ jede Versammlung bezeichne usw. 74 Vgl. Pieroth/Schlink (Fn. 30), Rn. 257. 75 Vgl. dazu näher Hoffmann-Riem (Fn. 66), S. 70. 76 BVerfG, NJW 1999, 3399 (3400).

Grundrechtliche Wettbewerbsfreiheit

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nicht mehr anwendbar. Mit Recht mahnt Hoffmann-Riem deshalb, bei der Ausweitung des Eingriffsbegriffs den spezifischen Gewährleistungsgehalt der Grundrechte nicht aus den Augen zu verlieren,77 und damit auch hier zu einer eher restriktiven Handhabung. IV. Gewährleistungsstaatliches oder liberales Grundrechtsverständnis? Die Kritik an einer restriktiven Bestimmung des Gewährleistungsinhalts von Freiheitsrechten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verbindet sich leicht – schon die begriffliche Nähe verleitet dazu – mit der Diskussion um den Gewährleistungsstaat. Es wird davor gewarnt, dass ein gewährleistungsstaatlicher Theorieüberschuss zu einer Verkürzung der Grundrechte auf auszugestaltende Gewährleistungsbereiche und damit zu einem Freiheitsverlust im Regulierungsrecht führen könne.78 Es wird ein gewährleistungsstaatlicher Ansatz, gar eine Renaissance sozialstaatlicher Grundrechtstheorie ausgemacht;79 auch der modernisierte Sozialstaat in Gestalt des Gewährleistungsstaats dürfe sich „jedoch nicht von der Gewährleistung liberaler, tatbestandlich weit gefasster Grundrechte verabschieden …, indem er im Blick auf die realen Grundrechtsvoraussetzungen die Schutzbereiche verengt, damit der Gewährleistungssozialstaat um so mehr sein nützliches Gewährleistungswerk verrichten könne.“80 Dass das Bundesverfassungsgericht, etwa in den hier exemplarisch herangezogenen, umstrittenen Entscheidungen zur Wettbewerbsfreiheit, einer gewährleistungsstaatlichen Überformung des liberalen Grundrechts der Berufsfreiheit das Wort geredet hätte, ist aber – ungeachtet des Rekurses auf den grundrechtlichen Gewährleistungsgehalt – nicht erkennbar. Möglicherweise beruht diese Wahrnehmung auf einer überzogenen Vorstellung von der möglichen und angemessenen Reichweite eines liberalen Grundrechtsverständnisses. Die Vorstellung von Wettbewerb, die dem Bundesverfassungsgericht kritisch entgegengehalten wird, ist die eines prinzipiell allein privat sich organisierenden Wettbewerbs. Indem diese Vorstellung der Auslegung des Art. 12 Abs. 1 GG zugrunde gelegt werden soll, erfährt die Bestimmung in der Sache eine über die Gewährung individueller Freiheit hinausweisende inhaltliche Aufladung durch eine bestimmte wirtschaftspolitische Konzeption, und in dogmatischer Perspektive wird der subjektiv-abwehrrechtliche Grundrechtsschutz so weit ausgedehnt, dass die u. a. von Wahl geäußerten, eingangs referierten Bedenken geweckt werden. Sie haben gerade auch aus Sicht eines liberalen Grundrechtsverständnisses ihre Berechtigung.

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Hoffmann-Riem (Fn. 66), S. 70. Kersten (Fn. 10), S. 320. Rixen (Fn. 12), S. 240. Vgl. auch Höfling (Fn. 10), S. 335, 338. Rixen (Fn. 10), S. 120.

Die Grundrechte des Grundgesetzes: Erfolge, Schwächen, Zukunftsaufgaben Von Michael Kloepfer, Berlin* I. Einleitung Die Grundrechte des Grundgesetzes sind auf den ersten Blick eine einzige Erfolgsgeschichte. Mit den Grundrechten scheint es gelungen, den Staat primär vom Bürger her zu konzipieren und zu begründen: Der Staat ist für den Bürger da – und nicht umgekehrt. Nach zwei – im Kern freilich unterschiedlichen – deutschen Diktaturen im 20. Jahrhundert erscheint der Freiheitsgewinn durch die Grundrechte des Grundgesetzes umso strahlender. Jedoch teilt das Grundgesetz das Schicksal eines jeden (Gesetzes-) Textes: Auch das Grundgesetz ist zeitgebunden. Der Parlamentarische Rat hat in der Tat in kurzer Zeit sehr Beachtliches geleistet. Dennoch haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes in der Grundrechtsordnung Lücken gelassen. Dies mag teilweise bewusst, teilweise unbewusst geschehen sein. Andere Lücken sind erst später durch gesellschaftlichen und technischen Wandel entstanden. Bei Inkrafttreten des Grundgesetzes waren etwa die heutige Technisierung des Lebens (v. a. durch die Informationstechnologien), die grundlegenden Veränderungen gesellschaftlicher Wertnormen sowie die heutigen fundamentalen ökologischen und demographischen Herausforderungen nicht oder kaum vorhersehbar. Von den Grundrechten des Jahres 1949 können selbst mit Hilfe einer dynamischen Interpretation nur begrenzt Antworten auf die damals noch nicht gestellten Fragen erwartet werden. Bei allem gebotenen Respekt vor dem Grundgesetz ist es daher Aufgabe der Verfassungsrechtswissenschaft, neben den großen Erfolgen (II.) auch auf bestehende Schwächen (III.) und damit verbundene Zukunftsaufgaben (IV.) der Grundrechte des Grundgesetzes hinzuweisen. Nicht zuletzt der Jubilar hat dies in seinen Schriften immer wieder getan, wenn er etwa über den Umweltschutz als Staatsaufgabe oder die Europäisierung und Internationalisierung des Verfassungsstaates geforscht und publiziert hat.

* Meinem Assistenten, Florian Schärdel, danke ich für die engagierte Mitarbeit.

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II. Erfolge der Grundrechtsordnung 1. Grundrechtsexpansion Fast von einer Grundrechtseuphorie getragen, wetteifern das Bundesverfassungsgericht und die deutsche Staatsrechtslehre seit Mitte des 20. Jahrhunderts untereinander um grundrechtsexpansive Interpretationen der Verfassung. Der Weg der Grundrechtsexpansion durch Auslegung führte z. B. von der Eingriffsabwehr der Grundrechte zu grundrechtlichen Leistungsansprüchen, von subjektivrechtlichen zu objektivrechtlich-institutionellen Gehalten, vom Staatsbezug auch zum Privatbezug von Grundrechten und schließlich zur Entdeckung neuer Grundrechte1 (insb. des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, das in der Wissenschaft ersonnen war,2 bevor es von der Rechtsprechung aufgegriffen wurde3). Neueste Blüten des Grundrechtserfindungstrends des Bundesverfassungsgerichts sind das „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“4 und das „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“5, wobei letzteres allerdings schon seit Jahrzehnten für das Schrifttum und Teile der Rechtsprechung eine Selbstverständlichkeit darstellte. Das Bundesverfassungsgericht stellte sich bereits kurz nach seiner Errichtung im Jahre 1951 an die Spitze des Trends der Grundrechtsexpansion, indem es Art. 2 Abs. 1 GG, die allgemeine Handlungsfreiheit, als umfangreiches Auffanggrundrecht6 auslegte, um im konkreten Fall die Ausreisefreiheit im Grundgesetz zu verankern. Damit gab und gibt es im Geltungsbereich des Grundgesetzes nahezu keine grundrechtsfreien Räume mehr. Diese – nicht ganz selbstlose – Auslegung ist zwar auch innerhalb des Gerichts nicht ohne Kritik geblieben,7 hatte aber für das Bundesverfassungsgericht den Vorteil, dass nun auf allen Gebieten individualbezogenen Staatshandelns die Überprüfung durch die Verfassungsbeschwerden vor dem höchs1 Nicht durchgesetzt haben sich etwa das „Grundrecht auf Mobilität“ (vgl. Michael Ronellenfitsch, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Vorbemerkungen zur Mobilität mit dem Auto, DAR 1994, S. 7 ff.) oder das „Grundrecht auf Gesundheit“ (vgl. Seewald, Gesundheit als Grundrecht, 1982). Kritisch zur Vermehrung der Grundrechte bereits Horst Sendler, Wundersame Vermehrung von Grundrechten, NJW 1995, S. 1468 ff. 2 Vor allem das Gutachten von Steinmüller, BT-Drs. 6/3826; aber auch z. B. Michael Kloepfer, Datenschutz als Grundrecht, 1980, S. 18 f.; zur neueren Entwicklung siehe Michael Kloepfer/ Florian Schärdel, Grundrechte für die Informationsgesellschaft – Datenschutz und Informationszugangsfreiheit ins Grundgesetz?, JZ 2009, S. 453 ff. 3 BVerfGE 65, 1 (41 ff.) – Volkszählung. 4 BVerfGE 120, 274 – Online-Durchsuchung. 5 BVerfG, NJW 2010, 505 – Hartz IV-Regelsatz; dazu Thorsten Kingreen, Schätzungen „ins Blaue hinein“, NVwZ 2010, S. 558 ff.; Matthias Schnath, Das neue Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, NZS 2010, 297 ff. 6 BVerfGE 6, 32 (36 f.) – Elfes. 7 Sondervotum von Dieter Grimm, BVerfGE 80, 165 zu 80, 137 ff. – Reiten im Walde; vgl. auch Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, Rn. 428.

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ten deutschen Gericht möglich wurde. Der hierdurch erzielte Machtgewinn für das Bundesverfassungsgericht war erheblich und von ihm wohl auch angestrebt. 2. Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht Das entscheidende Verdienst des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Grundrechtrechtsordnung liegt vor allem darin, dass es in deutlicher Abkehr von Weimar den Anspruch der Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 Abs. 3 GG) in die Tat umsetzte.8 Die Weimarer Staatsrechtslehre war hinsichtlich der unmittelbaren Geltung der Grundrechte noch zu differenzierenden Ansichten gelangt. Die Frage war damals von Fall zu Fall, abhängig vom Wortlaut eines jeden Artikels gelöst worden.9 Zudem war es bis zuletzt umstritten, ob neben der Justiz und der Verwaltung auch die Gesetzgebung an die Grundrechte gebunden sein sollte.10 Dieser Streit war einer der wesentlichen Gründe für den Parlamentarischen Rat, die Grundrechtsbindung auch der Gesetzgebung in Art. 1 Abs. 3 GG festzuschreiben und damit die allgemeine Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung aus Art. 20 Abs. 3 GG für die Grundrechtsbindung besonders herauszuheben. 3. Wechselwirkungslehre und Übermaßverbot Darüber hinaus ist es dem Bundesverfassungsgericht mit seiner – methodisch freilich angreifbaren – Wechselwirkungsrechtsprechung11 gelungen, herauszuarbeiten, dass die Grundrechtsschranken nicht nur einseitig die Grundrechtssubstanz beschneiden können, sondern ihrerseits eine eigene Relativierung durch die Grundrechtsgewährleistung erfahren. Hier sowie bei der Ausdifferenzierung der Schranken-Schranken hat es entscheidende Impulse des Schrifttums (z. B. K. Hesse, P. Lerche) aufgenommen und zum Teil fortentwickelt, um einen umfassenden Grundrechtsschutz des Individuums zu gewährleisten. Insbesondere die Übertragung des aus dem Polizeirecht stammenden Gedankens des verwaltungsgerichtlichen Übermaßverbots auf den grundrechtsgebundenen Gesetzgeber hat sich zu einer überwölbenden Garantie effektiven Grundrechtsschutzes entwickelt. Die Anerkennung des verfassungsrechtlichen Rangs des Übermaßverbots hat sich in der bundesdeutschen Grundrechtsdogmatik als überaus bedeutsam erwiesen. Es wurzelt im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG mit seiner liberalen Leitvorstellung der Machtmäßigung des Staates. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts folgt es zudem „bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bür-

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Bereits BVerfGE 6, 386 (387). Gerhard Anschütz, WRV, 14. Aufl., 1933, S. 515. 10 Vgl. zum Diskussionsstand nur die Nachw. bei Gerhard Anschütz, WRV, 14. Aufl., 1933, Art. 109, Anm. 2. 11 BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth. 9

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gers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich ist“.12 4. Grundrechte als Garantien der Offenheit der gesellschaftlichen Entwicklung Auch wenn es nach 1949 schon früh Versuche gab, die Grundrechte des Grundgesetzes für bestimmte weltanschauliche Grundpositionen zu reklamieren (etwa die katholische Naturrechtslehre und Soziallehre, Dürig), gelang es in einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Bundesverfassungsgericht, obersten Gerichtshöfen des Bundes und großen Teilen der Staatsrechtslehre insgesamt doch, die Grundrechte als Garantien der Offenheit der gesellschaftlichen Entwicklung zu interpretieren und zu handhaben. Man kann nur hoffen, dass diese Tendenz dauerhaft erhalten bleibt. Freilich ist nicht auszuschließen, dass ein zunehmender Einfluss des Islams in Deutschland zu bedenklichen Restriktionsreaktionen – wie teilweise in der Schweiz oder den Niederlanden zu beobachten – und damit langfristig zu Grundrechtsverengungen führen könnte. 5. Grundrechte als Motor der Modernisierung Nicht zuletzt dienten die Grundrechte immer wieder als Motor der Modernisierung in Deutschland. Sie halfen beim Abbau standesähnlicher Wirtschaftshemmnisse ebenso wie bei der Durchsetzung des Abbaus vormoderner Ungleichbehandlungen von Frauen. Die Aufgabe der Rechtsfigur des besonderen Gewaltverhältnisses, der Siegeszug der Meinungsfreiheit, die Abweisung von Staatseinfluss im Rundfunk, die Ermöglichung von Privatrundfunk und die Durchsetzung der informationellen Selbstbestimmung sind weitere wichtige Errungenschaften. Auch hier war es die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dem es in der – bei allen Verdiensten doch bisweilen verstaubten und teilweise auch noch deutlich autoritären – Adenauer-Zeit gelang, die Grundrechte als liberale Freiheitsgarantien des Individuums gegen Übergriffe der damaligen Bundesregierung (Deutschland-Fernsehen,13 Spiegel-Durchsuchung14) zu installieren. Dies darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Bundesverfassungsgericht später – vor allem, aber nicht nur in Zeiten der sozial-liberalen Bundesregierung – immer wieder auch bewahrende Verfassungselemente betonte (Hochschulurteil, Abtreibungsurteile, aber teilweise auch Mitbestimmungs- und Ostvertragsurteile). Den Grundrechten kommt somit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch ein modernitätshemmender Gehalt zu. Die vorherrschende dynamische Interpretation des Grundgesetzes und seiner Grundrechte, die nicht nur auf den Wan12 BVerfGE 19, 342 (348) – Wencker; 55, 28 (30); 76, 1 (50 f.) – Nachzug von ausländischen Familienangehörigen. 13 BVerfGE 12, 205 (243 f.) – Deutschland-Fernsehen. 14 BVerfGE 20, 162 (179 f.) – Spiegel-Durchsuchung.

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del in weiten Teilen der Gesellschaft reagierte, sondern diesen teilweise auch mit beförderte, steht aber gegenüber der bewahrenden Grundrechtsinterpretation meist deutlich im Vordergrund. III. Schwächen der Grundrechtsordnung Insbesondere zu den Jubiläen des Grundgesetzes oder des Bundesverfassungsgerichts wird den Erfolgen der Grundrechtsordnung mehr Raum gegeben als ihren Schwächen. Die mit Recht gewürdigten Erfolge sollten jedoch nicht dazu führen, von Seiten der Rechtswissenschaft nicht auch über Schwächen der bestehenden Grundrechtsordnung nachzudenken. Nicht das Verfassen von Lobeshymnen, sondern die kritische Begleitung der Verfassung und das Aufdecken von Schwachstellen im Verfassungssystem (möglichst zugleich verbunden mit Vorschlägen zur Verbesserung) sollten die eigentlichen Kernkompetenzen der Verfassungsrechtswissenschaft sein. Trotz der insgesamt positiven Bilanz der Grundrechtsordnung des Grundgesetzes ist eine Reihe von Schwächen der Grundrechtsordnung nicht zu übersehen: 1. Lücken in der Grundrechtsordnung So konnte der Grundrechtsexpansionismus nicht verdecken, dass immer noch erhebliche Lücken in der Grundrechtsordnung des Grundgesetzes bestehen. Es fehlt etwa eine ausdrückliche Gewährleistung der Ausreisefreiheit. Zwar kann die derzeit durchaus nicht gefährdungsfreie Ausreisefreiheit (Reiseverbote für Hooligans bei Fußballspielen)15 unter Art. 2 Abs. 1 GG subsumiert werden, aber dieser Schutz ist wegen der uferlosen Beschränkungsmöglichkeit der verfassungsmäßigen Ordnung zu leicht überwindbar. Das Fehlen der Ausreisefreiheit als eigenständiges und mit besonderen Schrankenbestimmungen versehenes Grundrecht wirkt insbesondere vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Grenzregime der DDR geradezu partiell freiheitsblind. Deshalb wäre aus Gründen der Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung die Verankerung eines neuen eigenständigen Grundrechts der Ausreisefreiheit rechtspolitisch wünschenswert.16 Auch die Grundrechte der Informationsgesellschaft sind im Grundgesetz bisher zu wenig konturenscharf ausgestaltet. In die Verfassung sollten sowohl ein Grundrecht auf Datenschutz als auch ein Grundrecht auf Informationszugang zu staatlichen Informationen aufgenommen werden.17 Das in Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Recht auf 15 Vgl. Marius Breucker, Präventivmaßnahmen gegen reisende Hooligans, NJW 2004, S. 1631 ff. 16 Näher hierzu Michael Kloepfer, Verfassungsgebung als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung, in: ders./Merten/Papier/Skouris (Hrsg), Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Verfassungsgeschichte, 1994, S. 35 (77 f.). 17 Siehe dazu Michael Kloepfer/ Florian Schärdel, Grundrechte für die Informationsgesellschaft – Datenschutz und Informationszugangsfreiheit ins Grundgesetz?, JZ 2009, S. 453 ff. Darüber hinaus wird derzeit am prominentesten von der Piratenpartei (siehe Positionspapier der

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informationelle Selbstbestimmung erweist sich als nur recht unvollkommene und zu enge Ersatzlösung. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Online-Durchsuchung18 zeigte jüngst, dass der Schutzbereich eines nicht textlich niedergelegten Grundrechts leichter eingeschränkt werden kann. Ähnliches gilt für die grundrechtliche Sicherung gegenüber der staatlichen Abgabengewalt, wobei bislang noch ungeklärt ist, ob staatliche Abgaben als solche überhaupt in Art. 14 GG eingreifen. Schließlich spricht einiges dafür, die Diskriminierungsverbote in Art. 3 Abs. 3 GG nach dem Vorbild mehrerer Landesverfassungen19 und der Grundrechte-Charta der Europäischen Union20 um das Merkmal der sexuellen Orientierung zu ergänzen. Das Fehlen dieses Merkmals war zuletzt in den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts21 und des Bundesverfassungsgerichts22 über den Familienzuschlag für Beamte in eingetragenen Lebenspartnerschaften praktisch geworden.23 2. Schutzdefizite der Grundrechtsordnung Zu den Lücken des Grundrechtsschutzes gesellen sich Schutzdefizite. Der Grundrechtsexpansionismus hat bisher Grundrechtsgefährdungen durch staatliche Beeinflussungen des Grundrechtsumfelds bzw. der Grundrechtsvoraussetzungen nicht verhindern können. Die Wirtschafts-, Beschäftigungs-, Steuer-, Familien- und Bildungspolitik, aber auch die Politik der inneren Sicherheit u.v.a.m. treffen regelmäßig zu spät auf grundrechtliche Reaktionen. Problematisch ist insbesondere das Wahrnehmungsdefizit hinsichtlich der Grundrechtsrelevanz der auswärtigen Politik: Vor allen Dingen die mittlerweile häufigen Auslandseinsätze der Bundeswehr werden (noch) nicht als grundrechtsrelevantes Problem wahrgenommen, sondern treten bislang verfassungsrechtlich v. a. bei Fragen der Organzuständigkeit zwischen Bundesregierung und Bundestag in Erscheinung.24 Dabei können die Auslandseinsätze in ihrer Konsequenz zu schwersten Grundrechtsbeeinträchtigungen (insbesondere von Menschen im Ausland durch die Bundeswehr) führen.25 An diesem Einzelbeispiel zeigt sich Piratenpartei vom 21. 7. 2010) ein „Grundrecht auf Internet“ gefordert, vgl. dazu v. Lewinski, Recht auf Internet (Habilitationsvortrag), i.E.; ausführlich Roßnagel, Elektronische Medien zwischen Exklusivität und Grundversorgung, 2010. 18 BVerfGE 120, 274 – Online-Durchsuchung. 19 Art. 10 Abs. 2 VvB; Art. 12 Abs. 2 BbgLV; Art. 2 Abs. 3 ThürLV. 20 Art. 21 Abs. 1 GRCh. 21 BVerwGE 125, 79 ff.; BVerwG NJW 2008, S. 868 ff. 22 BVerfG NJW 2010, S. 1439 ff.; anders noch BVerfG NJW 2008, S. 2325 ff. 23 Zur Entwicklung der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung Holger Greve/ Florian Schärdel, Erster Widerstand gegen BVerfG und BVerwG – Lebenspartnerschaft und Familienzuschlag, DVBl. 2009, S. 962 ff. 24 Siehe etwa BVerfGE 90, 286 ff. – Somalia; BVerfGE 121, 135 ff. – Awacs. 25 Am deutlichsten beim Luftangriff vom 4. 9. 2009 auf Tanklaster in der Nähe von Kunduz. Zu den Schwierigkeiten der deutschen Justiz mit der Anwendung von StGB und VStGB siehe

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ein allgemeines Phänomen: Höchstrangige Entscheidungen der Staatsleitung scheinen bislang durch eine gewisse Grundrechtsferne gekennzeichnet. Denn nach der herrschenden Grundrechtsdogmatik kommt den Entscheidungen auf der Ebene der Staatsleitung regelmäßig noch keine individualisierende, eingriffsähnliche Belastungsintensität zu. Dies sichert zwar den wichtigen politischen Gestaltungsspielraum der Staatsleitung, ist aber aus grundrechtlicher Perspektive nicht unproblematisch. 3. Steuerung sozialer Macht Bisher ist es kaum gelungen, den Grundrechten eine relevante Rolle bei der Kontrolle und Steuerung sozialer Macht zuzuweisen. Die Verfassung, die eben nicht nur Staatsrecht ist, hat auch einen Geltungsanspruch gegenüber der Beeinträchtigung grundrechtlicher Schutzgüter durch gesellschaftliche Übermacht. Die Kontrolle und Begrenzung gesellschaftlicher Übermacht kann eine verfassungsstarke Verpflichtung des Staates sein. Hier bedarf es einer behutsamen Fortentwicklung der Verfassung. Dabei ist die dogmatische Frage der Drittwirkung der Grundrechte in der Bürger-Bürger-Relation nach wie vor nicht befriedigend gelöst worden. Einfache Lösungen können dabei freilich nicht erwartet werden. Bislang obliegt der Ausgleich der sozialen Macht bestimmter gesellschaftlicher Interessen durch den Staat vorwiegend dem einfachen Gesetzgeber. Im Arbeitsrecht, im Mietrecht, im Verbraucherschutzrecht, aber auch im privaten Datenschutzrecht ist der Gesetzgeber bemüht, bestehende gesellschaftliche Ungleichgewichte auszugleichen. Weshalb dieser Ausgleich allerdings ohne einen verfassungsrechtlichen Rahmen bleiben soll, ist damit nicht geklärt. 4. Ökonomisierung und Entindividualisierung der Grundrechtsordnung Problematisch ist die zunehmende Ökonomisierung der Grundrechtsordnung bzw. der Abwehr vermeintlicher grundrechtlicher Beeinträchtigungen. Die ökonomisch besonders relevanten Grundrechte (insb. Art. 12, 14, 2 Abs. 1 GG) haben nach 1949 einen überproportionalen Bedeutungsanstieg erlebt. Dies dürfte nicht zuletzt damit zu erklären sein, dass große Unternehmen und Unternehmensverbände ihre Fälle – vertreten durch teure Prozessbevollmächtigte – besonders erfolgreich vor den Verfassungsgerichten betreiben können. Die ökonomischen Grundrechte haben gegenüber anderen Grundrechten, wie etwa der schrankenlosen Glaubensund Gewissensfreiheit, der früher wichtigsten Norm der deutschen und europäischen Grundrechtsgeschichte, einen erheblichen Bedeutungszuwachs erlebt. Hingegen sind die verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkte zur Beschränkung privater ökonomischer Interessen wie Art. 14 Abs. 2 GG oder gar Art. 15 GG nicht nur dogmatisch unterentwickelt geblieben, sondern haben auch in der Rechtsprechung nicht anKai Ambos, Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und Völker(straf)recht, NJW 2010, S. 1725 ff. Allgemein zur Grundrechtsgeltung bei Auslandseinsätzen: Daniel Thym, Rechtsmaßstäbe für operatives Handeln der Bundeswehr im Ausland, DÖV 2010, 621 (S. 628 f.).

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nähernd die praktische Bedeutung erlangt, die der Wortlaut des Grundgesetzes zugelassen hätte. Das mag bei Art. 15 GG nachvollziehbare wirtschaftspolitische Gründe gehabt haben, bei Art. 14 Abs. 2 GG hingegen nicht. Die Ökonomisierung der Grundrechte geht Hand in Hand mit ihrer Entindividualisierung. Insbesondere mit der Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen (Art. 19 Abs. 3 GG), aber auch dank der Eigengesetzlichkeiten eines politisch-demokratischen Systems der Repräsentation organisierter Interessen (insb. Großunternehmen und Verbände), werden Kollektive statt Individuen zu den entscheidenden Akteuren beim Kampf um die Grundrechte und ihre Grenzen. In vielen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geht es dementsprechend nur noch um die Verteidigung kollektiver Interessen mit Hilfe der Grundrechte. „Man versus state“ erscheint heute eher als eine nostalgische Funktionsbestimmung der Grundrechte, die zunehmend durch den Ansatz „company versus state“ verdrängt wird. 5. Grundrechtliche Schutzansprüche Vor einer weiteren evidenten Fehlentwicklung in der deutschen Verfassungsrechtsjudikatur und Dogmatik ist nachdrücklich zu warnen. Gemeint ist die Ableitung von Strafbarkeit aus den Grundrechten. Wer aus den Grundrechten die Erzwingbarkeit von Freiheitseingriffen (z. B. durch Straf- oder Polizeirecht) folgert, verlässt letztlich den gedanklichen Ausgangspunkt einer freiheitsverpflichteten Grundrechtsdogmatik. Das müssen die Verfechter von grundrechtlichen Schutzansprüchen26 oder gar eines Grundrechts auf Sicherheit27 bedenken, auch wenn der Staatsauftrag zum Schutz von Menschen und zur Sicherheitsgewähr in der Gesellschaft unbestreitbar ist. Nur ist dies keine Frage der Grundrechtsgewährleistung, sondern der Grundrechtsbeschränkung. Grundrechte sind nicht Strafrechtsgrund, sondern Strafrechtsgrenze. Ein Grundrecht auf Grundrechtsbeschränkung gibt es nicht. Es wäre auch nichts als eine grundrechtsdogmatische Verirrung, aus der Freiheit des einen die Strafbarkeit des anderen abzuleiten. Das ist gerade auch in Zeiten terroristischer Bedrohungen zu beachten. Neben den gewiss sehr ernst zu nehmenden terrorbedingten Gefahren darf die Gefahr der reagierenden Grundrechtsrelativierung nicht unterschätzt werden. Die Entwicklung der Heimatschutzgesetzgebung in den Vereinigten Staaten nach dem 11. September 2001 kann ein mahnendes Beispiel sein, nicht aus berechtigter Sorge um die Sicherheit der Bürger die eigene freiheitliche Grundordnung zu relativieren oder gar zu beschädigen.

26 Statt vieler Eckart Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, S. 1633 f. 27 Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983.

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6. Kumulierende und weiche Grundrechtseingriffe Neben den Schwächen auf der Ebene der Schutzbereiche ist auch die Figur des Grundrechtseingriffs weiterhin mit Unsicherheiten behaftet. So ist etwa die dogmatische Frage der wichtigen kumulierenden Grundrechtseingriffe noch nicht befriedigend gelöst.28 So sehr es im Wesentlichen gelungen ist, den Grundrechtseingriff im Einzelfall mit einem ausdifferenzierten grundrechtlichen Instrumentarium zu kontrollieren, so hilflos stehen das Bundesverfassungsgericht und auch ein Großteil des Schrifttums dem kumulierenden Grundrechtseingriff oder dem Grundrechtsgesamteingriff gegenüber, der am ehesten noch im Finanzrecht (Steuerquote) andiskutiert wird. Weitgehend unbewältigt sind bisher auch die grundrechtlichen Probleme der weichen, nicht imperativen Einwirkungsformen des Staates.29 Die Auflösung der Eingriffsfigur30 darf nicht zur Auflösung der Grundrechtsbindung führen. Extreme Lösungen – gleiche Grundrechtsbindung wie bei imperativen Grundrechtseingriffen oder überhaupt keine Grundrechtsbindung – sind dabei entweder nicht praktikabel oder nicht sinnvoll. 7. Schrankenwirrwarr Das Grundgesetz kann mit einiger Berechtigung darauf verweisen, dass die meisten Formulierungen der Schutzbereiche der Grundrechte des Grundgesetz gelungen sind. Im Vergleich dazu kann der Blick auf die Regelung der grundrechtlichen Schranken unter systematischen Aspekten überwiegend nicht befriedigen. Denn das Grundgesetz kennt keine einheitliche Schrankensystematik. Es ist ihm im Gegenteil zu Recht vorgeworfen worden, ein „Schrankenwirrwarr“ entfaltet zu haben.31 In der Tat kann die Regelung der grundrechtlichen Schranken im Grundgesetz nicht anders als als konzeptionslos bezeichnet werden.32 Sowohl die Terminologie als auch die Typik der Grundrechtschranken sind zwar bunt und vielgestaltig, aber zum Teil eben auch widersprechend und unsystematisch. Die Unterschiede in der Terminologie drängen sich auf, wenn man sich vor Augen führt, dass das Grundgesetz teilweise davon spricht, dass in Rechte „eingegriffen“ werden dürfe (z. B. Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG), für andere Rechte aber „Schranken“ 28 Friedhelm Hufen, Grundrechte, 2. Aufl., 2009, § 8, Rn. 16; s. auch Michael Kloepfer, Belastungskumulationen durch Normenüberlagerungen im Abwasserrecht, VerwArch 74 (1983), S. 201 ff.; Gregor Kirchhof, Kumulative Belastung durch unterschiedliche staatliche Maßnahmen, NJW 2006, S. 732 ff.; vgl. auch Caroline Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007; Ekkehard Hofmann, Grundrechtskonkurrenz oder Schutzbereichsverstärkung?, AöR 133 (2008), S. 524 ff. 29 Michael Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl., 2004, § 5, Rn. 166 f. 30 Peter Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 261 f. 31 Karl August Bettermann, Grenzen der Grundrechte, 1968, S. 3. 32 Michael Kloepfer, Verfassungsänderung statt Verfassungsreform, 2. (unveränd.) Aufl., 1996, S. 143.

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setzt (z. B. Art. 5 Abs. 2 GG), wieder andere Rechte „beschränkt“ (z. B. Art. 8 Abs. 2 GG) oder „einschränkt“ (z. B. Art. 11 Abs. 2 GG). Auch findet man die Termini „Eingriffe und Beschränkungen“ in einem Satz nebeneinander gestellt (Art. 13 Abs. 7 GG), ohne dass zwischen „Eingriffen“ und „Beschränkungen“ ein rechtlich greifbarer Unterschied auszumachen wäre. Diese terminologischen Schwächen des Grundgesetzes konnten durch Auslegung noch größtenteils bereinigt werden. Es ist inzwischen weitgehend anerkannt, dass alle vorstehend genannten Formulierungen synonym zu verstehen sind. Das ist gewiß kein Ruhmesblatt für das Grundgesetz. Das Grundgesetz kennt prinzipiell drei Typen von Grundrechtschranken: Die Grundrechtseinschränkung durch einfachen Gesetzesvorbehalt, durch qualifizierten Gesetzesvorbehalt und – vor allem, aber nicht nur bei den so genannten „unbeschränkbaren“ Grundrechten – durch verfassungsimmanente Schrankenbestimmungen.33 Es ist zweifelhaft, ob der Verfassungsgeber mit der Verwendung der unterschiedlichen Schrankentypen tatsächlich einen wertenden Gesamtplan verfolgte. Es erscheint zumindest fragwürdig, dass das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) dem einfachen Gesetzesvorbehalt unterliegt, das Recht auf Freizügigkeit (Art. 11 GG) aber mit einem qualifizierten Schrankenvorbehalt versehen ist34 und z. B. das Petitionsrecht des Art. 17 GG grundsätzlich – mit Ausnahme des Art. 17a Abs. 1 GG – unbeschränkt gewährleistet wird. Dem Schrifttum ist es bislang noch nicht in befriedigender Weise gelungen, den Schrankenwirrwarr umfassend zu entwirren, d. h. zu ordnen. Die Terminologie im Schrifttum ist nach wie vor uneinheitlich und die dogmatische Erfassung grundrechtlicher Schrankenvielfalt differiert.35 Vermutlich wird es der künftigen Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft überlassen bleiben, die Schranken zu entwirren. Denn es steht nicht zu erwarten, dass sich der verfassungsändernde Gesetzgeber an eine so grundlegende Überarbeitung wagen wird. Eine umfassende Schrankenharmonisierung in der geschriebenen Verfassung wäre wohl nur um den Preis eines Neubaus des Grundrechtsteils des Grundgesetzes zu haben. Dieser Preis wäre sehr hoch. IV. Zukunftsaufgaben 1. Kodifizierung neuer Grundrechte Der verfassungsändernde Gesetzgeber sollte nur einige wenige Ergänzungen im Grundrechtskatalog in Angriff nehmen. Insbesondere die schon erwähnte Ausreise-

33 Christian Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), GG, 5. Aufl., 2005, Art. 1 Abs. 3, Rn. 275 ff., unterscheidet vier Gruppen von Grundrechtschranken, weil er die „allgemeinen Gesetze“ in Art. 5 Abs. 2 GG und Art. 9 Abs. 2 GG als eigenständige Gruppe behandelt. 34 Frank Raue, Müssen Grundrechtsbeschränkungen wirklich verhältnismäßig sein?, AöR 131 (2006), S. 79, 98 f. 35 Ingo v. Münch, in: ders./Kunig (Hrsg.), GG, 5. Aufl., 2000, Vorb. Art. 1 – 19, Rn. 53; zur rechtphilosophischen Einordnung Jan Schapp, Die Grenzen der Freiheit, JZ 2006, S. 581 ff.

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freiheit, das mittlerweile hinreichend konkretisierte Datenschutzgrundrecht, die Informationszugangsfreiheit und die Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 GG um das Merkmal der sexuellen Orientierung sind hier zu nennen. Das vom Bundesverfassungsgericht erdachte „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ ist hingegen bislang zu wenig ausgearbeitet und erprobt, um in den Text des Grundgesetzes aufgenommen zu werden.36 Im Übrigen machen die bisherigen Änderungen an der geschriebenen Grundrechtsordnung des Grundgesetzes nicht viel Hoffnung auf eine Ausweitung des Grundrechtsschutzes durch Grundrechtsänderungen.37 Die meisten der nach 1949 beschlossenen Grundgesetzänderungen brachten Grundrechtsbeschränkungen mit sich. Die Einführung einer Wehrverfassung im Jahre 1956 machte zunächst Änderungen u. a. des Art. 12 GG sowie die Einfügung des Art. 17a GG erforderlich. Später wurde Art. 12a GG durch die Notstandsverfassung von 1968 in das Grundgesetz aufgenommen, die zugleich Änderungen der Art. 9 Abs. 3, 10, 11, 12 und 19 Abs. 4 GG bedingte. Nach jahrelangen politischen Diskussionen um eine Neuregelung des Asylrechts wurde 1993 unter Anpassung des Art. 18 GG der Art. 16a GG geschaffen. Nicht in die Reihe gehören allerdings das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG und die Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 GG im Jahre 1994 um ein ausdrückliches Verbot der Benachteiligung Behinderter. Sie waren immerhin geeignet, den Grundrechtsschutz partiell auszuweiten. 2. Internationalisierung der Grundrechtsordnung Besonderer dogmatischer Bemühungen bedarf künftig weiter das Problem des Grundrechtsverbundes im Zuge der Europäischen Integration und der internationalen Zusammenarbeit. Während die Diskussion um die Grundrechtsbindung in der Europäischen Integration bereits weit vorangeschritten ist, bleiben demgegenüber die Ergebnisse entsprechender Grund- bzw. Menschenrechtsdiskussionen im Bereich internationaler Strukturen noch zurück. Es kann als ein besonderes Verdienst des Jubilars gelten, für die Internationalisierung der Grundrechtsordnung die wissenschaftlichen Grundlagen gelegt und die Diskussionen hierzu immer wieder aufs Neue angestoßen zu haben.38

36 Michael Kloepfer/ Florian Schärdel, Grundrechte für die Informationsgesellschaft – Datenschutz und Informationszugangsfreiheit ins Grundgesetz?, JZ 2009, 453 (S. 460). 37 Ebenso unerfreulich ist der (schlechte) neue Verfassungsstil insb. in Art. 13 Abs. 3 – 6, 16a Abs. 2 – 5 GG, der in seiner formellen wie geistigen Kleinteiligkeit gegenüber den klassischen Grundrechtsformulierungen ausgesprochen kurzatmig wirkt und der einer fortbildenden Verfassungsinterpretation und insbesondere auch durch das Bundesverfassungsgericht den Boden entzieht. Verfassungsidentifikation wird mit solchen Ausführungsbestimmungen in Verfassungsform in schlechtem Sachbearbeiterdeutsch ohnehin nicht erzeugt. 38 Siehe etwa Rainer Wahl, Internationalisierung des Staates, in: Bohnert/Gramm/Kindhäuser/Lege/Rinken/Robbers (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche, FS Hollerbach zum 70. Geburtstag, 2001, S. 193 ff.; Rainer Wahl, Das Bundesverfassungsgericht im europäischen

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3. Grundrechtsvergleichung Schließlich sei noch das Desiderat nach verstärkter Grundrechtsvergleichung formuliert.39 Manche Übertreibung oder Verirrung der deutschen Grundrechtsdogmatik ließe sich mit einem Blick über die Grenzen vermeiden. Ein deutscher Sonderweg bei den Grundrechten ist jedenfalls im Hinblick auf die Verfassungen anderer demokratischer Staaten (und insbesondere der Europäischen Union) begründungsbedürftig. Damit ist nicht einer internationalen Grundrechtsnivellierung das Wort geredet. Eher geht es darum, für die Grundrechtssysteme anderer Staaten offen und gedanklich andockbar zu sein und den Weg zu einer europäischen Grundrechtsordnung zu ebnen. Es ist deshalb dankbar festzuhalten, dass der Jubilar auch auf dem Felde der Grundrechtsvergleichung wesentliche Impulse gesetzt hat.40

und internationalen Umfeld, APuZ 37/38 (2001), S. 45 ff.; Rainer Wahl, Der einzelne in der Welt jenseits des Staates, Der Staat 40, 2001, S. 45 ff. 39 s. auch Friedhelm Hufen, Grundrechte, 2. Aufl., 2009, § 3, Rn. 13; Peter Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff.; Karl-Peter Sommermann, Funktionen und Methoden der Grundrechtsvergleichung, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HbGR, Bd. I, 2004, A § 16, Rn. 88. 40 Rainer Wahl, Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung, in: Murswiek/Storost/ Wolff (Hrsg.), Staat – Souveränität – Verfassung. FS für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, 2000, S. 163 ff.

Zur Grundrechtsbindung der öffentlichen Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft in der Schweiz Von Georg Müller, Erlinsbach I. Strukturen der schweizerischen Elektrizitätswirtschaft In der Schweiz ist die Energieversorgung Sache der Energiewirtschaft. Der Bund und die Kantone sorgen mit staatlichen Rahmenbedingungen dafür, dass die Energiewirtschaft diese Aufgabe im öffentlichen Interesse möglichst gut erfüllt. Der Schweizer Strommarkt ist im internationalen Vergleich stark fragmentiert. Die Versorgung mit elektrischer Energie wird durch rund 900 Elektrizitätsversorgungsunternehmen sichergestellt. An deren Grundkapital ist die öffentliche Hand mit gut 80 % beteiligt. Die Elektrizitätswerke unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Grösse, ihrer Betriebsstruktur sowie ihrer Organisations- und Rechtsform. Öffentliche Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft sind zum Teil Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts, zum Teil privatrechtliche Aktiengesellschaften, die im Eigentum von Kantonen und/oder Gemeinden stehen oder von solchen Gemeinwesen beherrscht werden. In den Gemeinden sind Elektrizitätswerke oft als unselbstständige Verwaltungseinheiten organisiert.1 Die Erzeugung von Elektrizität und deren Verteilung an die Verbraucherinnen und Verbraucher ist zwar keine dem Staat vorbehaltene Aufgabe. Sie wird aber nicht nur vom Staat geregelt, sondern zu einem grossen Teil auch von staatlichen oder staatlich beherrschten privaten Organisationen erfüllt. Es stellt sich deshalb die Frage, ob und inwieweit diese Organisationen bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten an die Grundrechte gebunden sind.

1

Botschaft zur Änderung des Elektrizitätsgesetzes und zum Stromversorgungsgesetz vom 3.12. 2004, Bundesblatt 2004, 1615, 1671; Botschaft zum Elektrizitätsmarktgesetz (EMG) vom 7. 6. 1999, Bundesblatt 1999, 7380 ff.; Riccardo Jagmetti, Energierecht, Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Band VII, 2005, Rz. 1210; Rolf H. Weber/Brigitta Kratz, Elektrizitätswirtschaftsrecht, 2005, § 3, Rz. 1 ff., 41 ff.

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II. Begriff und Wirkungen der Grundrechte Grundrechte sind von der Verfassung oder vom Völkerrecht garantierte Rechtsansprüche Privater gegenüber dem Staat, die dem Schutz grundlegender Aspekte der menschlichen Person und ihrer Würde dienen. Sie sind aus spezifischen Bedrohungen der Freiheit in bestimmten geschichtlichen Situationen entstanden. Sie gewährleisten keinen umfassenden Schutz vor allen möglichen staatlichen Eingriffen, sondern nur vor solchen, welche elementare Rechte, eben „Grundrechte“ der Privaten betreffen.2 Die Grundrechte richten sich primär gegen den Staat. Sie wehren staatliche Eingriffe ab. Einschränkungen der Grundrechte sind nur zulässig, sofern der Staat dazu durch Gesetz ermächtigt ist und die Einschränkung überdies im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist.3 Die Grundrechte sind aber nicht nur Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Sie verpflichten ihn auch dazu, für ihren Schutz, ihre Verwirklichung zu sorgen. Art. 35 Abs. 1 BV fordert ausdrücklich, dass die Grundrechte in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen müssen.4 Den Staat trifft eine Schutzpflicht: Er muss die Grundrechte nicht nur respektieren, indem er Eingriffe unterlässt, sondern aktiv zu ihrer Verwirklichung beitragen.5 Es ist offensichtlich, dass nur wenige der in den Art. 7 – 33 BV gewährleisteten Grundrechte für die Tätigkeiten von öffentlichen Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft von Bedeutung sind. So ist es kaum denkbar, dass solche Unternehmen mit dem Recht auf Ehe und Familie, der Glaubens- und Gewissens-, der Sprachen-, der Wis2 Jörg Paul Müller, Allgemeine Bemerkungen zu den Grundrechten, in: Daniel Thürer/ Jean-FranÅois Aubert/Jörg Paul Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, § 39, Rz. 6 f.; derselbe, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Jörg-Paul Müller/Daniel Thürer (Koord.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, 2007, Bd. VII/2, § 202, Rn. 1 ff.; Regina Kiener/Walter Kälin, Grundrechte, 2007, S. 8 f.; Ren Rhinow/Markus Schefer, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2. Auflage, 2009, Rz. 951 ff. 3 Art. 36 der Bundesverfassung (BV). 4 Art. 35 BV ist im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung von 1999 in den Verfassungstext aufgenommen worden. Die Bestimmung gibt allerdings nur wieder, was nach Lehre und Rechtsprechung schon vorher galt, und ist deshalb ein typisches Beispiel für den Charakter der Totalrevision als Nachführung; vgl. dazu Rainer Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: Rainer Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation, Vorträge bei deutsch-japanischen Symposien in Tokyo 2004 und Freiburg 2005, 2008, S. 39 ff., mit Hinweisen. 5 Zur Bedeutung und Entwicklung der Lehre von den Grundrechten als Elemente einer objektiven Ordnung und als Schutzpflichten grundlegend Rainer Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, 2004, Band I, § 19, Rn. 1 ff., 6 ff., zur Verfassungsordnung in der Schweiz Rn. 32 ff. Siehe ferner Kiener/Kälin (Anm. 2), S. 34 ff., 38 ff.; Jörg Paul Müller, Allgemeine Bemerkungen (Anm. 2), Rz. 6 ff., 29 ff.; Georg Müller, Schutzwirkung der Grundrechte, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Jörg Paul Müller/Daniel Thürer (Koord.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und in Europa, 2007, Bd. VII/2, § 204, Rn. 4 ff.

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senschafts-, der Kunst-, der Versammlungs-, der Vereinigungs- oder der Niederlassungsfreiheit in Konflikt geraten könnten. Auch die Garantien betreffend Freiheitsentzug und Strafverfahren betreffen sie nicht. Im Vordergrund stehen die Rechtsgleichheit (Art. 8 BV), das Willkürverbot (Art. 9 BV), die Eigentumsgarantie (Art. 26 BV) und die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV). Eine gewisse Rolle spielen könnten auch die persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 BV), z. B im Zusammenhang mit dem Schutz gegen Risiken der Elektrizitätsversorgung, und die Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 16 BV) im Rahmen der politischen Willensbildung und des Abstimmungskampfes über energiepolitische Vorlagen.6 III. Bedeutung der Bindung an die Grundrechte Nach Art. 35 Abs. 1 BV müssen die Grundrechte in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen. Das bedeutet, dass die Adressaten der Grundrechte, d. h. diejenigen, die an die Grundrechte gebunden sind,7 sie bei allen ihren Handlungen und Entscheidungen, d. h. beim Erlass von Gesetzen, Verordnungen, Reglementen, Tarifen, Verfügungen, Entscheiden, Beschlüssen und Urteilen, aber auch beim Abschluss von Verträgen und beim tatsächlichen Handeln, den sog. „Realakten“, beachten müssen. Für die öffentlichen Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft folgt daraus, dass sie die Grundrechte, wenn und soweit sie daran gebunden sind, insbesondere beim Bau und Unterhalt von Anlagen zur Erzeugung und zur Verteilung der Elektrizität, beim Anschluss von Liegenschaften an das Leitungsnetz, bei der Versorgung der Benutzerinnen und Benutzer mit elektrischer Energie und bei der Festlegung von Strompreisen zu respektieren haben. Wie dargelegt8 heisst Bindung an die Grundrechte nicht nur, dass gewisse Eingriffe in besonders geschützte Positionen unzulässig sind, sondern auch, dass die erforderlichen Massnahmen zur Verwirklichung dieser Rechte getroffen werden müssen. Für öffentliche Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft relevant könnte etwa die Frage sein, ob sich aus einem Grundrecht – z. B. der Rechtsgleichheit, der persönlichen Freiheit oder der Eigentumsgarantie – ein Anspruch auf Versorgung mit elektrischer Energie ergibt.9 Die Frage spielt nicht nur im Zusammenhang mit dem An6

Dazu Jagmetti (Anm. 1), Rz. 1605 ff. Siehe dazu hinten, IV. 8 Vorne, II. 9 Nach Art. 5 Abs. 2 – 4 des Bundesgesetzes über die Stromversorgung (Stromversorgungsgesetz, StromVG) vom 23.5. 2007 (SR 734.7) sind die Netzbetreiber verpflichtet, in ihrem Netzgebiet alle Endverbraucher innerhalb der Bauzone und ganzjährig bewohnte Liegenschaften und Siedlungen ausserhalb der Bauzone sowie alle Elektrizitätserzeuger an das Elektrizitätsnetz anzuschliessen. Die Kantone können auf ihrem Gebiet tätige Netzbetreiber dazu verpflichten, Endverbraucher auch ausserhalb ihres Netzgebietes an das Netz anzuschliessen. Sie können Bestimmungen über Anschlüsse ausserhalb der Bauzone sowie über deren Bedingungen und Kosten erlassen (vgl. dazu Rolf H. Weber/Brigitta Kratz, Stromversorgungsrecht, 2009, § 3, Rz. 9 ff.). Viele Kantone haben in ihrer Energie- oder Baugesetzgebung diese Anschlusspflicht ausgeweitet oder präzisiert (vgl. Jagmetti [Anm. 1], Rz. 6406; Peter 7

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schluss an das Leitungsnetz eine Rolle, sondern auch dann, wenn eine Strombezügerin oder ein Strombezüger die Rechnung für die gelieferte Elektrizität nicht bezahlt: Darf in diesem Fall die Stromzufuhr gestoppt werden? Oder muss die Strompreisforderung auf dem Betreibungsweg durchgesetzt werden? Nach Lehre und Rechtsprechung würde es gegen das Verhältnismässigkeitsprinzip verstossen, die Versorgung der Privaten mit lebenswichtigen Gütern wie Wasser oder Energie zu unterbrechen, um fällige Forderungen des Staates auf Entgelt für diese Leistungen durchzusetzen.10 Die Bindung an die Grundrechte ist also umfassend. Sie kann aber unter besonderen Voraussetzungen eingeschränkt werden. Nach Art. 36 BV sind Einschränkungen von Grundrechten zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sind. Überdies darf der Kerngehalt der Grundrechte nicht angetastet werden.11 Bei der Frage, ob eine Entscheidung oder Handlung mit dem Gebot der Rechtsgleichheit – einem für die Tätigkeiten von öffentlichen Unternehmen besonders wichtigen Grundrecht – zu vereinbaren ist, muss nicht geprüft werden, ob die in Art. 36 BV genannten Voraussetzungen erfüllt sind, sondern ob es sachliche Gründe für die Gleich- oder Ungleichbehandlung gibt.12 Auch die Vereinbarkeit von Handlungen und Entscheidungen mit dem Willkürverbot (Art. 9 BV) bestimmt sich nicht nach den Kriterien des Art. 36 BV, sondern insbesondere danach, ob eine krasse Verletzung einer Rechtsnorm vorliegt oder ob eine Entscheidung offensichtlich unhaltbar ist.13 IV. Adressat der Grundrechte Schon aus dem Begriff der Grundrechte ergibt sich, dass der Staat deren Adressat ist, d. h. bestimmte Eingriffe unterlassen und für ihre Verwirklichung sorgen muss. Wer aber ist „der Staat“? Und wer ist – neben dem Staat – auch noch Adressat der Grundrechte, d. h. verpflichtet, sie bei seinen Entscheidungen und Handlungen zu respektieren?

Rüegger, Rechtsprobleme der Verteilung elektrischer Energie durch öffentlichrechtliche Anstalten, 2001, S. 91 ff.). 10 Siehe dazu Ulrich Häfelin/Georg Müller/Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Auflage, 2010, Rz. 1216 ff. 11 Dazu eingehend Markus Schefer, Beeinträchtigung von Grundrechten, in: Detlef Merten/ Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Jörg Paul Müller/Daniel Thürer (Koord.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und in Europa, 2007, Bd. VII/2, § 208. 12 Zu den Voraussetzungen des Gleichbehandlungsanspruchs nach Art. 8 Abs. 1 BV vgl. Beatrice Weber-Dürler, Gleichheit, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Jörg Paul Müller/Daniel Thürer (Koord.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und in Europa, 2007, Bd. VII/2, § 210, Rn. 26 ff. 13 Dazu Jean-FranÅois Aubert, Willkürverbot und Vertrauensschutz als Grundrecht, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Jörg Paul Müller/Daniel Thürer (Koord.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und in Europa, 2007, Bd. VII/2, § 228, Rn. 21 ff., 26 ff.

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Art. 35 Abs. 2 und 3 BV bilden die Grundlage für die Beantwortung dieser Frage: An die Grundrechte gebunden ist, wer staatliche Aufgaben wahrnimmt. Die Behörden sorgen überdies dafür, dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden. Daraus folgt, dass Private in ihrem Verhalten zu anderen Privaten unter Umständen an die Grundrechte gebunden sein können. Auf das schwierige Problem der Dritt- oder Horizontalwirkung der Grundrechte soll hier nicht näher eingegangen werden.14 Staatliche Aufgaben können vom Gemeinwesen wahrgenommen werden. Das Gemeinwesen kann auch Private damit beauftragen, staatliche Aufgaben zu erfüllen. Schliesslich gibt es die Möglichkeit, dass sich Staat und Private zusammenschliessen, um bestimmte Staatsaufgaben zu realisieren, z. B. in der Form der gemischt-wirtschaftlichen Aktiengesellschaft. 1. Gemeinwesen Bund, Kantone und Gemeinden nehmen staatliche Aufgaben wahr und sind deshalb an die Grundrechte gebunden. Das gilt auch für die öffentlich-rechtlichen Anstalten, Körperschaften und Stiftungen auf allen drei Staatsebenen. Diese Aufgabenträger handeln nicht nur dann „staatlich“, wenn sie Rechtsnormen und Verfügungen erlassen, sondern auch, wenn sie eine wirtschaftliche Tätigkeit in Konkurrenz zu Privaten und in den Formen des Privatrechts ausüben. Der Staat und seine dezentralen Organisationen können sich durch die „Flucht ins Privatrecht“ der Grundrechtsbindung nicht entziehen.15 In der Lehre wird zum Teil die Auffassung vertreten, privatwirtschaftliches Handeln des Staates, das nicht der Erfüllung einer Staatsaufgabe, sondern der Erzielung von Gewinn diene, sei nicht grundrechtsgebunden. Die Gewinnerzielung könne ein zulässiges öffentliches Interesse für die privatwirtschaftliche Tätigkeit sein; diese dürfe allerdings den Wettbewerb nicht verzerren. Die Grundrechtsbindung habe erhebliche Wettbewerbsnachteile für die öffentlichen Unternehmen zur Folge. Das Wettbewerbsrecht schütze die Privaten ausreichend vor einer faktischen Übermacht der öffentlichen Unternehmen.16 Eine andere Meinung geht dahin, das Gemeinwesen sei nur beschränkt an die Grundrechte gebunden, wenn es Leistungen in Konkurrenz mit Privaten erbringe. Entscheidend für das Ausmass der Grundrechtsbindung ist nach dieser Ansicht die 14

Siehe dazu Kiener/Kälin (Anm. 2), S. 45 ff.; Georg Müller (Anm. 5), Rn. 34 ff.; Jörg Paul Müller, Allgemeine Bemerkungen (Anm. 2), Rz. 36 ff.; Rainer J. Schweizer, St. Galler Kommentar zu Art. 35 BV, Rz. 33 ff.; Wahl (Anm. 5), Rn. 2, 4, 35. 15 Zum Grundsatz Jörg Paul Müller, Allgemeine Bemerkungen (Anm. 2), Rz. 34 f.; Isabelle Häner, Grundrechtsgeltung bei der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben durch Private, in: Aktuelle Juristische Praxis 2002, S. 1145 ff. Eine Übersicht über den Stand der Lehre und Rechtsprechung findet sich bei Eliane Schlatter, Grundrechtsgeltung beim wirtschaftlichen Staatshandeln, 2009, S. 50 ff. 16 Schlatter (Anm. 15), S. 72 ff., mit Hinweisen; siehe auch Philipp Häsler, Geltung der Grundrechte für öffentliche Unternehmen, 2005, S. 117 ff.

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Wirksamkeit des Marktes, in welchem die Leistung angeboten wird. Mit zunehmender Effizienz des Marktes sinke die Notwendigkeit, den privaten Marktteilnehmern einen besonderen grundrechtlichen Schutz einzuräumen.17 In diesem Sinne hat auch das Bundesgericht in einem Fall entschieden, in welchem die Frage zu beurteilen war, ob ein grundrechtlicher Anspruch darauf besteht, dass ein Fahrzeug der städtischen Verkehrsbetriebe als Werbeträger zur Verbreitung einer Meinung zur Verfügung gestellt wird.18 Ein aggressiver Tierschützer wollte die Aussenfläche eines Busses zwecks Werbung mieten, wobei er den folgenden Text anzubringen gedachte: „Im Kanton Luzern leben mehr Schweine als Menschen – warum sehen wir sie nie?“. Das Bundesgericht führte aus, im Bereich der kommerziellen Nutzung öffentlicher Sachen kollidiere das Gleichbehandlungsgebot mit dem Bedürfnis nach unternehmerischer Freiheit. Je mehr ein Interessent auf die Benutzung der vom Gemeinwesen betriebenen Einrichtungen angewiesen sei, desto höhere Anforderungen seien an die sachliche Begründung eines Entscheides zu stellen, mit welchem die Benutzung beschränkt oder ausgeschlossen werde. Je eher dagegen die privaten Interessenten auf andere Anbieter ausweichen könnten, desto mehr Freiheit müsse dem öffentlichen Unternehmen bei der Wahl seiner Vertragspartner oder der zu erbringenden Leistung zustehen. Das Bundesgericht fand, die Verkehrsbetriebe hätten sachliche Gründe angeführt, um die vom Tierschützer geforderte „Ganzbemalung“ eines Busses mit der provokativen Werbung für den Tierschutz abzulehnen. Sie hätten ihm angeboten, Hängeplakate im Inneren der Busse mit dem umstrittenen Text anzubringen; überdies habe er die Möglichkeit, auf andere geeignete Werbeträger auszuweichen. Nach meinem Dafürhalten sind beide Auffassungen abzulehnen. Abgesehen davon, dass rein gewinnorientiertes Staatshandeln nach herrschender Lehre mangels ausreichenden öffentlichen Interesses verfassungswidrig ist,19 lässt sich der Verzicht auf die Grundrechtsbindung öffentlicher Unternehmen nicht mit dem Wettbewerbsnachteil gegenüber privaten Konkurrenten rechtfertigen. Beeinträchtigt die Bindung an die Grundrechte die Möglichkeit, Gewinne zu erzielen, zu stark, so soll sich der Staat aus dem betreffenden Geschäftsfeld zurückziehen und die Erfüllung der Aufgabe den privaten Unternehmen überlassen. Auch die Relativierung der Grundrechtsbindung bei wirtschaftlichen Tätigkeiten des Gemeinwesens je nach der Wirksamkeit des Marktes ist m. E. nicht überzeugend. Wenn der Staat eine Aufgabe erfüllt, muss er sich an die Grundrechte halten unabhängig davon, ob er dabei in einem funktionierenden Markt als „Unternehmer“ in Konkurrenz zu privaten Unternehmen auftritt 17

Jagmetti (Anm. 1), Rz. 1603 ff,: Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Auflage, 2007, § 7, Rz, 57; Rhinow/Schefer (Anm. 2), Rz. 1158 ff.; Markus Schefer, Grundrechtliche Schutzpflichten und die Auslagerung staatlicher Aufgaben, in: Aktuelle Juristische Praxis 2002, S. 1139 ff.; zurückhaltend Häner (Anm. 15), S. 1150 ff.; siehe auch Schweizer (Anm. 14), Rz. 30, mit Hinweisen auf Lehre und Rechtsprechung. 18 BGE 127 I 84, 90 f. 19 Vgl. dazu Ren Rhinow/Gerhard Schmid/Giovanni Biaggini/Felix Uhlmann, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 2011, § 18, Rz. 75 ff.; Felix Uhlmann, Gewinnorientiertes Staatshandeln, 1997, S. 29 ff., 105 f.; Stefan Vogel, Der Staat als Marktteilnehmer, 2000, S. 109 ff., je mit Hinweisen.

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oder nicht. Dass das Schutzbedürfnis geringer ist, wenn die Privaten die Wahl zwischen Angeboten von öffentlichen und privaten Unternehmen haben, ist nach meinem Dafürhalten kein Grund dafür, auf die Grundrechtsbindung zu verzichten oder sie abzuschwächen. Der Staat ist – im Gegensatz zu den Privaten – Grundrechtsadressat unabhängig davon, ob ein Bedürfnis nach Schutz durch die Grundrechte besteht und wie gross es ist.20 Es ist zwar denkbar, dass an gewisse Voraussetzungen für Einschränkungen von Grundrechten, z. B. an die Verhältnismässigkeit,21 bei wirtschaftlichen Tätigkeiten des Gemeinwesens weniger strenge Anforderungen gestellt werden als bei hoheitlichen Tätigkeiten, oder dass andere Gründe Gleich- oder Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen vermögen. Das liegt aber an der Struktur des betreffenden Rechtsverhältnisses und der Wirkung des Grundrechtseingriffes, nicht an der Wirksamkeit des Marktes, auf welchem das Gemeinwesen seine Leistungen anbietet. Wird der Betrieb eines öffentlichen Unternehmens durch die Grundrechtsbindung so stark beeinträchtigt, dass der wirtschaftliche Erfolg gefährdet ist, so soll der Staat die Aufgabe privatisieren, also auf die Tätigkeit als Unternehmer verzichten und die Erfüllung der Aufgabe den privaten Unternehmen überlassen.22 2. Private, die staatliche Aufgaben erfüllen Überträgt der Staat die Erfüllung der ihm obliegenden Aufgaben Privaten, so sind diese ebenfalls an die Grundrechte gebunden. Das gilt nicht nur dann, wenn den Privaten hoheitliche Befugnisse eingeräumt werden, indem sie z. B. zur Regelung von Rechtsverhältnissen durch Verfügung ermächtigt werden, sondern auch, wenn sie in den Formen des Privatrechts handeln. Das Bundesgericht hat dies schon vor mehr als 20 Jahren in einem Fall festgestellt, in welchem eine private Aktiengesellschaft als Milchsammelstelle tätig war, die nach dem damals geltenden Landwirtschaftsrecht die Pflicht hatte, den Landwirten in einem bestimmten Umkreis die Milch abzunehmen und zu verwerten. Umgekehrt waren die Landwirte verpflichtet, die Milch bei der Sammelstelle abzuliefern. Der 20

Zur Bedeutung des Schutzbedürfnisses für den Grundrechtsschutz zwischen Privaten (Schutz vor Beeinträchtigungen der Grundrechte durch Ausnutzung privater Übermacht) vgl. die Hinweise bei Georg Müller (Anm. 5), Rn. 30 ff. 21 Das Verhältnis von Eingriffszweck und Eingriffswirkung als Element des Verhältnismässigkeitsprinzips, d. h. die Zumutbarkeit des Eingriffs (vgl. Schefer [Anm. 11], Rn. 101 f.), ist u. U. anders zu beurteilen, wenn ein öffentliches Unternehmen eine Leistung verweigert, die von den Betroffenen ohne weiteres zu den gleichen Bedingungen von einem privaten Unternehmen bezogen werden kann, als wenn die Betroffenen auf eine Leistung des öffentlichen Unternehmens angewiesen sind, weil es eine monopolisierte Tätigkeit ausübt oder eine marktbeherrschende Stellung hat. 22 In diesem Sinne auch Giovanni Biaggini, Kommentar BV, 2007, Art. 35, N. 9 ff.; Ivo Hangartner, Grundrechtsbindung öffentlicher Unternehmen, in: Aktuelle Juristische Praxis 2000, S. 518; derselbe, Öffentlich-rechtliche Bindungen privatrechtlicher Tätigkeit des Gemeinwesens, in: Festschrift für Mario M. Pedrazzini, 1990, S. 142 ff.; Rhinow/Schmid/Biaggini/Uhlmann (Anm. 19) § 18, Rz. 93 ff.

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Eigentümer der Aktiengesellschaft war ein bekannter politisch aktiver Unternehmer, der den Milch liefernden Landwirten, die Mitglieder der Vereinigung der kleinen und mittleren Bauern waren, einen höheren Milchpreis bezahlte als den Landwirten, die einer anderen oder keiner bäuerlichen Organisation angehörten. Der Unternehmer wollte damit die Vereinigung der kleinen und mittleren Bauern fördern, die sich in Opposition zum grossen und mächtigen Bauernverband befand. Ein Landwirt wehrte sich gegen diese Privilegierung der Mitglieder der Vereinigung der kleinen und mittleren Bauern und erhielt vor Bundesgericht Recht. Das Gericht entschied, die Milchsammelstelle dürfe zwar privatrechtliche Vereinbarungen über den Milchpreis abschliessen. Sie müsse sich dabei jedoch an das Rechtsgleichheitsgebot und an das Willkürverbot halten. Für Milch von gleicher Qualität und unter gleichen Verwertungsverhältnissen habe sie gleiche Preise zu bezahlen. Das Bundesgericht wies darauf hin, dass die Milchlieferanten wegen der Ablieferungspflicht nicht frei gewesen seien, den Vertragspartner zu wechseln, und dass die Sammelstellen eine faktische Monopolstellung und damit eine wesentlich stärkere Position als die Milchlieferanten gehabt hätten.23 – In einem neusten Urteil24 revidierte das Bundesgericht sein Urteil vom 24. Januar 1994 betreffend Verstoss der Ausstrahlung eines Spots gegen das Verbot der politischen Werbung in Radio und Fernsehen25 als Folge eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.26 Es erinnerte die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG), ein privater Verein, der als Inhaber einer Konzession für die Verbreitung von Radio- und Fernsehsendungen den verfassungsrechtlichen Programmauftrag erfüllt und sich nach wie vor gegen die Ausstrahlung des Spots des Vereins gegen Tierfabriken wendete, daran, dass sie als Trägerin staatlicher Aufgaben nach Art. 35 BVan die Grundrechte gebunden sei. Sie sei deshalb gehalten, dem Urteil des Gerichtshofs direkt Rechnung zu tragen und den Spot zu senden. Zwar habe das Bundesgericht in BGE 129 III 35 die Ansicht vertreten, dass dies über eine indirekte Drittwirkung der Grundrechte auf dem Zivilweg zu geschehen habe (Kontrahierungspflicht aus Treu und Glauben), doch könne hieran nach dem Entscheid der Grossen Kammer vom 30. Juni 2009 im konkreten Fall nicht festgehalten werden. Stehen sich Private als Träger staatlicher Aufgaben und die mit ihnen verhandelnden Dritten gleichrangig gegenüber und sind diese Dritten nicht auf die Leistungen der Träger staatlicher Aufgaben angewiesen, so gelten die Grundrechte nach der Lehre und Rechtsprechung, die vorne bereits dargestellt und kritisiert worden ist,27 nur beschränkt. Auch hier soll es – wie bei wirtschaftlichen Tätigkeiten des Gemeinwesens – auf die Wirksamkeit des Marktes ankommen, in welchem die Privaten Träger staatlicher Aufgaben die Leistung anbieten. Und auch hier muss ich beifügen, dass mich diese Abschwächung der Grundrechtsgeltung nicht überzeugt. Solange 23

Urteil vom 10. 7. 1986, Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht 1987, S. 208 ff. BGE 136 I, 158, 164 ff. 25 BGE 123 II, 402. 26 Entscheid der Grossen Kammer vom 30.6. 2009 i. S. Verein gegen Tierfabriken gegen Schweiz. 27 Siehe IV., 1. 24

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der Staat ein Interesse daran hat, dass Private eine Aufgabe in dem von ihm gesetzlich festgelegten Rahmen erfüllen und er dafür die Verantwortung trägt, besteht kein Grund, diese Privaten von der Grundrechtsbindung zu befreien. Wird die betreffende Leistung auf dem Markt in ausreichender Menge und Qualität zu tragbaren Preisen angeboten, so gibt es kein öffentliches Interesse daran, dass der Staat bestimmte Private damit beauftragt, die entsprechende Tätigkeit auszuüben; die Konsequenz muss in einer solchen Situation vielmehr die materielle Privatisierung sein. Die Grundrechtsbindung der Privaten gilt allerdings nur für die unmittelbare Erfüllung der ihnen übertragenen staatlichen Aufgabe. Bei anderen Tätigkeiten, die nichts mit dieser Aufgabe zu tun haben, können sie sich auf ihre Privatautonomie berufen. Üben Private Tätigkeiten aus, die nicht nur in ihrem eigenen, sondern auch im öffentlichen Interesse liegen (z. B. Betrieb von Privatschulen, Privatspitälern oder privaten Energieversorgungsanlagen), ohne dass ihnen der Staat durch Gesetz eine entsprechende Aufgabe übertragen hat, so sind sie nicht an die Grundrechte gebunden.28 3. Mischformen Wie verhält es sich mit der Grundrechtsbindung bei Organisationen, insbesondere Unternehmungen, an welchen Staat und Private beteiligt sind? Für die Beantwortung dieser Frage kommt es darauf an, ob das Gemeinwesen einen bestimmenden Einfluss auf die Willensbildung der gemischt-wirtschaftlichen Unternehmung ausübt oder nicht.29 Wird das Unternehmen vom Gemeinwesen – Bund, Kantone oder Gemeinden – beherrscht, so ist es in gleicher Weise wie dieses an die Grundrechte gebunden. Noch nicht geklärt sind die genauen Kriterien, anhand derer ein bestimmender Einfluss des Gemeinwesens festgestellt werden kann. Das Bundesgericht hat sich dazu erst in einzelnen Fällen geäussert. Es stellte bei der Frage, ob sich gemischt-wirtschaftliche Unternehmen an einem Abstimmungskampf beteiligen dürfen oder ob sie sich wegen ihrer Bindung an die Wahl- und Abstimmungsfreiheit neutral zu verhalten haben, auf das Mass der staatlichen Beteiligung und auf die statutarischen Rechte zur Vertretung des Gemeinwesens im Verwaltungsrat ab. Als beherrschend bezeichnete es die Stellung des Gemeinwesens in einer Aktiengesellschaft, bei welcher es in der Generalversammlung über die absolute Mehrheit verfügte.30 Bei einer Aktiengesellschaft, an welcher der Kanton, die Kan28

Dazu Häner (Anm. 15), S. 1151, 1153. Rhinow/Schefer (Anm. 2), Rz. 1157. 30 Urteil des Bundesgerichts, Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht 1993, S. 119, 121 ff. Vgl. zur Frage des Verhaltens von öffentlichen Unternehmen in Abstimmungskämpfen Georg Müller, Die innenpolitische Neutralität der kantonalen öffentlichen Unternehmen, in: Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht 1987, S. 435 ff.; derselbe, Die Behörden im Abstimmungskampf: vom Neutralitätsgebot zur Teilnahmepflicht, in: Andreas Auer/Piermarco Zen-Ruffinen (Hrsg.), De la Constitution, tudes en lhonneur de Jean-FranÅois Aubert, 1996, S. 255 ff. 29

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tonalbank und die Pensionskasse des Staatspersonals mit insgesamt 33,5 % beteiligt sind und der Kanton das statutarische Recht hat, 4 des aus 7 – 11 Mitgliedern bestehenden Verwaltungsrates zu ernennen, übt das Gemeinwesen dagegen offenbar keinen bestimmenden Einfluss aus.31 Eine Rolle spielt dabei auch, ob und gegebenenfalls wie intensiv das Gemeinwesen von seinem Recht Gebrauch macht, auf die Geschäftstätigkeit einzuwirken. Wird einem gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen, das nicht vom Gemeinwesen beherrscht wird, eine staatliche Aufgabe übertragen, so sind die Grundrechte wie für Private, die solche Aufgaben wahrnehmen, massgebend. In Bereichen, die keinen direkten Zusammenhang mit der Erfüllung der staatlichen Aufgaben aufweisen, ist die Unternehmung dagegen nicht an die Grundrechte gebunden. Ein diversifiziertes Unternehmen kann in einem bestimmten Geschäftsbereich im Auftrag des Staates tätig sein, in den anderen dagegen aus eigenem Interesse. Das Bundesgericht hat in diesem Zusammenhang festgehalten, die Schweizer Mustermesse AG sei beim Entscheid darüber, welche Aussteller zur internationalen Kunstmesse ART zugelassen werden, nicht verpflichtet, die Grundrechte zu respektieren. Der Kanton BaselStadt sei an der Mustermesse AG zwar beteiligt, beherrsche sie aber nicht. Bei der Zulassung zur Ausstellung gehe es nicht um die Benutzung öffentlichen Grundes; es bestünden auch keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften, welche die Mustermesse AG verpflichten würden, interessierte Private unter bestimmten Voraussetzungen als Aussteller zuzulassen.32 Dieser Entscheid ist m. E. fragwürdig, weil das Bundesgericht zu wenig gründlich geprüft hat, ob der Mustermesse AG eine staatliche Aufgabe übertragen worden ist oder nicht.33 V. Folgerungen für die öffentlichen Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft 1. Kantonale oder kommunale Anstalten und Betriebe Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft in der Form von kantonalen oder kommunalen Anstalten oder Betrieben sind grundsätzlich bei allen ihren Handlungen und Entscheidungen an die Grundrechte gebunden. Das bedeutet, dass Eingriffe in die Grundrechte nur zulässig sind, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sind. Die Anstalten und Betriebe müssen ihre Kundinnen und Kunden gleich behandeln, es sei denn, eine Ungleichbehandlung liesse sich sachlich rechtfertigen. Wie erwähnt wird in Lehre und Rechtsprechung z. T die Auffassung vertreten, bei wirtschaftlichen Tätigkeiten, die keine Erfüllung von Staatsaufgaben darstellten, sondern bezweckten, Gewinne zu erzielen, müssten die Grundrechte nicht beachtet werden. Eine andere Meinung geht dahin, die 31 32 33

BGE 126 I, 250( 253). BGE 126 I, 250 (253 ff). Ebenso Häner (Anm. 15), S. 1148 f.

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Bindung an die Grundrechte sei dort zu lockern, wo öffentliche Unternehmen ihre Leistungen im freien Wettbewerb mit anderen Unternehmen erbringen. Die Kantone und Gemeinden, welche im Bereich der Elektrizitätserzeugung und -verteilung tätig sind, erfüllen damit eine Staatsaufgabe. Das legen in der Regel bereits die Kantonsverfassungen fest.34 Dass dabei Gewinne anfallen, ist zwar durchaus erwünscht, aber nicht das Ziel der Tätigkeit. Das Stromversorgungsgesetz35 sieht Ansätze zur Liberalisierung vor. So verpflichtet Art. 13 Abs. 1 des Gesetzes die Netzbetreiber, Dritten diskriminierungsfrei den Netzzugang zu gewähren. Nach Art. 34 des Gesetzes können jedoch bis zum 1. 1. 2014 nur Endverbraucher mit einem Jahresverbrauch von mehr als 100 MWh pro Verbrauchsstätte den Netzzugang verlangen; für Netzverbraucher mit einem geringeren Verbrauch, d. h. die meisten Privathaushalte, wird der Markt also erst in einigen Jahren geöffnet.36 Von Marktverhältnissen in der schweizerischen Elektrizitätswirtschaft kann jedenfalls heute keine Rede sein; ob es jemals dazu kommen wird, ist ungewiss. Auch wenn man – entgegen der hier vertretenen Ansicht37 – die Grundrechtsbindung bei fiskalischem Staatshandeln verneint oder bei wirtschaftlichen Tätigkeiten des Gemeinwesens in einem funktionierenden Markt relativiert, sind deshalb die öffentlichen Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft verpflichtet, die Grundrechte uneingeschränkt zu beachten, weil sie eine Staatsaufgabe erfüllen und ihre Leistungen nicht in freier Konkurrenz zu privaten Unternehmen erbringen. 2. Private als Träger von staatlichen Aufgaben Wird die Aufgabe der Versorgung mit Elektrizität vom Gemeinwesen auf eine private Unternehmung übertragen, so muss sie die Grundrechte in gleicher Weise beachten, wie das Gemeinwesen selbst. Mangels Wettbewerb kommt hier keine Beschränkung der Grundrechtsbindung – etwa auf das Gleichheitsgebot, das Diskriminie-

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Vgl. z. B. § 54 Abs. 1 der Verfassung des Kantons Aargau vom 25. 6. 1980, wonach der Kanton die umweltgerechte und wirtschaftliche Energieversorgung sowie die sparsame Energieverwendung fördert; er kann Versorgungsbetriebe errichten und unterhalten oder sich an Werken beteiligen. Die Verfassung des Kantons Basel-Stadt vom 23. 3. 2005 sieht in Art. 31 vor, dass der Staat für eine sichere, der Volkswirtschaft förderliche und umweltgerechte Energieversorgung sorgt. Er fördert die Nutzung von erneuerbaren Energien, die Nutzung neuer Technologien und die dezentrale Energieversorgung sowie den sparsamen und rationellen Energieverbrauch. Nach Art. 106 der Verfassung des Kantons Zürich vom 27. 2. 2005 schafft der Kanton günstige Rahmenbedingungen für eine ausreichende, umweltschonende, wirtschaftliche und sichere Energieversorgung. Er schafft Anreize für die Nutzung einheimischer und erneuerbarer Energie und für den rationellen Energieverbrauch. Er sorgt für eine sichere und wirtschaftliche Elektrizitätsversorgung. 35 Bundesgesetz über die Stromversorgung (Stromversorgungsgesetz) vom 23. 3. 2007 (SR 734.7). 36 Vgl. dazu Weber/Kratz, Stromversorgungsrecht (Anm. 9), § 4, Rz. 35 ff., § 9, Rz. 1 ff. 37 Vorne, IV., 1.

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rungs- und das Willkürverbot38 – in Betracht. Soweit ein solches Unternehmen zusätzlich noch Tätigkeiten ausübt, die nicht im Zusammenhang mit der Erfüllung der staatlichen Aufgabe stehen, ist es nicht an die Grundrechte gebunden, verfügt also in vollem Umfange über Privatautonomie. Man kann sich fragen, ob beispielsweise der Stromhandel eine solche nicht grundrechtsgebundene Tätigkeit darstellt. Es besteht zwar ein gewisser Zusammenhang zwischen Stromversorgung und Stromhandel, doch geht es dabei nicht unmittelbar um die Erfüllung der übertragenen staatlichen Aufgaben. 3. Gemischt-wirtschaftliche Unternehmen Bei gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft hängt die Bindung an die Grundrechte davon ab, ob das Gemeinwesen einen bestimmenden Einfluss auf deren Tätigkeiten und Entscheidungen ausübt. Das trifft zu, wenn der Staat Mehrheitsaktionär ist und diese Stellung dazu benutzt, um die Geschäftstätigkeit zu steuern. Ob auch eine Minderheitsbeteiligung oder eine wesentliche Vertretung des Gemeinwesens im Verwaltungsrat zu einer beherrschenden Stellung führt, ist nicht geklärt. Wird einer gemischt-wirtschaftlichen Unternehmung die Aufgabe der Stromversorgung vom Gemeinwesen übertragen, so ist sie an die Grundrechte auch dann gebunden, wenn das Gemeinwesen keine beherrschende Stellung hat. 4. Private Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft Für private Elektrizitätswerke, denen der Staat keinen Auftrag zur Stromversorgung erteilt hat, sind die Grundrechte nicht unmittelbar verbindlich. Sie üben eine privatwirtschaftliche Tätigkeit aus, an welcher allerdings auch ein öffentliches Interesse besteht. Deshalb haben sie gewisse gesetzliche Vorgaben39 zu beachten, nicht aber die Grundrechte. Infrage kann allenfalls eine indirekte Drittwirkung der Grundrechte kommen.40 5. Ergebnisse Diese Folgerungen scheinen nur auf den ersten Blick für die Tätigkeit der Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft sehr einschränkend. In der Praxis wirkt sich die Grundrechtsbindung für die öffentlichen Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft indessen viel weniger aus, als man auf Grund der Theorie annehmen könnte. Das zeigt schon der Grundrechtskatalog der Bundesverfassung: Mit den meisten der dort garantierten Rechte, die an sich alle verbindlich sind, werden die Elektrizi38

So Rhinow/Schefer (Anm. 2), Rz. 1160. Stromversorgungsgesetz (Anm. 35), Bundesgesetz betreffend die elektrischen Schwachund Starkstromanlagen (Elektrizitätsgesetz, EleG) vom 24. 6. 1902 (SR 734.0), Energiegesetz vom 26. 6. 1998 (EnG, SR 730.0); kantonale und kommunale Vorschriften über die Elektrizitätsversorgung. 40 Siehe dazu vorne bei Anm. 14. 39

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tätswerke kaum je in Konflikt kommen. Praktisch relevant sind das Rechtsgleichheitsgebot und das Willkürverbot. Da es wohl wieder einmal zu Abstimmungskämpfen in Fragen der Stromversorgung, insbesondere im Zusammenhang mit dem Bau neuer Kernkraftwerke, kommen wird, spielt ausserdem die Wahl- und Abstimmungsfreiheit eine Rolle, welche die Bundesverfassung als politisches Recht in Art. 34 Abs. 2 garantiert. Sie verpflichtet die öffentlichen Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft dazu, in Abstimmungskämpfen nicht einseitig Stellung zu nehmen und keine unverhältnismässigen Mittel einzusetzen.41 Man kann natürlich nicht ausschliessen, dass es vielleicht einmal auch noch zu einem Eingriff in das eine oder andere Grundrecht, z. B. die persönliche Freiheit, die Eigentumsgarantie oder die Wirtschaftsfreiheit, kommt. Das ist aber – wie gesagt – nur dann ein Problem, wenn dieser Eingriff nicht gerechtfertigt ist, d. h. nicht auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruht, nicht im öffentlichen Interesse liegt oder nicht verhältnismässig ist. Dazu kommt, dass die Unternehmen in der Regel ja gar keinen Anlass haben, die Grundrechte ihrer Kundinnen und Kunden zu beschränken, im Gegenteil: Den Unternehmen liegt doch im Allgemeinen daran, alle ihre Kundinnen und Kunden gleich zu behandeln und mit ihnen nicht willkürlich, sondern anständig umzugehen. In der Praxis ist die Grundrechtsbindung also gar kein grosses juristisches Problem, sondern eigentlich bereits durch korrektes Geschäftsgebaren der öffentlichen Elektrizitätswerke erfüllt. Im Übrigen gibt es ein einfaches Mittel, um sich von der Grundrechtsbindung zu befreien: eine materielle Privatisierung der Elektrizitätswirtschaft. Wenn der Staat darauf verzichtet, die Privaten selbst mit Elektrizität zu versorgen oder diese Aufgabe bestimmten Unternehmen zu übertragen, fällt auch die unmittelbare Grundrechtsbindung weg. Das ist logisch und konsequent: Solange der Staat die Verantwortung für die Erfüllung der Aufgabe der Stromversorgung trägt, sollen die für die Beziehungen zwischen Staat und Privaten zentralen Grundrechte Anwendung finden. Wenn der Staat diese Aufgabe den Privaten überlässt, soll er es ihnen anheim stellen, wie sie ihre Rechtsbeziehung zu ihren Kundinnen und Kunden ausgestalten.

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Siehe dazu die Hinweise in Anm. 30.

Unbegrenzte „unechte Vertrauensfrage“? Von Wolf-Rüdiger Schenke, Mannheim I. Einleitung Zu den staatsrechtlichen Fragen, die Rainer Wahl in besonderem Maße beschäftigten, gehören die Probleme, die sich in Verbindung mit der Stellung einer sogenannten „unechten Vertrauensfrage“1 gem. Art. 68 GG stellen. Diese ist bekanntlich dadurch gekennzeichnet, dass es hier dem die Vertrauensfrage stellenden Bundeskanzler nicht darum geht, das Vertrauen durch die Mehrheit des Bundestages ausgesprochen zu bekommen, sondern er ganz im Gegenteil die Versagung des Vertrauens erstrebt, um auf diese Weise dem Bundespräsidenten nach Stellung eines entsprechenden Antrags eine Auflösung des Bundestags zu ermöglichen. Rechtlich fragwürdig ist dieses Procedere, wenn der Bundeskanzler tatsächlich noch die Mehrheit des Bundestages hinter sich hat, er sich aber dennoch bemüht, auf dem Wege über Art. 68 GG eine Auflösung des Bundestags herbeizuführen. Unter diesem Aspekt begegneten sowohl die Stellung der Vertrauensfrage durch Helmut Kohl am 17. 12. 1982 als auch die Stellung der Vertrauensfrage durch Gerhard Schröder am 1. 7. 2005 verfassungsrechtlichen Bedenken, denn beide Vertrauensfragen waren eindeutig auflösungsgerichtet, gleichzeitig bestanden aber erhebliche Zweifel daran, ob Kohl und Schröder bei Stellung ihrer Vertrauensfrage tatsächlich die Mehrheit im Parlament und damit ihre Regierungsfähigkeit verloren hatten. Beide Male hatte sich das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer von einzelnen Bundestagsabgeordneten initiierten Verfassungsorganstreitigkeit2 mit der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit dieser unechten Vertrauensfragen und der auf ihrer Basis erfolgten Auflösung des Bundestages zu befassen. 1 s. zum Begriff der unechten Vertrauensfrage schon Wahl, Rainer, in: Heyde/Wöhrmann (Hrsg.), Auflösung und Neuwahl des Bundestages 1983 vor dem Bundesverfassungsgericht, Dokumentation des Verfahrens, 1984, S. 1, 28 ff. Statt unechter Vertrauensfrage wird im Anschluss an BVerfGE 114, 121 (151) auch vielfach der Begriff der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage verwandt (s. zu dieser Terminologie auch Schenke, Wolf-Rüdiger, in: Dolzer/ Graßhof/Kahl/Waldhoff, Bonner Kommentar (BK) zum GG (Drittbearb.), 2006, Art. 68, Rdnr. 70). Für die Verwendung des Begriffs der unechten Vertrauensfrage spricht, dass schon der Wortlaut des Art. 68 GG nahelegt, die Vertrauensfrage primär auf die Fälle zu beziehen, in denen der Bundeskanzler den Antrag mit dem Ziel stellt, ihm das Vertrauen auszusprechen, also auf die echte Vertrauensfrage. Über die Zulässigkeit einer unechten Vertrauensfrage ist damit freilich noch nichts gesagt. 2 Vgl. hierzu näher BVerfGE 62, 1 ff.; 114, 121 ff.

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II. Die unechte Vertrauensfrage Helmut Kohls In dem ersten Verfahren, bei dem das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit der durch Helmut Kohl gestellten unechten Vertrauensfrage zu befinden hatte, waren Rainer Wahl, der leider früh verstorbene Kollege Klaus Schlaich und ich Prozessbevollmächtigte der vier Antragsteller. Rainer Wahl vertrat dabei den CDU-Abgeordneten Lagerhausen, Klaus Schlaich den aus der SPD ausgetretenen Bundestagsabgeordneten Karl Hofmann und ich die FDP-Abgeordneten Rentrop und Hansheinrich Schmidt. Ich kann mich noch gut entsinnen, wie wir uns, ganz kurz nachdem der Bundespräsident die Auflösungsanordnung erlassen hatte, zu einem „konspirativen“ Treffen bei mir zu Hause zusammenfanden, um verschiedene Fragen, die sich in Verbindung mit dem Verfahren stellten und unsere Vorgehensweise betrafen, zu erörtern. Grammatische, vor allem aber systematische, teleologische und entstehungsgeschichtliche Gesichtspunkte sprachen unserer Ansicht nach gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der von Helmut Kohl gestellten unechten Vertrauensfrage.3 Alle drei waren wir deshalb der verwegenen Ansicht, dass sich das Bundesverfassungsgericht der „Wucht“ unserer Argumente nicht verschließen werde. Bekanntlich kam es anders. Die Mehrheit der Verfassungsrichter entschied sich entgegen unserer Ansicht für die Verfassungsmäßigkeit der Auflösungsanordnung und lehnte unseren Antrag, die Verfassungswidrigkeit der Bundestagsauflösung festzustellen, ab. So blieb uns als schwacher Trost nur, dass zwei der acht Bundesverfassungsrichter unsere Meinung teilten und sich in ihren Minderheitsvoten viele unserer Argumente widerspiegelten. An ein berühmtes Zitat aus Schillers Demetrius zu denken, verbot uns allein schon der Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht. Bemerkenswert erschien uns immerhin, und auch das tröstete uns etwas, dass auch das Mehrheitsvotum des Bundesverfassungsgerichts davon ausging, dass eine unechte Vertrauensfrage eines Mehrheitskanzlers unzulässig sei. Nur beurteilte das Mehrheitsvotum des Bundesverfassungsgerichts die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag eben ganz anders als die Antragsteller und ihre Prozessbevollmächtigten. III. Die unechte Vertrauensfrage Gerhard Schröders 2005 hatte sich das Bundesverfassungsgericht erneut mit der Problematik der unechten Vertrauensfrage zu beschäftigen. Rainer Wahl war zwar diesmal nicht Prozessbevollmächtigter, jedoch sicher ein aufmerksamer Beobachter des Geschehens, und er dürfte in Konsequenz seiner früher zur Auslegung des Art. 68 GG geäußerten Rechtsauffassung auch diesmal wieder von der Verfassungswidrigkeit der Auflösung überzeugt gewesen sein. Ich bilde mir ein – bin mir aber nicht ganz sicher –, dass er sich in dieser Richtung auch in der Presse geäußert hatte. Das Spannende an der Bun3 s. hierzu die Antragsschriften von Wahl, Rainer, in: Heyde/Wöhrmann (Hrsg.), Auflösung und Neuwahl des Bundestages 1983 vor dem Bundesverfassungsgericht, Dokumentation des Verfahrens, 1984, S. 1 ff. sowie von Schenke, Wolf-Rüdiger, a.a.O., S. 51 ff. und von Schlaich, Klaus, a.a.O., S. 87 ff.

Unbegrenzte „unechte Vertrauensfrage“?

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destagsauflösung 2005 war in verfassungsrechtlicher Hinsicht, dass diesmal unter Zugrundelegung der Grundsätze, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 16. 2. 1983 zur Auslegung des Art. 68 GG entwickelt hatte, viel dafür sprach, dass die unechte Vertrauensfrage und die ihr folgende Bundestagsauflösung verfassungswidrig waren. Jedenfalls ließ sich die Begründung, mit welcher der Kanzler die Stellung der Vertrauensfrage zunächst legitimiert hatte, nur schwer unter den Kanon jener Voraussetzungen subsumieren, die bis dahin vom Bundesverfassungsgericht als für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer unechten Vertrauensfrage unerlässlich anerkannt waren. 1. Die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat als Rechtfertigung der unechten Vertrauensfrage Einen zentralen Bestandteil der Begründung Gerhard Schröders für die von ihm gestellte unechte Vertrauensfrage und die von ihm auf diesem Wege erstrebte Bundestagsauflösung war, dass „nur eine durch die Wählerinnen und Wähler klar und neuerlich legitimierte Regierungspolitik … bei der Mehrheit des Bundesrats zu einem Überdenken der Haltung und – wenn auch nicht kurzfristig – zu einer Änderung der Mehrheit führen“ werde.4 Von dieser Begründung ließ sich nur schwer eine Brücke zu den vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 16. 2. 1983 aufgestellten Voraussetzungen für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer unechten Vertrauensfrage schlagen. Dort hatte das Bundesverfassungsgericht5 noch ausgeführt: „Der Bundeskanzler, der die Auflösung des Bundestags auf dem Weg des Art. 68 GG anstrebt, soll dieses Verfahren nur (Kursivdruck im Original) anstrengen dürfen, wenn es politisch nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen (Kursivdruck durch Verfasser) weiter zu regieren.“Auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat kam es damit nicht an, zumal – von kurzen Unterbrechungen abgesehen – die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat nicht mit denen im Bundestag übereinstimmten und deshalb unter Zugrundelegung der Begründung des Bundeskanzlers eine Auflösung des Bundestages auf dem Wege des Art. 68 GG in sehr weitem Umfang hätte zulässig sein müssen. Das Abstellen auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat zur Rechtfertigung einer Bundestagsauflösung überzeugte im Übrigen schon deshalb nicht, weil auch dann, wenn der Wähler die Politik der Bundesregierung bestätigt und deren parlamentarische Basis vergrößert hätte (was ja bekanntlich nicht geschah), sich an den Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat und den hieraus resultierenden Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der Regierungspolitik sowie der Notwendigkeit, politische Kompromisse einzugehen, zunächst gar nichts geändert hätte. Das wurde bezeichnenderweise auch vom Bundeskanzler konzediert, indem er darauf hinwies, dass das Wählervotum jedenfalls kurzfristig nicht zu einer Änderung der Mehrheit im Bundestag führen werde. 4 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 15. Wahlperiode, 185. Sitzung, Stenografischer Bericht Bd. 227, S. 17467 (D). 5 BVerfGE 62, 1 (2) Leitsatz 6.

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2. Die plebiszitäre Legitimation der unechten Vertrauensfrage Auch ein anderes, durch den Bundeskanzler zur Rechtfertigung seiner unechten Vertrauensfrage zunächst verwandtes Argument ließ sich mit den verfassungsrechtlichen Weichenstellungen, wie sie in der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer solchen Vertrauensfrage entwickelt wurden, nicht in Einklang bringen. So führte der Bundeskanzler bereits in der Ankündigung der Vertrauensfrage als Begründung für sie an: „Für die aus meiner Sicht notwendige Fortführung der Reformen halte ich eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen gerade jetzt für erforderlich.“ Noch deutlicher wurde der Bundeskanzler bei der Stellung der Vertrauensfrage vor dem Bundestag, die er u. a. mit dem Hinweis rechtfertigte: „Wenn diese Agenda fortgesetzt und fortgeführt werden soll – und das muss sie –, ist eine Legitimation durch Wahlen unverzichtbar“6, und dann im späteren Verlauf seiner Rede darlegte: „Vordergründig betrachtet handelt es sich um einen Vorgang, in dem der Bundeskanzler sein eigenes Schicksal der Entscheidung des Volkes anvertraut. Die wahre Dimension der Entscheidung weist aber weit darüber hinaus. Tatsächlich geht es um die Möglichkeit des demokratischen Souveräns, die Grundrichtung der Politik selbst zu bestimmen“.7 Eindeutiger ließ es sich nicht ausdrücken, dass es dem Bundeskanzler hier um eine Zielsetzung ging, die auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit der Vertrauensfrage nach Art. 68 GG gerade nicht verfolgt werden durfte. Diese in der Begründung der Vertrauensfrage zum Ausdruck kommende plebiszitäre Anreicherung der durch den Verfassungsgesetzgeber bewusst repräsentativ-demokratisch ausgestalteten grundgesetzlichen Verfassungsordnung bildete nicht nur einen der tragenden Gründe für die im rechtswissenschaftlichen Schrifttum vorherrschende Ansicht, nach der eine zu einem Plebiszit umgeformte unechte Vertrauensfrage verfassungsrechtlich unzulässig ist. Sie stand auch im diametralen Widerspruch zu einer der Kernaussagen des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung vom 16. 2. 1983. Dort heißt es: „Insbesondere verfehlt es grundlegend den Sinn des Art. 68 GG wie der vom Grundgesetz geformten repräsentativen Demokratie, die Auflösung des Bundestages und Neuwahlen mit der Behauptung zu fordern, ein über ein konstruktives Misstrauensvotum neu gewählter Bundeskanzler bedürfe neben seiner verfassungsmäßigen Legalität noch einer durch Neuwahlen vermittelten Legitimität“. Obschon diese Aussage in Verbindung mit der über Art. 68 GG erfolgten Wahl Helmut Kohls stand, liegt es auf der Hand, dass sie ebenso – ja erst recht – auf einen auf dem „regulären“ Wege des Art. 63 GG gewählten Bundeskanzler übertragbar ist und jeden Versuch, die unechte Vertrauensfrage unter Rückgriff auf die Notwendigkeit einer plebiszitären Legitimation der Regierungspolitik zu begründen, ausschloss.

6

Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 15. Wahlperiode, Stenografischer Bericht Bd. 227, S. 17465 (B). 7 Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 15. Wahlperiode, Stenografischer Bericht Bd. 227, S. 17468 (B).

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3. Die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag als Legitimation der unechten Vertrauensfrage Nachdem der Bundeskanzler bei der Ankündigung der Vertrauensfrage sich zunächst nicht auf den Wegfall der politischen Mehrheit im Bundestag – und damit den einzigen Grund, der nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. 2. 1983 die Zulässigkeit einer unechten Vertrauensfrage rechtfertigen konnte – berufen hatte,8 versuchte er, dieses Defizit in seiner Begründung der Vertrauensfrage vor dem Bundestag zu beheben. Nunmehr schob er als Begründung nach: „Eine Bewertung der politischen Kräfteverhältnisse vor und nach der Entscheidung, Neuwahlen anzustreben, muss dazu führen – dessen bin ich mir ganz sicher –, dass ich unter den aktuellen Bedingungen nicht auf das notwendige, auf stetiges Vertrauen im Sinne des Art. 68 Grundgesetz rechnen kann.“ Freilich blieben seine Begründungen für diese Einschätzung wenig präzise, indem er sich darauf berief, dass „vermehrt abweichende, jedenfalls die Mehrheit gefährdende Stimmen laut geworden“9 seien und dass auch dort, wo Vertrauen nicht mehr vorhanden gewesen sei, öffentlich so getan worden sei, als gäbe es dieses Vertrauen.10 Ein Dilemma für die Begründung des Bundeskanzlers musste sich dabei freilich daraus ergeben, dass die Bundesregierung zur Durchsetzung ihrer Gesetzesvorhaben regelmäßig die hierfür erforderliche Mehrheit erhalten hatte. Das galt selbst in den Fällen, in welchen der Bundesrat und die dort mehrheitlich vertretenen Oppositionsparteien sich einem Gesetzesvorhaben zunächst widersetzt hatten. In den 29 Fällen, in welchen der Bundesrat einen Einspruch einlegte und auf die sich der Kanzler als Beleg für seine Schwierigkeiten berufen hatte, wurde immer der Einspruch des Bundesrates mit der erforderlichen Mehrheit der Mitglieder des Bundestags (Art. 121 GG), der sogenannten Kanzlermehrheit, zurückgewiesen. Es lagen auch keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass dies bei einem zur Verfolgung der Regierungspolitik erforderlichen zukünftigen und durch den Kanzler zu benennenden Gesetz nicht gelingen würde, zumal die politisch umstrittenen Gesetze, deren es zur Durchführung der Agenda 2010 bedurfte, bereits weitgehend verabschiedet worden waren. 4. Die Initiierung des gegen die Bundestagsauflösung 2005 gerichteten Verfassungsorganstreitverfahrens Da eine verfassungsrechtlich unzulässige unechte Vertrauensfrage als erster Akt des mehrstufigen Verfahrens der Bundestagsauflösung unter Zugrundelegung der 8 Darauf war im rechtswissenschaftlichen Schrifttum denn auch alsbald hingewiesen worden, s. Schenke, Wolf-Rüdiger/Baumeister, Peter, Vorgezogene Bundestagswahlen: Überraschungscoup ohne Verfassungsbruch?, NJW 2005, S. 1844 (1845). 9 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 15. Wahlperiode, Stenografischer Bericht Bd. 227, S. 17467 (B). 10 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 15. Wahlperiode, Stenografischer Bericht Bd. 227, S. 17467 (C).

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Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts11 vom 16. 2. 1983 die Verfassungswidrigkeit der nachfolgenden Akte und damit auch die der am 21. 7. 2005 durch den Bundespräsidenten angeordneten Bundestagsauflösung nach sich ziehen musste, schienen die Aussichten für eine Verfassungsorganstreitigkeit, mit der sich einzelne Bundestagsabgeordnete gegen die Auflösung des Bundestags und den in ihrem Gefolge auftretenden Verlust ihres Abgeordnetenmandats zur Wehr setzten, nicht ungünstig. So übernahm ich nach kurzer Bedenkzeit auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) dessen Vertretung in der von diesem angestrebten Verfassungsorganstreitigkeit, mit welcher die Verfassungswidrigkeit der durch den Bundespräsidenten ausgesprochenen Auflösung des 15. Deutschen Bundestages festgestellt werden sollte. Freilich war ich inzwischen altersbedingt weit weniger optimistisch als bei dem 1983 angestrengten Verfassungsorganstreitverfahren und warnte – obschon von der dogmatischen Stimmigkeit unserer gegen die Bundestagsauflösung sprechenden Argumente überzeugt – den durch mich vertretenen Abgeordneten Schulz unter Hinweis auf die politische Dimension des Verfahrens vor einem bei ihm vorherrschenden übergroßen Optimismus. Diesen Optimismus teilte er mit der anderen, gleichfalls klagenden Abgeordneten Jelena Hofmann und deren Prozessvertreter, meinem Kollegen Hans-Peter Schneider, in deren Kreis ich mir bei verschiedenen Besprechungen im Vorfeld der mündlichen Verhandlung nunmehr – ganz entgegen meiner sonstigen Natur – gelegentlich als ein unverbesserlicher Pessimist vorkam. IV. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. 8. 2005: Die faktisch unbegrenzte unechte Vertrauensfrage In der Tat war dieser Pessimismus – leider – nicht unbegründet. Der Antrag wurde als unbegründet abgewiesen, und diesmal nicht nur mit sechs zu zwei, sondern mit sieben zu eins Stimmen. Das überraschte selbst mich, denn ich hegte immerhin die Hoffnung, dass wir, wenn wir den Prozess auch nicht gewinnen würden, doch eine stattliche Minderheit der Bundesverfassungsrichter – jedenfalls mehr als zwei – von der Richtigkeit unserer Meinung überzeugen könnten. Mein spontaner Gedanke nach der Urteilsverkündung war denn auch in Bezug auf zukünftige Prozessvertretungen bei Bundestagsauflösungen: Nie wieder. Das Gesetz der Serie ließ befürchten, dass ein zukünftiger die Bundestagsauflösung betreffender Prozess möglicherweise noch vernichtender ausgehen und in Konsequenz einer arithmetischen Reihe mit acht zu null enden dürfte. Bei der Begründung, die das Mehrheitsvotum des Bundesverfassungsgerichts für die von ihm befürwortete Verfassungsmäßigkeit der Auflösung gab, war diese Befürchtung trotz des überzeugenden Minderheitsvotums des Verfassungsrichters Jentsch,12 bei dem ich mir einbildete, es stimme weitgehend mit der Argumentation in der Antragsschrift des Bundestagsabgeordneten Schulz überein, si11 12

BVerfGE 62, 1 (33 f). BVerfG – Jentsch, Hans-Joachim, BVerfGE 114, 170 ff.

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cher nicht unbegründet. Denn der Sache nach hatte sich die zweite Entscheidung zur Bundestagsauflösung tatsächlich von der Entscheidung aus dem Jahre 1983 verabschiedet, obwohl sie sich wiederholt auf jene berief. 1. Die plebiszitäre Legitimation der Regierungspolitik als „rhetorische Floskel“ Deutlich wurde dies nicht nur daran, dass das Bundesverfassungsgericht – abweichend von seiner bisherigen Rechtsprechung – nicht nur auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag, sondern auch auf die im Bundesrat abstellte, um die Stellung der Vertrauensfrage durch den Bundeskanzler zu rechtfertigen.13 Bedenken gründeten sich vor allem aber auch darauf, dass das Bundesverfassungsgericht ein nach seiner bisherigen Rechtsprechung unzulässiges zentrales Begründungselement der Stellung der Vertrauensfrage durch Bundeskanzler Gerhard Schröder herunterspielte, indem es in Bezug auf die vom Bundeskanzler erstrebte plebiszitäre Legitimation für die Agenda 2010 behauptete, „eine solche Formulierung kann als rhetorische Floskel gemeint sein, die eine Referenz an das Demokratieprinzip zum Ausdruck bringt“ und ergänzend hierzu ausführte, „es lässt sich auch nicht feststellen, dass der Kanzler ein dem Zweck des Art. 68 GG widersprechendes Plebiszit anstrebt“.14 Rhetorische Gründe legitimieren nicht zur verbalen und inhaltlichen Missachtung verfassungsrechtlicher und verfassungsgerichtlicher Vorgaben, und deutlicher, als durch den Kanzler geschehen, konnte auch nicht klargestellt werden, dass es um ein Votum des Volkes über das mit dem Stichwort Agenda 2010 umschriebene Reformpaket ging. Dass darüber hinaus die Autorität des Bundesverfassungsgerichts Schaden zu nehmen droht, wenn es einen solchen Affront eines anderen Verfassungsorgans duldet, lässt sich nicht von der Hand weisen. Vor allem wird durch die Zulassung solcher „rhetorischer Floskeln“ die Hemmschwelle für den Einsatz der Vertrauensfrage erheblich gesenkt, indem der Kanzler das Eingeständnis des Scheiterns seiner Politik im Bundestag und des Verlusts der politischen Mehrheit durch Hinweis auf das Bestreben, den Souverän über seine Politik entscheiden zu lassen, „demokratisch“ zu bemänteln vermag. Dass ein in dieser Rhetorik zum Ausdruck kommendes Demokratieverständnis schwerlich mit dem bewusst repräsentativ-demokratisch ausgestalteten Verfassungssystem des Grundgesetzes in Einklang gebracht werden kann, drängt sich zusätzlich auf.

13

BVerfGE 114, 121 (166) mit der Begründung, mit der Verweisung auf die politischen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat werde nur deutlich gemacht, dass „seine politische Bewegungsfreiheit für die von ihm für richtig gehaltene Politik gegenüber seiner Fraktion durch einen von der Opposition beeinflussten Bundesrat zusätzlich geschmälert wird.“ An dieser Schmälerung der politischen Bewegungsfreiheit durch andere Mehrheiten im Bundesrat hätte sich freilich selbst dann nichts geändert, wenn der Bundeskanzler nach einer durch eine Vertrauensfrage herbeigeführten Bundestagsauflösung seine parlamentarische Mehrheit vergrößert hätte. 14 BVerfGE 114, 121 (166).

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2. Die „verdeckte Minderheitssituation“ So blieb als Rechtfertigung für die Stellung der Vertrauensfrage nur noch der Hinweis auf den Verlust der politischen Handlungsfähigkeit des Kanzlers und seiner Regierung, der nach richtiger und auch durch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 16. 2. 1983 geteilter Auffassung die Stellung einer unechten Vertrauensfrage rechtfertigte. Freilich stellte sich hier für den Bundeskanzler wie auch für das Bundesverfassungsgericht das Problem, dass der Kanzler bei sämtlichen Abstimmungen im Bundestag die für die gesetzgeberische Umsetzung seiner Politik erforderlichen parlamentarischen Mehrheiten zu erlangen vermocht hatte und auch keine Anzeichen dafür bestanden, dass dies im noch verbleibenden Rest der Legislaturperiode anders sein sollte. Dass Mitglieder der Regierungsfraktionen im Vorfeld politischer, durch den Bundestag zu treffender Entscheidungen wiederholt Kritik an der Regierungspolitik geäußert hatten, änderte nichts daran, dass die Kritiker des Bundeskanzlers diesem bei den entscheidenden Abstimmungen nie die Gefolgschaft versagt hatten. Die Äußerung solcher Kritik ist zudem ein Zeichen demokratischer Kultur. Eine hierauf gestützte Rechtfertigung der Vertrauensfrage drohte die innerparteiliche Diskussion in Bezug auf schwierige politische Fragen zu gefährden und damit der den politischen Parteien ohnehin schon innewohnenden Tendenz zur Oligarchisierung der politischen Willensbildung noch weiter Auftrieb zu geben. Solche von einzelnen Bundestagsabgeordneten der SPD geübte Kritik am Bundeskanzler hinderte den Fraktionsvorsitzenden der SPD, Franz Müntefering, denn auch nicht, ergänzend zum Vertrauensantrag Gerhard Schröders in derselben Plenarsitzung auszuführen: „Wichtig ist …, dass wir uns aber einig sind in dem Bewusstsein, dass Gerhard Schröder das Vertrauen (Fettdruck im Protokoll) der SPD-Bundestagsfraktion hat und dass wir ihn weiter als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland haben wollen.“15 Um die unechte Vertrauensfrage des Bundeskanzlers trotz der sich in zahlreichen parlamentarischen Abstimmungen widerspiegelnden politischen Unterstützung des Bundeskanzlers durch Abgeordnete der Regierungsfraktionen zu legitimieren, sah sich denn das Bundesverfassungsgericht16 genötigt, einen neuen Topos in die verfassungsrechtliche Diskussion einzuführen: „Die verdeckte Minderheitssituation des Bundeskanzlers“. Sie soll dann gegeben sein, wenn „eine organisierte parlamentarische Mehrheit – die nominelle Kanzlermehrheit – sich zwar zu dem von ihr gewählten Kanzler erklärt und ihm äußerlich politische Unterstützung gewährt, diese Unterstützung seines politischen Kurses aber in Wirklichkeit nicht so wirksam ist, dass der Bundeskanzler die von ihm konzeptionell vertretene Politik durchzusetzen vermag“. Die Verwendung dieses Terminus ist freilich nicht unproblematisch. Artikuliert sich nämlich das Vertrauen des Bundestags in Abstimmungsmehrheiten im Bundestag, welche die Zustimmung zu Person und Politik des Bundeskanzlers signalisieren, 15 Verhandlungen des Deutscher Bundestages, 15. Wahlperiode, Stenografischer Bericht Bd. 227, S. 17472 ff. 16 BVerfGE 114, 121 (156).

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so erscheint es bereits zweifelhaft, ob es überhaupt so etwas wie eine „verdeckte Minderheitssituation“ geben kann. Jedenfalls ist die Benutzung dieser Begrifflichkeit durch das Bundesverfassungsgericht zumindest deshalb fragwürdig, weil das Gericht dabei implizit davon ausgeht, es könne an einem Vertrauen i. S. des Art. 68 GG fehlen, obwohl sich der Vertrauensverlust nach außen hin in Bundestagsabstimmungen gar nicht offenbart. Das Gericht sieht sich denn auch genötigt, zur Begründung der „verdeckten Minderheitssituation“ auf Vorgänge außerhalb des Parlaments abzustellen und damit zugleich die Vorgänge im Parlament als der eigentlichen politischen Bühne abzuwerten – und dies, obschon der Kanzler vor der Stellung der unechten Vertrauensfrage nicht nur bei allen für die Agenda 2010 maßgeblichen Abstimmungen eine ausreichende Parlamentsmehrheit erhielt, sondern sogar die Vertrauensfrage durch den Fraktionsvorsitzenden der SPD, Franz Müntefering17, in ein Vertrauensvotum für den Kanzler umfunktioniert wurde, dem durch Stimmenthaltungen das Vertrauen ausgedrückt werden könne. Das Abstellen auf außerhalb des Bundestags gefallene Äußerungen von Bundestagsabgeordneten der Regierungsfraktionen oder sogar von gar nicht im Bundestag vertretenen Parteimitgliedern erlaubt bei einer großen Volkspartei wie der SPD, in der sich ein breites Spektrum politischer Richtungen wiederfindet, in der Regel mühelos die Konstruktion einer „verdeckten Minderheitssituation“, zumal wenn hierbei – was unschwer zu bewerkstelligen ist – bei der Auswahl der zahlreichen politischen Stellungnahmen von Bundestagsabgeordneten außerhalb des Parlaments, welche zur Begründung einer „verdeckten Minderheitssituation“ herangezogen werden, selektiv und „kanzlergetönt“ verfahren wird. Nicht übersehen werden sollte in diesem Zusammenhang auch, dass die Heranziehung einzelner hier im Vorfeld parlamentarischer Entscheidungen gefallener Äußerungen zur Begründung einer die Vertrauensfrage rechtfertigenden „verdeckten Minderheitssituation“ sich nachteilig auf die politische Willensbildung innerhalb einer Partei auswirken kann. Sie begünstigt bereits in einem frühen Stadium lösungsbedürftiger politischer Fragen Meinungskonformität und stört damit den innerparteilichen politischen Diskurs empfindlich. Der Umstand, dass der Bundeskanzler bei der Durchsetzung seiner politischen Ziele Rücksicht auf innerhalb der Regierungsparteien bestehende, mit seinen Vorstellungen nicht voll konforme Meinungen zu nehmen hat und oftmals zu Konzessionen gezwungen ist, ist andererseits ein ganz normaler politischer Vorgang, der unter demokratierechtlichen Gesichtspunkten nur positiv zu bewerten ist, indem er die Pervertierung der grundgesetzlichen Kanzlerdemokratie in eine tendenzielle Kanzlerdiktatur verhindert. Mit einer verdeckten Minderheitssituation, welche die Stellung einer unechten Vertrauenssituation rechtfertigen soll, hat all dies nichts zu tun.

17 Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 15. Wahlperiode, Stenografischer Bericht, S. 17474 D: „Es geht hier nicht um Misstrauen“.

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3. Die Einschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle wegen der Geheimhaltungsbedürftigkeit von Sachverhalten Die Einwände gegen die Bemühung einer „verdeckten Minderheitssituation“ zur verfassungsrechtlichen Legitimierung einer unechten Vertrauensfrage verstärken sich noch, wenn man sie mit einer weitgehenden Zurücknahme der verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Vorliegens einer solchen „verdeckten Minderheitssituation“ koppelt. Zwar muss dem Bundeskanzler zweifelsohne ein politischer Beurteilungsspielraum in Bezug auf die Mehrheitssituation im Bundestag eingeräumt sein, der durch das Bundesverfassungsgericht zu respektieren ist. Problematisch wird dies aber dann, wenn mit der Anerkennung eines solchen Beurteilungsspielraums zugleich ein mit Geheimhaltungsgründen legitimierter Verzicht auf die Prüfung des Sachverhalts einhergeht, welchen der Bundeskanzler zur Rechtfertigung seiner politischen Beurteilung behauptet. Das steht in Widerspruch zu den sonst in Verbindung mit Beurteilungsspielräumen allgemein anerkannten Grundsätzen, denen zufolge die gerichtliche Überprüfung des Sachverhalts regelmäßig geboten ist18, wobei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts19 selbst bei geheimhaltungsbedürftigen Sachverhalten ein gerichtliches „in-camera-Verfahren“ angezeigt ist. Der Verzicht des Gerichts auf die Überprüfung vom Kanzler behaupteter geheimhaltungsbedürftiger Sachverhalte, denen er für die Stellung einer unechten Vertrauensfrage eine maßgebliche Bedeutung beimisst, stellt diesem letztlich endgültig einen Freibrief dafür aus, sich tatsächlich von den verfassungsrechtlichen Grenzen zu lösen. Tatsächlich oder vermeintlich geführten Gesprächen in Hinterzimmern kann damit eine ausschlaggebende Bedeutung für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit eines so bedeutsamen Regierungsaktes wie der Stellung der Vertrauensfrage zukommen, ohne dass hier eine effektive verfassungsgerichtliche Kontrolle einzusetzen vermag. Die Normativität der Verfassung wird damit in einer höchst bedeutsamen Verfassungsfrage aufgegeben. Die unechte Vertrauensfrage ist damit trotz der für sie formal noch aufrechterhaltenen verfassungsrechtlichen Grenzen jedenfalls faktisch unbegrenzt zulässig. V. Der Versuch Lübbe-Wolffs zur rechtlichen Legitimation einer unbegrenzten unechten Vertrauensfrage Die faktische Preisgabe der verfassungsrechtlichen Grenzen einer unechten Vertrauensfrage gab denn auch vielfach zur Kritik an der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur Anlass. Die Kritik kam dabei von zwei Seiten: Einmal von denjenigen, die dem Bundesverfassungsgericht vorwarfen, die von ihm aufgestellten verfassungsrechtlichen Grundsätze für die Ausübung der unechten Vertrauensfrage durch Rück-

18 19

Schenke, Wolf-Rüdiger, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rdnr. 774. BVerfGE 101, 106 ff.

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nahme seiner Kontrolle aufgegeben bzw. verwässert zu haben20, und die deshalb eine Intensivierung der gerichtlichen Kontrolle forderten, zum anderen aber auch von Seiten derer, die nach der faktischen Freigabe einer unbegrenzten Vertrauensfrage nunmehr auch deren rechtliche Freigabe befürworteten, also für eine auch rechtlich unbegrenzt zulässige unechte Vertrauensfrage plädierten.21 Für letztere bot sich dabei insbesondere eine Anknüpfung an das Sondervotum der Richterin Lübbe-Wolff22 zum Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts an.23 Diese stimmte zwar im Ergebnis dem Mehrheitsvotum zu, begründete dies aber in ihrer concurring opinion abweichend, indem sie sich für eine unbegrenzte Zulässigkeit einer (auch unechten) Vertrauensfrage aussprach. Anders als das Mehrheitsvotum hatte sie damit keinerlei Schwierigkeiten, die Zulässigkeit der unechten Vertrauensfrage Gerhard Schröders zu bejahen. Eine solche Anknüpfung an die Darlegungen Lübbe-Wolffs liegt auch deshalb nahe, weil deren Argumentation in sich konsistent war und jedenfalls teilweise neue, die Diskussion belebende Argumente beinhaltete. Es wäre denn auch in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung keineswegs das erste Mal, dass eine abweichende Meinung der zukünftigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Weg weist.24 Schon von daher lohnt es sich, im Folgenden näher auf das Sondervotum von Lübbe-Wolff einzugehen.

20 s. hierzu z. B. Löwer, Wolfgang, Inszeniertes Misstrauen, DVBl. 2005, S. 1102 ff.; Pestalozza, Christian, Art. 68 light oder Die Wildhüter der Verfassung, NJW 2005, S. 2817 ff.; Schenke, Wolf-Rüdiger, Das gefühlte Misstrauen. Zur Verfassungsrechtslage nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. 8. 2005 zur Vertrauensfrage nach Art. 68 GG, ZfP Bd. 53, 2006, S. 26 ff.; Starck, Christian, Anmerkung zu BVerfG, Urteil vom 25. 08. 2005, JZ 2005, S. 1053 ff.; Winkler, Daniela, Vertrauensfrage und Parlamentsauflösung. Politik im verfassungsfreien Raum, ZSE 2006, S. 103 ff. 21 Pieper, Stefan Ulrich, in: Epping/Hillgruber, GG, 2009, Art. 68, Rdnr. 16.2; Ipsen, Jörn, Zur Regierung verurteilt? Verfassungsrechtliche Probleme der Vertrauensfrage nach Art. 68 GG, NJW 2005, S. 2201 ff.; Reimer, Franz, Vertrauensfrage und Bundestagsauflösung bei parlamentarischer Anscheinsgefahr, JuS 2005, S. 680 ff.; Roellecke, Gerd, Wer die Zahl hat. Karlsruhe verkennt: Die Machtfrage ist kein Rechtsproblem, FAZ v. 27. 8. 2005, S. 39; Schoch, Friedrich, Der funktionale Zusammenhang zwischen der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers und dem parlamentarischen Regeierungssystem, ZSE 2006, S. 88 ff. 22 BVerfG – Lübbe-Wolff, Gertrude, BVerfGE 114, 182 ff. 23 Sich hierauf ausdrücklich berufend Roellecke, Gerd, FAZ v. 27. 8. 2005, S. 39. 24 s. z. B. das Sondervotum zur Parteienfinanzierung BVerfG – Böckenförde, Ernst-Wolfgang, BVerfGE 73, 103 ff. und die spätere Änderung der diesbezüglichen Rechtsprechung BVerfGE 85, 264, 286 und 314. Zur Bedeutung von Sondervoten für die spätere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts s. auch allgemein Schlaich, Klaus/Korioth, Stefan, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rdnr. 52.

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1. Die Argumentation Lübbe-Wolffs Lübbe-Wolff moniert25 die Auslegung des Art. 68 GG durch die h. M. und die Mehrheitsvoten des Bundesverfassungsgerichts in den Entscheidungen vom 16. 2. 1983 und 25. 8. 2005, welche die Verfassungsmäßigkeit der Stellung der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage durch den Bundeskanzler daran binden, dass dieser davon ausgehen durfte, seine politische Handlungsfähigkeit eingebüßt zu haben. Als „Objekt des Misstrauens“ werde damit fälschlich nicht der Bundestag und dessen Antwort, sondern der Bundeskanzler und dessen Frage in den Vordergrund gerückt.26 Der Bundestag erscheine so als ein „willenloses Anhängsel, Instrument und Opfer des Bundeskanzlers, zwangsläufig infiziert von dessen Fehlern und unfähig die Verfassung einzuhalten, wo dieser sie missachtet. Dass diese Präsentation der verfassungsrechtlich vorgesehenen Rolle des Bundestages nicht gerecht wird, muss nicht näher begründet werden. Wenn es im Vertrauensfragedrama einen Sündenfall gibt, dann ist der Bundestag derjenige, der in den Apfel gebissen hat“27 (dazu 2.). Dass die vorgesehenen Akteure die ihnen nach der h. M. zugewiesene Rolle nicht wahrnehmen könnten, liege in der Natur der Vertrauensfrage, die nicht auf eine wirklichkeitsbeschreibende Wissenserklärung, sondern auf eine wirklichkeitsformende (performative) Willenskundgebung gerichtet sei28. Performative Äußerungen könnten aber prinzipiell nicht sinnvoll durch deskriptive ersetzt werden, zumal dies mit der Natur des freien Mandats (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) nicht vereinbar sei29 (dazu 3.). Die Sinnwidrigkeit eines solchen Unterfangens zeige sich auch darin, dass die Vertrauensfrage auf eine parlamentarische Willensbekundung und einen damit verbundenen politischen Selbstbindungseffekt ziele, die Abgeordneten aber im Hinblick auf Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG keine rechtsverbindlichen Versprechungen in Bezug auf ihr Abstimmungsverhalten zu konkreten künftigen politischen Projekten des Kanzlers abgeben könnten30 (dazu 4.). Eine Prüfung, ob der Kanzler für seine Politik auf die Gefolgschaft des Parlaments rechnen könne, setze zudem voraus, dass der Kanzler zur Präzisierung seines politischen Programms angehalten werde. Ein solches Präzisierungsverlangen griffe aber in die Kompetenz des Kanzlers zur Gestaltung seiner Politik ein, denn die Entscheidung darüber, welche Politik zu welchem Zeitpunkt verfolgt, offenbart und präzisiert werde, sei selbst ein wesentliches Politikelement31 (dazu 5.). Nicht haltbar sei auch die Ansicht, aus Art. 39 GG sei abzuleiten, dass die Amtsdauer des Bundestags grundsätzlich 4 Jahre betrage. Dies werde bereits daran deutlich, dass der Bundestag nicht gehindert werden könne, ein Auflösungsrecht des Bundespräsidenten auf

25 26 27 28 29 30 31

BVerfG – Lübbe-Wolff, BVerfGE 114, 182. BVerfG – Lübbe-Wolff, BVerfGE 114, 183. So BVerfG – Lübbe-Wolff, BVerfGE 114, 183. BVerfG – Lübbe-Wolff, BVerfGE 114, 184. BVerfG – Lübbe-Wolff, BVerfGE 114, 184. BVerfG – Lübbe-Wolff, BVerfGE 114, 184. BVerfG – Lübbe-Wolff, BVerfGE 114, 185.

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dem Weg über den Rücktritt des Kanzlers gem. Art. 63 GG herbeizuführen32 (dazu 6.). Keines dieser Argumente Lübbe-Wolffs hält indes einer näheren Prüfung stand. Das ergibt sich in wesentlichen Punkten schon aus der Argumentation Rainer Wahls33 in seiner im Rahmen der Bundestagsauflösung 1983 erstellten Antragsschrift vom 17. 1. 1983. 2. Unzulässige Zentrierung der verfassungsrechtlichen Beurteilung auf die Stellung der Vertrauensfrage durch den Bundeskanzler? Der Vorwurf Lübbe-Wolffs, die h. M. konzentriere sich bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage zu Unrecht auf die Stellung der Vertrauensfrage durch den Kanzler und nicht auf deren Beantwortung durch den Bundestag, ist schon deshalb nicht überzeugend, weil sie der Natur der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage als einem mehrstufigen Verfahren nicht gerecht wird. Sie blendet damit zu Unrecht die anderen Akte des mehrstufigen Verfahrens des Art. 68 GG aus und konzentriert sich stattdessen nur auf die Beantwortung der Vertrauensfrage durch das Parlament. Damit wird verkannt, dass der politische Initiator der Vertrauensfrage gem. Art. 68 GG der Kanzler ist. Zudem wird nicht ausreichend gewürdigt, dass in der modernen Parteiendemokratie Regierung und Parlamentsmehrheit (insbesondere bei einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage eines Mehrheitskanzlers) demselben politischen Lager angehören und, damit zusammenhängend, das Parlament im politischen Alltag vielfach ohnehin nur ein Vollstrecker der Entscheidungen der Regierung und damit speziell der Entscheidungen des Kanzlers als Inhaber der Richtlinienkompetenz (Art. 65 S. 1 GG) ist. Die Argumentation Lübbe-Wolffs geht zudem daran vorbei, dass sich die spezifischen Probleme der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage gerade aus der hierdurch herbeigeführten Aufwertung der Rechtsstellung des Kanzlers ergeben, dem bei unbegrenzter Zulässigkeit einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage de facto ein Parlamentsauflösungsrecht eingeräumt wird.34 Dieses geht u. a. zu Lasten der Stellung des einzelnen Parlamentsabgeordneten, aber auch des Parlaments als des demokratischen Repräsentativorgans, indem das durch das GG bewusst repräsentativ-demokratisch ausgestaltete politische System der Bundesrepublik ohne eine Verfassungsänderung plebiszitär angereichert wird.35 Zudem bietet die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage dem Kanzler eine rechtliche Handhabe, das parlamentarische Regie32

BVerfG – Lübbe-Wolff, BVerfGE 114, 190. Wahl, Rainer, in: Heyde/Wöhrmann (Hrsg.), Auflösung und Neuwahl des Bundestages 1983 vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 1 ff. 34 Dazu schon Wahl, Rainer, in: Heyde/Wöhrmann (Hrsg.), Auflösung und Neuwahl des Bundestages 1983 vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 10; s. auch Schenke, Wolf-Rüdiger, in: BK (Drittbearb.), GG, Art. 68, Rdnrn. 81 ff. 35 s. hierzu schon Wahl, Rainer, in: Heyde/Wöhrmann (Hrsg.), Auflösung und Neuwahl des Bundestages 1983 vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 10; s. auch Schenke, Wolf-Rüdiger, in: BK (Drittbearb.), GG, Art. 68, Rdnr. 89. 33

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rungssystem gewissermaßen auf den Kopf zu stellen. Neben die grundgesetzlich eröffnete Möglichkeit des Bundestags, dem Kanzler gem. Art. 67 GG das Misstrauen auszusprechen, tritt dann die in eine ganz andere Richtung zielende auflösungsgerichtete Vertrauensfrage, mit welcher der Kanzler de facto dem Parlament sein Misstrauen aussprechen kann.36 Unter diesen Umständen entbehrt die Argumentation Lübbe-Wolffs nicht einer gewissen Pikanterie und Paradoxie. Das erklärte Ziel Lübbe-Wolffs, die Stellung des Bundestags zu stärken, wird durch die von ihr präferierte Auslegung des Art. 68 GG tatsächlich in sein genaues Gegenteil verkehrt: Da eine Überprüfung der Abstimmung des Bundestags darauf, ob sie „ehrlich“ erfolgte, wegen des nach ihrer Ansicht greifenden Motivforschungsverbots ausgeschlossen ist und es bei knappen Mehrheitsverhältnissen selbst bei einer „ehrlichen“ Willensbekundung des weitaus überwiegenden Teils der Parlamentsabgeordneten bereits genügte, wenn wenige Abgeordnete der Regierungsfraktion dem Kanzler wunschgemäß das Vertrauen versagen, bleibt dem Bundestag – um das Bild von Lübbe-Wolff zu verwenden – in der Regel gar nichts anderes übrig, als in den ihn vom Kanzler gereichten Apfel zu beißen. Der Sündenfall ist damit durch den Kanzler gewissermaßen „vorprogrammiert“. 3. Die Natur der Vertrauensfrage: Wissens- oder Willensbekundung? Was die Natur der Vertrauensfrage angeht, wird in der abweichenden Begründung Lübbe-Wolffs – durchaus in der Logik ihrer verfehlten Konzentration auf die Abstimmung über die Vertrauensfrage – die Stellung der Vertrauensfrage zu Unrecht mit ihrer Beantwortung vermengt. Deshalb geht sie fälschlicherweise davon aus, dass, wenn man das Fehlen einer materiellen Vertrauenslage als Voraussetzung für die Stellung einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage fordere, performative Äußerungen durch deskriptive korrigiert würden, was ihr nicht „sinnvoll“ erscheint. Demgegenüber ist kritisch zu vermerken, dass die Stellung der Vertrauensfrage – anders als ihre hiervon zu trennende Beantwortung – unter Zugrundelegung der h. M. jedenfalls auch eine wirklichkeitsbeschreibende Wissenserklärung beinhaltet. Ehe die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage gestellt wird, muss der Kanzler nämlich erst prüfen, ob er noch politisch handlungsfähig ist. Die Verfassungsmäßigkeit der Stellung der Vertrauensfrage setzt eine solche vorangegangene Feststellung des Kanzlers voraus. Als wirklichkeitsbeschreibende Wissenserklärung, welche das Bestehen der politischen Handlungsfähigkeit des Kanzlers zum Gegenstand hat, ist diese Wissenserklärung (unter Anerkennung eines Beurteilungsspielraums des Kanzlers) aber sehr wohl einer Beantwortung durch den Kanzler zugänglich. Dessen Beantwortung kann deshalb gerichtlich durchaus darauf überprüft werden, ob sie die Wirklichkeit zutreffend umschreibt. Dabei ist – was Lübbe-Wolff offenbar verkennt – zu beachten, dass es bei der Beurteilung, ob der Kanzler bei der Stellung der Vertrauensfrage tat36 Auch darauf weist bereits Wahl, Rainer, in: Heyde/Wöhrmann (Hrsg.), a.a.O., S. 43 hin; s. dazu ergänzend auch Schenke, Wolf-Rüdiger, in: BK (Drittbearb.), GG, Art. 68, Rdnr. 87.

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sächlich die politische Handlungsfähigkeit verloren hat, selbstverständlich nicht darauf ankommen kann, ob dem Kanzler bei Stellung einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage später tatsächlich von einer Mehrheit des Parlaments das Vertrauen ausgesprochen oder versagt wird. Würde man nämlich auf das Ergebnis der Abstimmung abstellen und aus einer Verneinung des Vertrauens auf den Wegfall des Vertrauens schließen, könnte es eine „unechte“ Vertrauensfrage gar nicht mehr geben. Nicht ausreichend gewürdigt wird bei der Argumentation Lübbe-Wolffs zudem, dass allein schon die Stellung einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage – unabhängig von ihrer verfassungsrechtlichen Beurteilung – das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten maßgeblich beeinflusst. Selbst solche Abgeordnete, bei denen ein uneingeschränktes Vertrauen zu Person und Politik des Kanzlers vorhanden ist, werden diesem jedenfalls in der Regel wunschgemäß kein Vertrauen aussprechen. Sie bekunden nämlich durch eine solche formale Versagung des Vertrauens durch Stimmenthaltung in Wahrheit ihr materielles Vertrauen zum Kanzler und seiner Politik. Es gilt dann in der Tat das, was 2005 der seinerzeitige Fraktionsvorsitzende der SPD, Franz Müntefering, in Verbindung mit der Abstimmung über die Vertrauensfrage Schröders der Sache nach äußerte,37 nämlich dass man dem Kanzler auch dadurch sein Vertrauen bekunden könne, dass man sich bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage der Stimme enthält. Die Stimmenthaltung der Abgeordneten der Regierungsparteien wird damit zu einer Vertrauenskundgebung für den Bundeskanzler und einer Billigung der von ihm angestrebten Auflösung des Bundestages. Ist nach dem vorher Ausgeführten die für die rechtliche Bewertung einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage maßgebliche Beurteilung der politischen Handlungsfähigkeit des Kanzlers als eine wirklichkeitsbeschreibende Wissenserklärung völlig unabhängig von dem Ergebnis der Abstimmung über die Vertrauensfrage und einer hierin zum Ausdruck kommenden (performativen) Willensbekundung des Parlaments zu sehen, so scheidet die von Lübbe-Wolff behauptete und kritisierte Korrektur performativer Äußerungen durch deskriptive aus. Da die Verfassungsmäßigkeit der Stellung der Vertrauensfrage und die ihr zugrundeliegende Einschätzung der politischen Mehrheitsverhältnisse im Parlament strikt von der späteren Entscheidung des Parlaments über die Vertrauensfrage zu trennen ist, führt auch das Argument Lübbe-Wolffs, die Knüpfung der Verfassungsmäßigkeit der Vertrauensabstimmung an die Verfassungsmäßigkeit der Stellung der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage sei mit der Natur des bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage zu beachtenden freien Mandats nicht vereinbar, nicht weiter, denn auf diese Abstimmung kommt es bei der verfassungsrechtlichen Bewertung einer Vertrauensfrage des Bundeskanzlers überhaupt nicht an. Durch die Bindung der Verfassungsmäßigkeit von parlamentarischen Willensbekundungen an die Einhaltung verfassungsrechtlicher Erfordernisse wird die Geltung des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG auch hier nicht in Frage gestellt. Die Abstimmung der Ab37 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 15. Wahlperiode, Stenografischer Bericht Bd. 227, S. 17474 D.

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geordneten über die Vertrauensfrage ist zwar in der Tat (zumindest teilweise auch) eine wirklichkeitsformende Willensbekundung, die nur durch die Abgeordneten vorgenommen werden kann. Das schließt es aber entgegen der Annahme Lübbe-Wolffs38 nicht aus, die Rechtmäßigkeit solcher Willensbekundungen an das Vorliegen bestimmter rechtlicher Voraussetzungen zu knüpfen und bei deren Fehlen die Rechtswidrigkeit, eventuell auch vollständige oder partielle Unwirksamkeit, solcher Willensbekundungen zu statuieren. Um es an dem von Lübbe-Wolff gebrachten Beispiel der „Frage vor dem Traualtar“39 deutlich zu machen: Natürlich kann dieses „Ja“ nur von den Eheschließenden abgegeben werden. Das schließt aber selbstverständlich nicht aus, dass die Rechtsordnung die Rechtmäßigkeit bzw. Wirksamkeit solcher Willensbekundungen vom Vorliegen weiterer Voraussetzungen abhängig macht. Übertragen auf die Abstimmung über die Vertrauensfrage bedeutet dies, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung über die Auflösung zu überprüfen hat, ob der Stellung der Vertrauensfrage des Kanzlers eine zutreffende Einschätzung seiner politischen Handlungsfähigkeit zugrunde liegt, die Voraussetzung sowohl für die Rechtmäßigkeit der Abstimmung über die Vertrauensfrage wie auch für die Rechtmäßigkeit der Bundestagsauflösung ist. Zweifel können nur hinsichtlich der gerichtlichen Überprüfbarkeit des Abstimmungsverhaltens der Bundestagsabgeordneten als solchem bestehen, und zwar insoweit, als diese möglicherweise statt über das Bestehen eines Vertrauens zu Person und Politik des Bundeskanzlers über die Initiierung einer Bundestagsauflösung befunden haben. Solche Zweifel gründen sich aber selbst dann nicht etwa darauf, dass hier eine performative Willensbekundung vorliegt. Sie resultieren vielmehr lediglich daraus, dass die Motivierung des Abstimmungsverhaltens der einzelnen Abgeordneten gerichtlich nicht oder jedenfalls nur schwer zu erforschen ist, auch wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass das Abstimmungsverhalten des Parlaments (auf das es ja bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung ankommt) allein schon deshalb verfassungswidrig ist, weil es in offensichtlichem Widerspruch zu den politischen Mehrheitsverhältnissen im Parlament steht, und die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann,40 dass bei zutreffender Be38 BVerfG – Lübbe-Wolff, BVerfGE 114, 182: „Die Vertrauensfrage ist, wie die Frage vor dem Traualtar, keine Wissensfrage, auf die ebenso gut wie der Gefragte oder besser ein Anderer antworten könnte.“ 39 Zu diesem Beispiel Lübbe-Wolffs in der Sprachtheorie bereits Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte, 1972, S. 39. Hier wird im übrigen durchaus zutreffend und im Einklang mit dem im Text Ausgeführten darauf hingewiesen, dass sich auch in Verbindung mit performativen Willensbekundungen das Problem des Gelingens solcher Willensbekundungen stellt und – wie im folgenden dargelegt wird – dann, wenn nicht bestimmte Gelingensbedingungen eingehalten werden, die Verwirklichung des mit der performativen Willensbekundung angestrebten Ziels ganz oder teilweise misslingen kann. 40 Dass allein eine unzutreffende Beantwortung der Vertrauensfrage durch einzelne Abgeordnete es noch nicht rechtfertigt, die parlamentarische Abstimmung insgesamt (abstrahiert von ihrer sich aus der verfassungswidrigen Stellung der Vertrauensfrage ergebenden Verfassungswidrigkeit) als verfassungswidrig anzusehen, sondern dass es hierfür zusätzlich erforderlich ist, dass dieses Abstimmungsverhalten im konkreten Fall möglicherweise für das Ergebnis der Abstimmung insgesamt (d. h. für das Erreichen der nach Art. 68 GG nötigen Kanzlermehrheit) maßgeblich sein

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antwortung der Vertrauensfrage dem Kanzler das Vertrauen ausgesprochen worden wäre. Ob bei einer derartigen „unechten Abstimmung“ des Bundestages das Gericht auch aus diesem Grund von einer Verfassungswidrigkeit der Bundestagsabstimmung auszugehen hat,41 kann aber letztlich dahingestellt bleiben. Die Verfassungswidrigkeit der Bundestagsauflösung, über die das Bundesverfassungsgericht einzig zu befinden hat, ergibt sich nämlich – wie schon oben betont – bereits allein daraus, dass die Stellung der Vertrauensfrage durch den Bundeskanzler bei einer für seine Regierungsfähigkeit ausreichenden Mehrheit verfassungswidrig ist. Diese Verfassungswidrigkeit kann auch durch das abgegebene Votum der Bundestagsabgeordneten (sofern diese dem Kanzler nicht das Vertrauen aussprechen) nicht geheilt werden. Das folgt schon daraus, dass für die einzelnen Abgeordneten keine Möglichkeit besteht, eine verfassungswidrige Vertrauensfrage des Kanzlers mit der hiermit einhergehenden Gefährdung ihres Bundestagsmandats zu korrigieren42, und dass das Vorhandensein der politischen Handlungsfähigkeit des Kanzlers – wie oben gezeigt – bei einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage nicht anhand des Abstimmungsergebnisses beurteilt werden kann. 4. Abgabe eines verbindlichen, mit Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG nicht zu vereinbarenden Versprechens? Nicht zu überzeugen vermag auch das Argument Lübbe-Wolffs, eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage müsse schon deshalb unbegrenzt zulässig sein, weil die Vertrauensfrage auf einen politischen Selbstbindungseffekt ziele, die Abgeordneten aber im Hinblick auf Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG kein Versprechen abgeben könnten, auch zukünftig den Bundeskanzler und dessen Politik zu unterstützen. Damit fehle es aber bereits aus diesem Grund an einer Möglichkeit, ein Urteil über das Bestehen bzw. Nichtbestehen des Vertrauens bei der Stellung der Vertrauensfrage abzugeben. In diesem Zusammenhang macht sich wiederum die bereits oben (unter V 2) kritisierte mangelnde Differenzierung zwischen der Stellung der Vertrauensfrage und ihrer Beantwortung bemerkbar. Davon ganz abgesehen, wird aber auch der Inhalt der Vertrauensfrage, über den das Parlament gemäß Art. 68 GG abzustimmen hat, von Lübbe-Wolff unzutreffend wiedergegeben. Weder bei einer „echten“ noch bei einer „unechten“ Vertrauensfrage wird den Abgeordneten eine rechtlich oder auch nur politisch bindende Entscheidung darüber abverlangt, ob sie den Kanzler auch zukünftig unterstützen wollen.43 Vielkonnte, betont zu Recht Mager, Ute, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz Bd. II, 5. Aufl. 2001, Art. 68, Rdnr. 15. 41 s. dazu Schenke, Wolf-Rüdiger, in: BK (Drittbearb.), GG, Art. 68, Rdnr. 200. 42 s. hierzu Schenke, Wolf-Rüdiger, in: BK (Drittbearb.), GG, Art. 68, Rdnr. 149. 43 Zutreffend BVerfGE 62, 37 f: „Dass im parlamentarischen System dieses ,Vertrauen mit jeder neuen politischen Entwicklung, einschließlich jeder neuen Beurteilung und Einschätzung der

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mehr erklären die Abgeordneten bei der Bejahung einer Vertrauensfrage nur ihr gegenwärtiges Einverständnis mit Person und Sachprogramm des Bundeskanzlers.44 Das hindert sie nicht, alsbald ihre Auffassung je nach politischer Opportunität zu ändern. Von einer Verletzung des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG bei der Abstimmung über eine Vertrauensfrage (sei sie „echt“ oder „unecht“) kann deshalb wegen des fehlenden Bindungswillens der Abgeordneten keine Rede sein. Vielmehr spricht gerade umgekehrt Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und der in ihm verankerte verfassungsrechtliche Status des einzelnen Abgeordneten dafür, eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage bei politischer Handlungsfähigkeit des Kanzlers auszuschließen, da andernfalls dem Kanzler (faktisch) die Möglichkeit eingeräumt würde, über die Amtszeit der Abgeordneten zu verfügen und diese bei kritischen Äußerungen gegenüber der Regierungspolitik durch die Drohung mit einer Auflösung selbst dann zu disziplinieren,45 wenn ihn die Abgeordneten bei politisch bedeutsamen Abstimmungen im Ergebnis stets unterstützten. 5. Einschränkung der Kompetenz des Kanzlers zur Gestaltung seiner Politik bei Unzulässigkeit einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage Aus dem vorher Gesagten ergibt sich zugleich die Verfehltheit des vierten von Lübbe-Wolff für die unbegrenzte Zulässigkeit einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage ins Feld geführten Arguments. Wenn diese damit begründet wird, eine durch die Vertrauensfrage herbeigeführte Selbstbindung des Parlaments könne nur dann bejaht werden, wenn der Kanzler offenbare und präzisiere, welche Politik zu welchem Zeitpunkt er führen wolle, so krankt diese Argumentation bereits an der Unhaltbarkeit ihrer Prämisse, nämlich der Annahme, der Bundestagsabgeordnete binde sich bei einer Bejahung der Vertrauensfrage in irgendeiner (rechtlichen oder jedenfalls politischen) Weise für die Zukunft (s. dazu oben V 4). Allenfalls unter dieser Voraussetzung wäre nämlich eine entsprechende Offenbarungspflicht erwägbar. Begründet die Bejahung einer Vertrauensfrage (sei sie „echt“ oder „unecht“) aber nie eine Bindung für den Abgeordneten, so besteht selbstverständlich auch keine Offenbarungspflicht des Bundeskanzlers hinsichtlich der von ihm jetzt und zukünftig verfolgten Politik. Davon ganz abgesehen, liegt es aber ohnehin im Interesse des Kanzlers, seine Politik zu offenbaren, um auf diese Weise deren Kontinuität zu sichern und Reaktionen auf seine politischen Vorstellungen zu eruieren und in sein politisches Kalkül einzugegebenen Lage, durch die Abgeordneten in Frage gestellt werden kann, also von Natur aus nicht auf Dauer versichert wird, versteht sich letztlich im Hinblick auf die Gewährleistung des repräsentativen freien Abgeordnetenmandats von selbst.“ Dazu, dass auch eine faktisch-politisch eingegangene Bindung in Bezug auf die Ausübung verfassungsrechtlicher Kompetenzen und Organrechte gegen diese verstoßen kann, s. in parallelem Zusammenhang Schenke, Wolf-Rüdiger, in: BK (Zweitbearb.), GG, 1977, Art. 63, Rdnrn. 29 f. 44 s. hierzu Schenke, Wolf-Rüdiger, in: BK (Drittbearb.), GG, Art. 68, Rdnr. 67. 45 s. Schenke, Wolf-Rüdiger, in: BK (Drittbearb.), GG, Art. 68, Rdnr. 142.

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beziehen. Bezeichnenderweise bestand denn auch bei der Stellung der Vertrauensfrage durch Schröder im Jahre 2005 keinerlei Zweifel über den von ihm verfolgten politischen Kurs, so dass es den Abgeordneten ohne weiteres möglich war, für sich zu beurteilen, ob sie diese Politik weiter unterstützen wollten. In das Wahlmanifest der SPD vom 4. 7. 2005 für die Bundestagswahl 2005 wurden denn in der Tat auch diese politischen Vorstellungen des Kanzlers aufgenommen.46

6. Möglichkeit, die Auflösung des Bundestags über Art. 63 GG herbeizuführen? Die Auffassung Lübbe-Wolffs, eine Einschränkung der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage verbiete sich schon deshalb, weil es dem Bundeskanzler und den ihn tragenden Regierungsfraktionen jederzeit möglich sei, nach einem Rücktritt des Kanzlers auf dem Wege über Art. 63 GG ein Auflösungsrecht des Bundespräsidenten zu begründen, so dass eine einschränkende Auslegung des Art. 68 GG nur zum „Papiertiger“47 tauge, vermag gleichfalls nicht zu überzeugen. Sie geht bereits daran vorbei, dass sich der an einen Rücktritt des Bundeskanzlers gebundene Weg über Art. 63 GG für diesen schon aus rein politischen Gründen verbietet, weil mit ihm ein schwerer Prestigeverlust des Kanzlers verbunden wäre. Dieser Prestigeverlust müsste sich für ihn, falls er bei einer von ihm angestrebten Neuwahl wieder als Spitzen- und Kanzlerkandidat seiner Partei auftreten will – wie bei den 1983 und 2005 herbeigeführten Auflösungen der Fall –, politisch verheerend bemerkbar machen. So verwundert es denn auch nicht, dass Bundeskanzler Kohl 1982 den von ihm zunächst erwogenen Weg des Rücktritts und einer auf diesem Wege herbeigeführten Neuwahl schon bald verwarf und Bundeskanzler Schröder sich 2005 mit Vehemenz gegen die Forderung der Opposition aussprach, zurückzutreten, da ein solcher Rücktritt durch den Wähler als Eingeständnis seines politischen Scheiterns gewertet worden wäre. Selbst wenn aber dieser Weg über Art. 63 GG dennoch eingeschlagen worden wäre, hätte er sich als verfassungsrechtlich nicht gangbar erwiesen, da der Missbrauch des Art. 63 GG hier noch evidenter geworden wäre, als er nach der hier vertretenen Ansicht bei den auflösungsgerichteten Vertrauensfragen 1982 und 2005 bereits vorlag. Hier hätte ein eindeutiger Verstoß gegen das Prinzip der Verfassungsorgantreue48 vorgelegen,49 wenn der Kanzler nach einer Absprache mit den Mitgliedern der Regierungsfraktionen durch diese nicht gewählt worden wäre, sondern sich diese 46

s. hierzu Schenke, Wolf-Rüdiger, in: BK (Drittbearb.), GG, Art. 68, Rdnr. 163 m. w. N. So wörtlich BVerfG – Lübbe-Wolff, BVerfGE 114, 191. 48 s. zu diesem Grundsatz näher Schenke, Wolf-Rüdiger, Die Verfassungsorgantreue, 1977 sowie Lorz, Ralph Alexander, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001. 49 s. hierzu schon Schenke, Wolf-Rüdiger, NJW 1982, S. 2421 (2526 f.); a. A. Klein, Hans H., Die Auflösung des Deutschen Bundestages nach Art. 68 GG. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Februar 1983 (2 BvE I-4/83), ZParl 1983, S. 413; BVerfG – Lübbe-Wolff, BVerfGE 114, 191. 47

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der Stimme enthalten hätten, obschon sie vorhatten, mit demselben Kanzlerkandidaten und demselben politischen Programm nach einer Neuwahl wiederum anzutreten. Ein solches procedere ohne nach außen hin deutlich gemachte Wahlabsprachen in Verbindung mit der „Kanzlerwahl“ gem. Art. 63 GG wäre realistischerweise nicht denkbar gewesen, zumal ohne die öffentliche Bekundung dieser verabredeten Verfahrensweise die politische Beschädigung des bisherigen Kanzlers und zukünftigen Kanzlerkandidaten noch weiter verstärkt worden wäre, als dies bereits durch den Rücktritt geschehen wäre. VI. Resümee Zusammenfassend kann damit festgestellt werden, dass die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 20. 8. 2005 mehrheitlich vertretene Auffassung, bei der zwar verfassungsrechtliche Grenzen für die Stellung einer unechten Vertrauensfrage postuliert werden, deren Kontrollierbarkeit aber durch die Behauptung einer „verdeckten Minderheitssituation“ und eine weitgehende Einschränkung der gerichtlichen Überprüfbarkeit des Vorliegens einer solchen Situation entwertet werden, faktisch zu einer unbegrenzten Vertrauensfrage führt. Verfehlt ist aber auch der im Sondervotum von Lübbe-Wolff unternommene Versuch, eine unbegrenzte Vertrauensfrage verfassungsrechtlich zu legitimieren. Die (faktisch oder rechtlich) unbegrenzte unechte Vertrauensfrage droht sogar regelmäßig in eine unbegrenzte Bundestagsauflösung einzumünden. Der Bundespräsident wird sich einer von der Parlamentsmehrheit und einer von einer „parlamentsmüden bzw. -unwilligen“ Bevölkerungsmehrheit gewollten Bundestagsauflösung nur in den seltensten Fällen zu widersetzen wagen50 und sich – bei seiner ansonsten schwachen verfassungsrechtlichen Stellung – zu einem so hochpolitischen Akt wie der Verweigerung der Bundestagsauflösung durchzuringen vermögen. Dem Appell des Bundeskanzlers an das Volk, wie er sich in dem Antrag auf Bundestagsauflösung artikuliert, kann sich der Bundespräsident nur schwerlich verschließen, zumal wenn die unechte Vertrauensfrage, wie dies 2005 geschah, sogar offen und ungestraft mit der Notwendigkeit einer plebiszitären Legitimation der Regierungspolitik begründet wird. Damit wird aber die aus historischer Erfahrung erwachsene bewusste Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers für eine repräsentative Demokratie durch die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung letztlich in Frage gestellt.

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s. hierzu auch Schenke, Wolf-Rüdiger, in: BK (Drittbearb.), GG, Art. 68, Rdnr. 86.

Der Vorrang der Verfassung Von Christoph Schönberger, Konstanz Der Vorrang der Verfassung gilt deutschen Juristen heute als selbstverständlich. Er ist zu einem jener Grundbegriffe geworden, mit denen sie alltäglich bewusst oder unbewusst umgehen, ohne dass sich damit theoretisch oder dogmatisch noch besondere Überlegungen verbinden. Das Institut scheint keines spezifischen Nachdenkens mehr wert zu sein. Rainer Wahl hat das vor dreißig Jahren, in seinem Aufsatz „Der Vorrang der Verfassung“ aus dem Jahr 19811, noch durchaus anders gesehen. Ihm ist dieser Vorrang in seiner grundlegenden Abhandlung keineswegs selbstverständlich. Dies vor allem deshalb, weil er das unter dem Grundgesetz etablierte Verständnis mit der langen Epoche der deutschen konstitutionellen Monarchie kontrastiert, in der es am Vorrang der Verfassung weitgehend fehlte. Nach seiner These bedurfte es einer Verfassung auf der Grundlage eines einheitlichen demokratischen Legitimationsprinzips wie in den Vereinigten Staaten, damit sich der Verfassungsvorrang entwickeln konnte. Die folgenden Zeilen versuchen, Wahls Argumentation aus dem Abstand von dreißig Jahren neu zu betrachten. Dabei sei der zentrale Einwand gegen Wahls Sichtweise sogleich vorweggenommen. Der Vorrang der Verfassung ist trotz mancherlei theoretischen und praktischen Vorläufern, die es vor allem in den Vereinigten Staaten gegeben hat, im Kern ein Produkt der grundrechtlichen Bindungen des Gesetzgebers im zwanzigsten Jahrhundert. Das gemeineuropäische Verfassungsrecht des „langen“ neunzehnten Jahrhunderts hat ihn bis hinein in die Zwischenkriegszeit nicht gekannt. Das Fehlen des Vorrangs der Verfassung in der langen Epoche der deutschen konstitutionellen Monarchie ist nicht eine deutsche Besonderheit, die sich durch deren dualistische Grundstruktur erklärt. Es ist vielmehr Ausdruck einer gemeineuropäischen Hochschätzung des Gesetzes und der sozialen Kompromissstruktur der Gesetzgebung vor dem Übergang zur Massendemokratie des zwanzigsten Jahrhunderts. In Europa war es erst der generelle Übergang zu parlamentarischen Regierungssystemen auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts, der als Gegengewicht schrittweise die grundrechtlichen Bindungen des Gesetzgebers und damit den materiellen Kern des Verfassungsvorrangs hervorbrachte. Den heutigen Vorrang der Verfassung erklärt daher nicht der Rückblick auf den deutschen Konstitutionalismus und die Vereinigten Staaten von Marbury v. Madison, sondern die Erfahrung des deutschen und europäi1 Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 – 516, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 121 – 160.

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schen zwanzigsten Jahrhunderts. In ganz Europa und besonders in Deutschland ist damit freilich die programmatisch-appellative Dimension der Verfassung weitgehend verloren gegangen, wie sie die westlichen Verfassungsrevolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts hervorgebracht hatten.

I. Was heißt: Vorrang der Verfassung? Die Selbstverständlichkeit, zu der die Vorrangigkeit der Verfassung in der Bundesrepublik geworden ist, hat natürlich mit der jahrzehntelangen Gewöhnung daran unter dem Grundgesetz zu tun. Dieser Eindruck der Selbstverständlichkeit wird überdies durch ältere historische und neuere theoretische Erkenntnisbestände begünstigt. Geschichtlich gehört es zur Vorstellung von Verfassung seit älterer Zeit dazu, dass es in irgendeiner Weise um Grundlegendes und Höchstes geht.2 Und unter den maßgeblichen theoretischen Konzepten der Rechtswissenschaft des 20. Jahrhunderts findet sich die von der Wiener Schule (Adolf Merkl, Hans Kelsen) entwickelte Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung3, von der her die Verfassung rechtstheoretisch als maßstäblich für das auf ihrer Grundlage erzeugte Recht erscheint. Weder das historische noch das rechtstheoretische Element führen zwar für sich genommen zur rechtsdogmatisch verdichteten Figur des Vorrangs der Verfassung4, aber beide erleichtern es doch, die Ausbildung dieses Vorrangs rückblickend als gewissermaßen natürliche Entwicklung wahrzunehmen. In Deutschland kommen zu den allgemeinen historischen und rechtstheoretischen Erkenntnisbeständen zudem noch die spezifisch juristischen Assoziationsräume hinzu, die das öffentliche Recht mit der generellen Terminologie des Vorrangs eröffnet. 1. Dreierlei Vorrang: Vorrang der Verfassung, Vorrang des Gesetzes, Vorrang des Bundesrechts a) Der Vorrang des Gesetzes Der Sprachgebrauch vom „Vorrang“ der Verfassung lehnt sich in Deutschland an eine herkömmliche Terminologie des öffentlichen Rechts an, die sich ursprünglich allein auf das Gesetz bezog. In der von Otto Mayer am Ende des 19. Jahrhunderts ge2 Hasso Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht – Politik – Verfassung. Studien zur Geschichte der politischen Philosophie, 1986, S. 261 – 295 (275 ff.). Zur Begriffsgeschichte eingehend: Heinz Mohnhaupt/Dieter Grimm, Verfassung. Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart, 2. Aufl. 2002. 3 Zusammenfassend etwa Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 229 ff.; ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 228 ff. 4 Hervorgehoben bei Wahl (Fn. 1), S. 121. Bemerkenswerterweise kommt eine aktuelle Analyse dieser Problematik aus österreichisch-rechtstheoretisch inspirierter Sicht ganz ohne den Begriff des Vorrangs der Verfassung aus: Christoph Grabenwarter, Die Verfassung in der Hierarchie der Rechtsordnung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 391 – 416.

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schaffenen prägnanten Terminologie geht es beim Vorrang des Gesetzes um dessen Unverbrüchlichkeit. Das Gesetz kann nur im förmlichen Gesetzgebungsverfahren wieder geändert oder aufgehoben werden und setzt sich gegen alle anderen bereits vorhandenen staatlichen Willensäußerungen durch, die ihm inhaltlich widersprechen.5 Das Institut des Vorrangs des Gesetzes reagierte auf ein allgemeines Problem von Gesetzgebung. Der Gesetzgeber trifft regelmäßig auf bereits bestehendes Recht, das häufig aus einer als niederrangig angesehenen Rechtsquelle stammt. Der Vorrang entscheidet etwaige inhaltliche Kollisionsfälle zugunsten der Anwendbarkeit des Gesetzes; die Vorrangregel wird überdies innerhalb des Gesetzesrechts durch weitere Kollisionsregeln ergänzt („lex specialis derogat legi generali“, „lex posterior derogat legi priori“). Der Vorrang des Gesetzes antwortet also auf ein spezifisches Kollisionsproblem. Wenn man in Anlehnung an diese Terminologie vom Vorrang der Verfassung spricht, dann legt man nahe, dass die Verfassung es mit einem vergleichbaren Kollisionsproblem im Verhältnis zum Gesetz zu tun hat, das durch eine analoge Vorrangregel aufzulösen wäre. Rechtstechnisch meint man mit dem Vorrang der Verfassung dann, dass das Verfassungsgesetz vom allgemeinen Grundsatz ausgenommen ist, dass das spätere Gesetz im Kollisionsfall dem früheren vorgeht. Das ältere, aber ranghöhere Verfassungsgesetz geht dem jüngeren, aber rangniedrigeren einfachen Gesetz bei einem Normwiderspruch vor.6 Die Redeweise vom Vorrang der Verfassung konzentriert also die Frage nach der rechtlichen Bedeutung der Verfassung auf deren Durchsetzung gegenüber dem Gesetz, auf Normenkonflikt und Normenkontrolle im Verhältnis von Gesetz und Verfassung. b) Der Vorrang des Bundesrechts Der zweite Traditionsstrang der Vorrangsemantik in der deutschen Tradition ist das föderale Problem des Verhältnisses von Bundesrecht und Landesrecht. Seit der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 enthalten die deutschen Bundesverfassungen eine Klausel, die den Vorrang des Bundesrechts gegenüber dem Landesrecht gewährleistet.7 In Entsprechung dazu kennt auch die Verfassung der Vereinigten Staaten eine besondere Klausel („Supremacy Clause“), die den Vorrang der Bundesverfassung und der Bundesgesetze gegenüber dem Recht der nordamerikanischen Einzelstaaten vorsieht.8 Anders als beim allgemeinen Vorrang des Gesetzes geht es hier nicht um ein Vorrangproblem in einem einheitlich-hierarchisch verstandenen 5

Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 1895, S. 72. Hofmann (Fn. 2), S. 263 f. 7 Zur Entwicklungsgeschichte Wolfgang März, Bundesrecht bricht Landesrecht, 1989, S. 50 ff. 8 U.S. Const., Art. VI Clause 2: „This Constitution, and the Laws of the United States which shall be made in Pursuance thereof; and all Treaties made, or which shall be made, under the Authority of the United States, shall be the supreme Law of the Land; and the Judges in every State shall be bound thereby, any Thing in the Constitution or Laws of any State to the Contrary notwithstanding.” 6

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Rechtsraum, sondern um eine Koordinationsregel zwischen den im Grundsatz eigenständigen rechtlichen Räumen von Bund und Ländern. Im vorliegenden Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die einheitliche Verwendung der Vorrangsemantik für den Vorrang des Gesetzes, den Vorrang des Bundesrechts und den Vorrang der Verfassung letztlich die für den Vorrang des Gesetzes entwickelten Vorstellungen umstandslos auf Bereiche überträgt, in denen verwandte, aber doch eigengeartete und eigenständige Rechtsprobleme zu lösen sind. Andere Rechtssprachen tragen dieser Unterschiedlichkeit eher Rechnung. So unterscheidet etwa die kanadische Terminologie sehr klar zwischen Vorrang des Bundesrechts und Vorrang der Verfassung. Im einen Fall ist von federal paramountcy, im anderen von constitutional supremacy die Rede.9 c) Gegenläufigkeiten zwischen den verschiedenen Vorrangprinzipien Die semantische Vermengung der drei verschiedenen Vorrangprobleme ist gerade auch deshalb problematisch, weil die unterschiedlichen Vorrangfragen in den jeweiligen Verfassungssystemen miteinander zusammenhängen und häufig sogar gegenläufig sind: So hat sich in Frankreich nach der Revolution von 1789 ein Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gesetzgeber auch deshalb nicht herausgebildet, weil den Revolutionären daran gelegen war, das neuartig-einheitliche parlamentarische Gesetz überhaupt erst gegenüber feudalen und lokalen Gewalten durchzusetzen.10 Dass man im revolutionären Frankreich den Vorrang der Verfassung nicht entwickelte – obwohl der Abb Sieys den Unterschied zwischen pouvoir constituant und pouvoirs constitus dort früh und konsequent herausgearbeitet hatte11 –, hing auch und gerade damit zusammen, dass man überhaupt erst den Vorrang des Gesetzes etablieren und durchsetzen wollte. Ein verwandter Antagonismus lässt sich auch für die föderale Vorrangproblematik beobachten. In den Bundesstaaten haben sich Vorrang des Bundesrechts und Vorrang der (Bundes-)Verfassung häufig gegenläufig entwickelt. Gerade um den Vorrang der Bundesgesetze gegenüber den Gliedstaaten durchzusetzen, verzichtete man darauf, diese Bundesgesetze starken inhaltlichen Bindungen durch die Bundesverfassung zu unterwerfen und damit deren Geltungskraft zu schwächen. Das galt be9 Dazu Francois Venter, Constitutional Comparison. Japan, Germany, Canada and South Africa as Constitutional States, 2000, S. 59. 10 Instruktiv zu diesen Konkurrenzproblemen des revolutionären Gesetzgebers gerade mit den lokalen Gewalten Pierre Brunet, Vouloir pour la nation. Le concept de reprsentation dans la thorie de ltat, 2004, S. 151 ff., 189 ff. 11 Emmanuel Joseph Sieys, Quest-ce que le Tiers tat ? (1789), 1988, Kapitel V, S. 121 ff.; dazu immer noch Egon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant. Ein Beitrag zum Staatsrecht der französischen Revolution, 1909, S. 91 ff. Zu Sieys gescheiterten Plänen für eine „jury constitutionnaire“, mit denen dieser 1795 auf die Erfahrungen der ersten Revolutionsjahre reagierte, siehe Gerhard Robbers, Emmanuel Joseph Sieys – Die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit in der französischen Revolution, in: FS Wolfgang Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 247 – 264; Jean-Denis Bredin, Sieys. La cl de la Rvolution franÅaise, 1988, S. 512 ff.

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sonders für die kontinentaleuropäischen Bundesstaaten wie Deutschland und die Schweiz, in denen das Bundesrecht regelmäßig von den gliedstaatlichen Verwaltungen und Gerichten ausgeführt wurde und deshalb besonders auf deren Akzeptanz angewiesen war.12 Auch der Verzicht auf einen Grundrechtskatalog in der Verfassung des Deutschen Kaiserreichs hatte insbesondere föderale Gründe.13 In der Schweiz unterliegen die Bundesgesetze bis heute keiner Kontrolle am Maßstab der Bundesverfassung, wohl aber die kantonalen Gesetze (Art. 190 BV, zuvor Art. 113 Abs. 3 BV 1874). Die Durchsetzung einer gewissen Rechtseinheit durch den Bundesgesetzgeber gegenüber den häufig widerstrebenden Kantonen wurde im 19. Jahrhundert als drängendes Problem empfunden, nicht hingegen die verfassungsrechtliche Zähmung eben dieser Bundesgesetzgebung.14 Selbst in den Vereinigten Staaten betraf die richterliche Normenkontrolle des Supreme Court im 19. Jahrhundert fast nur die Gesetzgebung der Einzelstaaten und nicht die des Bundes, und bis heute liegt der Schwerpunkt dieser Kontrolle beim Recht der Gliedstaaten.15 Eine stärkere inhaltliche Verfassungskontrolle der Bundesgesetze hat sich auch in den USA erst nach der Konsolidierung des dortigen Bundesstaates im Gefolge des Bürgerkrieges herausgebildet.16 12 Vergleichende Analyse: Christoph Schönberger, Normenkontrollen im EG-Föderalismus. Die Logik gegenläufiger Hierarchisierungen im Gemeinschaftsrecht, EuR 2003, S. 600 – 627 (601 f., 617 ff.). 13 Ernst Rudolf Huber, Grundrechte im Bismarckschen Reichssystem (1973), in: ders., Bewahrung und Wandlung. Studien zur deutschen Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 1975, S. 132 – 151 (133 f., 143 f.); Konrad Remmele, Bürgerliche Freiheit ohne verfassungsrechtliche Freiheitsverbürgungen? Zur Diskussion um das Fehlen der Grundrechte in der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871, in: Gerhard Dilcher u. a. (Hrsg.), Grundrechte im 19. Jahrhundert, 1982, S. 189 – 213 (193 ff.). 14 Zu den – neben allgemeinen demokratischen Erwägungen – spezifisch föderativen Ursprüngen dieser Regelung, näher Stefan Oeter, Die Beschränkung der Normenkontrolle in der schweizerischen Verfassungsgerichtsbarkeit, ZaöRV 50 (1990), S. 545 – 598 (555, 560 f.). Zur gegenwärtigen Diskussion über die Schweizer Verfassungsgerichtsbarkeit siehe die Referate von Maya Hertig und Hansjörg Seiler auf dem Schweizerischen Juristentag 2010, abgedruckt in: ZSR 129 (2010), Halbbd. II, Heft 2, S. 221 – 546. 15 Das hebt Ulrich Scheuner, Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Christian Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. 1, 1976, S. 1 – 62 (19), mit Recht hervor; eingehend Jack N. Rakove, The Origins of Judicial Review: A Plea for New Contexts, Stanford Law Review 49 (1997), S. 1031 – 1064 (1041 ff.). 16 Der Trennföderalismus der USA, in dem die Bundesgesetze anders als in Kontinentaleuropa regelmäßig durch Bundesbehörden vollzogen werden und nicht auf die Ausführung durch die Einzelstaaten angewiesen sind, dürfte es dem Supreme Court im Übrigen erleichtert haben, den Vorrang der Verfassung gegenüber den Bundesgesetzen im Grundsatz schon früh herauszuarbeiten; aufschlussreich dazu insgesamt die vergleichende Analyse zur Entwicklung der Normenkontrolle der Bundesgesetze in den USA und der Schweiz bei William E. Rappard, Le contrle de la constitutionnalit des lois fdrales par le juge aux tats-Unis et en Suisse, ZSR N.F. 53 (1934), S. 36a-146a (107a ff., 139a f.). Die auffällige Zurückhaltung des Supreme Court bei der Normenkontrolle der Bundesgesetze durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch (dazu auch Fn. 22) dürfte trotz des Trennföderalismus durchaus der Sorge um die Geltungskraft des Bundesrechts gegenüber den Einzelstaaten geschuldet gewesen sein. Oliver Wendell Holmes hat bezeichnenderweise nur die bundesgerichtliche Kontrolle der einzelstaatlichen Gesetze für unabdingbar gehalten, nicht aber diejenige der Bundesgesetze: „I do not think the

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Versteht man die drei Fragen des Gesetzesvorrangs, des Vorrangs des Bundesrechts und des Verfassungsvorrangs als Ausdruck einer scheinbar generellen Problematik des „Vorrangs“, dann schneidet man sich den Blick für derartige Zusammenhänge und Interferenzen ab. Die heutige Vermischung sehr unterschiedlicher Arten von Problemen durch die deutsche Generalsemantik des Vorrangs dürfte allerdings gerade im Hinblick auf den Vorrang der Verfassung kein Zufall sein. Sie suggeriert für das Verfassungsrecht die juristische Universalität der Lösung eines Kollisionsproblems mit dem Gesetzesrecht, obwohl dieses Kollisionsproblem keineswegs universell ist. 2. Die modernen Verfassungen seit 1787/1791: Geltung ohne Vorrang; die Ausnahme der Vereinigten Staaten Für das Verfassungsrecht hat sich die Situation nach dem Entstehen moderner Verfassungen in den Verfassungsrevolutionen der Vereinigten Staaten und Frankreichs am Ende des 18. Jahrhunderts überwiegend und für lange Zeit anders dargestellt. Im Verfassungsrecht ging es anders als bei der Gesetzgebung typischerweise nicht um Rechtsnormen, die auf unmittelbare Anwendung durch Behörden und Gerichte angelegt waren. Gegenstand des Verfassungsrechts war vor allem die Staatsorganisation, und Adressat der Verfassungsnormen waren daher in erster Linie die staatlichen Institutionen selbst. Selbstverständlich erheischten die modernen Verfassungen Beachtung und verstanden sich nicht als folgenlose politische Proklamationen, selbst wenn es an einer gerichtlichen Sanktionsmöglichkeit fehlte.17 Sie konnten gelegentlich durchaus auch für gerichtliche Entscheidungen relevant sein. Aber sie warfen typischerweise keine schlichten Unvereinbarkeiten mit der bestehenden Rechtsordnung auf, die durch eine einfache Vorrangregel für den Kollisionsfall hätten gelöst werden können. Das lag vor allem daran, dass die von der Verfassung organisierte Gesetzgebung kaum inhaltlichen verfassungsrechtlichen Bindungen unterlag. Auch verfassungsrechtliche Grundrechtskataloge nach dem Vorbild der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 oder der ersten zehn Zusatzartikel zur US-amerikanischen Verfassung wurden in Kontinentaleuropa während des „langen“ 19. Jahrhunderts keineswegs so verstanden, dass mögliche Widersprüche zur vorhandenen Gesetzgebung aufgrund einer allgemeinen Vorrangregel zur Nichtigkeit oder Unanwendbarkeit des entsprechenden Gesetzes führen mussten oder diese gar vor den Gerichten geltend gemacht werden konnten.18 Waren aber klare United States would come to an end if we lost our power to declare an Act of Congress void. I do think the Union would be imperiled if we could not make that declaration as to the laws of the several States“: Oliver Wendell Holmes, Collected Papers, 1920, S. 295 f. 17 Paavo Kastari, Über die Normativität und den hierarchischen Vorrang der Verfassungen, in: FS Gerhard Leibholz, Bd. 2, 1966, S. 49 – 68 (52). 18 Das wird für die Bedeutung der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus mit Recht betont: Rainer Wahl, Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, Der Staat 18 (1979), S. 321 – 348, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: Wahl, Verfassungsstaat (Fn. 1), S. 341 – 373 (349); Christian Hermann Schmidt, Vorrang der Verfassung und konstitutionelle Monarchie, 2000, S. 64 ff. Es gilt aber für

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Kollisionsfälle zwischen Verfassung und Gesetzgebung aufgrund der in der Verfassung geregelten Inhalte nach dem zeitgenössischen Verständnis kaum vorstellbar und war in diesen seltenen Fällen überdies die Justiziabilität ausgeschlossen oder doch ungeklärt, dann konnte sich auch der Bedarf für eine Kollisionsregel und damit für das Rechtsinstitut des Vorrangs nicht herausbilden. Im Kontrast dazu entwickelte sich allerdings in gewissem Umfang das Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten. Hier kam der Supreme Court unter dem Vorsitz von John Marshall in seinem berühmten Urteil Marbury v. Madison schon 1803 zu einem Verständnis der Verfassung als „paramount law“, das es den Gerichten erlaubte, Gesetze wegen Verfassungsverstößen unangewendet zu lassen.19 Dabei spielten spezifische Rechtstraditionen der nordamerikanischen Kolonien eine große Rolle.20 Anders als die Gesetze des englischen Parlaments, die als Ausdruck der souveränen Gewalt des King in Parliament betrachtet wurden, waren die Gesetze der einzelnen Kolonien von vornherein Gesetze unter höherem Recht gewesen. Sie standen unter lokalen Verfassungen oder Charters und unterlagen der Kontrolle des Privy Council in London wie der Gesetzgebungsgewalt des britischen Parlaments.21 Die nordamerikanischen Kolonisten waren es gewohnt, Gesetzgebung nicht als souveräne Gewalt anzusehen, und es war eine ihrer historischen Leistungen, dass sie dieses Verständnis einer Gesetzgebung unter dem Recht auch nach der Loslösung von London beibehielten und weiterentwickelten. Aus europäischer Perspektive betrachtet, war das aber zunächst ein nordamerikanischer Sonderweg und nicht etwa Ausdruck einer allgemeinen Entwicklungslogik des Verfassungsstaats. Die grundsätzlich beanspruchte Kompetenz zur Vorrangkontrolle hat der Oberste Gerichtshof überdies im Verlauf des 19. Jahrhunderts gegenüber Bundesgesetzen22 kaum in Anspruch genommen.23 So dauerte es nach Marbury v. Madison mehr als fünfzig Jahre, bis der Gerichtshof erneut die Nichtigkeit eines Bundesgesetzes feststellte. Dies geschah in

die Bedeutung von Rechtekatalogen im Verfassungsrecht des 19. Jahrhunderts generell, wofür paradigmatisch das französische Beispiel steht: Walter Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 22 ff. 19 Marbury v. Madison, 5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803). 20 Gerald Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit: Zum Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert (1974), in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie, 1989, S. 37 – 74. 21 Gerald Stourzh, Grundrechte zwischen Common Law und Verfassung. Zur Entwicklung in England und den nordamerikanischen Kolonien im 17. Jahrhundert (1981), in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie, 1989, S. 75 – 89. 22 Anderes galt in der Tendenz für Gesetze der Einzelstaaten; vgl. etwa Fletcher v. Peck, 10 U.S. (6 Cranch) 87 (1810); Martin v. Hunters Lessee, 14 U.S. (1 Wheat.) 304 (1816). Hier stand aber weniger der Vorrang der Verfassung allgemein im Vordergrund als vielmehr die Durchsetzung des Bundesrechts gegenüber den Gliedstaaten und damit die Konsolidierung des jungen Bundesstaates. Siehe dazu auch oben Fn. 15/16. 23 Charles Growe Haines, The American Doctrine of Judicial Supremacy, 2. Aufl. 1932, S. 400 ff.; Rappard (Fn. 16), S. 94a ff.

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der berüchtigten Dred-Scott-Entscheidung aus dem Jahr 1857.24 Im Dred-Scott-Urteil erklärte der Supreme Court ein Bundesgesetz für verfassungswidrig, das den Grundkonflikt zwischen Süd- und Nordstaaten in der Sklavenfrage mühsam dadurch schlichtete, dass es die Sklaverei in bestimmten Territorien der USA untersagte. Das Urteil war eine wichtige Etappe auf dem Weg in den Sezessionskrieg und diskreditierte den Gerichtshof nachhaltig. Die Normenkontrolle gewann erst einige Jahrzehnte nach dem Bürgerkrieg am Beginn des 20. Jahrhunderts eine neuartige Bedeutung25, als der Supreme Court erstmals zu einer ausgreifenden Grundrechtsrechtsprechung überging und in größerem Umfang Kollisionen zwischen gesetzlichen Festlegungen und grundrechtlichen Anforderungen ausmachte. II. Fehlender Vorrang der Verfassung als Sonderweg des deutschen Konstitutionalismus? 1. Laband v. Marshall: Wahls historisch-vergleichende Deutung der Vorrangproblematik In Wahls Deutung ist der fehlende Vorrang der Verfassung in der deutschen Verfassungsgeschichte vor dem Grundgesetz Ausdruck der Sondersituation des Dualismus von Monarch und Volksvertretung in der deutschen konstitutionellen Monarchie. Er kontrastiert diesen fehlenden Vorrang mit der Demokratie der Vereinigten Staaten, wo bereits „im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sozusagen ein perfektes Modell einer vorrangigen und maßstäblichen Verfassung ausgebildet“ worden sei.26 In dieser Gegenüberstellung steckt eine starke wertende Deutung. Für Wahl bedarf der Vorrang der Verfassung einer einheitlichen demokratischen Legitimationsgrundlage. Er ist nur im demokratischen Monismus der Gewalten vorstellbar, war hingegen im dualistischen Gefüge der konstitutionellen Monarchie historisch „unmöglich“.27 Nun ist sicherlich zutreffend, dass sich ein Vorrang der Verfassung unter den Bedingungen des deutschen Konstitutionalismus28 nicht herausgebildet hat, zumal nicht in dessen letzter Ausprägung im Deutschen Kaiserreich. Nach Labands repräsentativer Auskunft 24 Dred Scott v. Sandford, 60 U.S. (19 How.) 393 (1857). Auf den Ausnahmecharakter dieser Entscheidung weist Stourzh (Fn. 20), S. 69, mit Recht hin. 25 Zusammenfassend zur Entwicklung Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 1960, S. 186 ff. 26 Wahl (Fn. 1), S. 125 ff. „Das US-amerikanische Modell im Vergleich mit Deutschland vor 1933“. 27 Wahl (Fn. 1), S. 137 f., 134; Rainer Wahl/Frank Rottmann, Die Bedeutung der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik – im Vergleich zum 19. Jahrhundert und zu Weimar, in: Werner Conze/M. Rainer Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, 1983, S. 339 – 386 (350 ff.); vgl. auch bereits Rainer Wahl, Besprechung zu: Wolfgang von Rimscha, Die Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, 1973, Der Staat 14 (1975), S. 597 – 600 (599 f.). 28 Zur Vorrangproblematik im deutschen 19. Jahrhundert vor der Reichsgründung Schmidt (Fn. 18).

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war die Verfassung „keine mystische Gewalt, welche über dem Staate schwebt, sondern gleich jedem anderen Gesetz ein Willensakt des Staates und mithin nach dem Willen des Staates veränderlich“29. Es ist daher auch naheliegend, dass sich das Problem des Vorrangs der Verfassung für den Betrachter der deutschen Verfassungsgeschichte vor allem als entwicklungsgeschichtlicher Bildungsroman darstellt. Der hindernisreiche Weg von der konstitutionellen Monarchie des Bismarckreichs zur parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes ist zugleich die Entwicklung von der Verfassung ohne Vorrang zum Vorrang der Verfassung.30 Die Konzentration auf die spezifisch deutsche Entwicklung und deren Kontrastierung mit der Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten suggeriert freilich, es handele sich bei der Frage des Vorrangs der Verfassung letztlich um einen Ausschnitt aus der Gesamtproblematik des eine Zeit lang viel diskutierten deutschen Sonderwegs. Paul Labands Degradierung der Verfassung zum Gesetz unter anderen Gesetzen ist in dieser Perspektive Ausdruck der Sondersituation der deutschen konstitutionellen Monarchie, John Marshalls Erhebung der Verfassung zum „paramount law“ hingegen demokratisch konsequent. Der demokratische Gewaltenmonismus führt zum Vorrang der Verfassung, der konstitutionelle Dualismus mit seiner prekären Zusammenordnung von monarchischer und demokratischer Legitimität schließt diesen hingegen aus. Bonn und Karlsruhe, so könnte man Wahls Deutung von 1981 zuspitzen, liegen näher bei Washington als bei Berlin und Weimar. Diese historisch-komparative Einordung ist ebenso suggestiv wie problematisch. Sie wirft mehrere Fragen auf, die miteinander verknüpft sind. Zunächst fragt es sich, ob Wahls Deutung überzeugt, der Vorrang der Verfassung sei im deutschen Konstitutionalismus „unmöglich“ gewesen. Weiterhin ist zu überlegen, ob die Konzentration des Vergleichs auf die USA nicht den Blick darauf verstellt, dass es einen Vorrang der Verfassung im gemeineuropäischen Verfassungsrecht unter Einschluss Großbritanniens während des „langen“ 19. Jahrhunderts nicht gegeben und er auch in den USA seine eigentliche Bedeutung erst im 20. Jahrhundert gewonnen hat. 2. Die Fragwürdigkeit der Böckenförde-These von der konstitutionellen Monarchie als Übergangsform Wahls Überzeugung von der „Unmöglichkeit“ des Vorrangs der Verfassung im deutschen Konstitutionalismus beruht im Kern auf der von Carl Schmitt stammenden und von Ernst-Wolfgang Böckenförde in seiner Kontroverse mit Ernst Rudolf Huber ausgebauten These, die deutsche konstitutionelle Monarchie sei ein dualistisches Nebeneinander von ihrem Bauprinzip nach unvereinbaren Institutionen gewesen, eine unsichere Übergangsform von der Monarchensouveränität zur Volkssouveränität.31 29

Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 2, 5. Aufl. 1911, S. 39. Besonders eindringlich Wahl/Rottmann (Fn. 27). 31 Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, 1934; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Verfassungstyp der 30

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Wahl selbst hat gegenüber dieser These zwar gelegentlich in anderem Zusammenhang gewisse Bedenken angemeldet32 ; hinsichtlich der Einstufung des Vorrangproblems stellt er sich aber letztlich ganz in diese Wahrnehmungstradition. Die Probleme dieser Interpretation des deutschen Konstitutionalismus sind freilich groß.33 Eine staatsrechtliche Bauform, die in Deutschland immerhin in wechselnden Formen gut hundert Jahre bestanden hat, erscheint hier lediglich als fauler Kompromiss, der den eigentlich zur Entscheidung anstehenden Konflikt von Monarchensouveränität und Volkssouveränität überdeckt. Es wird dadurch suggeriert, im Grunde sei das Endstadium der Entwicklung mit dem Übergang vom monarchischen Absolutismus zur konstitutionellen Monarchie bereits klar gewesen, nämlich die parlamentarische Demokratie auf der Grundlage der Volkssouveränität. Zwischen Monarch und Parlament, Monarchensouveränität und Volkssouveränität gab es im Grunde nur ein Entweder-Oder, aber keinen tragfähigen Ausgleich oder Kompromiss, und das schloss eben auch die Anerkennung einer verbindlich-vorrangigen Verfassung aus. Dahinter steht ein außerordentlich statisches Verständnis von Verfassung. Eine Verfassung ist nach dieser Vorstellung stabil, wenn sie einem einheitlichen geistigen Bauprinzip folgt, zum Beispiel der Volkssouveränität. Historisch betrachtet sind aber alle Verfassungen immer im Übergang, ohne dass in der jeweiligen Gegenwart schon klar wäre, wohin sie sich entwickeln. Unter dem scheinbar festen Bauprinzip der Volkssouveränität hat sich auch die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 vielfältig verändert, wenn man nur einmal an die Wiedervereinigung und die wachsende europäische und internationale Einbindung denkt. Auch für die Verfassung gilt Heraklits Wort, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann. Böckenfördes von Wahl unterstützte Interpretation hat sicherlich den Vorzug, ein Grundelement der deutschen Verfassungen im konstitutionellen Zeitalter besonders deutlich hervorzuheben: den Dualismus von Monarch und Volksvertretung34. In einer deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert (1967), in: ders. (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 – 1914), 2. Aufl. 1981, S. 146 – 170, in Auseinandersetzung mit Ernst Rudolf Huber. 32 Rainer Wahl, Der preußische Verfassungskonflikt und das konstitutionelle System des Kaiserreichs, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 – 1914), 2. Aufl. 1981, S. 208 – 231 (220 ff. mit Fn. 66 auf S. 230): Abgesehen von der polemischen Negierung der Monarchensouveränität sei der Begriff der Volkssouveränität zu abstrakt, um die relevanten Unterschiede in der möglichen Entwicklung nicht monarchisch legitimierter Regierungssysteme erfassen zu können. 33 Siehe zur Kritik dieser im Kern auf Carl Schmitts Verständnis der Verfassung als Entscheidung beruhenden Interpretation der konstitutionellen Monarchie: Hasso Hofmann, Das Problem der cäsaristischen Legitimität im Bismarckreich (1977), in: ders., Recht – Politik – Verfassung (Fn. 2), S. 181 – 205; Dian Schefold, Verfassung als Kompromiss? Deutung und Bedeutung des preußischen Verfassungskonflikts, ZNR 1981, S. 146 – 157; Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat, 1997, S. 3 ff.; Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, 1999, S. 57 ff. 34 Besonders hervorgehoben auch bei Rainer Wahl, Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 2, Rdnr. 57 f.

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langfristigen Betrachtungsweise wird man sicherlich auch sagen können, dass mit dem Abschmelzen der die Monarchie herkömmlich tragenden sozialen Kräfte auch deren traditionalistische Legitimität zunehmend schwand. Aber damit ist über das jeweilige konkrete Institutionengefüge kaum etwas ausgesagt. Das gilt erst recht für die sehr besondere Form, die der deutsche Konstitutionalismus in seinen letzten Jahrzehnten angenommen hat, nämlich das Deutsche Kaiserreich.35 Nationalstaatsbildung, der neue Bundesstaat mit verdeckter preußischer Hegemonie, das traditionslos-offene Kaisertum, der Reichstag des allgemeinen Wahlrechts, all das sind eigenständige Elemente, die kaum in den Blick geraten, wenn man darin nur den überkommenen Dualismus von Monarch und Parlament wahrnimmt, wie er für die konstitutionelle Monarchie der deutschen Einzelstaaten und besonders Preußens prägend gewesen war. Das vielschichtige, von ambivalenten Modernisierungsprozessen geprägte Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg steht in Böckenfördes wie Wahls Deutung im Kern noch genauso da wie das Preußen des Verfassungskonflikts. Dabei bleibt kein Blick dafür, dass gerade die vielfältigen Demokratisierungsprozesse seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts für den Reichstag keineswegs nur günstig waren. Die wachsende Partizipation breiter Bevölkerungsschichten unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts brachte ein System sozial und konfessionell äußerst heterogener Parteien hervor (Zentrum, Sozialdemokratie), das der Herausbildung regierungsfähiger Parlamentsmehrheiten und dem Griff nach der Regierungsmacht eher entgegenwirkte. Die noch gar nicht erfolgte Parlamentarisierung wurde von der Demokratisierung überholt.36 Das dabei entstehende institutionelle Gefüge, in dem eine von der nationalen Legitimität des Kaisertums zehrende bürokratische Reichsleitung sich immer stärker mit den Bundesstaaten, Parteien und Verbänden koordinierte und mühsame Konsense aushandelte, war sicherlich labil. Aber der Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem auf der Grundlage der Volkssouveränität war hierbei eine eher unwahrscheinliche Entwicklungsmöglichkeit, und als dieser Übergang aufgrund der Kriegsniederlage zustande kam, führte er in Weimar in ein seinerseits äußerst labiles Verfassungssystem hinein, dessen Leittendenzen und Grundprobleme vielfältige Kontinuitäten zur wilhelminischen Epoche aufwiesen. Im deutschen Kaiserreich entstand vielmehr seit der Jahrhundertwende allmählich der verfassungspolitische Möglichkeitsraum der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit all seinen gerade auch plebiszitären und autoritären Entwicklungspotentialen37. 35 Wie sehr der Konstitutionalismus des Deutschen Kaiserreichs gegenüber den älteren konstitutionellen Monarchien in den deutschen Einzelstaaten eigenständig war, hat besonders Hans Boldt herausgearbeitet: Hans Boldt, Deutscher Konstitutionalismus und Bismarckreich, in: Michael Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland, 1970, S. 119 – 142. 36 Christoph Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung. Einflussgewinn und fehlende Herrschaftsfähigkeit des Reichstags im sich demokratisierenden Kaiserreich, HZ 272 (2001), 623 – 666. 37 Gesamteuropäisches Krisenpanorama: Christoph Gusy (Hrsg.), Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, 2008.

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Durch die scheinbare Begriffsalternative Monarchensouveränität versus Volkssouveränität wird diese Situation überhaupt nicht erfasst. Es ist eher eine Rückprojektion von den vergleichsweise stabilen parlamentarischen Demokratien der westeuropäischen Nachkriegszeit nach 1945 her38, wenn die parlamentarische Demokratie auf der Grundlage der Volkssouveränität als unausweichliches Ziel des deutschen Konstitutionalismus beschrieben wird. Gegen diese Entweder-Oder-Logik spricht ohnehin auch die offenkundige Tatsache, dass viele rechtliche Strukturelemente aus der Epoche des Konstitutionalismus – wie problematisch auch immer – noch das Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz geprägt haben und weiterhin prägen39, dass es also auch unter den Bedingungen heutiger „Volkssouveränität“ nicht geringe Kontinuitäten zur langen konstitutionellen Epoche gibt. 3. Die Problematik von Wahls These der „Unmöglichkeit“ des Vorrangs der Verfassung im deutschen Konstitutionalismus Ist die Böckenförde-These für das Verständnis der deutschen konstitutionellen Monarchie allgemein fragwürdig, so begegnet auch Wahls These der „Unmöglichkeit“ des Vorrangs der Verfassung im deutschen Konstitutionalismus entsprechenden Bedenken. Wahl gesteht zwar zu, die dualistische Struktur der konstitutionellen Verfassungen habe im Grunde ein Verständnis der Verfassung als überwölbendes Drittes geradezu nahegelegt. Aufgrund des Fehlens einer einheitlichen, Monarch und Volksvertretung gleichermaßen umgreifenden Legitimationsgrundlage hätten die Verfassungen entsprechende inhaltliche Streitbeilegungsmaßstäbe aber nicht entwickeln können.40 Das entspricht der von Richard Thoma in der Weimarer Zeit geäußerten Auffassung, erst in der Verfassung der Demokratie sei im Gegensatz zur konstitutionellen Monarchie „der Machtkampf zwischen den selbständigen Trägern politischer Gewalten verfassungsrechtlich geschlichtet und an Stelle des konstitutionellen Dualismus ein Monismus der Gewalten getreten“41. Anders hatte das hingegen ebenfalls im Weimarer Rückblick auf die konstitutionelle Epoche Hans Kelsen gesehen. Gerade die konstitutionelle Monarchie wäre aus seiner Sicht der natürliche Boden für eine Kontrolle der Gesetze am Maßstab übergeordneten Verfassungsrechts gewesen. Dass 38

Dazu Schönberger (Fn. 36), S. 663 f., 665. Thomas Ellwein, Das Erbe der Monarchie in der deutschen Staatskrise, 1954, S. 313 ff. („Das Erbe der Monarchie in der deutschen Demokratie“); Roman Herzog, Relikte des konstitutionellen Verfassungswesens im Grundgesetz, in: FS Rudolf Morsey, 1992, S. 85 – 96; Christoph Schönberger, „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz. Altes Recht und neue Verfassung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland (1949 – 1969), 2006, S. 53 – 84 (76 – 83); ders., Gibt es im Grundgesetz ein Erbe der Monarchie?, in: Thomas Biskup/Martin Kohlrausch (Hrsg.), Das Erbe der Monarchie. Nachwirkungen einer deutschen Institution seit 1918, 2008, S. 284 – 309. 40 Wahl/Rottmann (Fn. 27), S. 350 ff. 41 Richard Thoma, Diskussionsbemerkung zu „Wesen und Entstehung der Staatsgerichtsbarkeit“, VVDStRL 5 (1929), S. 104 – 110 (105). 39

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sich eine derartige Normenkontrolle nicht herausgebildet hatte, lag nach Kelsen nicht am konstitutionellen Verfassungsrecht, sondern an der monarchistischen Befangenheit von dessen staatsrechtlichen Interpreten.42 Wahls Unmöglichkeits-These ist im Kern nicht verfassungshistorisch, sondern verfassungstheoretisch-geschichtsphilosophisch. Sie sucht nicht allein nach verfassungsgeschichtlichen Erklärungen dafür, warum sich Normenkontrollen am Maßstab der Verfassung im deutschen Konstitutionalismus nicht herausgebildet haben, sondern will vielmehr begründen, dass sich derartige Kontrollen auch nicht hätten herausbilden können. Meine Gegenthese ist: Wahl hat zwar recht mit dem Argument, dass die Durchsetzung eines Vorrangs der Verfassung in der deutschen konstitutionellen Monarchie wenig wahrscheinlich war. Das lag aber nicht allein und nicht einmal in erster Linie an ihrer dualistischen Grundstruktur. Es lag für das Deutsche Kaiserreich vielmehr speziell an dessen bundesstaatlicher Organisation. Und es beruhte allgemein auf einem Grund, der bis in die Zwischenkriegszeit hinein gemeineuropäisch und keineswegs spezifisch deutsch war: Das Gesetz als Form wurde in ganz Europa durch das 19. Jahrhundert hindurch sehr hoch geschätzt, und das Gesetzgebungsverfahren beruhte darauf, dass vielfältige Institutionen mit ebenso vielfältigen politischsozialen Hintergründen dort Kompromisse schlossen. Das ließ eine Kontrolle des Gesetzes etwa am Maßstab grundrechtlicher Verbürgungen fernliegend erscheinen. a) Der Vorrang der Verfassung und die deutsche Tradition der Verrechtlichung politischer Konflikte Ähnlich wie bei Böckenfördes typologischer Analyse der konstitutionellen Monarchie ist auch Wahls Unmöglichkeitsthese einem allzu statisch-einheitlichen Verständnis von Verfassung und von deren Legitimationsidee verpflichtet. In der deutschen Rechtstradition gab es seit der Zeit des Alten Reiches vielfältige Ansätze für eine Verrechtlichung politischer Konflikte, für ein Verständnis von Recht als paritätisches Schlichtungsmittel („itio in partes“, „amicabilis compositio“), nicht zuletzt vor dem Hintergrund des mentalitätsprägenden Erbes der konfessionellen Gegensätze.43 Dieses mentalitätsprägende Erbe stellte der Entscheidung für eine einheitliche Legitimationsgrundlage und dem Übergang zu einem parlamentarischen Regierungssystem mit klaren Mehrheitsentscheidungen noch im Kaiserreich große Hindernisse entgegen; eine verfassungsrechtliche Schlichtung politischer Konflikte hätte es hingegen durchaus begünstigen können.44 Die dualistische Struktur als solche hätte jedenfalls ein solches überwölbend-schlichtendes Verfassungsverständnis nicht ausschließen müssen. Auch Verfassungen mit dualistischer Struktur können sich in der 42

Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 – 88 (33 ff.). 43 Zur Bedeutung der älteren Traditionslinien, insbesondere zur Gerichtsbarkeit des alten Reichs, näher Scheuner (Fn. 15), S. 13 ff. 44 Vgl. dazu Schönberger (Fn. 36), S. 629 ff., 663.

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Zeit und in ihrer Praxis Legitimität erwerben45, dafür ist ihre explizite Übereinstimmung mit einem einheitlichen staatsideologischen Legitimationsprinzip keineswegs erforderlich. Zudem gibt es in der Demokratie ebenfalls fundamentale Machtkämpfe zwischen Institutionen und Parteien, die nicht von vornherein entschieden oder geschlichtet sind und für deren Entscheidung der Rückbezug etwa auf das abstrakte Legitimationsprinzip der Volkssouveränität kaum eine verlässliche Orientierung bietet. Entscheidend für die Möglichkeit der Maßgeblichkeit der Verfassung dürfte vielmehr sein, dass über die Machtverteilung zwischen den Verfassungsorganen ein grundsätzlicher Konsens besteht oder sich doch jedenfalls herausbildet.46 Wahls Argument betrifft insoweit überdies auch weniger die spezifische Problematik des Vorrangs der Verfassung als vielmehr deren Geltungsanspruch überhaupt. Denn eine mögliche Überprüfung von Gesetzen am Maßstab etwa von Grundrechten hätte ja nicht zwangsläufig einen Konflikt zwischen Monarch und Parlament nach Art eines Organstreits bedeutet.47 Es wäre vielmehr das Ergebnis eines bereits getroffenen Kompromisses zwischen diesen Institutionen überprüft worden mit der möglichen Folge, dass bei Nichtigkeit des Gesetzes die Kompromissfindung wiederum von vorne hätte beginnen müssen. Natürlich wären derartige Kontrollen politisch relevant gewesen.48 Aber deshalb waren sie noch nicht strukturell von vornherein ausgeschlossen. b) Bundesstaatliche Gründe für die Zurückhaltung gegenüber dem Vorrang der Verfassung Vor dem Hintergrund des Kaiserreichskonstitutionalismus ist Wahls These von der „Unmöglichkeit“ des Vorrangs der Verfassung überdies deshalb problematisch, weil sie die spezifisch föderative Dimension der Frage ausdrücklich ausblendet.49 Die Entwicklung der Vorrangproblematik wie auch die Frage einer Staats- bzw. Verfassungsgerichtsbarkeit haben sich in Deutschland aber durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch nie allein als Problem eines Dualismus von Machtfaktoren auf einer einzigen staatlichen Ebene gestellt. Sie waren vom Alten Reich über den Deutschen Bund bis hin zum Bismarckreich immer mit der Form der föderativen Gesamtorganisation verknüpft.50 Sicherlich ging es hier in der konstitutionellen Epoche nie um die für die Vorrangproblematik zentrale Frage der Normenkontrolle. Aber die föderalen Proble45

Vgl. dazu die Überlegungen bei Hofmann (Fn. 33), S. 198 ff., 202 ff.; Kirsch (Fn. 33), S. 58 ff. Auch Wahl (Fn. 34), Rdnr. 53, will das als faktisches Phänomen durchaus zugestehen, hält aber gleichwohl das Fehlen eines „einheitlichen rechtlichen Legitimationsprinzips des Konstitutionalismus“ für allein entscheidend. 46 Vgl. Klaus Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 99 – 146 (103 f.). 47 Dazu Franz-Joseph Peine, Normenkontrolle und konstitutionelles System, Der Staat 22 (1983), S. 521 – 549 (543). 48 Dazu Wahl (Fn. 1), S. 132 f. mit Fn. 36. 49 Wahl/Rottmann (Fn. 27), S. 347 f. mit Fn. 20. 50 Eingehend Scheuner (Fn. 15), S. 20 ff.

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me waren für die Vorrangfrage auf Reichsebene doch auch nicht bedeutungslos. So wurde bereits gezeigt, dass die Durchsetzung des Vorrangs der Bundesgesetze in den jungen Bundesstaaten in der Tendenz der gleichzeitigen Durchsetzung des Vorrangs der Verfassung gegenüber eben diesen Gesetzen entgegengewirkt hat.51 Auch für das Fehlen grundrechtlicher Verbürgungen in der Reichsverfassung, die als Katalysator für das Entstehen des Verfassungsvorrangs hätten wirken können, war mitentscheidend, dass es am Beginn des Reiches erst einmal galt, das neue Reichsrecht in den Gerichten und Verwaltungen der Länder durchzusetzen.52 Der Verzicht der Bismarckverfassung auf einen Grundrechtskatalog hatte überdies damit zu tun, dass Verwaltung und Gerichtsbarkeit damals noch als überwiegende Domäne der politisch selbstbewussten Einzelstaaten und Grundrechtsverbürgungen deshalb als Länderangelegenheit galten.53 Der fehlende Vorrang der Verfassung im Konstitutionalismus des Deutschen Kaiserreichs entsprang also auch und gerade den Problemen der bundesstaatlichen Organisation des jungen Reiches. c) Der fehlende Vorrang der Verfassung in der europäischen Verfassungsgeschichte des „langen“ 19. Jahrhunderts als Ausdruck der Hochschätzung des Gesetzes vor der Massendemokratie des 20. Jahrhunderts Die Zweifel an Wahls These vermehren sich zudem, wenn man den vergleichenden Blick nicht allein auf die Vereinigten Staaten richtet. Im Europa der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und bis in die Zwischenkriegszeit hinein nimmt sich Labands entschiedene Ablehnung des Vorrangs der Verfassung keineswegs singulär aus. Der Vorrang der Verfassung war damals nirgendwo in Europa durchgesetzt oder doch allenfalls in sehr prekären Formen. In einer Sondersituation befand sich die deutsche konstitutionelle Monarchie jedenfalls in dieser Hinsicht nicht.54 Der fehlende Vorrang der Verfassung war damals vielmehr mit unterschiedlichen Begründungen durchaus europäisches Gemeingut, von der Begründung der „Parlamentssouveränität“ bei Albert Venn Dicey in Großbritannien bis hin zum Verständnis des Gesetzes als Ausdruck des Gemeinwillens bei Raymond Carr de Malberg in der französischen Dritten Republik.55

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Siehe oben I.1, bei Fn. 12 – 16. Dazu Schönberger (Fn. 12), S. 617 f. Zur Frage der Durchsetzung des Vorrangs des Reichsrechts im jungen deutschen Bundesstaat ist besonders instruktiv Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1. Auf., Bd. 2, 1878, S. 230, 106 ff. 53 Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 13. 54 Auch in anderen Hinsichten wird die Vorstellung eines völlig unvergleichlichen Sonderwegs der deutschen konstitutionellen Monarchie im europäischen Vergleich zunehmend bezweifelt; vgl. insbesondere Kirsch (Fn. 33). 55 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1885; Raymond Carr de Malberg, Contribution  la thorie gnrale de ltat, 1920/22; ders., La loi, expression de la volont gnrale, 1931. 52

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So hat sich etwa Carr de Malberg noch 1933 in einer ausführlichen kritischen Auseinandersetzung mit der rechtstheoretischen Stufenbaulehre der Wiener Schule gegen die Vorstellung gewandt, der parlamentarische Gesetzgeber sei der Verfassung untergeordnet. Unter Bezug auf das französische Verfassungsrecht der Dritten Republik, das keinen Grundrechtskatalog kannte und Verfassungsänderungen im Wesentlichen denselben Anforderungen unterwarf wie die normale Gesetzgebung, hob er hervor, das Parlament repräsentiere in der revolutionären Tradition seit der Verfassung von 1791 die souveräne Nation und stehe dem Verfassunggeber unter der Verfassung der Dritten Republik ohnehin praktisch gleich.56 Es muss im vorliegenden Zusammenhang auf sich beruhen, ob diese Einwände das rechtstheoretische Stufenbaukonzept in Frage stellen können.57 Sie machen aber in jedem Fall deutlich, dass Carr de Malberg den Vorrang der Verfassung für die französische Republik genauso grundsätzlich verneint wie Laband für die Verfassung des deutschen Kaiserreiches. Die französische Dritte Republik hatte das, was Wahl als entscheidende Voraussetzung für den Vorrang der Verfassung begreift: ein einheitliches Legitimationsprinzip in der Souveränität der Nation. Und gerade aus diesem Legitimationsprinzip heraus kam Carr de Malberg zur Ablehnung des Verfassungsvorrangs. Ähnliches gilt für die der ideologischen Nähe zur deutschen konstitutionellen Monarchie gleichfalls völlig unverdächtige Schweizer Demokratie, die einen Vorrang der Verfassung gegenüber den Bundesgesetzen nicht anerkannte58 und sich damit durchaus im „mainstream der europäischen Verfassungs- und Gewaltenteilungslehre“59 der damaligen Zeit befand. Selbst in den Vereinigten Staaten hat der theoretisch gut etablierte Vorrang der Verfassung durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch praktisch keine Rolle gespielt und sich in anspruchsvoller Weise erst mit der Grundrechtsrechtsprechung des Supreme Court seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts schrittweise zur Geltung gebracht.60 Wenn es gelegentlich heißt, der Vorrang gehöre „begrifflich zur Verfassung, auch wenn das nicht sogleich überall erkannt worden ist“61, dann wird man hinzufügen müssen, dass das in Europa vor dem Ersten Weltkrieg noch kaum jemand erkannt hatte. Sicherlich war ein sehr abstraktes Stück Vorrang schon der klassischen verfassungstheoretischen Unterscheidung des Abb Sieys zwischen pouvoir constituant und pouvoirs constitus immanent. Aber zwischen einer derartigen verfassungstheoretischen Unterscheidung und der rechtlichen Bindung des Gesetzgebers an inhaltli-

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Raymond Carr de Malberg, Confrontation de la thorie de la formation du droit par degrs avec les ides et les institutions consacres par le droit positif franÅais relativement  sa formation, 1933, S. 56 ff. 57 Kritisch dazu Otto Pfersmann, Carr de Malberg et la „hirarchie des normes“, in: Olivier Beaud/Patrick Wachsmann (Hrsg.), La science juridique allemande et la science juridique allemande de 1870  1918, 1997, S. 295 – 324. 58 Siehe dazu bereits oben I.1., bei Fn. 14. 59 So treffend Oeter (Fn. 14), S. 560. 60 Siehe dazu oben I.2., bei Fn. 25. 61 So Dieter Grimm, Verfassung (1989), in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11 – 28 (14), mit Bezug auf die Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoirs constitus.

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che Vorgaben der Verfassung, insbesondere an Grundrechte, lag doch eine ganze Welt und in Kontinentaleuropa mehr als ein Jahrhundert. Der fehlende oder doch jedenfalls äußerst ausgedünnte Vorrang der Verfassung im gemeineuropäischen Verfassungsrecht, in Monarchien wie Republiken, am Beginn des 20. Jahrhunderts dürfte sich nicht zuletzt aus dem Fehlen grundrechtlicher Verbürgungen oder deren mangelnder rechtlicher Bindungskraft gegenüber dem Gesetzgeber erklären. In den europäischen Verfassungen vor dem Ersten Weltkrieg waren die damaligen sozialen Kräfte von Monarchie und Aristokratie bis hin zu Bürgertum und Arbeiterschaft in komplexer Weise ausbalanciert und in den Gesetzgebungsprozess voll oder doch halb integriert. Diese Ausbalancierung in den Institutionen selbst ließ die Frage einer Bindung des Gesetzgebers an inhaltliche Vorgaben des Verfassungsrechts, insbesondere an Grundrechte, noch fernliegend erscheinen. Gerade der Freiheitsschutz galt in erster Linie als Aufgabe der freiheitlichen Institution des Parlaments, zumal unter den Bedingungen eines noch häufig eingeschränkten Wahlrechts. Johann Caspar Bluntschli formulierte durchaus einen lange vorhaltenden gemeineuropäischen Konsens, wenn er schrieb, der gesetzgebende Körper trage „in seiner Bildung die wichtigsten Garantien, dass er nicht seine Befugnisse in verfassungswidrigem Geiste ausübe“62. Hierin dürfte der tiefste Grund für das Fehlen des Verfassungsvorrangs auch in der deutschen konstitutionellen Monarchie liegen. Es war kein deutscher Sonderweg, sondern die gemeineuropäische Orientierung an einer Gesetzgebung, die durch die Beteiligung einer Vielzahl von Institutionen und sozialen Kräften tragfähige Kompromisse zu ermöglichen schien. Man hat damals das Anliegen der modernen Verfassungen, politische Herrschaft zu organisieren, zu legitimieren und zu begrenzen, in ganz Europa noch vor allem im Zusammenspiel der durch die Verfassungen organisierten Institutionen gesehen, und nicht in deren rechtsförmlichem oder gar gerichtsförmig gesicherten Vorrang. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich das allmählich verändert, nicht zuletzt durch die zunehmende Demokratisierung des Wahlrechts und die damit verbundene Repräsentation breiterer sozialer Schichten in den Parlamenten. In Frankreich, wo sich bereits seit 1870 dauerhaft eine parlamentarische Republik mit allgemeinem Wahlrecht durchgesetzt hatte, begann denn auch früh eine Diskussion über mögliche rechtliche Bindungen des parlamentarischen Gesetzgebers63 ; diese blieb aber auch dort lediglich verfassungstheoretisch-rechtspolitischer Natur, weil die republikanische Ideologie vom Gesetz als Ausdruck des Gemeinwillens sich weiterhin als stärker erwies. Überall in Europa bildeten sich jetzt aber allmählich und mit einer äußerst krisenhaften Inkubationszeit zwischen den Weltkriegen parlamentarische Demokratien auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts heraus. Noch bestehende monar62

Johann Caspar Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, 6. Aufl. 1885, S. 139 f. Marie-Jolle Redor, De ltat lgal  ltat de droit. Lvolution des conceptions de la doctrine publiciste franÅaise 1879 – 1914, 1992; Renaud Baumert, La dcouverte du juge constitutionnel, entre science et politique. Les controverses doctrinales sur le contrle de constitutionnalit des lois dans les Rpubliques franÅaise et allemande de lentre-deux-guerres, 2009. 63

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chische Vetopositionen oder Vorrechte erster Kammern wurden beseitigt oder abgeschwächt, während das parlamentarische Regierungssystem zugleich die Herausbildung kompakter Parlamentsmehrheiten begünstigte. Erst jetzt wurde die Frage inhaltlicher verfassungsrechtlicher Bindungen des demokratischen Gesetzgebers in aller Deutlichkeit bewusst. Die Erfahrung mit autoritären und totalitären Regimen verstärkte dann nach 1945 das Bedürfnis nach starken grundrechtlichen Einschränkungen der Staatsgewalt. Erst die Einführung grundrechtlicher Bindungen des Gesetzgebers in die Verfassungstexte und die gerichtliche Überprüfbarkeit der Einhaltung dieser Bindungen haben ein anspruchsvolles Verständnis des Vorrangs der Verfassung möglich gemacht, vor allem in den Verfassungen nach dem Zweiten Weltkrieg64, wobei dem Grundgesetz und dem Bundesverfassungsgericht eine Pionierrolle zukam. III. Die Durchsetzung des Vorrangs der Verfassung als Verlustgeschichte? Vor diesem gemeineuropäischen Hintergrund lässt sich fragen, ob man die Durchsetzung des Vorrangs der Verfassung nicht auch als Verlustgeschichte erzählen muss und nicht allein als den Triumphzug, als der diese Durchsetzung gerade in der Bundesrepublik üblicherweise berichtet wird. Wahls klassischem Aufsatz ist ein derartiger Verlustbefund bereits nicht fremd. Er konstatiert, dass die deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts gerade aufgrund ihres fehlenden Vorrangs häufig einen programmatisch-appellativen Charakter gehabt hätten, nicht zuletzt in ihren grundrechtlichen Bestimmungen. Und er stellt ebenfalls fest, dass das Grundgesetz diese programmatisch-appellative Bedeutung durch seine juridifizierte Vorrangigkeit eingebüßt habe.65 Dieser Verlustbefund wird bei Wahl aber dadurch abgeschwächt, dass er das andersartige, programmatisch-appellative Verfassungsverständnis allein der Epoche der deutschen konstitutionellen Monarchie zuordnet, gewissermaßen als Kompensation für die angenommene „Unmöglichkeit“ des Verfassungsvorrangs. Er sieht sich noch zu sehr mit der Aufgabe beschäftigt, die konstitutionelle Vergangenheit zu bewältigen. Blickt man zurück auf das europäische Verfassungsrecht im „langen“ 19. Jahrhundert, dann wird man dieses aber insgesamt als ein Recht kennzeichnen müssen, das programmatisch-appellative Gehalte mit einem Sinn dafür verband, dass sich Freiheit in erster Linie in freiheitlichen Institutionen, zumal dem Parlament, verwirklichen muss. Das US-amerikanische Verfassungsrecht, das Wahl zum Kontrast heranzieht, bildet dazu ebenfalls kein radikales Gegenmodell. Gerade die Tatsache, dass der Supreme Court in erster Linie Appellationsinstanz und nicht allein Verfassungsgericht ist, führt dazu, dass viele Fragen in den USA in einer gewissen verfassungsrechtlichen Unschärfe verharren können66 und die Verfassung insgesamt 64

Hervorgehoben bei Kastari (Fn. 17), S. 52. Wahl (Fn. 1), S. 134 ff. 66 Formulierung nach Konrad Zweigert, Einige rechtsvergleichende und kritische Bemerkungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und 65

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keinen sehr ausgeprägten vorrangigen Selbststand besitzt. Auch in den Vereinigten Staaten mehren sich heute im Übrigen die kritischen Stimmen gegenüber einer allzu starken Juridifizierung der Verfassung.67 Der Vorrang der Verfassung unter den Bedingungen einer stark ausgebauten Verfassungsgerichtsbarkeit ist nicht die posthume Antwort auf die lange Epoche der konstitutionellen Monarchie. Er ist etwas Neues, und durch dieses Neue ist manches von dem unsichtbar geworden oder verlorengegangen, wofür die Verfassung im gemeineuropäischen Verfassungsrecht seit den Verfassungsrevolutionen des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts gestanden hatte.

Grundgesetz (Fn. 15), S. 63 – 75 (65 ff.), mit einer sehr instruktiven Kontrastierung zur deutschen Situation. 67 Vgl. nur Mark Tushnet, Taking the Constitution Away From the Courts, 1999: Larry D. Kramer, The People Themselves. Popular Constitutionalism and Judicial Review, 2004.

Staatsrechtslehre und Bundesverfassungsgericht – prozedural gesehen Von Helmuth Schulze-Fielitz, Würzburg Das Verhältnis der deutschen Staatsrechtslehre zum Bundesverfassungsgericht und zu seiner Judikatur ist vielschichtig und ambivalent. Man hat es metaphorisch als „gegenseitiges Geben und Nehmen“ umschrieben;1 dieser Prozess soll hier konkreter beobachtet werden. Es geht einmal um verschiedene Institutionen mit unterschiedlichen Funktionen: Der Staatsrechtslehre als wissenschaftlichem System obliegen gänzlich andere Aufgaben als dem Bundesverfassungsgericht als judikativem Verfassungsorgan, wenn auch auf einer gemeinsamen Basis der Verfassungskonkretisierung (dazu I.). Davon zu unterscheiden sind die formalisierten Ebenen, in denen sich Wissenschaft und Wissenschaftler und das Gericht und Richter begegnen, um jenes „Geben und Nehmen“ zu organisieren (dazu II.). Das führt zu Folgerungen, die verbreitete Missverständnisse klären können (III.). Das Fundament für ein wohlgeordnetes Neben- und Miteinander von Staatsrechtslehre und Bundesverfassungsgericht bildet letztlich der wechselseitige Respekt für die funktionale Andersartigkeit von Wissenschaft und Rechtsprechung und damit zugleich die Einsicht in die Grenzen verfassungsrechtlicher Erkenntnisse.

I. Funktionsunterschiede von Staatsrechtslehre und Bundesverfassungsgericht Sowohl Staatsrechtslehre als Wissenschaft wie Verfassungsgerichte als Rechtsprechungsorgane können nur im Rahmen ihrer institutionsspezifischen Logiken handeln: In verfassungsrechtlichen Kategorien handeln ihre Akteure in Ausübung entweder von Grundrechten oder von Amtsgeschäften richterlicher Hoheitsbetätigung,2 in systemtheoretischen Kategorien nach ihren je systemspezifischen Codes und Rollen, die damit zugleich andere Handlungsweisen ausschließen.3 Verfassungsgerichte haben nach ihren systemischen Regeln kollektiv bindende Einzelfallentscheidungen zu treffen und vorzubereiten, während die wissenschaftliche Diskussion 1 So Drath/Friesenhahn u. a., Vorwort, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe 25 Jahre BVerfG, Bd. I, 1976, S. V. 2 Vgl. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 15 Rn. 54 f. 3 Vgl. Brodocz, Die Macht der Judikative, 2009, S. 54 ff., 67 ff.; allg. für das (beide übergreifende) Rechtssystem etwa Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 66 ff.

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nach ihren Diskursregeln verallgemeinernde Argumentationsstrukturen erarbeitet, aus denen sich unter Umständen (unverbindliche) Entscheidungsvorschläge von prognostischer Qualität ableiten lassen. Wissenschaft und Justizpraxis verkörpern auf diese Weise unterschiedliche Teilsysteme, die nebeneinander agieren. Indem sie je funktions- und rollengerecht nach Maßgabe ihrer systemspezifischen formalisierten Kommunikation agieren, schaffen sie Erwartungssicherheit bei denen, die ihre Leistungen nachfragen. 1. Funktionen der Staatsrechtslehre als Wissenschaft Staatsrechtslehre als Wissenschaft des Öffentlichen Rechts arbeitet wie alle Rechtswissenschaft idealtypisch auf drei Problemebenen juristischer Betrachtung.4 Soweit sie praktisch an der Vorbereitung der Entscheidung von rechtlichen Konfliktfällen orientiert ist, arbeitet sie im Blick auf das Grundgesetz rechtsdogmatisch.5 Nur so bleibt sie, schon aus ganz pragmatischen Gründen, für die Rechtspraxis – auch im Blick auf die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) – anschluss- und diskursfähig.6 Im Vordergrund vor allem in der praktischen Juristenausbildung steht, auf einer ersten Ebene, eine praktische Kunstlehre zur Lösung von Einzelfällen nach Maßgabe der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung und der ihr zugrundeliegenden Abwägungsentscheidungen.7 Wegen des hohen Abstraktionsgrades vieler verfassungsrechtlicher Normtexte (nicht nur, aber vor allem im Bereich der Grundrechte), aber auch wegen fehlender Judikatur in bestimmten Bereichen des Verfassungsrechts spielt dabei (stärker als in der Verwaltungsrechtswissenschaft) sehr bald eine zweite, für die deutsche universitäre Wissenschaft wichtigere Ebene der Systematisierung des Rechtsstoffes durch Ausbildung einer Verfassungsrechtsdogmatik in Bindung an die normativen Vorgaben des Grundgesetzes eine bedeutsame Rolle: Aussagen, Prozesse, Strukturen und Entscheidungsregeln im positiven Verfassungsrecht und in der Verfassungspraxis werden gesammelt, auf Begriffe gebracht und zu allgemeinen Figuren, Instituten und Grundsätzen ausgeformt, um den Verfassungsrechtsstoff möglichst widerspruchsfrei

4 Siehe am Beispiel der Verwaltungsrechtswissenschaft Schulze-Fielitz, Notizen zur Rolle der Verwaltungsrechtswissenschaft für das Bundesverwaltungsgericht, Die Verwaltung 36 (2003), S. 421 (422 ff.). 5 Übersichtlich zuletzt Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik: Rechtsdogmatik im Spannungsfeld von Gesetzesanwendung und Funktionsorientierung, in: Kirchhof/Magen/ Schneider (Hrsg.), Was können wir über Rechtsdogmatik wissen?, 2011, MS 5 ff. (bei Fn. 19 ff.); Wahl, Rechtsdogmatik und Rechtspolitik im Öffentlichen Recht, in: Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010, S. 121 (123 ff.). 6 Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: Depenheuer u. a. (Hrsg.), Nomos und Ethos, 2002, S. 183 (191 f.). 7 Zu den Schwierigkeiten der Lernbarkeit solcher Argumentationsstrukturen vgl. jüngst Fuerst, Wie man das BVerfG verstehen lernt – Eine Urteilsanalyse für die Fallbearbeitung am Beispiel der Sonntagsschutz-Entscheidung, JuS 2010, S. 876 ff.

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und plausibel im Sinne formaler Rationalität zu ordnen.8 Auf diese Weise sollen bei der Auslegung und Anwendung des Rechts die Bindung an die demokratischen Entscheidungen des Gesetzgebers gewährleistet und Wertungswidersprüche vermieden werden, durch dogmatische Konsistenz und Kontinuität der Rechtspraxis Wertungsgerechtigkeit gespeichert und gewährleistet werden und die Praxis durch eine einzelfallübergreifende Perspektive und durch systematische Geschlossenheit und rechtsstaatliche Berechenbarkeit davon entlastet werden, jeden Einzelfall immer wieder umfassend neu zu durchdenken.9 Allgemeiner machen dogmatische Theorien den Rechtsstoff lernbar, haben lückenfüllende oder kollisionslösende Funktion und geben selbst der rechtspolitischen Diskussion Konsistenzmaßstäbe vor.10 In dieser Weise ist es Aufgabe der Verfassungsrechtsdogmatik zu ordnen, zu informieren, analytisch zu erkennen, nach öffentlich einsichtigen Kriterien zu beurteilen11 und so Verfassungsrecht zu stabilisieren, Entscheidungen zu rationalisieren und kontrollierbar zu machen, und sie muss dabei zugleich auf gewandelte Anforderungen an das Verfassungsrecht ggf. durch Dogmatikwandel reagieren.12 Vom rechtsdogmatischen, letztlich konfliktentscheidungsanleitenden Erkenntnisinteresse der deutschen Staatsrechtslehre ist die meta-dogmatische staatsrechtswissenschaftliche Theoriebildung als dritte Problemebene wissenschaftlicher Betrachtung zu unterscheiden.13 Sie hat als rechtswissenschaftliche „Grundlagenfor-

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Vgl. Wahl, Rechtsdogmatik (Fn. 5), S. 124; Würtenberger, Grundlagenforschung und Dogmatik aus deutscher Sicht, in: Stürner, Bedeutung (Fn. 5), S. 3 (5 ff.); Voßkuhle, Allgemeines Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht, in: Willoweit (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, 2007, S. 935 (938); Starck, Die Rolle der Verfassungsrechtswissenschaft im demokratischen Verfassungsstaat, in: ders. (Hrsg.), Die Rolle der Verfassungsrechtswissenschaft im demokratischen Verfassungsstaat, 2004, S. 21 (26); Heun, Begriff, Eigenart, Methoden der Verfassungsrechtsdogmatik, in: Starck, Rolle ebd., S. 35 (39). 9 Siehe etwa Würtenberger, Grundlagenforschung (Fn. 8), S. 7; Schoch, Die Rolle der Rechtsdogmatik bei der Privatisierung staatlicher Aufgaben, in: Stürner, Bedeutung (Fn. 5), S. 91 (99 ff.); Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Wissenschaft: Dimensionen einer nur scheinbar akademischen Fragestellung, in: ders. (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 11 (20) m.w.N.; ders., Notizen (Fn. 4), S. 423 f., 426; Brohm, Kurzlebigkeit und Langzeitwirkung der Rechtsdogmatik, in: Geis/Lorenz (Hrsg.), Staat – Kirche – Verwaltung. Festschrift für Hartmut Maurer, 2001, S. 1079 (1082 ff.) m.w.N.; zur Kritik Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007, S. 154 ff. 10 Schlink, Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, S. 157 (162), im Anschluss an Podlech, Rechtstheoretische Bedingungen einer Methodenlehre juristischer Dogmatik, in: Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie 2 (1972), S. 491 (492 ff.). 11 Badura, Dogmatik des Staatsrechts im Wandel vom Bismarckreich über die Weimarer Republik zur Bundesrepublik, in: Entstehen und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens, 1996, S. 133 (133), im Anschluss an Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in: Bubner (Hrsg.), Hermeneutik und Dialektik. Festschrift für Hans-Georg Gadamer, 1970, Band 2, S. 311 (311 ff.). 12 Heun, Begriff (Fn. 8), S. 40; Brohm, Kurzlebigkeit (Fn. 9), S. 1085 f. 13 Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (Fn. 9), S. 29; ders., Notizen (Fn. 4), S. 425.

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schung“14 nur geringe unmittelbare Bedeutung für die Entscheidungstätigkeit von praktischen Juristen, sondern betrachtet aus Sicht des Beobachters die geschichtlichen Grundlagen des Verfassungsrechts, seine politischen Funktionen, widmet sich allgemeiner Staatslehre oder besonderen Verfassungstheorien, den sozialen Grundlagen von Staat und Verfassung oder den tatsächlichen philosophischen Vorverständnissen oder objektiven Funktionen verfassungsdogmatischer Konstrukte, auch der Methodendiskussion.15 Auch die „Reine Rechtslehre“ verweigert sich von vornherein weithin dem Interesse an Empfehlungen zur Lösung von Konflikten im Einzelfall, sondern ist allein am Erkenntnisgewinn orientiert. Alle solche Dimensionen der Staatsrechtslehre kommen weithin oder völlig ohne Rechtsprechungsanalysen aus und berühren die Einzelfallperspektive der Rechtsprechungsfunktion fast gar nicht, sondern regen die Richter allenfalls zu distanzierter Selbstreflexion an. Insoweit führt Staatsrechtslehre gegenüber dem Bundesverfassungsgericht „ein weitgehend autonomes Eigenleben“.16 Es ist sinnlos, die meta-dogmatischen und dogmatischen Erscheinungsformen von Verfassungsrechtswissenschaft gegeneinander ausspielen zu wollen.17 Individuell ihre grundrechtliche Freiheit ausübende Akteure in der Staatsrechtslehre sind alle wissenschaftlich publizierenden Verfassungsinterpreten, vor allem an Universitäten, aber auch in Anwaltskanzleien. Staatsrechtslehrer als Professoren sind nach Begabung und wissenschaftlicher Sozialisation zunächst einmal verfassungsrechtsdogmatisch ausgerichtete Theoretiker, so sehr sie durch praxisbezogene Tätigkeiten wie Prozessvertretungen, Kommissionsarbeiten, Gutachten oder Anhörungen mit anderen Berufsfeldern in Kontakt kommen; ihr Problemzugang ist aber im Ausgangspunkt jedenfalls dem Anspruch nach primär theoriegeleitet. 2. Das Bundesverfassungsgericht als judikatives Herrschaftsorgan Das Bundesverfassungsgericht ist ein Staatsorgan, das auf bestimmte Weise (demokratisch legitimierte) Herrschaft ausübt, indem es verbindlich Konfliktfälle nach

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So jetzt Würtenberger, Grundlagenforschung (Fn. 8), S. 4, 10 ff. Vgl. Lerche, Rechtswissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit, BayVBl. 2002, S. 649 (651 f.). 16 Vgl. Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 111. – Symptomatisch kommt der Bericht von Ipsen, 50 Jahre deutsche Rechtswissenschaft im Spiegel der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer: Die Verhandlungen von 1949 (Heidelberg) bis 1971 (Regensburg), AöR 97 (1972), S. 375 ff. mit Ausnahme von zwei beiläufigen Bemerkungen (S. 398, 416) ohne jeden Hinweis auf die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts aus. Auch die Teilnahme an den Jahrestagungen der Staatsrechtslehrervereinigung war von Anfang an und ist bis heute nur für ihre Mitglieder möglich, nicht aber für Verfassungsrichter, die sich nicht auch im Öffentlichen Recht habilitiert haben. 17 Waldhoff, Kritik (Fn. 5), MS 16 (bei Fn. 65). 15

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Maßgabe des Grundgesetzes entscheidet.18 Primäre Gesprächspartner sind die Prozessparteien und ihre Vertreter, denen gegenüber es seine Entscheidungen mit juristischen Argumenten plausibel begründen muss. Das Gericht und seine Richter entscheiden dabei zwar nach Maßgabe des Verfassungsrechts. Dadurch erfährt dieses einen „Rationalitätsschub“ mit dem Verfassungsgericht als „Umschlagplatz“ für einschlägige Arbeiten der Verfassungsrechtswissenschaft,19 soweit solche existieren, indem sie wissenschaftliche Alternativen aufzeigen und einen Pool von Argumenten bereitstellen.20 Angesichts einer gewissen vom Verfassungstext erlaubten Bandbreite unterschiedlicher Anwendungsmöglichkeiten sind für Richter aber zusätzliche Klugheitsregeln bedeutsam, um „richtige“ Entscheidungsergebnisse im Rahmen des Rechts zu finden. Insoweit spielen Gesichtspunkte eine Rolle, die die Entscheidungsergebnisse (auch) nach der Akzeptanz der Problemlösung, nach der allseitigen Interessenberücksichtigung, einer problemangemessenen Informationsverarbeitung, der Fairness des Verfahrens u. a. beurteilen.21 Insoweit treten in der Spruchpraxis neben die Elemente des Richtens allenthalben auch solche des kompromisshaften Schlichtens, die den Interessen sämtlicher Konfliktparteien gerecht zu werden suchen.22 Die für verfassungsgerichtliche Streitfälle oft charakteristische Pluralität betroffener Interessen führt regelmäßig zu multipolaren Konfliktlagen, bei denen eine Abwägung nicht allein auf Kosten eines anderen, sondern im Sinne von „praktischer Konkordanz“ durch optimierende Zuordnung erfolgt,23 wie es auch in „Sowohl als auch“-Begründungen zum Ausdruck kommen kann.24 Dabei haben die Richter die theoretischen und dogmatischen Voraussetzungen, die ihre Entscheidung steuern, mitzubedenken, ohne dass solche in den Entscheidungsgründen ausdrücklich niedergelegt werden (könnten oder sollten). 18 Siehe näher Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Band III, 6. Aufl. 2010, Art. 93 Rn. 19 ff.; Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Band III, 2. Aufl. 2008, Art. 93 Rn. 30; ausf. Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, 2004, S. 54 ff. 19 Starck, Rolle (Fn. 8), S. 31; grdl. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 206 ff. 20 Vgl. Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (Fn. 9), S. 30. 21 Hoffmann-Riem, Die Klugheit der Entscheidung ruht in ihrer Herstellung – selbst bei der Anwendung von Recht, in: Scherzberg u. a. (Hrsg.), Kluges Entscheiden, 2006, S. 3 (5 f.); s. auch Hillgruber (Fn. 2), § 15 Rn. 29, 31; speziell zur Akzeptanz Voßkuhle (Fn. 18), Art. 93 Rn 34; Würtenberger, Auslegung von Verfassungsrecht – realistisch betrachtet, in: Bohnert u. a. (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach, 2001, S. 223 (239 ff.). 22 Schneider, Richter oder Schlichter?, in: Fürst/Herzog/Umbach (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Zeidler, 1987, Bd. 1, S. 293 (300 ff., 307); s. schon Lerche, Stil, Methode, Ansicht (1961), in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, 2004, S. 19 (44). 23 Hoffmann-Riem, Klugheit (Fn. 21), S. 10; Würtenberger, Auslegung (Fn. 21), S. 232 ff.; grdl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 72, 317 ff. 24 Hoffmann-Riem, Klugheit (Fn. 21), S. 17; s. auch Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus (Fn. 6), S. 216; Bryde, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Rechtssoziologie, in: Brand/Strempel (Hrsg.), Soziologie des Rechts. Festschrift für Erhard Blankenburg, 1998, S. 491 (503).

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Individuell handelnde Akteure der Verfassungsjudikatur sind die Richter als Amtsträger in den Senaten und Kammern als Spruchkörper. Sie handeln, wenn sie im Rahmen des Prozessrechts zulässigerweise angerufen werden, um einen Einzelfall nach Maßgabe des Verfassungsrechts in Kollegialorganen zu entscheiden. Es geht ihnen im Ausgangspunkt um die Lösung eines einzelnen verfassungsrechtlichen Konflikts. 3. Bindungsgrenzen des Grundgesetzes als gemeinsames Problem Staatsrechtslehre und Bundesverfassungsgericht wirken so auf der gemeinsamen Basis des methodischen Erkenntnisstandes, dass der „Positivismus“ als Konzeption, nach der eine Norm des Grundgesetzes dem Konfliktfall vorgegeben und nur noch mit Hilfe von Savignys Methodenkanon durch Nachvollzug gesetzgeberischer Absichten anzuwenden ist,25 keine angemessene Vorstellung der Rechts- und Verfassungsinterpretation sein kann.26 Juristisches Urteilen ist vielmehr ein mehrstufiger produktiver Vorgang der strukturierten und konstruktiven Konkretisierung von Rechtsnormen im Blick auf einen Konfliktfall im Realbereich der Norm.27 Dabei ist das (Verfassungs-) Gesetz nur einer von mehreren steuernden Faktoren für das „Rechtsanwendungsverhalten“.28 Die Vielfalt der hierbei kontextabhängig methodisch zulässigen Konkretisierungselemente erlaubt vielmehr eine Bandbreite juristisch „richtigen“ Argumentierens, die je nach der im Grundgesetz nur grob vorgegebenen Gewichtung der Gründe bei Vorrangentscheidungen namentlich im Rahmen der Verhältnismäßigkeitskontrolle29 nicht nur ein bestimmtes Entscheidungsergebnis zulässt,30 sondern oft auch in 25 Es dürfte allerdings schwer fallen, überhaupt einen literarischen Nachweis für eine solche Konzeption zu finden. Es handelt sich mehr um eine virtuelle Kontrastfolie für die tatsächlichen heutigen methodischen Argumentationsweisen. 26 Jüngst wieder ausf. Windisch, Jurisprudenz und Ethik, 2010, S. 37 ff. im Anschluss an die strukturierende Rechtslehre von Müller und Christensen, vgl. etwa dies., Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, S. 112 ff., 178 ff.; s. auch zum begrenzten Erkenntniswert der herkömmlichen Methoden Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR I, 2004, § 15 Rn. 10 ff.; ausf. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, 2003, S. 325 ff.; Würtenberger, Auslegung (Fn. 21), S. 225 ff., 229 f.; s. bereits Koch, Die Begründung von Grundrechtsinterpretationen (1986), in: ders., Methoden zum Recht, 2010, S. 55 (61 ff.); Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 47 ff., 67 ff., pass. 27 Zsfssd. Windisch, Jurisprudenz (Fn. 26), S. 61 ff.; ausf. Müller/Christensen, Methodik (Fn. 26), S. 232 ff., 294 ff.; Ossenbühl (Fn. 26), § 15 Rn. 14, 37, 66; der Einzelfallbezug erklärt, warum die Staatsrechtslehre den Realbereich nicht generalisiert einbezieht; krit. aber Schoch, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre, in: Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (Fn. 9), S. 177 (192 ff., 198). 28 So Hoffmann-Riem, Klugheit (Fn. 21), S. 4. 29 Koch, Begründung (Fn. 26), S. 56; ausf. Riehm, Abwägungsentscheidungen in der praktischen Rechtsanwendung, 2006, S. 9 ff., 60, 61 ff. 30 Siehe etwa Hillgruber (Fn. 2), § 15 Rn. 36; Bäcker, Die diskurstheoretische Notwendigkeit der Flexibilität im Recht, in: ders./Baufeld (Hrsg.), Objektivität und Flexibilität im Recht, 2005, S. 96 (98, 109); Scherzberg, Rationalität – staatswissenschaftlich betrachtet, in: Krebs (Hrsg.), Liber Amicorum Hans-Uwe Erichsen, 2004, S. 177 (205 f.); Würtenberger, Auslegung (Fn. 21), S. 234 ff.

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den umstrittenen Fällen erlaubt, gegenteilige Ergebnisse lege artis verantwortbar zu begründen;31 in jedem Fall sucht eine Begründung die einmal gefundene Argumentationsstruktur durch verfassungsdogmatisch systematisierte Kondensierung schon um der gebotenen Rechtsbindung willen zu bewahren. Das gilt nicht nur bei abstrakt als Optimierungsgebote formulierten Prinzipien wie den Grundrechten, sondern auch bei scheinbar eindeutigen staatsorganisationsrechtlichen Verfahrensregeln,32 ohne dass der Norminhalt „beliebig“ bestimmt werden könnte. Das Grundgesetz ist, auch im internationalen Vergleich, typischerweise besonders offen formuliert33 und seine ausfüllungsbedürftigen Normen bedürfen nicht unmittelbar im Verfassungstext ablesbarer tatbestandlicher Ergänzungen34 durch ungeschriebene (Unter-) Prinzipien.35 Die Entfaltung des Rechtsstaatsprinzips und seiner Unterprinzipien etwa erfolgt weithin unabhängig vom Verfassungstext,36 und von der Rechtsprechung entwickelte Leitbilder bilden als Brücke zu gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen Orientierungspunkte für die zukünftige Judikatur.37 (Verfassungsrechts-)Dogmatik ist auf diese Weise flexibler und offener für rechtspolitische Verschiebungen.38 Die Verfassungsrechtsdogmatik kann deshalb stets nur begrenzte Systematisierungsleistungen erbringen, die je nach dem Kontext einer etwas abweichenden Fallkonstellation und ihrer Bewertung gegensätzliche rechtliche Begründbarkeiten einer Entscheidung erlaubt; die fallbezogenen Resultate der Verfassungsauslegung und ihrer Methoden lassen sich niemals „zwingend“ aus den Verfassungsnormen und den ihnen zugeordneten verfassungsdogmatischen Sätzen ableiten. Ungeachtet dessen entfaltet das Bundesverfassungsgericht angesichts seiner breiten Kompetenzen einen immer dichteren Korpus von Verfassungsrichterrecht.39 Daraus erklärt sich auch umstandslos die Beobachtung, dass es in der verfassungsgerichtlichen Judikatur (wohl noch mehr als bei Revisionsgerichten) eine starke Tendenz zu stare decisis

31

Vgl. Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists, AöR 122 (1997), S. 1 (4); Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 9 (23, 28 f.u.ö.). 32 Vgl. Meyer, Abstimmungskonflikte im Bundesrat im Spiegel der Staatsrechtslehre, 2003, und dazu BVerfGE 106, 310 (320 ff.) mit Sondervotum Osterloh/Lübbe-Wolff, S. 338 ff. 33 Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 19), S. 80 ff. 34 Hoffmann-Riem, Klugheit (Fn. 21), S. 16, unter Hinweis auf Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensermächtigungen im Verwaltungsrecht, 1979, S. 136 ff.; Scherzberg, Rationalität (Fn. 30), S. 201 f. 35 Würtenberger, Auslegung (Fn. 21), S. 235. 36 Übersichtlich Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 105 ff., 128 ff., 179 ff. 37 Dazu Volkmann, Leitbildorientierte Verfassungsanwendung, AöR 134 (2009), S. 157 (160 ff., 175 ff., pass.); ders., Was uns trägt, FAZ vom 26. 8. 2010, S. 6. 38 Wahl, Rechtsdogmatik (Fn. 5), S. 130 f., 132. 39 Wahl, Rechtsdogmatik (Fn. 5), S. 134.

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gibt,40 also zum Versuch, spezielle Rechtsprechungskontinuitäten in Orientierung an vorentschiedenen Fällen zu entwickeln. Die mittlerweile fast unübersehbare Entscheidungspraxis des Gerichts, die sich in z. Zt. 125 Entscheidungsbänden mit Senatsentscheidungen (und einer vierstelligen Zahl von oft konkretisierenden veröffentlichten Kammerentscheidungen41) niederschlägt, gleicht dennoch immer mehr einem Steinbruch von alternativen Angeboten für Begründungsketten, die die Variabilität von Entscheidungsmöglichkeiten eher noch erhöht.

II. Formalisierte Ebenen des Kontakts von Wissenschaft und Rechtsprechung Auch wenn die erheblichen Funktionsunterschiede von Wissenschaft und Rechtsprechung dazu führen, dass sie grundsätzlich ihrer jeweiligen Eigenlogik folgen, so agieren sie dabei doch nicht völlig unabhängig voneinander. Es gibt vielmehr – mehr oder weniger formalisierte – Kontaktebenen, auf denen sich Staatsrechtslehre und Verfassungsgerichtsrechtsprechung begegnen und aufeinander Einfluss zu nehmen suchen. 1. Prozessbeteiligungen Staatsrechtslehrer sind als Prozessvertreter (§ 22 Abs. 1 S. 1 BVerfGG) oder auch als Gutachter im Vorfeld von Prozessen in das verfassungsprozessuale Geschehen involviert und suchen ihre Argumente im Sinne der von ihnen vertretenen Parteien oder Positionen beim jeweiligen Senat zur Geltung zu bringen. Prozessvertreter in großen Prozessen vor dem Bundesverfassungsgericht tragen ganz überwiegend einen Professorentitel. Wenn für Verfassungsinterpretation gerade der Fallbezug charakteristisch ist, dann liegt in der Strukturierung der juristischen Argumentation durch die wissenschaftlich informierten Prozessbeteiligten eine wesentliche diskussionsbestimmende Kraft für die Qualität der Entscheidungsvorbereitung, sei es durch Schriftsätze als Prozessvertreter, sei es durch begleitende Gutachten.42 Gewiss kann solches schriftsätzlich oder bei den (seltenen) mündlichen Verhandlungen zum weiterführenden Rechtsgespräch führen, doch korrespondiert der rhetorischen oder argumentationsstrategischen Überlegenheit einer Seite keineswegs immer auch ein prozessualer Er40 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, 2010, S. 144; Jestaedt, Autorität und Zitat, in: Detterbeck/Rozek/von Coelln (Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit. Festschrift für Herbert Bethge, 2009, S. 513 (530); Heun, Die Fortbildung des Verfassungsrechts durch die Verfassungsrechtswissenschaft, in: Starck, Rolle (Fn. 8), S. 123 (126); Lundmark, Stare decisis vor dem Bundesverfassungsgericht, Rechtstheorie 28 (1997), S. 315 (327 ff.). 41 Zu den Gründen des Anstiegs der Zahl von Veröffentlichungen von Kammerentscheidungen seit Beginn der 1990er Jahre Höfling/Rixen, Stattgebende Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, AöR 125 (2000), S. 428, 613 (644 ff.). 42 Vgl. Bethge, Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Die Verwaltung 43 (2010), S. 429 (435 f.): „Recht aus Expertisen“; Voßkuhle, Die politischen Dimensionen der Staatsrechtslehre, in: Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (Fn. 9), S. 135 (147).

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folg in der Sache, zumal auch die Gegenseite dann meist durch Staatsrechtslehrer vertreten ist. Insoweit lassen sich „Kausalitäten“ schwerlich belegen.43 Wohl aber gilt auch hier, dass die Richtigkeit einer Entscheidung auch durch die Qualität der vorangehenden, prozedural organisierten Kontroversen bestimmt wird. Deshalb kann das Niveau der Argumentation (und der Gegenargumentation) im Verfahren und in den Entscheidungsgründen auch einmal gesteigert werden, obwohl der richterliche Berichterstatter (und seine Mitarbeiter) und die Stellungnahmen staatlicher Einrichtungen im Prozess (nach § 27a BVerfGG) den Argumentationsstoff regelmäßig bereits gut aufbereitet haben (werden). Die Dokumentation von verschiedenen, nach damals aktueller Einschätzung scheinbar besonders wichtigen Verfassungsgerichtprozessen44 belegen jedenfalls keine zwingende Abhängigkeit der Entscheidungsinhalte von den Voten prozessbeteiligter Wissenschaftler. 2. Gerichtsinterne Entscheidungsfindungsprozesse Die Differenz zwischen schriftlicher Problematisierung und judikativer Entscheidung oder – ihr korrespondierend – der Unterschied zwischen Herstellung und Darstellung eines Entscheidungsergebnisses45 spiegelt sich auch in den grundsätzlich wichtigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wider, die der Senat selbst trifft46 – und nicht bloß eine Kammer aus drei Richtern, die nur im Rahmen des vom Gericht schon grundsätzlich Vorentschiedenen handeln darf (vgl. § 93c Abs. 1 S. 1

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Oppermann, Das Bundesverfassungsgericht und die Staatsrechtslehre, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band 1, 2001, S. 421 (422, 428; s. auch 435); Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 19), S. 207. 44 Vgl. wohl zuerst: Der Kampf um die Südweststaat, 1952; Der Kampf um den Wehrbeitrag, 1953; ferner etwa (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Der Grundlagenvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht, o. J. [1978]; Blumenwitz (Hrsg.), Wehrpflicht und Ersatzdienst, 1978; Arndt/Erhardt/Funcke (Hrsg.), Der § 218 StGB vor dem Bundesverfassungsgericht, 1979; Heyde/Wöhrmann (Hrsg.), Auflösung und Neuwahl des Bundestages 1983 vor dem Bundesverfassungsgericht, 1984; Heyde/Schreiber/Wöhrmann (Hrsg.), Die Nachrüstung vor dem Bundesverfassungsgericht, 1986; Hoffmann-Riem/Starck (Hrsg.), Das Niedersächsische Rundfunkgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht, 1987; Pieroth/Schuppert (Hrsg.), Die staatliche Privatschulfinanzierung vor dem Bundesverfassungsgericht, 1988; Isensee/Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993; Winkelmann (Hrsg.), Das MaastrichtUrteil des Bundesverfassungsgericht vom 12. Oktober 1993, 1994; Dau/Wöhrmann (Hrsg.), Der Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte, 1996; s. auch – offenbar ohne Beteiligung von Staatsrechtslehrern – Vormbaum (Hrsg.), Der Große Lauschangriff vor dem Bundesverfassungsgericht, 2005. 45 Zu dieser Unterscheidung Hoffmann-Riem, Methoden (Fn. 31), S. 20 ff.; Trute, Methodik der Herstellung und Darstellung verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in: SchmidtAßmann/Hoffmann-Riem, Methoden (Fn. 31), S. 293 (299 u. ö.); Koch, Begründung (Fn. 26), S. 78 ff.; grdl. Luhmann, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, 1966, S. 51 ff. 46 Es handelt sich um weniger als 5 % der jährlich entschiedenen Verfahren, vgl. Jestaedt, Autorität (Fn. 40), S. 519.

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BVerfGG).47 Hier erarbeitet der Berichterstatter nach § 23 Abs. 1 S. 2 GO-BVerfG zunächst ein schriftliches Votum, ggf. auch mit Entscheidungsvorschlag.48 An dieser Stelle können literarische Stellungnahmen durch ihre Überzeugungskraft für den Berichterstatter Wirkung entfalten. Anschließend findet im Senat zunächst eine mündliche, mitunter mehrtägige diskursive Beratung dieses Votums durch alle Richter „mit erheblicher sachlicher Härte beim Austausch der Argumente“49 statt50 ; sie kann in seltenen Fällen durch eine öffentliche mündliche Verhandlung unterbrochen werden. In dieser Diskussion im Senat als dem einzig legitimen Ort der kollektiven Willensbildung51 und im Schutz der Geheimhaltung (auch gegenüber Mitarbeitern)52 werden die in den Voten enthaltenen Vorschläge „nur selten unverändert vom Senat akzeptiert“, oft auch „massiv … verändert“.53 Dabei stehen spezifisch methodisch-juristische Argumente ganz im Vordergrund.54 Am Ende einer solchen Entscheidungsberatung, die organisationsintern den Dreh- und Angelpunkt des Willensbildungs-, Herstellungsund Entscheidungsprozesses im Senat darstellt,55 findet eine Entscheidung über den Fall möglichst im Sinne einer „einverständlichen, also einstimmigen oder doch einmütigen Lösung“56 statt; dieser Zwang, zu einem verbindlichen und verantwortlichen Ergebnis zu kommen, unterscheidet den gerichtlichen vom rein akademischen Diskurs.57 Die Wertungsgesichtspunkte der Richter für eine bestimmte Einzelfallentscheidung in diesem Abwägungsdiskurs gründen letztlich nicht in einer spezi47

Vgl. Jestaedt, Autorität (Fn. 40), S. 531; Hoffmann-Riem, Klugheit (Fn. 21), S. 18 f. Ausf. Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 86 ff., 136 ff. 49 Hoffmann-Riem, Klugheit (Fn. 21), S. 15. 50 Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 94 ff. 51 Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 171 ff. 52 Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 175 ff. – Allerdings erörtern manche Richter mit ihren Mitarbeitern vertrauensvoll die in den Senatsberatungen präsentierten Argumente und ermöglichen so manche Rückschlüsse, die sich auch im Kontakt unter den Mitarbeitern verschiedener Richter mehr oder weniger diffus verbreiten können. 53 Hoffmann-Riem, Klugheit (Fn. 21), S. 15; gleichsinnig Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 155 f., 171 f. 54 Vgl. Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 163 ff., 178 ff.; s. auch ders., Die Bedeutung von Interpretationsmethoden und Dogmatik in der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), S. 385 (390 ff.); ferner Steiner, Der Richter als Ersatzgesetzgeber, NJW 2001, S. 2919 (2923: „Pönalisierung der nichtjuristischen Argumentation“); Grimm, Politikdistanz als Voraussetzung von Politikkontrolle, EuGRZ 2000, S. 1 (2); Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 19), S. 502 f.; Kloepfer, Verfassungsausweitung und Verfassungsrechtswissenschaft, in: Rüthers/Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat. Festgabe Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 199 (207); s. aber auch Kriele, Theorie (Fn. 26), S. 195 ff. 55 Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 155; zur Parallele bei Verwaltungsentscheidungen vgl. Trute, Methodik (Fn. 45), S. 307 f. 56 Hoffmann-Riem, Klugheit (Fn. 21), S. 13; gleichsinnig Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 182 ff.; Grimm, Politikdistanz (Fn. 54), S. 2. Sie prägt auch noch die Praxis der Sondervoten, vgl. Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 190 ff. 57 Grimm, Politikdistanz (Fn. 54), S. 2 f. 48

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fisch methodisch-verfassungsrechtsdogmatischen Auffassung oder gar streng logisch korrekten Denkschritten,58 sondern auf einer Stufe davor „konstruktivistisch“ im Judiz, im Gerechtigkeitsempfinden, im politisch, sozial und philosophisch beeinflussten Vorverständnis von der Gewichtung der Argumente und der Richtigkeit eines Ergebnisses, die die methodische Wahl und die Darstellung der Entscheidungsgründe leiten, ohne dass sie in den Entscheidungsgründen ausgesprochen werden.59 Dieser voluntative Akt ist keine wissenschaftliche Aussage, sondern eine rechtsdogmatisch (wissenschaftlich) begründbare gerichtliche Einzelfallentscheidung. Der Berichterstatter hat deshalb erst danach die Aufgabe, im Sinne der Senatsmehrheit einen Entscheidungsentwurf mit Begründung zu entwerfen (auch wenn er anderer Meinung gewesen sein sollte oder noch ist); dieser Text wird dann in einer (in der GO-BVerfG nicht ausdrücklich geregelten, aber nach § 27 GO-BVerfG implizit möglichen) Leseberatung – mitunter Satz für Satz – vom Senat (oft schriftlich) erneut beraten mit der Folge, dass diese Leseberatung oft länger dauert als die Entscheidungsberatung60 und jeder Richter, als Ausdruck der von allen Senatsmitgliedern gemeinsam getragenen Entscheidung, die ihm wichtigen Gesichtspunkte im Begründungstext wiederfinden möchte, so dass ganze Urteilspassagen von anderen Senatsmitgliedern stammen können.61 Erst nach einer Konsensfindung über die schriftliche Begründung (teilweise mit vielen Mehrheitsabstimmungen über einzelne Formulierungen) und der Überzeugung, sämtliche Einigungsmöglichkeiten seien ausgeschöpft, wird die Entscheidung verkündet (veröffentlicht).62 Dieses zweiphasige Verfahren in allen Senatssachen verknüpft Wissenschaft und gerichtliche Entscheidung auf spezifische Weise: Während die Vorlage des Berichterstatters ergebnisoffen oder jedenfalls durch Offenlegung von Weichenstellungen unter möglichst umfassender Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung und einschlägigen Literatur (mit im Einzelfall bis zu 1000 Seiten Umfang) informiert und dabei an den Stand der Wissenschaft anknüpft,63 sucht die Entscheidungsbegrün58

Siehe auch schon Luhmann, Recht (Fn. 45), S. 54 ff., 59. Kranenpohl, Bedeutung (Fn. 54), S. 392; Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (Fn. 9), S. 26; Hesse, Einführung in die Rechtssoziologie, 2004, S. 125 ff., 132; Würtenberger, Auslegung (Fn. 21), S. 235 ff.; Kischel, Amt, Unbefangenheit und Wahl der Bundesverfassungsrichter, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 69 Rn. 37; Mahrenholz, Verfassungsinterpretation aus praktischer Sicht, in: Schneider/Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst, 1990, S. 53 (60 ff.); grdl. Kriele, Theorie (Fn. 26), S. 159 ff., 162 ff., 170 f., 310 f., 315 u. ö.; parallel für Richter im Common-Law-Rechtskreis vgl. Friedman, Judging the Judges: Some Remarks on the Way Judges Think and the Way Judges Act, in: Drobak (Ed.), Norms and the Law, 2006, S. 139 (152 f.); ausf. Posner, How Judges Think, 2008, S. 19 ff., 174 ff., 269 ff., pass. 60 Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 99. 61 Ausf. Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 98 ff., 137, 156 f., 217 f. – Auch Richter, die ein Sondervotum abgeben, beteiligen sich an der Leseberatung und sollen die Mehrheitsmeinung argumentativ zu stärken suchen, so Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 99 f. 62 Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 186 f. 63 Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 92 ff., 136 ff., 143 ff. 59

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dung das Ergebnis regelmäßig in einer Kontinuität mit der bisherigen Judikatur oder jedenfalls als verfassungsrechtsdogmatisch konsistent oder auch für zukünftige Streitfälle angemessen darzustellen,64 ohne die Deutungsoffenheit der Dogmatik mehr als notwendig zu verengen.65 Juristische Methodik hat weniger Bedeutung als Anleitung für die Herstellung der Entscheidung als für die juristische Konsistenz ihrer sprachlichen Darstellung und Begründung.66 Diese erfolgt oft in relativ abstrakten, mitunter selbst kompromisshaften Formulierungen in verallgemeinernder Form hinsichtlich der Maßstäbe, die die zeitliche und situative Abhängigkeit vom Kontext des Falles nicht mehr erkennbar werden lässt.67 Eine wissenschaftliche Diskussion findet in den Gründen allenfalls nur noch mittelbar insofern statt, als im Verfahren (schriftsätzlich oder in der mündlichen Verhandlung) vorgetragene Argumente aufgegriffen und zurückgewiesen werden, aber ohne solches durch Zitate wissenschaftlicher Literatur nachzuweisen. Diese zweiphasige Abschichtung von wissenschaftlich fundierter Diskussion und begründender Darstellung des Ergebnisses wird in einfacheren Fällen von vornherein einphasig zu einem begründeten Entscheidungsentwurf zusammengezogen, selten bei Senatssachen (§ 23 Abs. 1 S. 3 GO-BVerfG), stets aber bei Verfassungsbeschwerden, über die ganz überwiegend im schriftlichen Umlaufverfahren durch eine Kammer einstimmig entschieden wird,68 ob als unzulässig, unbegründet oder offensichtlich begründet: Stets wird der in diesem Verfahren besonders nachdrücklich präjudizierende Berichterstatter auf Basis der von seinen Mitarbeitern vorbereiteten Entscheidungsvoten von vornherein den Entscheidungsentwurf so begründen, dass die beiden anderen Richter der Kammer (ebenso wie später die Beschwerdeführer) durch die Plausibilität von Entscheidungsergebnis und -begründung auf der Linie der bisherigen, dementsprechend anhand der amtlichen Sammlung reich belegten, Judikatur überzeugt werden.69 Dann kann – wie regelmäßig – eine mündliche Beratung der Kammer ganz entbehrlich erscheinen,70 geschweige dass wegen fehlender Einstimmigkeit der Kammer der Senat mit der Sache befasst werden muss. Wenn offene 64 Hoffmann-Riem, Klugheit (Fn. 21), S. 16 f.; Würtenberger, Auslegung (Fn. 21), S. 236 f. – Ähnlich arbeiten die Schlussanträge der Generalanwälte beim EuGH mit Fußnotenapparat, der EuGH zitiert nur sich selbst, vgl. Jestaedt, Autorität (Fn. 40), S. 516 f. 65 Kranenpohl, Bedeutung (Fn. 54), S. 401 ff. 66 Vgl. Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (Fn. 9), S. 21 f., 25 f.; in anderer Akzentuierung Hoffmann-Riem, Methoden (Fn. 31), S. 21 f.; zum vergleichbar wechselseitigen Bewirkungszusammenhang am Beispiel von Verwaltungsentscheidungen Trute, Methodik (Fn. 45), S. 308 ff. 67 Ausf. Kritik bei Lepsius, Zur Bindungswirkung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, in: Scholz u. a. (Hrsg.), Realitätsprägung durch Verfassungsrecht, 2009, S. 103 (111 ff., 114 ff.); zust. Jestaedt, Autorität (Fn. 40), S. 519, 532 f. 68 Über 97 % aller Verfassungsbeschwerden werden durch Kammern erledigt, vgl. Jestaedt, Autorität (Fn. 40), S. 519. 69 Hoffmann-Riem, Klugheit (Fn. 21), S. 18 f.; ausf. Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 103 ff., 123 ff., 139 ff., 157 ff. 70 Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 124 f.

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Diskursivität ein Charakteristikum von Wissenschaft ist, dann ist die schriftliche Darstellung solcher Entscheidungen wohl keine Wissenschaft; jedenfalls dominiert der gerichtliche Entscheidungscharakter völlig. Das heißt nicht, dass der wissenschaftliche Mitarbeiter nicht auf Basis des Standes der Wissenschaft arbeitet. Die Literatur aus der Feder von Mitarbeitern verdeutlicht solches eindrucksvoll.71 Die Zielgerichtetheit des Verfahrensganges beeinflusst aber den Begründungsgang im Sinne einer frühzeitigen Geschlossenheit. 3. Verfassungsrechtsdogmatik Eine weitere gemeinsame Ebene der Begegnung von Verfassungsrechtswissenschaft und Judikatur ist die Verfassungsrechtsdogmatik als wissenschaftlich-methodisch erarbeitete Systematik der Judikatur in entscheidungsanleitender Perspektive zwecks zukünftiger Verwendbarkeit.72 Die Tradition dogmatischer Rechtsprechung entstand mit der Tradition dogmatischer Rechtswissenschaft, indem letztere die Einzelfallentscheidungen der Gerichte in ein System bringt, das in Gestalt einer Hierarchie von Begriffen und Aussagen für zukünftige Gerichtsentscheidungen einen immer weiter verfeinerten Lösungsrahmen vorhält,73 ohne dass die dogmatische Vielfalt jeden einzelnen Fall stets genau determinieren könnte. Die Verfassungsrechtsdogmatik gewann ihre zentrale Bedeutung mit der Bindung aller staatlichen Gewalt an ein Verfassungsgesetz und die Existenz einer umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit.74 Gerade der hohe Abstraktionsgrad verfassungsrechtlicher Normen ist auf dogmatische Konkretisierung im Blick auf den zu entscheidenden Konfliktfall angewiesen.75 Die Existenz von Verfassungsgerichtsbarkeit verschiebt die Verfassungsinterpretation qualitativ, insofern das Bundesverfassungsgericht eine Führungsstellung in Sachen Verfassungsinterpretation gewinnt.76 Das Grundgesetz gilt „praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt“.77 Die Entscheidungen suchen in dem ersten Abschnitt ihrer Entscheidungsgründe (C.I.) aus den abstrakten Normtexten des Grundgesetzes konkretisierende Untersätze im Blick auf den Fall, aber ohne aus71 Vgl. zuletzt etwa die Beiträge in: Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009; Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005. 72 Zu Begriff und Aufgaben der Verfassungsrechtsdogmatik siehe schon oben bei Fn. 8 ff.; weiter Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009, S. 26 ff., 29 ff., pass. 73 Vgl. Schlink, Abschied (Fn. 10), S. 160; zum deutschen geistesgeschichtlichen Hintergrund Wahl, Rechtsdogmatik (Fn. 5), S. 127 f. 74 Heun, Begriff (Fn. 8), S. 35 f.; Korioth, Integration und Bundesstaat, 1990, S. 246. 75 Siehe oben bei Fn. 27 ff. 76 Korioth, Integration (Fn. 74), S. 246 f.; s. schon Häberle, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1 (16). 77 Locus classicus: Smend, Das Bundesverfassungsgericht (1962), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 4. Aufl. 2010, S. 581 (582).

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drücklichen Bezug auf den Sachverhalt, abzuleiten und dabei generalisierende Sätze zu formulieren, unter die dann in den weiteren Entscheidungsgründen (unter C.II.) subsumiert werden kann.78 Die so im Wege generell-abstrakter Normauslegung gebildeten subsumtionsfähigen Obersätze unterfallen als „tragende Gründe“ der Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG, gehen in die Kommentarliteratur als verfassungsrechtsdogmatische Sätze ein und verdichten zunehmend den Korpus dessen, was das Bundesverfassungsgericht anscheinend schon entschieden hat. Gegenstand der Verfassungsrechtsdogmatik ist vor allem die theoretische Verarbeitung solcher tragenden Gründe „unterhalb“ des Normtextes. Verfassungsgerichtliche Entscheidungen haben so nicht nur eine streitentscheidende Funktion, sondern erklären die Rechtslage auch im Blick auf zukünftige Entscheidungen,79 ohne dass der zeitgeschichtliche Entstehungszusammenhang kontextualisiert würde.80 So liegt es in dieser Logik der verfassungsrechtsdogmatisch arbeitenden Wissenschaft, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu systematisieren und zu kanonisieren – andernfalls würde sie ihre rechtsdogmatische Aufgabe verfehlen. Aber auch das Gericht selbst trägt zu diesem Prozess durch die Ketten mit Eigenzitaten und durch ein eigenes Nachschlagewerk in Form von kontextunabhängig kanonisierten Rechtsprechungssätzen aus den Entscheidungsgründen – oft auch bloße obiter dicta – prägend dazu bei;81 faktisch bleiben dabei für den Benutzer wissenschaftliche Alternativen von vornherein ausgeblendet. Andererseits orientiert sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (auch) an verfassungsrechtsdogmatischen Leitlinien, die die Wissenschaft der Judikatur abgewonnen und oft erst auf dogmatische Begriffe gebracht hat – nicht immer ist der Gerichtspraxis in den Anfangsjahren die wegweisende Kraft ihrer Entscheidungsgründe im Moment der Entscheidungsfindung auch klar gewesen. Die Verfassungsrechtsdogmatik ermöglicht so eine konsistente Selbstbindung des Gerichts an seine Dogmatik und die in ihr verarbeiteten Präjudizien. Dogmatik ist ein „verlässliches Medium“ für die „erforderliche Kommunikation zwischen den rechtsanwendenden Instanzen“ wie etwa Gerichten und beratenden Anwälten,82 aber auch zwischen Bundesverfassungsgericht und

78 Krit. Lepsius, Bindungswirkung (Fn. 67), S. 111 ff.; ders., Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen?, in: Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (Fn. 9), S. 319 (355 ff.). 79 Siehe bereits Lerche, Stil (Fn. 22), S. 44 f. 80 Vgl. Nw. Fn. 67 und Lepsius, Staatsrechtslehre (Fn. 78), S. 337 f., 358 ff.; s. schon Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen, 1998, S. 78 ff. 81 Vgl. Schulze-Fielitz, Wirkung und Befolgung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: FS 50 Jahre BVerfG (Fn. 43), S. 385 (411); Luetjohann, Nicht-normative Wirkungen des Bundesverfassungsgerichts, 1991, S. 28 ff.; Schneider, Richter (Fn. 22), S. 311. 82 So Starck, Rolle (Fn. 8), S. 26, mit Verweis auf Behrends, Einführungsreferat: Das Bündnis zwischen Gesetz und Dogmatik und die Frage der dogmatischen Rangstufen, in: Behrends/Henckel (Hrsg.), Gesetzgebung und Dogmatik, 1989, S. 9 ff., der (Privatrechts-) Dogmatik aber gerade nicht entscheidungs-, sondern rechtsordnungsbezogen i.S. von Rechtsstrukturen erzeugend versteht, S. 14 ff.

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Staatsrechtslehre: Beide tragen als Autoren verfassungsdogmatischer Sätze zur Systembildung bei.83 Ein gelegentlich ausdrücklich offengelegter Wandel solcher Rechtsprechungstraditionen beruht weniger auf kasuistischer Beliebigkeit,84 sondern lässt sich regelmäßig mit einer verfeinerten Verfassungsdogmatik erklären und rechtfertigen. Allerdings darf man sich nicht der Illusion hingeben, die Lösung von Verfassungsstreitigkeiten lasse sich stets umstandslos aus Grundgesetz und Dogmatik „ableiten“. Das war noch nie so – ein abweichender Eindruck ex post beruht auf einer Abdunkelung früherer alternativer Gegenpositionen. Die Zwänge einer dogmatisch orientierten Judikatur wurden in neuester Zeit besonders plastisch sichtbar an der Wunsiedel-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Sie erfindet einerseits (waghalsig und methodisch kaum vertretbar) einen ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt neu, um andererseits zugleich eine jahrzehntelange Grundrechtsdogmatik zum Begriff der „allgemeinen Gesetze“ in Art. 5 Abs. 2 GG konsistent bewahren zu können – hier freilich wohl auch unter dem latenten politisch-psychologischen Druck, ein unerwünschtes, sonst gegenteiliges Ergebnis zu verhindern.85 Sie zeigt, dass unter Umständen ein (versteckter oder offener) Wandel der Verfassungsrechtsdogmatik erforderlich sein kann, um durch neue dogmatische Figuren neuen Herausforderungen gerecht zu werden.86 4. Wissenschaftler als Richter oder Richter als Wissenschaftler? Wissenschaftliche Diskurse und ihre Argumentationsstrukturen scheinen sich in der Person von Verfassungsrichtern, die Staatsrechtslehrer sind, mit ihrer Rolle als einzelfallentscheidender Richter zu vereinigen und so die Richtigkeit der Einzelfallentscheidung mit dogmatischer Konsistenz verbinden zu können. In diesem Sinne lässt sich Thomas Oppermann zufolge in solchen personellen Verbindungen die gegenseitige Einflussnahme zwischen Bundesverfassungsgericht und Staatsrechtslehre „in einem unmittelbaren Sinne“ beobachten87 (zumal Professoren nach § 3 Abs. 4 BVerfGG während ihrer richterlichen Amtszeit als solche weiterwirken dürfen). In der Tat lassen sich mitunter deutliche Spuren einzelner „Professoren-Richter“ in

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Hain, Systematische Rekonstruktion des Verfassungsrechts als Aufgabe der Verfassungsrechtsdogmatik, in: Starck, Rolle (Fn. 8), S. 45 (49); Badura, Dogmatik (Fn. 11), S. 155. 84 So aber Schlink, Abschied (Fn. 10), S. 161 (Das BVerfG „befreit sich von jeder Selbstbindung“.). 85 BVerfGE 124, 300 (321 ff.), mit vorzüglich erhellenden Analysen von Lepsius, Einschränkung der Meinungsfreiheit durch Sonderrecht, Jura 2010, S. 527 (529 ff., 535), und Hong, Das Sonderrechtsverbot der Standpunktdiskriminierung – der Wunsiedel-Beschluss und aktuelle versammlungsgesetzliche Regelungen und Vorhaben, DVBl. 2010, S. 1267 ff. 86 Vgl. etwa neuestens auch BVerfG, NJW 2010, 3422 (3424 ff.) – Honeywell. 87 Oppermann, Bundesverfassungsgericht (Fn. 43), S. 422.

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der Judikatur – teilweise freilich recht spekulativ – nachweisen,88 doch liegt darin nicht schon als solche eine Besonderheit der Wirkungen der Staatsrechtslehre auf die Gerichtspraxis: Für alle Richter darf ein Rückgriff auf wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Stützung der eigenen Auffassung im Blick auf anstehende Entscheidungen ebenso unterstellt werden wie eine überzeugungskräftige Persönlichkeit, die andere Senatsmitglieder für die Richtigkeit der eigenen Auffassung zu gewinnen sucht, und für alle Berichterstatter gilt grundsätzlich, dass sie durch ihre den innergerichtlichen Diskurs prägenden Vorgaben ein gewisses Übergewicht haben und ihre Zuständigkeitsbereiche stärker prägen können als die anderen Richter.89 Besonderheiten bestehen einmal dann, wenn ein „Professoren-Richter“ im Diskurs mit seinen Senatskollegen die eigene Ansicht (sei es von einem Ergebnis, sei es von einer spezifischen Argumentationsstruktur) auf Basis eigener origineller Vorveröffentlichungen entscheidend prägen, also eine zunächst eher als Minderheitsmeinung einzuschätzende Sichtweise zur Senatsrechtsprechung erheben kann. Solches lässt sich aber nur selten nachweisen, etwa für Gerhard Leibholz Verständnis von der gleichen Rechtsstellung der politischen Parteien,90 der besseren Gleichheitsorientierung der Verhältniswahl91 und den Gleichheitssatz als auch für den parlamentarischen Gesetzgeber verbindliches Willkürverbot,92 für die den „Halbteilungsgrundsatz“ im Steuerrecht verfassungsrechtlich aus Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG ableitenden Theorien von Paul Kirchhof93 oder auch seine Begriffsprägung „Staatenverbund“94, 88 Vgl. Oppermann, Bundesverfassungsgericht (Fn. 43), S. 429 ff. an den Beispielen der zehn Staatsrechtslehrer, die in den ersten fünf Jahrzehnten am Gericht gewirkt haben und nach Ablauf der Amtszeit ausgeschieden sind: Martin Drath, Ernst Friesenhahn, Gerhard Leibholz, Konrad Hesse, Helmut Steinberger, Roman Herzog, Dieter Grimm, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Hans Hugo Klein und Paul Kirchhof. 89 Vgl. Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 133 ff. – Die einflussreichsten Senatsmitglieder scheinen oft eher die originären Richterpersönlichkeiten mit langjähriger richterlicher Berufserfahrung zu sein. 90 Vgl. Oppermann, Bundesverfassungsgericht (Fn. 43), S. 433; dazu Leibholz, Der Strukturwandel der modernen Demokratie (1952), in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967, S. 78 (89 ff. u. ö.); BVerfGE 1, 208 (mit Zitaten S. 225, 249); 4, 27 ff. (Plenarbeschluss); 8, 51; 14, 105; 16, 130; 24, 300; bei der gegenläufigen Entscheidung BVerfGE 20, 56 wirkte Leibholz wegen Besorgnis der Befangenheit nicht mit, vgl. BVerfGE 20, 1; zu den historischen Linien Morlok, Entdeckung und Theorie des Parteienstaates, in: Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, 2003, S. 238 (241 ff., 247 ff.); Schefold, Geisteswissenschaften und Staatsrechtslehre zwischen Weimar und Bonn, in: Acham/Nörr/Schefold (Hrsg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste, 1998, S. 567 (587 f.). 91 BVerfGE 1, 208 (241 ff.), im Anschluss an Leibholz, Die Grundlagen des modernen Wahlrechts, VVDStRL 7 (1932), S. 159 ff. (auch in: ders., Strukturprobleme [Fn. 90], S. 9 ff.). 92 Vgl. BVerfGE 1, 14 (15, 52), st. Rspr. und Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1925), 2. Aufl. 1959, S. 72 ff. 93 Vgl. BVerfGE 93, 121 (149) – Einheitswerte II; 93, 165 (172 ff.) – Erbschaftsteuer; Kirchhof, Staatliche Einnahmen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IV, 1. Aufl. 1990, § 88 Rn. 88 ff.; ders., Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39 (1981), S. 213 ff.

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für das für demokratische Legitimation unter dem Grundgesetz konstitutive Konstrukt einer „Legitimationskette“, die sich auf Ernst-Wolfgang Böckenförde zurückführen lässt,95 oder etwa auch für den Versuch, durch eine Engführung der grundrechtlichen Schutzbereiche96 und/oder des Eingriffsbegriffs97 den Grundrechtsschutz von gesetzgeberischen Rechtfertigungslasten bei Grundrechtseingriffen auch in politisch unproblematischen Fallkonstellationen auf das vermeintlich Wesentliche zu konzentrieren. Besonderheiten bestehen zudem, wenn der Wissenschaftler im Richter diesen dominiert. Das kann teils dazu führen, dass er „missionarisch“ agiert und primär von seinem persönlichen theoretisch-dogmatischen Gerüst her den Konfliktfall unter Vernachlässigung von entgegenstehenden Gesichtspunkten der Einzelfallgerechtigkeit entscheiden will, teils können Urteilsgründe zu wissenschaftlichen Traktaten anwachsen, die weit mehr als nur den Einzelfall entscheiden wollen.98 Solche Einzelfälle sind nach außen besonders sichtbar (und [fach-]öffentlich [selbst-]darstellbar), erlauben aber nicht schon einen generellen Rückschluss auf die dauerhafte Einflusshöhe des einzelnen Richters im Senat. Aus vielen Gründen ist ein wissenschaftlich oder theoretisch in sich konsistentes Urteil nur selten erreichbar, wofür die fallorientierte Sichtweise im Common-LawRechtskreis mehr Sensibilität entwickelt hat99 als ein kodifikatorisch geprägtes 94 Vgl. BVerfGE 89, 155 (181, 183 ff., 188, 190) und Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 1. Aufl. 1992, § 183 Rn. 38, 50 ff., 66 ff. 95 Vgl. BVerfGE 93, 37 (65 ff.) – Mitbestimmungsgesetz Schleswig-Holstein, im Anschluss an Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, 1. Aufl. 1987, § 22 Rn. 11 ff.; s. auch zum Volksbegriff ebd. § 22 Rn. 27 f. und BVerfGE 83, 37 (50 ff.) – Ausländerwahlrecht I; 83, 60 (71 ff.) – Ausländerwahlrecht II. 96 Vgl. BVerfGE 105, 252 (265 ff.); 105, 279 (292 ff., 298 ff.); 106, 275 (298 ff.) und Hoffmann-Riem, Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch, Der Staat 43 (2004), S. 203 (217 f., 229). 97 Vgl. BVerfGE 105, 252 (265 ff., 273); 105, 279 (299 ff.); 106, 275 (302 ff.); 113, 63 (78) und Hoffmann-Riem, Grundrechtsanwendung (Fn.96), S. 221 ff., 229 f.; ders., Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, in: Bäuerle u. a. (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht?, 2004, S. 53 (71 ff.). 98 Vgl. am Beispiel des Lissabon-Urteils (BVerfGE 123, 367): Häberle, Das restrospektive Lissabon-Urteil als versteinernde Maastricht II-Entscheidung, JöR 58 (2010), S. 317 (321): „wie eine habilitationsgleiche Leistung“; Oppermann, Den Musterknaben ins Bremserhäuschen! – Bundesverfassungsgericht und Lissabon-Vertrag, EuZW 2009, S. 473 („wie ein Lehrbuch“); Jestaedt, Warum in die Ferne schweifen, wenn der Maßstab liegt so nah?, Der Staat 48 (2009), S. 497 (501 ff.); Schönberger, Die Europäische Union zwischen „Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot, Der Staat 48 (2009), S. 535 (553), in Aufnahme der Formulierung in einem Sondervotum Lübbe-Wolff BVerfGE 112, 1 (44): „Der Senat antwortet auf Fragen, die der Fall nicht aufwirft, mit Verfassungsgrundsätzen, die das Grundgesetz nicht enthält.“ – Damit soll und kann nicht behauptet werden, ein Berichterstatter allein könne sich umstandslos mit wissenschaftlichen Traktaten durchsetzen, wohl aber vermutet werden, dass er mitunter auch in wichtigen Fragen Diskussionen zumindest maßgeblich vorprägen kann. 99 Vgl. etwa Posner, Judges (Fn. 59), S. 230 ff.; Sunstein, One Case at a Time, 1999, S. 3 ff., 61 ff. u. ö.

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Rechtssystem, das mit der eher idealistischen Prämisse einer systematischen und stringenten Ableitbarkeit der Richtigkeit von Einzelfallentscheidungen kraft Bindung an positiviertes Recht arbeitet. Schon die Einigung eines gerichtlichen Spruchkörpers mit zahlreichen Mitgliedern von sehr unterschiedlicher weltanschaulicher Provenienz auf eine gemeinsame Theorie ist in höchstem Maße unwahrscheinlich.100 Sicher wird man auf der hochabstrakten Ebene etwa der Wertungen des Grundgesetzes einen Konsens finden, doch divergieren die allgemeinen Folgerungen daraus, erst recht auf der Ebene der Entscheidung eines Konfliktes im Einzelfall. Ein Mindestmaß an Übereinstimmung mit bindendem Anspruch wird sich nur durch einen überlappenden Konsens101 unter Zurückstellung der grundsätzlichen weltanschaulichen oder theoretischen Divergenzen finden lassen. Die Herstellung der an einer Fülle von Klugheitsgesichtspunkten orientierten juristischen Einzelfallentscheidung erzwingt nicht nur einen Verzicht auf eine umfassende Theorie als Entscheidungsgrundlage, auch wenn die nachträgliche Darstellung in der Begründung (begrenzt) eine systematische Konsistenz anstrebt; der (unvermeidliche) Verzicht auf eine umfassende Theorie ermöglicht so gerade auch Flexibilität bei späteren Entscheidungen.102 Wenn Richter es kraft ihrer „durchsetzungsfähigen Persönlichkeit“103 schaffen, einen ganzen Senat auf ihre bestimmte wissenschaftliche Theorie mit fallübergreifendem Anspruch zu verpflichten, ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass die (unübersehbaren und übersehenen) Folgeprobleme zur stillschweigenden oder ausdrücklichen programmatischen Revision veranlassen – man denke an den „Halbteilungsgrundsatz“104 oder an die Modifikationen der Rechtsprechung zur demokratischen Legitimation;105 das gilt aber wohl absehbar auch zur Entbehrlichkeit der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bei staatlichen Eingriffen durch ein verengtes Verständnis des Schutzbereichs von Art. 12 Abs. 1 GG,106 zumal wenn dieser neueste Rechtsprechungspfad von einer äußerst breiten Front von Kritikern begleitet wird.107 100 Hoffmann-Riem, Klugheit (Fn. 21), S. 20; Hesse, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 39 (1981), S. 207 f. Deshalb spielen auch juristische Schulen für die Ergebnisse der Senatsberatungen offenbar keine Rolle (mehr), vgl. Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 242 ff. 101 Vgl. grdl. Rawls, Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses (1987), in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, 1992, S. 293 ff. 102 Vgl. Sunstein, Practical Reason and Incompletely Theorized Agreements, in: UllmannMargalit (Hrsg.), Reasoning Practically, 2000, S. 98 ff.; ders., Case (Fn. 99), S. 11 ff. 103 Oppermann, Bundesverfassungsgericht (Fn. 43), S. 455. 104 Vgl. BVerfGE 115, 97 (108 ff.) mit BVerfGE 93, 121 (138). 105 Vgl. BVerfGE 107, 59 (86 ff.) mit BVerfGE 93, 37 (65 ff.). 106 Nw. oben Fn. 97 und jetzt Achatz, Anmerkung zum Beschluss des BVerfG vom 31. 8. 2009, DVBl. 2009, S. 1443 (1443 f.). 107 Vgl. zuletzt etwa die Nw. bei Schoch, Informationszugangsfreiheit des Einzelnen und Informationsverhalten des Staates, AfP 2010, S. 313 (321 ff. m. Nw. dort in Fn. 2); ausf. ders., Entformalisierung staatlichen Handelns, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 37 Rn. 72 f., 111 ff.; Ruffert, Zur Leistungsfähigkeit der Wirtschaftsverfassung, AöR 134 (2009), S. 197 (223 ff.); ausf. Nw. bei Kahl, Neuere Entwicklungen der Grundrechtsdogmatik, AöR 131 (2006), S. 579 (599 ff., 605 ff.).

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5. Das Gericht als Institution im Blickfeld wissenschaftlicher Kritik Kennzeichen für die bislang skizzierten Ebenen des Kontaktes zwischen Wissenschaft und Rechtsprechung ist die Sicht aus einer individuellen Handlungsperspektive des Rechtsanwenders/Richters. Davon lassen sich wissenschaftliche Analysen der Rolle des Bundesverfassungsgerichts als Institution oder Kollektivorgan unterscheiden. Verfassungsdogmatisch geht es insoweit um die Rolle der Institution Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Gewaltenteilung, etwa um Fragen der Reichweite der Verrechtlichung von Politik oder der Rolle des Gerichts als Schiedsrichter im politischen Prozess mit Integrationswirkungen,108 politiktheoretisch oder geschichtswissenschaftlich um das Gericht als machtvoller politischer Akteur im demokratischen Verfassungsstaat.109 Eine solche Überschreitung der individuellen Handlungsperspektive hat keine unmittelbar entscheidungsanleitende Funktion, kann aber selbstreflexive Rückwirkungen auf die richterliche Entscheidungsperspektive entfalten.110 Eine enge Verknüpfung von verfassungsprozessrechtlicher, verfassungsdogmatischer und verfassungspolitischer Argumentation findet sich dort, wo das Bundesverfassungsgericht als Institution zum Gegenstand von Reformüberlegungen wird.111 Die kritisch-resignative Beobachtung, dass der Gesetzgeber nichts regelt, was nicht vorher die Zustimmung des Bundesverfassungsgerichts selbst findet112 und damit Alternativen auf die Insiderperspektive verengt,113 macht wissenschaftliche Überlegungen nicht sinnlos, stößt unter solchen Umständen aber auf dieselben Grenzen wie Rechtsprechungsänderungen: Nur die Richter selbst können über eine solche Reform von innen entscheiden.114 III. Einige Folgerungen 1. Zitierpraxis des Bundesverfassungsgerichts Es gehört einerseits seit langem zur Kritik aus der Wissenschaft am Bundesverfassungsgericht, dass es sich mit der wissenschaftlichen Literatur zu wenig zitierend aus-

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Vgl. Schulze-Fielitz, Wirkung (Fn. 81), S. 408 f., 412 ff. Siehe etwa Brodocz, Macht (Fn. 3), S. 139 ff.; Kneip, Verfassungsgerichte als demokratischer Akteur, 2009; Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007; Gawron/Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007; Grigoleit, Bundesverfassungsgericht (Fn. 18), S. 109 ff., 167 ff. 110 Siehe z. B. jüngst das Sondervotum Landau im Honeywell-Beschluss: BVerfG, NJW 2010, 3428 (3428, 3429). 111 Übersichtlich Wahl, Die Reformfrage, in: FS 50 Jahre BVerfG (Fn. 43), S. 461 ff. (auch in: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 213 ff.). 112 So schon Roellecke, Zum Problem einer Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit, JZ 2001, S. 114 (115); Gleiches gilt für die Richterwahl, vgl. Luetjohann, Wirkungen (Fn. 81), S. 137. 113 Wahl, Reformfrage (Fn. 111), S. 477. 114 Wahl, Reformfrage (Fn. 111), S. 482 ff. 109

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einandersetze.115 Immerhin lässt sich beobachten, dass mit der Zunahme der Zahl von Hochschullehrern als Richter seit Anfang der 1980er Jahre zunehmend verfassungsrechtliches Schrifttum zitiert wird.116 Auch wird im Vergleich mit dem Europäischen Gerichtshof positiv vermerkt, dass das Gericht in vielen wichtigen Verfahren die Quellen offen lege, aus denen es bei der Entscheidungsfindung geschöpft habe.117 Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Funktionen von Wissenschaft und Gerichtsurteilen (und von Entscheidungs- und Leseberatung) ist die Tendenz, die Literatur in Form von Fundstellennachweisen nur sporadisch zu zitieren, plausibel: Beschlüsse und Urteile sind keine wissenschaftlichen Traktate,118 in denen das Bundesverfassungsgericht sich als ein „Dialogpartner auf Augenhöhe“119 erweisen müsste, dessen „Nobilitierung“ wissenschaftlicher Einsichten durch deren Zitierung in Entscheidungsgründen gar Ausdruck von „subtilen Mechanismen wechselseitiger Stabilisierung“ sein soll.120 Für die Überzeugungskraft der Entscheidung sind die Belege für Rechtsprechungskontinuität durch Selbstzitate weit wichtiger, um Konstanz und Kohärenz, Konsequenz und Konsistenz der Rechtsprechung darzustellen und damit das Vertrauen in die Rechtsordnung zu stärken.121 Fehlt es an einer solchen, können positive Belege für die Richtigkeit der (eigenen) Auffassung in der Entscheidung solche Entscheidungsbelege ersetzen122 – ein „a.A.“ mit Verweis auf Literatur im Kon-

115 Z. B. Bethge, Staatsrechtslehre (Fn. 42), S. 441; Häberle, Lissabon-Urteil (Fn. 98), S. 323, 326, 329, 330, 334 u. ö.; ders., Verantwortung und Wahrheitsliebe im verfassungsjuristischen Zitierwesen, in: Horn (Hrsg.), Recht im Pluralismus. FS für Walter Schmitt Glaeser, 2003, S. 395 (397 f.); Schoch, Gemeinsamkeiten (Fn. 27), S. 189 mit Fn. 68; Lerche, Rechtswissenschaft (Fn. 15), S. 650; Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 19), S. 352 f.; Rupp, Zum „Mephisto-Beschluß“ des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 1972, S. 66 (67); s. schon Kriele, Theorie (Fn. 26), S. 292; parallel für die höchstrichterliche Verwaltungsrechtsprechung: Erichsen, Das Bundesverwaltungsgericht und die Verwaltungsrechtswissenschaft, DVBl. 1978, S. 569 (571 f.); ders., Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Verwaltungsrecht, VerwArch 67 (1976), S. 93 (103 f.); Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 7 (34). 116 So Luetjohann, Wirkungen (Fn. 81), S. 23, 27, 123. 117 Oppermann, Bundesverfassungsgericht (Fn. 43), S. 423; ähnlich im Rechtsvergleich Jestaedt, Autorität (Fn. 40), S. 518; Nußberger, Wer zitiert wen? – Zur Funktion von Zitaten bei der Herausbildung gemeineuropäischen Verfassungsrechts, JZ 2006, S. 763 (764 f.). 118 Schmidt, Grundrechte – Theorie und Dogmatik seit 1946 in Westdeutschland, in: Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, S. 188 (193); Geiger, Vom Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts, 1979, S. 5; s. auch Luetjohann, Wirkungen (Fn. 81), S. 124, 166; zur Parallele verwaltungsgerichtlicher Urteile Redeker, Pflichtlektüre?, NJW 1976, S. 2200. 119 So Jestaedt, Autorität (Fn. 40), S. 517. 120 So Jestaedt, Autorität (Fn. 40), S. 527; s. auch Luetjohann, Wirkungen (Fn. 81), S. 102, 125 f. 121 Jestaedt, Autorität (Fn. 40), S. 526 f., 530; Kranenpohl, Bedeutung (Fn. 54), S. 398 ff.; Schulze-Fielitz, Wirkung (Fn. 81), S. 393; das gilt auch für das Bundesverwaltungsgericht, vgl. Schulze-Fielitz, Notizen (Fn. 4), S. 434. 122 Vgl. Jestaedt, Autorität (Fn. 40), S. 527.

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trast zu den eigenen Argumenten hat in den Entscheidungsgründen nichts verloren.123 Sie sollen auf vertiefende Argumente verweisen, die die Entscheidung nicht umfassend aufnehmen kann, nicht aber wissenschaftliche Originalität beurteilen: Für die Entscheidung und ihr Ergebnis ist irrelevant, ob und bei welchem Autor der Senat auf einen Gedanken gekommen ist, so dass das Gericht manches ohne Zitat übernehmen „darf“.124 Zudem müssen Zitate offen lassen, in welchem Umfang sich eine Entscheidung literarische Ansichten und ihren „Wurzelgrund“ zu eigen machen will.125 Auch stellt sich oft das Problem des unendlichen Regresses, wenn ein Autor zur Referenzgröße für einen Begriff gemacht wird, den dieser nur übernommen hat.126 Zudem kann sich der Inhalt gleichbleibender Begriffe unmerklich verschieben. Ein völlig fehlender Nachweis für eine Begriffsverwendung kann eher „Klassikerstatus“ andeuten.127 Für eine (ausdrückliche) Zurückweisung von Argumenten bedarf es erst recht keiner Literaturhinweise. Etwas anderes gilt für Sondervoten: Sie verdeutlichen, dass es alternative Möglichkeiten der Verfassungsinterpretation gibt und legen die Alternativen ausdrücklich offen, um eine weitere wissenschaftliche Diskussion der zu Grunde liegenden Kontroverse zu fördern;128 dem entspricht, dass Sondervoten eine höhere Dichte von Zitaten aufweisen.129

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Die Entscheidungsgründe verzichten deshalb zu Recht durchgängig darauf (anders als mitunter die Sachverhaltsdarstellungen). 124 So Häberle, Laudatio, in: Schneider/Steinberg, Verfassungsrecht (Fn. 59), S. 107 (128) mit Beispielen. 125 Vgl. zum Problem Schulze-Fielitz, Notizen (Fn. 4), S. 430 f. 126 Vgl. etwa den Verweis zum Begriff „Untermaßverbot“ von BVerfGE 88, 203 (254) auf Isensee in: Handbuch des Staatsrechts, Band V, 1. Aufl. 1992, § 111 Rdnrn. 165 f., der den Begriff explizit aber nur von Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), S. 201 (228) übernommen hat; begrifflich prioritär: Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 15. 127 Vgl. z. B. Hesses „praktische Konkordanz“ ohne jeden Hinweis (auch schon in den Stellungnahmen der Beteiligten) in: BVerfGE 59, 231 (262); 93, 1 (21); 95, 335 (403); 115, 205 (240, 241, 250); 122, 89 (107); ähnlich Lerches „schonender Ausgleich“: BVerfGE 112, 118 (145, 159); zuerst E 39, 1 (43); Ipsens Begriffsbildungen „Staatszielbestimmung“ in: BVerfGE 36, 321 (331); 81, 108 (116), und „Drittwirkung“ in BVerfGE 7, 198 (204); 27, 253 (275) noch in Anführungszeichen, später ohne: BVerfGE 73, 261 (269); 89, 1 (13); 104, 65 (73). Schon das Lüth-Urteil dürfte zum Begriff „Güterabwägung“ von Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, VVDStRL 4 (1928), S. 44 (52) inspiriert worden sein. 128 Vgl. Hoffmann-Riem, Klugheit (Fn. 21), S. 14; gleichsinnig schon Häberle, Recht aus Rezensionen, in: ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 1 (26 f.). 129 Jestaedt, Autorität (Fn. 40), S. 524 f. (Gleiches gilt für 4 : 4-Entscheidungen, vgl. ebd. S. 527); Lerche, Rechtswissenschaft (Fn. 15), S. 651.

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2. Entscheidung und Grenzen wissenschaftlicher Entscheidungskritik Es gehört zum „basso continuo“ in der Diskussion innerhalb der Staatsrechtslehre, dass diese zu sehr im Banne des Bundesverfassungsgerichts stehe130 und sich auf einen „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ beschränke.131 Dieser „Gerichtspositivismus“ ist nichts anderes als der Ausdruck der Normalität der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihrer Bedeutung für die Praxis des Alltags.132 Diese Orientierung an den Ergebnissen der Rechtsprechung gewährleistet angesichts der ungesicherten methodischen Offenheit der Verfassungsauslegung und der Weite der Argumentationsmöglichkeiten einen gewissen Rahmen gegenüber zu großen Beliebigkeiten.133 Eine zentrale Aufgabe der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts ist ihr Auftrag zur formalen Rationalität: Systematische Folgerichtigkeit, Widerspruchsfreiheit und argumentative oder methodische Konsistenz, etwa auch nach Maßgabe der herkömmlichen juristischen Methodik, sind als wissenschaftsimmanente Maßstäbe für den kritischen wissenschaftlichen Diskurs charakteristisch.134 Ebenen dieser dogmatischen Kritik an der Rechtsprechung sind nicht nur eine Fülle von einzelnen Entscheidungsrezensionen, sondern auch monographische Grundsatzarbeiten zu bestimmten Grundansätzen (etwa zu Grundrechten als „Wertsystem“ oder „Wertordnung“135), generell zur Dominanz und Handhabung der „Abwägung“,136 oder zu bestimmten Rechtsprechungsfeldern (etwa – besonders häufig – zur Rundfunkjudikatur137 oder zum Verhältnis von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz138). Von einer feh130 Vgl. etwa Pauly, Verfassungs- und Verfassungsprozeßrecht, in: Willoweit, Rechtswissenschaft (Fn. 8), S. 883 (883 f.); Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus (Fn. 6), S. 189; Oppermann, Bundesverfassungsgericht (Fn. 43), S. 459 f.; Isensee, Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, in: Wieser/Stolz (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, 2000, S. 15 (18); Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland – von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, 1998, S. 83; Kloepfer, Verfassungsausweitung (Fn. 54), S. 205; Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 19), S. 109; s. auch Kersten, Warum Georg Jellinek?, in: Anter (Hrsg.), Die normative Kraft des Faktischen, 2004, S. 175 (175); Lerche, Rechtswissenschaft (Fn. 15), S. 649. 131 Begriff zuerst bei Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989), S. 161 (163, 164, 168 ff., pass.); vgl. auch ders., Abschied (Fn. 10), S. 162. 132 Schoch, Gemeinsamkeiten (Fn. 27), S. 186, 198 f.; Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 19), S. 353. 133 Heun, Fortbildung (Fn. 40), S. 128; Lerche, Rechtswissenschaft (Fn. 15), S. 651. 134 Ossenbühl (Fn. 26), § 15 Rn. 38; ausf. zu den verschiedenen Dimensionen Häberle, Recht (Fn. 128), S. 13 ff. 135 Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973, S. 50 ff. 136 Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, 2004, S. 12 ff., pass. (im Gewand einer Literaturkritik); Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 127 ff. 137 Hain, Rundfunkfreiheit und Rundfunkordnung, 1993. 138 Siehe jetzt wieder Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, 2008, S. 197 f.; ausf. etwa J. Isensee, Grundrecht auf Ehre, in: Ziemske u. a. (Hrsg.), Staatsphiloso-

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lenden Rechtsprechungskritik in der wissenschaftlichen Literatur kann keine Rede sein.139 Dauer und Intensität wissenschaftlicher Kritik an einer Rechtsprechungslinie sind vielmehr ein wichtiger Indikator für die Akzeptanz einer Rechtsprechung. Völlig einhellige Kritik140 mag Wiederholungen verhindern. Das Bundesverfassungsgericht ist insoweit mangels eigener Durchsetzungsmacht auf die Akzeptanz anderer Verfassungsorgane und der politischen Öffentlichkeit angewiesen;141 dabei ist der Stand der Kritik der Staatsrechtslehre ein wichtiges Medium.142 Eine wesentliche Teilaufgabe der Staatsrechtslehre ist es, die Vielfalt der Rechtsprechung zu sichten und zu systematisieren. Es geht vor allem um kritische Nachbereitung der Gerichtsentscheidungen.143 Diese werden zu Recht oft zum Maßstab vieler scharfsinniger Urteilskritiken, doch können solche die „unwissenschaftliche“ Eigenlogik judikativen Entscheidens in einem pluralistisch zusammengesetzten Kollegialorgan nicht wirklich in Rechnung stellen144 – „es gibt eben Unterschiede zwischen Literatur und gerichtlicher Praxis“.145 Denn auch wenn durch einen überlappenden Konsens im Senat ein einmütiges Ergebnis erreicht werden kann, so bedeutet das noch lange keine Einmütigkeit für jede einzelne methodische Vorgehensweise oder rechtsdogmatische Ableitung mit der Folge, dass die genannten Kriterien formaler Rationalität verfehlt werden können,146 und sei es nur infolge der Knappheit der Zeit oder der Erfordernisse kollegialer Gruppendynamik. Die Verfassungsjudikatur muss nicht theoretischen Letztbegründungen folgen, sondern kann „pragmatische Vermittlungen“ herstellen.147 Die Darstellung der Entscheidung mag dann defizitär werden – die Richtigkeit des Ergebnisses aufgrund des Herstellungsprozesses bleibt davon unberührt. Deshalb können kritische und wissenschaftlich richtige Entscheidungsrezensionen im Ergebnis praktisch völlig bedeutungslos bleiben und allenfalls

phie und Rechtspolitik. Festschrift für Martin Kriele, 1997, S. 5 ff.; Kriele, Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, NJW 1994, S. 1897 ff.; zu den Gründen der eher nachrangigen Bewertung des Ehrenschutzes vgl. ausf. Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG I, 2. Aufl. 2004, Art. 5 I, II Rn. 278 ff. 139 Ausf. Belege bei Schoch, Gemeinsamkeiten (Fn. 27), S. 187 ff., 202 f. m.w.N. 140 Beispiel: an der Verbindlicherklärung sämtlicher Urteilsgründe in: BVerfGE 36, 1 (36) – Grundlagenvertrag. 141 Heun, Fortbildung (Fn. 40), S. 128. 142 Vgl. Hofmann, Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis 1990, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR I, 3. Aufl. 2003, § 9 Rn. 63. 143 Vgl. Lerche, Rechtswissenschaft (Fn. 15), S. 651; Häberle, Recht (Fn. 128), S. 12. 144 Zum Problem Jestaedt, Ferne (Fn. 98), S. 514 f.; Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 19), S. 214. 145 Wahl, Die Schwebelage im Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten, Der Staat 48 (2009), S. 587 (607); s. auch Nw. in Fn. 3 ff. 146 Hoffmann-Riem, Klugheit (Fn. 21), S. 20; Mahrenholz, Verfassungsinterpretation (Fn. 59), S. 61. 147 So Wißmann, Zuordnung und Organisation von Verantwortung im Sozialverwaltungsrecht, Die Verwaltung 42 (2009), S. 377 (382).

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den zukünftigen Argumentationsgebrauch beeinflussen. Die Differenz von Wissenschaft und judikativer Entscheidung lässt sich insoweit nicht überbrücken. Statt „bloßer“ Methodenkritik folgt aus der „zeitlosen“ Systematisierung und Kanonisierung von Sätzen aus den Entscheidungsgründen vielmehr verstärkt die Aufgabe für die Wissenschaft zu einer Akzentuierung der Entscheidungskritik, die der Differenz von Herstellung und Darstellung stärker gerecht wird. So ist vor allem die fallbezogene Relativität der dogmatischen Begründungssätze zu verdeutlichen, um alternative dogmatische Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten alternativer Begründbarkeiten für die Zukunft aufzuzeigen.148 Dazu gehört weiter, die vom Gericht regelmäßig nur mit „vgl. …“ aneinandergereihten Entscheidungsketten zu hinterfragen,149 insofern sie nicht nur identische Rechtsprechungssätze wiederholen, sondern subkutan modifizieren und Scheinkontinuitäten darstellen. Zudem wäre wissenschaftlich oft vertiefungsfähig, welche Gründe als bloße „obiter dicta“ aufzufassen sind, weil das Ergebnis auch ohne sie gültig wäre: So kann der Tendenz zur Überschreitung der Entscheidungskompetenz begegnet werden.150 Auch wäre statt auf die dogmatischen Rechtsprechungssätze oder systematischen Entscheidungskriterien gemäß der Vorgehensweise im Common-Law-Rechtskreis stärker auf die unterschiedlichen Sachverhalte einzugehen, um die unterschiedlichen Wertungen oder fehlenden Differenzierungsnotwendigkeiten offenzulegen.151 Dazu gehört es vor dem Hintergrund der oft miteinander vermischten empirischen und normativen Aussagen auch, die meist impliziten, aber erkennbar falschen oder bloß behaupteten Sachverhaltsannahmen in den Entscheidungsgründen bei Abwägungen und Normkonkretisierungen offenzulegen.152

3. Personelle Zusammensetzung der Senate Die geringe juristisch-methodische Disziplinierbarkeit der verfassungsrichterlichen Tätigkeit legt Rahmenbedingungen in Form von Organisations- und Verfahrensregeln der Entscheidungsfindung nahe, die über jene notwendigen Kontakte zwischen Gericht und Wissenschaft hinaus eine fruchtbare Ausbalancierung der Spruchkörper gewährleisten oder fördern.153 Unter diesem Aspekt ist der für das Bundesverfassungsgericht praktizierte Modus der Richterwahl kaum zu überschätzen, weil die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit in den Wahlgremien als Mittel der Mäßigung eine 148 Beispielhaft: Lepsius, Einschränkungen (Fn. 85), und Hong, Sonderrechtsverbot (Fn. 85). 149 Siehe schon Luetjohann, Wirkungen (Fn. 81), S. 42 f., 107, 110 f. mit Fn. 560. 150 Krit. zu obiter dicta schon Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 19), S. 371 ff. 151 So jetzt Wahl, Rechtsdogmatik (Fn. 5), S. 134 ff.; gleichsinnig Lepsius, Staatsrechtslehre (Fn. 78), S. 320 ff., 335 ff., 349 ff. 152 So jetzt Petersen, Braucht die Rechtswissenschaft eine empirische Wende?, Der Staat 49 (2010), S. 435 (442 ff., 448 ff.) zu Beispielen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 153 Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (Fn. 9), S. 26.

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einseitige politische Zusammensetzung und polarisierende Richter verhindert154 und so eine Pluralisierung der Senate fördert, die eine für die Vielfalt der gesellschaftlichen Konflikte offene Zusammenarbeit im Medium richterlichen Ethos jenseits parteipolitischer Affinitäten fördert.155 Dabei geht es aber um mehr als nur (partei-)politische Richtungspluralität. In den Senaten, die jeweils als Bundesverfassungsgericht wirken, müssen nach § 2 Abs. 3 BVerfGG je drei Richter amtieren, die zuvor – möglichst mindestens drei Jahre – als Richter an den Obersten Gerichtshöfen des Bundes tätig waren. Von den übrigen fünf Richtern sind derzeit (seit 2008) in jedem Senat vier Staatsrechtslehrer, also Professoren des Öffentlichen Rechts tätig, seit 2002 waren es mindestens drei, teilweise ergänzt um einen Professor für Straf- oder Zivilrecht; seit 1987 rekrutieren sich auch Präsident und Vizepräsident aus diesem Kreis. Dominieren deshalb die Staatsrechtslehre als Wissenschaft oder Staatsrechtslehrer als Wissenschaftler das Bundesverfassungsgericht auf eine besondere Weise? Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass es Zeiten gab, in denen überhaupt kein Vertreter der Staatsrechtslehre im Ersten Senat (1963 bis 1975) oder überhaupt im Gericht (1971 bis 1975) vertreten war und in diesem Zeitraum „wichtige“, man kann auch sagen innovative Grundsatzentscheidungen gefallen sind.156 Vor dem Hintergrund der Einsicht in die Differenz von Klugheit/Ergebnisrichtigkeit/Darstellung einer Entscheidung und der wissenschaftlichen Qualität ihrer Herleitung kann das nicht überraschen. Denn Gerichtsentscheidungen folgen einem juristisch-dogmatischen Sprachspiel in der Darstellung der Gründe, die Entscheidungsfindung kann aber niemals nur rein methodisch abgeleitet werden. Richterliche Tugenden wie Gerechtigkeitssinn, Urteilskraft usw. wären ohne eine ihnen zugeschriebene Bedeutung, wenn es wegen der methodischen Unsicherheit „richtigen“ Entscheidens nicht gerade auch auf sie ankäme. Deshalb ist für eine Richterpersönlichkeit nicht nur die Kenntnis von positivem Recht, Methoden, Dogmatik und bisheriger Rechtsprechung wichtig, sondern auch „Judiz“ auf der Basis praktischer Lebensklugheit und Alltagserfahrungen; ein Mindestmaß wissenschaftlicher Qualität ist allenfalls eine notwendige, keinesfalls eine hinreichende Bedingung für richterliche Qualität.157 Lebenserfahrung motiviert und orientiert, versucht zwischen den verschiedenen rechtsdogmatischen oder wissenschaftlichen Anforderungen zu vermitteln und ist Bedingung für die 154 Zuletzt wieder Seibert-Flohr, Richterbestellung im Verfassungswandel, Der Staat 49 (2010), S. 130 (149); s. auch Grimm, Politikdistanz (Fn. 54), S. 1 f. 155 Hoffmann-Riem, Klugheit (Fn. 21), S. 11 f. 156 Oppermann, Bundesverfassungsgericht (Fn. 43), S. 434 f., unter Verweis auf BVerfGE 20, 162 – Spiegel; 22, 293 – EWG-Verordnungen; 34, 165 – Förderstufe; 35, 79 – HochschulUrteil; 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I (jeweils 1. Senat) sowie BVerfGE 33, 1 – Strafgefangene; 36, 1 – Grundlagenvertrag (2. Senat). Man kann auch weiter denken an BVerfGE 24, 236 – (Aktion) Rumpelkammer; 25, 256 – Blinkfüer, vor allem aber auch BVerfGE 33, 125 – Facharzt; 33, 303 – numerus clausus I; 34, 369 – Soraya; 35, 202 – Lebach. Ein großer Teil gerade dieser Entscheidungen wurde neuestens als Ausdruck eines stimmigen dogmatischen Konzepts den beliebigeren Rechtsprechungsänderungen seit den 1980er Jahren gegenübergestellt, vgl. Schlink, Abschied (Fn. 10), S. 159. 157 Tendenziell anders Ossenbühl (Fn. 26), § 15 Rn. 66 a.E.

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Kreativität juristischer Problemlösungen auf der Basis von „Generalklauseln“ wie den Grundrechten. Deshalb stellt sich die Frage, ob der von wissenschaftlicher Theoriebildung und damit weniger von alltagspraktischen Herausforderungen geprägte Erfahrungshintergrund von Staatsrechtslehrern die Perspektiven nicht verschiebt und Entscheidungsgründe zu „theorielastig“ geraten mit dem (letztlich uneinlösbaren) Anspruch, über den Einzelfall hinaus Wegweiser auch für zukünftige Konflikte aufzurichten, statt sich praktisch klug mit der Entscheidung von Einzelfällen zu bescheiden.158 Das scheint Verfassungsrichter mit einem richterlichen von solchen mit professoralem beruflichen Hintergrund zu unterscheiden.159 Vor allem fehlt es an Verfassungsrichtern mit breiter politischer, administrativer und anwaltlicher Vorerfahrung.160 Die plurale Breite der beruflichen und lebenspraktischen Vorerfahrungen in einem Kollegialgericht161 und die erwünschte Konfrontation mit Minderheitspositionen162 (auch im Senat) steigert sehr wahrscheinlich die Qualität der Beratungen und Entscheidungen,163 so sehr auch andere, kaum steuerbare soziale Hintergründe die personale Pluralität mitprägen mögen.164 IV. Ausblick: Quis iudicabit? Rainer Wahl plädiert seit längerem dafür, „Übersteigerungen“ des Verrechtlichungsprozesses in der Gegenwart zurückzuführen.165 Er sieht Chance und Anlass für eine in diesem Sinne verstärkte Selbstreflexion der deutschen Staatsrechtslehre in der durch die Europäisierung der Rechtsordnung erzwungenen Außenorientierung

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Vgl. auch Luetjohann, Wirkungen (Fn. 81), S. 112, 165. Vgl. Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 203 ff. 160 Vgl. Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 207 ff.; zur Abnahme von Richtern mit politischer Erfahrung in Exekutive und Legislative bis 1983 Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 2. Aufl. 1996, S. 29, 41. 161 Siehe am Beispiel der Erstbesetzung des Bundesverfassungsgerichts: Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 242 ff.; Ley, Die Erstbesetzung des Bundesverfassungsgerichts, ZParl 13 (1982), S. 521 (526 ff., 531 f.); Bryde, Verfassungsentwicklung (Fn. 19), S. 152 f. 162 Vgl. Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 170, 184, u. a. mit Verweis auf Nemeth, Differential Contributions of Majority and Minority Influence, in: Psychological Review 93 (1986), S. 23 ff.; dies., Minority Dissent as a Stimulant to Group Performance, in: Worchel/Wood/ Simpson (Hrsg.), Group Process and Productivity, 1992, S. 95 ff. 163 Vgl. Limbach, Zur Wahl der Richter und Richterinnen des Bundesverfassungsgerichts, in: Herdegen u. a. (Hrsg.), Staatsrecht und Politik. Festschrift für Roman Herzog, 2009, S. 273 (278 f.); im Blick auf politische Pluralität Sunstein, Why Societies need dissent, 2003, S. 166 ff. 164 Vgl. ausf. Kranenpohl, Schleier (Fn. 40), S. 229 ff.; s. auch Landfried, Bundesverfassungsgericht (Fn. 160), S. 28 ff. 165 Wahl, Die zweite Phase des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Der Staat 38 (1999), S. 495 (515); ders., Verfassungsstaat (Fn. 111), S. 434. 159

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der Rechtsordnung und den dadurch gebotenen Perspektivenwechsel;166 er hat aber zugleich gezeigt, dass solches auf Verfassungsebene nur durch das Bundesverfassungsgericht selbst erfolgen kann.167 Seine „Bitte an das Gericht um gelegentlich etwas weniger an Verfassungsgerichtsbarkeit“168 stellt die alte Frage: Quis iudicabit? Ein solcher Akzentwechsel setzt personal Verfassungsrichter voraus, die ihre überaus große Rechtsprechungsmacht im Einzelfall zu Gunsten der Politik oder der Fachgerichte zurückzunehmen geneigt sind, also die politische Sphäre und ihre Eigengesetzlichkeiten aus langer eigener Erfahrung gut kennen, und für deren Sinn von Entscheidungsgerechtigkeit weniger verfassungsrechtsdogmatisches Filigran, verbunden mit der Gefahr zu einem distanzlosen Hang zu professioneller Besserwisserei, als die praktische Klugheit einer breiten Lebenserfahrung prägend ist. Vielleicht sollte der überaus hohe Anteil an hauptberuflichen Staatsrechtslehrern in den Spruchkörpern des Bundesverfassungsgerichts deshalb zu Gunsten von solchen Juristen reduziert werden, die auch auf einen Schatz breiter Erfahrungen etwa als Berufspolitiker und/oder Rechtsanwalt zurückblicken können.169 Aktuelle Forderungen nach einem größeren Maß an „diversity“ bei der Zusammensetzung von Kollegialorganen gründen in allgemein gültigen Erkenntnissen der Leistungssteigerung durch personale Vielfalt, gegen die nicht nur die Vorstände von DAX-Unternehmen, sondern sogar das Bundesverfassungsgericht und die Wahlorgane seiner Richter nicht immun sein können oder dürfen.

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Wahl, Phase (Fn. 165), S. 514; ders., Verfassungsstaat (Fn. 111), S. 433 f. Wahl, Reformfrage (Fn. 111), S. 482 ff., 488 f. 168 Wahl, Reformfrage (Fn. 111), S. 489; gleichsinnig Schulze-Fielitz, Schattenseiten des Grundgesetzes, in: Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009, S. 9 (21 ff.). 169 Eine solche Forderung ist zugegebenermaßen ziemlich voraussetzungsvoll, weil sie vom Politiker die (keineswegs immer vorhandene) Fähigkeit zum distanzierten Rollenwechsel (nun mit der Orientierung am Code Recht/Unrecht statt an Macht) erwartet oder guten Anwälten anscheinend Gehaltsverluste zumutet (obwohl Partner großer Kanzleien im entsprechenden Lebensalter kurz vor ihrem – im Vergleich zum Öffentlichen Dienst oft früheren – Ausscheiden solches nicht als Zumutung zu verstehen bräuchten). 167

Programmgrundsätze im neuen Rundfunkgesetz in Japan Von Hidemi Suzuki, Osaka I. Einleitung Die japanische Rundfunkordnung, die durch das Rundfunkgesetz (Hsh) und das Funkgesetz (Denpah) geregelt ist, wurde Ende November 2010 geändert, um sie an die technische Entwicklung anzupassen. Das neue Rundfunkgesetz1 wird innerhalb von neun Monaten nach der Bekanntmachung am 3. Dezember 2010 in Kraft treten. Das für die Zulassung und Kontrolle von Rundfunkveranstaltungen zuständige Ministerium, das „Ministry of Internal Affairs and Communication (MIC)“, sieht die Gesetzesnovellierung im Jahr 2010 als die größte Novellierung nach dem Inkrafttreten des gültigen Rundfunkgesetzes im Jahr 1950. Das MIC wollte eigentlich ein modernes Gesetz für den Bereich der Telekommunikation und des Rundfunks entwerfen. Das erklärte Ziel dieser Reform war eine Steigerung der Konkurrenzfähigkeit der japanischen Medienindustrie. Es gab fünf Gründe für die Reform: 1. der Strukturwandel der Informations- und Kommunikationsgesellschaft, 2. das Erfordernis eines freien Marktsystems in diesem Gebiet, 3. der Bedarf nach einem einheitlichen Schutz für den Benutzer, 4. die rapide technische Innovation und 5. die Internationalisierung des Netzwerkes. Man diskutierte seit 2006 etwa vier Jahre über die Reform. Man hoffte auf eine Deregulierung des Telekommunikations- und Rundfunkrechts. Als Folge dieser Diskussionen wurden insgesamt neun Gesetze in den Bereichen Telekommunikation und Rundfunk in vier Gesetze umstrukturiert. Das neue Rundfunkgesetz vereinfacht zwar das Zulassungssystem teilweise, aber die Programmgrundsätze und ihre Kontrollsystem sind nicht geändert worden, obwohl die Programmgrundsätze des alten Rundfunkgesetzes und ihre Anwendung durch das MIC nach meiner Ansicht verfassungsrechtlich problematisch sind. Diese Probleme sollten eigentlich durch die Novellierung gelöst werden. Der Gesetzgeber hat die Gelegenheit dazu leider verpasst. Das neue Rundfunkgesetz enthält sogar eine neue Verpflichtung der privaten Rundfunkveranstalter, die Vollprogramme nach dem Rundfunkgesetz anbieten müssen. Sie sind verpflichtet zu veröffentlichen, wie oft und wie lange Teleshopping gesendet wurde. 1 Der vorliegende Beitrag wurde am 14. März 2011 abgeschlossen. Das im Jahr 2011 (neun Monate nach der Bekanntmachung vom 3. Dezember 2010) in Kraft tretende Rundfunkgesetz wird nachfolgend „das neue Rundfunkgesetz“ bezeichnet.

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Nach einem kurzen Überblick über die japanische Rundfunkordnung folgen Überlegungen zur Problematik der Verfassungsmäßigkeit der Programmgrundsätze des Rundfunkgesetzes. II. Rundfunkordnung Art. 21 Abs. 1 der Japanische Verfassung (JV) gewährleistet die „Freiheit der Versammlung, der Vereinigung sowie die Redefreiheit (Genron no Jiy), die Pressefreiheit (Shuppan no Jiy) und die Ausdrucksfreiheit (Hygen no Jiy) in allen sonstigen Formen“. Sie werden oft pauschal als das „Grundrecht der Ausdrucksfreiheit“ bezeichnet und umfassen auch die Rundfunkfreiheit. Für den Bereich des Rundfunks bestehen einfachgesetzliche Regelungen, nämlich das Rundfunkgesetz und das Funkgesetz, die gleichzeitig am 2. 5. 1950 erlassen wurden.2 Das Funkgesetz, welches die telekommunikationsrechtlichen Grundregelungen enthält, normiert den technischen Bereich des Rundfunks, insbesondere die Genehmigung für die Einrichtung von Rundfunkanlagen. Dagegen regelt das Rundfunkgesetz eher den kulturellen Bereich des Rundfunks. Die herrschende Meinung in der Literatur legitimiert die Regelungen des Funk- und Rundfunkgesetzes mit der starken Auswirkung des Rundfunks auf die Gesellschaft sowie der Knappheit der Frequenzen. In Japan spielt der terrestrische Rundfunk eine sehr große Rolle. Wenn man ein Fernsehgerät kauft, kann man in Tokyo mit einer Antenne kostenlos zwei öffentlich-rechtliche und sieben private Programme empfangen. Als einzige öffentlichrechtliche Rundfunkanstalt Japans strahlt die NHK (Nippon Hs Kykai) zwei landesweite Fernsehprogramme aus. Der private Rundfunk wird von verschiedenen privaten Rundfunkveranstaltern verbreitet, die als Aktiengesellschaften gegründet wurden und sich aus Werbesendungen finanzieren. Sendegebiet der privaten Rundfunkveranstalter sind grundsätzlich die Präfekturen, in denen sie sich befinden.3 Fünf private Fernsehsender, die in Tokyo ihren Sitz haben, haben als die „Key Stations“ ein flächendeckendes Netzwerk aufgebaut und nehmen daher konkurrenzmäßig eine sehr starke Stellung ein. Das Netzwerk ermöglicht auch den privaten Fernsehsendern die Ausstrahlung landesweiter Programme. Obwohl es private Rundfunkveranstalter 2 Für den Begriff „Rundfunk“ wird auf Japanisch das Wort „Hs“ benutzt, das als Übersetzung des englischen Begriffes „broadcasting“ entstanden ist. Zum Begriff „Hs“ im japanischen Rundfunkrecht vgl. Hiroshi Shiono, Rundfunk als Rechtsbegriff – Entstehung und Zukunft des Begriffes im japanischen Recht, in: Verfassungsstaatlichkeit, FS zum 65. Geburtstag von Klaus Stern, 1997, S. 321 ff. Für einen Überblick über die japanische Rundfunkordnung vgl. Hiroshi Shiono, Landesbericht Japan, in: Martin Bullinger (Hrsg.), Rundfunkorganisation und Kommunikationsfreiheit, 1979, S. 143 ff.; ders., Prinzipien der Neuordnung des Rundfunks in Japan, in: Ernst-Joachim Mestmäcker (Hrsg.), Offene Rundfunkordnung, Gütersloh 1988, S. 121 ff. Vgl. auch Hidemi Suzuki u. a. (Hrsg.), Hsho wo yomitoku (Rundfunkgesetz-Kommentar), 2009. 3 In Japan gibt es 47 Präfekturen. Im Januar 2011 gab es 127 private terrestrische Fernsehsender. In einer Präfektur sind zwei NHK-Fernsehprogramme und zwei bis sieben Fernsehprogramme der privaten Fernsehsender terrestrisch empfangbar.

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gibt, die ihre Programme über Kabel oder Satellit ausstrahlen, sollen diese im Folgenden nicht weiter erwähnt werden, weil die Programme über Kabel oder Satellit nicht so hohe Einschaltquoten haben. In Japan errichtet jeder Rundfunkveranstalter, der terrestrisch sein Programm überträgt, selbst seine eigenen Rundfunkanlagen. Das ist in Deutschland nur bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Fall, die in der ARD gemeinsam tätig sind. Solche Rundfunkveranstalter haben eine Zulassung, die der Minister ihnen nach dem Funkgesetz erteilt. Die Zulassung bezieht sich auf die Errichtung eigener Rundfunkanlagen.4 Ein so zugelassener Rundfunkveranstalter muss die inhaltlichen und organisatorischen Regelungen des Rundfunkgesetzes einhalten. Wie ich oben erwähnt habe, liegt die Kompetenz zur Zulassung und Kontrolle der Rundfunkveranstalter beim „Ministry of Internal Affairs and Communication (MIC)“. Es gibt keine staatsferne Rundfunkkontrolle in Japan, wie sie etwa die Landesmedienanstalten in Deutschland ausüben. In Deutschland sind die Landesmedienanstalten für die Zulassung und Kontrolle privater Rundfunkveranstalter zuständig. Die Errichtung der Landesmedienanstalten dient der Gewährleistung der Staatsfreiheit des privaten Rundfunks. Im Gegensatz dazu kontrolliert das MIC die Rundfunkveranstalter unmittelbar, und zwar nicht nur die privaten, sondern auch die öffentlichrechtlichen. Hier gibt es ein verfassungsrechtliches Problem, das das deutsche Rundfunkrecht nicht kennt. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Kommission für die Kontrolle von Frequenzen („Denpa Kanri Iinkai“) nach dem amerikanischen Modell der „Federal Communication Commission“ (FCC) errichtet, um den Abstand der Telekommunikations- und Rundfunkpolitik von der politischen Macht zu erhalten. Diese Kommission, die für die Zulassung und Kontrolle der Rundfunkveranstalter zuständig war, war unabhängig von der Regierung. Aber sie wurde am 31. 7. 1954 von Ministerpräsident Shigeru Yoshida abgeschafft. Das damalige Postministerium bekam daraufhin die Kompetenz zur Zulassung und Kontrolle der Rundfunkveranstaltung. Im Jahr 2001 ging im Rahmen einer Umstrukturierung von Ministerien diese Kompetenz vom Postministerium auf das MIC über. Nach der Abschaffung der Kommission für die Kontrolle von Frequenzen gab es in der Literatur immer die Forderung, dass eine staatsferne Organisation für die Rundfunkkontrolle errichtet werden sollte. Die demokratische Partei hatte solche Absichten, als sie noch in der Opposition war. Aber sie hat diese Absicht bewusst wieder aufgegeben, nachdem sie durch die Wahl des Unterhauses im Jahr 2009 die Regierungsmacht übernommen hatte. Obwohl eine mögliche Reform durch das MIC im

4 Nach der neuen Rundfunkordnung wird nicht mehr gefordert, dass ein terrestrischer Fernsehsender eigene Rundfunkanlagen betreibt. Der terrestrische Rundfunkveranstalter kann selber darüber entscheiden, ob er eigene Rundfunkanlagen betreibt.

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Jahr 2010 untersucht wurde, endete diese Untersuchung ergebnislos.5 So fehlt es in Japan immer noch an einer staatsfernen Rundfunkkontrolle. Auf ein anderes Problem ist ebenfalls noch hinzuweisen. Meines Erachtens ist die Regelungsdichte des Rundfunk- sowie des Funkgesetzes unzureichend. Das Ministerium hat ein weites Ermessen bei der Zulassung und Kontrolle von Rundfunkveranstaltung.6 Das Ministerium, das früher noch vorsichtiger mit dem Ermessen und auch der Rundfunkfreiheit insgesamt umging, neigt neuerdings dazu, Druck auf die Rundfunkveranstalter auszuüben. Dem Ministerium kommt dabei die geringe Regelungsdichte des Rundfunk- und Funkgesetzes zu Hilfe.

III. Programmgrundsätze und ihre Einhaltung 1. Programmgrundsätze als „Sollvorschriften“ Das Funkgesetz regelt den technischen Bereich des Rundfunks, insbesondere die Zulassung für die Einrichtung von Rundfunkanlagen. Das MIC kontrolliert entsprechend dem Rundfunkgesetz und dem Funkgesetz, wie der Rundfunkveranstalter die zugelassenen Frequenzen nutzt. Die Kontrolle seitens des MIC umfasst die Tätigkeit des Rundfunkveranstalters also nicht nur hinsichtlich der technischen, sondern auch der inhaltlichen Aspekte. Das neue Rundfunkgesetz hat die Zweckbestimmung des noch geltenden Rundfunkgesetz (§ 1) nicht geändert. Nach § 1 hat das Rundfunkgesetz den Zweck, den Rundfunk dem Gemeinwohl entsprechend zu regeln und den Rundfunk gut zu entwickeln. Dabei ist der Nutzen des Rundfunks durch eine möglichst umfassende Verbreitung zu sichern. Die Rundfunkfreiheit ist durch das Gebot der Unparteilichkeit, der Wahrheitspflicht und der Rundfunkautonomie zu gewährleisten. Der Beitrag des Rundfunks zur Entwicklung der Demokratie ist auch durch die Verdeutlichung eben dieser Aufgabe gegenüber den im Rundfunk Beschäftigten sicherzustellen. Die Programmgrundsätze des geltenden Rundfunkgesetzes gelten weiter im neuen Rundfunkgesetz. Sie sind lediglich von § 3 – 2 Abs. 1 zu § 4 Abs. 1 verschoben worden. Diese Norm verlangt von den privaten und öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstaltern die Einhaltung der öffentlichen Sicherheit und der guten Sitten (Nr. 1), politische Unparteilichkeit bei der Redaktionsarbeit (Nr. 2) und Richtigkeit der Bericht5 Eine Arbeitsgruppe wurde im Januar 2010 beim MIC für die Untersuchung gegründet. Vgl. den Bericht dieser Arbeitsgruppe vom 22. 12. 2011, http://www.soumu.go.jp/main_content/000095282.pdf, zuletzt abgerufen am: 14. 3. 2011. 6 Zum Beispiel sind die Online-Tätigkeiten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt durch die „Richtlinie über die Nutzung des Internets durch die NHK“ vom 8. März 2002 geregelt, die das Ministerium erließ. Vgl. Hidemi Suzuki, Zulässigkeit und Grenzen von Onlineangeboten öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalt in Japan, in: Klaus Stern u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift f. Joachim Burmeister, 2005, S. 425 ff.; dies., Rundfunk und Internet, in: Kazushige Asada u. a. (Hrsg.), Das Recht von den Herausforderungen neuer Technologien, 2006, S. 83 ff.

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erstattung (Nr. 3). Bei politischen Streitfragen muss der Rundfunkveranstalter außerdem die relevanten Punkte in seinem Programm von möglichst vielen Sichtweisen aus darstellen (Nr. 4). Im Rundfunkgesetz gibt es selber keine Bestimmung über unmittelbare Sanktionen bei einer Verletzung der Programmgrundsätze. Jedoch kann der Minister gem. § 76 Abs. 1 Funkgesetz bei Verstößen gegen das Funkgesetz und auch gegen das Rundfunkgesetz die Einstellung der Frequenznutzung des Rundfunkveranstalters für einen Zeitraum von drei Monaten oder die zeitliche Beschränkung der Frequenznutzung für einen bestimmten Zeitraum anordnen. Die inhaltlichen Regelungen des Rundfunkgesetzes gelten als Beschränkung der Rundfunkfreiheit. Nach der herrschenden Meinung in der Literatur können die beiden oben genannten Gründe – die starke Auswirkung des Rundfunks auf die Gesellschaft sowie die Knappheit der Frequenzen – diese Beschränkung aber auch heute noch rechtfertigen. Dazu legen die meisten Medienrechtler die Programmgrundsätze des geltenden Rundfunkgesetzes (§ 3 – 2 Abs. 1) so aus, dass die inhaltlichen Regelungen des Rundfunkgesetzes keine zwangsweise durchsetzbaren „Mussvorschriften“ darstellen, sondern eher den Charakter von appellhaften „Sollvorschriften“ haben, da es im Rundfunkgesetz kein Mittel gibt, eine verwaltungsmäßige Sanktionsmaßnahme gegen einen Rundfunkveranstalter zu treffen, der § 3 – 2 Abs. 1 Rundfunkgesetz verletzt hat. Nach dieser Meinung ist die Anwendung von § 76 Abs. 1 Funkgesetz bei Verstößen gegen die Programmgrundsätze insoweit verfassungsrechtlich bedenklich, als § 3 – 2 Abs. 1 Rundfunkgesetz die inhaltlichen Grundsätze, die der Rundfunkveranstalter einhalten soll, nur mit sehr abstrakten, nicht eindeutigen Begriffen umschreibt. Diese Auslegung gilt auch für die Programmgrundsätze des neuen Rundfunkgesetzes weiter. Das Rundfunkgesetz verlangt von den Rundfunkveranstaltern, selbst Programmsatzungen aufzustellen und nach diesen ihr Programm auch zu gestalten (§ 3 – 3 Abs. 1). Hier findet man eine gesetzlich regulierte Selbstregulierung des Rundfunkprogramms.7 Die NHK (Nippon Hs Kykai), welche, wie erwähnt, die einzige öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt Japans ist, verfügt ebenso wie der Verband Privater Rundfunk (Nihon Minkan Hs Renmei) sowie jeder einzelne private Rundfunkveranstalter über eigene Programmsatzungen. Das neue Rundfunkgesetz hat diese Bestimmung auch nicht geändert. Sie ist nur von § 3 – 3 Abs. 1 zu § 5 Abs. 1 verschoben worden. Keine Regelungen enthält das Rundfunkgesetz beispielsweise hinsichtlich des Jugendschutzes.8 Die Jugendschutzbestimmungen kann man nur in den jeweiligen Pro7

Vgl. Schoichiro Nishido, Medienkonvergenz und Meinungsfreiheit in Japan unter besonderer Berücksichtigung des Rundfunkrechts, in: Frank Fechner (Hrsg.), Pluralismus, Finanzierung und Konvergenz als Grundfragen des Rundfunkrechts, 2010, S. 77 ff. 8 Wer unzüchtige Schriften oder Bilder verbreitet und sie zum Zweck des Verkaufs besitzt, ist nach § 175 Strafgesetzbuch (Keih) zu bestrafen. Für den Jugendschutz gibt es kein Gesetz, das flächendeckend die Verbreitung von jugendgefährdenden Schriften verbietet. Aber fast alle

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grammsatzungen finden. Zwar verfügt das MIC über die Kompetenz zur Kontrolle des Rundfunkveranstalters, aber es muss sich bei der inhaltlichen Kontrolle des Rundfunkprogramms grundsätzlich zurückhalten, da eine entsprechende Kontrolle leicht die Staatsfreiheit des Rundfunkveranstalters gefährden könnte. 2. „Gyseishid “ als Sanktion? Auch im ehemaligen Postministerium wurde die Auffassung vertreten, die inhaltlichen Regelungen des Rundfunkgesetzes seien keine zwangsweise durchsetzbaren „Mussvorschriften“. Allerdings änderte sich diese Auslegung im Jahr 1993 anlässlich eines Fernsehskandals wegen der Sendungen über die politischen Wahlen. Nach der Wahl des Unterhauses im Jahr 1993 äußerte sich der Abteilungsleiter des Bereichs Nachrichten des Fernsehsenders TVAsahi Corporation in Tokyo in einer Sitzung des Verbandes privater Rundfunkveranstalter dahin gehend, dass er seine Sendung über die anstehenden Wahlen inhaltlich gegen die damals regierende Partei – die LDP – ausrichten werde. Tatsächlich scheiterte die LDP bei dieser Wahl und verlor erstmals seit ihrer Gründung im Jahre 1955 die Regierungsverantwortung. Falls die Sendungen dieses Fernsehsenders wirklich politisch einseitig gewesen sein sollten, wären sie wegen des Verstoßes gegen das Neutralitätsgebot rechtswidrig gewesen. Dementsprechend empörte sich die LDP. Der Abteilungsleiter musste sich einer Anhörung im Unterhaus stellen und das Postministerium verlangte vom Fernsehsender eine Untersuchung. Diese ergab, dass die Aussage des Abteilungsleiters in der Sitzung des Privatsenderverbands übertrieben gewesen war. Tatsächlich waren die Sendungen über die Wahlen im Hinblick auf das Neutralitätsgebot nicht problematisch gewesen. Gleichwohl erklärte das Postministerium, es wäre bereit gewesen, § 76 Abs. 1 Funkgesetz auf diesen Fernsehsender anzuwenden, falls die Untersuchung der betreffenden Sendungen eine politische Voreingenommenheit festgestellt hätte. Dementsprechend wies das Postministerium den Fernsehsender auf die Einhaltung der Programmgrundsätze nach § 3 – 2 Abs. 1 Rundfunkgesetz lediglich im Rahmen von „Gyseishid“ (unverbindliche behördliche Empfehlungen)9 hin. Seitdem hat das damalige Postministerium und das heutige MIC Rundfunkveranstaltern immer wieder Hinweise oder Warnungen zukommen lassen, wenn eine Sendung nach Ansicht des Ministeriums gegen § 3 – 2 Abs. 1 Rundfunkgesetz verstieß. Präfekturen haben Satzungen zum Jugendschutz erlassen, die auch Regelungen über jugendgefährdende Schriften enthalten. Indes sind die von den Präfekturen erlassenen Satzungen über den Jugendschutz nicht einheitlich. 9 Es gibt drei Stufen bei „Gyseishid“: Hinweis („Chi“), ernster Hinweis („Genjchi“) und Warnung („Keikoku“). Der Hinweis ist die mildeste Maßnahme und bedeutet, dass bei einem geringeren Verstoß gegen das Rundfunkgesetz der Rundfunkveranstalter einen Hinweis darüber erhält, welche Verstöße vorliegen, mit der Aufforderung, diese in Zukunft zu vermeiden. Der ernste Hinweis, der für schwerere Verstöße gegen das Rundfunkgesetz vorgesehen ist, ist im Ton schärfer. Das MIC verlangt vom Rundfunkveranstalter konkrete Vorbeugemaßnahmen. Die Warnung ist das schärfste Mittel im Rahmen von Gyseishid, indem es bei der Wiederholung entsprechender Fehler die Anwendung von § 76 Abs. 1 Funkgesetz vorsieht.

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Bekannt ist der „Aruaru-Fernsehskandal“ im Jahr 2007.10 Am 7. 1. 2007 sandte die Kansai Telecasting Corporation (KTV) die 140. Folge der populären Wissenschaftssendung „Hakkutsu: Aruaru Daijiten“. Der Titel bedeutet ungefähr „Ausgrabung: eine Enzyklopädie von Fakten“. Diese Sendung wurde durch das Netzwerk „Fuji Television“ landesweit ausgestrahlt. In der Sendung wurde behauptet, dass eine japanische Spezialität aus fermentierten Sojabohnen, genannt Natto, beim Abnehmen hilft, wenn man täglich eine Portion davon beim Frühstück und Abendessen isst. Die Fernsehsendung war sehr populär, weil sie eine gute Mischung aus Wissenschaft und Entertainment bot und weil sie ein berühmter Komiker moderierte. Als Reaktion auf die angesprochene Sendung waren fermentierten Sojabohnen überall in den Supermärkten ausverkauft. Zwei Wochen nach dieser Sendung stellte sich jedoch heraus, dass ein Mitarbeiter der Produktionsfirma das Interview eines amerikanischen Wissenschaftlers absichtlich falsch übersetzt und das Ergebnis der Experimente erfunden hatte. Das machte Schlagzeilen.11 In den Medien kam daraufhin die Frage auf, ob auch andere Folgen dieser Sendung eventuell erfundene Informationen enthielten. Nach dem Untersuchungsbericht vom 23. 3. 2007 der von KTV gegründeten Expertenkommission, zu der auch die Verfasserin gehörte, gab es noch weitere neun problematische und sechs zweifelhafte Folgen. Die Kommission schlug KTV sehr umfangreiche Vorbeugungsmaßnahmen vor. Nach § 4 Abs. 1 Rundfunkgesetz muss der Rundfunkveranstalter eine Richtigstellung in der betroffenen Sendung innerhalb von zwei Tagen vornehmen, wenn er nach eigener Nachforschung bemerkt, dass er unrichtige Information gesendet hat.12 KTV verlautbarte eine Richtigstellung in der Sendung vom 28. 3. 2007. Am 30. 3. 2007 ließ das MIC KTV eine Warnung zukommen. Es hielt 8 Folgen für gesetzwidrig und äußerte den Verdacht, dass weitere 8 Folgen ebenfalls gesetzwidrig gewesen sein könnten. In seiner Mitteilungen mahnte das MIC KTV unter Hinweis auf die Anwendung von § 76 Abs. 1 Funkgesetz bei wiederholtem Gesetzverstoß. Es verlangte von ihm, dem MIC bis Ende Juni einen Bericht über Vorbeugungsmaßnahmen vorzulegen. Eine Warnung des MIC hat zwar keine rechtliche Bedeutung, wirkt jedoch sehr wohl einschüchternd auf den Rundfunkveranstalter. Ohne dass hierfür eine ausdrückliche Rechtsgrundlage bestünde, verlangt das MIC bei einer Warnung, dass der betreffende Rundfunkveranstalter ihm einen Bericht darüber vorlegt, was dieser innerhalb von drei Monaten nach Ausspruch der Warnung im Hinblick auf die Einhaltung 10

Vgl. Hidemi Suzuki, Rundfunk- und Presserecht in Japan – aktuelle Probleme, Verfassung und Recht in Übersee, 2008, 450 ff.; dies., Rundfunk in Japan zwischen verfassungsrechtlichen Anforderungen und gesellschaftlicher Realität, in: Peter Gottwald (Hrsg.), Recht und Gesellschaft in Deutschland und Japan, 2009, S. 1 ff. 11 Die britische Wissenschaftszeitschrift „Nature“ berichtete am 22. 2. 2007 über diesen Fernsehskandal (David Cyranoski, Japanese TV show admits faking science, Bd. 445, S. 804). 12 Wer seine Rechte durch eine unrichtige Rundfunksendung verletzt sieht, kann nach § 4 Abs. 1 Rundfunkgesetz innerhalb von drei Monaten nach der Sendung verlangen, dass der Rundfunkveranstalter ohne Verzug die Richtigkeit nachprüft. Im neuen Rundfunkgesetz ist diese Bestimmung von § 4 Abs. 1 zu § 9 Abs. 1 verschoben worden.

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der inhaltlichen Regelungen unternommen hat. Obwohl Medienrechtler vom MIC Zurückhaltung bei der inhaltlichen Programmkontrolle fordern, hat das Ministerium neuerdings wiederholt den betreffenden Rundfunkveranstaltern, selbst bei kleinen Fehlern, auf die Einhaltung der inhaltlichen Regelungen hingewiesen. Da ein Anwendungsfall von § 76 Abs. 1 Funkgesetz bisher noch nicht vorliegt, gibt es keine Rechtsprechung zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung und ihrer Anwendung. Die Diskussion findet lediglich in der Literatur und in der Praxis statt. IV. Selbstregulierung durch „BPO“ Seit Ende des Zweiten Weltkriegs haben sich in Japan die Medien immer gegen eine gesetzliche Regelung der Medien ausgesprochen. Dies geschah mit Hinweis auf die starken gesetzlichen Beschränkungen, denen die Medien bis 1945 unterlagen. Ein einmal in Kraft getretenes Gesetz lässt sich in Japan nicht leicht ändern. Ganz allgemein steht der Gesetzgeber häufigen Gesetzänderungen ablehnend gegenüber. Der Oberste Gerichtshof (OGH) neigt dazu, gesetzliche Grundrechtsbeschränkungen für verfassungskonform zu erklären. Insbesondere Einschränkungen der Meinungsund Pressefreiheit, die der OGH bisher prüfte, erklärte er fast ausnahmslos für verfassungsgemäß, obwohl nach Ansicht der Staatsrechtler darunter durchaus problematische Fälle waren. Vor diesem Hintergrund stehen die japanischen Medien und Staatsrechtslehrer einschlägigen gesetzlichen Regelungen misstrauisch gegenüber. Weil ein Minister die Einhaltung der Programmgrundsätze auch unter dem neuen Rundfunkgesetz direkt überwacht, müssen sie als Sollvorschriften ausgelegt werden. Nach dem noch geltenden Rundfunkgesetz spielt die gesetzlich regulierte Selbstregulierung für die Einhaltung der Programmgrundsätze eine wichtige Rolle. Um die Selbstregulierung zu verstärken, haben NHK und private Rundfunksender im Jahr 2003 ein Selbstkontrollsystem gegründet, das „Broadcasting Ethics & Program Improvement Organization (BPO)“ heißt. Die BPO hat drei Kommissionen für die Selbstregulierung: die Kommission für Persönlichkeitsschutz, die Kommission für Jugendschutz und die Kommission zur Ermittlung der Rundfunkethik. Letztere wurde im Jahr 2007 als Folge des Aruaru-Fernsehskandals gegründet und ermittelt Fälle, in denen der Verdacht besteht, dass ein Rundfunkveranstalter gegen die Programmgrundsätze des Rundfunkgesetzes, Programmsatzungen oder die Rundfunkethik verstoßen hat. Obwohl die Rundfunkveranstalter gesetzlich verpflichtet sind, selber Programmsatzungen aufzustellen, arbeitet die BPO unabhängig vom Staat. Unter den Mitgliedern der drei Kommissionen sind Rechtsanwälte, Hochschullehrer, freie Journalisten und Schriftsteller. Den Kommissionen gehören keine Beamten an. Jede Person kann sich bei der BPO über Rundfunkprogramme beschweren. Sofern die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet ist, wird der betroffene Rundfunksender um eine Stellungnahme gebeten. Anschließend entscheidet die zuständige Kommission, die sich einmal im Monat trifft, über den Fall. Ist die Beschwerde begründet, ergreift die Kommission eine Maßnahme (Stellungnahme oder Empfehlung) gegen

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die Rundfunkveranstalter. Sie wird von der zuständigen Kommission veröffentlicht. Solche Maßnahmen sind rechtlich nicht verbindlich. Aber im Rahmen des Arbeitsbereichs der Kommission für die Ermittlung der Rundfunkethik vereinbart die BPO mit dem Rundfunkveranstalter schriftlich die Zusammenarbeit bei der Ermittlung und Einhaltung der Maßnahmen, die diese Kommission getroffen hat. Für eine strenge inhaltliche Kontrolle der Rundfunkprogramme ist eine staatsferne, unabhängige Organisation nötig. Soweit solche Organisation in Japan fehlen, sollte die Selbstregulierung der Rundfunkveranstalter bevorzugt werden.

Der präventive Richtervorbehalt – „Königsweg“ für den präventiven Grundrechtsschutz oder „rechtsstaatliches Trostpflaster“? Von Andreas Voßkuhle, Karlsruhe* I. Rechtsstaat und Richtervorbehalt Der Rechtsstaat nutzt die Ressource seiner unabhängigen Justiz dazu, Richtern über den „Normalfall“ des nachträglichen Rechtsschutzes hinaus präventiv herausgehobene Kompetenzen in gestuften administrativen Verfahren zuzuweisen.1 Diese sogenannten „Richtervorbehalte“ besitzen als Schutz gegen Freiheitsbeeinträchtigungen eine lange Tradition.2 In Deutschland normierte erstmals die Paulskirchenverfassung, dass nur der Richter den Freiheitsentzug anordnen konnte.3 Im Verfassungstext des Grundgesetzes sind Richtervorbehalte zum Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung in Art. 13 Abs. 2 bis 5 GG und zum Schutz der Freiheit der Person in Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG ausdrücklich verankert. Ähnliche Regelungen finden sich in

* Der Beitrag gibt nur die persönliche Auffassung des Verfassers wieder. Für wertvolle Unterstützung bei der Erarbeitung danke ich Herrn Assessor Thomas Wischmeyer sehr herzlich. 1 Organisationsrechtlich wird dem Phänomen des Richtervorbehalts am ehesten das Institut der Beiordnung gerecht. Durch eine echte Zuständigkeitsaufspaltung – Antrag der Exekutive, Entscheidung des Richters – wird eine Gesamtverantwortung von Justiz und Verwaltung geschaffen. Begriffsprägend für das Verhältnis von Ermittlungsrichter und Staatsanwaltschaft Hans J. Wolff/Otto Bachof, Verwaltungsrecht II (Organisations- und Dienstrecht), 4. Aufl. 1976, S. 117. Wie hier Ursula Nelles, Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozeßordnung, 1980, S. 36 f.; Günter Prechtel, Das Verhältnis der Staatsanwaltschaft zum Ermittlungsrichter, 1995, S. 196 f.; Malte Rabe von Kühlewein, Normative Grundlagen der Richtervorbehalte, GA 149 (2002), 637 (641). 2 Ausführlich zur historischen Entwicklung Thomas Ollinger, Die Entwicklung des Richtervorbehalts im Verhaftungsrecht, 1997; Abrisse bei Malte Rabe von Kühlewein, Der Richtervorbehalt im Polizei- und Strafprozeßrecht, 2001, S. 27 ff. 3 Vgl. §§ 138 und 140 der Verfassung des deutschen Reiches, RGBl. 1849, S. 126 f. (der Text der Paulskirchenverfassung findet sich auch bei Ernst Rudolf Huber, Dokumente der Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, 1978, S. 390). Nach Scheitern der Paulskirchenverfassung enthielten erst die Reichsjustizgesetze wieder einfachgesetzliche Richtervorbehalte, die während der Weimarer Zeit bis 1933 fortgalten; die Weimarer Reichsverfassung enthielt selbst keine Richtervorbehalte. Zu alledem ausführlich Rabe von Kühlewein (Fn. 2), S. 40 ff.

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internationalen Menschenrechtsdokumenten und in nahezu allen rechtsstaatlichen Verfassungen der Gegenwart.4 Anlass, über Funktion, Ausgestaltung und Rechtfertigung des Richtervorbehalts erneut intensiver nachzudenken, geben mehrere Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, so zum Begriff der „Gefahr im Verzug“5 und zur Notwendigkeit richterlicher Bereitschaftsdienste6. Auch in der aktuellen Rechtsprechung zum Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme7 sowie zur Vorratsdatenspeicherung8 misst das Gericht dem Richtervorbehalt besondere Bedeutung zu. Ob und inwieweit die in diesen Entscheidungen getroffenen Aussagen verallgemeinerbar sind, wird derzeit am Beispiel der Blutalkoholuntersuchung nach § 81a StPO besonders kontrovers diskutiert.9 Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden versucht werden, ausgehend von der Funktion des Richtervorbehalts als Institut und Instrument des grundrechtsschützenden Verfassungsstaates10 (II.) allgemeine dogmatische Grundsätze des Richtervorbehalts zu entwickeln (III.), um diese anschließend auf ihre praktische Wirksamkeit hin zu überprüfen (IV.) und einige Folgerungen für die Praxis zu ziehen (V.). II. Die Funktionen des präventiven Richtervorbehalts im Gefüge des Grundgesetzes Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben Richtervorbehalte aus der Sicht des Grundgesetzes im Wesentlichen zwei Funktionen.11 Die Integration des Richters in ein Verfahrensprogramm, dessen Herrin die Exekutive ist, dient zunächst der Mäßigung exekutiver Eigenmacht und stellt sich als 4 Das gilt insbesondere für den Schutz der Freiheit der Person, vgl. Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. III, 2. Aufl., 2008, Art. 104 Rn. 12 m.w.N. Zum Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung aus rechtsvergleichender Perspektive vgl. Georg Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 13 Rn. 6 ff. Zur Bedeutung der Verfassungsvergleichung vgl. nur Rainer Wahl, Verfassungsvergleichung als Kulturvergleich, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 96 ff. 5 BVerfGE 103, 142. 6 BVerfGE 105, 239. 7 BVerfGE 120, 274 (331 ff.). 8 BVerfGE 125, 260 (337 ff.). 9 Siehe zur ausufernden Diskussion nur Carsten Krumm, Richtervorbehalt bei der Blutprobe: Weg damit!, ZRP 2009, S. 71; Sina Weinhold, Entnahme einer Blutprobe nach § 81a StPO ohne richterliche Anordnung, SVR 2010, 13 mit Hinweisen zum aktuellen Meinungsstand in der Rechtsprechung. Zuletzt auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. 2. 2011, Az.: 2 BvR 1596/10. 10 Der deutsche Weg zum Verfassungsstaat ist dabei immer „mitzudenken“, vgl. nur Rainer Wahl, Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: HStR, Bd. I, 3. Aufl., 2003, Rn. 11 ff. 11 BVerfGE 103, 142 (151); 105, 239 (248); 112, 304 (319).

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Ausprägung des Gewaltenteilungsprinzips dar.12 Das Grundgesetz hat zum Schutz der Freiheit des Einzelnen ein komplexes Kontrollsystem aus vielfältigen interfunktionellen Verflechtungen horizontaler, vertikaler und diagonaler Art errichtet.13 Gleichzeitig zielt der Grundsatz der Gewaltenteilung im Sinne einer effizienten, funktionsadäquaten Kompetenzverteilung darauf ab, dass – so das Bundesverfassungsgericht – „staatliche Entscheidungen möglichst richtig, dass heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen“14. Dies muss gerade bei Anordnung schwerer Grundrechtseingriffe gelten, wie etwa Freiheitsentziehungen oder Wohnungsdurchsuchungen.15 Derartige Eingriffe sind nicht allein der weisungsabhängigen und in der Sache selbst „engagierten“ Exekutive zu überlassen. Im Sinne eines „Vier-Augen-Prinzips“16 ist vielmehr zusätzlich eine neutrale Instanz zu beteiligen. Der persönlich und sachlich unabhängige Richter bietet sich hier in besonderer Weise an.17 Neben diese institutionelle Dimension des Schutzes gegen schwere Grundrechtseingriffe tritt als zweite Funktion der Normierung von Richtervorbehalten die der Grundrechtssicherung durch Verfahren.18 So soll die präventive richterliche Entscheidung strukturelle Rechtsschutzdefizite des Einzelnen zumindest teilweise kompensieren.19 Derartige Rechtsschutzdefizite ergeben sich dadurch, dass Freiheitsentziehungen, Wohnungsdurchsuchungen und viele andere Maßnahmen staatlicher Informationsgewinnung, um ihren Zweck erfüllen zu können, vielfach überraschend und teilweise auch ohne Kenntnis der Betroffenen erfolgen. Nachträglicher Rechtsschutz 12 Näher hierzu Christoph Gusy, Rechtsgrundlagen der Richtervorbehalte nach § 100b StPO, GA 150 (2003), 672 ff.; Andreas Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 34 ff. Zuletzt ausführlich Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 94 ff. 13 Norbert Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 409; ders., Probleme der Funktionenlehre, 1970, S. 112 ff. 14 BVerfGE 68, 1 (86). 15 Deutlich etwa BVerfGE 103, 142 (151): „Dem Gewicht dieses Eingriffs und der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Schutzes der räumlichen Privatsphäre entspricht es, dass Art. 13 Abs. 2, 1. Halbsatz GG die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vorbehält.“ 16 So Hans-Ullrich Paeffgen, Polizeirecht und Grundrechtsschutz, NJ 1996, 454 (460, dort Fn. 94); Rabe von Kühlewein (Fn. 1), 641. 17 BVerfGE 103, 142 (151); 107, 299 (325); 109, 279 (358); 120, 274 (332). Denkbar ist unter Umständen auch die Beteiligung einer unabhängigen Kommission vgl. BVerfGE 30, 1 ff.; 120, 274 (332). 18 BVerfGE 103, 142 (151); 109, 279 (358). Allgemein zur Grundrechtssicherung durch Verfahren: BVerfGE 49, 89 (132) – Kalkar I; 53, 30 (65) – Mühlheim-Kärlich. Aus der Literatur statt vieler Peter Lerche, Vorbereitung grundrechtlichen Ausgleichs durch gesetzgeberisches Verfahren, in: ders./Schmitt Glaeser/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984, S. 97 (103 ff.); Eberhard Schmidt-Aßmann, Grundrechte als Organisations- und Verfahrensgarantien, HGE II, 2006, § 45. 19 BVerfGE 120, 274 (332); SächsVerfGH, JZ 1996, S. 957 (964). Zu den Grenzen der Kompensationsfunktion von Verfahrensgarantien BVerfGE 110, 33 (68); 120, 274 (331).

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kommt hier zu spät. Diesem Umstand hat der Verfassungsgeber in Art. 13 Abs. 2 bis 5 und Art. 104 Abs. 2 GG durch die Normierung von Richtervorbehalten Rechnung getragen.20 Diese beiden grundgesetzlich radizierten Funktionen kennzeichnen unterschiedlich intensiv alle im Verfassungsrecht und – als Form der innerstaatlichen Konstitutionalisierung21 – die im einfachen Recht enthaltenen Richtervorbehalte. Sie bilden Leitlinien für die Auslegung und Anwendung der Einzelregelungen. Ferner geben sie auf, dort, wo der Gesetzgeber für vergleichbare Gefährdungslagen eine derartige Regelung nicht ausdrücklich getroffen hat, im Wege der Verfassungsfortbildung entsprechende Sicherungsvorkehrungen zu treffen.22 III. Der Gewährleistungsgehalt des Richtervorbehalts als dogmatische Herausforderung 1. Leitlinien für eine dogmatische Durchdringung Die Zersplitterung und Heterogenität, die das Feld der Richtervorbehalte prägen, stellen die dogmatische Systembildung vor besondere Herausforderungen.

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Zum unlösbaren Zusammenhang von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 GG siehe BVerfGE 10, 302 (322 f.); 58, 208 (220); 105, 239 (247). Instruktiv dazu im Kontext „Freiheitsschutz durch Prozeduralisierung“ BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. 3. 2009, Az. 2 BvR 2543/08 Abs.-Nr. 43 – 49; BVerfG (Kammer) NJW 2009, 1941 (1942 ff.). 21 Vgl. nur Rainer Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff?, in: FS Brohm, 2002, S. 191 (192 ff.). 22 Hier kann erneut auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Eingriffen in das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (BVerfGE 120, 274 [331 ff.]) und zur Vorratsdatenspeicherung verwiesen werden (BVerfGE 125, 260 [357 ff.]). In eine ähnliche Richtung gehen die Entscheidungen BVerfGE 100, 313 (361 f.) – Telekommunkationsüberwachung; BVerfGE (Kammer) 103, 21 (34) – genetischer Fingerabdruck; BVerfGE 107, 299 (325) – Handy-Überwachung. Vgl. in diesem Kontext auch BVerfGE 112, 304 (319) – GPS, dort zum Richtervorbehalt bei der längerfristigen Observation in der bis 31. 12. 2007 gültigen Fassung, § 163 f Abs. 4 Satz 2 StPO: „In den Gesetzgebungsverfahren, die schließlich zu der heutigen Regelung geführt haben, war unklar geblieben, ob es nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983 (BVerfGE 65, 1 [43 ff.]) einer solchen Regelung aus Gründen der Verfassung bedürfe […]. Im Ergebnis hat sich der Gesetzgeber für die zusätzliche Sicherung des Grundrechtsschutzes durch Richtervorbehalt entschlossen […]. Die in § 163 f Abs. 4 Satz 2 StPO getroffene Regelung ist Ausdruck der verfassungsrechtlich geforderten Vergewisserung des Gesetzgebers im Bereich der modernen technischen Ermittlungseingriffe des Strafprozessrechts […]: sie ist Ergebnis einer gesetzgeberischen Entscheidung, die Grundrechte des Beschuldigten bei langfristiger Observation prozedural besonders zu sichern.“

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a) Richtervorbehalte: Ein Panoptikum Die Figur des präventiven Richtervorbehalts verweist uns auf ein Panoptikum an Institutionen, Sachbereichen und Problemlagen, die an der Verwirklichung des Richtervorbehalts beteiligt oder damit verbunden sind. So berühren Richtervorbehalte neben den mit der konkreten Entscheidungsfindung befassten Richtern vor allem die Exekutive. Als Justiz- und Ministerialverwaltung trägt diese die Verantwortung dafür, die Bedingungen der Funktionsfähigkeit der Justiz bei Entscheidungen im Rahmen von Richtervorbehalten zu gewährleisten. Als Polizei und Staatsanwaltschaft hat sie im konkreten Verfahren die Spielregeln des Richtervorbehalts zur Geltung zu bringen. Eine Dogmatik des Richtervorbehalts muss all diese unterschiedlichen Perspektiven integrieren: Voraussetzungen, Herstellung und Inhalt der richterlichen Entscheidung lassen sich nur mit Blick auf Rechtsschutz und Kontrolle angemessen beurteilen und umgekehrt. Die Komplexität wird noch dadurch gesteigert, dass eine Fülle von Regelungen aus unterschiedlichen Rechtsquellen und Sachbereichen auf den Begriff gebracht werden muss. Richtervorbehalte finden sich im geschriebenen und ungeschriebenen Bundesverfassungsrecht, im Landesverfassungsrecht und in kaum noch überschaubarer Zahl im einfachen Recht.23 Gegenständlich ist das Tableau vom Strafprozessrecht und Gefahrenabwehrrecht über das verwaltungs- und zivilprozessuale Zwangsvollstreckungsrecht und die Abgabenordnung bis ins Betreuungsrecht weit gespannt.24 Auch finden sich gerade im einfachen Recht differenzierte und abgestufte Formen des Zusammenwirkens zwischen Gerichten und Exekutive, die von einer ausschließlichen richterlichen Anordnungsbefugnis über verschiedene Varianten einer primären richterlichen Anordnungsbefugnis mit behördlicher Ausnahmekompetenz („Gefahr im Verzug“) bis zur richterlichen Zustimmung zu behördlichen Anordnungen reichen.25 Das führt dazu, dass sich verallgemeinerungsfähige Schlussfolgerungen nur mit Augenmaß treffen lassen.

23 Auf welcher Ebene der Normenhierarchie der Richtervorbehalt verortet ist, hat Konsequenzen für den Kontrollmaßstab des BVerfG: Während bei einfachgesetzlichen Richtervorbehalten nach allgemeinen Grundsätzen nur eine Willkürprüfung stattfindet, prüft das Verfassungsgericht die Einhaltung verfassungsrechtlicher Richtervorbehalte umfassend nach. In diesem Sinne deutlich die Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum – einfachrechtlichen – Richtervorbehalt bei der längerfristigen Observation (Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. 7. 2009, Az. 2 BvR 1691/07 Abs.-Nr. 42) im Gegensatz zur Senatsentscheidung des Bundesverfassungsgericht zum verfassungsrechtlichen Richtervorbehalt bei der Wohnungsdurchsuchung (BVerfGE 103, 142 [153, 162]). 24 Näher dazu Andreas Voßkuhle, Präventive Richtervorbehalte, in: HGE, Bd. 4, § 130, Rn. 39 ff., i.E. 25 Vgl. für einen Überblick Rabe von Kühlewein (Fn. 2), S. 85 ff.

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b) Das Schweigen des Gesetzgebers Zu dieser Heterogenität kommt hinzu, dass die gesetzlichen Regelungen zu Richtervorbehalten häufig nur rudimentär ausgestaltet sind. In den meisten Fällen beschränkt sich das Gesetz darauf, einen Richter zur Entscheidung zu berufen, ohne Verfahren und Organisation näher zu regeln. Dieser Umstand ist angesichts der dargelegten Bedeutung des Richtervorbehalts als Instrument der Grundrechtssicherung bedenklich. Solange der Gesetzgeber schweigt, ist es daher Sache von Rechtsprechung und Wissenschaft, die organisatorische und verfahrensrechtliche Dimension in Richtung eines effektiven Grundrechtsschutzes zu entwickeln. c) Vorgehensweise All dies macht ein gleichermaßen deduktives wie induktives Vorgehen erforderlich. Ausgehend von den Anforderungen des Verfassungsrechts und unter Berücksichtigung der durch Gesetzgeber und Rechtsprechung bereichsspezifisch etablierten und konkretisierten Sonderdogmatiken geht es darum, die Grundlinien einer kohärenten und verallgemeinerungsfähigen Dogmatik des Richtervorbehalts zu erarbeiten.26 Ihr kommt die Aufgabe zu, vorhandene Entwicklungen zu strukturieren und auf den Begriff zu bringen; sie besitzt aber auch eine konstruktive, systembildende Funktion, da sie als Speicher juristischer Erfahrungen die Rechtspraxis bei der Entscheidungsfindung unterstützen kann.27 2. Zentrale Dogmatische Bausteine a) Behördliche Kooperationspflichten Die gewaltenübergreifende Verschränkung von behördlichem Verfahren und richterlicher Anordnung kennzeichnet den Richtervorbehalt und stellt besondere Anforderungen an die Gestaltung des institutionellen Zusammenspiels. Um den Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam werden zu lassen, besteht für alle Beteiligte, insbesondere aber für die Behörde, ein ungeschriebenes Gebot zu effektiver Kooperation.28 Diese Kooperationspflicht prägt das gesamte Verfahren 26 Ein ähnliches Projekt verfolgen Gusy (Fn. 12), 679 ff., und Rabe von Kühlewein (Fn. 1), 645 ff. 27 Näher Christoph Möllers, Methoden, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 3, Rn. 35 ff. Allgemein zur Aufgabe der Dogmatik vgl. Winfried Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30 (1972), S. 245 (246 ff.); Josef Esser, Dogmatik zwischen Theorie und Praxis, in: FS Raiser, 1974, S. 517 ff.; Niklas Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 15 ff.; Martin Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie, 1988, S. 39 ff. Vgl. auch Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 4 (1981), S. 485 (505 ff.). 28 Vgl. BVerfGE 103, 142 (152).

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und beeinflusst übergreifend Auslegung und Anwendung der einzelnen dogmatischen Bausteine. Sie konditioniert die Behörde in doppelter Hinsicht: Positiv besteht gegenüber dem mitwirkenden Richter die Pflicht zur vollständigen Information über den Sachstand.29 Negativ ist es der Behörde vor allen Dingen verwehrt, die richterliche Regelzuständigkeit zu unterlaufen, indem die Voraussetzungen von Gefahr im Verzug durch das Handeln der Behörde selbst herbeigeführt werden; untersagt ist daher etwa ein Zuwarten der Strafverfolgungsorgane, bis ein Beweismittelverlust droht.30 b) Antragserfordernis Bei der Entscheidung aufgrund von Richtervorbehalten fallen Verfahrensherrschaft und Anordnungskompetenz auseinander.31 Eine richterliche Entscheidung kann daher nicht ohne Antrag erfolgen.32 Neben dieser Initiationsfunktion kommt dem Antrag eine Informationsfunktion zu: Wird er – wie im Regelfall – zum Zweck der Gestattung des Grundrechtseingriffs von der verfahrensleitenden Behörde gestellt, muss er alle für den Richter entscheidungsrelevanten Tatsachen enthalten.33 Zudem hat der Antrag eine Begrenzungsfunktion sowohl hinsichtlich des richterlichen Prüfungsumfangs wie auch hinsichtlich der dann vom Gericht erlassenen Anordnung. Das Gericht ist an den Antrag gebunden und kann inhaltlich nicht darüber hinausgehen. c) Richterliche Prüfungskompetenz und Prüfungsauftrag Zentrale Bedeutung kommen Umfang und Wahrnehmung der richterlichen Prüfungskompetenz zu. Sie bestimmen die Reichweite der Grundrechtsgewährleistung durch Richtervorbehalt. Entscheidungen auf der Grundlage von Richtervorbehalten erschöpfen sich nicht in einer bloß nachvollziehenden Prüfung der von der Behörde intendierten Maßnahme. Vielmehr stellen sie eigenständige Entscheidungen über die Vornahme eines Grundrechtseingriffs dar, für die der Richter eigene Verantwortung trägt.34 Denn durch den Richtervorbehalt wird der Exekutive die Anordnungsbefugnis für bestimmte Grundrechtseingriffe genommen und dem Richter überantwortet.35 29

BVerfGE 103, 142 (153). BVerfGE 103, 142 (155 f.). 31 Zu Besonderheiten im strafprozessualen Zwischen- und Hauptverfahren vgl. Hartmut Schneider, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl., 2008, § 202, Rn. 2; Hannes MeyerWieck, Rechtswirklichkeit und Effizienz der akustischen Wohnraumüberwachung („großer Lauschangriff“) nach § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO, 2003, S. 215. 32 Zum Sonderfall des „Notstaatsanwalts“ nach § 165 StPO vgl. Rainer Griesbaum, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl., 2008, § 165, Rn. 1. 33 Gusy (Fn. 12), 684. 34 Zum Prüfungsumfang vgl. BVerfGE 49, 329 (341 f.); 57, 346 (355 ff.); 83, 24 (33 f.); 103, 142 (156); aus der Literatur etwa Hinrich Rüping in: Bonner Kommentar, 135. Lfg. (August 2008, Zweitbearbeitung), Art. 104 Rn. 45; Christoph Degenhart in: Michael Sachs (Hg.), GG, 5. Aufl., 2009, Art. 104 Rn. 19; Rabe v. Kühlewein (Fn. 2), S. 88 ff.; Christoph Gusy Freiheitsentziehung und Grundgesetz, NJW 1992, 457 (461). Zur Eigenverantwortlichkeit des 30

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Umgekehrt ergeben sich aus der Einbettung in das behördliche Verfahren auch Grenzen des Prüfungsumfangs. Gegenstand richterlicher Entscheidung ist nur die Rechtmäßigkeit, nicht aber die Zweckmäßigkeit der Maßnahme.36 Zu entscheiden ist daher nicht, ob ein Eingriff vorgenommen werden soll, sondern nur ob dieser vorgenommen werden darf. Den Behörden kommt bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit kein Beurteilungsspielraum zu – auch nicht zur Frage des Vorliegens von Gefahr im Verzug.37 Der Richter ist insoweit nicht an den Tatsachenvortrag der Behörde gebunden oder auf eine Kontrolle der Schlüssigkeit des Antrags beschränkt.38 Die Feststellung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage ist stets Bestandteil einer Rechtmäßigkeitsprüfung und damit Konsequenz der funktionellen Zuweisung des Richtervorbehalts an die Rechtsprechung als neutrale Kontrollinstanz.39 Für das Überprüfen des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen von Gefahr im Verzug hat das Bundesverfassungsgericht dabei eine Vermutungsregel entwickelt. Danach darf der Richter den von der Behörde präsentierten Sachverhalt seiner Entscheidung zugrunde legen, solange dieser nahe liegend oder jedenfalls plausibel ist und keine konkreten Anhaltspunkte für eine behördliche Fehleinschätzung ersichtlich sind.40 Drängt sich jedoch ein Problem bei der Prüfung des Sachverhalts auf, ist der Richter zur eigenständigen Ermittlung angehalten.41 d) Begründung, Form und Bekanntgabe der richterlichen Entscheidung Die richterliche Entscheidung kontrolliert nicht nur Grundrechtseingriffe, sondern ermöglicht diese regelmäßig erst. Wie schon beim Antrag ist wichtigste Funktion der Entscheidung der Grundrechtsschutz des Betroffenen durch Begrenzung von EinRichters BVerfGE 10, 302 (310); 22, 311 (318); 57, 346 (355); 83, 24 (33); 96, 44 (51 f.); 109, 279 (359). 35 Günter Dürig in: Maunz/ders. (Hrsg.), GG, (1958) Art. 104 Rn. 25. 36 Vgl. hierzu Janique Brüning, Der Richtervorbehalt im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, 2005, S. 152; Nelles (Fn. 1), S. 56; Günter Prechtel, Das Verhältnis der Staatsanwaltschaft zum Ermittlungsrichter, 1995, S. 282 ff. Vgl. i.Ü. Peter Rieß, Die Prüfungskompetenz des Ermittlungsrichters, NStZ 1991, 513 (515). 37 BVerfGE 103, 142 (156). 38 Dies gilt trotz der fehlenden Verfahrensherrschaft des Gerichts auch im strafprozessualen Vorverfahren; ähnlich: BGHSt 42, 103 (105 f.); Volker Erb, in: Löw/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., 2008, Bd. V, § 162 Rn. 39 ff.; Lutz Meyer-Goßner, Kommentar zur StPO, 53. Aufl., 2010, § 162 Rn. 14, 17. 39 Vgl. BVerfGE 103, 142 (156) „Aus dem Anspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle folgt grundsätzlich die Pflicht der Gerichte, die angefochtenen Akte der öffentlichen Gewalt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig zu überprüfen; eine Bindung der Gerichte an die von der Exekutive getroffenen Feststellungen und Wertungen ist dem GG fremd.“ 40 BVerfGE 103, 142 (159); ebenso BGHSt 47, 362 (366 f.). 41 Ebenso BVerfG (Kammer) WM 2009, 914 ff.

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griffsumfang und -tiefe. Entscheidend ist daher die Bestimmtheit des titelähnlichen Beschlusses; nur eine genügend bestimmte Entscheidung stellt sicher, dass der Grundrechtseingriff messbar und kontrollierbar bleibt.42 Kehrseite der Bestimmtheit ist die Rechtssicherheit, die der Beschluss für Ermittlungsorgane sowie Dritte (etwa Telekommunikationsunternehmen im Rahmen ihrer Mitwirkungspflichten nach TKG) schafft.43 Vorbilder hier sind etwa die Kataloge in § 100b Abs. 2 Satz Nr. 1 und § 100d Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StPO, die konkrete, einzelfallbezogene Angaben zu den Anordnungsvoraussetzungen ebenso wie zu den Folgen der Anordnung verlangen.44 Soweit Verfassung oder Gesetz nicht ohnehin ausdrücklich eine schriftliche Entscheidung anordnen45, wird dennoch regelmäßig nur eine solche den Bestimmtheitserfordernissen genügen. Denn die den Kriterien eines neutralen Verfahrens verpflichtete richterliche Anordnung verlangt nicht nur eine informierte Entscheidung auf hinreichend gesicherter Tatsachengrundlage, sondern auch eine in der schriftlichen Niederlegung der Entscheidung zum Ausdruck kommende, der Selbstkontrolle verpflichtete Reflexionsleistung. Da die schriftliche Fixierung auch die Grundlage der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der richterlichen Anordnung bildet, erscheint in Eilfällen, in denen ausnahmsweise eine mündliche Anordnung möglich sein kann, kompensatorisch wenigstens eine nachträgliche schriftliche Fixierung der Anordnung mitsamt ihrer Begründung durch den Richter verfassungsrechtlich geboten.46 42

BVerfGE 20, 162 (224); 42, 212 (219 ff.); 96, 44 (51 f.); 103, 142 (151 f.); 109, 279 (359). Gusy (Fn. 11), 691. 44 Für die Verfassungskonformität dieser Normen gerade unter dem Blickwinkel der Bestimmtheit, d. h. der Messbarkeit und Kontrollierbarkeit des Grundrechtseingriffs, BVerfGE 109, 279 (359 ff.). 45 Vgl. Art. 104 Abs. 2 Satz 3 GG; § 20k Abs. 6 Satz 1 BKAG; § 6 FEVG; § 44 Abs. 3 Satz 4 PAG Bay; § 23 Abs. 3 Satz 3 PolG BaWü; § 98b Abs. 1 Satz 4, § 100b Abs. 2 Satz 1, § 100d Abs. 2 Satz 1, § 114 Abs. 1 StPO. § 15 Abs. 5 Satz 5, § 20 g Abs. 3 Satz 6 BKAG ordnen an, die Anordnung (mit Gründen) „aktenkundig“ zu machen. Ebenso für Eingriffe in das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme: BVerfGE 120, 274 (332). Grundlegend für die Schriftform bei Durchsuchung von Presseunternehmen schon BVerfGE 20, 162 (223 f.). 46 Tido Park, Handbuch Durchsuchung und Beschlagnahme, 2002, Rn. 62, will einen mündlichen Beschluss dann genügen lassen, wenn der Richter durch „Diktat“ unmittelbar im Anschluss für eine schriftliche Fixierung sorgt. Vgl. in diesem Sinne etwa bei Entscheidungen des richterlichen Bereitschaftsdienstes über Ingewahrsamnahmen § 28 Abs. 4 Satz 4 PolG BaWü. Möglicherweise ließen sich auf ähnliche Art und Weise die Probleme, auf die der Richtervorbehalt des § 81a StPO in der Praxis stößt, handhaben. Eine derartige Handhabung bietet womöglich einen Ausweg aus dem Dilemma, dass die an die richterliche Entscheidung zu stellenden Qualitätsanforderungen nicht deswegen relativiert werden können, weil eine striktere Handhabung des Schriftlichkeitserfordernisses durch die Gerichte in der Praxis ein Ausweichen der Exekutive auf Eilanordnungen begünstigen könnte (in diesem Sinne auch Rabe von Kühlewein [Fn. 2], S. 649 unter Hinweis auf die Gefahr, dass sich bei Absenkung der richterlichen Entscheidungsstandards exekutive Behörden zu leicht rechtlich und psychologisch von der eigenen Verantwortung für die Anordnung der Maßnahme entlasten können). 43

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e) Ausnahmecharakter der exekutiven Eilzuständigkeit Wo der Verfassungs- und Gesetzgeber bei Gefahr im Verzug die Durchbrechung des prinzipiellen Vorrangs des Grundrechtsschutzes durch Verfahren zugunsten der Effektivität der Gefahrenabwehr bzw. der Strafverfolgung zulässt, ist dies auf Ausnahmefälle beschränkt. Die Anforderungen, die im Detail an das Vorliegen von „Gefahr im Verzug“ zu stellen sind, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zu Wohnraumdurchsuchungen rechtsgebietsübergreifend präzisiert und restriktiv gefasst.47 Danach ist die Inanspruchnahme der Ausnahmekompetenz nur bei einer konkreten Gefahr zulässig und unterliegt einer einzelfallbezogenen Rechtfertigungspflicht. Die Exekutivbehörden trifft in diesem Zusammenhang eine umfassende Dokumentationspflicht.48 Bei Verstößen hiergegen wird der sonst das Hauptsache- und Rechtsmittelverfahren beherrschende Grundsatz, dass die tatsächlichen Voraussetzungen von Verwertungsverboten im Freibeweisverfahren zu klären sind und der Grundsatz in dubio pro reo hier nicht gilt, verdrängt: Als verfahrensrechtliche Sicherung der Grundrechte des Betroffenen im Ermittlungsverfahren und als Vorwirkung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz in Hauptsache- und Rechtsmittelverfahren zielt die Dokumentation der Maßnahme gerade auf die Vermeidung der Unsicherheiten und Zweifel – über das Eingreifen des Richtervorbehalts –, die daher nicht zu Lasten des Betroffenen gehen dürfen.49 f) Organisatorische Absicherungen Gerade in Eilfällen ist es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht allein Aufgabe richterlicher ex post-Kontrolle, die Effektivität des Grundrechtsschutzes zu gewährleisten; dies bedarf vielmehr auch organisatorischer Absicherungen.50 Im Vordergrund stehen hierbei die Anforderungen an Gerichte und an die Justizverwaltung. Zu unterscheiden sind insoweit drei Akteurs- und Handlungsebenen, die gemeinsam dazu beitragen, eine richterliche Entscheidung zu ermöglichen, die den Standards 47

Vgl. BVerfGE 103, 142 (153 ff.). Siehe hierzu auch die Folgerechtsprechung, bspw. BVerfG (Kammer) NJW 2005, 1637. Für eine Verallgemeinerbarkeit der Entscheidungen Knut Amelung, Die Entscheidung des BVerfG zur „Gefahr im Verzug“ i.S. des Art. 13 II GG, NStZ 2001, 337 (342); Rabe von Kühlewein (Fn. 1), 655. 48 Zur Dokumentationspflicht als Vorwirkung des Grundrechts des Beschuldigten auf effektiven Rechtsschutz: BVerfGE 103, 142 (152, 159 ff.); 112, 304 (320) (dort als ”selbstverständlich” bezeichnet); BVerfG (Kammer) NJW 2003, 2303 (2305); zu diesem Effekt in anderen Kontexten: BVerfG (Kammer) NStZ-RR 2008, 60 (61): Vollzugsplan; BVerfG (Kammer) NVwZ 2001, 185 (187): Gründe für Verweigerung der Akteneinsicht; BVerfG (Kammer) NJW 1983, 2135: Ausländerakte; generell zu Verfahrensanforderungen als Vorwirkung des Gebots effektiven Rechtsschutzes bereits BVerfGE 61, 82 (110); 69, 1 (49). 49 Vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. 7. 2009, Az. 2 BvR 1691/07. 50 Zur organisatorischen Dimension des Grundrechtsschutzes vgl. die Nw. in Fn. 18.

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eines neutralen Verfahrens entspricht:51 Auf der ersten Stufe muss die Justizverwaltung die Gerichte sachlich und personell – etwa auch durch Fortbildungsangebote – funktionsadäquat ausstatten. Diese Mittel müssen dann von den Präsidien in einer entsprechenden Geschäftsverteilung verfassungskonform eingesetzt werden. Darüber hinaus obliegt es dem einzelnen Richter, die gewonnenen Freiräume in einer seiner verfassungsrechtlichen Rolle angemessenen Weise auszufüllen. Insbesondere besteht – wie das Bundesverfassungsgericht in zwei Senatsentscheidungen klargestellt hat – grundsätzlich eine „verfassungsrechtliche Verpflichtung der Gerichte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters, auch durch die Einrichtung eines Eil- oder Notdienstes, zu sichern“.52 Die Anforderungen an die Organisation des Bereitschaftsdienstes hat das Bundesverfassungsgericht seither in einer Fülle von Kammerentscheidungen weiter ausdifferenziert.53 Deren Umsetzung ist mittlerweile weit vorangeschritten,54 ohne dass dadurch schon alle einfachrechtlichen Fragen geklärt wären.55 Das Vorhandensein eines Bereitschaftsdienstes allein stellt jedoch noch keinen Wert an sich dar.56 Vielmehr müssen die Entscheidungen der Bereitschaftsdienste 51

BVerfGE 103, 142 (152). Ausführlich zur Entscheidung Amelung (Fn. 47), 338 ff. BVerfGE 103, 142 (156); BVerfGE 105, 239 (248, 251). Zur Pathologie des konkreten Falles siehe BVerfGE 105, 239 (242). 53 Vgl. etwa BVerfG (Kammer) NJW 2004, 1442; BVerfG (Kammer) NJW 2005, 1637 (wonach auch eine Verpflichtung zum Bereitschaftsdienst bei Nachtzeit besteht, sofern dafür ein „praktische[r], nicht auf Ausnahmefälle beschränkte[r] Bedarf“ besteht; BVerfG (Kammer) NVwZ 2006, 925; BVerfG (Kammer) NJW 2007, 1444 („Es kann von Verfassungs wegen nicht hingenommen werden, dass in einer Stadt der Größe Münchens am frühen Abend gegen 18 Uhr eine Wohnung allein auf Grund der Anordnung von Polizeibeamten ohne Gefahr im Verzug und ohne den Versuch, einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken, durchsucht wird.“). 54 Zu organisatorischen Konsequenzen siehe nur § 29 Abs. 1 Zuständigkeitsverordnung Justiz für Baden-Württemberg vom 20. 11. 1998 (GBl., S. 680), zuletzt geändert durch Verordnung vom 13. 8. 2009 (GBl., S. 466); für Bayern: § 3 Verordnung über gerichtliche Zuständigkeiten im Bereich des Staatsministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz vom 16. 11. 2004 (GVBl. S. 471, BayRS 300-3-1-J), zuletzt geändert durch Verordnung vom 1. 10. 2009 (GVBl. S. 523); für Nordrhein-Westfalen: Bereitschaftsdienst bei den Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit und bei den Staatsanwaltschaften, AV des Justizministeriums v. 15. 5. 2007 (JMBl. NRW, S. 165, 2043 – I.3); Überblick bei Thomas Edinger, Umfrage des DRB zum richterlichen Bereitschaftsdienst, DRiZ 2004, 161. Siehe auch Peter Gummer, in: Zöller, ZPO, 27. Aufl., 2009, § 22c GVG. 55 Vgl. etwa die aktuelle Kontroverse am OLG Hamm mit den divergierenden Entscheidungen des 3. Senats (NJW 2009, 3109 und NStZ-RR 2010, 148) und des 4. Senats (StraFo 2009, S. 509); Überblick über die Rechtsprechung bei Guido Fickenscher/Andreas Dingelstadt, Richterlicher Bereitschaftsdienst „rund um die Uhr“?, NJW 2009, 3473. 56 Aus der ausufernden Diskussion um die Bereitschaftsdienste vgl. nur Matthias Dombert, Ein Einzelfall? Zur richterlichen Erreichbarkeit nach „Dienstschluss“, NJW 2002, 1627; Fickenscher/Dingelstadt (Fn. 55), 3473; Dierk Helmken, Eildienst in Deutschland. Ist Justitias Augenbinde eine Schlafbrille?, Betrifft Justiz 2003, 174; Dirk Herrmann, Neuregelung des richterlichen Bereitschaftsdienstes und richterliche Unabhängigkeit, DRiZ 2004, 316; Heinrich Kinski, Die Tätigkeit des Ermittlungsrichters im Ermittlungsverfahren und Richtervorbehalt, 52

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den hier genannten Kriterien genügen. Vor allem entbindet der Bereitschaftsdienst den Richter nicht von seiner Pflicht zur eigenverantwortlichen, grundsätzlich schriftlichen Entscheidung auf Aktenbasis. Auch hierfür muss ihm eine angemessene Ausstattung zur Verfügung gestellt werden. Es besteht keine Spannung zwischen den organisatorischen und den verfahrensrechtlichen Anforderungen an richterliche Anordnungen, sondern ein wechselseitiges Aufeinanderangewiesensein. IV. Relativierungen der Schutzfunktion des Richtervorbehalts in der Praxis? Die hier vorgestellte Lesart des Richtervorbehalts ist auf Effektivität des Grundrechtsschutzes hin ausgerichtet. Aber: Können die mit dem Richtervorbehalt verbundenen Ziele in der Praxis überhaupt erreicht werden? Eine leistungsfähige und praxisorientierte Dogmatik des Richtervorbehalts muss sich damit auseinandersetzen, wie es um dessen Schutzfunktion in der Praxis bestellt ist, auch um etwaige Vollzugsdefizite in den Griff zu bekommen. Dies gilt insbesondere deswegen, weil Beteiligte und Betroffene beim Richtervorbehalt häufig eine schmerzliche Diskrepanz zwischen „rechtsstaatlichem Anspruch und alltäglicher Justizwirklichkeit“ empfinden.57 1. Die Befunde der Rechtstatsachenforschung Dieses Gefühl bestätigt die empirisch arbeitende Rechtstatsachenforschung zumindest in Teilen. Begonnen hat die empirische Überprüfung der Wirksamkeit des Richtervorbehalts in den 1970er Jahren.58 Die Befunde aus dieser Zeit sind allerdings nach zahlreichen Rechtsänderungen und einem durch die genannten verfassungsgerichtlichen Entscheidungen geförderten Verantwortungsgefühl bei der Handhabung des Richtervorbehalts nur noch eingeschränkt aussagekräftig. Aktuell konturiert eine Reihe von Studien zu Richtervorbehalten bei strafprozessualen Eingriffsmaßnahmen nach den §§ 100a ff. StPO und §§ 102 ff. StPO das Bild. Diese sind seit 2003 erschienen und bearbeiten Datenmaterial von 1995 bis 2004. Sie ermöglichen eine differenDRiZ 2004, 83 (mit einer Zusammenfassung des Gutachtens der Großen Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes zur Tätigkeit des Ermittlungsrichters im Ermittlungsverfahren); Malte Rabe von Kühlewein, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 15 Februar 2002 – Az.: 2 BvR 2292/00, DVBl. 2002, 1545; Carsten Schütz, Der ökonomisierte Richter, 2005, S. 39 ff.; Thomas Schulte-Kellinghaus, Bereitschaftsdienst bei den Amtsgerichten, Betrifft Justiz 2003, 170; ders., Bereitschaftsdienst bei den Amtsgerichten – Welche Interessen verfolgen die Landesjustizverwaltungen?, NJW 2004, 477; Fabian Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 22 f. 57 Christoph Gusy, Überwachung der Telekommunikation unter Richtervorbehalt – Effektiver Grundrechtsschutz oder Alibi?, ZRP 2003, 275. 58 Jost Benfer, Die Haussuchung im Strafprozess, 1980, S. 352 ff. (Untersuchungszeitraum: 1978); Nelles (Fn. 1), S. 246 ff. (Untersuchungszeitraum: 1971). Zur Bewertung der historischen Daten Finke, Die Durchsuchung von Räumlichkeiten im Ermittlungsverfahren, 2009, S. 137 f.

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zierte Bestandsaufnahme jenseits plakativer Maximalthesen.59 Aus ihnen lassen sich vier wesentliche Erkenntnisse ableiten: Die Quote ablehnender richterlicher Entscheidungen ist bei allen untersuchten Maßnahmen sehr gering. Bei der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) bewegt sie sich Ende der 1990er Jahre gar im kaum wahrnehmbaren Bereich von 0,3 – 0,4 %.60 Angesichts der geringen Ablehnungsquote kommt der Qualität der Anträge besonders hohe Bedeutung zu. Regelmäßig wird der Kritik an der geringen richterlichen Ablehnungsquote mit Verweis auf die hohe Qualität polizeilicher oder staatsanwaltlicher Anträge begegnet.61 Tatsächlich leiden aber auch viele Anträge an erheblichen Defiziten. Eine Querschnittsuntersuchung des Freiburger MaxPlanck-Instituts zur strafprozessualen Telekommunikationsüberwachung ergab, dass nur etwa ein Drittel der polizeilichen Anregungen substantiell und einzelfallbezogen begründet waren; von den staatsanwaltlichen Anträgen war dies ein noch geringerer Teil.62 Für Anträge auf Auskunftserteilung über Telekommunikationsverbindungsdaten ergab eine Untersuchung des Instituts, dass nur etwas über die Hälfte (55 %) der Anträge substantiell begründet waren; die Qualität behördlicher Eilanordnungen war nochmals schlechter.63 59 Hervorzuheben sind das Bielefelder Projekt von Otto Backes/Christoph Gusy, Wer kontrolliert die Telefonüberwachung?, 2003 (Untersuchungszeitraum: 1996 – 1998); hierzu dies., Eine Empirische Untersuchung von Richtervorbehalten bei Telefonüberwachung, StV 2003, 249 ff., sowie die am Freiburger Max-Planck-Institut im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz durchgeführten Untersuchungen von Hans-Jörg Albrecht/Claudia Dorsch/ Christiane Krüpe, Rechtswirklichkeit und Effizienz der Überwachung der Telekommunikation nach den §§ 100a, 100b StPO und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen, 2003 (Untersuchungszeitraum: 1998); Meyer-Wieck (Fn. 30) (Untersuchungszeitraum: 1998 – 2001); Hans-Jörg Albrecht/Adina Grafe/Michael Kilchling, Rechtswirklichkeit der Auskunftserteilung über Telekommunikationsverbindungsdaten nach §§ 100 g, 100 h StPO, 2008 (Untersuchungszeitraum: 2003 – 2004). Aus der Arbeit der Bielefelder Arbeitsgruppe ging auch die Studie von Finke (Fn. 58) zu strafprozessualen Durchsuchungen hervor (Untersuchungszeitraum: 2000 – 2001). Aus richterpsychologischer Sicht beachtenswert: Dierk Helmken, Reform des Richtervorbehalts: Vom Palliativum zum effektiven Grundrechtsschutz, StV 2003, 193 ff. 60 Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 59), S. 23 (0,4 %); Backes/Gusy (Fn. 59), S. 44 (0,3 %). Bei der akustischen Wohnraumüberwachung wurden in 15 % der Fälle vom Gericht die rechtlichen Voraussetzungen für die Durchführung nicht geschaffen (Meyer-Wieck [Fn. 30], S. 67 ff.). Schwieriger ist die systematische Erfassung der Ablehnungsquote bei der Auskunftserteilung über Verbindungsdaten. Dort wurde in 87 % der Fälle die Anordnung wie beantragt erlassen; bei 32 von 1909 Anschlüssen wich die Anordnung vom Antrag ab; eine ausdrückliche Ablehnung erfolgte nur bei sechs von 1909 Anschlüssen (Albrecht/Grafe/Kilchling [Fn. 58], S. 184, 410); Eilanordnungen werden nach Einschätzung der Beteiligten zu 98 % bestätigt (ebd., S. 220) . 61 Vgl. nur die bei Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 58), S. 256 wiedergegebenen Wahrnehmungen. 62 Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 58), S. 227 ff. 63 Albrecht/Grafe/Kilchling (Fn. 58), S.188 ff., 192, 220.

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Die – für den Grundrechtsschutz eigentlich maßgebliche – richterliche Entscheidung kann nach allen empirischen Befunden die Defizite des behördlichen Antrags vielfach nicht kompensieren. In den genannten Untersuchungen genügt nur zwischen einem Viertel und der Hälfte der richterlichen Anordnungen den Anforderungen an Inhalt und Bestimmtheit.64 Das Max-Planck-Institut hat zusätzlich zur Auswertung der Ermittlungsakten auch Interviews mit Ermittlungsrichtern über Inhalt und Umfang ihrer Prüfungstätigkeit vorgenommen. Diese machen deutlich, dass auch nach Selbsteinschätzung der Ermittlungsrichter die gebotene Kontrolle vielfach nicht mit der erforderlichen Intensität wahrgenommen wird.65 Die Ergebnisse differieren dabei allerdings regional. Erwähnenswert sind in diesem Rahmen die Befunde für Baden-Württemberg: Dort ist zwar eine höhere Zahl der Anregungen der Polizei substantiell begründet, da die Staatsanwälte die Anträge den Richtern größtenteils schon als Beschlussentwürfe zur Unterschrift zuleiten, gleichzeitig ist jedoch die Zahl richterlicher Beschlüsse, die wortgleich mit den Anträgen sind, im Bundesvergleich besonders hoch.66 Es lässt sich zwar feststellen, dass die – vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 20. Februar 2001 (BVerfGE 103, 142) nochmals bekräftigte – richterliche Regelkompetenz bei behördlicher Eilzuständigkeit („Gefahr im Verzug“) heute wesentlich besser gewahrt wird, als dies noch in den 1970er Jahren der Fall war. Je aktueller die Studie ist, desto höher ist der Anteil richterlicher Anordnungen. Dies gilt jedoch vornehmlich bei heimlichen Maßnahmen.67 Im derzeit vieldiskutierten Bereich von § 81a StPO68 oder im Fall des präventiven Schutzgewahrsams69 scheint dagegen noch Raum für Verbesserungen zu bestehen.

64 Nach Finke (Fn. 57), S. 151 ff., bezeichnen nur 85 % der Beschlüsse überhaupt die der Anordnung zugrunde liegenden Straftat. Exakte, einzelfallspezifische Ausführungen finden sich in 57 % der Fälle, gewisse Anknüpfungspunkte in 24 %, keine Anknüpfung weisen 20 % auf. Insgesamt genügt über ein Drittel der Anordnungen nicht den an sie gestellten Anforderungen. Ähnlicher Befund bei Meyer-Wieck (Fn. 30), S. 215. Nach Albrecht/Grafe/Kilchling (Fn. 58), S. 195 ff., sind nur 25 % der Anordnungen substantiell begründet. Ähnlich die Zahlen bei der TKÜ nach Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 58), S. 231, wo 23,5 % der Anordnungen substantiell begründet waren. 65 Vgl. Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 58), S. 446. 66 Albrecht/Grafe/Kilchling (Fn. 59), S. 220. 67 Den höchsten Wert für die Inanspruchnahme von Ausnahmekompetenzen ermittelt Finke (Fn. 58), S. 134 ff., für Durchsuchungen: im Untersuchungszeitraum waren circa 38 % der Anordnungen auf die Ausnahmekompetenz gestützt (für 2001 selbst vgl. ebd., S. 173). Im Bereich der TKÜ wurde dagegen in nur ca. 20 % der Fälle auf die Eilkompetenz rekurriert: So annähernd übereinstimmend Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 58), S. 22; Backes/Gusy (Fn. 58), S. 53; bei der Auskunftserteilung über TK-Verbindungsdaten war dies bei ca. 10 % der Anordnungen der Fall: Albrecht/Grafe/Kilchling (Fn. 58), S.182, 219 f. §§ 100c, 100d StPO kennen keine staatsanwaltliche Eilkompetenz. 68 Vgl. nur Krumm (Fn. 9), S. 71. 69 Vgl. § 22 Abs. 1 Nr. 2 lit. b PolG BaWü, dazu Helmken (Fn. 58), S. 194.

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Zwar sind diese Ergebnisse aus methodischer Sicht durchaus mit Vorsicht zu behandeln. Das Datenmaterial stammt – wie dargelegt – aus einem Untersuchungszeitraum von 1995 bis 2004 und datiert damit zum Teil vor Ergehen klarstellender obergerichtlicher Entscheidungen. Untersucht wurde zudem nur die Handhabung einiger strafprozessualer Instrumente; dass die dortigen Ergebnisse auf andere Rechtsgebiete übertragbar sind, ist zwar äußerst plausibel, ein selbständiger empirischer Nachweis dafür liegt jedoch nicht vor. Auch bei Beachtung der notwendigen Sorgfalt lässt sich aber eine Differenz zwischen Theorie und Praxis des Richtervorbehalts feststellen. Unbefriedigend erscheint insbesondere, dass sich vielfach die Begründung der richterlichen Entscheidung als – so die Worte eines interviewten Staatsanwalts – „offene Flanke“70 des Richtervorbehalts und damit eines verfahrensorientierten Grundrechtsschutzes erweist. 2. Ursachenanalyse Im komplexen Ursachengeflecht lassen sich drei Hauptschwächen des derzeitigen Systems identifizieren, die für die aufgezeigte Relativierung der Schutzfunktion des Richtervorbehalts (mit-)verantwortlich sind:71 Mangelnde Zeit: Wiederkehrendes Thema aller empirischen Untersuchungen ist die hohe Arbeitsbelastung der zuständigen Ermittlungsrichter.72 Für die Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und das Absetzen der Entscheidung stehen häufig nur wenige Minuten bis zu einer halben Stunde zur Verfügung.73 Berichtet wird bei ausschließlich als Ermittlungsrichtern tätigen Richtern von einer Falllast zwischen 5.000 und 6.200 Entscheidungen pro Jahr.74 In dieser Situation ist es unvermeidlich, dass Prioritäten gesetzt werden. Dies kann gerade bei Maßnahmen, deren Eingriffstiefe der Ermittlungsrichter vergleichsweise geringer einschätzt, dazu führen, dass die richterliche Prüfung nicht mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt wird.75 Mangelnde Spezialisierung: Vielfach ist die ermittlungsrichterliche Tätigkeit nicht auf spezialisierte Fachrichter konzentriert, sondern wird auf die Richterschaft des Amtsgerichts (und ggf. des Landgerichts) verteilt, die diese Pflicht neben ihrem regulären Deputat zu übernehmen hat. Ohne Spezialisierung kann ein Ermittlungsrichter jedoch kaum die notwendige Kompetenz, Unabhängigkeit 70 So die Formulierung eines Staatsanwalts, die bei Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 58), S. 268, überliefert wird. 71 In diese Richtung schon BVerfGE 103, 142 (152). 72 Helmken (Fn. 58), S. 194 (insbesondere Fn. 13). 73 Vgl. Albrecht/Grafe/Kilchling (Fn. 58), S. 216; Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 58), S. 257 ff. Aus dem Rahmen fällt die akustische Wohnraumüberwachung aufgrund der geringen absoluten Zahl an Anordnungen, Meyer-Wieck (Fn. 30), S. 239 ff., 350. 74 Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 58), S. 257 ff. 75 So für §§ 100 g, 100 h StPO Albrecht/Grafe/Kilchling (Fn. 58), S. 410 f.

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und das erforderliche Selbstbewusstsein gegenüber den Ermittlungsbehörden entwickeln, zumal letztere spezialisiert sind und als Herren des Verfahrens dessen Fortgang strukturell überlegen steuern können. Dies gilt insbesondere für die schon aufgrund der Gesetzestechnik komplizierte und häufigen gesetzgeberischen Änderungen unterworfene Materie der heimlichen Ermittlungsmethoden des Strafprozessrechts, aber auch für das dem „ordentlichen“ Richter regelmäßig weniger vertraute öffentliche Recht, etwa bei Fragen der Abschiebehaft. Mangelnde Anreize und kognitive Dissonanz: Für viele Richter bestehen nur ungenügende Anreize, die Aufgabe mit der gebotenen Sorgfalt wahrzunehmen. Sofern keine Spezialzuständigkeit vorliegt, gehören Richtervorbehalte für Richter nicht zum „Kerngeschäft“. Dies erschwert vielen eine Identifikation mit der Aufgabe. Hinzu kommt, dass die Wahrnehmung der häufig nach dem Rotationsprinzip vergebenen Nebenaufgabe auch wenig Anerkennung seitens der für die Karriere des Richters maßgeblichen Personen hervorruft.76 Auch stellt sich ein empirisch feststellbarer Trägheits-Effekt ein, wenn der Richter mit unterschriftsreifen Beschlussvorlagen von Staatsanwaltschaften oder sonstigen Behörden konfrontiert wird.77 Hier fällt die Anordnung erheblich leichter als eine begründete Ablehnung.78 Mangels ausgeprägter Beschwerdemacht des Betroffenen ist der Richter auch nicht durch negative Sanktionswirkung konditioniert. Beachtlich sind in diesem Zusammenhang die erheblichen kognitiven Dissonanzen, denen Ermittlungsrichter unterliegen. So überschätzen sie – nach den Studien des MaxPlanck-Instituts – signifikant die Prozentzahl der Anträge, die von ihnen tatsächlich zurückgewiesen werden.79

V. Der Richtervorbehalt als Aufgabe für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis Der Richtervorbehalt ist – das zeigt die Kritik – kein Königsweg. Dennoch ist die Zustimmung zur Institution des Richtervorbehalts ungebrochen. Selbst Polizisten oder Verteidiger, die den Richtervorbehalt aus unterschiedlichen Perspektiven als „reine Formsache“ abqualifizieren, plädieren ganz überwiegend für seine Beibehaltung oder gar Erweiterung.80 Dieses nur auf den ersten Blick paradoxe Verhalten trägt 76

Hierzu und zum Folgenden Helmken (Fn. 59), S. 193 ff. Vgl. Fn. 65. 78 Vgl. hierzu auch Bernd Schünemann, Der Richter im Strafverfahren als manipulierter Dritter? Zur empirischen Bestätigung von Perseveranz- und Schulterschlusseffekt, StV 2000, 159 (162 ff.), wonach der zu einer Zweitentscheidung Berufene in einer unklaren Situation tendenziell dem Erstentscheider folgt. 79 Finke (Fn. 57), S. 207 ff.; ebd. auch zur geringen Reflexion der eigenen Entscheidungsbedingungen. 80 Vgl. hierzu die Befunde bei Albrecht/Grafe/Kilchling (Fn. 58), S. 180, 212 ff., 220; ähnlich die Ergebnisse von Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 58), S. 248 f., 251 f., 255 f., 267. 77

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der Einsicht Rechnung, dass die beschriebenen Defizite weitgehend unabhängig vom allgemeinen Institut des Richtervorbehalts sind. Sofern rechtsvergleichend auf anderweitige Organisationsformen verwiesen wird, etwa eine Verlagerung der Entscheidung auf Kontrollausschüsse,81 müssen sich diese strukturell ganz ähnlich gelagerten Problemen stellen. Der Richtervorbehalt ist aus diesem Grund aber auch kein Trostpflaster. Es gilt daher nicht, den Richtervorbehalt zu ersetzen oder zu überwinden, sondern ihn wirksam auszugestalten und zu verwirklichen. Die ihm zukommende Funktion wird der Richtervorbehalt nur erfüllen, wenn die den Richtervorbehalt anordnenden Normen und das sonstige, das Eingreifen des Richtervorbehalts determinierende Verfahrensrecht effektiv ausgelegt und angewendet werden. Vorbild hierfür kann etwa die erfolgreiche Etablierung des amtsgerichtlichen Bereitschaftsdienstes82 oder die weitgehende Eindämmung der Bevorratung mit richterlichen Beschlüssen83 sein. Rechtswissenschaft und Rechtsprechung sind aufgefordert, eine Dogmatik des Richtervorbehalts auszuarbeiten, die über die Probleme des Richtervorbehalts in der Praxis informiert ist, diese im Lichte der grundrechtlichen Vorgaben aufnimmt und ihre Ergebnisse dem Rechtsanwender in der konkreten Entscheidungssituation als gespeicherte Erfahrung zur Seite stellt. Von Justizverwaltungen und Ministerien verlangt der Richtervorbehalt, die skizzierten Ursachen für die Defizite bei der praktischen Handhabung zu bekämpfen. Folgende Ansätze, die allerdings wiederum ihrerseits je vertiefter Untersuchungen bedürften, erscheinen insoweit bedenkenswert:84 Schwerpunkt-Ermittlungsrichter: Die Asymmetrie von spezialisiertem ExekutivApparat und Gelegenheits-Ermittlungsrichter kann dadurch aufgebrochen werden, dass – wie teilweise in Ballungszentren wie z. B. Frankfurt am Main schon durchgeführt – Schwerpunkt-Ermittlungsrichter mit ausschließlicher Zuständigkeit geschaffen werden. Die dadurch veranlasste Spezialisierung führt zur erforderlichen Qualifizierung. Trotz Beibehaltung der externen Kontrollstellung erwirbt der Schwerpunkt-Ermittlungsrichter zudem genug allgemeine Ermittlungserfahrung, um Fälle sachgerecht gewichten und Eingriffsoptionen abwägen zu können. Die Gerichtsorganisation ist gehalten, auf eine Stärkung derartiger Stellen hinzuwirken – durch abgestimmte Fortbildungsmaßnahmen und Einbindung in den Qualifikationsweg von Richtern. Durch die personelle Verortung gewinnt zudem das Ermittlungsrichtersystem an sich an Klarheit: Der Schwerpunkt-Ermittlungsrichter hat durch seine kontinuierliche Beschäftigung mit der Materie die Gelegenheit zu deren Durchdringung und dogmatischen Fortbildung. 81

Vgl. Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 58), S. 467. Vgl. die Nachweise oben in Fn. 53 zu den Länderregelungen. 83 Vgl. Finke (Fn. 57), S. 158 ff. 84 Ähnliche Forderungen auch bei Albrecht/Dorsch/Krüpe (Fn. 58), S. 467 ff.; Backes/ Gusy (Fn. 58), S. 130; Gusy (Fn. 56), S. 275. 82

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Entlastungsmaßnahmen: Auch Schwerpunkt-Ermittlungsrichter leiden – wie aus den genannten Fallzahlen deutlich wurde – derzeit unter erheblicher Überlastung, die sich in unrealistisch kurzen Prüf- und Entscheidungsfristen niederschlägt. Zur vom Bundesverfassungsgericht geforderten funktionsadäquaten Ausstattung85 der Gerichte gehört aber auch, dass für Entscheidungen aufgrund von Richtervorbehalten angemessene Zeitansätze im Rahmen des Personalbedarfberechnungssystems getroffen werden. Statistische Erfassung: Soweit nicht schon spezielle gesetzliche Pflichten die Erfassung richterlicher Anordnungen erforderlich machen (vgl. Art. 13 Abs. 6 GG), ist generell aus Gründen der Transparenz und Öffentlichkeit eine statistische Sammlung und Aufbereitung der diesbezüglichen Daten unverzichtbar.86 Stärkung nachträglicher Kontrolle: Der nachträgliche Rechtsschutz ist ein zentrales Element extrinsischer Kontrolle. Die in diesem Zusammenhang denkbaren Instrumente, die von einem Ausbau der Beschwerdemöglichkeiten und der damit verbundenen Benachrichtigungspflichten bis hin zum Sonderfall der Beweisverwertungsverbote reichen, sind vor dem Hintergrund der Effektuierung der Richtervorbehalte ernsthaft zu diskutieren. Ohne effektiven Richtervorbehalt und dessen besondere verfahrensrechtliche Sicherung der Grundrechte des Einzelnen durch eine unabhängige und neutrale Instanz gibt es vielfach keinen effektiven Grundrechtsschutz.87 Das Anliegen, das die Rechtsordnung mit dem Richtervorbehalt verbindet, ist trotz aller Defizite nach wie vor alternativlos. Richtervorbehalte bringen mit Gesetzgeber, Judikative und Exekutive alle drei staatlichen Gewalten in Stellung, um Freiheitsschutz zu gewährleisten. Durch diese Bündelung „ist der Richtervorbehalt die höchste der formalen Grundrechtsschranken.“88 Im gelebten Verfassungsstaat ist es damit Aufgabe aller Gewalten, diesem unverzichtbaren Kernelement der rechtsstaatlichen Grundstruktur der Bundesrepublik Deutschland zur Geltung zu verhelfen.

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Vgl. oben unter III.2.f. Vgl. z. B. auch § 44 Abs. 3 Satz 6 Bay PAG, der für die Anordnung der Rasterfahndung die Information des Landesdatenschutzbeauftragten anordnet. 87 BVerfGE 103, 142 (151); 112, 304 (319). 88 Lothar Michael/Martin Morlok, Grundrechte, 2008, Rn. 593. 86

C. Verwaltungsrecht, Umwelt- und Planungsrecht

Grenzen des Risikorechts Von Ivo Appel, Augsburg I. Risiko als Zentralbegriff des Rechts Die Selbstwahrnehmung der Gesellschaft als Risikogesellschaft ist Ausfluss einer auch für das Recht folgenreichen Bewusstseinsänderung und neuen Wahrnehmungsdimension. Zu den von Rainer Wahl skizzierten zentralen Herausforderungen des Öffentlichen Rechts nach 1949, die im Zuge gesellschaftlicher Bewegungen und daran anknüpfender staatlicher Reaktionen entstanden sind, zählt folgerichtig auch der rechtliche Umgang mit Risiken.1 Die zu bewältigende Unsicherheit und Ungewissheit als Folgen einer zunehmend gestiegenen Komplexität technischer Vorgänge und der Ungewissheit vor allem über mittel- und langfristige Handlungsfolgen hat dazu geführt, dass der zuvor vor allem in den Naturwissenschaften verwendete Begriff des Risikos in vergleichsweise kurzer Frist auch zu einem Zentralbegriff des Rechts herangewachsen ist.2 Die Befassung mit technikbasierten (Langzeit-)Risiken, die – um nur einige Beispiele zu nennen – mit der Nutzung der Kernenergie, der Gentechnik und Nanotechnologie, dem Zustand der Ozonschicht, dem Artensterben oder der Erderwärmung einhergehen, ist zu einem zentralen Thema des Rechts geworden. Auf diese Weise ist nicht nur der Begriff des Risikos dogmatisch interpretiert und aufbereitet worden. Der Umgang mit den Risiken der Risikogesellschaft ist auch umfassend als Staatsaufgabe ausgewiesen und in seinen übergreifenden Eigenarten durch Ausformung eines Risiko(verwaltungs)rechts erfasst worden, das den damit einhergehenden Wandel der Dogmatik des Öffentlichen Rechts dokumentiert.

1 R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 70 ff.; nachgezeichnet wird dort auch der mehrschichtige Prozess der Reaktion auf die Bewusstseinsveränderung, an deren Ende die Selbstwahrnehmung der Gesellschaft als Risikogesellschaft steht (S. 71 f.). Näher konkretisiert und aufgearbeitet werden die spezifischen Herausforderungen des Risikorechts nicht zuletzt in: R. Wahl, Risikobewertung der Exekutive und richterliche Kontrolldichte – Auswirkungen auf das Verwaltungs- und das gerichtliche Verfahren, NVwZ 1991, 409 ff.; ders./I. Appel, Prävention und Vorsorge – Von der Staatsaufgabe zu den verwaltungsrechtlichen Instrumenten, in: R. Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge: Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, 1995, S. 1 ff.; ders., Kommentierung Gentechnikgesetz (GenTG), in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht II, 1994, Vorb. vor § 1; ders., Risikobewertung und Risikobewältigung im Lebensmittelrecht, in: ZLR 3 (1998), 275 ff. 2 Wahl, Herausforderungen (Fn. 1), S. 70 f.

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Ging es in einer ersten Phase des Risikorechts darum, die Grundlagen staatlicher Risikosteuerung und die rechtlichen Eigenarten des Risikoverwaltungsrechts zu formulieren und zu präzisieren, treten in einer zweiten Phase spezifische Schwierigkeiten des Risikorechts zutage, die sich teilweise aus dem stark kulturell geprägten unterschiedlichen Umgang mit Ungewissheit ergeben, teilweise aber auch strukturell bedingt sind. Nicht zuletzt die aus dem angloamerikanischen Bereich auf die europäische Ebene getragene Diskussion um einen Risk- bzw. Science-Based Approach,3 der die Rechtfertigung staatlicher Risikoregulierung an effektivere, auf wissenschaftliche Nachweise gestützte Begründungen stützen und die Anlassadäquanz risikoregulierender Maßnahmen an ökonomischen Aspekten und Kosten-Nutzen-Erwägungen ausrichten soll, trägt dazu bei, tatsächliche oder vermeintliche Schwächen des deutschen und europäischen Risikorechts zu benennen und zu hinterfragen. Gerade der zunehmend starke Einfluss der anglo-amerikanischen Perspektive auf den rechtlichen Umgang mit Risiken auch in Europa gibt Anlass, sich der risikorechtlichen Grundzüge zu versichern, um auf dieser Basis Grundprobleme und Grenzen rechtlicher Risikoregulierung näher in den Blick zu nehmen. II. Risiko und Risikorecht Die Karriere und die vergleichsweise rasche Etablierung des Risikobegriffs im Recht haben nicht nur einen neuen rechtlichen Problemschwerpunkt und Verwaltungstyp, sondern auch die Ausprägung des Risiko(verwaltungs)rechts als eigenständiges Rechtsgebiet mit sich gebracht.4 Nach anfänglich nur punktueller Bedeutung im Umweltrecht haben der Risikobegriff und das Risikorecht mittlerweile fast das gesamte Umwelt- und Technikrecht, das Lebensmittel- und Arzneimittelrecht, das Gentechnikrecht und mit ihm das Recht nahezu jeder modernen Technologie vom Mobilfunk bis hin zur Nanotechnologie erfasst. Durch die Ausformung eines Risikorechts und einer flankierenden Risikodogmatik haben diese Rechtsgebiete, die auf den ersten Blick sehr unterschiedlich und weit voneinander entfernt schienen, eine neue zentrale Begrifflichkeit sowie systematische Gemeinsamkeiten erhalten und zugleich einen weitgehend kohärenten Problem- und Rechtsbereich nach sich gezogen. Auf diese Weise ist über die einzelnen Gebiete hinaus nicht nur der systematische Erkenntniswert erhöht, sondern auch der Austausch von Argumentationslinien, methodischen Vorgehensweisen und Lösungswegen erleichtert worden.5

3

Näher dazu unten III. Auf einen auch nur annähernd vollständigen Nachweis des (umfangreichen) einschlägigen Schrifttums muss im vorliegenden Rahmen verzichtet werden. Zur Ausformung des Risikorechts als Rechtsgebiet U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat: Zum Wandel der Dogmatik im Öffentlichen Recht, insbesondere im Arzneimittelrecht, 1994; zusammenfassend Wahl, Risikobewertung und Risikobewältigung (Fn. 1), S. 275 ff. 5 Wahl, Herausforderungen (Fn. 1), S. 72. 4

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1. Risikobewältigung durch Recht Zu den weithin konsentierten Ergebnissen der bisherigen Diskussion um das Risikorecht zählt, dass sichere Vorhersagen über bestimmte Folgen, über den Ausschluss oder auch nur die Beherrschung von Risiken technologischer Einwirkungen auf Umwelt und Gesundheit angesichts der Vielzahl möglicher Wirkungsketten praktisch unmöglich sind.6 Dieser naheliegende Befund zieht die Erkenntnis nach sich, dass Ziel des Risikorechts nicht die völlige Vermeidung von Risiken und Ungewissheiten, sondern nur ein rationaler Umgang mit ihnen sein kann.7 Angesichts der Gewissheitsdefizite bei der Schadensprognose ist zudem klar herausgearbeitet worden, dass sich risikorechtliche Konzeptionen nicht auf eine Strategie der Vermeidung ungewollter Folgen im Sinne einer Abwehr gegen oder Vorsorge vor Gefahren beschränken können, sondern auch die Ungewissheit selbst zum Ausgangspunkt der Risikosteuerung nehmen müssen.8 Hält man sich vor Augen, dass eine abgestufte Reaktion anhand von Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit bei geringer Prognosesicherheit keinen Sinn macht, hat in diesen Fällen auch die vom Bundesverfassungsgericht verwendete Formel wenig Überzeugungskraft, nach der Risiken, deren Verwirklichung nach dem Stand von Wissenschaft und Technik praktisch ausgeschlossen erscheinen, als sozial-adäquate Lasten den Betroffenen aufgebürdet werden dürfen.9 Denn aus dem Fehlen hinreichenden Risikowissens lässt sich weder auf die Abwesenheit von Risiken schließen noch auf das Gegenteil.10 Das Risikorecht muss daher stets zweigleisig angelegt sein: Bei einem begründeten Gefährlichkeitsverdacht muss es sich auf Vorsorgemaßnahmen richten, die diesem Verdacht angemessen sind. Zugleich aber muss es der Erkenntnis Rechnung tragen, dass das Gefahrenpotential möglicherweise nicht ausreichend bekannt ist. Daher muss die Risikosteuerung stets auch den verbleibenden Aspekt der Ungewissheit im Blick behalten. Vor diesem Hintergrund kommen dem staatlichen und dem staatlich veranlassten betrieblichen Risikomanagement vor allem zwei Aufgaben zu: Zum einen die Aufgabe der Risikowissensproduktion, um die Wissensgrenzen kontinuierlich zu erweitern und die fortlaufende Anpassung der Risikoentscheidungen an neue Erkenntnisgrundla6

A. Scherzberg, Grundlagen staatlicher Risikosteuerung, in: M. Albers (Hrsg.), Risikoregulierung im Gesundheitsbereich, 2011 (im Erscheinen), Manuskript S. 6. 7 I. Appel, Methodik des Umgangs mit Ungewissheit, in: E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg,), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 327 (337); Scherzberg, Grundlagen (Fn. 6). 8 Dazu und zum Folgenden K.-H. Ladeur, Risiko und Recht: Von der Rezeption der Erfahrung zum Prozess der Modellierung, in: Bechmann (Hrsg.), Risiko und Gesellschaft, 1993, 209 ff.; A. Scherzberg, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht: Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen?, in: VVDStRL Bd. 63 (2004), S. 214 (224 mit Fn. 57, 241); zusammenfassend ders., Grundlagen (Fn. 6), Manuskript S. 6. 9 BVerfGE 49, 89 (133 f.); krit. bereits Scherzberg, Risikosteuerung (Fn. 8), S. 241 mit weit Nachw. 10 In aller Klarheit Scherzberg, Risikosteuerung (Fn. 8), S. 214 sowie ders., Grundlagen (Fn. 6), mit dem Hinweis, dass bei schwacher Prognosegrundlage auch die Annahme etwaiger hoher und/oder irreversibler Schadensmöglichkeiten auf eben dieser Prognoseschwäche beruht.

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gen zu gewährleisten; zum anderen die Festlegung der jeweiligen Risikopräferenzen, um auf diese Weise das Maß der Risikobereitschaft zu bestimmen, das ein Gemeinwesen zu tragen bereit ist.11 2. Kernelemente des Risikorechts Über die einzelnen Gebiete hinweg haben sich sukzessive systematische Gemeinsamkeiten und Kernelemente des Risikorechts ausgebildet, die sich zu einem eigenen Problem- und Rechtsbereich mit spezifischen Argumentationslinien, methodischen Vorgehensweisen, Systemansätzen und einem eigenen Regelungsinstrumentarium verdichtet haben. Zu diesen Grundzügen und typischen Merkmalen staatlicher Risikobewältigung zählen eine ausgeweitete Vorsorge durch Risikoprognose und Risikobegrenzung, strukturelle und organisatorische Vorkehrungen zur Einbeziehung wissenschaftlich-technischen Sachverstands und der Kontrollunterworfenen in die Aufgabe der Risikoermittlung, die Einräumung weit gefasster Einschätzungsspielräume, die umfangreiche Schaffung und Verwendung untergesetzlicher Standards, die starke Verfahrensgeprägtheit sowie eine spezifische Methodik des Umgangs mit Ungewissheit. a) Vorsorge durch Risikoprognose und Risikobegrenzung Zu den Charakteristika des deutschen Risikorechts zählt die Anerkennung und grundlegende rechtliche Normierung des Vorsorgeanliegens, durch das die Risikoprognose und die Risikobegrenzung über das bereits durch Erfahrungssätze bekannte Gefährdungswissen hinaus geöffnet werden.12 Unter der Ägide der Vorsorge kann Recht angewendet und können Vorsorgemaßnahmen ergriffen werden, obwohl Ungewissheit herrscht und die Tatsachengrundlage für Prognosen gelockert ist, sofern nur ein ausreichender Besorgnisanlass besteht. Um diesen Anlass für Besorgnis sowie die daran anknüpfenden Vorsorgemaßnahmen zu präzisieren, zu begründen und zu legitimieren werden allgemeine Verfahren und Regeln entworfen, die den im Ausgang offenen und potentiell unbegrenzten Umgang mit Ungewissheitsfolgen anleiten, konkretisieren und steuern sollen.13 Dabei werden risikoregulierende Vorgaben regelmäßig nicht durch eine einzige administrative Entscheidung umgesetzt, sondern in ein Geflecht von präventiven Ermittlungs-, Bewertungs- und Entscheidungsstufen eingebunden, die den Umgang mit Unsicherheit auf einer mittleren Konkretisierungsstufe strukturieren und ordnen sollen. Die zu treffenden Entscheidungen 11

Zusammenfassend A. Scherzberg, Grundlagen (Fn. 6). K.-H. Ladeur, Risiko und Recht: Von der Rezeption der Erfahrung zum Prozess der Modellierung, in: Bechmann (Hrsg.), Risiko und Gesellschaft, 1993, 209 ff.; U. Di Fabio, Risikoentscheidungen (Fn. 4), S. 450 ff.; ders., Risikosteuerung im öffentlichen Recht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996, S. 143 (147 ff.); W. Köck, Grundzüge des Risikomanagements im Umweltrecht, in: A. Bora (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement, 1999, S. 129 (151 f.). 13 Appel, Methodik (Fn. 7), S. 334 ff. 12

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werden damit in bestimmten Verfahren und nach bestimmten Regeln abgeschichtet, die auch beim administrativen Umgang mit Unsicherheit für ein gewisses Maß an Überschaubarkeit und Gleichmäßigkeit sorgen sollen. Von ihrem Anspruch her betreffen diese Verfahren und Regeln die möglichst weitgehende Verminderung der Ungewissheit im Vorfeld von Entscheidungen, die Ermittlung und Bewertung der Ungewissheitsfolgen und schließlich den Umgang mit der verbleibenden Ungewissheit durch Vermeidungs- oder Minimierungsstrategien. Ziel ist die rechtliche Rationalisierung der ohne ausreichende Prognosegrundlage zu treffenden (Risiko-)Entscheidungen und zugleich die Eingrenzung der mit den Erkenntnisdefiziten verbundenen Kosten.14 b) Verlagerung der Risikoermittlung auf Sachverstand und Kontrollunterworfene Charakteristisch für das Risikorecht ist die strukturelle und organisatorisch abgesicherte Einbeziehung wissenschaftlich-technischen Sachverstands in die Entscheidungsvorbereitung sowie die weitgehende Verlagerung der Ermittlungslasten auf die Kontrollunterworfenen verbunden mit einer im Wesentlichen nachvollziehenden Amtsermittlung.15 Da der Kreis der in Betracht zu ziehenden (Risiko)Faktoren tendenziell offen ist und sich angesichts dynamischer Wissensbestände fortlaufend ändern kann, finden Risikoabschätzung und Risikomanagement regelmäßig in netzwerkartigen Strukturen zwischen Regierung, Verwaltung, Wissenschaft und betroffenen Unternehmen statt, die die größte Gewähr für die Erfassung und Berücksichtigung aller relevanten Belange bieten sollen. Der risikoregulierende Staat und die durch Vorsorgemaßnahmen betroffenen Anlagenbetreiber und/oder Produzenten stehen sich daher in aller Regel auch nicht nur punktuell gegenüber, sondern sind in ein auf Dynamisierung und kontinuierliche Anpassung an den jeweils aktuellen Wissensstand gerichtetes Dauerverhältnis eingebunden. Die Umsetzung des Risikorechts wird nicht der Verwaltung allein überlassen, sondern auf Beteiligung der für das Risikowissen relevanten gesellschaftlichen Kräfte angelegt,16 so dass auch Dritte und die Öffentlichkeit durchgängig in die Entscheidungsverfahren eingebunden werden.

14

Wahl/Appel, Prävention und Vorsorge (Fn. 1), S. 107; Appel, Methodik (Fn. 7), S. 334 f.; A. Karthaus, Risikomanagement durch ordnungsrechtliche Steuerung, 2001, S. 72 ff.; A. Scherzberg, Wissen, Nichtwissen und Ungewissheit im Recht, in: C. Engel/J. Halfmann/M. Schulte (Hrsg.), Wissen – Nichtwissen – Unsicheres Wissen, 2002, S. 113 (134). 15 Zusammenfassend hierzu und zum Folgenden W. Köck, Risikoverwaltung und Risikoverwaltungsrecht – Das Beispiel des Arzneimittelrechts, http://www.ufz.de/data/Disk-Papie re_2003 – 088846511.pdf, S. 6 f., abgerufen am 28. 3. 2011; vgl. auch U. Di Fabio, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1996), S. 235 (242 f.); ders., Risikoentscheidungen (Fn. 4), S. 457. 16 Appel, Methodik (Fn. 7), S. 341; Köck, Grundzüge (Fn. 12), S. 166 f.

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c) Einschätzungsspielräume und untergesetzliche Standards Zu den Eigenarten des Risikorechts zählt, dass das Verwaltungshandeln in erhöhtem Maße unbestimmt gesetzlich gesteuert wird und daher stark auf Konkretisierung durch die Verwaltung angewiesen ist. Dies hat dazu geführt, dass im Risikorecht – Teilen des Umweltrechts vergleichbar – untergesetzliche Standards und Leitlinien eine große Bedeutung erlangt haben. In den Bereichen, in denen eine Standardisierung nicht oder nur schwer möglich ist, antwortet das Risikorecht regelmäßig mit umfassenden Einschätzungs-, Bewertungs-, Vertretbarkeits- und Abwägungsspielräumen. Sind inhaltlich-materielle Einschätzungen des Risikos schwierig, werden sowohl dem Gesetzgeber bei seinen Grundentscheidungen als auch der Exekutive bei konkreten Risikoentscheidungen umfangreiche Entscheidungspielräume zuerkannt, die im Gegenzug die Reichweite der gerichtlichen Kontrolle begrenzen.17 Da die Gerichte auch unter Einbeziehung von Sachverstand die inhaltliche Einschätzung der Risiken nicht selbst vornehmen oder eine getroffene Risikoeinschätzung abändern können, verlagert sich das Risikorecht typischer Weise in den Bereich des Verfahrens. Es ist daher im Risikorecht kein Zufall, sondern strukturell bedingt, dass die rechtlichen Angriffspunkte und die möglichen Ansätze für eine rechtliche Kontrolle sich überwiegend auf die Verfahren der Risikoermittlung und Risikobewertung beziehen.18 d) Verfahrensgeprägtheit des Risikorechts Angesichts der für das Risikorecht typischen Schwierigkeit, klare materielle Standards zu formulieren, sowie der prinzipiellen Angreifbarkeit etwaiger materieller Standards setzt das Risikorecht in weitem Maße auf prozedurale Konzepte, auf Methoden der Ermittlung und Abschätzung des Risikos sowie die Festlegung der Komponenten und der Sachverständigen, die bei diesen Abschätzungen auf dem Weg zur Risikoentscheidung mitwirken.19 Kennzeichnend für das Risikorecht ist daher in vielen Fällen, dass es keine direkte und unmittelbare Antwort auf die Frage enthält, wie hoch ein bestimmtes Risiko sein darf. Regelmäßig beschränkt sich die rechtliche Aussage darauf, wer mit welchen Methoden und unter Heranziehung welchen Sachverstands feststellen darf, welches Risiko im konkreten Fall eingegangen werden darf. Entgegen dem ersten Anschein geht es dem Risikorecht daher nicht primär darum, materielle Schwellen zulässigen Risikoverhaltens festzulegen, die abstrakt generell ohnedies nur schwer zu finden wären, sondern die nur schwer regelbare materielle Frage auf Verfahrens- und Zuständigkeitsregeln zu verlagern, die näher darlegen, wer auf welchem einzuhaltenden Weg zu einem verbindlichen Ergebnis über das hinzunehmende Risiko kommen darf.20

17 18 19 20

Wahl, Risikobewertung der Exekutive (Fn. 1), S. 409 ff. Wahl, Herausforderungen (Fn. 1), S. 75. Dazu und zum Folgenden Wahl, Herausforderungen (Fn. 1), S. 71. Wahl, Herausforderungen (Fn. 1), S. 71.

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e) Methodik des Umgangs mit Ungewissheit Was die Methodik des Umgangs mit Ungewissheit anbetrifft, finden sich im Risikorecht dogmatisch übergreifend ausgeformte und zunehmend auch bereichsspezifisch festgelegte Methoden, Kriterien und Parameter, die den Prozess der Risikoerkennung und Risikobewertung leiten und rationalisieren sollen. In der Sache kommt nahezu durchgängig die – oft übergreifend als Risikomanagement bezeichnete – Vierstufung in Risikoermittlung, Risikobewertung, Risikobehandlung (Risikomanagement i. e.S.) und Risikokontrolle zum Tragen.21 Die Risikoermittlung ist Teil des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses, der mit den Mitteln der sachverständigen Wissenschaft Risiken zu ermitteln, zu bestimmen und zu analysieren sucht. Sie kommt zu (natur-)wissenschaftlichen und methodischen Aussagen, die den politischen und rechtlichen Entscheidungen zugrunde gelegt werden können, trifft hingegen selbst keine Entscheidungen oder Teilentscheidungen. Maßgebend ist die weitest mögliche Erhebung der vorhandenen Risiken durch Einbeziehung aller relevanten Faktoren und die Koppelung dieser Erhebung an den Stand der jeweiligen Erkenntnis. Zu Entscheidungen gelangt erst die der Risikoermittlung nachfolgende Risikobewertung, die nicht Sache des naturwissenschaftlichen Sachverstandes ist, sondern im demokratischen Rechtsstaat letztlich von den gesetzlich legitimierten und gebundenen Staatsorganen zu verantworten ist.22 Da Risiken nicht per se Abwehrmaßnahmen hervorrufen, viele Risiken vielmehr zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele und Nutzen in Kauf genommen werden, bedarf es stets der Wertung und Festlegung, wo die Grenze zu den nicht mehr hinnehmbaren Risiken verlaufen und Abwehrmaßnahmen vorgesehen werden sollen. Bei der Risikobewertung kommt dem wissenschaftlichen Sachverstand eine lediglich beratende oder empfehlende Aufgabe zu. An die Risikobewertung anknüpfend werden auf einer dritten Stufe mit dem Risikomanagement im engeren Sinne die Instrumente und Maßnahmen vorgesehen und festgelegt, mit denen den als nicht hinnehmbar bewerteten Risiken begegnet werden soll. Risikokontrollregime wachen schließlich über die weitere Entwicklung in der Zeit, indem die Effektivität risikoregulierender Maßnahmen beurteilt, etwaige Änderungen des Wissensbestandes berücksichtigt und eventuelle Nachsteuerungen in Angriff genommen werden sollen.

III. Vorsorgebezogenes Risikorecht versus Risk-Based Approach Kennzeichnend für das deutsche Risikorecht ist eine starke Ausrichtung am Vorsorgegrundsatz. Dabei wirkt sich aus, dass das Vorsorgeprinzip im Unterschied zum Verursacherprinzip nicht auf engen Zuordnungsmustern beruht, sondern weitgehend 21

Näher dazu Wahl/Appel, Prävention und Vorsorge (Fn. 1), S. 106 ff.; Appel, Methodik (Fn. 7), S. 336 ff.; Köck, Risikoverwaltung (Fn. 15), S. 6 f. 22 Dazu R. Breuer, Probabilistische Risikoanalysen im Gentechnikrecht, NuR 1994, 157 (160).

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raum- und auch zeitneutral ist.23 Die rechtliche Herausforderung besteht darin, die Unbegrenztheit und Offenheit der Vorsorge rational nachvollziehbar einzugrenzen und damit auch rechtsstaatlich einzubinden. Diese Eingrenzung vorzunehmen und zu begründen ist zentrale Aufgabe der risikorechtlichen Sicherheitsdogmatik. In der Sache ist entscheidend, wie weitreichend und anspruchsvoll die Anforderungen formuliert werden, die an die rationale Nachvollziehbarkeit und die damit verbundene Eingrenzung risikoregulierender (vorsorgender) Maßnahmen gestellt werden. Dabei hat sich die Rechtfertigungsdimension des Vorsorgeprinzips für staatliche Risikoregulierungsmaßnahmen insofern als ausgesprochen stark erwiesen, als die Anforderungen an die Begründung von Besorgnisanlässen und deren wissenschaftliche Fundierung im deutschen Risikorecht nicht allzu hoch angesetzt werden. Trotz der sich im internationalen Kontext seit geraumer Zeit abzeichnenden Tendenz, das Vorsorge- und Risikoverständnis naturwissenschaftlich(er) anzulegen und Vorsorgemaßnahmen vom Vorliegen entsprechender „objektiver“ Begründungszusammenhänge und Nachweise abhängig zu machen,24 räumt das stark vorsorgegeprägte deutsche Risikorecht sowohl dem Gesetzgeber als auch der Verwaltung bei der Einschätzung des vorhandenen Risikos erhebliche Spielräume ein. Selbst das Bundesverfassungsgericht gesteht dem Gesetzgeber im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative ohne Weiteres zu, ein weitreichendes „Basisrisiko“ für den gesamten Bereich der Gentechnik anzunehmen,25 ohne sich auf den aktuellen Wissensstand in den Naturwissenschaften zu beziehen. Auf diese Weise sind auch ohne gesteigerte wissenschaftliche Rechtfertigungslast grundlegende Entscheidungen für Vorsorge und Vorsicht in einer Weise begründbar, die den (verfassungs)rechtlichen Anforderungen standhält. Bei unklarer oder ungesicherter Risikobeurteilung reicht eine begründete Vermutung aus, um risikoregulierende Maßnahmen bis hin zur völligen Risikovermeidung zu rechtfertigen.26 23

R. Wolf, Die Risiken des Risikorechts, in: A. Bora (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement, 1999, S. 65 (82); zuvor bereits P. Saladin, Probleme des langfristigen Umweltschutzes, KritV 1989, 27 (35). 24 Vgl. B. Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, 2009, S. 107 ff.; A. Scherzberg, Risikoabschätzung unter Ungewissheit – Preliminary risk assessment im Kontext der Nanotechnologie, ZUR 2010, S. 303 (306 ff.). 25 BVerfG, Urt. v. 24. 10. 2010 (1 BvF 2/05 – Gentechnikgesetz), Rn. 142. Mag die nicht weiter begründete Annahme eines solchen Basisrisikos in der Anfangsphase der rechtlichen Beurteilung der Gentechnik vertretbar gewesen sein, ohne einen wissenschaftlich-empirischen Nachweis einzelner Gefährdungspotentiale zu fordern, stellt sich mit zunehmendem Kenntnisstand zumindest die Frage, ob die verfassungsrechtliche Beurteilung darüber hinwegsehen darf, dass die naturwissenschaftliche Beurteilung mittlerweile differenzierter ausfällt als bei Einführung des Begriffs „Basisrisiko“ Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts (grundlegend zum „Basisrisiko“ der Gentechnik Wahl, Kommentierung Gentechnikgesetz [Fn. 1], Vorb. vor § 1). Konkret stellt sich die Frage, ob das Verfassungsrecht dem Gesetzgeber unter Berufung auf seinen weiten Einschätzungs- und Wertungsspielraum zugestehen darf, der Gentechnik insgesamt ein „Basisrisiko“ zu unterstellen, ohne sich auf den jeweils aktuellen Wissensstand in den Naturwissenschaften zu beziehen. 26 Scherzberg, Risikoabschätzung (Fn. 24), S. 306 f.

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Dieses vergleichsweise weite Vorsorgeverständnis kommt jedoch in jüngster Zeit unter verstärkten Druck. Denn mit dem Konzept eines Risk-Based Approach sind neue Impulse in die kontinentaleuropäische Diskussion um das Risikorecht hineingetragen worden.27 Begriff und Idee des Risk-Based Approach, die ursprünglich aus dem anglo-amerikanischen Bereich stammen, sind seit einiger Zeit auch auf europäischer Ebene präsent und finden sich namentlich in Papieren des Netzwerks der nationalen Umweltagenturen Europas (EPA-Netzwerk) wieder.28 Teilweise werden sie als eine zu verfolgende Strategie beim Streben nach einer besseren Regulierung im Umweltbereich ausgegeben. Auf einen kurzen Nenner gebracht zielt der RiskBased Approach darauf ab, risikoregulierende Maßnahmen anlassadäquat und wirkungsbezogen auszuformen und einzusetzen. Staatliche Risikoregulierung soll zu ihrer Rechtfertigung effektiver, auf nachvollziehbare wissenschaftliche Nachweise gestützter Begründungen bedürfen. Sowohl bei der Beurteilung der Anlassadäquanz als auch beim Einsatz risikoregulierender Maßnahmen sollen ökonomische Aspekte und Kosten-Nutzen-Erwägungen eine maßgebende Rolle spielen. Ziel ist eine Rationalisierung von Risikoentscheidungen verbunden mit einer möglichst weitgehenden Minimierung des Aufwandes (Bürokratiekosten) und der mit der Einschränkung von Freiheiten verbundenen Belastungen risikoregulierender Maßnahmen (sozioökonomische Kosten). Die zentrale Ausrichtung auf Rationalität und wissenschaftliche Nachweisbarkeit verdeutlicht, dass der im angelsächsischen Bereich geläufige und von dort auf die europäische Ebene gelangte Begriff des „Risk-Based Approach“ das Grundanliegen des Ansatzes nur ungenau wiedergibt. Dem US-amerikanischen Sprachgebrauch entsprechend geht es in der Sache eher um einen „Science-Based Approach“,29 sofern die erhöhten wissenschaftsbasierten Begründungserfordernisse in Rede stehen. Hält man sich den Ansatz in seiner Gesamtheit vor Augen, läge die Bezeichnung als „Science and Cost-based Approach“ nahe.

27 Näher zum Risk-Based Approach B. Hutter, The Attractions of Risk-Based Regulation: Accounting for the Emergence of Risk Ideas in Regulation, ESRC Centre for Analysis of Risk an Regulation der London School of Economics an Political Science, Discussion Paper NO: 33 (März 2005), S. 2 ff. (abrufbar unter http://www .lse.ac.uk/collections/CARR/pdf/DPs/Disspaper33.pdf, abgerufen am: 28. 3. 2011); H. Rothstein et al, The Risks of Risk-Based Regulation: Insights from the Environmental Policy Domain, Environment International 2006, S. 1056 ff.; A. Gouldson et al., Better Environmental Regulation – Contributions from RiskBased Decision-Making, Science of Total Environment, 2009, 5283 ff.; vgl. zusammenfassend auch H. Hill, Risiko-Management in der englischen Verwaltung, 2003, der zentrale Anleitungen des Cabinet Office, der HM Treasury (Finanzministerium), des National Audit Office (Rechnungshof) und der Audit Commission (Prüfanstalt für Gemeinden) im Originaltext wiedergibt. 28 Network of Heads of European Environment Protection Agencies, Improving the Effectiveness of EU Environmental Regulation – A FutureVision, April 2008, S. 5, 7, 15; vgl. auch Environment Agency for England and Wales, Delivering for the environment. A 21st Century approach to regulation, 2005, S. 2. 29 C. Sunstein, Laws of Fear – Beyond the Precautionary Principle, 2005; zusammenfassend zum „Science-based Approach im US-amerikanischen Rechtskreis A. Scherzberg, Risikoabschätzung (Fn. 24), S. 306 ff.

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Trotz mancher Unterschiede im Detail werden dem Risk-Based Approach weitgehend übereinstimmend einzelne spezifische Grundelemente und ein daraus ableitbares Grundanliegen zugeordnet. Zu diesen Grundelementen des Risk-Based Approach zählen:30 • die Koppelung staatlicher Regulierung an risikobasierte Vorgehensweisen • der auf Rationalisierung und wissenschaftliche Nachweise gestützte Umgang mit Risiken • die möglichst weitgehende Benennung aller relevanten Risikofaktoren • erhöhte Anforderungen an Begründungszusammenhänge • die Einforderung eines erhöhten Grades an „evidence“ für die Begründung einer Besorgnis mit korrespondierenden Begründungslasten der Behörden • eine verstärkte Folgen- und Wirkungsorientierung • die Abstützung von Risikoentscheidungen auf Kosten-Nutzen-Erwägungen • die Einbeziehung politischer, sozialer und ökonomischer Aspekte in die Entscheidungsfindung mit einer eindeutigen Fokussierung auf ökonomische Aspekte • die verstärkte Einforderung von Kausalität zwischen Instrumenteneinsatz und positiven Umwelteffekten • die Koppelung der eingesetzten Ressourcen an Umfang und Ausmaß der ermittelten Risiken sowohl beim Instrumenteneinsatz als auch bei der Risikokontrolle • verstärkte Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Kooperation. Legt man den für das Risikomanagement entwickelten Vierschritt von Risikoermittlung, Risikobewertung, Risikobehandlung und Risikokontrolle zugrunde, betreffen und beeinflussen die einzelnen Elemente des Risk Based Approach alle vier Ebenen des Risikomanagements. Dabei liegt die Vermutung nahe, dass das Konzept zu einem beträchtlichen Teil als Antwort auf die spezifischen Probleme risikobezogener Regulierung im Umweltbereich begriffen werden kann. Dies gilt namentlich für die möglichst weitgehende Benennung der relevanten Risikofaktoren, die Konkretisierung von Besorgnisanlässen, den erhöhten Grad an „evidence“ für die Begründung einer solchen Besorgnis sowie die Bestimmung der Verhältnismäßigkeit staatlicher Risikoregulierung unter Ungewissheitsbedingungen. Obwohl der Risk-Based Approach selbst mit beträchtlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat und erheblichen Einwänden ausgesetzt sein kann,31 gibt er doch allen Anlass, die deutsche und europäische Sicherheitsdogmatik kritisch zu hinterfragen. 30

Vgl. dazu nur (je mit weit. Nachw.) Hutter, The Attractions of Risk-Based Regulation (Fn. 27); Rothstein et al, The Risks of Risk-Based Regulation (Fn. 27); Gouldson et al., Better Environmental Regulation (Fn. 27). Zusammenfassend dazu und zum Folgenden I. Appel/Sebastian Mielke, Anwendung eines Risk-Based Approach bei der Regulierung im Umweltrecht, Bericht für das Umweltbundesamt (FKZ 363 01 270), erscheint demnächst. 31 Näher dazu Appel/Mielke, Risk-Based Approach (Fn. 30).

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IV. Grundprobleme und Grenzen des Risikorechts Das dem Risk-Based Approach inhärente Anliegen einer durchgängigen und möglichst transparenten Rationalisierung der Sicherheitsdogmatik birgt, sofern es konstruktiv gewendet wird, ein beträchtliches kritisches Potential. Insofern scheint es sinnvoll, sich die Grundprobleme und Grenzen des rechtlichen Umgangs mit Risiken zu vergegenwärtigen, um einschätzen zu können, ob und inwieweit die mit dem RiskBased Approach verbundenen Argumentationslinien zu einer Fortentwicklung des Risikorechts und der Risikodogmatik beitragen können. 1. Grenzen der Risikoermittlung a) Aufwand und Komplexität der Rechts- und Folgenabschätzung Zu den Ausgangsproblemen des Risikorechts zählt die prinzipielle Offenheit der Folgenperspektive bei der Ermittlung möglicher Risiken. Das Spektrum der Auswirkungen, die es zu ermitteln und zu bewerten gilt, ist grundsätzlich unbegrenzt. Würde das Risikorecht mit einer entsprechend komplexen und anspruchsvollen offenen Folgenperspektive verknüpft, hätte es mit einer regelmäßigen (Über-)Komplexität und daraus folgenden weitgehenden Handlungsunfähigkeit zu kämpfen. Es zählt jedoch mittlerweile zu den Gemeinplätzen der Risiko- und Folgenabschätzung, dass es aus praktischen wie aus Erkenntnisgründen regelmäßig nicht um die vollständige Erfassung, sondern nur um eine Eingrenzung der relevanten Folgen gehen kann.32 Sofern es sich um typische und wiederkehrende Fälle handelt, führt in aller Regel eine Standardisierung und Formalisierung zu einer Eingrenzung der Perspektive und einer damit verbundenen Komplexitätsreduktion. Ist eine Standardisierung nicht möglich, muss die Folgenorientierung durch Festlegung eines angemessenen Untersuchungsrahmens im Einzelfall begrenzt werden. Das Beispiel der Umweltverträglichkeitsprüfung mit dem dort vorgesehenen Scoping-Verfahren und die Eingrenzung des Untersuchungsrahmens bei gentechnischen Arbeiten in gentechnischen Anlagen zeigen exemplarisch, dass eine Begrenzung der Risiko- und Folgenperspektive auch im Einzelfall möglich ist. Das Risikorecht muss, wenn es praktisch handhabbar sein soll, einen solchen Untersuchungsrahmen festlegen und damit die Folgenperspektive begrenzen. Um eine solche Eingrenzung käme auch ein Risk-Based Approach nicht umhin, selbst wenn die staatliche Risikoregulierung insgesamt auf möglichst um-

32 Für die Folgenorientierung allgemein A. Grunwald, Technik für die Gesellschaft von morgen, 2000, S. 217 ff.; K.-H. Ladeur, Risikooffenheit und Zurechnung – insbesondere im Umweltrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 111 ff.; G. Hermes, Folgenberücksichtigung in der Verwaltungspraxis und in einer wirkungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 359 (360).

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fangreiche, effektive und nachvollziehbare wissenschaftliche Nachweise gestützt werden sollte. b) Schwierigkeiten und Unsicherheiten der Prognose Ein wesentliches Problem von Risiko- und Folgenabschätzungen liegt darin, dass die Prognose der potentiellen Folgewirkungen erheblichen Unsicherheiten ausgesetzt ist.33 Es ist kennzeichnend für umweltrelevante Tätigkeiten, vor allem aber auch für umwelt- und gesundheitsrelevante innovative Technologien, dass die Abschätzung der Folgen und die Beurteilung von Nutzen und Risiken mit erheblichen Prognoseschwierigkeiten verbunden sind.34 Hinzu kommt, dass sich die Folgen bestimmter Entscheidungen für die Umwelt und deren Zustand oft erst nach längerer Zeit zeigen. Regelmäßig sind keine Prognosemethoden vorhanden, die die Komplexität und Langfristigkeit von unter Umständen neuartigen Entwicklungen umfassend erfassen und bewältigen können. Hinzu kommen bestehende Theoriedefizite und mangelnde Kenntnisse über Ursache-Wirkungsbeziehungen, die eine klare Einschätzung und Bewertung erschweren können. Die typische Entscheidungslage, die durch eine Folgenabschätzung vorbereitet werden soll, ist dadurch gekennzeichnet,35 dass einzelne Tätigkeiten, Projekte oder der Einsatz bestimmter unter Umständen innovativer Technologien wirtschaftlichen und/oder gesellschaftlichen Nutzen verspricht, die Möglichkeit von Risiken und Schäden aber nicht ausgeschlossen werden kann. Darüber hinaus sind die langfristigen positiven und negativen Auswirkungen einzelner Tätigkeiten, Projekte oder der Einführung und Nutzung einer unter Umständen innovativen Technologie in den meisten Fällen nur schwer vorhersehbar. Schadstoffe sind nicht immer stabil, Umwelteinflüsse oftmals ungewiss und der jeweils in Rede stehende Sachverhalt eine sich verändernde Größe. Wie schwierig der Umgang mit Risiken im Bereich der Umwelt ist, zeigen Änderungen der Risikoabschätzung und -bewertung, deren naturwissenschaftlich-technische Grundlage praktisch nur schwer von normativen Wertentscheidungen über das zu akzeptierende Restrisiko getrennt werden kann. Bisher als unbedenklich angesehene Stoffe erweisen sich mit einem Mal als schädlich. Der daraus erwachsenden Umweltgefahr wird nicht selten dadurch begegnet, dass ein erkanntes Risiko gegen ein (noch) unbekanntes ausgetauscht wird.36 Auch der Risk-Based Approach ordnet sich in diese Entwicklung ein, wenn er eine als schädlich erkannte Ursache-Wirkungs-Beziehung dadurch zu beheben sucht, dass er den Verursacher zur Verlagerung der Folgen seines Verhaltens auf 33 G. Frederichs/H. Blume, Umweltprognosen: Methoden und Anwendungsprobleme der modernen Umweltpolitik, 1990, S. 31 ff.; G.Bechmann/J. Jörissen, Technikfolgenabschätzung und Umweltverträglichkeit, KritV 1992, S. 140 (153). 34 Allgemein zu diesen – im Folgenden näher präzisierten Schwierigkeiten der Prognose und des Maßstabs – bereits I. Appel, Aufgaben und Verfahren der Innovationsfolgenabschätzung, in: M. Eifert/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationsverantwortung, 2009, S. 147 (158 ff.). 35 Dazu – bezogen auf Zukunftstechnologien – E. Bohne, Staat und Konfliktbewältigung bei Zukunftstechnologien, NVwZ 1999, 1 (4). 36 Wahl/Appel, Prävention und Vorsorge (Fn. 1), S. 7.

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eine höhere Unsicherheits- oder Komplexitätsstufe veranlasst, die mit den vorhandenen Mitteln der Risikoabschätzung und -bewertung nicht mehr als rechtlich relevantes Risikopotential erkannt werden kann.37 Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass auch die rationale Nachvollziehbarkeit und wissenschaftliche (Nicht-)Nachweisbarkeit nur relative Größen sind. Das Risikorecht kann zwar – wie die entsprechenden Ansätze des Risk-Based Approach zeigen – den Versuch unternehmen, die (stets) verbleibende Prognoseunsicherheit als zu berücksichtigenden Faktor (als Wahrscheinlichkeitskoeffizienten38) in die Bewertung des Risikos einzubeziehen. Bei entsprechender Berücksichtigung einer Fehlertoleranz wäre die Quantifizierung eines Risikos damit auch in Unsicherheitssituationen möglich. Es ist jedoch fraglich, ob und inwieweit die Unsicherheit, zumal wenn sie sich auf wichtige Gemeinwohlgüter bezieht, im öffentlichen Bereich tatsächlich angemessen in die Risikobewertung eingestellt werden kann. Dies gilt umso mehr, als der Aufwand zur Gewinnung aussagekräftiger Bewertungsmaßstäbe enorm sein kann und sich allenfalls für Großprojekte rechtfertigen ließe, die Bewertung im Übrigen aber typisiert und standardisiert vorgenommen werden müsste. Zudem zeigt die neuere Forschung und Entwicklung, dass es durchaus unterschiedliche Formen der Unsicherheit, der Ungewissheit, des spezifischen und des unspezifischen Nichtwissens gibt,39 die verschieden zu beurteilen sind und nur schwer als aussagekräftige Faktoren in die Risikobewertung einbezogen werden können. c) Abhängigkeit von wissenschaftlicher Beratung und Interdisziplinarität Das Risikorecht ist seit seiner Entstehung als eigenständiges Rechtsgebiet einer starken Szientifizierung ausgesetzt, die sich vor allem in der regelmäßigen und verstärkten Einbeziehung von Sachverstand zeigt.40 Um mit Unsicherheiten und Ungewissheiten angemessen umgehen zu können, muss der Anteil des über das Alltagswissen hinausgehenden und nur wissenschaftlich zu analysierenden Fachwissens sowie der darauf gestützten Untersuchungen und Prognosen breit gehalten werden. Auf diese Weise ist das Risikorecht – dem Umwelt- und Technikrecht nachfolgend – zu einem Bereich avanciert, in dem die Sachverständigenproblematik besonders vi37 Zu der damit verbundenen allgemeinen Problematik des risikobezogenen Umweltrechts D. Murswiek, Hoffen auf die große Krise, FAZ vom 16. 10. 1992, S. 38. 38 M. Fehling, Kosten-Nutzen als Maßstab für Verwaltungsentscheidungen, VerwArch 95 (2004), S. 443 (444). 39 Während das spezifische Nichtwissen hinsichtlich seines Risikopotentials (noch) bewertbar sein soll, handelt es sich beim unspezifischen Nichtwissen um ein kategorisch (noch oder dauerhaft) unverfügbares Nichtwissen, bei dem sich noch nicht einmal sagen lässt, was (noch) nicht gewusst wird; vgl. dazu Hoffmann-Riem, Innovationsverantwortung – eine Einleitung, in: Eifert/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovationsverantwortung, 2009, S. 11 (20 mit Fn. 35). Zu den Problemdimensionen der Ungewissheit für das Recht Scherzberg, Wissen (Fn. 14), S. 113 ff. 40 Allgemein für das Umwelt- und Technikrecht Wahl, Herausforderungen (Fn. 1), S. 66.

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rulent ist. In vielen Teilbereichen sind die Sachprobleme so komplex und die Reaktionsweisen so unsicher, dass die Heranziehung wissenschaftlichen und/oder technischen Sachverstands zum rechtlichen Alltag zählt. Die Einbeziehung des Sachverstands führt dazu, dass das Risikorecht ansatzbedingt interdisziplinär angelegt ist.41 Diese Interdisziplinarität kann zu schwierigen Zuordnungs- und Verantwortungsproblemen im Verhältnis von Entscheidungsträgern und entscheidungsprägendem technischen Sachverstand führen, wenn unklar ist, zu welchen Bedingungen das Risikorecht Erkenntnisse anderer Disziplinen aufnehmen kann und darf, um einerseits effektives staatliches Handeln zu ermöglichen, andererseits aber auch die Legitimierbarkeit dieser durch maßgebenden Sachverstand geprägten Entscheidungen zu gewährleisten.42 Die Zusammenführung von wissenschaftlicher Beratung und politisch-administrativer Entscheidung, die sich in der weitgehenden Verknüpfung von Risikorecht und wissenschaftlicher Expertise zeigt, lebt vom Vertrauen in die Verfügbarkeit sachverständigen Wissens und die Ausgewogenheit der wissenschaftlichen Expertise. Dies gilt in besonderem Maße für Ansätze wie den Risk-Based Approach, die Risikoentscheidungen an Begründungen knüpfen, denen ein hoher Grad an wissenschaftlicher „evidence“ zukommen soll. Das Vertrauen in sachverständiges Wissen als zentrale Ressource des Risikorechts ist jedoch prekär, und wo es prekär ist, infiziert es auch das Recht.43 Selbst in pluralistisch besetzten Gremien wie der Zentralen Kommission für die Biologische Sicherheit im Gentechnikrecht ist oft vom relativen und vergleichsweise zufälligen Wissensstand einzelner Mitglieder abhängig, ob die Erkenntnisse und Erfahrungen einzelner Disziplinen in rechtliche Entscheidungsprozesse eingespeist werden. Dies gilt umso mehr, wenn aus einer Disziplin heraus auf die Wissensbestände tatsächlich oder vermeintlich relevanter (Nachbar)Disziplinen zurückgegriffen wird. Hinzu kommt, dass mehr Wissen nicht ohne Weiteres mehr Gewissheit bedeutet, sondern im Gegenteil immer neue ungelöste Fragen nach sich ziehen kann. Mehr Wissen kann auch erst vor Augen führen, wie unsicher die Prämissen sind, auf die sich Messverfahren, Bewertungen, Grenzwertfestlegungen, Qualitätsziele und Regelungsmodelle stützen.44 Zudem ist Wissen keine Ressource, die der Staat ohne Weiteres produzieren und akkumulieren könnte. Er muss sie sich aus Wissenschaft, Technik und Wirtschaft beschaffen und ist insoweit auch auf kooperatives Handeln angewiesen. In dem Maße, in dem sich das Risikorecht auf Materien bezieht, die an den Grenzen des Wissens operieren und klare Aussagen des wis41

Für das Umwelt- und Technikrecht Wahl, Herausforderungen (Fn. 1), S. 66 f. Zur Problematik, bezogen auf das Umweltverfassungsrecht, auch I. Appel, Eigenwert der Verfassung im Umweltrecht, in: T. Vesting/S. Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrecht – Was bleibt von der Verfassung nach der Globalisierung?, 2011 (im Erscheinen); allgemein zur Problematik Joerges/Ladeur/Vos (Ed.), Integrating Scientific Expertise into Regulatory Decision-Making, 1997. 43 Allgemein bezogen auf das Wissen als prekäre Ressource R. Wolf, Die Risiken des Risikorechts, in: A. Bora (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement, 1999, S. 65 (78). 44 Wolf, Risiken (Fn. 43), S. 78. 42

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senschaftlichen Sachverstands unmöglich machen, wird das Vertrauen in die wissenschaftliche Expertise brüchig und der (partielle) Legitimationsbeitrag des Sachverstands bei Risikoentscheidungen dementsprechend geschwächt. Vor diesem Hintergrund spricht viel für die These, dass der Risk-Based Approach mit seinem Streben nach Rationalität und wissenschaftlicher Fundierung von Risikoentscheidungen zu kurz greift. Zwar kann in dem Maße, in dem das nötige Wissen verfügbar ist, dem Anliegen des Risk-Based Approach Rechnung getragen werden. Dort wo eine immer bessere Spezifizierung aber nicht möglich oder wenig erfolgversprechend ist und riskantes Handeln nicht einfach schärfer begrenzt werden kann, muss sich das Risikorecht zentral auch mit der Frage auseinandersetzen, wie mit Ungewissheit umzugehen ist.45 2. Wissen und Werten Je unsicherer die Erkenntnisgrundlagen, je theoretischer und empirisch ungesicherter die Risikoerkenntnisse sind, umso wichtiger werden im Rahmen von Risikoentscheidungen die politisch wertende Komponente und die Wertungsspielräume des Gesetzgebers, der Verwaltung und – entsprechend der Reichweite ihrer Kontrollbefugnisse – der Gerichte.46 Aber auch wenn die Erkenntnisse über die bestehenden Risiken vergleichsweise gesichert sind, handelt es sich stets um eine an die Risikoermittlung anschließende Wertung, ob und inwieweit bestimmte Risiken und verbleibende Ungewissheiten hingenommen werden sollen oder nicht. Der Risk-Based Approach kann vor diesem Hintergrund auch als Versuch gelesen werden, die Bedeutung des wertenden Elements dadurch zu minimieren, dass auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Nachweise rekurriert und diese als maßgebend für bestimmte Risikoentscheidungen ausgegeben werden. Damit ist jedoch die Gefahr verbunden, dass von den auf der Ebene der Risikoermittlung geforderten wissenschaftlich begründeten, rational nachvollziehbaren Erkenntnissen über einzelne Risikopotentiale vorschnell auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Handlungsbedarfs geschlossen wird.47 Aus der bloßen Beschreibung und Analyse spezifischer Eigenheiten eines Stoffes oder bestimmter physikalischer Vorgänge und Zusammenhänge als eines Ist-Zustandes kann aber – wenn kein naturalistischer Fehlschluss begangen werden soll – nicht auf die normative Sollens-Vorgabe geschlossen werden, welcher ökologische Zustand oder Be45 K.-H. Ladeur, Risikowissen und Risikoentscheidung, KritV 1991, 241, 255; vgl. auch ders., Risiko und Recht – Von der Rezeption der Erfahrung zum Prozeß der Modellierung, in: G. Bechmann (Hrsg.), Risiko und Gesellschaft, 1993, S. 209 ff.; ders., Risikooffenheit und Zurechnung, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 111 ff.; ders., Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft. Von der Gefahrenabwehr zum Risikomanagement, 1995. 46 Wahl, Herausforderungen (Fn. 1), S. 74. 47 Mit dem Rückgriff auf die Naturwissenschaften und die dortige Beschreibung von Risiken und Ursachenzusammenhängen wächst die Versuchung, aus deskriptiven Aussagen über einen gegebenen Zustand einen Anlass für risikoregulierende Maßnahmen und mit ihm die normative Festlegung entsprechender Anforderungen abzuleiten oder umgekehrt einen solchen Anlass von vornherein auszuschließen.

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stand durch konkrete Maßnahmen der Risikoregulierung erhalten werden soll. Der naturwissenschaftlichen Beschreibung von Stoffen, Zuständen, Zusammenhängen oder Vorgängen lässt sich kein Maßstab und kein Kriterium dafür entnehmen, welche Risiken für die menschliche Gesundheit, die Umwelt oder die Natur hingenommen werden sollen oder nicht. Ohne nähere Angaben zum angestrebten und erwünschten Niveau und der Art des ökologischen Bezugssystems kann Risikoregulierung, auch als Risikominimierung, keine praktikable Zielvorstellung sein. Die Faszinationskraft, die sich aus einer rationalen Methode zur Konkretisierung und Operationalisierung der Risikoforschung ergibt, darf nicht dazu verleiten, daraus bestimmte Entscheidungen abzuleiten. Die Risikoermittlung, so rational nachvollziehbar sie erfolgen mag, bleibt Teil des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Sie vermittelt „lediglich Erkenntnisse über Tatsachen und naturwissenschaftliche Gesetze; somit führt sie zu Aussagen, nicht hingegen zu Entscheidungen und nicht einmal zu Vorentscheidungen, Empfehlungen oder Vorschlägen. Erst die nachfolgende Risikobewertung enthält eine subjektive Gewichtung und Abwägung der erkannten Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten, auch der Ungewissheiten und Wissenslücken sowie der berührten Belange der Allgemeinheit und des einzelnen. Mithin führt erst die Risikobewertung zur Entscheidung.“48 Neben den Schwierigkeiten der prinzipiell offenen Folgenperspektive und der Prognoseunsicherheit muss sich die mit dem Risikorecht verbundene Risiko- und Folgenabschätzung dem Problem stellen, welche Folgen für eine Entscheidung überhaupt Relevanz haben sollen, wie sie zu gewichten sind und welche Maßstäbe für die Beurteilung und Bewertung der Folgen ausschlaggebend sein sollen.49 Folgenermittlung und Folgenbewertung sind nur in dem Maße rational nachvollziehbar und dementsprechend begründet verwertbar, in dem das Gewicht einzelner Folgen und die Bewertungsaspekte klar sind und offen gelegt werden. Es reicht daher nicht aus, die Bedeutung von Folgengesichtspunkten zu erkennen und anzuerkennen. Ebenso wichtig ist die Erkenntnis, dass die Folgenbewertung notwendiger Weise auf eine Ziel- bzw. Zweckstruktur bezogen werden muss.50 Nur in dem Maße, in dem sich diese (klar) aus den Entscheidungsgrundlagen der anzuwendenden Normen ergibt, ist die Maßstabsproblematik mit rechtlichen Mitteln überhaupt zu bewältigen.51 So gesehen muss die Folgenperspektive, wenn sie rechtlich handhabbar sein soll, zwangsläufig mit einer Zweckprogrammierung verknüpft werden. Dieser Bezug ist bei den verschiedenen Konzepten des Umgangs mit Risiken nicht immer erkennbar. 48

Breuer, Probabilistische Analysen (Fn. 22), 160 f. Näher dazu Appel, Innovationsfolgenabschätzung (Fn. 34), S. 159 f. 50 Folgenorientierung setzt insofern eine Zweckprogrammierung voraus, als sie zwangsläufig einen Bewertungsmaßstab erfordert, anhand dessen der Umgang mit den Folgen rationalisiert werden kann. 51 Vgl. zur Maßstabsproblematik auch Lohmeyer, Technology Assessment: Anspruch, Möglichkeiten und Grenzen, 1984, S. 489; Ropohl, Technikbewertung als gesellschaftlicher Lernprozess, in: Ropohl/Schuchardt/Wolf (Hrsg.), Schlüsseltexte zur Technikbewertung, 1990, S. 198; Bechmann/Jörissen (Fn. 33), S. 161 f. 49

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Selbst wenn man den Bezug der Folgenperspektive zu einer Ziel- und Zweckstruktur grundlegend anerkennt, fehlt es oft an präzisen und rational nachprüfbaren Kriterien dafür, anhand welcher von einer Vielzahl möglicher Verfassungs(rechts)güter oder Gesetzeszwecke die ermittelten Folgen bewertet und welche Zwecke wie stark gewichtet werden sollen. Während es bei der Technikfolgenabschätzung und der Umweltverträglichkeitsprüfung um die Vermeidung kritischer Folgen für Leben, Gesundheit und Umwelt ging und geht, so dass die zu verfolgenden Zwecke vergleichsweise klar und homogen(er) waren und sind, ist die Zielstruktur im Risikorecht ansatzbedingt offener:52 Auf der einen Seite wird das Ziel verfolgt, Chancen und Nutzen bestimmter Technologien zu erkennen und zu ermöglichen, auf der anderen Seite sollen die negativen und kritischen Folgen und Nebenfolgen vermieden oder jedenfalls vermindert werden. Welcher dieser Zwecke in welchem Umfang maßgebend ist und wie sie zueinander ins Verhältnis zu setzen sind, ist im Ansatz offen. Sind die einzigen Ausgangs- und Anhaltspunkte für die Folgenbewertung vielschichtige Zielvorgaben,53 besteht die Aufgabe von Verwaltung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft nicht zuletzt darin, die (gesetzgeberischen) Zielvorgaben so zu konkretisieren und methodisch aufzuladen, dass sie eine rational nachvollziehbare Ausrichtung an den Folgen überhaupt erst ermöglichen. Diesem Anliegen soll im Rahmen des Risk-Based Approach offenbar die Kosten-Nutzen-Analyse Rechnung tragen, die aber ihrerseits mit Maßstabsproblemen zu kämpfen hat.54

3. Ökonomisierung des Risikorechts Dem allgemeinen Bedeutungszuwachs von Wirtschaftlichkeitserwägungen im Recht entsprechend ist auch das Risikorecht zunehmenden Ökonomisierungsbestrebungen ausgesetzt. Zu den prominentesten, zugleich aber auch problematischsten Instrumenten zählen in diesem Zusammenhang Kosten-Nutzen-Analysen, die auch als zentrales Element des Risk-Based Approach in Erscheinung treten. Die Besonderheit von Kosten-Nutzen-Analysen im Risikorecht liegt in der erheblichen Weitung der Perspektive.55 Denn bei der Risikobewertung sollen die insgesamt zu erwartenden Kosten gegen die insgesamt zu erwartenden Vorteile abgewogen werden, um im Ergebnis die beste bzw. rentabelste Lösung zu finden. Dabei gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass Kosten-Nutzen-Analysen bei der Risikobewertung typischer Weise in einem Zwischenbereich zwischen den nicht akzeptablen und den akzeptablen, vernachlässigbaren Risiken zur Anwendung kommen sollen. In diesem Zwischenbereich, in dem die Risiken so niedrig wie vernünftigerweise möglich gehalten werden sollen, können Kosten-Nutzen-Analysen eine Entscheidungshilfe dafür bieten, wie 52

Vgl. Appel, Innovationsfolgenabschätzung (Fn. 34), S. 159 f. T. Wäldle, Juristische Folgenorientierung, 1979, S. 12. 54 Vgl. unten III.3. 55 Dazu und zu den folgenden Vor- und Nachteilen von Kosten-Nutzen-Analysen im Risikorecht Appel/Mielke, Risk-Based Approach (Fn. 30). Allgemein zu Kosten-Nutzen-Analysen im Öffentlichen Recht Fehling, Kosten-Nutzen-Analysen (Fn. 38) mit zahlr. weit. Nachw. 53

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unter Berücksichtigung von Chancen und Risiken verschiedene mögliche Optionen abgeschichtet werden und die Entscheidung für eine Option getroffen wird. Entscheidend für die Anwendung von Kosten-Nutzen-Analysen ist, dass alle relevanten Kosten und Nutzen der Beteiligten und Betroffenen einschließlich der Unsicherheiten in den Kosten und Nutzen angegeben werden können und neben den direkten auch die indirekten Kosten (Zeitaufwand der Verwaltung, Verzögerung von Investitionen etc.) in die Betrachtung einbezogen werden. Die Stärken der Kosten-Nutzen-Analyse betreffen vor allem die Vergleichbarkeit von Kosten und Nutzen in einer gleichen Währung. Auf diese Weise kann die Transparenz der Entscheidungsfindung deutlich erhöht werden. Mit der Transparenz wird auch die Informationsbasis für weitere Entscheidungen gestärkt.56 Der Nachteil von Kosten-Nutzen-Analysen liegt in der vergleichsweise eindimensionalen Betrachtungsweise, in der monetäre Gesichtspunkte ausschlaggebend sind, während strategische Gesichtspunkte ansatzbedingt keine angemessene Berücksichtigung finden (können). Hinzu kommt das auch von der qualitativen Kosten-Nutzen-Analyse nicht befriedigend gelöste, gerade im öffentlichen Bereich aber besonders virulente Problem, dass viele (abstrakte) Gemeinwohlziele und –zwecke keinem monetären Wert zugeordnet und generell nicht angemessen bewertet werden können.57 Die Probleme der Kosten-Nutzen-Analyse liegen daher vor allem dort, wo die einzubeziehenden Faktoren nicht ohne weiteres (rational nachvollziehbar) quantifiziert und monetarisiert werden können und die Maßstabsproblematik virulent ist. In Fällen, in denen für ein bestimmtes Gut kein Markt existiert, wird regelmäßig auf die durch Befragung ermittelte (hypothetische) Bereitschaft repräsentativer Personengruppen abgestellt, für den Erhalt des Gutes zu bezahlen bzw. die Summe erfragt, ab welcher als Gegenleistung auf das Gut verzichtet würde (sog. willingness to pay/willingness to accept). Auf diese Weise wird versucht, einen hypothetischen Markt zu erzeugen. Handelt es sich bei dem zu monetarisierenden Gut um das menschliche Leben, stößt dieses Verfahren jedoch – wie der Versuch einer Monetarisierung allgemein – auf erhöhte Schwierigkeiten. Damit im Zusammenhang steht das generelle Problem der Kommensurabilität von Gütern oder Werten, das die Erstellung exakter Kosten-Nutzen Analysen erschwert. Eine weitere Schwierigkeit liegt neben ihrer Vergleichbarkeit auch in der Auswahl der in die Analyse einzustellenden Faktoren. Wie weit oder wie eng der Untersuchungsrahmen gestaltet werden soll, ist bereits eine wertende Entscheidung, die 56

Vgl. zu den Stärken und Schwächen der Kosten-Nutzen-Analyse zusammenfassend U. Weis, Risikomanagement nach ISO 31000 – Risiken erkennen und erfolgreich steuern, 2009, S. 140 f.; grundlegend zur Kosten-Nutzen-Analyse sowie ihren Vorteilen und Grenzen H. Hanusch, Nutzen-Kosten-Analyse, 2. Aufl. 1994. 57 Allgemein zur Problematik Hutter, The Attractions of Risk-Based Regulation (Fn. 27), S. 8 ff.; J. Adams, Risk, 1995, S. 93 ff. sowie die Analyse im Auftrag der britischen Environment Agency, Fisher, Cost-Benefit Analysis: Practical Application (abrufbar unter http:// www.environment-agency.gov.uk/research/ policy/33051.aspx, abgerufen am: 28. 3. 2011), S. 19 ff.

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nicht bis in das Letzte hinein rational begründet werden kann. Damit droht jedoch die Gefahr, dass mit den Mitteln der Kosten-Nutzen-Analyse eine Scheinobjektivität der Entscheidung geschaffen wird. Das subjektive Element der Entscheidung wird lediglich nach vorne verlagert – weg von der Entscheidungsebene und hin zur Auswahlebene. Solange diese Probleme nicht bewältigt sind, sehen sich Kosten-Nutzen Ansätze – bei aller Plausibilität der zugrunde liegenden Idee – dem Vorwurf einer nur scheinbaren Objektivität der erstellten Analysen ausgesetzt. Schließlich bereitet es im Rahmen von Kosten-Nutzen-Analysen regelmäßig erhebliche Schwierigkeiten, die richtigen Abzinssätze für künftige Kosten zu bestimmen. Die Art der Diskontierung führt in aller Regel dazu, dass Vorteile in einer langfristigen Zukunft einen vernachlässigbaren Einfluss auf die Entscheidung in der Gegenwart haben. Für die gerade im Umweltbereich wichtigen langfristigen Folgen und die – nicht zuletzt auch europa- und verfassungsrechtlich geforderte – Einbeziehung der Risiken für künftige Generationen ist die Methode nur begrenzt geeignet. Auch im Rahmen des Risk-Based Approach gilt daher, dass Kosten-Nutzen-Analysen zwar eine (unter Umständen beträchtliche) Informations-, Begründungs- und Entscheidungshilfe liefern können. Da sie im Bereich öffentlichen Umwelt- und Gesundheitsschutzes aber regelmäßig nicht in der Lage sind, Kosten und Nutzen umfassend abzubilden, können sie die Bewertung und Entscheidung keinesfalls ersetzen, sondern durch das Liefern von Argumentationshilfen allenfalls vorbereiten. Da unter bestimmten, letztlich nie auszuschließenden Umständen nahezu jede Tätigkeit und jede Lage zum Eintritt eines Schadens führen kann, kommt es maßgebend darauf an, welche Bewertung gefordert wird, um einen Anlass für Besorgnis und damit auch einen Anlass für entsprechende Gegenmaßnahmen anzunehmen. Es bedarf einer Bewertung, wie mit der verbleibenden Ungewissheit umgegangen wird, ob verbleibende (unsichere) Risiken in Kauf genommen werden und wer die etwaigen Folgen und Lasten tragen soll. Die damit geforderte Abwägungsentscheidung kann (auch) der Risk-Based Approach nicht ersetzen. Er kann sie mit einzelnen seiner Grundanforderungen lediglich insofern vorbereiten, als die vorhandenen Erkenntnisgrundlagen weitgehend ausgeschöpft werden. Bei allen Vorbehalten im Detail können Kosten-Nutzen-Analysen – neben anderen Abwägungsbelangen – hier durchaus ihren Platz haben. Ihr relativer Erkenntniswert kann insofern für die Entscheidungsvorbereitung genutzt werden, als zumindest ein Bewusstsein für das Gewicht der erkennbaren Vor- und Nachteile geschaffen wird. 4. Geringe Durchschlagskraft verfassungsrechtlicher Vorgaben Nach gängiger Einschätzung zählt zu den wesentlichen Merkmalen des Risikorechts auch eine starke Verfassungsgeprägtheit.58 Im Vordergrund der verfassungsrechtlichen Probleme stehen – von Fragen der Bestimmtheit und des Gesetzesvorbehalts abgesehen – die Frage nach der Reichweite der verfassungsrechtlichen Schutz58

Wahl, Herausforderungen (Fn. 1 ), S. 74 f.

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pflicht im Verhältnis zum Gesetzgeber59 sowie die Verhältnismäßigkeit risikoregulierender (Vorsorge)Maßnahmen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Bedeutung und die Aussagekraft der Verfassung für das Risikorecht vergleichsweise gering sind. Die Gründe hierfür können an dieser Stelle60 nicht näher nachgezeichnet, sondern am Beispiel des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur kurz skizziert werden: Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird zwar regelmäßig als Anforderung auch an freiheitsbeschränkende umweltrechtliche Maßnahmen herangetragen. Der Grundsatz wird im Risikorecht aber typischer Weise in mehrpoligen Verhältnissen relevant, oft sogar in mehrpoligen Verhältnissen, in denen Entscheidungen unter Bedingungen der Unsicherheit getroffen werden müssen. Ist bereits die Verhältnismäßigkeit in mehrpoligen Verhältnissen nicht einfach zu prüfen,61 erweist sich eine gehaltvolle Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Unsicherheitsbedingungen auf der Grundlage der herkömmlichen Dogmatik als nahezu unmöglich. Denn zählt es zu den Grundfunktionen der risikorechtlichen Vorsorgedogmatik, freiheitseinschränkende Maßnahmen auch unter Bedingungen der Ungewissheit treffen zu können, muss die Prüfung der Verhältnismäßigkeit diese Ungewissheit auf allen Prüfungsstufen in Rechnung stellen. Bereits die Prüfung der Geeignetheit einer umweltrechtlichen Vorsorgemaßnahme ist aber erheblichen Schwierigkeiten ausgesetzt, da die zugrundeliegende Prognose entsprechend dem Grad der Ungewissheit kaum ernsthaft überprüft werden kann. Noch weitaus mehr gilt dies für die Prüfung der Erforderlichkeit, wenn angesichts weithin unklarer Ursachenzusammenhänge keine klaren Abstufungen der Eingriffsintensitäten verschiedener rechtlicher Instrumente mit Blick auf die Effektivität der Zielerreichung vorgenommen werden können.62 In diesen Fällen erschöpft sich die Verhältnismäßigkeitsprüfung weitgehend im Verweis auf die Einschätzungs-, Wertungs- und Beurteilungsprärogative des Gesetzgebers. Der Risk-Based Approach kann vor diesem Hintergrund als eine mögliche Konkretisierungsvariante des Verhältnismäßigkeitsprinzips unter den Bedingungen der Risikoregulierung (Vorsorge) und der damit verbundenen Unsicherheit verstanden werden.63 Denn in der Sache geht es dem Risk-Based Approach um eine Präzisierung der Zweck-Mittel-Relation, die zwischen dem Ziel der Vermeidung bzw. Verminderung potentiell schadensträchtiger Risiken und dem eingesetzten Mittel (freiheitsein59 Bei jeder Technologie, die mit Risiken behaftet ist, setzt die Schutzpflicht die Eingangsentscheidung des Gesetzgebers voraus, ob die Technologie trotz vorhandener Risiken zulässig und die generelle Prognose begründet ist, dass mögliche schädliche Auswirkungen verhindert oder zumindest auf ein zumutbares Maß begrenzt werden können (dazu Wahl, Herausforderungen [Fn. 1], S. 74). Darüber hinaus kann sich bei jeder einzelnen beanspruchten Maßnahme der Risikoregulierung die Frage stellen, ob sie nicht aus der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht heraus begründet werden kann und verfassungsrechtlich geboten ist. 60 Eine nähere Erläuterung findet sich – bezogen auf das Umwelt-, Technik- und Risikorecht – in Appel, Eigenwert (Fn. 42). 61 Näher dazu C. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 566 ff. 62 Vgl. aus neuerer Zeit nur BVerfG, Urt. V. 24. 10. 2010 (1 BvF 2/05 – Gentechnikgesetz), Rn. 142, 183. 63 Näher dazu Appel/Mielke, Risk-Based Approach (Fn. 30).

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schränkender) risikoregulierender staatlicher (Vorsorge-)Maßnahmen hergestellt werden muss. Unter den vergleichsweise eindeutigen Bedingungen einer Rechtsanwendung, bei der die zugrunde liegenden Sachverhalte bekannt sind, kann die Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen anhand der verfestigten dogmatischen Prüfungsstufen relativ klar und nachvollziehbar darauf hin überprüft werden, ob die eingesetzten Mittel zur Erreichung legitimer Ziele geeignet, erforderlich und angemessen sind. Unter den Bedingungen einer gesteigerten Unsicherheit und Ungewissheit, wie sie für den Bereich der Risikoregulierung prägend ist, funktioniert dieser Verweisungszusammenhang nicht ohne weiteres. Umso mehr bedarf es einer Präzisierung, was verhältnismäßige Risikoregulierung (Vorsorge) bedeutet und wie insbesondere die Verhältnismäßigkeit des Mitteleinsatzes zur Erreichung der Risikoregulierungsziele (Vorsorgeziele) gewahrt werden kann. Diese Präzisierung muss sich vor allem darauf beziehen, wie viel an (Rechtfertigungs-)Aufwand betrieben werden muss, um risikoregulierende (Vorsorge-)Maßnahmen im Hinblick auf die verfolgten Ziele als geeignet und erforderlich ausweisen zu können und wie umfangreich und intensiv diese risikoregulierenden (Vorsorge-)Maßnahmen sein dürfen, um sie im Hinblick auf ihre Erforderlichkeit und Angemessenheit (noch) rechtfertigen zu können. Sowohl der Vorsorge- als auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sind offen strukturierte, auf Konkretisierung angewiesene Prinzipien. Wie Recht nach Maßgabe des Vorsorgeprinzips gewonnen wird, so dass es den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entspricht, ist – sofern keine untergesetzlichen Konkretisierungen vorliegen – normativ in aller Regel nicht oder nur schwach determiniert. Die deutsche Lesart des Vorsorgeprinzips, nach der die Rechtfertigungsdimension des Vorsorgeprinzips stark ausgeprägt ist und sowohl den Normsetzer als auch den Rechtsanwender in weitem Maße von (naturwissenschaftlichen) Nachweisen freistellt, ist eine mögliche Konkretisierungsvariante. Eine andere mögliche Konkretisierung ist der Rückgriff auf den Risk Based-Approach, der erhöhte Anforderungen an Begründungszusammenhänge und die rationale Nachvollziehbarkeit der Risikoermittlung stellt, die Einbeziehung von Kosten-Nutzen-Erwägungen in die Risikoermittlung ermöglicht sowie den Instrumenten- und Ressourceneinsatz zur Regulierung der angenommenen Risiken an Umfang und Ausmaß der ermittelten und bewerteten Risiken koppelt. Welche der beiden Konkretisierungsmöglichkeiten sich durchsetzt, ist nur begrenzt steuerbar und wird nicht zuletzt davon abhängen, welche Einflüsse sich in der Diskussion auf europäischer Ebene durchsetzen werden. Insofern lässt sich durchaus von einem Wettbewerb der Konzepte sprechen.64 In der Sache lässt sich nicht von der Hand weisen, dass der Risk-Based Approach – trotz der damit verbundenen Her64 Sofern einzelne Elemente des Risk-Based Approach, wie etwa die Kosten-NutzenAnalyse, nicht bereichsspezifisch verbindlich vorgegeben werden, geht es um eine Frage der Rechtsinterpretation, um die damit verbundene dogmatische Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips unter den Bedingungen vorsorgender Risikoregulierung auf europäischer Ebene sowie – letztlich – um die Frage, ob und inwieweit die europäischen Gerichte den Ansatz inhaltlich für überzeugend halten und in ihre Rechtsprechung aufnehmen werden.

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ausforderungen und Probleme – zu einer Rationalisierung und stärkeren Systematisierung der Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Ungewissheitsbedingungen beitragen kann. Auf der Kehrseite können die Anforderungen des Risk-Based Approach dazu führen, dass der Anwendungsbereich und die Reichweite der Vorsorge partiell eingeschränkt werden. Sofern im Hinblick auf das Vorsorgeprinzip eine dogmatische Abschichtung vorgenommen wird, betrifft der Einfluss alle Ebenen der Vorsorgedogmatik. Mit den gesteigerten Anforderungen an Begründungszusammenhänge und die rationale Nachvollziehbarkeit der Entscheidungsfindung, die Benennung der relevanten Risikofaktoren und die insgesamt gesteigerte Folgenorientierung führt der RiskBased Approach dazu, dass die Anlässe für Vorsorgemaßnahmen klar eingegrenzt werden müssen. Bei allen Schwierigkeiten und Prognoseunsicherheiten im Detail zielt der Ansatz darauf ab, Risikoermittlung und –bewertung durchweg so auszugestalten, dass unter Ausschöpfung der verfügbaren Erkenntnisquellen möglichst weitgehend nachvollzogen werden kann, worin das konkrete Risikopotential besteht, welcher Zustand die Besorgnis auslöst und welche konkreten Risiken reguliert werden sollen. Mit diesen Anforderungen an die rational nachvollziehbare Begründung von Vorsorgeanlässen geht allerdings einher, dass die Schwelle für die Annahme eines solchen Anlasses als Grenze für das zulässige Ergreifen von Vorsorgemaßnahmen tendenziell angehoben wird. Denn letzten Endes sollen nur rational nachvollziehbare und wissenschaftlich fundierte Begründungen freiheitsbeschränkende und ressourcenbeanspruchende staatliche Risikoregulierung rechtfertigen können. Hinzu kommt, dass Kosten-Nutzen-Erwägungen bereits bei der Bestimmung von Vorsorgeanlässen zu Priorisierungen und einer entsprechenden Abschichtung führen können. Sofern bestimmte Risikopotentiale als vergleichsweise gering(er) eingeschätzt werden, ist auch das Gewicht der daraus abgeleiteten Vorsorgeanlässe tendenziell niedriger und kann auch auf den nachfolgenden Stufen der Vorsorgedogmatik und insbesondere im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nur mit diesem relativ gesehen niedrigeren Gewicht in Anschlag gebracht werden. Die Parallele zur verfassungsrechtlichen Schutzpflichtdiskussion im Risikobereich, die ebenfalls durch Unsicherheiten der Prognose gekennzeichnet ist, verdeutlicht allerdings, dass die prozeduralen Anforderungen und die Begründungslasten sowohl im Bereich staatlicher Schutzpflichten als auch im Vorsorgebereich gleichermaßen erhöht sein müssten, wenn nachvollziehbar sein soll, warum gehandelt oder nicht gehandelt wird. Dies spricht dafür, dass zumindest die erhöhten Anforderungen an Begründungszusammenhänge, die mit dem Risk-Based Approach einhergehen, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sind. 5. Rückbindung staatlicher Risikoentscheidungen an die öffentliche Risikokommunikation Sowohl die Risikowahrnehmung als auch die Risikobewertung hängen in hohem Maße von subjektiven, sozialen und kulturellen Einschätzungen und Vorverständnis-

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sen ab.65 Die Selektivität der Risikowahrnehmung, die Schwierigkeiten rational begründeter Risikovergleiche, die tatsächliche oder vermeintliche Vertrautheit mit bestimmten Techniken und ihren Risiken, unterschiedliche Annahmen über die Zurechenbarkeit und Kontrollierbarkeit bestimmter Risiken sowie die zeitliche Nähe und der Streuungsgrad von Risiken können mehr oder weniger stark ausschlaggebende Faktoren sein. Die gesellschaftliche Risikowahrnehmung und das gesellschaftliche Risikoverhalten können sich dabei deutlich vom Umgang der Risikoforscher mit Risiken unterscheiden. Die Einschätzung folgt regelmäßig nicht einer naturwissenschaftlichen Verknüpfung von Eintrittswahrscheinlichkeit und erwarteter Schadenshöhe, sondern sozialen und kulturellen Mustern. Die Wahrnehmung, Bewertung und der Umgang mit Risiken kann daher zwischen einzelnen Kulturräumen stark variieren und lässt nur den Schluss zu, dass Ungewissheitsbewältigung ein stark kulturell geprägtes Phänomen ist.66 Die Aufgabe des Risikorechts und der Risikoverwaltung besteht vor diesem Hintergrund nicht zuletzt auch darin, einen Beitrag zur Risikokommunikation zu leisten und politisch initiierte öffentliche Risikodiskurse zu ermöglichen, um auf diese Weise zwischen der politischen und der gesellschaftlichen Risikowahrnehmung zu vermitteln.67 Dabei kann in einer Demokratie zwar das Abstraktionsniveau der risikorechtlichen Lösungen und Reaktionen, die auf ein Problem hin gefunden werden, vom Verständnis und von der Akzeptanz der einzelnen abweichen. Der Unterschied zwischen der gesellschaftlichen Problemwahrnehmung und der (rechts)politischen Bereitschaft, Risiken in einer bestimmten Weise wahrzunehmen und sie auf eine bestimmte Art zu bewältigen, kann in einer Demokratie als konsensgeleiteter Regierungsform aber nicht beliebig groß werden.68 Soll gesellschaftliche Akzeptanz gesichert und sollen grundlegende gesellschaftliche Verunsicherungen – von der Nutzung der Kernenergie über die grüne Gentechnik bis zur Nanotechnologie und der industriellen Lebensmittelproduktion – vermieden werden, muss die politische Risikobewertung umwelt- und gesundheitsrelevanter (technischer) Entwicklungen und ihrer möglichen Folgen mit der gesellschaftlichen Risikowahrnehmung und den gesellschaftlichen Werthaltungen rückgekoppelt werden. Ist diese Rückkopplung bereits auf nationaler Ebene schwierig, erweist sich die nötige Risikokommunikation in internationalen Zusammenhängen – bezogen auf Risiken der Gentechnik, der Nanotechnologie, der Kernenergie etc. – als große Aufgabe der Zukunft. Das (Risiko)Recht kann 65

Wahl/Appel, Prävention und Vorsorge (Fn. 1), S. 107 ff.; Scherzberg, Risikosteuerung (Fn. 8), S. 231; ders., Grundlagen (Fn. 6); ders., EU – US Trade Disputes about Risk Regulation, Cambridge Review of International Affairs 2006, S. 121 (125 f.). 66 Scherzberg, Risikosteuerung (Fn. 8), S. 231; ders., Grundlagen (Fn. 6); ders., EU – US Trade Disputes (Fn. 65), S. 125 f. 67 Bezogen auf das staatliche Risikomanagement Scherzberg, EU – US Trade Disputes (Fn. 65), S. 125 f.; ders., Grundlagen (Fn. 6), Manuskript S. 7; zum Verhältnis von politischer und gesellschaftlicher Risikowahrnehmung in demokratischen Gesellschaften und zur Rolle des Rechts Wahl/Appel, Prävention und Vorsorge (Fn. 1), S. 211 ff. 68 In diesem Sinne – bezogenen auf die Grenzen des Umweltrechts im demokratischen Rechtsstaat – auch Wahl/Appel, Prävention und Vorsorge (Fn. 1), S. 211 ff.

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dabei nur eine begrenzte Rolle spielen. Es ist eine Illusion und Überschätzung der Steuerungskraft durch Recht, wenn ein Risikodiskurs allein mit rechtlichen Mitteln für möglich gehalten wird. Die bescheidenere, aber nicht unmaßgebliche Rolle des Rechts kann aber darin bestehen, Räume zu schaffen und vorzuhalten, in denen ein solcher Diskurs stattfindet. Und das Recht kann in dem Rahmen, in dem es – vermittelt über Verwaltung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft sowie nicht zuletzt auch (untergesetzliche) Norm- und Standardsetzungsprozesse – einen gewissen Wirkungsradius hat, an dem Diskurs mitwirken. Hält man sich diese Zusammenhänge vor Augen, kann der Risk-Based Approach auch als Beispiel für einen ansatzweisen Risikodiskurs auf europäischer und – im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten – auch internationaler Ebene gelesen werden.

V. Entwicklungspfade des Risikorechts Die Diskussion um die Fortentwicklung des Risikorechts verdeutlicht, dass die Rationalisierung des Umgangs mit Ungewissheit und Nichtwissen zu den Kernproblemen und den maßgebenden Herausforderungen des modernen Rechts zählt und alles andere als bewältigt ist. Mit diesem generellen Problem strahlt das Risikorecht auf weite Teile der Rechtsordnung aus und gewinnt durchaus exemplarische Bedeutung. Ob und gegebenenfalls wie weitgehend sich der Risk-Based Approach auf europäischer und internationaler Ebene durchsetzen wird, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend beurteilen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er auf eine mehr oder weniger weitgehende Anerkennung stoßen wird und zumindest Teilaspekte als Konkretisierungsvariante des Verhältnismäßigkeitsprinzips unter den Bedingungen der Risikoregulierung (Vorsorge) herangezogen werden, ist jedoch hoch. Insofern tut das deutsche Risikorecht gut daran, sich mit dem Risk-Based Approach auseinanderzusetzen und die erkennbaren Probleme des Ansatzes in der Diskussion auf europäischer Ebene klar zu benennen. Im Übrigen sollte der Versuch unternommen werden, die deutsche Lesart des Vorsorgeprinzips mit dem kritischen Potential des Risk-Based Approach konstruktiv zu verbinden. Dabei sollten die Vorzüge der deutschen und europäischen Vorsorgedogmatik, die gerade in Fällen verbleibender Unsicherheit ein hohes Schutzniveau bei vergleichsweise geringem Aufwand (Bürokratiekosten) ermöglicht, offensiv vertreten werden. Denn die grundsätzliche Berechtigung von Vorsorge und der daran anknüpfenden risikoregulierenden Maßnahmen können nicht an Gewissheiten gebunden werden, wenn hohe Schadenspotentiale in Rede stehen, zugleich aber die Wahrscheinlichkeit bestimmter Folgen bzw. Wirkungen nicht hinreichend sicher abgeschätzt werden können. Insofern muss die Forderung, regulatorische Eingriffe an die Gewissheit der Existenz von Risiken zu binden, klar zurückgewiesen werden.69 Gleichzeitig sollten jedoch das Bestreben nach einer möglichst weitgehenden Rationalität und nachvollziehbaren Begründung der Risikoregulierung aufgegriffen und 69

Dazu und zu weiteren Schlussfolgerungen Appel/Mielke, Risk-Based Approach (Fn. 30).

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die durchaus vorhandenen Rationalisierungsreserven für die bestehende Vorsorgedogmatik fruchtbar gemacht werden. Dem Anliegen des Risk-Based Approach kann – über bestehende Konkretisierungen des Vorsorgeprinzips hinaus – insoweit entgegengekommen werden, als Vorsorgeanlässe stets hinreichend bestimmt begründet und durchweg auf eine Risikoermittlung und -bewertung gestützt werden müssen, für die das Risk assessment als Instrument der Risikoprävention ein Grundmodell liefern kann. Bei verbleibenden Ungewissheiten sollte allerdings gegen die Tendenz des Risk-Based Approach hervorgehoben werden, dass vom Fehlen (eindeutiger) wissenschaftlicher Nachweise im Bereich von Ungewissheit und Nichtwissen nicht ohne weiteres auf die Freiheit des (wirtschaftlichen) Handelns geschlossen werden darf. Angesichts der Ambivalenz der Nichtvorhersehbarkeit bedarf es gerade hier einer wertenden Abwägung, die alle relevanten Gesichtspunkte einschließlich der einschlägigen Gemeinwohlbelange in die Betrachtung einbezieht. Eines der Anliegen des Risk-Based Approach aufgreifend sollte schließlich deutlich gemacht werden, dass Kosten-Nutzen-Analysen im Rahmen der Risikoregulierung eine durchaus konstruktive Rolle spielen können, nicht jedoch als Ersatz für die erforderliche wertende Entscheidung, sondern – vergleichbar der Umweltverträglichkeitsprüfung – als Instrument der Entscheidungsvorbereitung im Sinne einer formalisierten Vergegenwärtigung, welche Belange mit welchem (relativen) Gewicht jeweils auf dem Spiel stehen. Die Reichweite der Kosten-Nutzen-Analysen könnte dadurch eingegrenzt werden, dass nur solche Erwägungen in die Analyse Eingang finden, die von den jeweils einschlägigen Gesetzeszwecken gedeckt sind. Auf diese Weise würde den mit dem Risk-Based Approach einhergehenden Ökonomisierungstendenzen zwar nicht Einhalt geboten, sie würden aber auf die vom Gesetzgeber vorgesehenen Zwecke begrenzt, zu denen Effizienz als Selbstzweck regelmäßig nicht zählt.

Die grundlegende Neuordnung der Universität von 1968 – Rückblick und Ausblick Von Martin Bullinger, Au bei Freiburg Die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br., an der Rainer Wahl jahrzehntelang gewirkt hat, erlebte noch vor seiner Zeit in den Jahren 1968 und 1969 eine grundlegende Umgestaltung. Bis dahin war die Universität ein Symbol althergebrachter Ordnung. Es war eine körperschaftliche Selbstverwaltung, getragen nur von ihren ordentlichen und außerordentlichen Professoren sowie von Vertretern der übrigen Dozenten. Weitere Gruppen, die Studenten und das wissenschaftliche wie auch das nichtwissenschaftliche Personal, hatten kein Mitspracherecht. Lediglich im Senat hatten die Studentenvertreter beratende Mitwirkung, d. h. ohne Stimmrecht. Die Mitwirkung und Aufsicht durch das zuständige Ministerium war auf wichtige Entscheidungen beschränkt, beispielsweise die Ernennung des Nachfolgers auf einen Lehrstuhl. I. Das Ende der Professorenuniversität Gegen diese „Professorenuniversität“ lehnten sich nunmehr die Studenten auf, auch in Freiburg. Sie verlangten vor allem eine Mitbestimmung unter Beteiligung der Studenten sowie der Assistenten bei allen sie unmittelbar oder mittelbar betreffenden Entscheidungen, vor allem beim Erlass der maßgeblichen Ordnungen. Die Grundordnungen der Universitäten in Baden-Württemberg mussten überarbeitet werden, da die am 01. 04. 1968 in Kraft getretene Neufassung des Hochschulgesetzes eine Frist bis zum 31. 03. 1969 gesetzt hatte. In dem Hochschulgesetz war die Rechtsnatur der Universität wie auch erstmalig das Prinzip der Mitbestimmung von Gruppen an der universitären Selbstverwaltung geregelt.1 Diese Frist war deswegen so brisant, da das Ministerium andernfalls im Erlasswege eine Grundordnung für die Universität selbst oktroyiert hätte. Der Grundordnungsversammlung gehörten neben den Professoren, Dozenten, Akademischen Räten und wissenschaftlichen Angestellten zehn Vertreter der Studentenschaft an. Diese erweiterte Mitbestimmung unter Beteiligung der Studierenden stieß zunächst auf wenig Verständnis bei den Professoren. Sie wollten im Wesentlichen 1 Siehe im Einzelnen: Würtenberger, Der Wandel des Hochschulrechts, in: Bernd Martin (Hrsg.), Festschrift 550 Jahre Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Bd. 3: Von der badischen Landesuniversität zur Hochschule des 21. Jahrhunderts, 2007, S. 789.

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bei ihrer überkommenen Ordnung verbleiben. Nur eine sehr kleine Gruppe von angesehenen Professoren war unter der Hand gesprächsbereit und gelangte schließlich, in tiefgreifender Auseinandersetzung mit den Wortführern der Studenten, zur Formulierung eines Kompromisses, der zur Zustimmung aller wesentlich Beteiligten mit Ausnahme der Studentenvertreter führte. Diese Endfassung wurde dann Wort für Wort auch vom Ausschuss der Grundordnungsversammlung akzeptiert. Obwohl die Grundordnungsversammlung den Forderungen der Studenten weit entgegenkam, wurde dies von Seiten der Studentenvertreter nicht honoriert. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, schreckten einige Studenten auch vor Gewalttaten nicht zurück. So versuchten sie, den Zugang zu den Sitzungen der Grundordnungsversammlung zu blockieren, zum Teil unter Inkaufnahme körperlicher Verletzungen. Informelle Verhandlungen fanden statt, mussten aber geheim bleiben. Sie führten auf studentischer Seite nach und nach zu einer gewissen Verständigungsbereitschaft. Streitpunkt blieb aber, dass die Grundordnungsversammlung nur eine Grundordnung verabschieden konnte, welche im Einklang mit dem parlamentarisch-demokratisch legitimierten Hochschulgesetz stand; dies veranlasste die Studentenvertreter, aus der Grundordnungsversammlung auszuziehen. Als von der Grundordnungsversammlung eine neue Universitätsordnung beschlossen werden sollte, die erhebliche Zugeständnisse vor allem an die Studenten enthielt, verhinderte eine tobende Studentenmasse zunächst jede Beratung, zog sich aber, wie schon vorher insgeheim angekündigt, nach einer gewissen Zeit ganz zurück und ermöglichte so die Beratung und Beschlussfassung. Alle Vertreter der Dozenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter, die Mehrheit der Amtsträger und die Mehrheit der Ordinarienvertreter stimmten der Grundordnung zu (22 gegen 6 Stimmen). Damit kehrte wieder Ruhe ein.2 II. Von der Professorenuniversität zur Gruppenuniversität Der so zustande gekommene Kompromiss insbesondere zwischen universitären und staatlichen, studentischen und professoralen Standpunkten veränderte die Universität, ließ ihr aber immer noch in wesentlichen Punkten ihren besonderen Charakter: 1. Bleibende Aufgabe der Forschung Nach übereinstimmender Auffassung sollte die Universität nicht mit anderen Erziehungs- oder Bildungseinrichtungen wie den höheren Schulen oder Volkshochschulen auf dieselbe Ebene gestellt werden. Aufgabe der Universität blieb es also im Gegensatz zu anderen Bildungs- und Erziehungsstätten, nicht nur vorhandene Kenntnisse als Voraussetzung für ein qualifi2 Siehe ausführlich zur Freiburger Grundordnung von 1969 Bullinger, Gruppenplurale Universitätsverfassung, in: Festgabe für Hans Gerber, 1970, S. 26 ff.

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ziertes Examen zu vermitteln, sondern neue Erkenntnisse zu entwickeln. Ein Professor war dem Idealbild nach nicht allein der Lehrer seiner Studenten, sondern auch ein Forscher, der seine Mitarbeiter und Studenten in die Tiefen des noch Unerforschten hineinführte und zur aktiven Mitarbeit in der Forschung anleitete. Diejenigen Studenten, die sich besonders intensiv für die Forschung und ihre Ergebnisse interessierten, erhielten Gelegenheit, daran in Seminaren und als Hilfskräfte oder Assistenten mitzuwirken. So blieb auch nach 1968 die geistige Einheit der Forschung und Lehre gewahrt.3 In der Auswahl seiner Forschungsgebiete und der Art und Weise ihres Eindringens blieb jeder Professor auch weiterhin frei. Er konnte sich mit Kollegen der eigenen Fakultät wie anderer Fakultäten wie bisher zu gemeinsamer Forschung zusammenfinden, war dazu aber nicht verpflichtet. Bei der Zuweisung von Räumen und Geldmitteln wurde nach Möglichkeit die Forschung gefördert. Die in Art. 5 GG verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit der Forschung blieb so innerhalb der Universität im Wesentlichen unangetastet. 2. Neue Mitbestimmung in der Lehre In Fragen der Lehre trat dagegen an die Stelle der alten Professorenherrschaft eine von Mitbestimmung geprägte „Gruppenherrschaft“. a) Rechtfertigung der Mitbestimmung Im Gegensatz zur Forschung konnte die Lehre nach verbreiteter Überzeugung nicht der freien Bestimmung durch die Professoren überlassen bleiben. Denn universitäre Lehre dient nicht, wie die Forschung, der wissenschaftlichen Selbstdarstellung der Professoren, sondern der examensgerechten Darstellung des Wissensstoffes. Dazu konnten auch die Studierenden und Assistenten mit ihren Anregungen und Wünschen beitragen. b) Mitbestimmung durch Gruppen Für diese Mitbestimmung bildeten sich Gruppen, die Gruppe der Professoren, der Assistenten und der Studenten. aa) Auf der Ebene der Fakultäten formierten die Professoren eine Unterorganisation, die ihre Willensbildung im Wesentlichen getrennt vornahm. Regelmäßig vor einer Sitzung des offiziellen Beratungs- und Beschlussorgans einer Fakultät, des Fakultätsrats, trafen sich die Professoren zu einer internen Besprechung, um sich für ihre Haltung in der eigentlichen Fakultätssitzung abzustimmen. 3 Siehe auch Jäger, in: 550 Jahre Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Band 3: Von der badischen Landesuniversität zur Hochschule des 21. Jahrhunderts, Die Universität Freiburg zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Strategische Führung angesichts globaler Herausforderungen, 2007, S. 807.

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Diese Einbindung der Professoren in eine gemeinsame Organisation ließ aus bis dahin eher insular denkenden Persönlichkeiten eine Gruppe entstehen, die ihre Auffassungen aufgrund offener interner Debatte zu bündeln, abzuklären und nach außen zu vertreten wusste. bb) Von den übrigen Gruppen sind die Assistenten am wenigsten hervorgetreten. Das Abhängigkeitsgefühl der Assistenten von ihren Professoren ließ nicht leicht eine freie Meinungsbildung entstehen. cc) Umso stärker hat sich die Mitbestimmung der Studentenentwickelt. Sie waren die treibenden Kräfte des Aufstands und haben deren Teilerfolg mitbestimmt. Sowohl auf der Ebene der Fakultäten wie auf der Ebene der Gesamtuniversität besaßen sie besonders aktive Vertretungen, die sich laufend durch Kritik und Reformvorschläge hervortaten. Dies zeigt sich neuerdings auch mit neueren Studentenbewegungen, in Freiburg mit der Initiative „Bachelor gemeinsam gestalten“.4 c) Die Rolle der Führungskräfte Die Führungskräfte der Universität, der Rektor und die Dekane der Fakultäten, haben an Bedeutung eher noch gewonnen. Der Rektor, dem ein Professor der Rechte als Rechtsberater zur Seite stand, hatte die schwere Aufgabe, nach Möglichkeit allein Einrichtungen und Gruppierungen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, sie anzuhören und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass ihre Kritik und ihre Vorschläge gehört und verarbeitet wurden. Die Freiburger Universität hatte das Glück, bedeutende Persönlichkeiten jeweils längere Zeit als Rektoren gewinnen und halten zu können. 3. Gemindertes Selbstbewusstsein Unübersehbar hatte das überkommene Selbstbewusstsein der alten Universität gelitten, im Verhältnis zum zuständigen Ministerium wie zum gesetzgebenden Parlament, und ließ sich kaum voll wiederherstellen. Dies machte sich aber nur nach und nach bemerkbar. Landtag und Ministerium nahmen mehr und mehr für sich in Anspruch, in grundlegenden Fragen die Entscheidung zu treffen. So traten nach und nach gesetzliche Regelungen und ministerielle Weisungen an die Stelle der Eigenordnung der Universitäten. Stück für Stück wurde damit die überkommene, differenzierte Ordnung jeder Landesuniversität zu einem erheblichen Teil durch eine einheitliche Ordnung für alle Landesuniversitäten ersetzt. Darunter litt auch nach und nach das überkommene Selbstvertrauen der alten Universität, ohne ganz zu schwinden.

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Siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27/28. 11. 2010, Seite C4.

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III. Gesamtschau Im Rückblick auf 1968 erscheint die erste grundlegende Umformung der Universitäten, im Besonderen die der Freiburger Universität, nur als erster Schritt in Richtung auf weitere, jeweils stufenweise Reformen. Mit ihnen entfernte sich die Universität immer weiter von ihrem Ausgangspunkt von 1968, ohne ihre Besonderheit als Stätte vor allem unabhängiger Forschung ganz zu verlieren. Es steht zu hoffen, dass diese Besonderheit wenigstens in ihrem Kern erhalten bleibt. Ein wesentlicher Unterschied zeichnet allerdings die späteren Neuordnungen gegenüber der Reform von 1968 aus: sie vollzogen sich im Wesentlichen ohne Gewaltakte, ohne Androhung von Gewalt, auch wenn es um Reformbestrebungen der Studentenschaft ging. Diese relative Friedfertigkeit trägt dazu bei, den wissenschaftlichen Charakter der Universität zu erhalten.

Rechtliche Bewertung von Kinderlärm Von Klaus Hansmann, Mettmann

I. Die Bewertung von Kinderlärm als Rechtsproblem Kinder sind die Zukunft jeder Gesellschaft. Die gesunde Entwicklung der Kinder zu fördern ist Aufgabe der Eltern, der (Groß-)Familie, der Gesellschaft und des Staates. Deshalb ist es zu begrüßen, wenn auch der Gesetzgeber seinen Beitrag dazu leistet, die Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder zu verantwortungsbewussten Bürgern sicherzustellen. Der Schutz der kindlichen Entwicklung ist in der Rechtsordnung seit langem verankert. In diesem Zusammenhang geht es auch um die Regelung der Zulässigkeit und der Grenzen des durch Kinder verursachten Lärms. Dabei handelt es sich um einen wichtigen, wenn auch nicht den wichtigsten Teilaspekt des erforderlichen Kinderschutzes. Zur rechtlichen Bewertung der von Kindern verursachten und mit ihrer Entwicklung verbundenen Geräusche gibt es generelle Regelungen und eine differenzierende Rechtsprechung. Seit einiger Zeit werden die bestehenden Normen und die Gerichtsentscheide allerdings nicht mehr als ausreichend angesehen. In der politischen Diskussion wird gefordert, dass Kinderlärm ohne weitere Differenzierung grundsätzlich oder doch in aller Regel hinzunehmen sein sollte. Zumindest wird eine Klarstellung im geschriebenen Recht dahin gefordert, dass Kinderlärm gegenüber anderen Lärmarten privilegiert ist. Im Koalitionsvertrag 2009 heißt es: „Kinderlärm darf keinen Anlass für gerichtliche Auseinandersetzungen geben. Wir werden die Gesetzeslage entsprechend ändern.“1 Der Bundesrat hat sich in seiner Entschließung vom 5. 3. 20102 für „eine klare gesetzgeberische Wertung, dass Kinderlärm sozialadäquat ist,“ ausgesprochen und die Bundesregierung um die Prüfung von Verbesserungsmöglichkeiten im geltenden Bundesrecht gebeten. Bereits vorher hatte Berlin in sein Landes-Immissionsschutzgesetz eine Regelung aufgenommen, dass „störende Geräusche, die von Kindern ausgehen, ….. grundsätzlich sozialadäquat und damit zumutbar“ sind.3 Andere Länder4 haben ähnliche Vorschriften geschaffen oder berei-

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Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP für die 17. Legislaturperiode, S. 68. BR-Drs. 831/09 (Beschluss). 3 § 6 Abs. 1 des Landes-Immissionsschutzgesetzes Berlin in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 3. 2. 2010 (GVBl. S. 38). 2

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ten sie vor, teilweise unter Ausdehnung auf störende Geräusche, die von Jugendlichen ausgehen. Eine generelle Freigabe jeder Geräuschverursachung durch Kinder ist rechtlich problematisch. Zwischen der Förderung der kindlichen Entwicklung und der Abwehr unzumutbaren Lärms kann ein Interessenkonflikt bestehen, der nicht durch die generelle Verneinung der Störeigenschaft von Geräuschen, die durch Kinder verursacht werden, gelöst werden kann. Eine Regelung, dass der von Kindern verursachte Lärm stets und unter allen Umständen zumutbar ist, kann deshalb nicht ohne Einschränkungen gelten. Berücksichtigt werden müssen immer Ort und Zeit sowie Anlass und Art der Geräuschverursachung.5 Bei auftretenden Interessenkonflikten geht es nicht nur um die Rechte der Kinder. Vielmehr können auch Grundrechte anderer verletzt werden,6 was die Rechtsordnung nicht zulassen darf. Geboten ist deshalb eine differenzierte rechtliche Bewertung. In diesem Beitrag wird nicht der Frage nachgegangen, wo der Grund für die jüngsten politischen Aktivitäten zum Schutz kindlicher Geräuschverursachung liegt.7 Im Folgenden soll vielmehr generell untersucht werden, – wie Kinderlärm bisher bewertet wurde, – welche Änderungen in Betracht kommen und – welche Probleme durch neue Regelungen aufgeworfen werden.

II. Bisherige Rechtslage 1. Betroffene Rechtsgebiete Der Schutz vor Lärm ist in unterschiedlichen Rechtsgebieten geregelt. Neben dem EG-Recht8 sind das Bundes-, das Landes- und das Kommunalrecht betroffen. Die einschlägigen Vorschriften gehören dem Privatrecht, dem Verwaltungsrecht sowie dem Straf- und Ordnungswidrigkeitsrecht an. Im Folgenden werden die Untersuchungen zur rechtlichen Bewertung von Kinderlärm auf das deutsche Verwaltungsrecht be4 Bayern, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und RheinlandPfalz. 5 Man denke nur an den Fall, dass Kinder in Zeiten und an Orten mit erhöhtem Ruhebedürfnis andere Menschen bewusst stören wollen, z. B. durch die Lärmverursachung mit den seit der Fußballweltmeisterschaft 2010 bekannten Vuvuzelas. 6 Insbesondere Art. 2 Abs. 2 und Art. 14 GG. 7 Insoweit besteht der Verdacht, dass es weniger um die Schließung einer Rechtslücke als um die Betonung geht, welch hoher Stellenwert der Förderung der kindlichen Entwicklung zugemessen wird. Vgl. die Kleine Anfrage BT-Drs. 17/2590 und die Antwort der Bundesregierung BT-Drs. 17/2698. 8 Die den Lärmschutz betreffenden Richtlinien 2002/49/EG (Umgebungslärm-Richtlinie) und 2000/14/EG (Maschinenlärmschutz-Richtlinie) sind für die rechtliche Bewertung von Kinderlärm ohne Bedeutung.

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schränkt, zumal dieses Gebiet bei den neueren politischen Aktivitäten im Mittelpunkt steht.9 Im Verwaltungsrecht ist zwischen bauplanungsrechtlichen, immissionsschutzrechtlichen sowie polizei- und ordnungsrechtlichen Vorschriften zu unterscheiden. Das Immissionsschutzrecht fordert dabei aus kompetenzrechtlichen Gründen10 eine weitere Unterscheidung zwischen anlagebezogenen und verhaltensbezogenen Bestimmungen. 2. Bauplanungsrecht Das Bauplanungsrecht ist für die Zulässigkeit von Kinderlärm in mehrfacher Hinsicht relevant. Einmal geht es um die Bauleitplanung, bei der zu beachten ist, ob zu beplanende Gebiete unzulässig hohem Kinderlärm ausgesetzt werden können. Zum anderen geht es um die Zulassung von Vorhaben, von denen typischerweise Kinderlärm hervorgerufen wird oder deren bestimmungsgemäße Nutzung durch Kinderlärm beeinträchtigt werden kann. a) Bauleitplanung Bei der Aufstellung der Bauleitpläne sind nach § 1 Abs. 6 des Baugesetzbuchs (BauGB) u. a. zu berücksichtigen „die sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung, insbesondere die Bedürfnisse der Familien, der jungen, alten und behinderten Menschen …..“ (Nr. 3) sowie „umweltbezogene Auswirkungen auf den Menschen und seine Gesundheit sowie die Bevölkerung insgesamt“ (Nr. 7 Buchst. c). Die hier genannten Belange haben sowohl Bedeutung für die Erforderlichkeit bauplanungsrechtlicher Ausweisungen (z. B. von Flächen für Kindertagesstätten) als auch für die Bewertung divergierender Nutzungsansprüche. Die Aufzählung der einzelnen Belange unterstreicht deren Bedeutung in der nach § 1 Abs. 7 BauGB erforderlichen Abwägung, ohne dadurch einem Belang einen absoluten Vorrang einzuräumen. Daraus ergibt sich, dass die Bauleitplanung sowohl auf die gesunde Entwicklung der Kinder als auch auf die berechtigten Belange anderer Bevölkerungsgruppen Rücksicht nehmen muss. Ist damit zu rechnen, dass von vorgesehenen Nutzungen in relevantem Umfang Geräusche durch Kinder und Jugendliche ausgehen oder vorgesehene Nutzungen derartigen Geräuschen ausgesetzt werden, so sind diese Belastungen zu prognostizieren und zu bewerten. Bei der planerischen Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB ist der Förderung einer kindergerechten Entwicklung ein hoher Stellenwert einzuräumen.

9 Diskutiert wird zwar auch eine Änderung des § 906 BGB; doch sollen hier dieselben Maßstäbe gelten wie im Verwaltungsrecht. Vgl. dazu die Nachweise bei Dietrich/Kahle, Immissionsschutzrechtliche Beurteilung von Kindergartenlärm und Lärm von Kinderspielplätzen, DVBl 2007, S. 18 ff, sowie die Begründung zu § 22 Abs. 1a BImSchG, BT-Drs. 17/4836 S.7. 10 Vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG. Näheres dazu unten unter II 3 b.

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b) Zulässigkeit bestimmter Vorhaben In der Praxis hat die von Kindern ausgehende Geräuschbelastung für die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit bestimmter Vorhaben eine größere Bedeutung als für die Bauleitplanung selbst. Dabei geht es einmal um die Frage, in welchen ausgewiesenen Baugebieten bauliche Anlagen und Einrichtungen zulässig sind, deren Nutzung üblicherweise mit einer Geräuschverursachung durch Kinder oder Jugendliche verbunden ist. Zum anderen geht es um eine Einzelfallbewertung immissionsträchtiger Vorhaben nach § 15 der Baunutzungsverordnung (BauNVO). Seit der BauNVO 1962 sind Anlagen für soziale Zwecke in allgemeinen Wohngebieten grundsätzlich zulässig (§ 4 Abs. 2 Nr. 3). Typische Beispiele für derartige Anlagen sind Einrichtungen zur Betreuung von Kindern wie Kindergärten, Kindertagesstätten und Kinderhorte.11 Auch Jugendherbergen herkömmlicher Prägung und Jugendheime oder Jugendzentren, die Jugendlichen ein Zusammentreffen in ihrer Freizeit ermöglichen, sind Anlagen für soziale Zwecke und damit in allgemeinen Wohngebieten zulässig. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Einrichtungen (nur) den Bedürfnissen der Bewohner des Baugebiets dienen.12 In reinen Wohngebieten können Anlagen für soziale Zwecke und damit auch die genannten Kinder- und Jugendeinrichtungen seit der BauNVO 199013 ausnahmsweise14 zugelassen werden (§ 3 Abs. 3 Nr. 2). Anders als bei Anlagen für kirchliche, kulturelle, gesundheitliche und sportliche Zwecke wird dabei nicht vorausgesetzt, dass die Einrichtungen den Bedürfnissen der Bewohner des Gebiets dienen. Allerdings dürfen sie dem Charakter eines reinen Wohngebiets nicht widersprechen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO). Ob eine Anlage in diesem Sinne nach ihrer Lage, Größe und Ausstattung gebietsverträglich ist, bedarf einer Bewertung im Einzelfall.15 Dabei geht die Rechtsprechung davon aus, dass ein erhöhter Geräuschpegel, den Kinder hervorrufen, in aller Regel auch in einem reinen Wohngebiet von den Nachbarn unter dem Gesichtspunkt der Sozialadäquanz hinzunehmen ist.16 Generell unzulässig

11 Vgl. OVG Münster, Beschluss vom 1. 7. 1994, UPR 1995, S. 119; OVG Saarlouis, Beschluss vom 11. 9. 2008, ZfBR 2009, S. 366; OVG Hamburg, Beschluss vom 15. 10. 2008, BauR 2009, S. 203. 12 OVG Münster, Beschluss vom 1. 7. 1994, UPR 1995, S. 119. 13 Bis dahin kam nur eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB in Betracht. Vgl. OVG Münster, Beschluss vom 23. 7. 1998, BauR 1999, S. 141. 14 s. § 31 Abs. 1 BauGB; nach § 1 Abs. 6 BauNVO kann eine Ausnahme bereits im Bebauungsplan vorgesehen werden. 15 Vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 3. 1. 2011, NVwZ-RR 2011, S. 185; Stock, in: Ernst/ Zinkahn/Bielenberg (Hrsg.), Baugesetzbuch Bd. V, § 3 BauNVO Rdnr. 79 f.; Rojahn, Lärmbekämpfung, S. 10, 28, 29. 16 Nach dem Urteil des OVG Saarlouis vom 11. 9. 2008, ZfBR 2009, S. 366 (370), kann selbst eine Kinderkrippe für 10 Kinder in einem Einfamilienhaus zulässig sein. Vgl. auch OVG Münster, Beschluss vom 1. 7. 1994, UPR 1995, S. 119, zu einer Kindertagesstätte in einem Reihenmittelhaus. Einen Überblick über die Rechtsprechung enthält der Beitrag von Macht/

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sind Einrichtungen für Kinder und Jugendliche in reinen Wohngebieten jedoch immer dann, wenn die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO vorliegen.17 Spielplätze und Bolzplätze sind keine Anlagen für soziale Zwecke im Sinne der BauNVO. Spielplätze für Kinder bis zu 14 Jahren mit einer üblichen Ausstattung an Spielgeräten sind jedoch in der Regel als untergeordnete Nebenanlagen im Sinne von § 14 Abs. 1 Satz 1 BauNVO anzusehen und als solche auch in reinen Wohngebieten und erst recht in anderen dem Wohnen dienenden Gebieten allgemein zulässig. Der von ihrer zulässigen Nutzung ausgehende Lärm ist sozialadäquat und von den Nachbarn hinzunehmen.18 Dabei ist es unerheblich, ob der Spielplatz auch von Kindern genutzt wird, die nicht in dem betroffenen Wohngebiet wohnen.19 Als untergeordnete Nebenanlage kann auch noch ein Spielplatz mit einer 300 qm großen Ballspielfläche anzusehen sein.20 Wird ein Spielplatz missbräuchlich auch von älteren Kindern und Jugendlichen oder während der späteren Abend- oder Nachtzeit genutzt, ist das bauplanungsrechtlich irrelevant.21 Im Gegensatz zu Anlagen mit üblicher Ausstattung können Abenteuer-, Bau- oder sog. Robinsonspielplätze nicht regelmäßig als untergeordnete Nebenanlagen der Wohnbebauung angesehen werden. Bei derartigen Spielplätzen kann die Ausstattung zu erhöhten Geräuschimmissionen führen, so dass eine Einzelfallprüfung anhand der Grundsätze des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO erforderlich ist.22 Bolzplätze, die in ihrer Größe über kleinere Ballspielflächen im Rahmen eines Kinderspielplatzes hinausgehen, sind im Sinne der Baunutzungsverordnung weder als untergeordnete Anlagen der Wohnbebauung noch als Anlagen für soziale Zwecke anzusehen. Es kann sich aber um gebietsverträgliche Anlagen für sportliche Zwecke handeln. Dann sind sie auch in einem reinen Wohngebiet ausnahmsweise zulässig, wenn sie den Bedürfnissen der Bewohner des Gebiets dienen (§ 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO). In allgemeinen Wohngebieten sind Anlagen für sportliche Zwecke und damit auch Bolzplätze generell zulässig (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO). Ob Bolzplätze der Eigenart eines Wohngebietes widersprechen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO), ist anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls, insbesondere des Abstands zum nächsten

Scharrer, Einrichtungen für Kinder und Jugendliche im Verhältnis zur Nachbarschaft, DÖV 2009, S. 657 ff. 17 Vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 9. 11. 1987, UPR 1988, S. 117; OVG Münster, Beschluss vom 7. 6. 1994, BauR 1995, S. 66. 18 Einhellige Rechtsprechung, u. a. BVerwG, Urteil vom 12. 12. 1991, NJW 1992, S. 1779; OVG Lüneburg, Beschluss vom 29. 6. 2006, NVwZ 2006, S. 1199; VGH Mannheim, Beschluss vom 3. 3. 2008, 8 S 2165/07; OVG Saarlouis, Urteil vom 11. 9. 2008, ZfBR 2009, S. 366 (370); VGH München, Beschluss vom 11. 12. 2008, 22 ZB 07.613. 19 OVG Bremen, Urteil vom 1. 12. 1987, NVwZ 1989, S. 272. 20 OVG Münster, Urteil vom 6. 3. 2006, 7 A 4591. 21 OVG Lüneburg, Beschluss vom 29. 6. 2006, NVwZ 2006, S. 1199. 22 Vgl. hierzu Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg (Hrsg.), Baugesetzbuch Bd. V, § 3 BauNVO Rdnr. 87 Abs. 4 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung.

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Wohnhaus, zu prüfen. Größere Bolzplätze in unmittelbarer Nähe zur nächsten Wohnbebauung sind danach in der Regel unzulässig.23 Unabhängig davon, ob Anlagen und Einrichtungen, von denen Geräuschimmissionen durch Kinder oder Jugendliche ausgehen können, in einem Baugebiet nach den §§ 2 bis 14 BauNVO generell oder ausnahmsweise zulässig sind, kann eine Einzelfallprüfung nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO durchzuführen sein. Nach dieser Bestimmung ist die bauplanungsrechtliche Unzulässigkeit u. a. auch dann gegeben, wenn von einer Anlage Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind. Bei Anlagen und Einrichtungen, von denen bei bestimmungsgemäßer Nutzung Geräuschimmissionen durch Kinder zu erwarten sind, kommt es deshalb darauf an, ob die Geräuscheinwirkungen nach den Umständen des Einzelfalls als unzumutbar angesehen werden müssen. Dabei bestimmt sich die Zumutbarkeit nach bauplanungsrechtlichen Grundsätzen, die allerdings nicht im Widerspruch zu fachrechtlichen Regelungen des Bundes stehen dürfen. Bewertungen des Kinderlärms im Immissionsschutzrecht der Länder sind dagegen für die Auslegung der Baunutzungsverordnung nicht bindend.24 Im Bauplanungsrecht ist allgemein anerkannt, dass natürliche Lebensäußerungen von Kindern auch in reinen Wohngebieten ortsüblich, sozialadäquat und zumutbar sind.25 Die Unzumutbarkeit kann deshalb nur aus besonderen Umständen im Einzelfall hergeleitet werden. Als solche kommen z. B. ein ungewöhnlich hoher An- und Abfahrtverkehr durch die Erziehungsberechtigten oder ihre Beauftragten in Betracht. Unzumutbar kann auch die Ausstattung eines Spielplatzes oder der Außenanlagen eines Kindergartens mit schlecht gewarteten oder aus anderen Gründen zu ungewöhnlich hohen Geräuschbelastungen führenden Geräten sein. Schließlich kann die Gestaltung der Spielflächen (z. B. ein Lärm verursachender Ballfangzaun) oder die Lage unmittelbar neben Wohn- und Schlafräumen die Unzumutbarkeit eines Vorhabens begründen. Auch dann ist eine beantragte Baugenehmigung aber nicht vollständig zu versagen. Vielmehr ist zuvor zu prüfen, ob die Zumutbarkeit mit Hilfe von Auflagen zur Baugenehmigung erreicht werden kann.26 Auch können mögliche und zumutbare passive Schutzmaßnahmen an den beeinträchtigten Gebäuden („architektonische Selbsthilfe“) geboten sein.27 Zusammenfassend ist festzustellen, dass das bisher geltende Bauplanungsrecht Anlagen und Einrichtungen, von denen Geräuschimmissionen durch Kinder ausgehen, in allen Wohngebieten fast immer zulässt. Im Einzelfall können jedoch beson23

Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. 12. 1991, NJW 1992, S. 1779; Stock, in: Ernst/Zinkahn/ Bielenberg (Hrsg.), Baugesetzbuch Bd. V, § 3 BauNVO Rdnr. 83 mit weiteren Nachweisen. 24 Vgl. dazu unten unter II. 3. b) a. E. und unter III. 3. 25 s. Fn. 18. 26 Vgl. auch BVerwG, Urteil vom 27. 2. 1992, NJW 1992, S. 2170. 27 Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. 9. 1999, NVwZ 2000, S. 1050 (1052); Rojahn, Lärmbekämpfung, S. 10, 28, 29.

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dere Umstände vorliegen, die eine Abwägung der gegenläufigen Interessen und einen Ausgleich durch Nebenbestimmungen zur Genehmigung erfordern können.

3. Immissionsschutzrecht a) Anlagenbezogenes Immissionsschutzrecht Anlagen, von denen bei bestimmungsgemäßer Nutzung Geräuschemissionen durch Kinder oder Jugendliche ausgehen können, sind nicht genehmigungsbedürftige Anlagen im Sinne der §§ 22 ff. des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG). Auch Spielplätze, die zur regelmäßigen Nutzung durch Kinder bestimmt sind, insbesondere Grundstücksflächen, die mit festen Spielgeräten ausgestattet sind, fallen unter den Anlagenbegriff des § 3 Abs. 5 BImSchG.28 Für nicht genehmigungsbedürftige Anlagen gelten die Grundpflichten nach § 22 Abs. 1 BImSchG. Weitergehende oder konkretere Vorschriften können nach § 22 Abs. 2 BImSchG auch durch Landesrecht geschaffen werden.29 Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 BImSchG sind nicht genehmigungsbedürftige Anlagen u. a. so zu errichten und zu betreiben, dass nach dem Stand der Technik vermeidbare schädliche Umwelteinwirkungen verhindert und unvermeidbare schädliche Umwelteinwirkungen auf ein Mindestmaß beschränkt werden. In Bezug auf die von Kindern verursachten und einer Anlage zuzurechnenden Geräusche ist hier die entscheidende Frage, wann sie als schädliche Umwelteinwirkungen zu bewerten sind. Dabei ist zwischen den von den Kindern unmittelbar durch Singen, Rufen oder Schreien hervorgerufenen Geräuschen und den durch technische Geräte (z. B. eine Schaukel, die quietscht) oder sonst beim Betrieb der Anlage entstehenden Geräuschen (z. B. durch den An- und Abfahrverkehr oder durch Wartungs- und Reparaturarbeiten) zu unterscheiden. Die von den Kindern unmittelbar ausgehenden Geräusche sind im Rahmen des bestimmungsgemäßen Betriebs der Anlage30 sozialadäquat und damit der Nachbarschaft zumutbar; sie können nicht als schädliche Umwelteinwirkungen angesehen werden.31 Bei den anderen Geräuschimmissionen ist zu unterscheiden: Werden kindergerechte Spielgeräte im üblichen Umfang von Kindern genutzt, ist das den von den Kindern unmittelbar ausgehenden Geräuschen gleichzuset28 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. 2. 2003, NuR 2003, S. 548 (Ballspielplatz für Kinder); VGH Mannheim, Urteil vom 16. 4. 2002, NVwZ-RR 2002, S. 643 (Bolzplatz); Landmann/ Rohmer, Umweltrecht, Bd. III, § 3 BImSchG Rdnr. 24a (Kutscheidt) und vor § 22 BImSchG Rdnr. 5 und 8 (Hansmann). 29 Vgl. Landmann/Rohmer/Hansmann, Umweltrecht, Bd. III, § 22 BImSchG Rdnr. 31 ff. 30 Wird eine Einrichtung für Kinder nicht im Rahmen des bestimmungsgemäßen Betriebs genutzt (z. B. außerhalb der vorgesehenen Betriebszeiten oder durch ältere Jugendliche), ist eine Einzelfallbeurteilung geboten. 31 Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. 12. 1991, NJW 1992,S. 1779; OVG Lüneburg, Beschluss vom 29. 6. 2006, NVwZ 2006, S. 1199; VGH Mannheim, Beschluss vom 3. 3. 2008, 8 S 2165/ 07; OVG Saarlouis, Urteil vom 11. 9. 2008, ZfBR 2009, S. 366 (370); VGH München, Urteil vom 30. 4. 1984, BayVBl. 1984, S. 499, und Beschluss vom 11. 12. 2008, 22 ZB 07:613.

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zen. Etwas anderes gilt jedoch, wenn die Geräuscheinwirkung das übliche Maß überschreitet, z. B. weil eine Schaukel nicht geölt ist oder andere Spielgeräte nicht ordnungsgemäß gewartet sind oder weil zur Begrenzung eines Ballspielfeldes ein Metallzaun statt eines deutlich weniger Geräusche verursachenden Kunststoffnetzes errichtet worden ist. Auch der An- und Abfahrverkehr und Geräusche durch Reparaturarbeiten an einem Kindergarten sind nicht ohne weiteres hinzunehmen. In diesen Fällen ist die Zumutbarkeit im Einzelfall zu ermitteln. Zur Bewertung der Geräusche können dann weder die TA Lärm (vgl. Nr. 1 Abs. 2 Buchst. h) noch die Sportanlagenlärmschutz-Verordnung (18. BImSchV) unmittelbar herangezogen werden.32 Diese Vorschriftenwerke können zwar als Orientierungshilfe genutzt werden.33 Sie ersetzen aber nicht die Beurteilung im Einzelfall, wobei insbesondere die Bedeutung der betroffenen Anlagen für die kindliche Entwicklung gewürdigt werden muss. Zu den immissionsschutzrechtlichen Pflichten der Anlagenbetreiber gehört es auch, die Beschaffenheit und den Betrieb so zu gestalten, dass ein Missbrauch der Anlage, der zu unzumutbaren Belästigungen führt, nach Möglichkeit verhindert wird. Hierzu kann die zuständige Behörde nach § 24 BImSchG entsprechende Anordnungen erlassen.34 Sie kann z. B. verlangen, dass die Nutzung eines Spielplatzes auf Kinder bis zu einem bestimmten Alter beschränkt wird, und regeln, wie das zu kontrollieren ist. Sie kann auch anordnen, dass eine Umzäunung angebracht wird, die abends geschlossen werden muss, oder dass geräuschverursachende Geräte, die üblicherweise oder bevorzugt (nur) von älteren Jugendlichen genutzt werden, durch andere Spielgeräte zu ersetzen sind. Soweit die Länder für Anlagen, die bestimmungsgemäß von Kindern genutzt werden, im Rahmen des § 22 Abs. 2 BImSchG oder aufgrund der Ermächtigung in § 23 Abs. 2 BImSchG Regelungen treffen, müssen diese Regelungen Anforderungen zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen zum Gegenstand haben.35 Landesrechtliche Vorschriften, die alle von Kindern ausgehenden Geräusche als sozialadäquat und zumutbar erklären, sind deshalb für sich allein keine zulässigen Regelungen im Rahmen des § 22 Abs. 2 oder des § 23 Abs. 2 BImSchG; sie können nur den Begriff der schädlichen Umwelteinwirkungen für das einschlägige Landesrecht näher regeln. Nach § 22 Abs. 2 BImSchG oder aufgrund der Ermächtigung in § 23 32 BVerwG, Beschluss vom 11. 2. 2003, NVwZ 2003, S. 751; vgl. auch Dietrich/Kahle, Immissionsschutzrechtliche Beurteilung von Kindergartenlärm und Lärm von Kinderspielplätzen, DVBl, 2007, S. 18, 20 f.; Rojahn, Lärmbekämpfung, S. 10, 28 f. 33 Vgl. Landmann/Rohmer/Hansmann, Umweltrecht, Bd. IV, Nr. 1 TA Lärm Rdnr. 23. 34 § 24 BImSchG kann auch angewandt werden, wenn eine Kindertagesstätte, ein Spielplatz oder eine andere Anlage für Kinder von einem Träger öffentlicher Gewalt betrieben wird (BVerwG Urteil vom 25. 7. 2002, NVwZ 2003, S. 346). Darüber hinaus kann in diesen Fällen ein öffentlich-rechtlicher Anspruch aus Art. 2, 14 GG oder aus einer analogen Anwendung der §§ 906 und 1004 BGB herzuleiten sein. Der Maßstab für die hinzunehmenden Geräuschimmissionen ist auch bei einem öffentlich-rechtlichen Träger § 22 Abs. 1 BImSchG zu entnehmen (vgl. Landmann/Rohmer/Hansmann, Umweltrecht, Bd. III, § 22 BImSchG Rdnr. 3 mit Nachweisen). 35 Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. 1. 1999, NVwZ 1999, S. 651.

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Abs. 2 BImSchG können die Länder jedoch strengere oder konkretere Vorschriften in Bezug auf die Pflichten der Betreiber von Kindergärten, Kindertagesstätten, Spielplätzen, Bolzplätzen und ähnlichen Einrichtungen erlassen. Diese können sich z. B. auf eine Begrenzung der Betriebszeiten, auf Anforderungen an die Spielgeräte und auf die erforderliche Wartung beziehen. Dabei haben die Länder einen weiten Spielraum zur Festlegung der Voraussetzungen, unter denen die speziellen landesrechtlichen Anforderungen gelten sollen. Nach § 23 Abs. 2 BImSchG, ggf. in Verbindung mit Art. 80 Abs. 4 GG, können die Länder auch Vorsorgeanforderungen festlegen. In dieser Hinsicht sind die Vorschriften in einzelnen Landes-Immissionsschutzgesetzen, wonach bei der Errichtung von Anlagen Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen zu treffen ist,36 auch für die Ausstattung von Kinderspielplätzen und ähnlichen Einrichtungen von Bedeutung. Landesrechtliche Regelungen können aber nicht mit Wirkung für das Bundesrecht den Maßstab der schädlichen Umwelteinwirkungen verändern.37 b) Verhaltensbezogenes Immissionsschutzrecht Das verhaltensbezogene Lärmschutzrecht ist ausschließlich Sache der Länder. Bis zur Föderalismusreform I38 hat der Bund sich entsprechender Regelungen enthalten, seitdem fehlt ihm die Gesetzgebungskompetenz. Dabei ist allerdings im Schrifttum noch strittig, was unter dem verhaltensbezogenen Lärmschutz im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG zu verstehen ist.39 An dieser Stelle ist eine erneute Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Auffassungen nicht möglich. Von der Bundesregierung40 und wohl auch überwiegend im Schrifttum41 wird der Ansicht zugestimmt, 36

Vgl. § 2 Abs. 4 LImSchG Berlin; § 3 Abs. 5 LImschG Brandenburg; § 3 Abs. 3 LImschG

NRW. 37

So auch Rojahn, Lärmbekämpfung, S. 10, 28, 29 f. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. 8. 2006 (BGBl. I, S. 2034). 39 Zur Auslegung der Worte „ohne den verhaltensbezogenen Lärmschutz“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG vgl. Hansmann, Die Gesetzgebungskompetenz für die Lärmbekämpfung nach der Föderalismusreform, NVwZ 2007, S. 17; Dietrich/Kahle, Immissionsschutzrechtliche Beurteilung von Kindergartenlärm und Lärm von Kinderspielplätzen, DVBl, 2007, S. 18, 26; Försterling, Zuständigkeiten und Befugnisse der Länder im Bereich der Gesetzgebung nach der Föderalismusreform, Zeitschrift für Gesetzgebung 2007, S. 36; Schulze-Fielitz, Umweltschutz im Föderalismus – Europa, Bund und Länder, NVwZ 2007, S. 249, 256; Kotulla, Umweltschutzgesetzgebungskompetenzen und „Föderalismusreform“, NVwZ 2007, S. 489; Jarass, BImSchG, 7. Aufl., 2007, Einl. Rdnr. 41; Sauer, Anlagenbezogener Immissionsschutz gegen verhaltensbezogenen Lärm? – zur Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG i. d. F. der Föderalismusreform am Beispiel des Kinderlärms, NordÖR 2008, S. 480; Huber/Wollenschläger, Immissionsschutz nach der Föderalismusreform I: Zur veränderten Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Bereich des Lärmschutzes, NVwZ 2009, S. 1513. 40 Antwort der Bundesregierung auf die Fragen 5 bis 9 in der BT-Drs. 17/1194 sowie die Begründung zum 10. Gesetz zur Änderung des BImSchG, BR-Drs. 128/11 S. 4. 41 Vgl. die in Fn. 39 zitierten Autoren Hansmann, Kotulla, Jarass und Sauer (z. T. mit weiteren Nachweisen). 38

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dass der Begriff des verhaltensbezogenen Lärms im Sinne des hergebrachten immissionsschutzrechtlichen Sprachgebrauchs zu interpretieren ist. Danach ist eine Geräuschverursachung nur dann als verhaltensbezogen anzusehen, wenn sie nicht dem bestimmungsgemäßen Betrieb einer Anlage42 zuzurechnen ist.43 Für die Frage, ob auf die durch Kinder verursachten Geräuscheinwirkungen anlagenbezogenes oder verhaltensbezogenes Recht Anwendung findet, ist von Bedeutung, ob und inwieweit die für den Betrieb der Betreuungseinrichtung Verantwortlichen zu Abhilfemaßnahmen herangezogen werden können. Beim Missbrauch einer Anlage kann – wie weiter oben ausgeführt wurde44 – u. U. eine Anordnung gegenüber dem Anlagenbetreiber getroffen werden. Daneben können aber auch gegenüber den Kindern und Jugendlichen, die einen Spielplatz missbräuchlich nutzen, Gebote oder Verbote ausgesprochen werden. Ob anlagenbezogenes oder verhaltensbezogenes Recht einschlägig ist, hängt dann von den Adressaten der zu fordernden Maßnahmen ab.45 Das bisher geltende Landesimmissionsschutzrecht enthält zwar keine speziellen Vorschriften zur Vermeidung von Kinderlärm. In verschiedenen Landes-Immissionsschutzgesetzen gibt es jedoch eine allgemeine Vorschrift, nach der sich jeder so zu verhalten hat, dass schädliche Umwelteinwirkungen vermieden werden, soweit das nach den Umständen des Einzelfalles möglich und zumutbar ist.46 Die Kinder selbst werden durch diese Bestimmung in ihren natürlichen Lebensäußerungen nicht eingeschränkt. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass andere Personen Kinder zu Zeiten und in einer Weise zur Verursachung von Lärm veranlassen, die anderen Personen nicht mehr zumutbar ist. Das gilt z. B. dann, wenn Kinder noch am späten Abend zum Spielen, u. U. sogar mit Lärm verursachenden Instrumenten, in den Innenbereich eines Wohnhauskomplexes geschickt werden. Dann wird die allgemeine Verhaltensregel durch die Veranlasser verletzt, so dass von ihnen Abhilfe verlangt werden kann. Bei einer Aufsichtspflicht über Kinder kann auch das Unterlassen des Eingreifens als Veranlassung und damit als Verstoß gegen die allgemeine Verhaltenspflicht anzusehen sein.

42

Unter dem bestimmungsgemäßen Betrieb ist eine der Art der Anlage entsprechende Nutzung zu verstehen (dazu näher Landmann/Rohmer/Hansmann, Umweltrecht, Bd. III, vor § 22 BImSchG Rdnr. 22); s. auch. Fn. 30. 43 Zur Abgrenzung zwischen anlagebezogenem und verhaltensbezogenem Lärm vgl. ausführlich Hansmann, Die Gesetzgebungskompetenz für die Lärmbekämpfung nach der Föderalismusreform, NVwZ 2007, S. 17, 19 f. 44 II. 3. a) Abs. 3. 45 Zur entsprechenden Problematik bei Lärmstörungen durch die Zuschauer in einem Sportstadion vgl. Hansmann, Die Gesetzgebungskompetenz für die Lärmbekämpfung nach der Föderalismusreform , NVwZ 2007, S. 17, 19. 46 So § 2 Abs. 1 LImSchG Berlin; § 3 Abs. 1 LImschG NRW und § 3 LImSchG RheinlandPfalz.

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4. Polizei- und Ordnungsrecht Das Polizei- und Ordnungsrecht kann gegenüber dem von Kindern ausgehenden Lärm nur herangezogen werden, wenn keine vorrangige spezielle Eingriffsermächtigung gegenüber der polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklausel besteht. In Bezug auf anlagenbezogenen Lärm ist das Bundes-Immissionsschutzgesetz vorrangig. Gegenüber verhaltensbezogenem Lärm ist auf das einschlägige Landesimmissionsschutzrecht zurückzugreifen, soweit dieses entsprechende Regelungen enthält. Das ist nicht in allen Ländern der Fall. Dann kann aufgrund der polizei- oder ordnungsrechtlichen Generalklausel des betreffenden Landes eingeschritten werden, wenn eine Gefahr für die öffentliche Ordnung vorliegt, d. h. wenn ein gedeihliches menschliches Zusammenleben nicht mehr gewährleistet ist. Dass übliche natürliche Lebensäußerungen von Kindern ein gedeihliches menschliches Zusammenleben nicht gefährden können, liegt auf der Hand. Hier kommt ein Eingreifen ebenso wie bei Anwendung der allgemeinen Verhaltensregel in einem Landes-Immissionsschutzgesetz nur gegenüber dem Veranlasser in Betracht. Insoweit kann auf die Ausführungen zum verhaltensbezogenen Immissionsschutzrecht verwiesen werden. III. Änderungen der Rechtslage 1. Änderung der Baunutzungsverordnung Bereits in der 16. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages hatte zunächst die FDP-Fraktion gefordert, „§ 3 der Baunutzungsverordnung (BauNVO) dahingehend zu ergänzen, dass Kindertageseinrichtungen auch in Reinen Wohngebieten grundsätzlich zulässig sind, sofern sie vorwiegend der Betreuung von in diesem Wohngebiet lebenden Kindern dienen sollen.“47 Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD haben am 1. 7. 2009 eine entsprechende Forderung an die Bundesregierung gestellt, die am 2. 9. 2009 „mit den Stimmen des ganzen Hauses“ angenommen worden ist.48 Der Koalitionsvertrag 200949 enthält dann die bereits oben wiedergegebene Ankündigung einer Gesetzesänderung. Der Bundesrat hat schließlich in seiner Entschließung vom 5. 3. 201050 gebeten, u. a. eine Änderung der Baunutzungsverordnung dahingehend zu erwägen, „dass Kindertagesstätten als Anlagen für soziale Zwecke in reinen Wohngebieten nicht mehr nur ausnahmsweise zugelassen werden können, sondern im Regelfall zulässig sind“. In Anbetracht dieser politischen Vorgaben plant die Bundesregierung eine Änderung des § 3 BauNVO.51 Dazu ist beabsichtigt, im Rahmen einer all47

BT-Drs. 16/11665. BT-Drs. 16/13624. 49 Fn. 1. 50 BR-Drs. 831/09 (Beschluss). 51 Vgl. die Antworten auf Kleine Anfragen in den BT-Drs. 17/1194 und 17/ 2698 sowie Teil A I (a. E.) der Begründung zum Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des BundesImmissionsschutzgesetzes, BR-Drs. 128/11, S. 3 = BT-Drs. 17/4836, S. 5. 48

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gemeinen Novellierung des Bauplanungsrechts auch § 3 Abs. 2 BauNVO dahin zu ergänzen, dass in reinen Wohngebieten Anlagen zur Kinderbetreuung, die den Bedürfnissen der Bewohner dieses Gebiets dienen, allgemein zulässig sind. Bei der Novellierung des Bauplanungsrechts soll auch geprüft werden, wie die Ergänzung des § 3 BauNVO auf geltende Bebauungspläne ausgeweitet werden kann. Die Änderungen des Bauplanungsrechts sollen 2012 in Kraft treten. 2. Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes In Bezug auf das Immissionsschutzrecht ist ähnlich wie zur Baunutzungsverordnung eine Änderung der Rechtslage dahingehend gefordert worden, dass Kinderlärm nach der gesetzgeberischen Wertung sozialadäquat sei und damit regelmäßig nicht als schädliche Umwelteinwirkung bewertet werden könne.52 Um dieses Ziel zu erreichen, kommen Änderungen des § 3 Abs. 1 oder des § 22 BImSchG in Betracht. Da die Privilegierung von Kinderlärm gegenüber anderen Lärmarten nur für nicht genehmigungsbedürftige Anlagen von Bedeutung ist, hat die Bundesregierung eine Ergänzung des § 22 BImSchG vorgeschlagen.53 Durch ein Zehntes Gesetz zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes soll in § 22 BImSchG ein Absatz 1a mit folgendem Wortlaut eingefügt werden: „(1a) Geräuscheinwirkungen, die von Kindertageseinrichtungen, Kinderspielplätzen und ähnlichen Einrichtungen wie beispielsweise Ballspielplätzen durch Kinder hervorgerufen werden, sind im Regelfall keine schädliche Umwelteinwirkung. Bei der Beurteilung der Geräuscheinwirkungen dürfen Immissionsgrenz- und -richtwerte nicht herangezogen werden.“

Durch diese Formulierung soll „auch eine Ausstrahlung auf die zivilrechtliche Praxis“ erreicht werden. 3. Änderungen im Landesimmissionsschutzrecht Als erstes Land hat Berlin in sein Landes-Immissionsschutzgesetz54 mit Wirkung vom 16. 2. 2010 folgende Bestimmung aufgenommen (§ 6 Abs. 1): „Störende Geräusche, die von Kindern ausgehen, sind als Ausdruck selbstverständlicher kindlicher Entfaltung und zur Erhaltung kindgerechter Entwicklungsmöglichkeiten grundsätzlich sozialadäquat und damit zumutbar.“ In anderen Ländern55 sind ähnliche Regelungen getroffen worden oder geplant; sie sind allerdings in der Formulierung und in der Reichweite unterschiedlich. Die Bedeutung der landesrechtlichen Regelungen ist begrenzt. Sie gelten nur für das im Landesrecht enthaltene verhaltensbezogene Lärmschutzrecht und für die im 52 53 54 55

Vgl. dazu die bei Fn. 47 und 48 zitierten Dokumente. BR-Drs. 128/11 = Bt-Drs. 17/4836. Fn. 3. Fn. 4.

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Rahmen des § 22 Abs. 2 BImSchG oder aufgrund des § 23 Abs. 2 BImSchG getroffenen, gegenüber dem Bundesrecht weitergehenden oder konkreteren Anforderungen an nicht genehmigungsbedürftige Anlagen.56 Außerdem können derartige Vorschriften nicht uneingeschränkt angewandt werden. Wenn möglicherweise Grundrechte Dritter verletzt werden, ist eine Abwägung der unterschiedlichen Interessen erforderlich. Insoweit muss das Wort „grundsätzlich“ in der Berliner Regelung als Einschränkung im Sinne von „in der Regel, aber nicht in jedem Fall“ interpretiert werden.57 IV. Probleme bei der Auslegung und Anwendung geänderter Vorschriften 1. § 3 BauNVO Die geplante Änderung des § 3 BauNVO ist insoweit problematisch, als sie Anlass geben kann, ihre Ausdehnung auch auf andere Arten von Anlagen zu verlangen.58 Darüber hinaus lässt die vorgesehene Fassung der Vorschrift verschiedene Auslegungsfragen offen. Schon der Begriff der Betreuung ist mehrdeutig. Ist eine Betreuung auch anzunehmen, wenn die Erziehung der Kinder im Vordergrund steht? Nicht eindeutig geklärt ist auch der Begriff der Kinder. Sind Kinder Personen bis zu einem bestimmten Lebensalter (14 Jahre?), oder kommt es darauf an, ob das Verhalten der betreuten jungen Menschen noch als typisch kindlich angesehen werden kann? Was gilt bei Einrichtungen, die nur teilweise der Betreuung von Kindern dienen und in denen auch ältere Jugendliche untergebracht sind? Offen ist schließlich, wann und in welchem Umfang Ausnahmen geboten sind. Die Anwendung des § 15 BauNVO wird durch die Änderung des § 3 Abs. 2 BauNVO nicht ausgeschlossen. Insoweit wird im Einzelfall eine Abwägung unter Gewichtung der widerstreitenden Interessen aller Betroffenen erforderlich sein. Schon aus diesem Grunde kann das politische Ziel, „dass Kinderlärm keinen Anlass für gerichtliche Auseinandersetzungen geben soll“, nicht erreicht werden. Abgesehen davon bleibt immer die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG zu beachten. 2. § 22 BImSchG Auch die Ergänzung des § 22 BImSchG kann Wünsche nach einer Aufweichung des Lärmschutzes in Bezug auf andere Geräuschquellenarten wecken. Außerdem

56

Vgl. dazu oben unter II. 3. a) und b). Nordrhein-Westfalen hat deshalb folgende Formulierung für sein Landes-Immissionsschutzgesetz vorgesehen: „Von Kindern ausgehende Geräusche sind notwendige Ausdrucksform kindlicher Entfaltung, die in der Regel als sozialadäquat zumutbar sind.“ 58 Mit einem Antrag vom 18. 5. 2010 (BT-Drs.17/1742) hat die Fraktion DIE LINKE bereits gefordert, u. a. § 3 BauNVO dahin zu ändern, „dass Anlagen, die sportlichen Zwecken dienen, als in der Regel (und nicht nur ausnahmsweise) zulässig kategorisiert werden“. 57

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wirft sie neue Auslegungsfragen auf. Wie ist der Begriff der Kinder auszulegen?59 Was gilt bei Einrichtungen, die bestimmungsgemäß nicht nur von Kindern genutzt werden? Welche anlagebezogenen Pflichten gelten bei einer missbräuchlichen Nutzung der Einrichtung? Schließlich stellt sich die Frage, was das Verbot der Heranziehung von Immissionsgrenz- und -richtwerten bewirken soll. Dass die Werte der Sportanlagenlärmschutzverordnung (18. BImSchV) und der TA Lärm nicht unmittelbar heranzuziehen sind, ergibt sich bereits aus den Regelwerken selbst. Soll darüber hinaus auch die Nutzung von immissionsbezogenen Werten als Orientierungshilfe bei der Beurteilung des Einzelfalls ausgeschlossen sein? Oder soll gar gesetzlich verboten werden, irgendwelche Beurteilungshilfen zu schaffen?60 Beides dürfte nicht sinnvoll sein. Wenn eine Ergänzung des § 22 BImSchG sachgerecht sein soll, muss jedenfalls klar sein, dass die Bestimmung, Kinderlärm sei keine schädliche Umwelteinwirkung, – nur für den bestimmungsgemäßen Betrieb einer Anlage, – nur in Bezug auf die natürlichen Lebensäußerungen von Kindern und – nur im Regelfall und nicht bei Störungen an besonders schutzbedürftigen Orten und zu besonders schutzbedürftigen Zeiten gilt. 3. Landesimmissionsschutzrecht Die Ergänzungen der Landes-Immissionsschutzgesetze sind problematisch, wenn und soweit sie nicht ausdrücklich ihren beschränkten Anwendungsbereich61 benennen oder anderweitig klar erkennen lassen. Außerdem sind sie inhaltlich nicht immer eindeutig. Über die bereits zu § 3 BauNVO und § 22 BImSchG angesprochenen Auslegungsprobleme hinaus stellen sich hier weitere Fragen: Was heißt „grundsätzlich sozialadäquat“?62 Wann sind die von Kindern ausgehenden Geräusche nicht mehr „notwendige Ausdrucksform kindlicher Entwicklung“?63 Was sind „kindgerechte Entwicklungsmöglichkeiten“?64 Wann sind natürliche Lebensäußerungen von Kindern „Ausdruck natürlichen Spielens oder anderer kindlicher Verhaltenswei59 Die Begründung zu Artikel 1 des Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BT-Drs. 17/4836, S. 6) verweist auf § 7 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgesetzbuchs – Achtes Buch. Danach ist Kind, wer noch nicht 14 Jahre alt ist. 60 Nach Teil A I der Begründung zum Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes soll es möglich bleiben, ein fachliches Regelwerk zu schaffen, „das den genannten Regelwerken eine andersartige Konkretisierung entgegenstellt“ (BT-Drs. 17/4836, S. 4). Ob das bei der Formulierung des § 22 Abs. 1a Satz 2 BImSchG durch ein untergesetzliches Regelwerk zulässig ist, erscheint fraglich. 61 Vgl. dazu oben unter III. 3. 62 So die Formulierungen in Berlin und Rheinland-Pfalz. Vgl. dazu auch oben unter III. 3. a. E. 63 So die Formulierung in Nordrhein-Westfalen. 64 So die Formulierung in Berlin.

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sen“?65 Wie ist „natürliches Spielen“ von sonstigem Spielen abzugrenzen? Hier öffnet sich ein weites Feld für Rechtsstreitigkeiten. Das Ziel der verschiedenen Gesetzesinitiativen, gegenüber dem geltenden Recht eine höhere Rechtssicherheit zu schaffen, wird jedenfalls verfehlt. V. Ergebnis Die von Kindern ausgehenden Geräuschimmissionen sind bereits nach bisher geltendem Recht gegenüber anderen Geräuschquellenarten privilegiert. Natürliche Lebensäußerungen von Kindern sind sozialadäquat und damit zumutbar, wenn sie als Teil der kindergerechten Entwicklung angesehen werden können. Anlagen und Einrichtungen, die der kindlichen Entwicklung dienen, sind als Nebenanlagen in allen dem Wohnen dienenden Gebieten zulässig. Die vorgesehene Änderung des § 3 BauNVO soll auch selbständige Anlagen zur Betreuung von Kindern in reinen Wohngebieten zulassen. Da damit eine Einzelfallprüfung nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO nicht ausgeschlossen ist, werden auch insoweit keine gravierenden Änderungen gegenüber dem bisherigen Recht eintreten. Allenfalls geringe praktische Bedeutung haben die Ergänzungen des § 22 BImSchG und des Landesimmissionsschutzrechts. Sie werden aber auch in der Zukunft Rechtsstreitigkeiten nicht ausschließen können. Wegen ihrer zahlreichen offenen Auslegungsfragen werden sie eher zu mehr Rechtsunsicherheit und zu Vollzugsproblemen führen. All das zeigt, dass die gesunde Entwicklung von Kindern weniger durch Änderungen des Lärmschutzrechts als vielmehr durch eine Verbesserung der gesellschaftlichen Einstellung zu (eigenen und fremden) Kindern zu fördern ist.

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So die Formulierung in Bayern.

Ziele der Raumordnung – eine Rechtsprechungskarriere Von Stefan Paetow, Berlin I. Einleitung Rainer Wahl gehört zu den wissenschaftlichen Pionieren des Rechts der Raumordnung und Landesplanung. Seine ersten Veröffentlichungen hierzu fielen in eine Zeit, in der die verwaltungspolitische und rechtspraktische Bedeutung dieses Aufgabenbereichs eher gering zu sein schien.1 Die mangelnde Außenwahrnehmung war wesentlich darauf zurückzuführen, dass Raumordnung und Landesplanung als übergeordnete und überfachliche Planung vor allem im Binnenraum der Verwaltung angesiedelt waren und keine unmittelbaren Rechtswirkungen gegenüber dem Bürger entfalteten. Eine Beteiligung der Öffentlichkeit und einzelner gab es lange Zeit nicht. Die Raumordnung war (und ist weitgehend bis heute) eine „stille“ Staatsaufgabe, wie es Wahl kürzlich ausgedrückt hat.2 Soweit es Konflikte bei der Erarbeitung oder Durchführung der Planungen gab, etwa zwischen dem Plangeber und betroffenen Kommunen oder anderen Planungsträgern und Verwaltungen, beschäftigte das die Öffentlichkeit kaum. Dasselbe galt für die meisten mit dem Bau- und Planungsrecht befassten Rechtsanwender, seien sie Behördenbedienstete, Rechtsanwälte oder Verwaltungsrichter. So war der Verfasser zwar seit Anfang der siebziger Jahre in verschiedenen richterlichen Funktionen in planungs- und umweltrechtlichen Verfahren mit allen möglichen Aspekten dieser Materien befasst; raumordnungsrechtliche Fragestellungen gehörten dazu jedenfalls in den ersten Jahrzehnten nicht. Bei dieser Sachlage nimmt es nicht wunder, dass sich auch die Gerichte lange Zeit kaum mit dieser Thematik befassen mussten. Nimmt man das Inkrafttreten des Raumordnungsgesetzes des Bundes vom 8. April 19653 als zeitlichen Ausgangpunkt, so hat es bis in die achtziger und neunziger Jahre gedauert, ehe einige wenige Gerichtsentscheidungen mit Äußerungen zur Raumordnung und Landesplanung ergingen oder jedenfalls bekannt wurden. Das hat sich freilich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren deutlich geändert. Man könnte mittlerweile fast von einem Boom sprechen, der von einer ebensolchen Entwicklung in der Fachliteratur begleitet wird. Das hängt vorwiegend mit dem Phänomen der – von Wahl so bezeichneten –„projektorientierten“ 1

Vgl. z. B. Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, 1978. Erscheinungsformen und Probleme der projektorientierten Raumordnung, in: FS Sellner, 2010, S. 155. 3 BGBl. I S. 306. 2

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Raumordnung zusammen, also mit der Erscheinung, dass raumordnungsrechtliche Instrumente für die Planung und Zulassung konkreter Vorhaben mit einer bisher nicht gekannten (außen-)rechtlichen Verbindlichkeit herangezogen werden. An dieser Entwicklung sind Gesetzgeber, Planungs- und Verwaltungspraxis, Wissenschaft und die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung in je eigener Weise beteiligt. Die Folge ist, dass die bei vielen Vorhaben unvermeidlichen rechtlichen Konflikte in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren auch auf dem Feld des Raumordnungsrechts ausgetragen werden. Doch auch in dem klassischen Bereich der Verpflichtung der Kommunen, ihre Bauleitpläne den Zielen der Raumordnung und Landesplanung anzupassen – die maßgebende Vorschrift gab es bereits im BBauG 1960 (seinerzeit § 1 Abs. 3) – ist eine Zunahme der früher äußerst seltenen Gerichtsverfahren festzustellen. Die folgenden Ausführungen befassen sich mit einem Ausschnitt, nämlich dem Beitrag der Rechtsprechung zu dieser Entwicklung, insbesondere an Hand der wichtigsten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts. Dass diese Entscheidungen nicht im luftleeren Raum ergangen sind, sondern auch von der seinerzeit vorliegenden Fachliteratur mit geprägt sind, versteht sich; auf die Rolle der Wissenschaft kann hier aber nicht näher eingegangen werden. Die Darstellung der Rechtsprechung konzentriert sich dabei auf die Kategorie der Ziele der Raumordnung, also diejenigen raumordnerischen Vorgaben, die wegen ihrer Verbindlichkeit meist der Anknüpfungspunkt für rechtliche Auseinandersetzungen sind. Es wird sich zeigen, dass die Fallgestaltungen zwar vielfältig und von unterschiedlichem raumordnungsrechtlichem Gewicht sind. Doch sind bestimmte Schwerpunkte unverkennbar, die deutlich machen, in welchen Bereichen besonders häufig und heftig Konflikte auftreten und bis zum höchsten Verwaltungsgericht durchgefochten werden. Dabei bietet sich als Gliederung an, zunächst die von der Rechtsprechung zu den Zielen der Raumordnung herausgearbeiteten grundlegenden Gesichtspunkte zu behandeln (Abschnitt I.), um sodann einige speziellere Fragen aus dem Bereich des Städtebaurechts (Abschnitt II.) und des Fachplanungsrechts (Abschnitt III.) aufzugreifen.

II. Ziele der Raumordnung – Entscheidungen zu grundlegenden Fragen 1. Gesetzliche Grundlagen Die einschlägigen Gerichtsentscheidungen fußen naturgemäß auf den jeweils maßgebenden gesetzlichen Grundlagen zu den Zielen der Raumordnung, auch wenn zu zeigen sein wird, dass der Gesetzgeber gelegentlich die Rechtsprechung nachvollzogen hat. Auf die vor der ersten bundesrechtlichen Regelung im Raumordnungsgesetz vom 8. April 1965 (ROG 1965) existierenden Landesplanungsgesetze soll hier nicht eingegangen werden; auf diese bezieht sich die schon 1960 in Kraft getretene Ursprungsfassung der gemeindlichen Anpassungspflicht in § 1 Abs. 3 BBauG. Das im Zuge seiner Rahmengesetzgebungskompetenz nach Art. 75 Abs. 1 Nr. 4 GG a. F. vom Bund erlassene ROG 1965 kannte – ebenso wie seine späteren

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Novellierungen4 – noch keine klar definierte Unterscheidung zwischen den Grundsätzen und den Zielen der Raumordnung. Vielmehr waren in § 2 des Gesetzes zahlreiche „Grundsätze“ aufgeführt, die gemäß § 3 ROG 1965 unmittelbare Geltung für raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen von Behörden usw. des Bundes sowie für die Landesplanung in den Ländern beanspruchten. Die an die Länder gerichtete Vorschrift des § 5 Abs. 2 Satz 1 ROG 1965 gab diesen auf, in den von ihnen aufzustellenden übergeordneten und zusammenfassenden Programmen und Plänen diejenigen Ziele der Raumordnung und Landesplanung festzulegen, die räumlich und sachlich zur Verwirklichung der Grundsätze nach § 2 erforderlich waren. Die Raumordnungsklausel des § 5 Abs. 4 Satz 1 ROG 1965 begründete sodann die Pflicht der mit raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen befassten, in § 4 Abs. 5 ROG 1965 genannten öffentlichen Stellen zur „Beachtung“ der Ziele. Schon im Zuge der Vorarbeiten für eine grundlegende Novellierung des Raumordnungsgesetzes des Bundes wurde eine Erhöhung der Durchsetzungskraft raumordnerischer Zielsetzungen gegenüber der Bauleitplanung und den Fachplanungen gefordert.5 Im Text des am 1. Januar 1998 in Kraft getretenen Raumordnungsgesetzes vom 18. August 19976 – ROG 1998 – schlug sich dies zum einen in den Begriffsbestimmungen des § 3 nieder: Unter dem Oberbegriff der Erfordernisse der Raumordnung werden die Ziele der Raumordnung als verbindliche, abschließend abgewogene Festlegungen in Raumordnungsplänen zur Entwicklung, Ordnung und Sicherung des Raums gekennzeichnet, während die Grundsätze der Raumordnung allgemeine raumordnerische Aussagen im Sinne von Vorgaben für nachfolgende Ermessensund Abwägungsentscheidungen sind. Mit diesen Definitionen und Unterscheidungen knüpfte der Gesetzgeber ersichtlich an die Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. August 19927 an, insbesondere mit der Pflicht zur strikten Beachtung der Ziele der Raumordnung, die im Gegensatz zu den Grundsätzen durch Abwägung nicht überwunden werden können. Die Beachtenspflicht richtet sich an alle öffentlichen Stellen bei deren raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen einschließlich bestimmter Genehmigungen und Planfeststellungen (§ 4 Abs. 1 Satz 1 und 2 ROG 1998). Für Privatrechtspersonen, die raumbedeutsame Planungen oder Maßnahmen in Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durchführen, gilt unter bestimmten Voraussetzungen Entsprechendes (§ 4 Abs. 3 ROG 1998). In den Raumordnungsplänen der Länder sind Ziele der Raumordnung als solche zu kennzeichnen (§ 7 Abs. 1 Satz 2 ROG 1998). Das nach dem Übergang des Rechts der Raumordnung in die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 72 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 31 GG) geschaffe4

Vgl. die Fassungen der Bekanntmachung vom 19. 07. 1989. BGBl. I S. 1461; vom 25. 07. 1991, BGBl. I S. 1726 und vom 28. 04. 1993, BGBl. I S. 630. 5 Siehe die Nachweise bei Appold, Die historische Entwicklung des Rechts der Raumordnung, in: FS Hoppe, S. 21, 31 6 BGBl. I S. 2081. 7 BVerwGE 90, 329.

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ne Raumordnungsgesetz vom 22. Dezember 20088 – ROG 2009 – hat die hier interessierenden Vorschriften in den §§ 3 und 4 inhaltlich nahezu unverändert übernommen, insbesondere auch mit der Unterscheidung zwischen der (strikten) Beachtenspflicht bei den abschließend abgewogenen Zielen der Raumordnung und der (bloßen) Berücksichtigungspflicht der Grundsätze im Rahmen der Abwägung. Der neu gefasste § 7 Abs. 2 ROG 2009 verdeutlicht diese Unterscheidung nochmals. Auf der Ebene der Fachgesetze ist es zunächst das Städtebaurecht, insbesondere die Bauleitplanung, in das in Umsetzung der im ROG angeordneten Beachtenspflichten die Ziele der Raumordnung hineinwirken. Zu nennen ist hier die „älteste“ Regelung, nämlich die bereits erwähnte Vorschrift des § 1 Abs. 4 BauGB (§ 1 Abs. 3 BBauG 1960), nach der die Bauleitpläne den Zielen der Raumordnung (und Landesplanung) anzupassen sind. Im Lauf der Zeit sind weitere Schnittstellen zwischen Raumordnungs- und Städtebaurecht hinzugekommen. In § 35 BBauG wurden die Ziele der Raumordnung ausdrücklich als einem Außenbereichsvorhaben möglicherweise entgegenstehende öffentliche Belange aufgeführt, zunächst in einfacherer Form in § 35 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1979,9 stärker aufgefächert dann in § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB 198710 (Satz 2 der heutigen Fassung). Danach dürfen raumbedeutsame Vorhaben den Zielen der Raumordnung nicht widersprechen. Eine praktisch sehr bedeutsame und konfliktträchtige Ergänzung erhielt die Vorschrift im Jahr 199611 durch den sog. Planvorbehalt im neu gefassten Absatz 3 Satz 3, der durch Konzentrationsund Ausschlusszonen im Interesse des Außenbereichsschutzes und der Bündelung von Standorten planerische Steuerungsmöglichkeiten u. a. durch die Ziele der Raumordnung schuf. Ebenfalls von erheblichen Auswirkungen für die Praxis und streitverursachend ist schließlich die erstmals 1977 eingeführte Vorschrift des § 11 Abs. 3 BauNVO, die die planungsrechtliche Zulässigkeit von großflächigen Einzelhandelsbetrieben und sonstigen großflächigen Handelsbetrieben auf Kerngebiete und Sondergebiete beschränkt, soweit diese Betriebe nachteilige Auswirkungen u. a. auf die Verwirklichung der Ziele der Raumordnung und Landesplanung haben. Schließlich ist noch die durch das EAG Bau 2004 eingefügte Vorschrift des § 2 Abs. 2 Satz 2 BauGB zu nennen, nach der sich Gemeinden bei der Abstimmung der Bauleitpläne mit Nachbargemeinden auf die ihnen durch Ziele der Raumordnung zugewiesenen Funktionen berufen können; mit diesem raumordnungsrechtlichen Funktionsschutz sollen die Rechtsschutzmöglichkeiten von Gemeinden erweitert werden.12 Für die Verzahnung von Raumordnungszielen und Fachplanung enthalten manche Fachplanungsgesetze eigene Raumordnungsklauseln. Beispielhaft ist hinzuweisen auf § 6 Abs. 2 Satz 1 LuftVG13 ; danach ist vor Erteilung der luftverkehrsrechtlichen 8

BGBl. I S. 2986. BGBl. I S. 949. 10 BGBl. I 1976 S. 2256. 11 Gesetz zur Änderung des BauGB vom 30. 07. 1996, BGBl. I S. 1189. 12 So die Gesetzesbegründung BT-Drucks. 15/2250, 41. 13 I. d. F. der Bek. vom 10. 05. 2007, BGBl. I S. 698. 9

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Genehmigung u. a. besonders zu prüfen, ob die geplante Maßnahme den Erfordernissen der Raumordnung (und damit auch den Zielen der Raumordnung) entspricht. Fehlt es an einer eigenen fachgesetzlichen Raumordnungsklausel oder sind diese wie oft nur deklaratorisch (vgl. z. B. § 10 Abs. 4 Nr. 5 und § 29 Abs. 5 KrW/AbfG, § 47 Abs. 3 Satz 2 BImSchG), stellen nur die entsprechenden Vorschriften des Raumordnungsgesetzes über die Bindungswirkung (jetzt § 4 ROG 2009) die Harmonisierung der beiden Planungsebenen sicher. 2. Die grundlegenden Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts a) Wesen der Ziele der Raumordnung Die erste wegweisende, bis heute maßgebende Entscheidung ist der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. August 199214. Durch ihn wurde die bis dahin unsichere Unterscheidung zwischen Zielen und Grundsätzen und das Wesen dieser Erfordernisse der Raumordnung weitgehend geklärt. Die Raumordnungsgesetze 1998 und 2009 haben sich mit ihren Begriffsbestimmungen ersichtlich an diesen Ausführungen orientiert. Die Ziele der Raumordnung werden in dem genannten Beschluss als eine übergeordnete, überörtliche und zusammenfassende landesplanerische Letztentscheidung charakterisiert, die anders als die Grundsätze nicht bloß Maßstab, sondern als räumliche und sachliche Konkretisierung der Entwicklung des Planungsraums das Ergebnis landesplanerischer Abwägung sind. Soweit die inhaltliche Konkretisierung reicht, ist die Zielfestlegung für den Adressaten verbindlich und nicht durch Abwägung überwindbar. Voraussetzung der Bindungswirkung, etwa für die Anpassungspflicht des § 1 Abs. 4 BauGB, ist mithin, dass auf der betreffenden raumordnerischen Stufe eine abschließende gesamtplanerische Interessenabwägung und Konfliktklärung stattgefunden hat. Die Bindungswirkung der Ziele fehlt den Grundsätzen der Raumordnung, die, wie es § 3 Abs. 1 Nr. 3 ROG 2009 formuliert, Vorgaben für nachfolgende Abwägungsoder Ermessensentscheidungen sind. Entscheidend für die rechtliche Qualifizierung ist freilich nicht die – allenfalls indizielle – verbale Kennzeichnung als Ziel oder Grundsatz, sondern der materielle Gehalt der Planaussage.15 Zu beachten ist auch, dass landesplanerische Aussagen, die eine Regel-Ausnahmestruktur aufweisen, die Merkmale eines Ziels der Raumordnung erfüllen können, wenn der Planungsträger neben den Regel- auch die Ausnahmevoraussetzungen mit hinreichender tatbestandlicher Bestimmtheit oder doch wenigstens Bestimmbarkeit selbst festlegt.16 Offenbar in Anknüpfung an diese – im Streit um die Zulässigkeit von sog. Soll-Zielen eine vermittelnde Position vertretende – Entscheidung sieht nunmehr § 6 Abs. 1 ROG 2009 14 15 16

BVerwGE 90, 329 (333 f.). BVerwGE 119, 54 (59). BVerwGE 119, 54.

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vor, dass im Raumordnungsplan von Zielen der Raumordnung Ausnahmen festgelegt werden können. b) Konkretisierungsgrad der Zielfestlegungen Was den Konkretisierungsgrad der Zielfestlegungen und die daraus folgende Bindungswirkung anbelangt, kommt es darauf an, auf welche nachfolgenden Planungsoder Zulassungsschritte die Ziele bezogen sind. Grundsätzlich sind die Aussagen der Landes- und Regionalplanung schon wegen ihrer Großräumigkeit abstrakter und genereller als die der unterstufigen Planungen. Geht es um das Verhältnis zur gemeindlichen Bauleitplanung (§ 1 Abs. 4 BauGB), befindet man sich im mehrstufigen System räumlicher Gesamtplanung mit seiner Abfolge von Planungsentscheidungen auf Bundes- und Landesebene mit fortschreitender Verdichtung auf der Ebene der Landes- und Regionalplanung hin zur Bauleitplanung als der nachgeordneten untersten Ebene der Planungshierarchie, auf der die raumordnerischen Ziele meist erst verwirklicht werden.17 In Richtung auf diese örtliche Planung wird die Aussageschärfe von Zielen der Raumordnung tendenziell eher geringer sein und als ausfüllungsbedürftiger Rahmen der Gemeinde mehr oder weniger Raum für Verfeinerungen und Differenzierungen lassen.18 Je nach Situation wird der Plangeber des Raumordnungsrechts von seiner Befugnis zur planerischen Zurückhaltung Gebrauch machen können, solange er dadurch nicht die angestrebte Qualität als echtes Ziel durch zu geringe Regelungsdichte wegen Unbestimmtheit der Regelung in Frage stellt mit der Folge, dass es sich bei der Planaussage nur um einen Grundsatz der Raumordnung handeln würde.19 Andererseits dürfen Zielaussagen im Einzelfall auch gegenüber der Bauleitplanung ohne Verstoß gegen Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG flächenkonkrete und relativ funktionsscharfe Festlegungen treffen, wenn solche konkreten Bindungen, etwa zu Flächensicherungen oder Standorten im überörtlichen Interesse erforderlich sind.20 Den Gegenpol zur Bauleitplanung hinsichtlich des Konkretisierungsgrades bilden naturgemäß die Fälle, bei denen Ziele ohne konkretisierenden Zwischenschritt unmittelbar auf die Zulassung eines bestimmten Vorhabens durchschlagen sollen und dementsprechend in den Zulassungstatbestand eingebunden sind. Als Beurteilungsmaßstab für die Zulässigkeit kommen sie nur bei hinreichender Konkretheit in Betracht. Dies gilt etwa für den Anwendungsbereich des § 35 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 BauGB. Danach kann die Genehmigung eines raumbedeutsamen Außenbereichsvorhabens wegen eines beeinträchtigten öffentlichen Belangs versagt werden, wenn es Zielen der Raumordnung widerspricht.21 Konkret müssen auch die gebietsbezogenen Zielfestlegungen sein, die die Rechtswirkungen des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB 17

Vgl. auch die zusammenfassenden Ausführungen in BVerwGE 119, 25 (38 f.). Vgl. BVerwGE 90, 329 (334 f.); 117, 351 (361). 19 Vgl. dazu BVerwGE 119, 54 (60); BVerwG, NVwZ 2010, 1026 (1032 Rn. 64). 20 Vgl. BVerwGE 115, 17 (21) unter Bezugnahme auf Wahl, in Hoppe/Kauch (Hrsg.), Raumordnungsziele nach Privatisierung öffentlicher Aufgaben, 1986, 29; ferner BVerwGE 118, 181 (184 ff.) zur Landesmesse Stuttgart. 21 BVerwGE 115, 17 (21) zu § 35 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 1 BauGB 1987. 18

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herbeiführen, also in bebauungsplanähnlicher Weise die Unzulässigkeit eines raumbedeutsamen privilegierten Außenbereichvorhabens in den sog. Ausschlusszonen bewirken sollen.22 Wiederum etwas anders stellt sich die Frage der Zielkonkretisierung im Verhältnis Raumordnung – Fachplanung dar. Nach den weithin verallgemeinerungsfähigen Aussagen des Bundesverwaltungsgerichts zur luftverkehrsrechtlichen Planfeststellung im Urteil zum Flughafen Berlin-Schönefeld23 lässt sich das für den funktionalen Zusammenhang von Raumordnung und Bauleitplanung kennzeichnende Regelungsmuster der „vertikalen Arbeitsteilung“ nicht auf das Verhältnis zur (luftverkehrsrechtlichen) Fachplanung übertragen. Diese kennt – vorbehaltlich spezieller Regelungen im jeweiligen Fachgesetz – keine dem § 1 Abs. 4 BauGB gleichartige Unterordnung unter raumordnungsrechtliche Zielvorgaben, im entschiedenen Fall die Festlegung eines Standorts für den Ausbau des Flughafens. Das Verhältnis ist nicht das einer vertikalen Planungshierarchie, sondern das einer arbeitsteiligen Aufgabenstruktur mehrerer Planungsträger, deren Aufgaben, spezifische Kompetenzen und Gestaltungsspielräume durch rechtliche Bindungen, Abstimmungsgebote und Beteiligungsverfahren miteinander verschränkt sind. Legt ein Landes- oder Regionalplan abschließend den Standort eines Vorhabens fest, was im Falle eines internationalen Verkehrsflughafens wegen dessen weiträumiger Auswirkungen grundsätzlich zulässig ist, so ist die Planfeststellungsbehörde an diese Vorgabe insoweit gebunden, als sie nicht eigene alternative Standortüberlegungen anstellen darf. Doch behält sie im Übrigen ihre fachplanerischen Aufgaben und Befugnisse, ist also insbesondere berechtigt, die raumordnerische Standortentscheidung im Rahmen der Abwägung durch höher gewichtete spezifisch fachplanerische Erwägungen zu überwinden und die Planfeststellung an diesem Standort zu versagen. Gleiches gilt selbstverständlich, wenn sich im Zuge des Planfeststellungsverfahrens Zulassungshindernisse des strikten Rechts ergeben. c) Rechtscharakter der Ziele der Raumordnung Zu den grundlegenden von der Rechtsprechung zu entscheidenden Fragen der letzten Jahre gehört schließlich die Frage nach dem Rechtscharakter der Ziele der Raumordnung und nach den daraus folgenden Rechtsschutzmöglichkeiten. Die Notwendigkeit, hier Klarheit zu schaffen, wurde immer dringlicher, je mehr die Außenrechtswirksamkeit bestimmter Zielfestlegungen in Erscheinung trat, sei es gegenüber Gemeinden mit Blick auf die Anpassungspflicht in § 1 Abs. 4 BauGB, sei es gegenüber Betreibern (großflächiger) Einzelhandelsbetriebe, denen unter Berufung auf Zielfestlegungen eine Baugenehmigung versagt wurde oder etwa gegenüber Bauwilligen, die privilegierte Außenbereichsvorhaben wie Windenergieanlagen oder Abgrabungen 22 Vgl. BVerwGE 118, 33 im Anschluss an die zum Flächennutzungsplan ergangene Grundsatzentscheidung BVerwGE 117, 287. 23 BVerwGE 125, 116 (135 ff. Rnr. 67 ff.).

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gemäß § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB nicht errichten durften, weil ihre Grundstücke in einer durch Ziele der Raumordnung festgelegten Ausschlusszone lagen. Zu entscheiden war insbesondere, ob und inwieweit Ziele der Raumordnung als Rechtsvorschriften einer prinzipalen Normenkontrolle im Sinne von § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO unterliegen. Unproblematisch ist dies dann, wenn die Zielfestlegung in einer förmlichen untergesetzlichen Rechtsvorschrift, also einer Rechtsverordnung oder Satzung, enthalten ist. In diesen Fällen ist die Normenkontrolle grundsätzlich eröffnet; erst danach stellt sich bei Prüfung der Antragsbefugnis (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO) die Frage, ob die Zielfestlegung überhaupt in Rechte des Antragstellers eingreifen kann. Denn zutreffend hat Wahl darauf hingewiesen, dass die Frage nach den Rechtsschutzmöglichkeiten angesichts der Heterogenität von Zielen der Raumordnung keineswegs einheitlich beantwortet werden kann.24 Dies gilt es bei der lange umstrittenen Frage zu beachten, inwieweit Zielfestlegungen, die Regelungsbestandteil von nicht rechtssatzförmig erlassenen raumordnerischen Plänen sind, wegen ihrer Außenrechtsverbindlichkeit gegenüber bestimmten Adressaten als materielle Rechtsvorschriften anzusehen sind und Gegenstand einer Normenkontrolle nach § 47 sein können. Dies sieht auch das Bundesverwaltungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung vom 20. November 200325 so, indem es (nur) solche nicht rechtssatzförmig festgelegten Ziele zu Rechtsvorschriften im Sinne von § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO erklärt, die eine zumindest partielle Außenwirksamkeit entfalten.26

III. Ziele der Raumordnung im Städtebaurecht 1. Pflicht zur Anpassung der Bauleitplanung (§ 1 Abs. 4 BauGB) Mit der Pflicht der Gemeinden, gemäß § 1 Abs. 4 BauGB ihre Bauleitpläne an die Ziele der Raumordnung anzupassen, soll die materielle Konkordanz zwischen der übergeordneten, überörtlichen und zusammenfassenden raumordnerischen Planung und der örtlichen Bauleitplanung gewährleistet werden.27 Das Bundesverwaltungsgericht musste sich in den beiden letzten Jahrzehnten ebenso wie die Verwaltungsgerichte erster und zweiter Instanz mehr und mehr mit Verfahren befassen, in denen es unmittelbar oder mittelbar um diese Vorschrift ging. Diese Entwicklung ist ungebrochen. Anlass waren und sind, wie erwähnt, meist konkrete Vorhaben, die nach den an die raumordnerischen Vorgaben angepassten Festsetzungen des Bebauungsplans entweder zulässig oder unzulässig waren. Daraus entwickelten sich je nach Interessenlage und Verfahrenssituation Streitigkeiten etwa über die Gültigkeit von Bebauungsplänen oder über die Rechtmäßigkeit einer Baugenehmigung oder deren Versagung, so dass mal der bauwillige Betreiber eines Vorhabens, mal private Nachbarn des 24 Erscheinungsformen und Probleme der projektorientierten Raumordnung, in: FS Sellner, 2010, S. 155, 164. 25 BVerwGE 119, 217; vgl. zuletzt BVerwG, DVBl 2010, 1377. 26 Deshalb geht der einschränkungslos formulierte Leitsatz 1 in BVerwGE 119, 217 zu weit. 27 BVerwGE 119, 25 (39).

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Vorhabens oder auch Nachbargemeinden in der Rolle des Antragstellers einer Normenkontrolle oder des Klägers gegen einen Verwaltungsakt der Bauaufsichtbehörde waren. Zahlenmäßig klar an der Spitze stehen Streitigkeiten um die Planung oder Genehmigung von großflächigen Einzelhandelsbetrieben. Das verwundert angesichts der hier aufeinander stoßenden unterschiedlichen Interessen nicht. Auf der einen Seite stehen die Interessen der Betreiber solcher Einrichtungen, auf der anderen Seite die städtebaulichen Vorstellungen vieler Gemeinden, die wegen der großräumigen Auswirkungen der Betriebe um die Erhaltung oder Förderung ihrer zentralen Versorgungsbereiche oder um eine ausreichende verbrauchernahe Versorgung der Wohnbevölkerung in bestimmten Stadtteilen fürchten, wenn derartige Großbetriebe an nicht integrierten, oft an der Peripherie gelegenen Standorten errichtet werden. Andererseits gibt es Gemeinden, die derartige Ansiedelungen auf ihrem Gebiet fördern, um Kaufkraft anzuziehen mit der möglichen Folge, dass die städtebauliche Situation von Nachbargemeinden nachteilig betroffen wird. In dieser Gemengelage von Interessen lag und liegt es nahe, dass die Landes- oder Regionalplanung den Versuch unternimmt, aus überörtlicher Sicht eine möglichst umfassende Steuerung der diesbezüglichen Planungen vorzunehmen. In vielen Bundesländern ist das geschehen, häufig in Verbindung mit der Regelung über die zentralörtliche Gliederung des Planungsgebiets (vgl. dazu auch die Erweiterung des interkommunalen Abstimmungsgebots durch die Schaffung des § 2 Abs. 2 Satz 2 BauGB). Auf Einzelheiten der mit dieser Thematik befassten Rechtsprechung kann hier nicht eingegangen werden. Die grundsätzlichen Fragen, die sich aus dem Spannungsverhältnis der landesplanerischen Befugnisse und der durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie ergeben, sind nach den allgemeinen Maßstäben für die nur im Rahmen der Gesetze gewährleistete Selbstverwaltung geklärt.28 Deshalb ist die gemeindliche Planungshoheit prinzipiell auch einer Bindung durch landesplanerische Ziele unterworfen, freilich nicht einschränkungslos. Die Gemeinde ist, soweit sich für sie Anpassungspflichten ergeben können, selbstverständlich in den überörtlichen Planungsprozess einzubeziehen. Ist gegen diese Mitwirkungsrechte verstoßen, entfällt die Bindungswirkung und damit die Anpassungspflicht.29 In materiellrechtlicher Hinsicht setzt eine zulässige Einschränkung der Planungshoheit voraus, dass der Eingriff durch überörtliche Interessen von höherem Gewicht gerechtfertigt und in diesem Sinne verhältnismäßig ist.30 Die Standortplanung für Einzelhandelsgroßbetriebe kann angesichts der regelmäßig weiträumigen städtebaulichen Auswirkungen dieser Betriebe ein derartiges überörtliches Interesse sein.31

28 29 30 31

BVerwGE 90, 329 (335); BVerwG, NVwZ 2005, 584; NVwZ 2006, 932. BVerwGE 95, 123 (129 ff.); BVerwG, NVwZ 2002, 869. BVerwGE 118, 181 (185). BVerwGE 119, 25 (41).

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Mit sozusagen umgekehrter Stoßrichtung hatte sich das Bundesverwaltungsgericht in dem – diesmal nicht das Atomrecht betreffenden – Fall der Gemeinde Mülheim-Kärlich mit der Vorschrift des § 1 Abs. 4 BauGB zu beschäftigen, nämlich mit der Frage, ob aus der gemeindlichen Anpassungspflicht an Ziele der Raumordnung eine (Erst-)Planungspflicht zur Aufstellung eines die regionalplanerischen Zielfestlegungen umsetzenden Bebauungsplans folgen kann.32 Auch hier ging es um die – Nachbargemeinden beeinträchtigende – Ansiedlung von Einzelhandelsgroßbetrieben, die in der genannten Gemeinde ohne Bauleitplanung auf der Grundlage von § 34 BauGB erfolgt war und weiter erfolgen sollte. Das Gericht bejaht eine solche Planungspflicht unter der Voraussetzung, dass die Verwirklichung von Zielen der Raumordnung (hier die zentralörtliche Gliederung) bei Fortschreiten einer „planlosen“ städtebaulichen Entwicklung auf unüberwindbare tatsächliche oder rechtliche Hindernisse stoßen oder wesentlich erschwert würde. Das Problem lag hier also nicht wie sonst bei der Frage, ob die übergeordnete Planung zu weit mit ihren Vorgaben für die Bauleitplanung geht, sondern umgekehrt bei der Frage, ob die erforderliche (dauerhafte) Übereinstimmung der beiden Planungsebenen durch eine sich als negative Planungsentscheidung darstellende Untätigkeit der Gemeinde gefährdet würde. Da die Ziele der Raumordnung grundsätzlich keine unmittelbare bodenrechtliche Wirkung haben, muss es in evidenten Fällen auf der Ebene der Gemeinde eine derartige Planungspflicht geben, weil anders das arbeitsteilige System der räumlichen Gesamtplanung nicht funktionieren kann. 2. Ziele der Raumordnung bei Vorhaben von Personen des Privatrechts Richtet sich die Anpassungspflicht des § 1 Abs. 4 BauGB an die Gemeinden und damit an die Planungen und Maßnahmen einer „öffentlichen Stelle“ im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz1 ROG 2009 (§ 4 Abs. 1 ROG 1998), so betrifft das Städtebaurecht auch zahlreiche Planungen und Maßnahmen von Personen des Privatrechts. Hauptbeispiel ist die Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung von baulichen Anlagen (§ 29 Abs. 1 BauGB) durch private Bauherren. Soweit es sich dabei um raumbedeutsame Vorhaben handelt, enthält das Raumordnungsgesetz als fachübergreifendes überörtliches Gesetz ohne bodenrechtlichen Durchgriff keine eigenen Anforderungen, sondern verweist in § 4 Abs. 2 ROG 2009 (§ 4 Abs. 4 Satz 1 ROG 1998) auf das jeweilige Fachgesetz. Danach sind bei Entscheidungen öffentlicher Stellen über die Zulässigkeit solcher Vorhaben die Erfordernisse der Raumordnung und damit auch die Ziele der Raumordnung nach den für diese Entscheidungen geltenden Vorschriften zu berücksichtigen. Die mithin maßgebenden materiellen Anforderungen des Fachrechts können sich auf die Pflicht zur Berücksichtigung in Abwägungs- oder Ermessensentscheidungen beschränken oder sind – weitergehend – in speziellen Raumordnungsklauseln enthalten. Im Städtebaurecht sind dies insbesondere die Vorschriften des § 11 Abs. 3 BauNVO und § 35 Abs. 3 BauGB. 32

BVerwGE 119, 25 (38 ff.).

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a) Großflächige Einzelhandelsbetriebe (§ 11 Abs. 3 BauNVO) Die mit Blick auf die Anpassungspflicht des § 1 Abs. 4 BauGB so bedeutsame Problematik der Einzelhandelsgroßbetriebe hat, wie erwähnt,33 schon 1977 eine spezielle Regelung in Gestalt des § 11 Abs. 3 BauNVO erfahren. Derartige Betriebe haben nicht nur städtebauliche, sondern oft auch raumordnerische Auswirkungen, insbesondere dann, wenn ihre Ansiedlung an das Zentrale-Orte-System der jeweiligen Landes- oder Regionalplanung anknüpfen soll. Deshalb sind nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3 BauNVO großflächige Einzelhandelsbetriebe und sonstige großflächige Handelsbetriebe im Rahmen der Bauleitplanung außer in Kerngebieten nur in für sie festgesetzten Sondergebieten, also insbesondere nicht in Gewerbegebieten zulässig, sofern sich diese Betriebe nicht nur unwesentlich auf die Verwirklichung der Ziele der Raumordnung und Landesplanung oder auf die städtebauliche Entwicklung und Ordnung auswirken können. Das (eigenständige) Merkmal der Großflächigkeit ist nach neueren Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts bei mehr als 800 qm Verkaufsfläche anzusetzen.34 Für das zusätzlich erforderliche Tatbestandsmerkmal der nachteiligen raumordnerischen oder städtebaulichen Auswirkungen stellt § 11 Abs. 3 Satz 3 und 4 BauNVO eine widerlegliche Vermutungsregel auf. Hierzu hat sich eine umfangreiche Rechtsprechung auch des Bundesverwaltungsgerichts entwickelt, die freilich vorwiegend die Frage der städtebaulichen und nicht der raumordnerischen Auswirkungen betrifft, so dass sie im hier behandelten Zusammenhang nicht näher zu betrachten ist.35 b) Raumbedeutsame Vorhaben im Außenbereich (§ 35 Abs. 3 BauGB) Die Ziele der Raumordnung bilden in § 35 BauGB einen aus der allgemeinen Gemeinwohlklausel der öffentlichen Belange herausgehobenen benannten Belang, an dem die Zulassung eines Außenbereichsvorhabens scheitern kann. Soweit es um privilegierte Vorhaben im Sinne von Absatz 1 geht, hat das Bundesverwaltungsgericht in Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung noch unter der Geltung des Bundesbaugesetzes anerkannt, dass – neben den Darstellungen des Flächennutzungsplans – Ziele der Raumordnung auch einem solchen Vorhaben entgegenstehen können.36 Voraussetzung ist, wie es auch in einem gleichzeitig ergangenen Urteil zu den sonstigen Vorhaben im Sinne des Absatzes 2 ausgesprochen wurde,37 dass die Ziele sachlich und räumlich hinreichend konkret für die Beurteilung eines Einzelvorhabens sind. Mit 33

Siehe oben Abschnitt I. 1. BVerwGE 124, 364 und BVerwGE 124, 376. 35 Vgl. neben den in der vorigen Fn. genannten Entscheidungen die Ausgangsentscheidung BVerwG NVwZ 1987, 1076 sowie BVerwG BauR 2002, 1825; BVerwG DVBl 2004, 1308 und BVerwG BauR 2006, 648. 36 BVerwGE 68, 311 gegen BVerwGE 28, 148; vgl. auch BVerwGE 77, 300. 37 BVerwGE 68, 319. 34

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diesen beiden Entscheidungen aus dem Jahr 1984 war ein wesentlicher Schritt für den Bedeutungszuwachs der Ziele der Raumordnung als (eingeschränktes) Steuerungsinstrument im planungsrechtlichen Außenbereich getan. Mit Inkrafttreten des Baugesetzbuches am 1. Juli 1987 erfolgte der nächste Schritt, nämlich die ausdrückliche gesetzliche Regelung in § 35 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 1 (inzwischen Satz 2 Halbsatz 1), wonach raumbedeutsame Vorhaben den Zielen der Raumordnung nicht widersprechen dürfen („Negativwirkung“ von Zielfestlegungen). In der Folgezeit gab es freilich zu dieser Vorschrift kaum höchstrichterliche Entscheidungen. Zu der weiter in § 35 Abs. 3 Satz 3 (jetzt 2) BauGB, nämlich in Halbsatz 2 geregelten „Positivwirkung“ von Zielfestlegungen hat übrigens das Bundesverwaltungsgericht, soweit ersichtlich, noch gar nicht judiziert. Umso bedeutsamer ist das hier zu erwähnende Urteil vom 19. Juli 2001,38 das noch auf der Grundlage des eine Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Zielaufstellung nicht kennenden ROG 1965 ergangen ist. Vor diesem Hintergrund sprach das Gericht den Zielen der Raumordnung im Rahmen des § 35 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 BauGB einen strikten Geltungsanspruch ab. Die Frage, ob ein Außenbereichsvorhaben einem Raumordnungsziel widerspricht, sei nach den allgemeinen zu § 35 BauGB entwickelten Regeln auf Grund einer die gesetzlichen Vorgaben „nachvollziehenden“ Abwägung zu entscheiden, in der das konkrete Vorhaben den berührten raumordnerischen Zielen gegenüberzustellen sei. Nur dies garantiere mit Blick auf Art. 14 Abs. 1 GG, dass sich Zielfestlegungen nicht in unverhältnismäßiger oder gleichheitswidriger Weise auf die Rechtsstellung des Eigentümers auswirkten. Eine Bindung an die Ziele ohne nachvollziehende Abwägung komme allenfalls dann in Betracht, wenn die privaten Belange bereits bei der Zielfestlegung auf der Ebene der raumplanerischen Abwägung und auf der Grundlage einer verfahrensmäßigen Beteiligung der Eigentümer ausreichend berücksichtigt worden seien. Zur Rechtslage nach Einführung der Öffentlichkeitsbeteiligung (vgl. jetzt § 10 ROG 2009) hat sich das Bundesverwaltungsgericht bislang noch nicht geäußert. Angestoßen durch eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts39 zu Darstellungen eines Flächennutzungsplans über Konzentrations- und Ausschlusszonen für Kiesabgrabungen im Außenbereich schuf der Gesetzgeber zur Stärkung der Steuerungsmöglichkeiten für bestimmte privilegierte Außenbereichsvorhaben mit Wirkung vom 1. Januar 1997 den sog. Planvorbehalt des § 35 Abs. 3 Satz 4 (jetzt Satz 3).40 Dass die Einbeziehung der Windenergieanlagen in den Katalog der privilegierten Vorhaben nach § 35 Abs. 1 BauGB in demselben BauGB-Änderungsgesetz erfolgte, ist kein Zufall. Vielmehr sollte mit dem Planvorbehalt gewissermaßen als Gegengewicht zur Privilegierung eine Möglichkeit geschaffen werden, die Standorte dieser besonders konfliktträchtigen Anlagen einer Planung zu unterwerfen. Nach § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB stehen einem (raumbedeutsamen) Vorhaben nach Absatz 1 38 39 40

BVerwGE 115, 17. BVerwGE 77, 300. Durch Gesetz zur Änderung des BauGB vom 30. 07. 1996, BGBl. I S. 1189.

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Nr. 2 bis 6 öffentliche Belange in der Regel auch dann entgegen, soweit hierfür durch Darstellungen (im Flächennutzungsplan oder) als Ziele der Raumordnung eine Ausweisung an anderer Stelle erfolgt ist. Mit Recht bezeichnet Wahl diese Regelung als besonders gesteigerte Form der projektbezogenen Raumordnung und weist darauf hin, dass wegen der oft gemeindeübergreifenden Wirkungen von Windenergieanlagen die Stunde der Regionalplanung geschlagen habe.41 Nach der Zahl der Gerichtsentscheidungen stehen freilich solche Verfahren im Vordergrund, in denen der Planvorbehalt durch entsprechende Darstellungen in einem Flächennutzungsplan geschaffen wurde. Auch das erste grundlegende und bis heute wegweisende Urteil zu § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB ist zum Flächennutzungsplan ergangen.42 Die wichtigsten – sodann auf die Ziele der Raumordnung übertragenen43 – Aussagen sind: Auf der Grundlage einer schlüssigen gesamträumlichen Planungskonzeption müssen gebietsbezogen sowohl Flächen, auf denen Anlagen im Sinne einer Konzentrationszone grundsätzlich zulässig sind, als auch Flächen, in denen die betreffenden Anlagen in der Regel unzulässig sind, dargestellt werden. Beide Festlegungen bedingen einander; ohne positive Ausweisungen kann eine Ausschlusswirkung nicht eintreten. Eine Planung, die der Windenergienutzung nicht substantiell im Sinne der vom Gesetzgeber gewollten Privilegierung Raum lässt, sondern in der Sache eine Verhinderungsplanung ist, kann gleichfalls nicht die Rechtsfolgen des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB auslösen. Andererseits ist eine normative Gewichtungsvorgabe, der zufolge ein Planungsträger der Windenergienutzung im Sinne einer speziellen Förderungspflicht bestmöglich Rechnung zu tragen hätte, dem Gesetz nicht zu entnehmen. Maßgebend sind die Verhältnisse im jeweiligen Planungsgebiet, insbesondere die für die Windenergienutzung geeigneten Flächen einerseits und andererseits die sog. Tabuzonen wie Abstände zu besiedelten Gebieten, Erfordernisse des Naturschutzes u. Ä. All dies ist nach den Maßstäben der Erforderlichkeit und des Abwägungsgebots im planerischen Konzept zu berücksichtigen. Eine Feindifferenzierung nach besonderen, auf der Ebene der Zielaufstellung nicht berücksichtigten Umständen ermöglicht der das strikte Zulassungshindernis abmildernde Ausnahmevorbehalt „in der Regel“, der für besondere Fälle eine Art nachvollziehende Abwägung im Sinne des § 35 Abs. 1 BauGB verlangt.44 § 35 Abs. 3 Satz 3 verleiht den Zielen der Raumordnung unmittelbare rechtliche Außenwirkung auch gegenüber Privaten, nämlich gegenüber demjenigen, der eine privilegierte Anlage in einer Ausschlusszone errichten möchte.45 Das wirft vor dem Hintergrund des Art. 14 Abs. 1 GG die – schon zu § 35 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 BauGB erörterte – Frage auf, inwieweit Betroffene bei der Zielaufstellung beteiligt 41 Erscheinungsformen und Probleme der projektorientierten Raumordnung, in: FS Sellner, 2010, S. 155, 163. 42 BVerwGE 117, 287; ferner BVerwGE 122, 109; BVerwG NVwZ 2008, 559. 43 BVerwGE 118, 33; BVerwG, ZfBR 2010, 786. 44 BVerwGE 117, 287 (302). 45 BVerwGE 119, 217 (224).

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werden müssen. Eine verfahrensmäßige Beteiligung Privater, wie sie in den früheren bundes- und landesrechtlichen Vorschriften des Raumordnungsrechts kaum je vorgesehen war, hält das Bundesverwaltungsgericht nicht für erforderlich.46 Der Träger der Raumordnungsplanung dürfe das Privatinteresse an der Nutzung der Windenergie auf geeigneten Flächen im Planungsraum verallgemeinernd unterstellen und als typisierte Größe in die Abwägung (§ 7 Abs. 7 Satz 2 ROG 1998, § 7 Abs. 2 Satz 1 ROG 2009) einstellen. Grundstücksspezifische bei der Zielaufstellung unbeachtet gebliebene Umstände könnten bei der Zulassung des Vorhabens abwägend berücksichtigt werden. Der – in § 35 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 BauGB nicht vorhandene – gesetzliche Ausnahmevorbehalt (Unzulässigkeit nur in der Regel) könne in atypischen Fällen die Ausschlusswirkung entfallen lassen und in der Art eines Korrektivs unzumutbaren Beschränkungen des Grundeigentümers vorbeugen. Schließlich ist noch auf die Rechtsprechung hinzuweisen, dass § 35 Abs. 3 Satz 2 und 3 BauGB nicht als abschließende Raumordnungsklauseln im Regelungskonzept des § 35 BauGB zu verstehen sind. So können schon die erst in Aufstellung befindliche Ziele der Raumordnung von rechtlicher Bedeutung sein, indem sie als sonstige Erfordernisse der Raumordnung (§ 3 Nr. 4 ROG 1998 bzw. § 3 Abs. 1 Nr. 4 ROG 2009) auch bei der Erteilung von Baugenehmigungen für raumbedeutsame Vorhaben zu berücksichtigen sind (vgl. § 4 Abs. 4 Satz 1 ROG 1998 bzw. § 4 Abs. 2 ROG 2009). Sie können dann als unbenannter öffentlicher Belang im Sinne von § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB einen Versagungsgrund bilden, wenn das Ziel hinreichend konkretisiert und sein wirksames Inkrafttreten zu erwarten ist.47 IV. Ziele der Raumordnung im Fachplanungsrecht Über die ihnen zukommenden Bindungswirkungen könnten Zielfestlegungen in Raumordnungsplänen einen erheblichen Einfluss auf die räumliche Verteilung und die Standorte von Infrastrukturplanungen und anderen Großvorhaben ausüben. Das gilt nicht nur für die von der öffentlichen Hand selbst durchgeführten raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen, sondern auch für Planfeststellungen oder Genehmigungen mit der Rechtswirkung der Planfeststellung, die für raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen von Personen des Privatrechts erforderlich sind (vgl. § 4 Abs. 1 ROG 1998 bzw. § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 ROG 2009). Damit steht nahezu der gesamte Bereich der Fachplanungen und der immissionsschutzrechtlichen Genehmigungen grundsätzlich einer raumordnerischen Planung offen, soweit es sich um raumbedeutsame Vorhaben handelt. Derartige Planungen auf Bundes-, Landesoder Regionalebene, die für ihren jeweiligen Bereich eine zusammenfassende Standortplanung vorsähen, gibt es indes nicht, auch und gerade nicht für komplexe Großvorhaben mit besonders weitreichenden Auswirkungen wie Großflughäfen oder 46

BVerwGE 118, 33 (44); BVerwG, DVBl 2010, 1377. BVerwGE 122, 364; ferner BVerwG NVwZ 2003, 1261; BVerwG ZfBR 2008, 806; BVerwG, DVBl 2010, 1377. 47

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Atomkraftwerke. Zu Recht beklagt Wahl insoweit eine empfindliche Lücke im deutschen Planungssystem.48 Die Erklärung hierfür liegt freilich auf der Hand. Projekte dieser Art und Größenordnung, die zudem oft von privaten Trägern in Konkurrenz zu anderen ebensolchen Trägern betrieben werden, haben große wirtschaftliche und politische Implikationen und werden deshalb von Politik und Raumplanung nur mit größter Zurückhaltung in verbindliche bundes- oder landesweite Planungsüberlegungen aufgenommen. Hingegen werden raumordnerische Zielfestlegungen mehr und mehr für einen Ausschnitt der angesprochenen Thematik von Bedeutung, nämlich die – mehr oder weniger präzise – Festlegung des Standorts eines bestimmten einzelnen Vorhabens mit überörtlichen und konfliktanfälligen Wirkungen, verbunden mit der Freihaltung und Sicherung der dafür erforderlichen Flächen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte sich in zwei Fällen mit derartigen landesplanerischen Standortfestlegungen zu befassen. Im Urteil vom 15. Mai 200349 ging es um den durch einen Regionalplan zielförmig festgelegten Standort für die Erweiterung des Flughafens Stuttgart und für den Bau einer neuen Landesmesse. Die betreffende Planaussage erfolgte in Ausführung des Landesplanungsgesetzes Baden-Württemberg, das in seinem § 8 Abs. 3 den zuständigen Träger der Regionalplanung berechtigt und verpflichtet, im Regionalplan für die Region Stuttgart Standorte für regional bedeutsame Infrastrukturvorhaben gebietsscharf auszuweisen. Sowohl die gesetzliche Regelung als auch die konkrete Flächenfestlegung erklärte das Gericht auf die Klage der betroffenen Gemeinde wegen höherrangiger überörtlicher Interessen für vereinbar mit der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung und mit den Prinzipien des Raumordnungsrechts. Auch derart konkrete Standortausweisungen für Infrastrukturvorhaben könnten bei entsprechenden raumordnerischen Rahmenbedingungen und raumstrukturellen Erfordernissen, etwa in einem großstädtischen Ballungsraum mit hoher baulicher Verdichtung, bei Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig sein. Das zweite Verfahren betrifft den Ausbau des Flughafens Berlin-Schönefeld zum künftig einzigen großen Flughafen in der Hauptstadtregion. Wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 16. März 200650 hervorhebt und mittlerweile wohl auch nicht mehr streitig ist, ist die Wahl des Standorts für einen internationalen Verkehrsflughafen vorrangig eine raumordnerische Entscheidung. Da es keine bundesweite oder gar – was für Großflughäfen angebracht wäre – europaweite Standortplanung für Flughäfen gibt, konnte die Raumordnung im Falle Berlin nur im Sinne einer gewissermaßen isolierten landesplanerischen Aussage zum Standort des Flughafens tätig werden. Dies ist in Gestalt einer Zielfestlegung erfolgt, mit der sich der Träger der Landesplanung nach Abwägung verschiedener Alternativen auf die Entwicklung 48 Erscheinungsformen und Probleme der projektorientierten Raumordnung, in: FS Sellner, 2010, S. 155, 161. 49 BVerwGE 118, 181. 50 BVerwGE 125, 116 (130 ff. Rn. 54 ff.).

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des vorhandenen Flughafens Schönefeld bei Schließung der beiden anderen Berliner Flughäfen Tegel und Tempelhof entschied. Für die zum Ausbau benötigten Flächen wurde die Freihaltung von entgegenstehenden Nutzungen angeordnet. Die in raumordnungsrechtlicher Hinsicht wohl interessantesten Ausführungen betreffen das Verhältnis der landesplanerischen Standortfestlegung zur nachfolgenden Fachplanung in Form der luftverkehrsrechtlichen Planfeststellung nach § 8 LuftVG.51 Die Planfeststellungsbehörde ist einerseits an das Ergebnis des landesplanerischen Standortvergleichs gebunden, ebenso wie der Betreiber des Flughafens. Sie darf also keine eigenen Überlegungen zu Standortalternativen anstellen, weil diese Frage nach dem Modell der Problemabschichtung durch die höherrangige raumordnerische Entscheidung entschieden ist. Andererseits trifft die Planfeststellungsbehörde keine Realisierungspflicht. Sie muss vielmehr auf der Grundlage des vorgegebenen Standorts nach den allgemeinen Maßstäben der Planrechtfertigung und des Abwägungsgebots sowie unter Berücksichtigung des maßgebenden Fachrechts prüfen, ob die beantragte Planfeststellung erteilt werden darf. Mit anderen Worten: Die Planfeststellungsbehörde kann wie auch sonst aus jedem durchgreifenden Grund den Planfeststellungsbeschluss versagen, ausgenommen die Erwägung, die Standortwahl sei wegen eines geeigneteren Standorts abwägungsfehlerhaft. Dass infolge dieser Bindung im Rahmen einer Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss die regionalplanerische Zielfestlegung inzident auf ihre Rechtmäßigkeit muss überprüft werden können, liegt auf der Hand. Ob freilich mit dem Schönefeld-Urteil alle Probleme im Verhältnis von landesplanerischer Standortplanung und nachfolgender Fachplanungsentscheidung bereits gelöst sind, darf angesichts der komplexen Verschränkung zwischen den beiden Planungsebenen bezweifelt werden. V. Ausblick Es bedarf keiner prophetischen Gaben um vorherzusagen, dass die Karriere der Ziele der Raumordnung als bedeutsames Streitthema in Verwaltungsgerichtsprozessen weiter gehen wird, möglicherweise in noch größerem Maße als bisher. Das Bedürfnis nach einer zusammenfassenden, überörtlichen und fachübergreifenden Planung in der dicht besiedelten Bundesrepublik Deutschland wird eher noch wachsen, ebenso wie das Bedürfnis, bei konfliktträchtigen raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen die notwendigen Festlegungen und Entscheidungen nicht allein den unteren Planungsebenen, etwa der Bauleitplanung oder Fachplanung zu überlassen. Auf diesem so wichtig gewordenen Feld die wissenschaftliche Durchdringung schon vor Jahrzehnten in Angriff genommen und bis heute fortgeführt zu haben, gehört zu den großen Verdiensten von Rainer Wahl.

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Siehe dazu bereits oben Abschnitt I. 2. b).

Geteilte Missverständnisse Theorien der Rechtsanwendung und des Beurteilungsspielraums der Verwaltung – zugleich eine Kritik der normativen Ermächtigungslehre Von Ralf Poscher, Freiburg Der Beitrag bemüht sich um eine neue rechtstheoretische Perspektive auf ein Thema, dessen Entwicklung der Jubilar mit eingehenden Beiträgen zum Verhältnis von „Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit“1 begleitet hat. In der Sache greifen die nachstehenden Überlegungen einen Aspekt der Diskussion auf, den der Jubilar – trotz seiner Sympathie für einen stärkeren Eigenstand der Verwaltung – mit großer Sensibilität betont hat. Während viele Beiträge einseitig die kognitive Überlegenheit der Verwaltung gegenüber der Rechtsprechung in den Vordergrund stellen, hat der Jubilar immer auch die besonderen Qualifikationen der Gerichte im Blick gehabt. Er hat nachdrücklich auf die „rationalisierende und neutralisierende Distanz“2 hingewiesen, die die durch das gerichtliche Verfahren gewährleistete „sachliche und kompetenzmäßige Differenzierung von abstrakter Standardsetzung und Anwendung im Einzelfall ermöglicht“3 und daraus etwa auch eine Skepsis gegenüber Beurteilungsspielräumen der Exekutive bei Einzelfallentscheidungen abgeleitet.4 Die nachstehenden Überlegungen greifen diesen Faden auf, indem sie anhand einer rechtstheoretischen Klärung des Verhältnisses von rechtlicher Unbestimmtheit und Rechtsanwendung die besondere Qualifikation der Rechtsprechung zur dogmatischen Einzelfallentscheidung auch in Fällen rechtlicher Unbestimmtheit betonen und daraus Folgerungen für die Diskussion um die Beurteilungsspielräume der Verwaltung ziehen.

1

R. Wahl, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, VBlBW 1988, S. 387 ff. 2 R. Wahl, Risikobewertung der Exekutive und richterliche Kontrolldichte, NVwZ 1991, 409 (414). 3 Ebd. 4 Ebd.

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I. Die aufgeklärte Methodenlehre Die methodologische Kritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts5 und die der 50er6 und 60er7 Jahre hat zu einem – auch international – weithin anerkannten aufgeklärten Modell der Rechtsanwendung geführt. Aufgrund der Unbestimmtheit des Rechts glaubt man nicht mehr, dass rechtliche Regelungen in jedem Anwendungsfall eine einzig richtige Antwort erlauben. Vielmehr gibt es für eine Regelung – so die aktuelle logizistische Formulierung – regelmäßig positive Kandidaten, auf die sie zweifelsfrei Anwendung findet, negative Kandidaten, auf die sie zweifelsfrei keine Anwendung findet, und neutrale Kandidaten, hinsichtlich derer die Regelung unbestimmt ist.8 Verbietet eine baurechtliche Gestaltungssatzung, dass der Anteil der Fensterflächen einer Fassade 50 % übersteigt, so besteht kein Zweifel daran, dass es sich bei Schaufenstern um Fenster im Sinne der Gestaltungsregelung handelt.9 Sie gehören zu den positiven Kandidaten. Ein geschlossenes Betonfertigteil wäre ein negativer Kandidat, eine Fläche aus Glasbausteinen ein neutraler. In aufgeklärten Theorien der Rechtsanwendung herrscht ferner Einigkeit, dass sich die Anwendung rechtlicher Regelungen in Fällen neutraler Kandidaten nicht mehr nach rechtlichen Kriterien richten kann. Neutrale Kandidaten, in denen das Recht unbestimmt ist, verlangen nach einer Entscheidung, die sich an anderen Kriterien als juristischen orientieren muss, weil die juristischen Kriterien und Methoden eben keine Entscheidung erlauben. Klassischen Ausdruck hat diese Position etwa bei Hans Kelsen gefunden, bei dem die positiven und negativen Kandidaten als der Rahmen firmieren, den allein das Recht dem Rechtsanwender vorgibt: „Sofern bei der Gesetzesanwendung über die dabei nötige Feststellung des Rahmens […] hinaus noch eine Erkenntnistätigkeit […] Platz greifen kann, ist es nicht eine Erkenntnis des positiven Rechts, sondern anderer Normen, die hier in den Prozeß der Rechtserzeugung einmünden können; Normen der Moral, der Gerechtigkeit, sozialer Werturteile, die man mit den Schlagwörtern Volkswohl, Staatsinteresse, Fortschritt usw. zu bezeichnen pflegt.“10 Heute gehen die Ansichten wesentlich nur noch darüber auseinander, woher die Kriterien genommen werden sollen, nach denen sich die Entschei5 O. Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885; P. Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912; C. Schmitt, Gesetz und Urteil, 1912; H. Reichel, Gesetz und Richterspruch, 1915; H. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929; einige Texte aus dieser Diskussion wieder abgedruckt bei A. Gängel/K. A. Mollnau (Hrsg.), Gesetzesbindung und Richterfreiheit, 1992. 6 T. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1953; J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956; F. Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956; ders., Gesetz und Richterkunst, 1958. 7 H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961; ders., Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), 53 ff; F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967; J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970. 8 s. etwa H.-J. Koch/H. Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 195 f. 9 Vgl. zur Fenstereigenschaft von Glasbausteinen im Nachbarrecht BGH, NJW 1960, 2092 f.; K. Pleyer, Urteilsanmerkung, JZ 1961, S. 496 ff. 10 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 351.

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dung richten soll, wenn die juristischen Kriterien erschöpft sind. Viele positivistische und kritische Theorien verweisen insoweit auf die Politik.11 Andere Theorien, wie die Dworkins12, setzen auf die Moral. Die ökonomische Analyse des Rechts setzt im öffentlichen Recht auf die Institutionenökonomie oder neuerdings auf behavioristisch und psychologisch angereicherte Modelle rationalen Entscheidens.13 Die dem Verwaltungsrecht nähere Steuerungstheorie sieht in dem Bereich der neutralen Kandidaten Einbruchstellen für neue Steuerungskonzepte, New Public Management und Governance-Ansätze.14 II. Die Folgen der Aufklärung im Verwaltungsrecht Doch es bedurfte nicht erst der Steuerungstheorie, um die methodologische Aufklärung für das Verwaltungsrecht fruchtbar zu machen. 1. Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessen Bereits Ende der 70er Jahre übertrug Hans-Joachim Koch die Erkenntnis der Rechtstheorie auf eine vergleichende „logisch-semantische“ Analyse des Ermessens und unbestimmter Rechtsbegriffe im Verwaltungsrecht. Wenn unbestimmte Rechtsbegriffe im Bereich neutraler Kandidaten die Rechtsanwendung nicht steuern können, dann ist dem Rechtsanwender insoweit Freiheit bei der Ergänzung des Tatbestands eingeräumt, so wie ihm im Bereich des Ermessens Freiheit eingeräumt ist, den Eintritt der Rechtsfolge von weiteren Bedingungen abhängig zu machen. Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessen sind danach lediglich unterschiedliche normtechnische Verfahren, eine Tatbestandsergänzung vorzusehen.15 2. Die Skrupel der Dogmatik gegenüber der Theorie So richtig geheuer waren der verwaltungsrechtlichen Dogmatik die rechtstheoretischen Erkenntnisse indes nie. Für fast jeden Rechtsbegriff lassen sich relativ leicht neutrale Kandidaten finden, in vielen Fällen auch solche der hartnäckigen Art, die 11

Besonders prononciert etwa in der Critical Legal Studies Bewegung, dazu etwa R. W. Gordon, Some Critical Theories of Law and Their Critics, in: David Kairys (Hrsg.), The Politics of Law, 3rd ed., 1997, S. 641 ff. 12 R. Dworkin, No Right Answer?, New York University Law Review 53 (1978), 1 (30 ff.). 13 C. Engel, Rechtliche Entscheidungen unter Unsicherheit, in: C. Engel/J. Halfmann/M. Schulte (Hrsg.), Wissen Nichtwissen Unsicheres Wissen, 2002, S. 305 (324 ff.); C. Engel, Verhaltenswissenschaftliche Analyse: eine Gebrauchsanweisung für Juristen, in: C. Engel/M. Englerth/J. Lüdemann/I. Spiecker (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007, S. 363 (376 ff.). 14 Etwa I. Appel, Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL 67 (2008), 228 (263 ff.). 15 H.-J. Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensermächtigungen im Verwaltungsrecht, 1979, S. 177.

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sich selbst mit Mitteln der juristischen Methode nicht in positive oder negative verwandeln lassen, bei denen die Auslegungskriterien und Argumente in verschiedene Richtungen deuten und sich mangels konsentierter Hierarchie der Auslegungstopoi keine einzig richtige Antwort ausweisen lässt. Gerade die Rechtsprechung der Obergerichte oder jedenfalls der Bundesgerichte dürfte etwa in Fällen der Abweichungsrevision eine Vielzahl entsprechender hartnäckig neutraler Kandidaten enthalten, bei denen jedenfalls zwei mit mehreren hochrangigen Richtern besetzte Spruchkörper unterschiedliche Auffassungen vertreten. Sollte es tatsächlich zutreffen, dass in jedem dieser Fälle hartnäckiger rechtlicher Unbestimmtheit ein Tatbestandsergänzungsermessen der Verwaltung vorläge? Müsste dann nicht die Konsequenz gezogen werden, in allen diesen Fällen, allenfalls eine gerichtliche Ermessenskontrolle der Verwaltung vorzunehmen? Bereits Koch selbst legte Wert darauf, dass es sich lediglich um eine „logisch-semantische Studie“ handele.16 Dogmatische Folgen wollte er jedenfalls unmittelbar aus seiner Erkenntnis nicht ziehen. Beherzter klingen da schon einige Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts. In seiner Entscheidung zum „pädagogischen Interesse“ i.S.v. Art. 7 Abs. 5 GG heißt es etwa: „Gerichtliche Kontrolle kann nicht stattfinden, soweit das materielle (Gesetzes- oder Richter-)Recht der Verwaltung in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise Entscheidungen abverlangt, ohne dafür hinreichend bestimmte Vorgaben (Entscheidungsprogramme) zu enthalten. Die Verwaltung handelt in einer solchen Lage kraft eigener Kompetenz“17. In einer neueren Entscheidung wird das Gericht dann noch deutlicher: „Die Pflicht zur vollständigen Überprüfung hat Grenzen. Die gerichtliche Überprüfung kann nicht weiter reichen als die materiell-rechtliche Bindung […]; die geschützten Rechtspositionen selbst ergeben sich nicht aus Art.19 Abs. 4 GG, sondern werden darin vorausgesetzt […] Gerichtliche Kontrolle endet also dort, wo das materielle Recht der Exekutive in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise Entscheidungen abverlangt, ohne dafür hinreichend bestimmte Entscheidungsprogramme vorzugeben […] Normativ eröffneten Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräumen der Behörden steht Art.19 Abs. 4 GG daher nicht von vornherein entgegen“18. Für das Bundesverfassungsgericht scheint der Beurteilungsspielraum der Verwaltung regelmäßig dort zu beginnen, wo das Recht keine „hinreichend bestimmten Entscheidungsprogramme“ vorgibt. Die „gerichtliche Kontrolle endet“, wo die Unbestimmtheit des Rechts beginnt. 16

Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe (Fn. 15), S. 180. BVerfGE 88, 40 (61). 18 BVerfGE 103, 142 (156). Die Passagen ähneln der ganz frühen Rechtsprechung zur Abgrenzung von Ermessen und Rechtsanwendung. Danach handelte es sich um eine den Gerichten zugeordnete Rechtsanwendung, wenn nur eine richtige Entscheidung möglich ist, OVG Berlin 1, 174 (176); Hess. VGH 2, 105 (106); OVG Münster, DÖV 1954, 171 (172); zu dieser frühen Rechtsprechung D. Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), 163 (211 f.). Auf dem Hintergrund einer noch nicht von den methodischen Verunsicherungen erfassten Zuversicht wird auch in dieser frühen Rechtsprechung das Letztentscheidungsrecht der Gerichte durch die rechtliche Bestimmtheit konditioniert. 17

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Auch die Befürworter einer großzügigeren Anerkennung von Beurteilungsspielräumen der Verwaltung scheuen allerdings regelmäßig19 vor der auf dem Hintergrund der aufgeklärten Methodendiskussion so zwingend scheinenden Konsequenz des theoretischen Arguments zurück.20 Sie machen sich zwar zumeist die rechtstheoretischen Erkenntnisse zu Nutze, um ihre Position grundzulegen, greifen dann aber zu verschiedenen Strategien, um die Konsequenzen dieser Grundlegung wieder einzufangen. In Eckhard Paches Habilitationsschrift zum Beurteilungsspielraum heißt es etwa zunächst ganz im Einklang mit dem Bundesverfassungsgericht: „Verwaltungsgerichtliche Kontrolle ist Rechtskontrolle. […] Verwaltungsgerichtliche Kontrolle der Verwaltung muss dort enden, wo die rechtlichen Vorgaben des Verwaltungshandelns enden, sie kann nicht weiter reichen als die materiell-rechtliche Bindung der Verwaltung.“21 Sodann wird auf das „rechtsmethodische Gemeingut“ hingewiesen, dass die Rechtsanwendung „stets auch […] Ergänzung und Ausfüllung der vorhandenen rechtlichen Regeln“22 beinhaltet. Nun läge es eigentlich nah, aus dem zuvor betonten Erfordernis der Vorgaben für die Möglichkeit verwaltungsgerichtlicher Kontrolle zu folgern, dass die Ergänzung des Vorhandenen, die ja gerade nicht vorgegeben sein kann, nicht mehr in den Bereich der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle fällt. Doch dieser Schluss wird von Pache nicht gezogen. Vielmehr folgt der Erinnerung an den rechtstheoretischen Gemeinplatz unmittelbar die Feststellung, dass „für sich betrachtet […] jedoch diese grundsätzliche Begrenztheit der Steuerungsfähigkeit des Rechts keinen Anlass zu einer Begrenzung der gerichtlichen Kontrolle dar[stellt], im Sinn der Rechtsschutzgarantie des Artikel 19 Absatz 4 GG ist sie unbeachtlich.“23 Für die Frage des Beurteilungsspielraums folge daraus, dass „angesichts der verfassungsrechtlichen Gewährleistung umfassenden effektiven Rechtsschutzes durch Artikel 19 Absatz 4 GG […] nicht jede inhaltliche Unbestimmtheit einer Norm […] eine Einschränkung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle zur Folge haben kann.“24

19 Sehr nahe an den Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts aber etwa W. Brohm, Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit als Steuerungsmechanismen in einem polyzentrischen System der Rechtserzeugung, DÖV 1987, 265 (270); jedenfalls einen heuristischen Wert der Unbestimmtheit für die Annahme eines Beurteilungsspielraums sieht etwa E. SchmidtAßmann, in: T. Maunz/G. Dürig/R. Herzog (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. III, 8. Auflage, Stand: Okt. 2010, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 184. 20 s. bereits O. Bachof, Beurteilungsspielraum, Ermessen, und unbestimmter Rechtsbegriff im Verwaltungsrecht, JZ 1955, 97 (100). 21 E. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, 2001, S. 461 f.; vgl. auch F. Schoch, Der unbestimmte Rechtsbegriff im Verwaltungsrecht, Jura 2004, 612 (615): „eine vollständige Rechtsanwendungskontrolle besteht, soweit das Verwaltungshandeln determiniert ist.“ 22 Pache, Tatbestandliche Abwägung (Fn. 21), S. 475 – Hervorhebung durch den Verf. 23 Pache, Tatbestandliche Abwägung (Fn. 21), S. 475. 24 Ebd.

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3. Non sequitur: Das fehlende Argument Letzteres ist sicherlich zutreffend, doch handelt es um ein klassisches non sequitur: Sowohl die Prämissen als auch der Schluss können richtig sein. Doch der Schluss folgt nicht aus den Prämissen. Vielmehr fügt sich die Folgerung zur gerichtlichen Kontrolle in Fällen der Unbestimmtheit nicht einmal zu dem postulierten notwendigen Zusammenhang von Kontrolle und vorgegebenem Kontrollmaßstab. Das Argument ist letztlich ein dogmatisches im schlechten Sinn: Art. 19 Abs. 4 GG verlangt offensichtlich eine weitergehende gerichtliche Kontrolle. Diese soll es daher auch dort geben, wo sie nach den eigenen Prämissen theoretisch ausgeschlossen ist. Die Gefahr, die das rechtstheoretische Argument mit sich bringt, sieht auch Eberhard Schmidt-Aßmann. Das Bundesverfassungsgericht könne leicht dahin verstanden werden, dass „mit dem Zurückweichen der Gesetzesbestimmtheit gleichsam naturwüchsig ein kontrollfreier Raum entstehe.“25 Dies sei jedoch ein Missverständnis der Entscheidung, die zusätzlich und entscheidend auf die normative Eröffnung eines Beurteilungsspielraums abstelle.26 „Nicht der negative Aspekt der Unbestimmtheit des Gesetzes, sondern nur der positive Aspekt der besonderen Ermächtigung der Verwaltung entscheidet über eine Reduktion des gerichtlichen Kontrollauftrags.“27 Doch so verständlich es auch ist, dass die normative Ermächtigungslehre sich von der theoretischen Herleitung des Beurteilungsspielraums zu distanzieren versucht, die in so offensichtliche Schwierigkeiten führt; sie bleibt ein Argument schuldig, warum es denn noch auf die normative Ermächtigung ankommen soll, wenn doch die durch Art. 19 Abs. 4 GG geforderte verwaltungsgerichtliche Prüfung nicht weiter gehen kann als die materiell-rechtliche Bindung. Sowohl Art. 19 Abs. 4 GG als auch die Lehre von der normativen Ermächtigung erscheinen in der Rolle eines deus ex machina: Weil Art. 19 Abs. 4 GG eine umfassendere Kontrolle fordert oder weil die normative Ermächtigungslehre eine normative Ermächtigung verlangt, muss es auch dort eine gerichtliche Kontrolle geben, wo es nach dem – als solchem nicht in Frage gestellten – methodologischen Argument für den Beurteilungsspielraum keine Kontrolle geben kann.28 Die Lehren vom Beurteilungsspielraum leiden an dem Erfolg des für den Beurteilungsspielraum angeführten theoretischen Arguments. Ihr Problem ist es nicht, Beurteilungsspielräume zu begründen, sondern sie in Einklang mit der Rechtspraxis theoretisch stimmig zu begrenzen. 25 E. Schmidt-Aßmann/T. Groß, Zur verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte nach der Privatgrundschul-Entscheidung des BVerfG, NVwZ 1993, 617 (621). 26 Affirmativ hingegen die Bezugnahme der Passage etwa bei Pache, Tatbestandliche Abwägung (Fn. 21), S. 474. 27 Schmidt-Aßmann/Groß, NVwZ 1993 (Fn. 25), 617 (621); Schmidt-Aßmann, (Fn. 19), Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 184. 28 Auch die Verschiebung des Problems auf die materielle Grundrechtsbindung, M. Jestaedt, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: H. U. Erichsen/D. Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl., 2010, § 11 Rn. 39, erklärt nicht, warum die Rechtsprechung etwas tun soll, was sie nach den eigenen Prämissen nicht tun kann.

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III. Theoretische Missverständnisse Wenn es zutrifft, dass die vorgestellten Lehren vom Beurteilungsspielraum letztlich an einem theoretischen Problem leiden, dann spricht vieles dafür, die Lösung an dem Punkt zu suchen, an dem das theoretische Argument seinen Ausgang nahm. Theoretisch beruhen die Lehren vom Beurteilungsspielraum der Verwaltung auf dem aufgeklärten Bild der Rechtsanwendung, nach dem unbestimmte Rechtsbegriffe neutrale Kandidaten aufweisen, die nur noch nach außerrechtlichen Kriterien zugeordnet werden können, weil für sie auch unter Hinzuziehung unserer methodischen Instrumente keine einzig richtige Antwort gegeben werden kann. Wenn das Recht aber keine rechtliche Antwort vorsieht, kann es auch keine rechtliche Kontrolle und damit keine spezifisch gerichtliche geben. Dieses weithin geteilte Bild der Rechtsanwendung ist für die Lehren vom Beurteilungsspielraum Segen und Fluch zugleich. Ein Segen ist es, weil die Vorstellung einer einzig richtigen Antwort keinen Raum für einen Beurteilungsspielraum beließe. Gäbe es jeweils eine rechtlich determinierte einzig richtige Antwort, gäbe es zwar noch etwas zu beurteilen, aber keinen Spielraum mehr. Ein Fluch ist es, weil die Unbestimmtheit fast alle Rechtsbegriffe erfasst; eine so weitgehende Anerkennung von Beurteilungsspielräumen lässt sich aber weder mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben besonders von Art. 19 Abs. 4 GG noch mit unserer gerichtlichen Praxis vereinbaren. Zudem würde unklar, wie das, was unsere Ober- und Bundesgerichte tun, noch als eine spezifisch rechtliche Tätigkeit verstanden werden kann. Soweit man das, was Gerichte tun, juristisch ernst nimmt und sich nicht – wie besonders amerikanische Theorien der Rechtsanwendung – in rechtsrealistische Thesen zu bewussten oder unbewussten Selbsttäuschungen der gerichtlichen Praxis flüchtet,29 bedarf das aufgeklärte Standardmodell der Rechtsanwendung einer Korrektur. 1. Rechtsanwendung als Rechtsetzung Erforderlich ist ein genauerer Blick auf die neutralen Kandidaten. Der so naheliegende Schluss von der mangelnden rechtlichen Determination neutraler Kandidaten auf den nicht mehr spezifisch juristischen Charakter der mit der rechtsanwendenden Entscheidung verbundenen Rechtsetzung erweist sich bei näherer Betrachtung als vorschnell. Zunächst: Es trifft zu, dass die Zuordnung eines neutralen Kandidaten, die Entscheidung sog. hard cases, nicht durch die rechtlichen Vorgaben und auch nicht durch die Methoden der Rechtsanwendung determiniert ist. Die Entscheidung in Fällen rechtlicher Unbestimmtheit ist wirkliche Entscheidung, mit ihr wird nicht eine zuvor bereits feststehende rechtliche Regelung individualisiert, sondern eine Regelung für den zu entscheidenden Fall entwickelt, ohne dass die Entwicklung hinsichtlich ihres Ergebnisses durch die rechtlichen Vorgaben oder die juristischen Me29 Aus der neueren Literatur etwa B. Leiter, Explaining Theoretical Disagreement, University of Chicago Law Review 76 (2009), 1215 ff.

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thoden festgelegt wäre. Mit der Rechtsanwendung wird uno actu Recht gesetzt und auf den neutralen Kandidaten angewandt. Weisen etwa im Fall der baurechtlichen Satzung die unterschiedlichen Auslegungstopoi für die Einbeziehung von Glasbausteinen in den Fensterbegriff in unterschiedliche Richtungen und erlauben sie unterschiedliche juristische Argumentationen, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, so muss eine Entscheidung für eine der Argumentationen und eines der Ergebnisse fallen. Erst durch diese Entscheidung wird das Recht hinsichtlich des Glasbausteins gesetzt. Dogmatische Rechtsfortbildung ist Rechtsetzung, nicht bloße Rechtserkenntnis.

2. Der spezifisch juristische Charakter dogmatischer Rechtsetzung Doch die Rechtsetzung in Form der dogmatischen Rechtsfortbildung steht nicht nur institutionell und formal unter spezifischen Bedingungen, sondern operiert auch unter ganz eigenen methodischen und argumentativen Voraussetzungen, eigenen Konsistenzanforderungen und eigenen Pfadabhängigkeiten. Auch wenn die juristischen Methoden keine Entscheidung zwischen unterschiedlichen möglichen Argumentationen vorgeben, muss die Rechtsetzung im Rahmen der Rechtsanwendung doch mit Argumenten begründet werden, die im Rahmen juristischer Methoden zulässig sind. Unzulässig sind etwa tagespolitische oder ökonomische Gründe. Im Beispiel der Glasbausteine wäre es etwa unzulässig, die Zuordnung zum Fensterbegriff abzulehnen, weil es sich bei dem Bau um ein Prestigeobjekt der deutsch-französischen Beziehungen handelte oder weil die Errichtung des Baues in der aktuellen Konjunkturlage ein positives Signal sendete. Die Entscheidung im Rahmen der Rechtsanwendung muss vielmehr mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift, ihrer Genese, dem systematischen Zusammenhang oder der Geschichte der Regelung begründet werden. Auch wenn die juristischen Methoden die Entscheidung in schwierigen Fällen nicht vorgeben, ist sie doch nur um den Preis einer spezifisch juristischen Begründung zu haben. Zudem steht die dogmatische Rechtsfortbildung unter ganz anderen Konsistenzanforderungen hinsichtlich früherer und zukünftiger Entscheidungen als Entscheidungen, die aus politischen oder ökonomischen Kontexten getroffen werden. So lösen die Konsistenzanforderungen ganz andere Pfadabhängigkeiten aus als entsprechende Entscheidungen in Politik und Ökonomie. Ein Wandel im deutsch-französischen Verhältnis könnte zukünftige politische Entscheidungen in vergleichbaren Fällen beeinflussen, nicht aber die einmal getroffene dogmatische Entscheidung für eine Zuordnung der Glasbausteine, entsprechendes gilt für konjunkturelle Schwankungen hinsichtlich einer wirtschaftlichen Argumentation. Dabei erstrecken sich die Pfadabhängigkeiten nicht nur auf die Entscheidung, sondern gerade auch auf deren Begründung. Nicht nur in der Sache, sondern auch methodisch stehen dogmatische Rechtsetzungen im Rahmen der Rechtsanwendung

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unter höheren Konsistenzanforderungen. Wird einem teleologischen Argument in der Entscheidung über die Glasbausteine große Bedeutung zugemessen, so kann dies für die zukünftige Beurteilung eines Lochstahlfassadenelements präjudizielle Bedeutung haben, obwohl die politischen oder ökonomischen Umstände in dem zukünftigen Fall gänzlich andere sein können. Diese besonderen Strukturen des dogmatischen Argumentationsraums führen dazu, dass sich politische oder ökonomische Präferenzen in der juristischen Argumentation brechen können. Die Besonderheit des juristischen Argumentationsraums führt nicht daran vorbei, dass letztlich eine Entscheidung getroffen werden muss und diese Entscheidung von politischen und ökonomischen Vorverständnissen beeinflusst sein kann. Doch die politischen oder ökonomischen Präferenzen können quer zu den dogmatischen liegen, die Konsistenzanforderungen verhalten sich zufällig zu der jeweils konkret anstehenden Frage und die Pfadabhängigkeiten, die mit einer dogmatischen Rechtsetzung begründet werden, führen zu in ihren politischen oder ökonomischen Konsequenzen nicht absehbaren Bindungen. Die besondere, quer zu anderen Argumentationsräumen liegende Struktur des dogmatischen Argumentationsraums sichert über ihre Eigenlogik – soweit dies mit methodischen Mitteln möglich ist – eine gewisse Unparteilichkeit gegenüber politischen, ökonomischen und anderen Einflüssen, die nicht nur symbolisch ein Kernelement der Rechtsidee ausmacht. Zwar kann sich auch ein Gericht faktisch über diese besonderen dogmatischen Bindungen hinwegsetzen, doch unterliegt dies dann eben einer spezifisch dogmatischen Kritik. Die Entscheidung des amerikanischen Obersten Gerichtshofs in Bush v. Gore30 ist nicht deshalb so skandalös, weil republikanische Richter in einer umstrittenen verfassungsrechtlichen Frage im Sinne des republikanischen Kandidaten entschieden haben, sondern weil sie es taten, indem sie sich ad hoc über alles das hinwegsetzten, wofür sie selbst bislang dogmatisch standen. Skandalös war die Entscheidung, weil Richter, die immer für eine föderalistische Interpretation der Verfassung eingetreten waren, ad hoc eine zentralistische Auslegung der Verfassung vertraten, ohne diesen Auffassungswandel mit dogmatischen Argumenten erklären zu können.31 Ähnliche Kritik trifft die Ad-hoc-Ausnahme, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Wunsiedel-Entscheidung postuliert hat.32 Nachdem sich das Gericht auf eine Interpretation des allgemeinen Gesetzes im Sinn der Sonderrechtslehre gestützt hatte, war ihm die Rechtfertigung von Eingriffen in die Meinungsfreiheit, die sich gegen bestimmte politische Meinungsinhalte richten, eigentlich versperrt. Auch dort, wo Rechtsanwendung nicht determiniert ist – weder durch die rechtlichen Vorgaben noch durch die juristische Methode –, steht die mit ihr erfolgende 30

Bush v. Gore, 531 U.S. 98 (2000). S. G. Gey, The Odd Consequences of taking Bush v. Gore Seriously, Florida State University Law Review 29 (2001), 1005 (1024 ff.); E. Chemerinsky, How should we think about Bush v. Gore?, Loyola University Chicago Law Journal 34 (2002), 1 (18 ff.). 32 BVerfGE 124, 300. 31

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Rechtsetzung unter eigenen spezifischen dogmatischen Bedingungen, die auch ein eigenes kritisches Potenzial entfalten. Die Rechtsetzung im Rahmen der dogmatischen Rechtsfortbildung steht unter ihren ganz eigenen Anforderungen, die zwar nicht verhindern, dass politische oder ökonomische Vorverständnisse in die Entscheidung einfließen, die aber dadurch, dass sie quer zu diesen liegen, dazu beitragen, dass sich die politischen oder ökonomischen Vorverständnisse nicht unmittelbar und nicht ungebrochen in die dogmatische Rechtsetzung umsetzen lassen.

IV. Funktionale Zuordnung dogmatischer Rechtsfortbildung Wenn aber die Rechtsetzung in Fällen der Unbestimmtheit unter eigenen dogmatischen Bedingungen steht, dann erklärt sich auch, warum die dogmatische Rechtsfortbildung letztverbindlich den Gerichten zugewiesen ist. Grundsätzlich ist jeder Rechtsanwender in Fällen der Unbestimmtheit des Rechts zu einer dogmatischen Rechtsetzung aufgerufen – besonders auch die Verwaltung. Doch die Gerichte sind historisch, personell und institutionell diejenigen Einrichtungen, die in besonderer Weise darauf spezialisiert sind, dogmatische Rechtsfortbildung systematisch zu betreiben und deren besondere Anforderungen zu pflegen.33 So ist es etwa nach dem Grundgesetz die besondere Aufgabe der obersten Bundesgerichte, die Konsistenz oder – wie es in der Verfassung heißt – die „Einheitlichkeit der Rechtsprechung“ (Art. 95 Abs. 3 S. 1 GG) zu gewährleisten. In der Diskussion um die Beurteilungsspielräume der Verwaltung wird zumeist großes Gewicht auf die funktionsadäquate Erfüllung von Aufgaben gelegt.34 Gerade aber die Funktionsadäquanz spricht dafür, dass die Gerichte in Fällen der Unbestimmtheit des Rechts die dogmatische Rechtsfortbildung übernehmen. Keine andere Gewalt ist für diese Aufgabe traditionell, personell und institutionell besser gerüstet.35

V. Folgen für die Lehre vom Beurteilungsspielraum Aus der rechtstheoretischen Klarstellung lassen sich eine Reihe von Folgerungen für die Lehre vom Beurteilungsspielraum ziehen. 33 R. Poscher, Funktionenordnung des Grundgesetzes, in: W. Hoffmann-Riem/E. SchmidtAßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 8, Rn. 51 ff. und 61; s. bereits Jesch, AöR 82 (1957) (Fn. 18), 163 (231): „Wenn damit gesagt sein soll, daß … der Richter die behördliche Rechtsauslegung und -anwendung ungeprüft zu übernehmen habe, so ist dem entgegenzuhalten, daß gerade der Richter der Fachmann für die Anwendung des Rechts ist.“ Vgl. auch W. Hoffmann-Riem, Eigenständigkeit der Verwaltung, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 10, Rn. 81, wobei die Aufgabe des Gerichts weniger in der dogmatischen Rechtsetzung als in dem „Nachvollzug“ der Entscheidung der Verwaltung gesehen wird. 34 s. nur W. Brohm, Die staatliche Verwaltung als eigenständige Gewalt und die Grenzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit, DVBl. 1986, 321 (329 ff.); Pache, Tatbestandliche Abwägung (Fn. 21), S. 76 ff.; Schmidt-Aßmann, (Fn. 19), Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 205. 35 Poscher, Funktionenordnung (Fn. 33), § 8, Rn. 61.

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1. Bestimmtheit des Rechts keine Grenze der gerichtlichen Kontrolle Zunächst kann erklärt werden, warum die Unbestimmtheit allein noch keinen Beurteilungsspielraum eröffnet. Die dogmatische Bewältigung rechtlicher Unbestimmtheit durch Rechtsetzung im Wege der dogmatischen Rechtsfortbildung ist genuine Aufgabe der Gerichte. Die Bewältigung rechtlicher Unbestimmtheit unter den Bedingungen dogmatischer Rechtsfortbildung, die ein Höchstmaß an Distanz und Eigengesetzlichkeit gegenüber politischen oder ökonomischen, oder sonstigen Parteinahmen gewährleistet, ist auch das, worauf Art. 19 Abs. 4 GG einen Anspruch gewährt. Die Zurückweisung des Schlusses von der Unbestimmtheit des Rechts auf die mangelnde juristische Qualität der Entscheidung auf der Ebene der Theorie der Rechtsanwendung erlaubt, das zu erklären, was die Theorien des Beurteilungsspielraums lediglich postulieren: die regelmäßige Zuordnung der letztverbindlichen dogmatischen Rechtsetzung zu den Gerichten und die nur ausnahmsweise Zuordnung zur Verwaltung. 2. Der Unterschied zwischen dogmatischer Rechtsfortbildung und Ermessen Nach den sog. „Einheitstheorien“ sind Ermessen und Beurteilungsspielraum einheitlich zu beurteilen.36 Dabei sind die Einheitstheorien in hohem Maße ambivalent. In einer schwachen Lesart besagen sie nur, dass dort, wo ein Beurteilungsspielraum anerkannt ist, der Kontrollmaßstab für die Verwaltung im Wesentlichen derselbe ist oder sein sollte, wie bei Ermessensentscheidungen. In einer stärkeren Lesart gehen die Einheitstheorien aber von der rechtstheoretischen These aus, die die Gleichartigkeit oder jedenfalls die Ähnlichkeit von tatbestandlicher Unbestimmtheit und Ermessen postuliert.37 Klassisch ist insoweit die Kennzeichnung beider als sich lediglich gesetzestechnisch unterscheidende Kompetenzen zur Tatbestandsergänzung, die lediglich an anderen systematischen Stellen einer Norm angesiedelt seien.38 Nach dieser stärkeren Lesart der Einheitstheorien handelt es sich bei der Rechtsfortbildung jenseits methodisch eindeutiger „Fremdprogrammierung“ des Rechtsanwenders und der Ausübung von Ermessen grundsätzlich um dasselbe Phänomen, das deshalb auch mit einem einheitlichen „administrativen Entscheidungsfreiraum“ umschrieben und anhand derselben Kontrollmaßstäbe überprüft werden kann.39

36 Überblick zu den Einheitstheorien bei Pache, Tatbestandliche Abwägung (Fn. 21), S. 108 ff. m.w.N. 37 So bereits H. Ehmke, „Ermessen“ und „unbestimmter Rechtsbegriff“ im Verwaltungsrecht, 1960, S. 23 ff. 38 Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe (Fn. 15), S. 177, 180. Dies ist auch der Ausgangspunkt für Überlegungen zu einem einheitlichen „administrativen Entscheidungsfreiraum“ bei M. Jestaedt, Maßstäbe des Verwaltungshandelns (Fn. 28), Rn. 27 – 67. 39 Jestaedt, ebd.; zustimmend zu diesem Vorschlag E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: R. Pitschas (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik – Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, 2007, S. 539 (558).

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Anhand der rechtstheoretischen Korrektur des Bildes der Rechtsanwendung lässt sich demgegenüber der kategoriale Unterschied zwischen der Ausübung eines Ermessens und der dogmatischen Rechtsfortbildung zur Bewältigung rechtlicher Unbestimmtheit zeigen. Die dogmatische Rechtsetzung zur Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe ist gänzlich anderer Natur als die Ausübung verwaltungsrechtlichen Ermessens.40 Während die dogmatische Fortentwicklung unbestimmter Rechtsbegriffe den oben beschriebenen besonderen Gesetzmäßigkeiten des spezifisch juristischen Argumentationsraums unterliegt, soll sich die Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens – im Rahmen der Ermessensgrenzen – gerade auch an opportunistischen Kriterien der Zweckmäßigkeit orientieren, die sich nicht in den juristischen Argumentationsraum übertragen lassen. Hätte die Behörde Ermessen, über die Zulässigkeit von Glasbausteinen zu entscheiden, so würde etwa nichts dagegen sprechen, dass die Behörde ihre Ermessenspraxis angesichts geänderter Konjunkturdaten umstellt. Eine andere Auslegung des einmal dogmatisch konkretisierten Fensterbegriffs ließe sich mit veränderten Konjunkturdaten hingegen nicht rechtfertigen. Der Schluss von der fehlenden rechtlichen Determiniertheit darauf, dass die Entscheidung über neutrale Kandidaten keinen spezifisch rechtlichen Bedingungen mehr unterliegt und somit der Ausübung von Ermessen gleichzustellen sei, ist auch rechtsanwendungstheoretisch unzutreffend. 3. Legitimation von Beurteilungsspielräumen Die Revision der aufgeklärten communis opinio in der Rechtsanwendungstheorie stellt die Legitimation von Beurteilungsspielräumen wieder vom Kopf auf die Füße. Erklärungsbedürftig ist nicht mehr das grundsätzliche Letztentscheidungsrecht der Gerichte über die dogmatische Fortentwicklung unbestimmter Rechtsbegriffe, sondern die letztverbindliche Zuweisung von Rechtsanwendungsfragen an die dazu regelmäßig funktional weniger qualifizierte Verwaltung. Wenn es – anders als dies die verbreitete Rechtsanwendungstheorie nahelegt – nicht die Unbestimmtheit des Rechts ist, die ein Bedürfnis für Beurteilungsspielräume der Verwaltung weckt, welche Faktoren sind es dann? Liegt der auch hinter Art. 19 Abs. 4 GG stehende Sachgrund für die Zuordnung des Letztentscheidungsrechts über die dogmatische Rechtsfortbildung zu den Gerichten in deren besonderer Qualifikation zur sachgerechten Bewältigung dieser Aufgabe, so liegt es nahe, die Gründe für die Zuweisung von Letztentscheidungsrechten an die Verwaltung darin zu suchen, dass Bedingungen vorliegen, unter denen es entweder auf diese besondere Qualifikation der Gerichte nicht ankommt oder die Gerichte der Verwaltung ausnahmsweise hinsichtlich einzelner Aspekte der Rechtsanwendung funktional unterlegen sind.

40 Vgl. Jesch, AöR 82 (1957) (Fn. 18), 163 (234), nach dem die Ausfüllung eines Begriffshofs im Unterschied zum Ermessen „interpretativ wirkt“.

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Grob lässt sich die Rechtsanwendung in zwei Aspekte gliedern: die Rechts- und die Tatsachenfrage. Zum einen muss das geltende Recht ausgelegt und im Wege der dogmatischen Rechtsfortbildung konkretisiert werden, zum anderen müssen die Tatsachen des konkreten Falls aufgeklärt werden. Hinsichtlich beider Aspekte der Rechtsanwendung sind die Gerichte der Verwaltung strukturell überlegen. Die besondere Qualifikation der Gerichte für die dogmatische Rechtsfortbildung stand bereits im Mittelpunkt der bisherigen Überlegungen. Ähnliches gilt grundsätzlich auch für die Ermittlung der Tatsachen des konkreten Falls. Insoweit ist es besonders die Unparteilichkeit, die in Verfahren, in denen die Verwaltung selbst Partei ist,41 in der Regel von der Verwaltung nicht in gleichem Maß wie von den Gerichten gewährleistet werden kann. Für die Einräumung von Beurteilungsspielräumen besteht in der von der besonderen Qualifikation der Gerichte zur Rechtsanwendung ausgehenden funktionalen Perspektive dann Anlass, wenn die Gerichte ausnahmsweise entweder für die Konkretisierung des Rechts weniger geeignet sind oder wenn die Gerichte bei der Feststellung von Tatsachen der Verwaltung unterlegen sind. Terminologisch lassen sich die beiden Arten des Rechtsanwendungsspielraums als rechtlicher und tatsächlicher Beurteilungsspielraum oder auch als Beurteilungsspielraum und Einschätzungsprärogative unterscheiden.42 Da diese Gründe an der besonderen Qualifikation der Gerichte ansetzen und ihre spezifische Leistung betreffen, sind es Gründe, die auch bei der verfassungsdogmatischen Ausformung derjenigen Verfassungsgarantien Berücksichtigung finden können, die an diese besondere Qualifikation der Rechtsprechung anknüpfen. Bei der verfassungsdogmatischen Konkretisierung der Gesetzesbindung der Verwaltung nach Art. 20 Abs. 3 GG, des Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG und des Gesetzesvorbehalts sind Umstände zu berücksichtigen, die dazu führen können, dass die diesen Regelungen zugrundeliegenden spezifischen Qualifikationen der Gerichte nicht zum Tragen kommen. Keinen Anlass zur Einräumung von Beurteilungsspielräumen können Schwierigkeiten bei der Subsumtion als solcher geben.43 Schwierigkeiten bei der Subsumtion haben ihre Ursache immer entweder in Schwierigkeiten bei der dogmatischen Konkretisierung der Norm oder bei der Feststellung des zu beurteilenden Sachverhalts. Es ist gerade die Aufgabe der Norminterpretation, die Norm soweit zu konkretisieren, 41 H. Kellner, Der sogenannte Beurteilungsspielraum in der verwaltungsgerichtlichen Praxis, NJW 1966, 857 (860). 42 Im Folgenden dient der unqualifizierte Begriff des Beurteilungsspielraums als Oberbegriff für beide Phänomene. 43 Dazu in aller Klarheit bereits Jesch, AöR 82 (1957) (Fn. 18), 163 (211 f.); anders aber bereits im Ausgang der Diskussion O. Bachof, JZ 1955 (Fn. 19), 97 (99); aus der neueren Literatur etwa; H.-J. Papier, Zur verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte, DÖV 1986, 621 (623 f.); H. Schulze-Fielitz, Neue Kriterien für die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, JZ 1993, 772 ff. Die Vorstellung erscheint u. U. deshalb attraktiv, weil sie es vermeidet, offen zu legen, dass Beurteilungsspielräume entweder dazu führen, dass das Recht nicht durch die Gerichte konkretisiert wird oder dass die Sachverhaltsfeststellung oder -konstruktion den Behörden überlassen bleibt.

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dass der festgestellte Sachverhalt durch einen einfachen Akt dessen angewandt werden kann, was Kant die theoretische Urteilskraft nennt und was bei Wittgenstein die basale Fähigkeit des Regelfolgens ausmacht.44 Von den Schwierigkeiten bei der Ausübung der Urteilskraft sagt Kant: „Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.“45 Mit derlei Gebrechen ist aber die Rechtsanwendung weder in der Verwaltung noch bei den Gerichten in einer dogmatisch relevanten Weise konfrontiert. Eine Lehre vom Beurteilungsspielraum, die von der auch verfassungsrechtlich vorausgesetzten funktionalen Überlegenheit der Gerichte bei der Anwendung des Rechts auf einen Einzelfall ausgeht und seine Legitimation danach bestimmt, ob in bestimmten Ausnahmekonstellationen Gründe für eine funktionale Überlegenheit der Verwaltung vorliegen, liegt quer zu den üblichen Typologien des Beurteilungsspielraums, die weitgehend rein phänomenologisch vorgehen und sich zumeist nach den Sachmaterien gliedern, in denen die Rechtsprechung bislang einen Beurteilungsspielraum anerkannt hat (Prüfungsrecht, Beamtenrecht, Umwelt- und Technikrecht etc.)46. In einer funktional-analytischen Perspektive sind die Arten des Beurteilungsspielraums demgegenüber nach den einzelnen Aspekten der Rechtsanwendung zu gliedern, hinsichtlich derer die Verwaltung sich im Ausnahmefall der Rechtsprechung als funktional überlegen erweist. In der analytischen Perspektive sind die phänomenologischen Fallgruppen darauf zu befragen, ob ein und ggf. welcher funktionale Grund die Annahme eines Beurteilungsspielraums in der jeweiligen Fallgruppe rechtfertigen könnte. Jedenfalls grob teilt sich eine funktional-analytische Typologie in Beurteilungsspielräume hinsichtlich der Rechts- und der Tatsachenfrage ein. Im Folgenden können nicht alle phänomenologischen Fallgruppen auf ihre funktionale Validität untersucht werden. Die bei der besonderen Qualifikation der Gerichte zur Rechtsanwendung ansetzende Begründung von Beurteilungsspielräumen der Verwaltung soll jedoch kurz anhand einiger besonders prominenter Fallgruppen plausibilisiert werden. Damit kann jedenfalls die Art der Überlegungen aufgezeigt werden, die bei der Frage der Legitimation von Beurteilungsspielräumen anzustellen sind. a) Beurteilungsspielräume bei der Rechtsfrage Wenn nun gerade gezeigt werden konnte, dass auch in Fällen der Unbestimmtheit des Rechts die Gerichte die funktional überlegene Institution zur dogmatischen Rechtsfortbildung sind, so scheint sich der in der Literatur auch sonst häufiger anzu44 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, G. E. M. Anscombe/G. H. Wright/R. Rees (Hrsg.), (1953), in: Werkausgabe, Bd. 1, 2. Aufl. 1992, etwa §§ 201, 217. 45 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1787), W. Weischedel (Hrsg.), in: Werkausgabe, Bd. 2, 1956, B 172 f. 46 s. etwa Schmidt-Aßmann, (Fn. 19), Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 193 ff.; M. Ruffert, in: H. J. Knack/H.-G. Henneke (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Auflage 2010, § 40, Rn. 94 ff.; kritisch zu den gängigen Typologien M. W. Nell, Beurteilungsspielraum zugunsten Privater, 2010, S. 139.

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treffende – im Hinblick auf die Unbestimmtheit des Rechts aber nicht weiter begründete – Grundsatz zu bestätigen, dass es keine Beurteilungsspielräume der Verwaltung in der Rechtsfrage geben kann.47 In den für den Beurteilungsspielraum diskutierten Fallgruppen finden sich denn auch keine, in denen etwas dafür spricht, dass von einer überlegenen Fähigkeit der Verwaltung zur dogmatischen Rechtsfortbildung ausgegangen wird. Es finden sich jedoch Fallgruppen, in denen aus rechtlichen Gründen gerade keine dogmatische Schließung rechtlicher Unbestimmtheit angezeigt ist. In diese Kategorie fallen etwa Beurteilungsspielräume bei der Bewertung künstlerischer oder wissenschaftlicher Leistungen.48 Einer Rechtsdogmatik, der es gelungen ist, ein dogmatisches Konzept der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der guten Sitten zu entwickeln, würde es sicherlich auch gelingen, ein dogmatisches Konzept guter Kunst, innovativer Wissenschaft oder des besonders wertvollen Films zu entwickeln. Doch die Bewertung in diesen Lebensbereichen soll auch nach den entsprechenden grundrechtlichen Konzepten einer gesellschaftlichen Eigengesetzlichkeit unterliegen und gerade nicht mit juristischen Methoden dogmatisiert werden. Wenn staatliche Bewertungsverbote49 für Kunst und Wissenschaft aus den Grundrechten abgeleitet werden, weist dies darauf hin, dass die Freiheit der Kunst und Wissenschaft keine dogmatisierten Standards vertragen. Wenn daher in Verwaltungsverfahren besondere Gremien vorgesehen sind, die diese Eigengesetzlichkeit repräsentieren, spricht vieles gegen eine dogmatische Schließung rechtlicher Unbestimmtheit.50 Unter dem Gesichtspunkt der Staatsfreiheit des Rundfunks können entsprechende Überlegungen auch die Annahme von Beurteilungsspielräumen im Bereich der Rundfunkfreiheit rechtfertigen.51 Anders liegen die Dinge bei Ethikkommissionen in der Verwaltung, derer sich die Politik in zunehmendem Maße auch bedient, um sich von schwierigen rechtsethischen Fragen zu entlasten. Doch gibt es kein rechtsethisches Bewertungsverbot 47 So bereits Bachof, JZ 1955 (Fn. 20), 97 (99); s. auch F. Ossenbühl, Zur Renaissance der administrativen Beurteilungsermächtigung, DÖV 1972, 401 (404); H.-J. Papier, DÖV 1986 (Fn. 43), 621 (623 f.); H. Schulze-Fielitz, JZ 1993 (Fn. 43), 772. 48 VGH Kassel, NJW 1998, 1426; vgl. BVerfGE 83, 130 (148), in der ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich Kunsteigenschaft eines Werkes nicht ausgeschlossen wird. 49 BVerfGE 30, 173 (190); 75, 369 (377); 81, 298 (305). 50 BVerwGE 39, 197 ff.; VG Augsburg, B. v. 31. 07. 2008, Au 7 S 08.659; zur Filmförderungsanstalt als Gremium der Filmförderung bei E. Schreyer, Pluralistische Entscheidungsgremien im Bereich kultureller und sozialer Staatsaufgaben, 1982, S. 60 ff. In die Fallgruppe der ästhetischen Urteile, die sich nur bedingt zur Dogmatisierung eignen, fällt auch der Beurteilungsspielraum der Weinprüfungskommission, den das Bundesverwaltungsgericht nun in Abweichung von seiner früheren Rechtsprechung, BVerwGE 94, 307 ff., anerkannt hat, BVerwGE 129, 27 ff. 51 Zu Beurteilungsspielräumen speziell im Rundfunkrecht C. Bamberger, Behördliche Beurteilungsermächtigungen im Lichte der Bereichsspezifik des Verwaltungsrechts, VerwArch 93 (2002), 217 ff. Die Staatsferne des Rundfunks müsste auch der Gesichtspunkt sein, unter dem der in § 20 Abs. 3, 5 JMStV den anerkannten Einrichtungen der Freiwilligen Selbstkontrolle für Rundfunk und Telemedien eingeräumte Beurteilungsspielraum gerechtfertigt wird, zur Diskussion um § 20 Abs. 3, 5 JMStV Nell, Beurteilungsspielraum (Fn. 46), S. 221 ff.

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des Staates. Im Gegenteil, als Rechtsstaat ist er dazu aufgerufen, rechtsethische Urteile in den Formen des Rechts zu fällen und kann sie nicht letztverbindlich ethischen Experten oder Vertretern gesellschaftlicher Gruppen übertragen. Auch funktionell spricht nichts für einen auf rechtsethische Eigengesetzlichkeiten gestützten Beurteilungsspielraum von Ethikkommissionen bei der Einzelfallentscheidung. Weder kann die Ethik als Disziplin über eine der Rechtsdogmatik vergleichbare Tradition der Systematisierung von Einzelfallentscheidungen zurückblicken; noch verfügen die Ethikkommissionen über einen den Gerichten vergleichbaren institutionellen Rahmen zur Vereinheitlichung ihrer Entscheidungspraxis. Wenn etwa in den Entwürfen zum Präimplantationsdiagnostikgesetz die Ausnahme von dem Diagnostikverbot wegen der Wahrscheinlichkeit einer „schwerwiegenden Erbkrankheit“ von dem positiven Votum einer interdisziplinär zusammengesetzten Ethikkommission abhängig gemacht wird,52 ist für die Kommission kein rechtsethischer Beurteilungsspielraum anzuerkennen.53 Die Entscheidung über die Zulässigkeit einer Präimplantationsdiagnostik darf nicht von der zufälligen religiösen oder ethischen Orientierung der einer Ethikkommission angehörenden Theologen, Mediziner, Juristen und professionellen Ethiker abhängen, sondern muss im Rechtsstaat rechtlichen Kriterien folgen, die durch die Gerichte im Instanzenzug dogmatisch ausgestaltet werden. b) Einschätzungsprärogative bei der Tatsachenfeststellung Anders gelagert sind die Rechtsanwendungsspielräume, die an die Ermittlung der Tatsachengrundlage einer Entscheidung anknüpfen und die hier als Einschätzungsprärogative bezeichnet seien. Hierher gehören zum einen die Fälle, in denen die Feststellung des Sachverhalts aufgrund der mangelnden Rekonstruierbarkeit der relevanten Situation die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung überschreitet, wie dies bei der gerichtlichen Kontrolle von Prüfungen54 und beamtenrechtlichen Beurteilungen55 der Fall sein kann. So ist etwa die langfristige Erfahrung des Dienstherrn innerhalb eines Beamtenverhältnisses im gerichtlichen Verfahren nicht mehr umfassend nachholbar. Eine Einschätzungsprärogative kann es aber nur geben, soweit das Erfahrungswissen der Verwaltung im gerichtlichen Verfahren tatsächlich nicht reproduzierbar ist. Bei Ersteinstellungen ist dies u. U. anders zu beurteilen als bei Beförde-

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BT-Drs. 17/5452 u. BT-Drs. 17/5451. Zum Beurteilungsspielraum von Ethikkommissionen in der Verwaltung S. Vöneky, Recht, Moral und Ethik, 2010, S. 632 ff., die einen Beurteilungsspielraum dann anerkennen will, wenn Ethikkommissionen „als Gremien der Rückbindung an gut begründete und gesellschaftlich verankerte ethische Erwägungen wirklich interdisziplinär besetzt werden und zudem in interdisziplinärer Besetzung und mit interdisziplinärer Mehrheit entscheiden.“ 54 BVerfGE 84, 34 ff.; BVerwGE 8, 272 ff.; BVerwG, DVBl. 1995, S. 1353; W. Zimmerling/ R. Brehm, Prüfungsrecht, 3. Aufl., Köln 2007, Rn. 569 ff. und 583 ff. 55 BVerfG, NVwZ 2002, 847; BVerwGE 8, 192 ff.; 60, 245 ff.; 97, 128 ff.; 113, 267 ff.; Schmidt-Aßmann, (Fn. 19), Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 194 m.w.N. 53

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rungsentscheidungen.56 Auch insoweit kann die Anerkennung einer Einschätzungsprärogative dem Schutz von Grundrechtspositionen dienen. So streitet etwa der aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleitete Grundsatz der prüfungsrechtlichen Gleichbehandlung für eine gewisse Einschätzungsprärogative der Verwaltung.57 Zum anderen gehören hierher Fälle, in denen die Rechtsanwendung durch unser beschränktes gesichertes Wissen um Fakten und Prognosen erschwert wird und sich die faktische Ungewissheit auch über einzelne Sachverständige nicht ausräumen lässt, sondern lediglich divergierende Expertenansichten produziert.58 Der Unterschied zwischen einem rechtlichen Beurteilungsspielraum und einer Einschätzungsprärogative in diesen Fällen lässt sich etwa am Wyhl-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ablesen. Bei seiner Prüfung, ob gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG „die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist“, erfolgt zunächst eine eingehende dogmatische Auseinandersetzung mit dem Vorsorgebegriff, den die Vorinstanz noch im Sinn des klassischen polizeirechtlichen Gefahrbegriffs ausgelegt hatte. Demgegenüber entwickelt das Bundesverwaltungsgericht die Vorsorge als ein der Gefahrenabwehr vorgelagertes dogmatisches Konzept, nach dem „auch solche Schadensmöglichkeiten in Betracht gezogen werden, die sich nur deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können und daher insoweit noch keine Gefahr, sondern nur ein Gefahrenverdacht oder ein ,Besorgnispotential besteht.“59 Bei welchem Dosisgrenzwert kein „Besorgnispotential“ mehr besteht, ist dann vor allem eine Tatsachenfrage. Der Dosisgrenzwert wurde in der „Allgemeinen Berechnungsgrundlage für Strahlenexposition bei radioaktiven Ableitungen mit der Abluft oder in Oberflächengewässer“ des Bundesinnenministers, die u. a. auf Empfehlungen der Reaktor-Sicherheitskommission beruhte, auf 30 mrem/a festgesetzt. Zur Bestimmung entsprechend detaillierter Grenzwerte verfügt die Exekutive nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts „im Verhältnis zu den Verwaltungsgerichten über rechtliche Handlungsformen, die sie für die Verwirklichung des Grundsatzes bestmöglicher Gefahrenabwehr und Risikovorsorge sehr viel besser ausrüsten“60.

56 Kritisch zum Beurteilungsspielraum im Rahmen beamtenrechtlicher Ersteinstellungen T. Schwabenbauer/M. Kling, Gerichtliche Kontrolle adminstrativer Prognoseentscheidungen am Merkmal der Zuverlässigkeit, VerwArch 2010, 231 (247 ff.); zur mangelnden Übertragbarkeit auf Wahlämter H.-H. Trute, Rechtsprechung zur Vergangenheitsbewältigung, SachsVbl. 1999, 261 (265 f.). 57 BVerfGE 84, 34 (52). Bei wissenschaftlichen Prüfungen – Promotion, Habilitation – kommt wiederum dem staatlichen Bewertungsverbot Bedeutung zu. 58 Ruffert, (Fn. 46), § 40 VwVfG, Rn. 102; Schmidt-Aßmann, (Fn. 19), Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 198 ff. 59 BVerwGE 72, 300 (315). 60 BVerwGE 72, 300 (317).

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Dabei hat die Literatur zu Recht darauf hingewiesen, dass die in Bezug genommene Expertise nicht nur Tatsachenurteile, sondern auch Wertungen betrifft.61 Welche theoretischen Szenarien, welche Wahrscheinlichkeiten, welche Grenzwerte etc. noch ein „Besorgnispotential“ begründen oder als „Restrisiko“ noch hinzunehmen sind, hängt auch von Hintergrundüberzeugungen und -wertungen ab und ist auch ein Stück Dezision – warum nicht 28, 29,5 oder 31 mrem/a? Doch handelt es sich um Wertungen und Dezisionen im Detail, die erst getroffen werden können, wenn man sich auf die wissenschaftlichen Einzelheiten der technischen Fragen eingelassen und die wissenschaftlichen Kontroversen aufgearbeitet hat. Die Wertungen ließen sich auch im Detail analytisch von den Tatsachenüberzeugungen unterscheiden, auf denen sie beruhen, aber nur um den Preis, die Tatsachenfragen im Detail durchdrungen zu haben. Für die Durchdringung des Standes von Wissenschaft und Technik verfügt die Exekutive aber in Einzelfällen über institutionell bessere Voraussetzungen als das gerichtliche Verfahren. Auch wenn in den wissenschaftlich-technischen Konstellationen der anerkannten Einschätzungsprärogativen Wertungen im Detail vorgenommen werden, nimmt die funktionale Überlegenheit der Exekutive ihren Ausgang doch nicht bei deren Überlegenheit zur systematischen Wertung, sondern bei den Schwierigkeiten der Durchdringung der tatsächlichen Grundlage der Rechtsanwendung. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der die jeweils geregelte technische Praxis betrifft, deren Bedeutung besonders auch der Jubilar in seinen Arbeiten zur Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit betont hat.62 Die Rechtsformen der Verwaltung und darunter auch die Verwaltungsvorschrift sind zu einer abstrakten Standardsetzung in den Details, die es für die technische Spezifizierung der Praxis bedarf, besser gerüstet als am Einzelfall orientierte dogmatische Modelle der Rechtsetzung. Eine konsistente und einheitliche Festsetzung von stoff- oder gebietsdifferenzierten Grenzwerten im Sinn etwa der TA-Luft oder TA-Lärm ist – trotz des Instanzenzugs – in am Einzelfall orientierten gerichtlichen Verfahren nur schwer zu erreichen. Wie schwer es der Rechtsprechung fällt, einheitliche, numerisch spezifizierte Grenzwerte zu entwickeln und sie auch noch rechtzeitig an geänderte gesellschaftliche Entwicklungen anzupassen, zeigt sich auch dort, wo die Rechtsprechung nicht auf die Hilfe der Verwaltung setzen kann. Im Unterhaltsrecht etwa greift die Rechtsprechung zu dem rechtsprechungsuntypischen Instrument der „Düsseldorfer Tabelle“, in der die gesetzlichen Unterhaltsbestimmungen im jährlichen Rhythmus betragsgenau konkretisiert werden. Die Düsseldorfer Tabelle entfaltet für die familiengerichtliche Praxis

61 D. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 375; M. Kloepfer, Rechtsschutz im Umweltrecht, VerwArch 76 (1985), 371 (396); W. Brohm, DÖV 1987 (Fn. 19), 265 (267); C. Gusy, „Antizipierte Sachverständigengutachten“ im Verwaltungsund Verwaltungsgerichtsverfahren, NuR 1987, 156 (160); ders., Leistungen und Grenzen technischer Regeln, VerwArch 79 (1988), 68 (70, 81). 62 R. Wahl, VBlBW 1988 (Fn. 1), 387 (390); zur besonderen Qualifikation der Verwaltung zur abstrakten Standardsetzung auch ders., NVwZ 1991 (Fn. 2), 409 (411, 414).

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faktisch eine ähnliche Wirkung, wie sie im verwaltungsgerichtlichen Verfahren etwa der TA-Luft und TA-Lärm zugesprochen wird.63 c) Akzessorietät Entscheidungsspielräume besitzt die Verwaltung aber nicht nur bei der Rechtsanwendung auf den Einzelfall. Manchen Rechtsanwendungen sind Gestaltungsentscheidungen der Verwaltung vorgelagert, die für die Rechtsanwendung maßgeblich sind, ohne dass der Verwaltung dann bei der Rechtsanwendung ein Beurteilungsspielraum zukäme. Ob eine Nutzung einer öffentlichen Straße oder eines öffentlichen Platzes noch in den Gemeingebrauch fällt, hängt vom Inhalt der Widmung ab. Bei ihrer der konkreten Gemeingebrauchsfrage vorgelagerten Widmungsentscheidung hatte die zuständige Straßenbehörde im Rahmen der Straßengesetze ein Gestaltungsermessen, das sie opportunistisch an Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten ausrichten darf. Die auf der Grundlage der Widmung zu entscheidende Frage nach der Gemeingebrauchseigenschaft einer konkreten Nutzung der Straße oder des Platzes ist damit zwar akzessorisch zu der vorgängigen Ermessensentscheidung der Verwaltung über den Inhalt der Widmung, aber selbst weder eine Ermessensentscheidung noch eine Entscheidung, bei der ein Beurteilungsspielraum oder eine Einschätzungsprärogative der Verwaltung anerkannt wird oder anzuerkennen wäre. Nichts anderes gilt für eine Reihe von Konstellationen, die in den gängigen phänomenologischen Typologien als Fälle des Beurteilungsspielraums gehandelt werden.64 So wie die Verwaltung Straßen und Plätze widmet, widmet sie im Rahmen ihrer Organisationsgewalt auch die ihr zur Verfügung stehenden Planstellen für ein bestimmtes Aufgabenprofil. Die Ausübung des Organisationsermessens der Verwaltung liegt der Entscheidung, ob ein Bewerber in Bezug auf das so festgelegte Stellenprofil geeignet ist, voraus; ein Beurteilungsspielraum verbindet sich mit der Akzessorietät der Eignungsfrage zu der vorgelagerten Festlegung des Stellenprofils deshalb nicht. Die Akzessorietät hat keinen Beurteilungsspielraum bei der Rechtsanwendung zur Folge, sondern die Abhängigkeit der Rechtsanwendung von einer vorgängigen Ermessensentscheidung. Angesichts des grundlegenden Unterschieds zwischen Ermessensausübung und rechtsdogmatischer Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe wird deutlich, dass in der Zuordnung der Akzessorietät zum Beurteilungsspielraum eine irreführende Kategorisierung liegt. Nicht alle mit dem Tatbestand verbundenen 63

So wie das Bundesverwaltungsgericht sachverständige Festlegungen im Verwaltungsverfahren als „allgemeine Erfahrungssätze“ beweisrechtlich berücksichtigt, s. etwa BVerwG, NJW 2009, 3593 (3596), werden die Beträge der Düsseldorfer Tabelle vom Bundesgerichtshof als „auf allgemeiner Erfahrung gewonnene Richtwerte“, BGH, FamRZ 2000, 1492 (1493), den Entscheidungen zugrunde gelegt. Zur Entwicklung der Unterhaltstabellen H. Schürmann, Unterhaltsrechtliche Leitlinien, FamRZ 2005, 490 (490 f.). 64 Anders etwa Schmidt-Aßmann, (Fn. 19), Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 194, der die Akzessorietät unter dem Titel der „Rezeptionsbegriffe“ als eine Fallgruppe des Beurteilungsspielraums behandelt.

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Spielräume der Verwaltung sind Beurteilungsspielräume oder Einschätzungsprärogativen. Die sog. Faktorenlehre hatte dies auch ursprünglich – vor ihrer Vereinnahmung durch die phänomenologischen Typologien – betont.65 Bereits in den 50er Jahren hatte Dietrich Jesch den Unterschied zwischen Beurteilungsspielraum und Akzessorietät eingehend anhand des ersten vom Bundesverwaltungsgericht66 anerkannten Beurteilungsspielraums herausgearbeitet: „Mir scheint, dass das BVerwG hier den allgemeinen Auftrag an die Verkehrsbehörden zur verkehrspolitischen und verkehrswirtschaftlichen Planung zu Unrecht mit der Feststellung, ob im Einzelfall ,das Unternehmen den Interessen des öffentlichen Verkehrs zuwiderläuft, identifiziert. Zweifellos ist die Verkehrsplanung Sache der Verwaltung und die Behörde kann allgemein festlegen, wie die ,Interessen des öffentlichen Verkehrs am besten zu erfüllen sind. […] Sie übt insoweit ihr Ermessen aus. Das hat aber nichts damit zu tun, ob auch das Vorliegen des dritten Genehmigungserfordernisses des § 9 I PBefG von der Verwaltung in einer unüberprüfbaren Ermessensentscheidung bejaht oder verneint werden kann. [… V]on der allgemeinen Verkehrsplanung und ihren Tendenzen hängt natürlich im Ergebnis auch die Entscheidung über die Genehmigung […] ab. Und diese allgemeine Planung entzieht sich der gerichtlichen Kontrolle, sofern es sich überhaupt um denkbare und mögliche Lösungen zur Befriedigung der Interessen des öffentlichen Verkehrs handelt. Wird jedoch die Frage des § 9 I aufgeworfen, so geht es nicht um die Gestaltung der Verkehrssituation, sondern ob die gestaltete Verkehrssituation (wozu auch die verkehrspolitischen und verkehrswirtschaftlichen Pläne gehören) und die hieraus entspringenden Interessen des öffentlichen Verkehrs eine Genehmigung verbieten.“67 Auch in der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird der Unterschied zwischen Beurteilungsspielraum und Akzessorietät noch hervorgehoben. Der Gestaltungsspielraum, den das Gericht in Abgrenzung zu den damals anerkannten Fallgruppen des Beurteilungsspielraums für den Rechtsbegriff des „dienstlichen Bedürfnisses“ anerkennt, „ist nicht dem unmittelbaren Urteil über das Vorliegen des dienstlichen Bedürfnisses eigen, sondern tritt bei Vorfragen auf, bei Faktoren, die ihrerseits allerdings das dienstliche Bedürfnis prägen.“68 In der neueren Rechtsprechung gilt Entsprechendes für den vom Bundesverwaltungsgericht angenommenen „verteidigungspolitischen Beurteilungsspielraum“ des Bundesverteidigungsministers.69 Die Gestaltung der Verteidigungspolitik liegt im politischen Ermessen des

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H. Kellner, NJW 1966 (Fn. 41), 857 (863); ders., Neue Erkenntnisse zum sogenannten Beurteilungsspielraum?, DÖV 1972, 801 (807). 66 BVerwGE 1, 92 ff.; s. a. BVerwGE 4, 89 ff.; 6, 108 ff.; 9, 284 ff.; 64, 238 ff.; 79, 208 ff.; 82, 260 ff. 67 D. Jesch, AöR 82 (1957) (Fn. 18), 163 (216 ff.). 68 BVerwGE 26, 65 (76); s. auch BVerwGE 32, 237 (239). 69 BVerwGE 97, 203 (209).

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Ministers. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob konkrete Tiefflüge im Rahmen dieser Politik zwingend erforderlich sind. Allerdings können Fälle der Akzessorietät auch in Kombination mit Einschätzungsprärogativen auftreten. Dies gilt etwa für beamtenrechtliche Beförderungsentscheidungen, bei denen die Ausgestaltung des Stellenprofils und das gerichtlich nicht vollständig reproduzierbare Personalwissen der Behörde zusammentreffen. Ebenso kann sich neben dem verteidigungspolitischen Gestaltungsermessen eine Einschätzungsprärogative des Verteidigungsministers aus verteidigungsrelevantem Wissen ergeben, das gerichtlich nicht vollständig offen gelegt werden kann. Auch § 71 Abs. 5 GWB, der die Beurteilung der „gesamtwirtschaftlichen Lage und Entwicklung“ durch den Bundeswirtschaftsminister im Rahmen der Ministererlaubnis ausdrücklich der gerichtlichen Nachprüfung entzieht,70 dürfte in diesem Sinn zu rekonstruieren sein. Ob mit einem durch das Bundeskartellamt untersagten Zusammenschluss ein „gesamtwirtschaftlicher Vorteil“ verbunden ist, hängt nicht zuletzt davon ab, wie die Wirtschaftspolitik zur Stabilisierung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ausgerichtet ist. Die gesamtwirtschaftliche Vorteilhaftigkeit ist in hohem Maße akzessorisch zu den wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Regierung. Zudem verfügt die Regierung über ein gesamtwirtschaftliches Wissen, das in Bezug auf den holistischen Charakter des „gesamtwirtschaftlichen Vorteils“ im gerichtlichen Verfahren kaum vollständig rekonstruiert werden kann.71 In den Kombinationsfällen müssen sich beide Elemente des Letztentscheidungsrechts der Exekutive vor der Verfassung rechtfertigen. Ihre Grundlage haben die der Rechtsanwendung vorgelagerten politischen Gestaltungbefugnisse der Exekutive häufig in der verfassungsrechtlichen Zuordnung politischer Leitentscheidungen zur Regierung, die auch die politische Verantwortung trägt.72 Dies erklärt, warum auch Vertreter der normativen Ermächtigungslehre beobachten, dass die anerkannten

70 Auch soweit der Beurteilungsspielraum nicht auf die politische Leitentscheidung des Ministers beschränkt wird – so aber etwa H. Soell, Das Ermessen der Eingriffsverwaltung, Heidelberg 1973, S. 60; H.-J. Bunte, Nochmals: Rechtsfragen zur Ministererlaubnis nach § 42 GWB, BB 2002, 2393 (2401) –, wird eine Ausdehnung des Beurteilungsspielraums auf die Entscheidung der Kartellbehörde bezeichnender Weise mit der politischen Entscheidungsmöglichkeit des Ministers begründet, K. Schmidt, in: U. Immenga/E.-J. Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, 4. Auflage 2007, § 71, Rn. 38 und 44. 71 Bei der anderen Bestimmung, die der Verwaltung ausdrücklich einen Beurteilungsspielraum einräumt, § 10 Abs. 2 Satz 2 TKG, stellt der Gesetzgeber auf den überlegenen Sachverstand der Regulierungsbehörde bei der Beurteilung der Telekommunikationsmärkte ab, BVerwGE 129, 27 (33); 131, 41 (48). Hinzu kommt die Einbindung der Regulierungsentscheidungen in einen unionsrechtlichen Regulierungsverbund, der sich über die nationalen Gerichtsbarkeiten nicht effektiv koordinieren lässt und insoweit unionsrechtlich zu einem begrenzten Letztentscheidungsrecht der Regulierungsbehörden zwingt, BVerwGE 131, 41 (45 ff.). 72 Andere verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte sind etwa die Organisationsgewalt der Exekutive oder die kommunale Selbstverwaltungsgarantie.

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Gestaltungsspielräume häufiger werden, „je deutlicher die Begriffsumsetzung von der Vollzugsebene auf die Regierungsebene verlagert ist.“73 4. Grenzen des Beurteilungsspielraums Die bei der besonderen funktionalen Qualifikation der Rechtsprechung ansetzende Legitimation des Beurteilungsspielraums erklärt auch dessen Grenzen, die sich ebenfalls weder aus der Unbestimmtheit noch aus einer zumeist ohnehin fiktiven74 Ermächtigung ableiten lassen. Vor der Wyhl-Entscheidung war auch das Vorsorgekonzept unbestimmt und wurde durch das Bundesverwaltungsgericht in Abgrenzung zur polizeirechtlichen Gefahrenabwehr im Sinn des Besorgnispotentials dogmatisch fortentwickelt.75 Wäre die Ermächtigung auf der Grundlage rechtlicher Unbestimmtheit der Grund für die Einräumung eines Beurteilungsspielraums, so hätte er sich auf die dogmatische Fortentwicklung des Vorsorgekonzepts erstrecken müssen. Dies liegt aber weder der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde, noch wird es von irgendeiner Konzeption des Beurteilungsspielraums gefordert. Vielmehr beschränken sich Beurteilungsspielräume und Einschätzungsprärogativen gerade auf diejenigen Aspekte der Rechtsanwendung, in denen die Verwaltung der Rechtsprechung ausnahmsweise überlegen ist. Dem entspricht auch der Kontrollrahmen, den die Rechtsprechung in Fällen eines Beurteilungsspielraums oder einer Einschätzungsprärogative festsetzt. Die Ausfüllung des Beurteilungsspielraums wird darauf überprüft, ob sie den dogmatischen Rahmen einhält, den die Rechtsprechung für einen unbestimmten Rechtsbegriff entwickelt hat, und ob die Bedingungen gewahrt worden sind, die einzelne Aspekte der Rechtsanwendung durch die Verwaltung ausnahmsweise überlegen erscheinen lassen. Dies zeigt sich auch an den beiden dogmatischen Figuren, mit denen die Rechtsprechung sachverständige Einschätzungsprärogativen der Verwaltung dogmatisch einbindet. Bis heute76 bedient sich die Rechtsprechung der im Voerde-Urteil77 aner-

73 Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverantwortung (Fn. 39), S. 539 (551); vgl. auch C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 165, aus grundrechtlicher Perspektive. 74 Etwa F. Ossenbühl, Gedanken zur Kontrolldichte in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, in: B. Bender/K. Redeker (Hrsg.), Rechtsstaat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz, 1993, S. 55 (64); ders., Rechtliche Gebundenheit und Ermessen der Verwaltung, in: H.-U. Erichsen/D. Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Auflage 2002, § 10, Rn. 33; C. Koenig, Zur gerichtlichen Kontrolle sogenannter Beurteilungsspielräume im Prüfungsrecht, VerwArch 83 (1992), 351 (367); konkret zur Unergiebigkeit des Ermächtigungsgedankens für Normen zu Prognoseentscheidungen T. Schwabenbauer/M. Kling, VerwArch 101 (2010) (Fn. 56), 231 (250). 75 BVerwGE 72, 300 (315). 76 BVerwG, U. v. 16. 10. 2008, 3 C 23.07, juris Rn. 16; NJW 2009, 3593 (3596); vgl. auch für private Regelwerke BVerwG, B. v. 7. 5. 2007, 4 B 5.07, juris Rn. 4.

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kannten Figur des „antizipierten Sachverständigengutachtens“ oder „allgemeinen Erfahrungssatzes“78 und überprüft das Verwaltungsverfahren besonders darauf, ob die – in der Rechtsprechung dogmatisch konkretisierten – gesetzlichen Wertungen beachtet, die besonderen Verfahren zur Ermittlung der Erkenntnisse der Wissenschaft und Technik eingehalten und die tatsächlichen Annahmen aufgrund von Erkenntnisfortschritten nicht überholt sind.79 Dort, wo die Verwaltung unter vergleichbaren Voraussetzungen auf der Grundlage der sachverständigen Erkenntnisse und Wertungen Verwaltungsvorschriften erlassen hat, erkennt die Rechtsprechung normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften an, die aber für die Gerichte auch nur eine abgeschwächte Bindungswirkung entfalten und ebenfalls darauf überprüft werden können, ob die – in der Rechtsprechung dogmatisch konkretisierten – gesetzlichen Wertungen beachtet, die Verfahren zur Ermittlung der Erkenntnisse der Wissenschaft und Technik eingehalten und die tatsächlichen Annahmen aufgrund von Erkenntnisfortschritten nicht überholt sind.80 Die Kontrolle des Beurteilungsspielraums richtet sich nicht nach der dogmatischen Figur, mit der er in das Verwaltungsrecht eingeführt wird, sondern orientiert sich an den Bedingungen, die eine funktionale Überlegenheit einzelner Aspekte der Rechtsanwendung durch die Verwaltung gewährleisten. 5. Entbehrlichkeit der Ermächtigungsfiktion Der hier vertretene Ansatz zeigt ferner die Entbehrlichkeit der Ermächtigungsfiktion, mit der die Lehre von der normativen Ermächtigung operiert. Der von der normativen Ermächtigungslehre implizierte Legitimationszusammenhang von rechtlicher Unbestimmtheit, Ermächtigung und Beurteilungsspielraum besteht nicht. Die Vertreter der normativen Ermächtigungslehre werden zwar nicht müde zu betonen, dass aus der Unbestimmtheit eines Rechtsbegriffs noch kein Beurteilungsspielraum folge, dass zu dem negativen Aspekt der Unbestimmtheit noch der positive der gesetzlichen Ermächtigung hinzutreten muss. Doch es scheint so, als müsse zu dem negativen Aspekt der Unbestimmtheit nur noch der positive der gesetzlichen Ermächtigung hinzukommen, um einen Beurteilungsspielraum nicht nur anzunehmen, son-

77 BVerwGE 55, 250 ff.; in der Literatur vorbereitet besonders durch R. Breuer, Die rechtliche Bedeutung der Verwaltungsvorschriften nach § 48 BImSchG im Genehmigungsverfahren, DVBl. 1978, 28 ff. 78 Zu der beweisrechtlichen Einordnung i.E. W. Skouris, Grundfragen des Sachverständigenbeweises im Verwaltungsverfahren und im Verwaltungsprozess, AöR 107 (1982), 216 (233); C. Gusy, NuR 1987 (Fn. 61), 156 (159 f.). 79 BVerwGE 55, 250 (258); BVerwG, NJW 2009, 3593 (3596). 80 BVerwGE 72, 300 (321 f.); BVerwG, NVwZ 1988, 824 (825 f.), in der die Frage nach einer Änderung des Kontrollmaßstabs für die nunmehr als normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift beurteilte TA-Luft offen gelassen wird; ebenso BVerwG, B. v. 21. 03. 1996, 7 B 165/95, juris Rn. 13; kritisch gegenüber einer Herabstufung des Kontrollanspruchs in BVerfG, NJW 2002, 1638 (1939), auf evidente Überholung der zugrundeliegenden Erkenntnis M. Hochhuth, Zur Normativen Verpflichtungslehre im Immissionsschutzrecht, JZ 2004, 283 (288).

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dern auch zu legitimieren.81 Danach könnte der Gesetzgeber der Verwaltung überall dort, wo das Recht unbestimmte Rechtsbegriffe vorsieht, Beurteilungsspielräume einräumen. Die Unbestimmtheit legitimiert zwar nicht mehr unmittelbar einen Beurteilungsspielraum der Verwaltung, aber den Gesetzgeber zu dessen Einräumung.82 Dass auch eine solche Position weder mit dem Grundsatz der funktionsadäquaten Aufgabenwahrnehmung noch mit einem richtig verstandenen Art. 19 Abs. 4 GG, dessen Gebot des gerichtlichen Rechtsschutzes gerade nicht an der Grenze der Unbestimmtheit endet, vereinbar ist, sollte deutlich geworden sein. Weder Unbestimmtheit noch Ermächtigung legitimieren Beurteilungsspielräume. Dies liegt nicht daran, dass die „normative Ermächtigung“ durch den Gesetzgeber in fast allen anerkannten Fällen des Beurteilungsspielraums eine Fiktion ist, sondern daran, dass weder die Unbestimmtheit noch eine Ermächtigung durch den Gesetzgeber noch eine Kombination von beiden eine verfassungsrechtliche Grundlage eines Beurteilungsspielraums oder einer Einschätzungsprärogative geben können. Ob ein Beurteilungsspielraum oder eine Einschätzungsprärogative vor Art. 19 Abs. 4 GG gerechtfertigt werden kann, entscheidet nicht ein fiat des an Art. 19 Abs. 4 GG gebundenen Gesetzgebers. Der an Art. 19 Abs. 4 GG gebundene Gesetzgeber kann sich nicht am Schopf der gesetzlichen Ermächtigung aus der grundrechtlichen Bindung ziehen.83 Die Legitimation eines Beurteilungsspielraums richtet sich vielmehr danach, ob ausnahmsweise die Verwaltung der Rechtsprechung hinsichtlich einzelner Aspekte der Rechtsanwendung funktional überlegen ist und damit eine von Art. 19 Abs. 4 GG vorausgesetzte Bedingung gerichtlicher Kontrolle ausnahmsweise für einzelne Aspekte der Rechtsanwendung entfällt. Dabei liegt ein institutioneller Schutz der Rechtsschutzgarantie auch darin, dass letztlich die Rechtsprechung selbst darüber entscheidet, ob die Voraussetzungen vorliegen, die eine Rücknahme ihrer Kontrolle rechtfertigen. 81

So ausdrücklich unter Zurückweisung jeglicher Schranken aus Art. 19 Abs. 4 GG nun Nell, Beurteilungsspielraum (Fn. 46), S. 193 ff., der darin den richtigen Kern der normativen Ermächtigungslehre sieht. 82 Etwa M. Herdegen, Beurteilungsspielraum und Ermessen im strukturellen Vergleich, JZ 1991, 747 (751); Jestaedt, Maßstäbe des Verwaltungshandelns (Fn. 28), Rn. 38. Problematisch werden für die normative Ermächtigungslehre dann allerdings die Grenzen der Ermächtigungskompetenz des Gesetzgebers, da die Unbestimmtheit des Rechts ubiquitär ist. Soweit sich insoweit überhaupt Überlegungen finden, kommt es über die Grenzen der Ermächtigungskompetenz – „sachliche Gründe“, Jestaedt, ebd. Rn. 37 – zum Re-entry der funktionalen Gesichtspunkte. Die Redundanz der Ermächtigungsfiktion wird dann vollständig offenbar, wenn wegen der fehlenden gesetzlichen Anhaltspunkte zur Ermittlung der Ermächtigung bei der „Interpretation“ des Normmaterials auch auf funktionale Gesichtspunkte zurückgegriffen werden soll, Jestaedt, ebd. Rn. 35. Grund und Grenze des Beurteilungsspielraums ergeben sich auch nach der normativen Ermächtigungslehre letztlich aus funktionalen Überlegungen. Die Ermächtigung hat lediglich ornamentale Funktion. 83 Entgegen Herdegen, Beurteilungsspielraum (Fn. 82), 747 (751), spricht das Münchhausen-Argument gegen die normative Ermächtigungslehre. In der Märchen-Metaphorik erscheint die normative Ermächtigungslehre mit ihrer petitio in der Legitimationsfrage und dem fiktiven Charakter der Ermächtigungen als Hybrid aus der Münchhausen-Erzählung und „Des Kaisers neue Kleider“.

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Zum Teil ergibt sich eine partielle Überlegenheit der Verwaltung bei der Tatsachenfeststellung bereits aus der Natur der Sache, ohne dass es insoweit auf den gesetzlichen Rahmen ankommt. Dies gilt etwa für nicht wiederholbare Prüfungssituationen oder Langzeiterfahrungen etwa im Beamtenrecht. Doch auch im Übrigen kann der Gesetzgeber die Verwaltung nicht einfach zur Letztentscheidung über die Rechtsanwendung ermächtigen. Er kann jedoch durch die Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens und die Ausgestaltung der an ihm beteiligten Institutionen dazu beitragen, dass die Verwaltung der Rechtsprechung hinsichtlich einzelner Aspekte der Rechtsanwendung ausnahmsweise tatsächlich überlegen ist. Wenn der Gesetzgeber die Bewertung von Kunst über die Einrichtung entsprechender Gremien an den Lebensbereich zurückgibt, der vor staatlichen Wertungen weitgehend geschützt werden soll, dann schafft er die Bedingungen für die Anerkennung eines Beurteilungsspielraums. Wenn der Gesetzgeber in wissenschaftlich-technischen Fragen, die sich nicht durch konsolidiertes Expertenwissen mit den üblichen prozessualen Mitteln besonders des Sachverständigenbeweises zuverlässig klären lassen, im Rahmen des Verwaltungsverfahrens die Einbeziehung von Expertenwissen in einer Art und Weise organisiert, die den Möglichkeiten des gerichtlichen Verfahrens überlegen ist und eine vergleichbare Unparteilichkeit gewährleistet, kann dies insoweit einen Beurteilungsspielraum der Verwaltung legitimieren. Der Gesetzgeber kann Beurteilungsspielräume nicht dekretieren, sondern muss sich ihren Einsatz in besonderen Konstellationen durch besondere Vorgaben für das Verwaltungsverfahren verdienen.

Vertragsnaturschutz in FFH-Gebieten: Ein Spagat zwischen beihilfe- und naturschutzrechtlichen Anforderungen Von Eckard Rehbinder, Königstein I. Einleitung Soweit nicht bereits bestehende Naturschutz- oder Landschaftsschutzgebiete als FFH-Gebiete ausgewiesen werden, erfolgt die Ausweisung von FFH-Gebieten in den meisten Bundesländern durch gebietsbezogene Sammelverordnungen (oder auch Sammelverwaltungsvorschriften) und ihr Schutzregime wird nicht ordnungsrechtlich ausgestaltet, sondern beruht auf Vereinbarungen im Rahmen des Vertragsnaturschutzes.1 Darin manifestiert sich ein bedeutsamer Wandel in der Wahl der Instrumente des Umweltschutzes, der allerdings nicht ohne Probleme ist. Das Instrument des Vertragsnaturschutzes wird überwiegend gewählt, um eine Finanzierung als Agrarumweltmaßnahme im Rahmen der EU-Verordnung über die ländliche Entwicklung (VO Nr. 1698/2005, geändert durch VO Nr. 74/2009 – ELER-VO) zu ermöglichen, zum Teil aber auch aus Akzeptanzgründen. Dabei entsteht jedoch ein potenzieller Konflikt zwischen den beihilferechtlichen Anforderungen, nämlich dem Erfordernis der Zusätzlichkeit nach Art. 39 Abs. 3 ELER-VO, das nach Art. 88 Abs. 4 ELER-VO auch bei rein nationaler Förderung gilt, und den Mindestanforderungen nach Art. 6 Abs. 2 und 3 der FFH-Richtlinie. Zusätzlichkeit bedeutet, dass keine Maßnahmen finanziert werden können, zu denen der Landwirt bereits ordnungsrechtlich verpflichtet ist. Art. 6 FFH-Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Ausweisung von FFH-Gebieten, überlässt die Ausgestaltung des Schutzregimes jedoch weitgehend dem nationalen Recht. In welchem Umfang die Richtlinie eine ordnungsrechtliche Ausgestaltung gebietet, ist zweifelhaft, aber für die Förderfähigkeit – nicht nur als Agrarumweltmaßnahme, sondern auch als rein nationale Maßnahme – von ausschlaggebender Bedeutung. Die Problematik ist auf der Grundlage des

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Hier wird ein weiter Begriff des Vertragsnaturschutzes verwandt, der auch produktionsbezogene Maßnahmen der Agrarumweltprogramme, z. B. Förderung der Extensivierung der landwirtschaftlichen Nutzung, umfasst. Für eine engere Definition Windstoßer, Vertragsnaturschutz – Ein Verwaltungsinstrument mit ungewisser Zukunft?, 2008, S. 21 ff.; von dem Bussche, Vertragsnaturschutz in der Verwaltungspraxis, 2001, S. 38.

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bisherigen Naturschutzrechts bereits diskutiert worden,2 wirft jedoch nach dem Bundesnaturschutzgesetz 2010 neue Fragen auf, denen im Folgenden nachgegangen werden soll. II. Beihilferechtliche Anforderungen an den Vertragsnaturschutz in FFH-Gebieten 1. Das Erfordernis der Zusätzlichkeit Zu den wesentlichen Elementen der schrittweisen Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik der EG bzw. EU gehört auch die Herausbildung einer „zweiten Säule“, die der Finanzierung von Maßnahmen der ländlichen Entwicklung dient. Sie ist heute in der Verordnung Nr. 1698/2005 (ELER-VO), geändert durch die Verordnung Nr. 74/2009, geregelt. Art. 36 Buchst. a Ziff. iv in Vbg. mit Art. 39 ELERVO sieht Beihilfen für Agrarumweltmaßnahmen (AUM) für Landwirte vor, die freiwillig eine Agrarumweltverpflichtung eingehen. Dabei werden die Anforderungen der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen (Cross Compliance) aus der ersten Säule der Direktzahlungen mit bestimmten Modifikationen auch auf die zweite Säule der Agrarbeihilfen erstreckt. Nach Art. 39 Abs. 3 ELER-VO muss es sich zunächst um Verpflichtungen handeln, die über die Grundanforderungen des Umwelt- und Tierschutzes sowie der Lebensmittelsicherheit für direkte Einkommensbeihilfen der „ersten Säule“ hinausgehen, die in den Art. 4 und 5 und den Anhängen III und IV der bisherigen Direktzahlungen-VO (VO Nr. 1783/2003) festgelegt sind; weiterhin ist die Einhaltung von Grundanforderungen für die Anwendung von Düngemitteln und Pflanzenschutzmitteln erforderlich („Zusätzlichkeit“). Außerdem müssen die geförderten Landwirte unabhängig von der AUM-Förderung in ihrem sonstigen Betrieb die normalen CCAnforderungen einhalten (Art. 50a ELER-VO)3. Man kann das Erfordernis der Zusätzlichkeit auch als Cross Compliance i.w.S., die allgemeinen Anforderungen nach Art. 50a ELER-VO als Cross Compliance i. e.S. bezeichnen. Wichtig ist, dass nach Art. 88 Abs. 4 ELER-VO das Erfordernis der Zusätzlichkeit auch dann gilt, wenn die Förderung nicht im Rahmen der Agarumweltprogramme, sondern rein national erfolgt (Vertragsnaturschutz i. e.S.).4 Zu den maßgeblichen Anforderungen gehören insbesondere die Anforderungen nach den Art. 6, 13, 15 und 22 Buchst. b FFH-

2 Rehbinder, ZUR 2008, 178, 179 ff.; mit Betonung der Rechtsformen der Ausweisung von FFH-Gebieten Niederstadt, NVwZ 2008, 126; D. Czybulka, EurUP 2008, 181; Czybulka/ Kampowski, EurUP 2009, 180. 3 Insoweit gelten die CC-Anforderungen der neuen Direktzahlungen-VO (VO Nr. 73/2009). Die Regelung gilt nicht für landwirtschaftliche Flächen, für die überhaupt keine Förderung in Anspruch genommen wird. 4 Zu der nach Art. 88 Abs. 1 ELER-VO ausdrücklich vorbehaltenen Anwendbarkeit der Art. 107, 108 AEUV (ex-Art. 87, 88 EGV) auf rein nationale Maßnahmen siehe Windstoßer, oben Fn. 1, S. 123 ff., insbesondere S. 138, 149 f.

Vertragsnaturschutz in FFH-Gebieten

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Richtlinie und Art. 3, 4 Abs. 1, 2 und 4 sowie Art. 5, 7 und 8 VS-Richtlinie (Art. 4 in Vbg. mit Anh. III Direktzahlungen-VO a.F.). Allerdings setzt eine Förderung als Agrarumweltmaßnahme oder als rein nationaler Vertragsnaturschutz voraus, dass es sich um eine zusätzliche Verpflichtung handelt. Dies ist hinsichtlich der FFH-Richtlinie nicht zweifelsfrei. Man könnte die Auffassung vertreten, dass die Umsetzung der FFH-Richtlinie wegen der zwingenden Natur der gesetzlichen Regelung in jedem Fall zum Mindestbestand der Cross Compliance gehört, auch wenn als Mittel der Umsetzung nicht das Ordnungsrecht, sondern vertragliche Instrumente eingesetzt werden. Diese Argumentation ist jedoch nicht überzeugend. Die Umsetzung der FFH-Richtlinie gehört trotz der zwingenden Natur der gesetzlichen Regelung insoweit nicht zum Mindestbestand der Cross Compliance, als für die Umsetzung nicht das Ordnungsrecht, sondern vertragliche Instrumente eingesetzt werden. Das Institut der Cross Compliance stellt nicht auf Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, sondern auf solche der Landwirte als Empfänger der finanziellen Förderung ab. Es muss sich um obligatorische Grundanforderungen für die landwirtschaftliche Tätigkeit handeln, die in den einschlägigen EU-Vorschriften oder ggf. einzelstaatlichen Rechtsvorschriften festgelegt sind. Art. 1 Buchst. l und Art. 6 Abs. 1 FFH-Richtlinie eröffnen den Mitgliedstaaten aber in bestimmtem Umfang die Option, auf Rechtsvorschriften zu verzichten und das FFH-Regime mit vertraglichen Mitteln umzusetzen. Davon hat das Bundesnaturschutzgesetz in § 32 Abs. 4 Gebrauch gemacht. Wenn und soweit auf eine ordnungsrechtliche Umsetzung verzichtet wird (und EU-rechtlich verzichtet werden kann), greift auch der Förderungstatbestand des Art. 39 ELER-VO ein; die Einschränkung des Art. 39 Abs. 3 ELER-VO gilt nicht.5 Dies gilt insbesondere, wenn und soweit Anforderungen, die einer Verschlechterung des Gebiets (Art. 6 Abs. 2 FFH-Richtlinie, § 33 BNatSchG) entgegenwirken sollen, nicht mit den Mitteln des Ordnungsrechts, sondern in vertraglicher Form umgesetzt werden. Auch bloße Eingriffsermächtigungen, die den Vertragsnaturschutz flankieren, für sich sind noch nicht Bestandteil der Cross Compliance, sondern erst bei ihrer Ausübung. Zweifelhaft könnte allerdings sein, ob nicht die FFH-Verträglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 3 FFH-Richtlinie, § 34 BNatSchG zwingend dazu führt, die FFH-Richtlinie insgesamt stets als Teil der Cross Compliance anzusehen. Dies hätte im Hinblick darauf, dass die FFH-Verträglichkeitsprüfung von der europäischen Rechtsprechung6 durch extensive Auslegung des Vorhabenbegriffs stark ausgeweitet worden ist, erhebliche Konsequenzen. Es ist insbesondere daran

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Rehbinder, ZUR 2008, 178, 180 f.; von Münchhausen/Knickel/Rehbinder/Güthler/Rimpau/Metea, Gemeinsame Agarpolitik (GAP): Cross Compliance und Weiterentwicklung von Agrarumweltmaßnahmen, 2009, S. 54 f., 55 ff. 6 EuGH, Slg. 2004 I 7405 Tz. 26 – Herzmuschelfischerei = NuR 2004, 788; Slg. 2005 I 9017 Tz. 44, 54 – Kommisssion/Großbritannien = NuR 2006, 494; Slg. 2006 I 53 Tz. 40 – 44 – Kommission/Deutschland = NuR 2006, 166; kritisch Baum, NuR 2006, 145 (149).

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zu erinnern, dass der EuGH7 es ablehnt, Vorhaben im Hinblick auf ihre geringe Größe und ihre begrenzten Auswirkungen von der präventiven Prüfung auszunehmen, weil nach Art. 6 Abs. 3 FFH-Richtlinie auch eine Überprüfung der kumulativen Wirkungen zusammen mit anderen Vorhaben erfolgen muss. Gleichwohl muss es für die FFH-Verträglichkeitsprüfung aus pragmatischen Gründen Grenzen geben, die allerdings nicht ohne weiteres beim Vorhabenbegriff, sondern auch beim Ausschluss eines Gefährdungspotenzials ansetzen können. Würde man normale landwirtschaftliche Aktivitäten unter dem Gesichtspunkt möglicher kumulativer Effekte generell als potenziell habitatschädlich ansehen, so müssten in allen FFH-Gebieten eigentlich flächendeckend und ständig neu bei jeder Änderung der Kultur, der Art und Zeit der Bodenbearbeitung, des Ausbringens von Dünger und Pflanzenschutzmitteln oder der Beweidung präventive FFH-Verträglichkeitsprüfungen durchgeführt werden und man dürfte nicht auf den nachträglichen Einsatz des Verschlechterungsverbots warten. Eine derartige Ausweitung der FFH-Verträglichkeitsprüfung widerspräche jedoch dem Sinn der Regelung des Art. 6 Abs. 3 FFH-Richtlinie. Auch wenn man dies anders sieht, so handelt es sich bei der FFH-Verträglichkeitsprüfung zunächst um ein Verfahrensinstrument der Präventivkontrolle, das künftigen Verschlechterungen entgegenwirken soll, nicht um eine materiellrechtliche Pflicht der Landnutzer. Eine Missachtung der betreffenden Verfahrensanforderungen stellt nur eine formelle Illegalität dar. Eine materielle Pflicht entsteht nach § 34 Abs. 2 BNatSchG erst, wenn die Prüfung ergibt, dass das Vorhaben zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Schutzgebiets führen kann. Erst die hieran anknüpfende Unzulässigkeit des Vorhabens kann daher zur Cross Compliance gehören. Es steht beihilferechtlich nichts im Wege, durch Maßnahmen des Vertragsnaturschutzes eine FFHVerträglichkeitsprüfung überflüssig zu machen oder eine Situation zu schaffen, dass diese positiv ausgeht. Insgesamt führt daher das Erfordernis der Zusätzlichkeit nach Art. 39 Abs. 3 ELER-VO nicht zwingend dazu, dass eine Förderung im Wege der AUM oder sonst wie des Vertragsnaturschutzes beihilferechtlich unzulässig ist. Vielmehr gibt es hier erhebliche Spielräume für eine solche Förderung, die der Mitgliedstaat durch entsprechende Gestaltung seiner Gesetzgebung zur Umsetzung der FFH-Richtlinie nutzen kann. 2. Verhältnis zwischen Agrarumweltmaßnahmen und FFH-Ausgleich Art. 36 Buchst. a Ziff. iii i.V.m. Art. 38 ELER-VO sieht auch Beihilfen im Rahmen von Natura 2000 zum Ausgleich von Kosten und Einkommenseinbußen vor, die den Landwirten durch die Umsetzung der FFH- und VS-Richtlinie entstehen.

7 EuGH, Slg. 2007, I-10947 Rn. 244 f. – Kommission/Irland = NuR 2008, 101; Herzmuschelfischerei, oben Fn. 6, Rn. 45.

Vertragsnaturschutz in FFH-Gebieten

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Da die Beihilfehöchstbeträge in den beiden Programmen unterschiedlich sind, ist es für die Attraktivität des Vertragsnaturschutzes in FFH- und Vogelschutzgebieten von besonderer Bedeutung, in welchem Verhältnis die beiden Regelungen in diesen Gebieten stehen und nach welchen Regeln Vertragsnaturschutz (i.w.S.) durchgeführt werden kann. Art. 38 ELER-VO enthält keine ausdrückliche Aussage darüber, ob es sich beim FFH-Ausgleich nur um den Ausgleich von Kosten und Einkommenseinbußen handelt, die bei ordnungsrechtlicher Umsetzung entstehen, oder ob auch Maßnahmen des Vertragsnaturschutzes erfasst werden. Allerdings stellt die Regelung auch nicht auf die Rechtsform der Schutz- und Erhaltungsmaßnahmen nach der FFHRichtlinie ab. Nach Art. 6 Abs. 1 FFH-Richtlinie können die für die besonderen Schutzgebiete gebotenen Schutz- und Erhaltungsmaßnahmen Bewirtschaftungspläne und geeignete Maßnahmen rechtlicher, administrativer oder vertraglicher Art sein. Ein umfassender ordnungsrechtlicher Ansatz ist für die Umsetzung der FFH-Richtlinie also nicht vorgesehen. Art. 38 ELER-VO gilt daher nach Wortlaut und Sinn für alle Nutzungseinschränkungen durch die Umsetzung der FFH-Richtlinie. Es ist nicht erheblich, ob sie ordnungsrechtlicher oder vertraglicher Art sind. Das gleiche ist nach Art. 7 FFH-Richtlinie für Vogelschutzgebiete nach dem entsprechenden Regimewechsel anzunehmen. Andererseits ist der FFH-Ausgleich nach Art. 38 ELER-VO im Verhältnis zu den Agrarumweltmaßnahmen nach Art. 39 ELER-VO auch nicht exklusiv. Jede der beiden Vorschriften ist zum Teil spezieller, zum Teil genereller ist als die jeweils andere. Art. 38 ELER-VO ist hinsichtlich der Gebietskulisse spezieller als Art. 39 ELERVO. Hinsichtlich der Art der förderungsfähigen Maßnahmen verhält es sich umgekehrt. Während es im FFH-Ausgleich nicht darauf ankommt, ob die Maßnahmen ordnungsrechtlicher oder vertraglicher Natur sind, beschränkt sich Art. 39 ELER-VO auf freiwillige Maßnahmen und ist insofern spezieller als Art. 38 ELER-VO. Mangels Anhaltspunkten in der ELER-VO für die Vorzugswürdigkeit des einen oder anderen die Spezialität begründenden Merkmals ist von einer parallelen Anwendbarkeit beider Regelungen nach Wahl des Mitgliedstaates bzw. Bundeslandes und nicht von Exklusivität des Art. 38 ELER-VO auszugehen. Diese Auslegung wird von Art. 27 Abs. 6 ELER-Durchführungs-VO (VO Nr. 1974/2006) gestützt. Aus der Vorschrift ergibt sich, dass AUM in FFH-Gebieten zulässig sind. Es wird festgelegt, dass bei der Förderung den jeweils geltenden Bedingungen – gemeint sind wohl die naturräumlichen Bedingungen – Rechnung zu tragen ist. Dies dürfte wegen der weitgehenden Gleichstellung auch für den rein nationalen Vertragsnaturschutz gelten.8 Nach alledem ist daher davon auszugehen, dass hinsichtlich des Vertragsnaturschutzes Art. 38 und 39 ELER-VO nebeneinander stehen.

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In letzterem Fall gelten, wie dargelegt, die Bindungen des Art. 88 Abs. 4 ELER-VO.

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Unter naturschutzfachlichen Gesichtspunkten ist der Vertragsnaturschutz (AUM) überlegen, weil der FFH-Ausgleich aufgrund des geringen Fördersatzes niedriger und daher weniger attraktiv ist und im Übrigen nicht individuell ausgestaltet werden kann. Er dient damit mehr als bloßer Anreiz für die Aufrechterhaltung der Landwirtschaft in diesen Gebieten. Es kommt hinzu, dass die Förderungssätze beim FFH-Ausgleich zwar niedriger sind als im AUM-Programm, ersterer jedoch flächendeckend angeboten werden muss. Letztlich entscheidet wohl erst der Einzelfall, welches Programm für das betreffende Bundesland, das einen Teil der Finanzierungslast zu tragen hat, teurer ist. Eine einheitliche Praxis der Bundesländer hierzu hat sich bisher nicht entwickelt. AUM und/oder Vertragsnaturschutz außerhalb des AUM-Programms werden jedoch in den meisten Bundesländern in FFH-Gebieten eingesetzt.9 III. Naturschutzrechtliche Zulässigkeit des Vertragsnaturschutzes in FFH-Gebieten 1. Gleichwertigkeit des Vertragsnaturschutzes? Es stellt sich nunmehr die Frage, inwieweit ein vertraglicher Naturschutz anstelle einer ordnungsrechtlichen Unterschutzstellung in FFH-Gebieten nach Naturschutzrecht überhaupt zulässig ist. Diese Frage wird trotz der auf grundsätzliche Zulässigkeit hindeutenden Formulierungen in Art. 6 Abs. 1. sowie Art. 1 Buchst. l FFH-Richtlinie und § 32 Abs. 4 BNatSchG (§ 33 Abs. 3 BNatSchG a.F.) kontrovers diskutiert. Zum Teil wird im Hinblick auf das Erfordernis der Gleichwertigkeit eine sehr skeptische Haltung gegenüber vertraglichem Naturschutz in FFH-Gebieten vertreten. Dabei wird freilich nicht immer deutlich zwischen einer völligen Ersetzung des ordnungsrechtlichen Schutzes durch Vertragsnaturschutz (verordnungsvertretender Vertragsnaturschutz) und einer Instrumentenkombination (verordnungsergänzenderoder verordnungsverwirklichender Vertragsnaturschutz)10 unterschieden. Der Vertragsnaturschutz soll danach grundsätzlich nicht gleichwertig sein und in FFH-Gebieten und Vogelschutzgebieten nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen.11 Als Begründung wird insbesondere angeführt, der Vertragsnaturschutz vermöge den in FFH- und Vogelschutzgebieten gebotenen strengen Schutz nicht zu gewährleisten. Besondere Nachteile vertraglicher Lösungen sieht man darin, dass Verträge keinen flächendeckenden Schutz ermöglichten, sie nicht gegenüber Dritten wirkten, insbesondere also das Betretungsrecht nicht auszuschließen vermöchten, sie keine Vor-

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SRU, Umweltschutz im Zeichen des Klimawandels, Umweltgutachten 2008, Tz. 412. Vgl. hierzu Windstoßer, oben Fn. 1, S. 71 ff.; ferner Proelss/Blanke-Kießling, NVwZ 2010, 985 (987 f.). 11 Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl., 2004, § 11 Rn. 178; Rödiger-Vorwerk, 1998, S. 95; Müller-Terpitz, NVwZ 1999, 28; Fischer-Hüftle, ZUR 1999, 66 (68); Thum, NuR 2006, 687 (688). 10

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kaufsrechte begründeten und keinen Schutz gegen andere hoheitliche Planungen gewährleisten könnten.12 Indessen wird überwiegend angenommen, dass zwar eine hoheitliche Unterschutzstellung mit einem Grundschutz erforderlich sei. Jedoch könne die ordnungsrechtliche Unterschutzstellung mit je nach Sachlage unterschiedlich ausgestalteten vertraglichen Instrumenten gekoppelt bzw. durch sie ergänzt werden. Dies soll insbesondere für die Umsetzung von Bewirtschaftungsplänen und für Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen in FFH-Gebieten gelten.13 Dieser Auffassung ist uneingeschränkt zu folgen, da ansonsten die eindeutigen Aussagen der Art. 6 Abs. 1 sowie Art. 1 Buchst. l FFH-Richtlinie und § 32 Abs. 4 BNatSchG ignoriert würden.14 Wenn der Gesetzgeber den Vertragsnaturschutz als Vollzugsinstrument neben dem ordnungsrechtlichen Schutz bei Gleichwertigkeit zulässt, so kann man dies nicht dadurch in sein Gegenteil verkehren, dass man die Gleichwertigkeit kategorisch oder auch nur für den Regelfall ablehnt. Diese Einschätzung ist unabhängig von der Neuregelung des Vertragsnaturschutzes in § 3 Abs. 4 BNatSchG. Diese Regelung enthält nur einen verstärkten Prüfungsauftrag, jedoch keinen materiellen Vorrang des Vertragsnaturschutzes15 und ist daher als Argument weder in der einen noch in der anderen Richtung verwertbar. Die Gleichwertigkeit ist gegeben, soweit durch Maßnahmen des Vertragsnaturschutzes ein im Lichte der Schutz- und Erhaltungsziele der betreffenden Richtlinien angemessen hohes Schutzniveau gewährleistet ist. Für die Gleichwertigkeit kommt es nicht darauf an, was mit ordnungsrechtlichen Mitteln erreichbar wäre. Entscheidend ist vielmehr, was der Schutzzweck gebietet.16 Dabei besteht ein gewisser behördlicher Beurteilungsspielraum. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass die Behörde grundsätzlich auch die Wahl zwischen verschiedenen Schutzkategorien und entsprechend gestufter Regelungsintensität hätte. Im Übrigen ließe sich selbst bei Zu12 Vgl. Gassner, in Gassner/Bendomir-Kahlo/Schmidt-Räntsch/Schmidt-Räntsch (Hrsg.), Bundesnaturschutzgesetz, 2. Aufl., 2003, § 33 Rn. 17; Louis/Engelke, Bundesnaturschutzgesetz, 2.Aufl., 2000, § 19b Rn. 27; Proelss/Blanke-Kießling, NVwZ 2010, 985 (987 f.). 13 Baum, NuR 2006, 145 (147 f.); ders., NuR 2005, 87 (90 f.); Apfelbacher/Adenauer/Iven, NuR 1999, 63 (67); Freytag/Iven, NuR 1995, 109 (112); Meßerschmidt, Naturschutzrecht, Stand 2010, § 22 Rn. 56, 60; Maaß/Schütte, in: Koch, Umweltrecht, 3. Aufl. 2010, § 7 Rn. 124; Freitag, Die Erhaltung der biologischen Vielfalt in der Bundesrepublik Deutschland auf der Basis europarechtlicher Vorgaben, 1998, S. 106; Louis/Engelke, oben Fn. 12, § 19b Rn. 27; Schumacher, in: Schumacher/Fischer-Hüftle (Hrsg.), Bundesnaturschutzgesetz, 2003, § 22 Rn. 36; E. Gassner, in: Gassner/Bendomir-Kahlo/Schmidt-Räntsch (Hrsg.), oben Fn. 12, § 33 Rn. 16, 18; vgl. auch Gellermann, DVBl. 2004, 1198 (1204), der nunmehr keine grundsätzlichen Einwände gegen Vertragsnaturschutz in FFH-Gebieten geltend macht. 14 Vgl. Begr. zum ursprünglichen Gesetzesentwurf, BT-Drucks. 13/6441, S. 60, wo schon die Idee des Grundschutzes angesprochen wird. 15 Proelss/Blanke-Kießling, NVwZ 2010, 985 (986 ff.). 16 Baum, NuR 2005, 87 (91); in diesem Sinn zu § 3a BNatSchG a.F. wohl auch BVerwG NuR 1998, 37 (38): kein Verweis auf Verträge mit einem Schutzniveau, das niedriger ist, als ordnungsrechtlich zulässig und geboten; missverständlich Schumacher, in: Schumacher/Fischer-Hüftle (Hrsg.), oben Fn. 13, § 33 Rn. 34.

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grundelegung einer bestimmten Schutzkategorie die Gleichwertigkeit nur im Hinblick auf die hypothetischen Einzelregelungen der Schutzverordnung bestimmen,17 hinsichtlich derer ebenfalls Ermessen besteht. Deshalb sind der Behörde Entscheidungsspielräume zuzubilligen.

2. Die EuGH-Rechtsprechung Auch die Rechtsprechung des EuGH zu den rechtlichen Schutzanforderungen in FFH- und Vogelschutzgebieten steht der Einschätzung, dass das FFH-Regime ggf. mittels des Vertragsnaturschutzes umgesetzt werden kann, nicht entgegen. Eine nähere Analyse der Entscheidungen zeigt, dass der EuGH den Vertragsnaturschutz keineswegs kategorisch ablehnt. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang sind die EuGH-Urteile zum Poitou-Sumpfgebiet in Frankreich (zur VS-Richtlinie) und über die Umsetzung der FFH-Richtlinie durch Großbritannien, Irland und Frankreich. Im Urteil über das Poitou-Sumpfgebiet18 betont der EuGH die Notwendigkeit eines rechtlichen Schutzstatus, der geeignet ist, das Überleben, die Vermehrung und die Lebensstätten geschützter Vogelarten sicherzustellen. Die von Frankreich als Schutzmaßnahme angeführten Agrarumweltmaßnahmen hat er nicht als wirksame Ergänzung der Ausweisung des Gebiets als besonderes Schutzgebiet anerkannt, weil sie freiwillig seien und lediglich einen Anreizeffekt für die Landwirte hätten, die im Sumpfgebiet Land bewirtschafteten.19 Aus der Entscheidung lässt sich lediglich entnehmen, dass die Erklärung zu einem besonderen Schutzgebiet mit flankierendem Vertragsnaturschutz nicht ausreicht. Es bedarf vielmehr zusätzlicher ordnungsrechtlicher Elemente, die, wie etwa behördliche Einschreitenspflichten, Schutzdefizite freiwilliger Lösungen ausgleichen. Im Fall „Kommission gegen Großbritannien“20 hat der EuGH die für England, Schottland und Wales geltenden Conservation (Natural Habitats) Regulations 1994 und die entsprechende Verordnung von 1995 für Nordirland zwar wegen der Allgemeinheit der in ihnen vorgesehenen Überwachungs- und Kontrollpflichten beanstandet. Er hat jedoch keine Einwände gegen das Regelungssystem als solches erhoben, das in einer ordnungsrechtlichen Unterschutzstellung durch Verordnung oder besondere Schutzanordnungen im Einzelfall, Bewirtschaftungsvereinbarungen und hoheitlicher Durchsetzung gleichwohl erforderlicher Maßnahmen bestand.21 Der EuGH hat insoweit lediglich die Umsetzung der FFH-Richtlinie in Gibraltar als unzulänglich angesehen. Dort war als einzige Maßnahme zur Verhinderung einer Verschlechterung ausgewiesener Schutzgebiete den Behörden die Befugnis eingeräumt, mit den Grund17 18 19 20 21

Vgl. Thum, NuR 2006, 687 (689). EuGH, Slg. 1999, I-8531 Tz, 23, 26 f. – Poitou-Sümpfe = NuR 2000, 206. Oben Fn. 18, Tz. 22, 26 f. EuGH, Slg. 2005, I-9017 Tz. 35 f. – Kommission/Großbritannien = NuR 2006, 494. Vgl. Baum, NuR 2006, 145 f.

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eigentümern Vereinbarungen abzuschließen. Der EuGH vertrat die Auffassung, dass diese Regelung zur Umsetzung der FFH-Richtlinie nicht ausreiche. Diese Regelung enthalte nur eine Ermächtigung der Behörden ohne rechtlich zwingenden Charakter; erforderlich sei aber eine behördliche Verpflichtung zum Schutz.22 In der Entscheidung im Fall „Kommission gegen Irland“23 hat der Europäische Gerichtshof die Umsetzung des Verschlechterungsverbots durch eine behördliche Verpflichtung, potenziell habitatschädliche Handlungen einem Genehmigungsvorbehalt zu unterwerfen oder ihnen mit Mitteln des Vertragsnaturschutzes entgegenzuwirken, als grundsätzlich zulässig angesehen. Der Gerichtshof hat nur die rechtliche Ausgestaltung im Einzelnen, insbesondere das Fehlen einzelner (nach irischem Recht) konstitutiver Schutzanordnungen und die mangelnde rechtliche Wirkung gegenüber Dritten, bemängelt. Im jüngsten Fall „Kommission gegen Frankreich“24 hat der EuGH die Regelung des Artikels L.414 – 1 Abs. V Code de lenvironnement ebenfalls nicht beanstandet. Diese Regelung sieht keinerlei gesetzliche Verbote vor, sondern verpflichtet die Behörden zu Schutzmaßnahmen, insbesondere zur Verhinderung einer erheblichen Verschlechterung, und entsprechenden Programmen, wobei sich die Behörden in erster Linie der Abstimmung mit den Eigentümern und des Vertragsnaturschutzes bedienen sollen, aber auch zum Mittel der Schutzverfügung greifen können. Allerdings hat der EuGH25 deutlich ausgesprochen, dass eine pauschale Ausnahme von Maßnahmen des Vertragsnaturschutzes, die mit Eingriffen in das Schutzgebiet verbunden sind, vom Erfordernis der FFH-Verträglichkeitsprüfung nicht zulässig ist, da eine Schutzmaßnahme, die einem bestimmten Erhaltungsziel dient, auch schädliche Nebenwirkungen auf andere Erhaltungsziele haben könne. Nimmt man die deutsche Rechtsprechung hinzu, so belegt auch das Urteil des BVerwG zur Moselüberquerung der B 5026 nicht die Unzulässigkeit des Vertragsnaturschutzes in FFH-Gebieten. Zentral ist die Aussage des Gerichts, dass ein Wechsel eines Vogelschutzgebietes in das FFH-Regime nach Art. 7 FFH-Richtlinie die Erklärung zum Schutzgebiet mittels Hoheitsakts (Gesetz, Verordnung, Allgemeinverfügung) voraussetze. Diese Aussage sowie die Betonung der Notwendigkeit konkreter gebietsbezogener Erhaltungsziele grenzt den Einsatz des Vertragsnaturschutzes ein, schließt ihn jedoch nicht aus. 3. Folgerungen Aus alledem ist zu folgern: Abgesehen von Ausnahmefällen wie etwa Gebieten im staatlichen Eigentum sowie im Eigentum von Naturschutzverbänden bedarf es in 22

Oben Fn. 20, Tz. 35 – 38. Slg. 2007, I-10947 Tz. 205 – 208 = NuR 2008, 101. 24 C 241/08 vom 4. 3. 2010, NuR 2010, 261 Tz. 23; zur Ausgestaltung des französischen Rechts im Einzelnen s. Gammenthaler, EurUP 2010, 168. 25 Oben Fn. 24, Tz. 30 – 39. 26 BVerwGE 120, 276 (284 – 287) = NuR 2004, 524. 23

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FFH-Gebieten grundsätzlich eines ordnungsrechtlichen Schutzrahmens. Dazu gehören die hoheitliche Festsetzung als Schutzgebiet, die Festsetzung des Schutzzwecks und von ihm abgeleitet der Erhaltungsziele und im Regelfall gegen Dritte gerichtete Betretungs- und sonstige Beeinträchtigungsverbote.27 Anstelle von Verboten genügt aber entgegen vielfacher Annahme28 auch die Begründung von behördlichen Pflichten zum Schutz der Erhaltungsziele.29 Generelle Verbote sind jedenfalls gegenüber den Landnutzern nicht unbedingt erforderlich.30 Das Verschlechterungsverbot kann insoweit als ein an die Behörden gerichtetes Verbot ausgestaltet werden. Darüber hinaus kann die Konkretisierung der Erhaltungsziele durch Bewirtschaftungspläne und deren Umsetzung ohne weiteres durch vertragliche Vereinbarungen erfolgen. In jedem Fall müssen die Behörden allerdings ermächtigt und verpflichtet sein, die Entwicklung des Schutzgebiets zu kontrollieren und ggf. auch gegen den Willen der Eigentümer und Nutzer die erforderlichen Schutz- und Erhaltungsmaßnahmen zu treffen. Ein solcher Kontrollmaßmechanismus ist auch die FFH-Verträglichkeitsprüfung, die nicht durch den Vertragsnaturschutz verdängt wird (und werden kann). EU-rechtlich zulässig sind also „Mischmodelle“, die aus einem ordnungsrechtlichen Rahmen und Ergänzung durch den Vertragsnaturschutz zusammengesetzt sind.31 Ein solches Mischmodell ist grundsätzlich auch mit § 32 Abs. 4 BNatSchG vereinbar, da diese Vorschrift die Bundesländer ermächtigt, von ordnungsrechtlichen Maßnahmen abzusehen, soweit ein gleichwertiger Schutz durch vertragliche Vereinbarungen erreicht werden kann. Nach dem Wortsinn bedeutet „soweit“ nicht oder nicht nur „wenn“, sondern schließt auch Fälle ein, in denen die im Gesetz genannte Bedingung nur in einem bestimmten Umfang zutrifft. Hiervon geht in der Sache auch das Schrifttum aus, das eine Ergänzung des ordnungsrechtlichen Schutzes von FFHGebieten durch vertragliche Vereinbarungen befürwortet. Das Gesetz gestattet also 27

Vgl. EuGH, Slg. 2005, I-9017 Tz. 35 – 37 – Kommission/Vereinigtes Königreich = NuR 2006, 494; Slg. 2007, I-3787 Tz. 98 – Kommission/Österreich = NuR 2007, 403; Slg. 2002, I5335 Tz. 30 f. – Kommission/Niederlande (Moorschneehühner) = NuR 2002, 672 (Zulässigkeit von behördlichen Erhaltungsplänen); zu Vogelschutzgebieten etwa EuGH, Slg. 1999, I-8531 Rdnr. 23, 26 f. – Kommission/Frankreich = NuR 2000, 206 (gegen ausschließlichen Verlass auf Agrarumweltmaßnahmen); Slg. 2003, I-2202 Rdnr. 18 ff. – Kommission/Belgien = NuR 2004, 516 (Notwendigkeit verbindlicher Gebietsabgrenzung); auch BVerwGE 120, 276 (290) = NuR 2004, 524. 28 Z.B. Schumacher/Fischer-Hüftle, in: dies. (Hrsg.), oben Fn. 13, § 33 Rdnr. 36; Koch/ Krohn, Das Naturschutzrecht im Umweltgesetzbuch, Forum Umweltgesetzbuch, Heft 7, 2008, S. 28 f.; Thum, NuR 2006, 687 (688). 29 Zur Frage einer planungsrechtlichen Sicherung vgl. Louis/Engelke, oben Fn.12, § 19b Rn. 27. 30 EuGH, oben Fn. 20, 23, 24; Baum, NuR 2006, 145 (147 f.); ders., NuR 2005, 87 (90 f.); Rehbinder, ZUR 2008, 178 (180 f., 182); vgl. zur Ausgestaltung des britischen Rechts in dieser Hinsicht Gammenthaler, EurUP 2010, 72 (76 f.). 31 Darüber besteht Einigkeit; vgl. Baum, NuR 2006, 145 (147 f.); ders., NuR 2005, 87 (90 f.); Apfelbacher/Adenauer/Iden, NuR 1999, 63 (67); Gassner, in: Gassner/BendomirKahlo/Schmidt-Räntsch (Hrsg.), oben Fn. 12, § 33 Rdnr. 16, 18; Schmumacher/Fischer-Hüftle, in: dies. (Hrsg.), oben Fn. 13, § 33 Rdnr. 36.

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nicht nur die Wahl zwischen einem reinen ordnungsrechtlichen und einem (praktisch nur in Ausnahmefällen realisierbaren) reinen Vertragsmodell, sondern lässt auch Mischmodelle zu. Um den Anforderungen der FFH-Richtlinie zu entsprechen, kommen in aller Regel allein sie und nicht der „reine“ Vertragsnaturschutz in Betracht. IV. Verschlechterungsverbot und Vertragsnaturschutz 1. Die Option für den Vertragsnaturschutz in § 32 Abs. 4 BNatschG a) Fragestellung Problematisch ist allerdings die Frage, inwieweit das in Art. 6 Abs. 2 FFH-Richtlinie, § 33 BNatSchG niedergelegte Verschlechterungsverbot einer Förderung freiwilliger Maßnahmen nach Art. 39 ELER-VO entgegensteht, weil es zu den anderweitigen Anforderungen im Sinne von Art. 39 Abs. 3 ELER-VO i.V.m. Art. 4, Anhang III Direktzahlungen-VO a.F. gehört. Das Verschlechterungsverbot nach Art. 6 Abs. 2 FFH-Richtlinie richtet sich an die Mitgliedstaaten. Wie bereits dargelegt, ist es nur Teil der Cross Compliance, wenn und soweit es durch das nationale Recht als außenwirksame Verpflichtung für den einzelnen Landwirt ausgestaltet worden ist. Wenn und soweit das nationale Recht das Verschlechterungsverbot nicht als Außenrechtsnorm (gesetzliches Verbot), sondern nur als behördliche Ermächtigung/Verpflichtung ausgestaltet hat, bildet es erst ab dem Zeitpunkt einen Teil der Cross Compliance, in dem eine entsprechende behördliche Anordnung zu seiner Konkretisierung ergangen ist. Auch die FFH-Verträglichkeitsprüfung ist erst ab dem Zeitpunkt, in dem sie zu einem negativen Ergebnis und damit zur Unzulässigkeit des Vorhabens führt, der Cross Compliance zuzurechnen. Das Problem liegt allerdings darin, dass § 33 BNatSchG das Verschlechterungsverbot als außenwirksames Verbot ausgestaltet, das nach seiner systematischen Stellung außerhalb des eigentlichen, in § 32 BNatSchG geregelten Schutzregimes steht und bei strenger Auslegung auch im Rahmen des Vertragsnaturschutzes absolut gilt. Das neue Bundesnaturschutzgesetz hat es leider versäumt, einen eindeutigen Rahmen für die Abstimmung der Anforderungen der FFH-Richtlinie und des Beihilferegimes für Agrarumweltmaßnahmen (im Gegensatz zum FFH-Ausgleich) vorzugeben, indem es im Wesentlichen das Modell des § 33 BNatSchG a.F. übernommen hat. Die in § 32 Abs. 4 BNatSchG wie im bisherigen Recht eingeräumte Option für den Vertragsnaturschutz und damit für eine Deregulierung des Schutzregimes stellt einen zweifelhaften Ausweg aus dem Konflikt zwischen Bindung an die FFH-Richtlinie und EU-rechtlicher Begrenzung der Förderungsfähigkeit des Vertragsnaturschutzes dar. Obwohl die FFH-Richtlinie den Vertragsnaturschutz an sich zulässt, ergibt sich

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aus der zitierten Rechtsprechung des EuGH,32 dass es für den Schutz von FFH-Gebieten (wie auch von Vogelschutzgebieten, insbesondere für den Regimewechsel nach Art. 7 FFH-Richtlinie) regelmäßig eines ordnungsrechtlichen Grundschutzes bedarf, wobei aber das Verschlechterungsverbot als ein an die Behörden gerichtetes Verbot ausgestaltet werden kann. In dieses Konzept des ordnungsrechtlichen Mindestschutzes passt sich jedoch § 32 Abs. 4 BNatSchG nicht ein. Diese Vorschrift dispensiert nach ihrem Wortlaut und ihrer Systematik nicht vom außenwirksamen Verschlechterungsverbot des § 33 BNatSchG. Auch eine teleologische Auslegung des Dispenses in Richtung auf Einbeziehung des Vertragsnaturschutzes versagt, da man ohne ordnungsrechtliche Flankierung den Vertragsnaturschutz regelmäßig nicht als gleichwertig bezeichnen kann. Eine Förderung von Maßnahmen, die einer Verschlechterung entgegen wirken sollen, wäre danach beihilferechtlich problematisch. Mit dem Mischmodell aus einer inhaltlich reduzierten konventionellen Schutzverordnung und ergänzendem Vertragsnaturschutz lassen sich zwar die naturschutzfachlichen Gestaltungsaufgaben durchaus bewältigen. Die Kombination dieses Mischmodells mit einem allgemeinen Verschlechterungsverbot steht auch mit Art. 6 Abs. 1, 2 FFH-Richtlinie und §§ 32, 33 BNatSchG im Einklang. Das Problem liegt indessen bei der Förderungsfähigkeit nach Art. 39 Abs. 3 ELER-Verordnung, soweit die vertraglich vereinbarten Maßnahmen bereits aufgrund des Verschlechterungsverbots geboten sind. Es besteht angesichts der genannten Probleme mit dem Verschlechterungsverbot jedoch ein deutliches Cross Compliance-Risiko. Dies ist zum einen in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, NordrheinWestfalen und dem Saarland von Bedeutung. In diesen Ländern fehlten auch bisher schon – abgesehen von Regelungen über die Unterschutzstellung – Sonderregelungen für das Schutzregime von FFH-Gebieten. Diese Länder sahen jedoch anstelle des ordnungsrechtlichen Schutzes schon den Einsatz des Vertragsnaturschutzes gekoppelt mit einem außenwirksamen Verschlechterungsverbot vor,33 so dass das neue Bundesnaturschutzgesetz für sie nichts Wesentliches geändert hat. Entsprechendes gilt im Ergebnis aber auch für eine zweite Gruppe von Bundesländern wie Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen,34 die für die Umsetzung der FFH-Richtlinie ein Deregulierungsmodell gewählt hatten, wonach das Verschlechterungsverbot nur bis zur Unterschutzstellung galt und dann durch das Schutzregime abgelöst wurde. Es war anzunehmen, dass diese Ablösung des Verschlechterungsverbots auch bei einem vertraglichen Schutzregime gelten sollte, das einer Unterschutzstellung gleichwertig ist. Diese Regelungen sind je32

Oben Fn. 18, 20, 23, 24, 27. Baden-Württemberg: §§ 36, 37 LNatSchG; Bayern: §§ 13b, 13c LNatSchG; Berlin: § 22b LNatSchG; Hamburg: § 15 LNatSchG; Nordrhein-Westfalen: § 48c LNatSchG; Saarland: § 24 Abs. 2 LNatSchG. 34 Brandenburg: §§ 26b, 26c LNatSchG; Bremen: §§ 26a, 26b LNatSchG; MecklenburgVorpommern: § 28 LNatSchG; Niedersachsen: § 34b LNatSchG; Schleswig-Holstein: § 20d LNatSchG; Thüringen: § 26a LNatSchG. 33

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doch durch die unmittelbare Anwendbarkeit des § 33 BNatSchG überholt. In keinem dieser Bundesländer besteht im Übrigen eine nach der EuGH-Rechtsprechung als Minimum („Sicherheitsnetz“) erforderliche ausdrückliche Eingriffsverpflichtung für den Fall, dass der Vertragsnaturschutz ausfällt. Mangels eines solchen ergänzenden behördenwirksamen Verschlechterungsverbots, das man als Spezialregelung ansehen könnte,35 bleibt es notwendig bei der Anwendbarkeit des § 33 BNatSchG. Es bestehen daher im Ergebnis die gleichen Probleme wie in der ersten Ländergruppe. b) Abgrenzungsmöglichkeiten Eine Beihilfegewährung käme aufgrund der Regelung in § 32 Abs. 4, § 33 BNatSchG sicherlich für solche Maßnahmen in Form von positiven Handlungspflichten in Betracht, die nach dem FFH-Regime als „Basisniveau“ nicht zwingend geboten sind, vielmehr sozusagen nur eine „Kür“ darstellen, wie etwa Pflege-, Verbesserungsund Entwicklungsmaßnahmen (einschließlich der Verpflichtung zur Aufrechterhaltung der landwirtschaftlichen Nutzung). Dies folgt zum Teil schon daraus, dass es zumindest zweifelhaft ist, ob dem Nutzer nach dem Bundesnaturschutzgesetz Pflegeverpflichtungen auferlegt werden können.36 Zu denken ist aber auch an Maßnahmen gegen Verschlechterungen, die dem einzelnen Landwirt nicht zurechenbar oder unwesentlich sind.37 Damit begibt man sich allerdings auf ein schwieriges Terrain, da die Abgrenzung von naturschutzrechtlicher Pflicht und Kür durchaus Probleme bereitet und auch die sachliche und systematische Abgrenzung zwischen FFH-Verträglichkeitsprüfung und Verschlechterungsverbot umstritten ist.38 Das Verschlechterungsverbot des Art. 6 Abs. 2 FFH-Richtlinie betrifft nicht nur Eingriffe, die für sich zur Verschlechterung des Gebiets geeignet sind, sondern nach der Rechtsprechung auch solche, die diese Folge erst in ihrem Zusammenwirken haben, z. B. eine Überweidung oder sukzessive Trockenlegung eines Feuchtgebiets,39 sowie natürliche Verschlechterungen.40 In diesem Umfang kann das Verschlechterungsverbot aber aus rechtsstaatlichen Gründen – Rechtssicherheit und Zurechenbarkeit – kaum als außenwirksames Verbot ausgestaltet werden, sondern es muss durch 35 Zu dieser Frage Begr. Regierungsentwurf zum BNatSchG, BT-Drs. 16/12274, S. 64; Louis, NuR 2010, 77 (85) – mit Meinungsunterschieden im Einzelnen. 36 Gegen Zulässigkeit Schumacher/Fischer-Hüftle, in: dies. (Hrsg.), oben Fn. 13, § 22 Rn. 26 f.; § 23 Rn. 49; keine grundsätzlichen Bedenken (sondern Frage der Abwägung im Einzelfall) haben Windstoßer, oben Fn. 1, S. 212 ff., 217 ff.; Sellmann, Nutzungsbeschränkungen zugunsten der Umwelt und eigentumsrechtlich gebotener Ausgleich, 2002, S. 173 f.; Schmidt-Räntsch, in: Gassner/Bendomir-Kahlo/Schmidt-Räntsch (Hrsg.), oben Fn. 12, § 23 Rn. 28. 37 Vgl. Rehbinder, ZUR 2008, 178 (181 f.). 38 Siehe die EuGH-Entscheidungen oben Fn. 6. 39 EuGH, Sumpfgebiet Poitou, oben Fn. 18, Rn. 39; Kommission/Irland, oben Fn. 23, Rn. 28 ff. 40 EuGH, Kommission/Vereinigtes Königreich, oben Fn. 20, Rn. 35 – 37.

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das Schutzregime insgesamt oder ex ante durch die FFH-Verträglichkeitsprüfung, die auch für kumulative Einwirkungen auf FFH-Gebiete gilt,41 durchgesetzt werden. Dementsprechend wäre es denkbar – wenngleich ungesichert –, das außenwirksame Verschlechterungsverbot grundsätzlich so auszulegen, dass es nur die Einzelaktivität erfasst. Der EuGH hat im jüngsten Fall „Kommission gegen Frankreich“42 anerkannt, dass ein Verbot oder eine Untersagung unerheblicher Einzelbeeinträchtigungen nicht zwingend geboten ist, wenn die zuständige Behörde mit generellen Schutzmaßnahmen einer Verschlechterung entgegenwirkt. Vertragsnaturschutz wäre danach im Rahmen von § 32 Abs. 4 BNatSchG möglich für Maßnahmen, die unabhängig von zurechenbaren Einwirkungen einzelner Landwirte der Erhaltung, Pflege, Wiederherstellung und Verbesserung des Schutzgebiets dienen. Weiterhin kommt der Vertragsnaturschutz in Bezug auf Tätigkeiten im Rahmen der normalen landwirtschaftlichen Wirtschaftsweise in Betracht, die nur geeignet sind, zu unerheblichen Beeinträchtigungen zu führen. § 33 BNatSchG bezieht das Verschlechterungsverbot auf erhebliche Beeinträchtigungen, so dass die beihilferechtliche Zulässigkeit des Vertragsnaturschutzes hier zunächst unproblematisch erscheint. Die in § 33 BNatSchG getroffene Einschränkung entspricht aber nicht dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 FFH-Richtlinie, wo die Erheblichkeit allein auf das artenschutzrechtliche Störungsverbot bezogen wird. Dagegen liegt es bei Art. 6 Abs. 3 FFH-Richtlinie angesichts des Prüfprogramms – Möglichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung – nahe, dass dem auch das Entscheidungsprogramm entsprechen muss, also eine Unverträglichkeit mit den Erhaltungszielen nur dann vorliegt, wenn erhebliche Beeinträchtigungen nicht ausgeschlossen werden können. Hiervon geht auch § 34 BNatSchG aus.43 Entsprechendes müsste auf dem Boden der EuGHRechtsprechung eigentlich aber auch für Art. 6 Abs. 2 FFH-Richtlinie gelten, da die Rechtsprechung44 ja betont, dass beiden Regelungskomplexen die gleichen Wertungen zugrunde liegen. Dann wäre § 33 BNatSchG richtlinienkonform. Es ist nach wie vor ungesichert, inwieweit innerhalb des Gebietsschutzes des FFHRegimes qualitative Einschränkungen zulässig sind. Eine Verschlechterung im Sinne des Art. 6 Abs. 2 FFH-Richtlinie ist nicht schon jeder Eingriff in das Schutzgebiet, sondern erst die Beeinträchtigung der Kohärenz der ökologischen Struktur und Funktion des geschützten Gebiets als Ganzes bzw. der Lebensräume, des Geflechts aus Le-

41 Vgl. EuGH, Herzmuschelfischerei, oben Fn. 6, Rn. 26; Kommission/Irland, oben Fn. 23, Rn. 244 f. 42 Oben Fn. 24, Tz. 23. 43 Vgl. BVerwGE 128, 1 Rn. 41, 42 = NuR 2007, 336; BVerwGE 130, 299 Rn. 67, 94, 126 = NuR 2008, 633; BVerwG, NuR 2010, 558 Rn. 57, 91 – 95; kritisch Gellermann, NuR 2009, 8 (11). 44 EuGH, Herzmuschelfischerei, oben Fn. 6, Rn.. 36; Kommission/Irland, oben Fn. 23, Rn. 263; Kommission/Frankreich, oben Fn. 24, Rn. 30.

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bensräumen und/oder der Populationen von Arten in dem Gebiet.45 Dieser Definition ist aufgrund ihres gesamthaften Ansatzes wohl eine gewisse qualitative Erheblichkeitsschwelle – Gefahr der erheblichen Beeinträchtigung der ökologischen Merkmale des Gebiets – immanent, für deren Bestimmung insbesondere die Erhaltungsziele herauszuziehen sind.46 Andererseits tut sich der EuGH schwer, dies für Art. 6 Abs. 2 FFH-Richtlinie offen anzuerkennen, da nach dem Wortlaut dieser Vorschrift das Erheblichkeitsmerkmal nur für den Artenschutz, nicht für den Gebietsschutz gilt. In der jüngsten Entscheidung in der Rechtssache C 241/0847 scheint er einer Entscheidung dadurch entgehen zu wollen, dass er zwischen individueller und staatlicher Verantwortlichkeit für Verschlechterungen unterscheidet. Damit kann der Vertragsnaturschutz leben, es ist aber keine befriedigende Lösung. Insgesamt ist festzustellen, dass sich auch bei Anknüpfung an das gesetzliche Modell des § 32 Abs. 4 BNatSchG Vertragsnaturschutz in FFH-Gebieten praktizieren lässt. Allerdings bleibt das Cross Compliance-Risiko erheblich, solange keine Sicherheit über die Reichweite des Verschlechterungsverbots besteht.

2. Das Potenzial des § 22 Abs. 1 S. 2 BNatSchG Es wäre allerdings auch daran zu denken, zukünftig bei der Ausgestaltung der jeweiligen Mischmodelle das Potenzial des § 22 Abs. 1 S. 2 BNatSchG, der in § 32 Abs. 2 BNatSchG sinngemäß in Bezug genommen ist und nunmehr in allen Ländern gilt (was bisher nur zu einem geringen Teil der Fall war),48 zu nutzen. Naturschutzrechtlich tritt das ordnungsrechtliche Schutzregime als Spezialregelung nach § 32 Abs. 4 BNatSchG an die Stelle des außenwirksamen Verschlechterungsverbots.49 Dies müsste auch im Fall der Delegation nach § 22 Abs. 1 S. 2 BNatSchG gelten, da der Gesetzgeber diese als einem Verbot gleichwertig ansieht. Die Nutzung des § 22 Abs. 1 S. 2 BNatSchG setzt allerdings voraus, dass man die Vorschrift dahin auslegen könnte, dass in einer deregulierten Schutzverordnung statt 45 EU-Kommission, Natura 2000-Gebietsmanagement, 2000, Ziff. 4.6.3; dies., Leitfaden zur Auslegung des Art. 6 FFH-Richtlinie, 2007, Ziff. II.3.4.b. 46 EuGH, Herzmuschelfischerei, oben Fn. 6, Rn. 36 – 38; in der Sache auch EuGH, Slg. 2002, I-5335 Tz. 26 – 32– Kommission/Irland = NuR 2002, 672; Gassner, in: Gassner/ Bendomir-Kahlo/Schmidt-Räntsch (Hrsg.), oben Fn. 12, § 34 Rn. 30 ff., § 33 Rn. 19; Baum, NuR 2006, 145 (148); Fischer-Hüftle/Schumacher, in: Schumacher/Fischer-Hüftle (Hrsg.), oben Fn. 13, § 33 Rdnr. 43 f.; § 34 Rn. 38 ff.; Kratsch, NuR 2007, 27 (29); wohl strenger Gellermann, NuR 2004, 769 (772); Epiney, UPR 1997, 303 (308) – selbst sehr geringfügige Verschlechterungen relevant. 47 Kommission/Frankreich, oben Fn. 24, Tz. 23. 48 Nur eine Minderheit unter den Bundesländern hatte § 22 Abs. 2 BNatSchG wortgleich, annähernd wortgleich oder sinngemäß übernommen (Brandenburg: § 19 Abs. 2 LNatSchG, Bremen: § 18 Abs. 2 LNatSchG, Mecklenburg-Vorpommern: § 21 Abs. 3 LNatSchG, Saarland: § 20 Abs. 2 Nr. 3 LNatSchG, Sachsen-Anhalt: § 29 Abs. 2 LNatSchG; beschränkt auf Biosphärenreservate: Baden-Württemberg: § 28 Abs. 2 LNatSchG). 49 Siehe die in Fn. 35 Genannten.

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Verboten auch bloße behördliche Verpflichtungen zum Einschreiten enthalten sein können, von denen dann erst beim Ausfall des Vertragsnaturschutzes Gebrauch gemacht würde.50 Die wohl überwiegende Meinung51 geht jedoch davon aus, dass sich die Regelung des § 22 Abs. 1 S. 2 BNatSchG (§ 22 Abs. 2 BNatSchG a.F.) nur auf Pflege-, Wiederherstellungs- und Entwicklungsmaßnahmen bezieht. Für ein behördliches Verschlechterungsverbot wäre dann kein Platz. Nach § 22 Abs. 1 S. 2 BNatSchG bedürfen die Festsetzung des Schutzgegenstands (des geschützten Gebiets) und die Festlegung des Schutzzwecks einer Regelung in der Schutzerklärung. Dies ist der im Regelfall unabdingbare ordnungsrechtliche Rahmen. Ob das Gesetz im übrigen der zuständigen Behörde die Wahl zwischen der Festlegung von Geboten, Verboten sowie Pflege-, Entwicklungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen in der Schutzerklärung selbst oder in Form einer in die Schutzerklärung aufzunehmenden behördlichen Ermächtigung einräumt, ist umstritten. Nach dem Wortsinn kann man die Delegation auf alle genannten Maßnahmen oder nur auf Pflege-, Entwicklungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen beziehen. Bisweilen wird aus der Stellung der Delegation unmittelbar nach den sonstigen Maßnahmen gefolgert, dass sich die Delegation nur auf letztere bezieht.52 Dies ist aber nicht zwingend. Wenn der Gesetzgeber die Delegationsmöglichkeit auf Entwicklungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen hätte beschränken wollen, hätte es nahe gelegen, nicht die umfassende Bezugnahme mittels des Wortes „hierzu“ zu verwenden, sondern von „Ermächtigungen zu diesen Maßnahmen“ zu sprechen. Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift gibt keinerlei Aufschlüsse,53 so dass man – neben dem nicht eindeutigen Wortlaut – letztlich auf den Gesetzeszweck abstellen muss. Zweck der Delegation ist es, die zuständige Behörde in die Lage zu versetzen, flexibel auf neue Entwicklungen reagieren zu können. Das Flexibilisierungsargument gilt auch, wenngleich in geringerem Maße, für Verbote und Gebote. Rechtsstaatliche Bedenken, die darauf beruhen, dass es hier um bürgerwirksame Regelungen geht, lassen sich durch eine entsprechende Ausgestaltung der behördlichen Ermächtigungen überwinden. Auch Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen, für die eine Delegation auf jeden Fall zulässig ist, werden nicht immer ohne Verbote und Gebote auskommen.

50 So Schmidt-Räntsch, in: Gassner/Bendomir-Kahlo/Schmidt-Räntsch (Hrsg.), oben Fn. 12, § 22 Rn. 33; Rehbinder, ZUR 2008, 178 (182); von Münchhausen et al., oben Fn. 3, S. 62 f.; zurückhaltend Meßerschmidt, oben Fn. 8, § 22 Rdnr. 56; in der Sache auch VGH Kassel, NuR 2006, 42; vgl. BVerwG, NuR 2009, 346 Rn. 37, wo präventive Verbote mit Erlaubnisvorbehalt (bloße Genehmigungspflichten) in einer Schutzverordnung für zulässig angesehen werden. 51 Kolodziecok/Recken, Naturschutzrecht, Stand 2010, § 22 Rdnr. 42; ohne Begründung auch Carlsen/Fischer-Hüftle, NuR 1993, 311 (313); wohl auch Louis/Engelke, oben Fn. 12, § 12 Rn. 111, 120; Schumacher/Fischer-Hüftle (Hrsg.), oben Fn. 13, § 22 Rdnr. 27, die die Delegation nur bei den Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen erwähnen. 52 So Kolodziejcok/Recken, oben Fn. 51, § 22 Rn. 42. 53 Vgl. Bundesratsentwurf, BT-Drucks. 7/2879 zu § 10; Ausschussbericht, BT-Drucks. 7/ 5221 zu § 12. Auch die Ausschussprotokolle ergeben keinerlei Aufschlüsse.

Vertragsnaturschutz in FFH-Gebieten

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Die besseren Argumente sprechen daher dafür, die Delegationsermächtigung auch auf Verbote und Gebote zu beziehen.54 Die Regelung des § 22 Abs. 1 S. 2 BNatSchG gilt, obwohl dies in den §§ 23 – 29 BNatSchG nicht ausdrücklich ausgesprochen ist, wo stets nur von (unmittelbar anwendbaren) Verboten und Geboten die Rede ist, grundsätzlich für sämtliche Schutzgebiete. Dies folgt daraus, dass § 22 BNatSchG eine übergreifende Vorschrift für alle Schutzgebietskategorien darstellt. Obwohl in der Praxis, soweit eine ordnungsrechtliche Regelung erfolgt, die unmittelbare Aufnahme in die Schutzerklärung die Regel ist, lässt es die Vorschrift grundsätzlich zu, nicht nur etwa erforderliche Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen sowie Wiederherstellungsmaßnahmen, sondern auch Verbote und Gebote in Form bloßer behördlicher Ermächtigungen zu regeln. Im Schrifttum denkt man bei der Delegation insbesondere an Fälle, in denen im Zeitpunkt der Unterschutzstellung noch nicht beurteilt werden kann, welche (zusätzlichen) Gebote und Verbote sowie Pflege-, Entwicklungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen in Zukunft nötig werden können.55 Es steht aber nichts im Wege, diese Regelung auch für den Vertragsnaturschutz in FFH-Gebieten nutzbar zu machen, um so ein künftiges Einschreiten für den Fall des Scheiterns des vertraglichen Instrumentariums zu ermöglichen. Auch hierbei handelt es sich um eine den Zwecken des Gesetzes – Ermöglichung einer flexiblen Reaktion auf künftige Problemlagen – entsprechende Ausübung des Ermessens, das die Vorschrift der zuständigen Behörde einräumt. Die zuständige Stelle hat bei der Auswahl der erforderlichen Maßnahmen im Übrigen einen Ermessensspielraum, der nur beschränkt überprüfbar ist.56 Aus alledem folgt, dass nicht nur durch besondere gesetzliche Vorschriften, sondern auch im Rahmen von Schutzverordnungen nach § 22 Abs. 1 S. 2 BNatSchG Auffangregelungen getroffen werden können, die die Gleichwertigkeit des Vertragsnaturschutzes sicherstellen. 3. Der Vorbehalt gleichwertiger Rechtsvorschriften in § 32 Abs. 4 BNatSchG Einen einigermaßen sicheren Ausweg aus dem Dilemma dürfte nur der Vorbehalt in § 32 Abs. 4 BNatSchG hinsichtlich eines gleichwertigen Schutzes nach anderen Rechtsvorschriften und „gebietsbezogenen“ Bestimmungen des Landesrechts darstellen.57 Dieser bezieht sich aufgrund der Bezugnahme auf die Absätze 2 und 3 und auf das Erfordernis der Gleichwertigkeit nicht nur auf die Unterschutzstellung, sondern auch auf die Ausgestaltung des Schutzregimes. Obwohl das Verschlechterungsverbot nicht ausdrücklich in Bezug genommen ist, lässt sich hier gut die Auf54

Siehe die in Fn. 50 Genannten. Schmidt-Räntsch, in: Gassner/Bendomir-Kahlo/Schmidt-Räntsch (Hrsg.), oben Fn. 12, § 22 Rn. 33. 56 Vgl. OVG Berlin, NuR 1992, 87; VGH Mannheim, NuR 1994, 239 (240). 57 Die Regelung klärt manche Streitfragen des bisherigen Rechts; vgl. dazu F. Niederstadt, NVwZ 2008, 126; Czybulka, EurUP 2008, 181; Czybulka Kampowski, EurUP 2009, 180. 55

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fassung vertreten, dass nach § 32 Abs. 4 BNatSchG auch dieses landesrechtlich modifiziert werden kann, da es sachlich Teil des Schutzregimes ist und daher am Vorrang der Spezialvorschriften teilhaben muss. Dies würde es gestatten, zur Erreichung der Förderfähigkeit des Vertragsnaturschutzes das Verschlechterungsverbot durch Landesgesetz in eine behördliche Verpflichtung zum Einschreiten bei Ausfall des Vertragsnaturschutzes umzuwandeln, wobei allerdings ein Schutz gegen Dritte wohl sinnvoller Weise ordnungsrechtlich gewährleistet sein muss, wenn das geschützte Gebiet für Dritte zugänglich ist, insbesondere wenn Betretungsrechte (§ 59 BNatSchG, § 14 BWaldG) bestehen, und deren Verhinderung geboten ist. Als Muster von Klarheit lässt sich aber auch § 32 Abs. 4 BNatSchG kaum bezeichnen.58 Bisher gibt es aber nur wenige Länder, die unter diese Regelung fallen, nämlich Hessen und Rheinland-Pfalz sowie mit Abstrichen Sachsen und Sachsen-Anhalt.59 In diesen Ländern besteht ein Sonderregime für FFH-Gebiete, das weitgehend auf den Vertragsnaturschutz setzt. In Hessen dürfen FFH-Gebiete nur dann als konventionelle Schutzgebiete festgesetzt werden, wenn mit anderen Mitteln, u. a. durch vertragliche Vereinbarungen, ein der FFH- und Vogelschutzrichtlinie genügender Schutz nicht mit vertretbarem Aufwand gewährleistet werden kann (§ 32 Abs. 2 LNatSchG). Ob diese Regelung mit § 3 Abs. 4 BNatSchG vereinbar ist, bleibt zu prüfen.60 In Hessen und Rheinland-Pfalz sind die Behörden ermächtigt und verpflichtet, Verschlechterungen dieser Gebiete durch Anordnungen zu verhindern. Diese Regelung entspricht grundsätzlich den Anforderungen des Art. 6 Abs. 2 FFH-Richtlinie, gewährleistet andererseits aber auch die Förderfähigkeit nach Art. 39 Abs. 3 ELER-VO. In Sachsen und Sachsen-Anhalt fehlt es dagegen an einer entsprechenden behördlichen Verpflichtung, die allerdings in der Schutzverordnung geschaffen werden könnte. Wesensmerkmal der Regelungen von Rheinland-Pfalz (§§ 25, 26 LNatSchG) und Hessen (§§ 32, 33 LNatSchG) unter dem Gesichtspunkt der Cross Compliance ist der weitgehende Einsatz des Vertragsnaturschutzes unter Statuierung eines allgemeinen, für alle unter Schutz gestellte FFH-Gebiete geltenden Verschlechterungsverbots, wobei aber dieses Verbot im Sinne einer Regelvermutung auf Verhaltensweisen der Landwirte beschränkt wird, die nicht der guten fachlichen Praxis entsprechen (§ 26 S. 2 LNatSchG Rheinland-Pfalz, § 33 Abs. 1 S. 2 LNatSchG Hessen).61 Es bestehen behördliche Ermächtigungen und Verpflichtungen zur Durchsetzung des gesetzlichen Verbots einer Verschlechterung. Dies gilt insbesondere für den Fall des Nichtzustandekommens und/oder der Verletzung der vertraglichen Verpflichtungen, 58

Näher zum Problem nach bisherigem Recht Rehbinder, ZUR 2008, 178 (183); von Münchhausen et al., oben Fn. 5, S. 70 f., 72 ff. 59 Hessen: §§ 32, 33 LNatSchG; Rheinland-Pfalz: §§ 25, 26 LNatSchG; Sachsen: § 22a LNatSchG; Sachsen- Anhalt: § 44a LNatSchG. 60 Vgl. Proelss/Blanke-Ziekow, NVwZ 2010, 985. 61 Diese „Landwirtschaftsklausel“ ist zwar im Lichte der EuGH-Entscheidung „Kommission/Bundesrepublik Deutschland“, EuGH, Slg. 2006 I-53 Tz. 59/60 – 61 = NuR 2006, 166 nicht ganz unproblematisch (vgl. schon Gellermann, DVBl. 2004, 1198 [1208]), dürfte jedoch wegen der Widerlegbarkeit der Vermutung letztlich EU-konform sein.

Vertragsnaturschutz in FFH-Gebieten

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aber auch soweit im Einzelfall die Regelvermutung fehlender Beeinträchtigung widerlegt ist (§ 25 Abs. 3 S. 2 LNatSchG Rheinland-Pfalz,62 § 33 Abs. 5 LNatSchG Hessen). Aus rechtsstaatlichen Gründen dürfte es allerdings sinnvoll sein, einen Katalog möglicher Verbote, die in diesen Fällen ausgesprochen werden können, bereits in die Schutzerklärung aufzunehmen oder auf den Bewirtschaftungsplan zu verweisen.63 Durch die Anknüpfung des Verschlechterungsverbots an die gute fachliche Praxis wird gleichzeitig der Spielraum des Vertragsnaturschutzes umschrieben. Dieser kann praktisch nur oberhalb des Niveaus der guten fachlichen Praxis eingesetzt werden. Nach der Direktzahlungen-Verpflichtungen-Verordnung gehören die Regeln der guten fachlichen Praxis ganz überwiegend zur Cross Compliance und nur bei deren Einhaltung ist nach Art. 39 Abs. 3 ELER-VO eine Förderung möglich. Unberührt bleibt die ordnungsrechtliche FFH-Verträglichkeitsprüfung, die nach der hier vertretenen Auffassung erst bei festgestellter Unverträglichkeit mit den Erhaltungszielen Teil der Cross Compliance ist. V. Schlussbemerkung Der Vertragsnaturschutz in FFH-Gebieten steht in einem potenziellen Konflikt zwischen den beihilferechtlichen Anforderungen, nämlich dem Erfordernis der Zusätzlichkeit nach Art. 39 Abs. 3 ELER-VO, und den naturschutzrechtlichen Mindestanforderungen nach Art. 6 Abs. 2 und 3 der FFH-Richtlinie. Dies gilt im Hinblick auf Art. 88 Abs. 4 ELER-VO auch bei rein nationaler Finanzierung, sofern, wie im Normalfall, die Leistungsempfänger Landwirte sind. Es bedarf nach geltendem Recht einer Art legislativen Spagats, um beiden Anforderungen zu genügen. Dieser Spagat ist im neuen Bundesnaturschutzgesetz nur mäßig gelungen, vermutlich, weil das Problem nicht recht erkannt worden ist. Grundsätzlich ist aus naturschutzrechtlicher Sicht allerdings anzumerken, dass die Ausgestaltung des FFH-Regimes durch die EU-Mitgliedstaaten sich nicht in erster Linie daran ausrichten sollte, ob damit die Förderfähigkeit erreicht wird oder nicht. Das kann leicht zu Verbiegungen führen. Es ist deshalb die grundsätzliche Frage zu stellen, ob es nicht einen Wertungswiderspruch darstellt, wenn die ELER-VO für die Erfüllung der ordnungsrechtlichen Anforderungen des FFH-Regimes die Gewährung eines pauschalen Ausgleichs zulässt, eine weitergehende, vor allem aber gezielte Finanzierung von Maßnahmen des Vertragsnaturschutzes zur Erfüllung ebendieser Anforderungen aber versagt. Bei der anstehenden Reform der Agrarpolitik sollte auch hierüber nachgedacht werden.

62 Hier wird die Verletzung einer Vereinbarung nicht genannt; die Regelung ist insofern lückenhaft. 63 Zu letzterem vgl. VGH Kassel, NuR 2006, 42; NuR 1986, 29.

Konkurrentenschutz im kommunalen Wirtschaftsrecht Von Friedrich Schoch, Freiburg

I. Schlüsselfunktion des subjektiven öffentlichen Rechts Der Drittschutz im verwaltungsgerichtlichen Verfahren weist eine wechselvolle Geschichte auf. In dem deutschen Konzept des Individualrechtsschutzes (vgl. §§ 42 Abs. 2, 47 Abs. 2 Satz 1, 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO) nimmt das subjektive öffentliche Recht eine Schlüsselstellung ein.1 In seinem Grundkonzept ist der deutsche Verwaltungsprozess auf die Bewältigung von Konflikten im zweipoligen Rechtsverhältnis zwischen dem Einzelnen und der Verwaltung(sbehörde) angelegt; ein an dem Konflikt beteiligter Dritter wird prozessual lediglich in der Rolle des „Beigeladenen“ (§ 65 VwGO) wahrgenommen.2 In der Sache entscheidet die Gewinnung des subjektiven öffentlichen Rechts darüber, ob der Dritte ein bestimmtes Recht als Schutznorm für sich mobilisieren kann. Die Subjektivierung (von Teilen) der objektiven Rechtsordnung wirft allgemeine Fragen des Öffentlichen Rechts auf.3 Dennoch zeigt sich eine signifikante Entwicklung der „Ungleichzeitigkeiten“ auf diesem Zentralfeld des Verwaltungsrechtsschutzes. Während im Bau(nachbar)recht und im Umweltrecht der Drittschutz von der Rechtsprechung – wie von großen Teilen des Schrifttums gefordert – sukzessive ausgebaut worden ist und auch das Fachplanungsrecht mit der Entwicklung einigermaßen Schritt halten konnte, hinkt der Konkurrentenschutz im Öffentlichen Wirtschaftsrecht (Wirtschaftsverwaltungsrecht) hinterher.4 Die Gerichte tun sich schwer, in einem gesetzlichen Streitschlichtungsprogramm für Konkurrentensituationen subjektivrechtliche Berechtigungen und nicht lediglich reflexartige Begünstigungen für (Mit-)Bewerber um die Erteilung einer Genehmigung, Erlaubnis, Konzession etc. zu sehen.5 Mangels Anerkennung einer drittschützenden Norm vermag der Kon1 R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 20 ff. 2 H. Geiger, Die Konkurrentenklage im Verwaltungsprozessrecht, BayVBl 2010, S. 517. 3 R. Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Bier, VwGO, Vorb § 42 Abs. 2 Rn. 42 ff., 94 ff. 4 R. Wahl/P. Schütz, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 42 Abs. 2 Rn. 110 ff. (Baurecht), Rn. 150 ff. (Umweltrecht), Rn. 250 ff. (Fachplanungsrecht), Rn. 287 ff. (Wirtschaftsverwaltungsrecht). 5 Vgl. zur Kritik bereits F. Schoch, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit vor den Herausforderungen der jüngeren Rechtsentwicklung, VBlBW 2000, S. 41 (44).

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Friedrich Schoch

kurrent um die behördliche Begünstigung keinen Rechtsschutz zu erlangen. Die Folge: Real existierende Konflikte in Wettbewerbssituationen werden vom (praktizierten) System des Verwaltungsrechtsschutzes ausgeblendet, die Abarbeitung des im konkreten Fall maßgeblichen Normprogramms bleibt der Verwaltung(sbehörde) vorbehalten, eine Kontrolle („Vier-Augen-Prinzip“) findet – zumal bei indolenten Aufsichtsbehörden – nicht statt.6 Eine gewisse (durchaus eher unrühmliche) Sonderstellung nimmt in diesem Konfliktfeld der Konkurrentenschutz im kommunalen Wirtschaftsrecht ein.7 Die Verwaltungsgerichte vermochten mit den Vorschriften8 zur Zulässigkeit wirtschaftlicher Betätigung von Gemeinden und Gemeindeverbänden (Landkreisen) jahrzehntelang in subjektivrechtlicher Hinsicht nichts anzufangen.9 Die Folge war ein „Totalausfall“ des verwaltungsprozessualen Rechtsschutzes.10 Eine erneute Befassung mit der Thematik lohnt aus mehreren Gründen: Registriert wird eine seit einiger Zeit expandierende wirtschaftliche Betätigung der Kommunen,11 was aus der Sicht privater Wettbewerber die Frage des Konkurrentenschutzes verschärft; zu beobachten ist in den letzten gut zehn Jahren in mehreren Ländern die Einführung bzw. Verschärfung der kommunalwirtschaftlichen Subsidiaritätsklausel,12 was auf eine (im Vergleich zu früheren Zeiten) Änderung der Rechtslage hindeutet; in der Tat hat eine landesverfassungsgerichtliche Entscheidung eine neu gefasste Subsidiaritätsbestimmung (§ 85 Abs. 1 Nr. 3 GO RP)13 als „drittschützende Norm i. S. des § 42 Abs. 2 VwGO“14 qualifiziert, womit „Bewegung“ in die vormals festgefahrene Diskussion geraten ist. Es gibt also gute Gründe, die ein gewisses Interesse am „Konkurrentenschutz im kommunalen Wirtschaftsrecht“ wecken könnten.

II. Normative Grundlagen und Rechtstatsachen 1. Gesetzliche Vorgaben zur kommunalen Wirtschaftstätigkeit Normative Grundlagen für die wirtschaftliche Betätigung von Kommunen sind die Nachfolgebestimmungen des § 67 DGO in den Kommunalgesetzen der Länder. Nach 6

Zur Rolle der Kommunalaufsicht im kommunalen Wirtschaftsrecht unten VI. E. Schmidt-Aßmann/H. C. Röhl, Kommunalrecht, in: Schmidt-Aßmann/Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, 1. Kap. Rn. 121. 8 Vgl. Nachw. unten Fn. 15. 9 Zur Entwicklungsgeschichte unten III. 10 F. Schoch, Der Beitrag des kommunalen Wirtschaftsrechts zur Privatisierung öffentlicher Aufgaben, DÖV 1993, S. 377 (380). 11 A. Faber, Aktuelle Entwicklungen des Drittschutzes gegen die kommunale wirtschaftliche Betätigung, DVBl 2003, S. 761. 12 Einzelheiten dazu unten III. 13 Zu Parallelbestimmungen vgl. Nachw. Fn. 15. 14 VerfGH RP, DVBl 2000, S. 992 (995) = DÖV 2000, S. 682 (686) = NVwZ 2000, S. 801 (804). 7

Konkurrentenschutz im kommunalen Wirtschaftsrecht

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der Trias der Zulässigkeitsvoraussetzungen15 muss (1) der öffentliche Zweck das Unternehmen bzw. die wirtschaftliche Betätigung rechtfertigen,16 (2) das Unternehmen bzw. die Tätigkeit nach Art und Umfang in einem angemessenen Verhältnis zur Leistungsfähigkeit der Gemeinde stehen und (3) der Zweck nicht ebenso gut und wirtschaftlich durch einen anderen (Unternehmer) bzw. privaten Anbieter (Dritten) erfüllt werden können (echte Subsidiaritätsklausel).17 Als „wirtschaftliches Unternehmen“ bzw. „wirtschaftliche Betätigung“ wird jedes Unternehmen bzw. jedes Agieren verstanden, das auch von einem Privaten in der Absicht der Gewinnerzielung betrieben werden könnte;18 es geht demnach um die Teilnahme der Gemeinde am Wirtschaftsverkehr durch das Angebot von Gütern und Dienstleistungen. Abzugrenzen ist die kommunale Wirtschaftstätigkeit von Unternehmungen, die die Gesetze durch die Statuierung einer Fiktion als „nichtwirtschaftlich“ bezeichnen (die aber gleichwohl – soweit es mit dem öffentlichen Zweck vereinbar ist – nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu führen sind). Es handelt sich dabei nach den Kommunalgesetzen (bei Unterschieden im Detail) um (1) Einrichtungen bzw. Tätigkeiten, zu denen die Gemeinde gesetzlich verpflichtet ist, (2) Einrichtungen zu (a) Erziehung, Bildung und Kultur, (b) Sport und Erholung, (c) Gesundheits- und Sozialwesen und (3) Hilfsbetriebe zur Deckung des Eigenbedarfs der Gemeinde.19 Die erwähnten Zulässigkeitsvoraussetzungen für die „wirtschaftliche“ Betätigung der Kommunen gelten in diesen Bereichen – angeblich – „nichtwirtschaftlicher“ Tätigkeit nicht. In Bezug auf die wirtschaftliche Betätigung ist im Kommunalrecht teilweise vorgeschrieben, dass vor der Entscheidung über die Gründung oder Übernahme eines Unternehmens oder Beteiligung an einem Unternehmen (etc.) eine Marktanalyse vorzunehmen bzw. eine Markterkundung durchzuführen ist; dabei geht es auch um die zu erwartenden Auswirkungen auf das Handwerk und die mittelständische Wirtschaft, wobei den örtlichen Selbstverwaltungsorganisationen (Handwerkskammer, IHK)

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§ 102 Abs. 1 GO BW; Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayGO; § 91 Abs. 2 und 3 BbgKVerf; § 121 Abs. 1 Satz 1 HessGO; § 68 Abs. 1 KV MV; § 108 Abs. 1 Satz 2 NdsGO; § 107 Abs. 1 Satz 1 GO NW; § 85 Abs. 1 GO RP; § 108 Abs. 1 SaarlKSVG; § 97 Abs. 1 Satz 1 SächsGO; § 116 Abs. 1 GO LSA; § 101 Abs. 1 GO SH; § 71 Abs. 1 ThürKO. – Die (Land-)Kreisordnungen rezipieren diese Bestimmungen. 16 Bayern und Thüringen: ein öffentlicher Zweck das Unternehmen erfordert; NordrheinWestfalen: ein dringender öffentlicher Zweck die Betätigung erfordert. 17 Nach der unechten Subsidiaritätsklausel hindert Leistungsparität mit dem privaten Dritten die Gemeinde nicht an der wirtschaftlichen Betätigung; so die Regelungen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Schleswig-Holstein. 18 So BVerwGE 39, 329 (333). – Legaldefinitionen finden sich in § 91 Abs. 1 Satz 1 BbgKVerf und § 107 Abs. 1 Satz 3 GO NW. 19 § 102 Abs. 4 GO BW; § 121 Abs. 2 HessGO; § 68 Abs. 2 KV MV; § 108 Abs. 3 NdsGO; § 107 Abs. 2 GO NW; § 85 Abs. 3 GO RP; § 108 Abs. 2 SaarlKSVG; § 97 Abs. 2 SächsGO; § 101 Abs. 4 GO SH. – Die Zulässigkeit von Nebenleistungen regelt § 91 Abs. 5 BbgKVerf.

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und Verbänden (auch: Gewerkschaften) in einem Branchendialog Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ist.20 2. Geschäftsfelder kommunaler Wirtschaftstätigkeit Bemerkenswert sind die – umstrittenen – Geschäftsfelder, auf denen eine wirtschaftliche Betätigung von Kommunen stattfindet. Ein knapper Überblick zu einigen Rechtsstreitigkeiten illustriert den Befund. In der die seinerzeitige Diskussion für mehrere Jahrzehnte prägenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts von 1972 wandte sich ein Bestattungsunternehmer mit seiner Klage dagegen, dass sich die beklagte Stadt auf dem Gebiet des Bestattungswesens wirtschaftlich betätigte (Verkauf von Bestattungsartikeln, Ausführung von Aufträgen zur Leichenversorgung etc.).21 In einem Fall aus der jüngeren Vergangenheit wehrte sich ein privates Bestattungsunternehmen ebenfalls gegen ein Konkurrenzunternehmen („Städtische Pietät“), wobei es auch um die Verwendung des Stadtwappens, der städtischen Sammelrufnummer, der E-Mail-Adresse der Stadt u. ä. ging.22 Immer wieder ist es im Immobilienbereich zu interessanten Rechtsstreitigkeiten gekommen. Privatunternehmen klagten z. B. gegen die städtische Wohnungsvermittlung,23 die Tätigkeit einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft im sozialen Wohnungsbau,24 die Maklertätigkeit einer städtischen Wirtschafts- und Touristik GmbH25 und die Vermietung von kommunalen Räumen, sei es zum Betrieb eines Fitness-Studios26 oder an gewerbliche Schilderpräger im Gebäude der Kfz-Zulassungsstelle.27 Etliche Unterlassungsklagen betrafen unmittelbare Konkurrenzsituationen zum örtlichen Handwerk und in Bezug auf vergleichbare (Dienst-)Leistungen; erwähnt seien die Durchführung von Elektro-

20 § 121 Abs. 6 HessGO; § 107 Abs. 5 GO NW; § 108 Abs. 5 SaarlKSVG; § 123 GO LSA; § 71 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 ThürKO. – Die Einholung von Angeboten und die Durchführung von Vergleichsberechnungen schreibt § 91 Abs. 3 Satz 2 BbgKVerf vor. 21 BVerwGE 39, 329. 22 OLG Frankfurt a. M., NVwZ-RR 2008, S. 559. 23 BayVGH, BayVBl 1976, 628; BVerwG, NJW 1978, S. 1539. 24 VGH BW, NJW 1984, S. 251 = VBlBW 1983, S. 78. 25 VGH BW, DÖV 1995, S. 120 = NJW 1995, S. 274 = VBlBW 1995, S. 99; BVerwG, DVBl 1996, S. 152 = NJW 1995, S. 2938 = BayVBl 1995, S. 698. – Im Fall des OLG Schleswig, Die Gemeinde SH 2001, S. 10, ging es um den Verkauf gemeindeeigener und einem Erschließungsträger gehörender Grundstücke, allerdings nur bei Übernahme einer privatrechtlichen Verpflichtung zum Fernwärmebezug. 26 OVG NW, DVBl 2004, S. 133 (m. Anm. U. Schliesky) = NVwZ 2003, S. 1520 = NWVBl 2003, S. 462; dazu L. Micker, Die Konkurrenz zwischen privaten und kommunalen Wirtschaftsunternehmen, NWVBl 2004, S. 181 ff.; C. Antweiler, Öffentlich-rechtliche Unterlassungsansprüche gegen kommunale Wirtschaftstätigkeit, NVwZ 2003, S. 1466 ff. 27 BGH, NJW 1998, S. 3778 = GewArch 1999, S. 27; BGH, DÖV 2003, S. 249 = NJW 2003, S. 752 = GewArch 2003, S. 86; OVG NW, NVwZ-RR 2005, S. 198 = NWVBl 2005, S. 68; VGH BW, DÖV 2006, S. 831 = NVwZ-RR 2006, S. 714 = VBlBW 2006, S. 348; OLG Düsseldorf, NJW 2009, S. 1087.

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arbeiten für private Auftraggeber durch Stadtwerke,28 das Kraftfahrzeugrecycling durch eine Tochtergesellschaft von mehreren Stadtwerken,29 die Erledigung gärtnerischer Arbeiten seitens eines städtischen Grünflächenamtes für private Auftraggeber,30 der Betrieb eines Fitness-Studios durch eine stadteigene Gesellschaft31 und der Verkauf von Kfz-Kennzeichenschildern durch einen Landkreis bzw. eine Stadt.32 Hinzu treten in der Praxis sonstige kommunale Aktivitäten, die in Konkurrenz zur Privatwirtschaft stehen, wie z. B. die Erteilung von Nachhilfeunterricht durch eine Volkshochschule,33 das am Markt angebotene Gebäude- und Energiemanagement durch Stadtwerke34 sowie der Betrieb von Städte-Reklame durch eine städtische Gesellschaft.35 Zur Abrundung des Befundes ist darauf hinzuweisen, dass Konkurrentenschutz seitens privater Wettbewerber immer wieder auch in Bereichen gesucht wird, die rechtlich den nichtwirtschaftlichen kommunalen Tätigkeiten36 zuzuordnen sind. Das betrifft aus der jüngeren Vergangenheit z. B. die Abfallentsorgung (Einsammeln und Abtransport des Abfalls)37 und den Betrieb eines Friedhofs.38 Der kommunale Betrieb von Freibädern, Hallenbädern und sonstigen Badeeinrichtungen wie Sauna, Massagen, ferner Imbiss- und Erfrischungsstuben wurde als nichtwirtschaftliche Tätigkeit (§ 108 Abs. 3 Nr. 2 NdsGO) qualifiziert, da es um Sport und Erholung sowie ähnliche Einrichtungen gehe.39

28 BGHZ 150, 343 = DVBl 2002, S. 1282 = NVwZ 2002, S. 1141 (m. Bespr. H. Meyer, NVwZ 2002, S. 1075) = JZ 2003, S. 315 (m. Anm. D. Ehlers). 29 LG Wuppertal, DVBl 1999, S. 939 = NWVBl 1999, S. 275; OLG Düsseldorf, DVBl 2000, S. 284 = DÖV 2000, S. 157 = NVwZ 2000, S. 111 = NWVBl 2000, S. 75 = GewArch 2000, S. 169; BGH, DVBl 2003, S. 267 = NVwZ 2003, S. 246 = NWVBl 2003, S. 190. 30 OLG Hamm, DVBl 1998, S. 792 = NJW 1998, S. 3504 = JZ 1998, S. 576 (m. Anm. M. Müller) = NWVBl 1998, S. 456; dazu P. J. Tettinger, Rechtsschutz gegen kommunale Wettbewerbsteilnahme, NJW 1998, S. 3473 f. 31 OVG LSA, NVwZ-RR 2009, S. 347. 32 BGH, DÖV 1974, S. 785 (m. Anm. G. Püttner); OLG Karlsruhe, NJW-RR 1996, S. 231. 33 OLG Düsseldorf, NWVBl 1997, S. 353 (m. Anm. M. Moraing); dazu M. Moraing, Konkurrentenabwehrklagen, StT 1997, S. 285 ff.; O. Otting, Sittenwidriger Nachhilfeunterricht in der Volkshochschule?, NWVBl 1998, S. 93 ff. 34 OLG Düsseldorf, DVBl 2001, S. 1283 = DÖV 2001, S. 912 = NVwZ 2002, S. 248 = NWVBl 2001, S. 443 = GewArch 2001, S. 370. 35 HessVGH, DÖV 1996, S. 476 = NVwZ 1996, S. 816. 36 Vgl. dazu oben Text zu Fn. 19. 37 OVG NW, NVwZ 2005, S. 1211 = NWVBl 2005, S. 133; OVG RP, DÖV 2006, S. 611 = UPR 2006, S. 282. 38 HessVGH, NVwZ-RR 2009, S. 852. 39 NdsOVG, DÖV 2008, S. 1008 = NVwZ 2009, S. 258 = NdsVBl 2009, S. 21; dazu S. Roling, Trotz echter Subsidiaritätsklausel kein Drittschutz für private Wettbewerber in Niedersachsen?, NdsVBl 2009, S. 10 ff.; ders., Die Entwertung der niedersächsischen Subsidiaritätsklausel, NVwZ 2009, S. 226 ff.

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3. Gründe für kommunalwirtschaftliche Betätigungen und Folgen Über die Gründe für die wirtschaftliche Betätigung von Kommunen gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. Es existieren jedoch plausible Vermutungen. In Zeiten von Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Aufgaben und Dienste geht es sicherlich auch darum, Veränderungen im Bereich kommunaler Daseinsvorsorge durch die Erschließung neuer Geschäftsfelder zu kompensieren, um der Selbstbehauptung kommunaler Körperschaften Rechnung zu tragen.40 Auch mag die Sicherung von Arbeitsplätzen für die kommunale Wirtschaftstätigkeit eine Rolle spielen.41 Entscheidend dürfte jedoch schon immer das Ziel gewesen sein, durch Gewinne aus wirtschaftlicher Tätigkeit die kommunale Finanzsituation zu verbessern.42 Dem Gebot einer aufgabenangemessenen Finanzausstattung der Gemeinden und Gemeindeverbände kommen die Länder seit geraumer Zeit nicht (mehr) nach; viele Kommunen trachten danach, benötigte Mittel wenigstens teilweise anderweitig zu beschaffen, eben durch die kommunale Erwerbswirtschaft.43 Ob dies der richtige Weg aus der kommunalen Finanznot ist, steht auf einem anderen Blatt. Die denkbaren Folgen für kleinere und mittlere lokale Privatunternehmen liegen auf der Hand. III. Entwicklung des Konkurrentenschutzes im kommunalen Wirtschaftsrecht Die aufgeworfene Fragestellung ist keineswegs neu. In einer historischen Perspektive kann die Entwicklung des Konkurrentenschutzes im kommunalen Wirtschaftsrecht in fünf Phasen unterteilt werden: (1) Der Rechtsschutzverweigerung seitens der Verwaltungsgerichtsbarkeit folgte (2) die Rechtsschutzgewährung durch die Zivilgerichtsbarkeit, bis (3) ein Paradigmenwechsel auf beiden Seiten eintrat; allerdings nehmen die sog. ordentlichen Gerichte (4) nunmehr über das Vergaberecht Einfluss auf die Zulässigkeit kommunalwirtschaftlicher Betätigung, so dass (5) das Bemühen um eine Konsolidierung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes immer dringlicher wird (dazu unten IV.). 1. Rechtsschutzverweigerung durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit Für die ältere Verwaltungsrechtsprechung bestand kein Zweifel daran, dass es sich bei den kommunalgesetzlichen Regelungen zur Zulässigkeit kommunaler Wirt40 A. Schink, Wirtschaftliche Betätigung kommunaler Unternehmen, NVwZ 2002, S. 129 (132 ff.). 41 M. Ruffert, Grundlagen und Maßstäbe einer wirkungsvollen Aufsicht über kommunale wirtschaftliche Betätigung, VerwArch 92 (2001), S. 27 (28). 42 J. Wieland, Konkurrentenschutz gegen kommunale Wirtschaftbetätigung, Die Verwaltung 36 (2003), S. 225 ff. 43 K. Rennert, Der Selbstverwaltungsgedanke im kommunalen Wirtschaftsrecht, JZ 2003, S. 385 (392), mit deutlicher Kritik an den Zuständen.

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schaftstätigkeit lediglich um objektives Recht handelt. Folglich vermochten Privatunternehmen die konkurrierende wirtschaftliche Betätigung von Kommunen nicht abzuwehren, weil die einschlägigen Bestimmungen nicht als Schutznorm zu Gunsten der Konkurrenten einer Kommune gedeutet worden sind. Am Beispiel des badenwürttembergischen Rechts begründete dies das Bundesverwaltungsgericht mit Hinweis darauf, dass die (damals) maßgebliche Vorschrift (§ 85 GO a. F.) – anders als § 67 Abs. 1 Nr. 3 DGO und die seinerzeit in Bayern (Art. 75 Abs. 1 Nr. 3 GO) und in Nordrhein-Westfalen (§ 69 Abs. 1 Nr. 1 GO a. F.) geltenden Bestimmungen – keine Subsidiaritätsklausel enthalte und auch nicht vorschreibe, dass ein dringender Zweck das kommunale Unternehmen erfordern müsse; folglich sei nicht intendiert, den einzelnen Unternehmer oder die Privatwirtschaft insgesamt vor der Konkurrenz der öffentlichen Hand zu schützen.44 Kurze Zeit später wurde die These aufgestellt, auch eine im Landesrecht vorhandene Subsidiaritätsklausel verleihe dem privaten Konkurrenzunternehmen kein klagbares Recht; bei der gesetzlichen Regelung zur Zulässigkeit einer kommunalwirtschaftlichen Betätigung handele es sich durchgängig um objektives Recht, aus dem privaten Wettbewerbern allenfalls ein Rechtsreflex erwachsen könne.45 Gleichsam als „Überwindung“ des positiven Kommunalwirtschaftsrechts und Ausformung eines „gemeindeutschen Rechtsgrundsatz“ erscheint die Behauptung, nach der „weit überwiegenden Auffassung in Literatur und Rechtsprechung gewähren die kommunalrechtlichen Vorschriften über die Zulässigkeit der wirtschaftlichen Betätigung der Gemeinden selbst bei bestehenden Subsidiaritätsklauseln den einzelnen privaten Konkurrenten keine klagefähigen subjektiven Abwehrrechte, sondern dienen ausschließlich der Wahrung öffentlicher (Wirtschafts-) Interessen und dem Schutz der Gemeinden vor den Gefahren einer unternehmerischen Betätigung“.46 Die wissenschaftliche Kritik zur Entwicklung der gerichtlichen Kontrollpraxis im kommunalen Wirtschaftsrecht fiel deutlich aus. Die übertrieben restriktive Linie der Verwaltungsrechtsprechung führe zu praktisch rechtsfreien kommunalen Einschätzungsprärogativen.47 Beklagt wurde die an Rechtsverweigerung grenzende Haltung der Verwaltungsgerichte.48 Verwundern muss(te) in der Tat die Zurückhaltung der Judikatur in Bezug auf die Auslotung des normativen Gehalts bestehender Subsidiari-

44 BVerwGE 39, 329 (336); im Anschluss daran VGH BW, NJW 1984, S. 251 (252) = VBlBW 1983, S. 78 und VGH BW, DÖV 1995, S. 120 = NJW 1995, S. 274 = VBlBW 1995, S. 99. 45 BayVGH, BayVBl 1976, S. 628 (629). 46 So HessVGH, NVwZ-RR 2005, S. 425 (427) = GewArch 2004, S. 482 (484). 47 E. Schmidt-Aßmann, Verfassungsschranken der Kommunalwirtschaft, in: Festschrift für P. Ulmer, 2003, S. 1015 (1025); U. Schliesky, Vom kommunalen Wirtschaftsrecht zum Öffentlichen Wettbewerbsrecht, NdsVBl 2005, S. 113 (116). 48 R. Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Allgemeiner Teil, 1990, S. 534; J. Suerbaum, Durchbruch oder Pyrrhussieg? Neues zum Schutz Privater vor der Kommunalwirtschaft, Die Verwaltung 40 (2007), S. 29 (31 f.).

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tätsklauseln. Denn für den Selbstschutz der Kommunen hätte eine Risikobegrenzungsklausel ausgereicht.49 2. Rechtsschutzgewährung durch die Zivilgerichtsbarkeit Die Entwicklung und Festschreibung kontrollfreier Bereiche, die indessen durch reale Konflikte gekennzeichnet sind, ist kein rechtsstaatlich attraktives und auf Dauer durchzuhaltendes Konzept. Die privaten Wettbewerber kommunaler Wirtschaftsunternehmen sind den Weg über das Wettbewerbsrecht gegangen und haben im Kern mit Erfolg geltend gemacht, eine Kommune handele wettbewerbswidrig (i. S. d. § 1 UWG a. F.), wenn sie unter Verstoß gegen die kommunalrechtlichen Vorschriften über die Zulässigkeit wirtschaftlicher Betätigung in Konkurrenz zu privaten Wettbewerbern trete.50 In Anknüpfung an die ältere BGH-Rechtsprechung51 wurde erkannt: Werde der Marktzutritt der öffentlichen Hand von besonderen Voraussetzungen abhängig gemacht, die dem Schutz der privaten Konkurrenten dienten, bestehe wegen des Wettbewerbverstoßes ein Anspruch auf Unterlassung der kommunalen Wirtschaftstätigkeit; die Bestimmungen der Gemeindeordnungen zur Zulässigkeit der Kommunalwirtschaft dienten dem Schutz der privaten Wirtschaft gegen eine kommunalwirtschaftliche Betätigung.52 Diese UWG-Rechtsprechung stellt eine Reaktion auf den weitgehend leerlaufenden Rechtsschutz durch die Verwaltungsgerichte zur wirtschaftlichen Betätigung von Kommunen dar.53 Die „Kompensationsleistung“ der Zivilgerichtsbarkeit ist durchaus begrüßt und teilweise – zur Vermeidung einer Rechtsschutzlosigkeit privater Wettbewerber – sogar gefordert worden.54 Auf der anderen Seite ist aber auch Kritik geäußert 49

D. Ehlers, Empfiehlt es sich, das Recht der öffentlichen Unternehmen im Spannungsfeld von öffentlichem Auftrag und Wettbewerb national und gemeinschaftsrechtlich neu zu regeln?, Gutachten E zum 64. Deutschen Juristentag, Berlin 2002, S. 84. 50 Einen Überblick zur maßgeblichen Zivilrechtsprechung bietet J. Wieland (Fn. 42), Die Verwaltung 36 (2003), S. 225 (231 ff.). 51 BGH, GRUR 1965, S. 373 („Blockeis II“); BGH, GRUR 1973, S. 655 („Möbelauszeichnung“); BGH, GRUR 1989, S. 432 und 1992, S. 123 („Kachelofenbauer“ I und II); BGH, WRP 1995, S. 475 („Sterbegeldversicherung“). 52 OLG Düsseldorf, NWVBl 1997, S. 353 (354); OLG Hamm, DVBl 1998, S. 792 f. = NJW 1998, S. 3504 = JZ 1998, S. 576 (577) = NWVBl 1998, S. 456; OLG Düsseldorf, DVBl 2000, S. 284 = DÖV 2000, S. 157 (158) = NVwZ 2000, S. 111 = NWVBl 2000, S. 75; OLG München, NVwZ 2000, S. 835 = GewArch 2000, S. 279 (280); OLG Düsseldorf, DVBl 2001, S. 1283 (1284 f.) = DÖV 2001, S. 912 (913 f.) = NVwZ 2002, S. 248 (249) = NWVBl 2001, S. 443 (444 f.) = GewArch 2001, S. 370 (371 f.). – Anders, d. h. die Verwaltungsrechtsprechung übernehmend, OLG Karlsruhe, DVBl 2001, S. 832 (833 f.) = DÖV 2001, S. 431 (432) = NVwZ 2001, S. 712 = VBlBW 2001, S. 234; dazu G. Werner, Wirtschaftliche Betätigung von Kommunen, VBlBW 2001, S. 206 ff.; V. Stehlin, Wirkt die Subsidiaritätsklausel des § 102 I Nr. 3 BadWürttGO drittschützend?, NVwZ 2001, S. 645 ff. 53 E. Schmidt-Aßmann, FS Ulmer (Fn. 47), S. 1026. 54 C. Weidemann, Die duale Abfallwirtschaft – moderner Steuerungsansatz oder regulatorische Überforderung?, VerwArch 90 (1999), S. 533 (545 ff.); H.-J. David, Wettbewerbs-

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worden: Die Verlagerung des Konkurrentenschutzes im kommunalen Wirtschaftsrecht auf § 1 UWG (a. F.) sei eine Fehlentwicklung, weil bei der Deutung der kommunalwirtschaftlichen Vorschriften im Rahmen des UWG Unstimmigkeiten aufträten.55 3. Doppelter Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung Die Wende in Teilen der Rechtsprechung hin zum Verständnis des drittschützenden Gehalts kommunalwirtschaftsrechtlicher Regelungen wurde durch eine landesverfassungsgerichtliche Normenkontrolle eingeleitet. Anlass war die Verschärfung einer bestehenden Subsidiaritätsklausel hin zu einer echten Subsidiaritätsklausel (§ 85 Abs. 1 Nr. 3 GO RP).56 Danach darf eine Gemeinde wirtschaftliche Unternehmen nur errichten, übernehmen oder wesentlich erweitern, wenn der öffentliche Zweck nicht ebenso gut und wirtschaftlich durch einen privaten Dritten erfüllt wird oder erfüllt werden kann. Dieser Bestimmung wurde verfassungsgerichtlich die Verfassungsmäßigkeit attestiert und zum normativen Gehalt eine drittschützende Wirkung beigemessen; schon der Gesetzeswortlaut hebe die Zweckerfüllung durch einen privaten Dritten als Betätigungssperre für die Gemeinde hervor, außerdem habe der Gesetzgeber mit der Subsidiaritätsklausel den Schutz der Privatwirtschaft vor einer Beeinträchtigung ihrer Interessen bezweckt.57 „Grundstürzende Änderungen“ sowie eine „Signalwirkung für die Verwaltungsgerichtsbarkeit“ sind mit dieser Deutung der Subsidiaritätsklausel verbunden worden.58 Die Grundlagen für den angekündigten Paradigmenwechsel sind mittlerweile insoweit gelegt, als in den Gemeindeordnungen aller Flächenländer die Subsidiaritätsklausel Niederschlag gefunden hat. Der Rechtsprechungswechsel in der Zivilgerichtsbarkeit wurde durch das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 24. April 2002 eingeleitet: Ein Verstoß gegen die Bestimmungen des kommunalen Wirtschaftsrechts zur Zulässigkeit kommunalwirtschaftlicher Betätigung führe nicht zugleich zur Wettbewerbswidrigkeit i. S. d. § 1 UWG (a. F.); auf Grund ihrer beschränkten Zielsetzung sei es nicht Zweck der Vorschrift, den Marktzutritt unter Rückgriff auf das Kommunalrecht zu verbieten, vielmehr müsse der Gesetzesverstoß die Handlung in der Weise prägen, dass diese gerade rechtliche Ansprüche gegen Betätigung von Kommunen und deren Gesellschaften, NVwZ 2000, S. 738 (739 ff.); R. Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht (Fn. 48), S. 534. 55 M. Ruffert, Kommunalwirtschaft und Landes-Wirtschaftsverfassung, NVwZ 2000, S. 763 (764). 56 Zur Unterscheidung zwischen echter und unechter Subsidiaritätsklausel vgl. oben Text zu und in Fn. 17. 57 VerfGH RP, DVBl 2000, S. 992 (995) = DÖV 2000, S. 682 (686) = NVwZ 2000, S. 801 (804); zustimmend Anmerkung H.-G. Henneke, DVBl 2000, S. 997 ff.; W. Neutz, Gemeindewirtschaftsrecht – Verschärfte Subsidiaritätsklausel und Berichtspflicht sind mit der Verfassung von Rheinland-Pfalz vereinbar, ZG 2000, S. 279 (284 ff.); ablehnend J. Wieland (Fn. 42), Die Verwaltung 36 (2003), S. 225 (231, 237): Es gebe keinen Grund, warum private Wettbewerber kommunalrechtliche Vorschriften zum Schutz der Kommunen zur Zurückdrängung von Konkurrenz nutzen können sollten. 58 M. Ruffert (Fn. 55), NVwZ 2000, S. 763 (764).

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auch als Wettbewerbsverhalten sittenwidrig i. S. d. § 1 UWG (a. F.) sei.59 Danach ist wettbewerbsrechtlich nicht zu überprüfen, ob die Voraussetzungen des kommunalen Wirtschaftsrechts für die wirtschaftliche Betätigung einer Kommune erfüllt sind.60 Diese Änderung der Rechtsprechung ist ebenfalls als Paradigmenwechsel bezeichnet worden.61 Ganz im Sinne der klassischen Zwei-Stufen-Lehre wird das „Ob“ zur Zulässigkeit der wirtschaftlichen Betätigung von Kommunen von den Zivilgerichten nach Maßgabe des Lauterkeitsrechts nicht mehr geprüft; unter Besinnung auf die Schutzfunktion des Wettbewerbsrechts als Marktverhaltensrecht wird zivilrechtlich nicht länger auch die Zulässigkeit des Marktzutritts kontrolliert, sondern lediglich die Art und Weise des Marktverhaltens.62 Das novellierte Lauterkeitsrecht hat die neue Rechtsprechung nachvollzogen, indem das Verbot unlauterer geschäftlicher Handlungen (§ 3 UWG) nicht länger an das Merkmal der Sittenwidrigkeit geknüpft wird und in den Regelbeispielen zu jenen Handlungen nur noch der Verstoß gegen eine solche gesetzliche Vorschrift erfasst wird, „die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln“ (§ 4 Nr. 11 UWG). Um die vormalige Rechtsschutzlosigkeit im kommunalen Wirtschaftsrecht nun aber nicht wieder eintreten zu lassen, sehen sich die Verwaltungsgerichte gehalten, ihre frühere Interpretation der Vorschriften zur Zulässigkeit kommunaler Wirtschaftstätigkeit grundlegend zu überdenken.63

4. Verhältnis zwischen Kommunalwirtschaft und Vergaberecht Eine zivilgerichtliche Kontrolle der Kommunalwirtschaft wird neuerdings im Rahmen des Vergaberechts praktiziert. Beteiligt sich eine Kommune an einem Bieterwettbewerb, wird aus vergaberechtlicher Sicht die Frage aufgeworfen, ob es sich um eine zulässige kommunalwirtschaftliche Betätigung handelt. Grundlage hierfür ist der Anspruch auf Einhaltung der Bestimmungen über das Vergabeverfahren (§ 97 Abs. 7 GWB). Dazu zählen auch die Vergabeverordnung und die jeweils einschlägige Verdingungsordnung.64 Soweit danach wettbewerbsbeschränkenden und 59 BGHZ 150, 343 = DVBl 2002, S. 1282 = NVwZ 2002, S. 1141 = NJW 2002, S. 2645 = JZ 2003, S. 315 (m. Anm. D. Ehlers); bestätigend BGH, DVBl 2003, S. 267 (268) = NVwZ 2003, S. 246 (247) = NWVBl 2003, S. 190 (191). 60 OLG Frankfurt a. M., NVwZ-RR 2008, S. 559. – Im Fall BGH, DÖV 2003, S. 249 = NJW 2003, S. 752 = GewArch 2003, S. 86 („Schilderprägebetrieb“) lag wegen der unzulässigen Verquickung öffentlich-rechtlicher Aufgaben mit wirtschaftlicher Tätigkeit ein Wettbewerbsverstoß vor. 61 A. Faber (Fn. 11), DVBl 2003, S. 761 (765). 62 C. Scharpf, Drittschutz für die Privatwirtschaft?, GewArch 2004, S. 317 (318); R. Mann, Die drittschützende Wirkung der kommunalrechtlichen Subsidiaritätsregelungen unter Berücksichtigung aktueller Fallbeispiele aus der Rechtsprechung, DVBl 2009, S. 817 (819). 63 A. Faber (Fn. 11), DVBl 2003, S. 761 (765); E. Schmidt-Aßmann, FS Ulmer (Fn. 47), S. 1030; C. Scharpf (Fn. 62), GewArch 2004, S. 317. 64 M. Heßhaus, Kommunale Wirtschaftstätigkeit und Lauterkeit des Wettbewerbs, NWVBl 2003, S. 173 (174).

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unlauteren Verhaltensweisen entgegenzuwirken ist, soll dies gleichsam der Kompetenztitel dafür sein, Verstöße gegen die Regelungen über die Zulässigkeit kommunalwirtschaftlicher Betätigung zu überprüfen, weil darin eine den Wettbewerb verfälschende Unlauterkeit zu sehen sei.65 Vergabekammern und Vergabesenate übernehmen in diesem Gewande die Rolle von Kontrolleuren über die Einhaltung des kommunalen Wirtschaftsrechts. Die Parallele zur Diskussion um das Verhältnis zwischen dem Lauterkeitsrecht und dem Kommunalwirtschaftsrecht (vorstehend 3.) ist unverkennbar. Auch im vorliegenden Zusammenhang ist zwischen dem „Ob“ und dem „Wie“ zu unterscheiden. Ob sich eine Kommune wirtschaftlich betätigen darf, beantwortet ausschließlich das Gemeindewirtschaftsrecht; das dieser vorgelagerten Fragestellung nachgelagerte Vergaberecht enthält dazu keine normativen Vorgaben, und das Ausschreibungsverfahren steht mit den kommunalrechtlichen Bestimmungen in keinem Zusammenhang.66 Für das Verhältnis zum Kommunalwirtschaftsrecht gilt für das Vergaberecht nichts anderes als für das Lauterkeitsrecht.67 IV. Anerkennung des Drittschutzes im kommunalen Wirtschaftsrecht 1. Gesetzesnovellen Der „Einzug“ des verwaltungsrechtlichen Drittschutzes in das Kommunalwirtschaftsrecht basiert in erster Linie auf einer Entscheidung des jeweiligen Landesgesetzgebers: die Einführung einer (echten) Subsidiaritätsklausel. Den Anfang der neueren Entwicklung machte im Jahre 1998 Rheinland-Pfalz (§ 85 Abs. 1 Nr. 3 GO); der dortige Verfassungsgerichtshof konnte sich in seiner erwähnten Entscheidung (oben III. 3.) auf die Gesetzesbegründung berufen, wonach die Privatwirtschaft mittels Subsidiaritätsklausel vor einer Beeinträchtigung ihrer Interessen durch die Kommunalwirtschaft zu schützen sei.68 In Sachsen wird nach Einführung der Subsidiaritätsklausel im Jahre 2003 (§ 97 Abs. 1 Nr. 3 GO) ebenfalls kein Zweifel daran

65 OLG Düsseldorf, NVwZ 2000, S. 714 = NWVBl 2000, S. 356; NWVBl 2003, S. 192; BeckRS 2008, S. 21712; OLG Celle, NZBau 2009, S. 394; dieser Rechtsprechung zustimmend z. B. C. Braun, Unlauterer Wettbewerb durch kommunale Gesellschaften, SächsVBl 2009, S. 201 (204 f.) – Das OVG NW, DVBl 2008, S. 919 = NVwZ 2008, S. 1031 = NWVBl 2008, S. 418, meint, die Vergabeprüfstellen dürften nur offensichtliche Verstöße gegen die Schranken des kommunalen Wirtschaftsrechts berücksichtigen; dazu J. Ennuschat, Kommunalwirtschaftsrecht – Prüfungsmaßstab im Vergaberechtsschutz?, NVwZ 2008, S. 966 ff. 66 A. Faber (Fn. 11), DVBl 2003, S. 761 (767); T. Dünchheim/F. J. Schöne, Privat vor Staat? – Die Novellierung des kommunalen Wirtschaftsrechts in NRW, DVBl 2009, S. 146 (148); T. Mann, Kommunales Wirtschaftsrecht als Vorfrage des Vergaberechts?, NVwZ 2010, S. 857 (861 f.). 67 M. Heßhaus (Fn. 64), NWVBl 2003, S. 173 (175). 68 LT RP Drucks. 13/2306, 29.

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gelassen, dass damit der Drittschutz anzuerkennen ist.69 Dasselbe gilt für Hessen, wo der entsprechende Gesetzgebungsakt (§ 121 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GO) im Jahre 2005 in Kraft getreten ist.70 In Baden-Württemberg gilt die echte Subsidiaritätsklausel (§ 102 Abs. 1 Nr. 3 GO) seit Anfang 2006; die Rechtsprechung hat – in Abkehr von der früheren, auf Grund der alten Rechtslage ergangenen ablehnenden Judikatur – sogleich erklärt, die Neuregelung habe drittschützende Wirkung für private Anbieter am Markt.71 Nicht überall akzeptieren Gerichte die gesetzliche Einführung des Konkurrentenschutzes im Kommunalwirtschaftsrecht. In Niedersachsen dürfen nach der seit Anfang 2006 geltenden Neufassung der Subsidiaritätsklausel kommunale Unternehmen nur errichtet, übernommen oder wesentlich erweitert werden, wenn und soweit der öffentliche Zweck nicht ebenso gut und wirtschaftlich durch einen privaten Dritten erfüllt wird oder werden kann (§ 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 GO). Der Wortlaut ist mit der rheinland-pfälzischen Regelung (§ 85 Abs. 1 Nr. 3 GO) identisch.72 Dennoch behauptet die obergerichtliche Rechtsprechung – ohne allerdings die dortige Verfassungsjudikatur73 zur Kenntnis zu nehmen –, mangels hinreichend sicherer Anhaltspunkte in der Gesetzesbegründung bestehe die Subsidiaritätsklausel weiterhin allein im öffentlichen Interesse mit Blick auf das Gebot einer sparsamen und wirtschaftlichen Haushaltswirtschaft der Gemeinden; nur die Gesamtheit der mittelständischen Unternehmen solle gegenüber der kommunalen Konkurrenz besser gestellt werden.74 Nachvollziehbar ist diese Behauptung nicht, da das Gesetz ausdrücklich „einen privaten Dritten“ nennt, der im Wettbewerb zu der Gemeinde steht.75 Ähnlich ist die Situation in Sachsen-Anhalt: Obwohl eine kommunalwirtschaftliche Betätigung nach der Subsidiaritätsklausel nur zulässig ist, wenn die Gemeinde „nachweist, dass sie den Zweck besser und wirtschaftlicher als ein anderer erfüllt oder erfüllen kann“ 69

C. Braun (Fn. 65), SächsVBl 2009, S. 201 (202), unter Hinweis auf LT-Drucks. 3/7625. C. Pegatzgy/A. Sattler, Die Änderungen des kommunalen Wirtschafts- und Haushaltsrechts durch die Hessische Kommunalrechtsnovelle 2005, NVwZ 2005, S. 1376, unter Hinweis auf LT-Drucks. 16/2463; Drittschutz bestätigend HessVGH, NVwZ-RR 2009, S. 852 (853). 71 VGH BW, DÖV 2006, S. 831 (832) = NVwZ 2006, S. 714 (715) = VBlBW 2006, S. 348. – Zur neuen Rechtslage auch F. Els, Rechtsschutz gegen einen unzulässigen Marktzugriff der Gemeinde, VBlBW 2006, S. 420 ff.; V. Stehlin/M. Grabolle, Spielräume gemeindlicher Wirtschaftstätigkeit, VBlBW 2007, S. 41 ff.; T. Heilshorn, Die Neufassung der kommunalwirtschaftlichen Subsidiaritätsklausel und des Gebietsbezugs kommunaler Unternehmen in BadenWürttemberg, VBlBW 2007, S. 161 ff. 72 Vgl. oben Text nach Fn. 56. 73 Vgl. oben Text zu Fn. 57. 74 NdsOVG, DÖV 2008, S. 1008 (1009) = NVwZ 2009, S. 258 (260) = NdsVBl 2009, S. 21 (23); zustimmend H. Freese, Die geringe Steuerungswirkung von echten Subsidiaritätsklauseln im Gemeindewirtschaftsrecht, NdsVBl 2009, S. 192 ff.; zuvor bereits U. Schliesky (Fn. 47), NdsVBl 2005, S. 113 (116), mit der wenig überzeugenden These, eine im sechsten Teil „Gemeindewirtschaft“ der Gemeindeordnung angesiedelte Bestimmung könne nur einen objektivrechtlichen Gehalt haben. 75 Vgl. näher zur Kritik S. Roling (Fn. 39); ferner R. Mann (Fn. 62), DVBl 2009, S. 817 (820). 70

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(§ 116 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GO), weise die Formulierung „als ein anderer“ keinen Drittbezug auf, sondern bezeichne lediglich einen allgemeinen Vergleichsmaßstab; geschützt werde nicht der einzelne Betroffene, „sondern es sollte – abstrakt – einer Konfliktsituation, wie sie aus dem ungehemmten Wettbewerb mit der Privatwirtschaft insgesamt entstehen könnte, begegnet werden“.76 Eine „Konflikt“situation ist in der Regel konkret. Auch ist es keine Eigenart von Gesetzen, „abstrakte“ Situationen zu bewältigen. Der klare Wortlaut des Gesetzes wird vom Gericht nicht ernst genommen; die Ermittlung des geschützten Personenkreises bedarf eben schon der Mühe der Gesetzesauslegung.77 Und dass der Wille des Gesetzgebers nur ein Element unter mehreren für die Gesetzesinterpretation ist, sollte bekannt sein.78 2. Interpretationsansätze Die Drittschutzproblematik im kommunalen Wirtschaftsrecht lässt sich im Rahmen gesicherter rechtsdogmatischer Erkenntnisse zu den Konfliktschlichtungsprogrammen des Öffentlichen Rechts79 anhand der überkommenen Auslegungsmethoden mit nachvollziehbarer Argumentation und vernünftigen Ergebnissen lösen, wenn im Ausgangspunkt der Wortlaut der einschlägigen Gesetzesbestimmungen ernst genommen wird. Der Gesetzgeber muss sich an dem festhalten lassen, was er geregelt hat, nicht was er vielleicht regeln wollte.80 Interpretationsverstärkend mögen grundrechtliche Einwirkungen (Art. 14 Abs. 1, 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG) hinzutreten.81 Niemals darf jedoch das Bewusstsein dafür verloren gehen, dass die Anerkennung der (auch) subjektiv-rechtlichen Wirkung einer Norm des objektiven Rechts – da der Gesetzgeber höchst selten die Frage der individualschützenden Wirkung ausdrücklich klärt82 – eine Zuschreibung auf Grund einer interpretatorischen Leistung darstellt. Die Versagung des Prädikats „Schutznorm“ im kommunalen Wirtschaftsrecht ist von vornherein nur dort angesagt, wo der Gesetzgeber insoweit eine 76 OVG LSA, NVwZ-RR 2009, S. 347 und (Zitat) 348; das Gericht meint ferner, der Regelungsabsicht des Gesetzgebers lasse sich nicht hinreichend sicher entnehmen, dass Drittschutz gewährt werden solle. 77 Vgl. dazu unten IV. 2. b). 78 Vgl. zur Kritik auch R. Mann (Fn. 62), DVBl 2009, S. 817 (821). 79 Dazu Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Bier, VwGO, Vorb § 42 Abs. 2 Rn. 66 ff. („Stellung des Dritten“). 80 BGH, NJW 2007, S. 2177 Tz. 13: Angesichts eines eindeutigen Gesetzeswortlauts (und einer klaren Systematik des Gesetzes) seien Vorstellungen des Gesetzgebers unbeachtlich, wenn sie keinen Niederschlag im Gesetz gefunden hätten. 81 A. Berger, Das kommunalrechtliche Subsidiaritätsgebot als subjektives öffentliches Recht, DÖV 2010, S. 118 ff., stützt ihr Konzept maßgeblich auf Subjektivierungspflichten der Landesgesetzgeber nach Maßgabe der Grundrechte (im Zweifel Bejahung des Konkurrentenschutzes). 82 Ausdrückliche Zuschreibung eines Anspruchs z. B. in § 1 Abs. 1 Satz 1 IFG, § 3 Abs. 1 Satz 1 UIG, § 1 Abs. 1 Satz 1 VIG. – Gegenbeispiele: § 1 Abs. 3 Satz 2 BauGB (kein Anspruch auf Aufstellung eines Bebauungsplans), § 4 Abs. 4 FinDAG (Wahrnehmung von Aufgaben der Finanzdienstleistungsaufsicht nur im öffentlichen Interesse).

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definitive Entscheidung getroffen hat.83 Unabhängig davon besteht Einigkeit darüber, dass die Angemessenheitsklausel (d. h. dass die kommunale Unternehmenstätigkeit in einem angemessenen Verhältnis zur Leistungsfähigkeit der Gemeinde und zum voraussichtlichen Bedarf steht) keinen Drittschutz vermittelt, sondern dem Schutz der Kommune dient.84 a) Konkurrentenschutz durch Bindung an den „öffentlichen Zweck“ Einen Sonderweg hat die Rechtsprechung in Nordrhein-Westfalen eingeschlagen. Dass die Subsidiaritätsklausel (§ 107 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GO) eine drittschützende Funktion enthalten könne, wird bezweifelt und durch die These ergänzt, jedenfalls die Betätigungsschranke des § 107 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GO (a. F.), wonach ein öffentlicher Zweck die kommunalwirtschaftliche Betätigung erfordern müsse, begründe subjektive Rechte und diene dem Schutz der durch eine solche Betätigung betroffenen Wirtschaftsteilnehmer, insbesondere privater Konkurrenten. Zur Begründung verweist die Rechtsprechung auf das Erfordernis einer Marktanalyse zu den Auswirkungen auf das Handwerk und die mittelständische Wirtschaft (§ 107 Abs. 5 GO); dies zeige, dass es nicht allein im öffentlichen Interesse um den Schutz der Gemeinden vor den Gefahren wirtschaftlicher Betätigung gehe, sondern auch um einen Ausgleich in einem widerstreitenden Interessensgeflecht unter Einschluss der örtlichen Wirtschaftsteilnehmer.85 Auch für die seit Oktober 2007 geltende Gesetzesfassung hat die Judikatur ausdrücklich bestätigt, dass dem Erfordernis eines dringenden öffentlichen Zwecks für die Zulässigkeit kommunalwirtschaftlicher Betätigung (§ 107 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GO n. F.)86 ein drittschützender Charakter zu Gunsten konkurrierender Wirtschaftsunternehmen zuzumessen sei.87 Anerkennenswert ist das Bemühen der Rechtsprechung, die realen Konflikte um kommunalwirtschaftliche Betätigungen nicht einem rechtsfreien Raum zu überlassen, sondern dem Konkurrentenschutz zuzuführen. Die Argumentation zur Absicherung des gefundenen Ergebnisses hat aber entscheidende Schwachstellen: Die Markt83

§ 91 Abs. 1 Satz 2 BbgKVerf bestimmt in Bezug auf die gesetzlichen Vorgaben zur Zulässigkeit kommunalwirtschaftlicher Betätigung: „Die nachfolgenden Regelungen dienen ausschließlich dem Schutz der Leistungsfähigkeit der Gemeinden.“ 84 T. Jungkamp, Rechtsschutz privater Konkurrenz gegen die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden, NVwZ 2010, S. 546. 85 OVG NW, DVBl 2004, S. 133 (134) = NVwZ 2003, S. 1520 (1521) = NWVBl 2003, S. 462 (463); OVG NW, NVwZ 2005, S. 1211 (1212) = NWVBl 2005, S. 133 (134); in diesem Sinne auch C. Scharpf (Fn. 62), GewArch 2004, S. 317 (319); Grooterhorst/Törnig, Wo liegt die Grenze der Zulässigkeit der wirtschaftlichen Betätigung von Kommunen?, DÖV 2004, S. 685 (687). 86 C. Hamacher, GO-Reform in NRW und wirtschaftliche Betätigung, NWVBl 2008, S. 81 (86 ff.), äußert verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber den restriktiven Rahmenbedingungen für kommunalwirtschaftliches Handeln; überzeugend ist das kaum. 87 OVG NW, NVwZ 2008, S. 1031 (1032) = NWVBl 2008, S. 418; ebenso T. Dünchheim/ F.-J. Schöne (Fn. 66), DVBl 2009, S. 146 (149).

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analyse (§ 107 Abs. 5 Satz 1 GO NW) betrifft „das Handwerk“ und „die mittelständische Wirtschaft“, schützt aber nicht den einzelnen Handwerker oder sonstigen Wirtschaftsunternehmer.88 Der Branchendialog (§ 107 Abs. 5 Satz 2 GO NW) hat nur eine verfahrensrechtliche Bedeutung und dient der Entscheidungsvorbereitung für den Rat, bindet diesen aber nicht.89 § 107 Abs. 5 GO NW verfolgt demnach eher objektive Interessen, vermittelt aber keinen individuellen Schutz.90 Und die Bindung an den „öffentlichen Zweck“ bietet keinen Anhaltspunkt für die Bestimmung des Kreises der geschützten Dritten.91

b) Konkurrentenschutz auf Grund der Subsidiaritätsklausel Grundlage für die Anerkennung des Konkurrentenschutzes gegenüber kommunalwirtschaftlicher Betätigung ist die Subsidiaritätsklausel.92 Für die Ermittlung der drittschützenden Wirkung kommt es nicht darauf an, ob die einschlägige Bestimmung inhaltlich als „echte“ oder als „unechte“ Subsidiaritätsklausel ausgestaltet ist. Ob eine Gemeinde an einer konkreten wirtschaftlichen Betätigung schon dann gehindert ist, wenn ein privater Dritter den Zweck ebenso gut und wirtschaftlich wie die Gemeinde erfüllt bzw. erfüllen kann oder ob der Dritte besser und wirtschaftlicher als die Gemeinde sein muss, ist keine Frage der drittschützenden Wirkung der Gesetzesbestimmung, sondern des materiellen Vorrangs des Dritten oder der Gemeinde. Für die individualschützende Wirkung kommt es nur auf den Drittbezug der Bestimmung an.93 Mustert man die Gemeindeordnungen durch, so ist der Drittbezug fast überall hergestellt: Kommunalwirtschaftliche Betätigungsschranken bestehen bei gleich guter oder besserer Zweckerfüllung durch „einen privaten Anbieter“,94 „einen anderen“,95 88 C. Antweiler (Fn. 26), NVwZ 2003, S. 1466 (1467); J. Suerbaum (Fn. 48), Die Verwaltung 40 (2007), S. 29 (35 f.). 89 K.-F. Faßbender, Rechtsschutz privater Konkurrenten gegen kommunale Wirtschaftsbetätigung, DÖV 2005, S. 89 (94); J. Suerbaum (Fn. 48), Die Verwaltung 40 (2007), S. 29 (36). 90 U. Schliesky, Anmerkung, DVBl 2004, S. 138; I. Jungkamp (Fn. 84), NVwZ 2010, S. 546. 91 L. Micker (Fn. 26), NWVBl 2004, S. 181 (182). 92 So auch der Interpretationsansatz von VerfGH RP, DVBl 2000, S. 992 (995) = DÖV 2000, S. 682 (685 f.) = NVwZ 2000, S. 801 (803 f.); OLG Düsseldorf, DVBl 2001, S. 1283 (1285) = DÖV 2001, S. 912 (914) = NVwZ 2002, S. 248 (249) = NWVBl 2001, S. 443 (445) = GewArch 2001, S. 370 (371); A. Faber (Fn. 11), DVBl 2003, S. 761 (765); E. Schmidt-Aßmann, FS Ulmer (Fn. 47), S. 1030; L. Micker (Fn. 26), NWVBl 2004, S. 181 (182); C. Scharpf (Fn. 62), GewArch 2004, S. 317 (319 f.). 93 T. Jungkamp (Fn. 84), NVwZ 2010, S. 546 (547 ff.), meint, Drittschutz nach der unechten Subsidiaritätsklausel gebe es in Sachsen, nicht in Mecklenburg-Vorpommern und SchleswigHolstein, die echte Subsidiaritätsklausel vermittele Drittschutz in Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und im Saarland, nicht in Bayern, Sachsen-Anhalt und Thüringen. 94 § 102 Abs. 1 Nr. 3 GO BW, § 121 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 HessGO.

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„einen privaten Dritten“,96 „andere Unternehmen“.97 Wenn Gesetzessprache ihren Sinn nicht völlig verlieren soll, ist durch derartige Begrifflichkeiten der Drittbezug – ebenso wie z. B. beim „Nachbarn“ im Baurecht – in kaum zu überbietender Deutlichkeit hergestellt.98 Die unmissverständliche Benennung des Einzelnen macht zudem deutlich, dass es nicht – unspezifisch – um „das“ Handwerk oder „den“ Mittelstand“ geht. Zweifel können im Ländervergleich allenfalls dort auftauchen, wo „der Dritte“ als Rechtsfigur erscheint99 oder die Subsidiaritätsklausel die Zweckerfüllung „auf andere Weise“ anspricht;100 dadurch könnten auch z. B. kommunale Zweckverbände gemeint sein, obgleich dies nicht unbedingt die naheliegende Deutungsvariante ist. Der geschützte Personenkreis lässt sich in der Regel unschwer identifizieren, im Einzelfall auftretende Abgrenzungsprobleme gehören zum üblichen Geschäft von Juristen. Geschützt sind alle Wirtschaftsteilnehmer, deren Marktinteressen durch die kommunale wirtschaftliche Betätigung beeinträchtigt werden.101 Konkret hängt dies vom jeweiligen Geschäftsfeld (oben II. 2.) ab. Konkurrentenschutz erhalten demnach entsprechend der kommunalen Wirtschaftsaktivität z. B. die örtlichen Bestattungsunternehmer, Immobilienmakler, Elektriker, Gärtner, Fitness-Studio-Betreiber oder Kfz-Schilderpräger. Man wird kaum behaupten können, dass damit im konkreten Fall ein nicht mehr überschaubarer Personenkreis in Rede steht. Auch von daher gibt es keinen Grund, den Drittschutz nach der Subsidiaritätsklausel scheitern zu lassen. 3. Praktischer Ertrag Mit der breit angelegten Anerkennung des prinzipiell zulässigen Konkurrentenschutzes im Kommunalwirtschaftsrecht wäre eine notwendige, aber noch nicht die hinreichende Bedingung für die Effektuierung des Rechts in jenem Bereich geschaffen. In materiellrechtlicher Hinsicht bestehen nach herrschender Auffassung mindestens drei einschneidende Restriktionen, die Zweifel an der Rechtsschutzeffektivität aufkommen lassen. Da es sich dabei allerdings lediglich um interpretatorisch verur95 Art. 87 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BayGO, § 71 Abs. 1 Nr. 4 ThürKO; ähnlich § 116 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GO LSA. 96 § 108 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 NdsGO, § 85 Abs. 1 Nr. 3 GO RP; § 108 Abs. 1 Nr. 3 SaarlKSVG; § 97 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SächsGO. 97 § 107 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GO NW. 98 Unbehelflich H. Freese (Fn. 74), NdsVBl 2009, S. 192 (194), mit Hinweis darauf, der „private Dritte“ sei „keine bestimmte Rechtsfigur“ und der unbegründeten Behauptung, selbst wenn „eine Individualisierung erfolgen würde, ließe sich daraus ein Drittschutz nicht zwangsläufig herleiten“. 99 § 68 Abs. 1 Nr. 3 KV MV. 100 § 101 Abs. 1 Nr. 3 GO SH. 101 OVG NW, DVBl 2004, S. 133 (135) = NVwZ 2003, S. 1520 (1522) = NWVBl 2003, S. 462 (464); OVG NW, NVwZ-RR 2005, S. 198 (199) = NWVBl 2005, S. 68 (69) – jeweils zu § 107 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GO NW.

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sachte Schutzdefizite handelt, ließen sich diese durch eine entsprechende Korrektur beheben. a) Rechtsdogmatische Weichenstellungen Der erste Problemkreis betrifft den sachlichen Anwendungsbereich der Vorschriften zur Zulässigkeit kommunalwirtschaftlicher Betätigung. Insoweit sind die Gesetzesformulierungen unterschiedlich. Teilweise wird explizit auf die „wirtschaftliche Betätigung“ abgestellt;102 die Mehrzahl der Gemeindeordnungen spricht davon, dass die Gemeinde nur unter den Voraussetzungen der Schrankentrias (öffentlicher Zweck, Angemessenheitsklausel, Subsidiaritätsklausel) „wirtschaftliche Unternehmen“ errichten (gründen), übernehmen oder (wesentlich) erweitern (zum Teil auch noch: sich daran beteiligen) darf.103 Aus der letztgenannten Formulierung ist der Schluss gezogen worden, gesetzlich erfasst würden nur solche Wettbewerbssituationen, in denen ein kommunales Unternehmen im institutionellen Sinne (d. h. Zusammenfügung persönlicher und sächlicher Mittel mit einer gewissen organisatorischen Festigkeit) agiere; das Vermieten gewerblicher Räume durch einen Landkreis an einen Schilderpräger im Kreishaus in räumlicher Nähe zur Kfz-Zulassungsstelle falle darunter nicht.104 Überzeugend ist das kaum; selbstverständlich ist der Begriff „Unternehmen“ funktional zu verstehen.105 Andernfalls liefen die Vorschriften weitgehend leer. Das Gesetz spricht im Rahmen der drittschützenden Subsidiaritätsklausel von einem „Tätigwerden“ der Gemeinde, das unterbleiben muss, wenn der Zweck der wirtschaftlichen Betätigung ebenso gut und wirtschaftlich durch einen privaten Anbieter erfüllt wird oder erfüllt werden kann.106 Deutlicher kann das funktionale Begriffsverständnis kaum zum Ausdruck gebracht werden. Zu dem unbestimmten Rechtsbegriff „öffentlicher Zweck“ wird seit jeher ein kommunalpolitischer Beurteilungsspielraum postuliert; es gehe um die Frage sachgerechter Kommunalpolitik.107 Überzeugender ist demgegenüber der in der Rechtsprechung entwickelte Ansatz, dass das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung „öffentlicher Zweck“ uneingeschränkter gerichtlicher Überprüfung unterliegt und allenfalls die „Erforderlichkeit“ der kommunalwirtschaftlichen Aktivität zur Zweckerfül102 § 121 Abs. 1 Satz 1 HessGO, § 107 Abs. 1 Satz 1 GO NW, § 116 Abs. 1 Satz 1 GO LSA; auch § 91 Abs. 2 BbgKVerf. 103 § 102 Abs. 1 GO BW, Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayGO, § 68 Abs. 1 KV MV; § 108 Abs. 1 Satz 2 NdsGO, § 85 Abs. 1 RO RP, § 108 Abs. 1 SaarlKSVG, § 97 Abs. 1 Satz 1 SächsGO, § 101 Abs. 1 GO SH, § 71 Abs. 1 ThürKO. 104 VGH BW, DÖV 2006, S. 831 (832 f.) = NVwZ-RR 2006, S. 714 (715) = VBlBW 2006, S. 348 (349). 105 F. Els (Fn. 71), VBlBW 2006, S. 420 (421): „Wirtschaften der Kommunen“. 106 § 102 Abs. 1 Nr. 3 GO BW; ebenso Art. 87 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BayGO und § 71 Abs. 1 Nr. 4 ThürKO; § 108 Abs. 1 NdsGO betont zunächst (Satz 1) das Wesentliche (wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden), um anschließend (Satz 2) die drei Voraussetzungen für Errichtung, Übernahme oder wesentliche Erweiterung von Unternehmen zu normieren. 107 So z. B. C. Braun (Fn. 65), SächsVBl 2009, S. 201 (202).

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lung (wegen wertender und prognostischer Elemente) einer kommunalen Einschätzungsprärogative unterliegt.108 Rechtsdogmatisch noch korrekter wäre in diesem Punkt die Anerkennung einer gerichtlichen Kontrollkompetenz am Maßstab der „nachvollziehenden Abwägung“. Auch im Rahmen der „Subsidiaritätsklausel“ wird ein kommunaler Beurteilungsspielraum anerkannt: Lege eine Gemeinde auf Grund eines vollständig ermittelten Sachverhalts und ausgehend von einem richtigen Verständnis der anzuwendenden Norm vertretbar dar, dass und warum ihre eigene Leistungserbringung wirtschaftlicher oder besser sei, hätten die Gerichte und der private Dritte dies hinzunehmen; eine gerichtlich nachprüfbare Rechtsfrage sei es indes, ob sich die Beurteilung der Gemeinde in dem durch das Gesetz vorgegebenen Rahmen halte.109 b) Rechtsprechungspraxis Insgesamt muss der Steuerungskraft der kommunalrechtlichen Vorschriften zur wirtschaftlichen Betätigung von Gemeinden und Gemeindeverbänden danach mit einer gewissen Zurückhaltung begegnet werden. Dies nötigt aber nicht, sofern man die Rechtsprechung genauer analysiert (dazu sogleich), zu resignativen Schlussfolgerungen. So ist z. B. die Behauptung nicht richtig, dass ein „öffentlicher Zweck“ nur bei reinem Gewinnstreben nicht gegeben sei.110 Im Rahmen der Subsidiaritätsklausel ist der Vergleich zwischen kommunalen und privaten Angeboten sicherlich mitunter komplex und die Durchführung eines Marktanalyseverfahrens mangels konkreter gesetzlicher Vorgaben nicht immer ganz einfach.111 Aber auch in diesem Punkt zeigt die Rechtsprechungspraxis, dass die entschlossene Anwendung der Subsidiaritätsklausel in manchen Fällen ohne großen Aufwand zu befriedigenden Ergebnissen führen kann. Zutreffend ist allerdings die Beobachtung, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit beim Konkurrentenschutz im kommunalen Wirtschaftsrecht bislang komplett versagt hat, und zwar auch nach Anerkennung der drittschützenden Wirkung der maßgeblichen Gesetzesbestimmungen. Dazu muss freilich bedacht werden, dass manche der überaus kommunalfreundlichen Gerichtsentscheidungen mehr als fragwürdig ist. So ist z. B. die Vermietung neu erstellter Räumlichkeiten auf einem städtischen Parkhaus

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OVG NW, NVwZ 2008, S. 1031 (1035) = NWVBl 2008, S. 418 (421 f.). So VerfGH RP, DVBl 2000, S. 992 (995 f.) = DÖV 2000, S. 682 (686) = NVwZ 2000, S. 801 (804); zustimmend H.-G. Henneke, Anmerkung, DVBl 2000, S. 997 (999); T. Dünchheim/F.-J. Schöne (Fn. 66), DVBl 2009, S. 146 (151); ebenso E. Schmidt-Aßmann/H. C. Röhl, Kommunalrecht (Fn. 7), Rn. 120. 110 So aber C. Braun (Fn. 65), SächsVBl 2009, S. 201 (203); ähnlich J. Suerbaum (Fn. 48), Die Verwaltung 40 (2007), S. 29 (38). 111 K. Rennert (Fn. 43), JZ 2003, S. 385 (394); A. Berger (Fn. 81), DÖV 2010, S. 118 (123 f.). 109

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als „zulässiges Nebengeschäft des Betriebs von Parkhäusern“ gewertet worden;112 das kann man auch ganz anders sehen. Den „öffentlichen Zweck“ für die Rechtfertigung der Vermietung von zwei Räumen im Kreisverwaltungsgebäude im Bereich der Kfz-Zulassungsstelle an Schilderpräger erkannte die Rechtsprechung in der „Erleichterung der Schilderbeschaffung für die Bürger“, indem der „Bequemlichkeit der Bürger“ Rechnung getragen werde;113 worin die vom wirtschaftlich agierenden Kreis verfolgte Sachaufgabe liegen soll, wird nicht gesagt. Das Erfordernis eines „dringenden öffentlichen Zwecks“ (§ 107 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GO NW) für die Abfallentsorgung einer Kommune außerhalb des Verbandsgebietes wurde, unter Zugrundelegung einer Einschätzungsprärogative der Kommune, in der „Auslastung vorhandener Kapazitäten“ gesehen;114 erst gar nicht zur Kenntnis genommen wurde die überzeugende Gegenauffassung, nach der die bessere Auslastung kommunaler Einrichtungen durch eine zusätzliche wirtschaftliche Betätigung der Kommune keinen die entsprechende Betätigung rechtfertigenden öffentlichen Zweck darstellt, weil das Bedürfnis zu einer solchen Betätigung sich von außen ergeben muss, und zwar als ein Bedürfnis der örtlichen Gemeinschaft, das die wirtschaftliche Betätigung der Kommune erfordert.115 Den „Gegenbefund“ bilden Beispiele aus der Zivilgerichtsbarkeit aus der Zeit vor BGHZ 150, 343, als im Rahmen des Lauterkeitsrechts eine inzidente Prüfung der Zulässigkeit kommunaler Wirtschaftstätigkeit erfolgte. So wurde ein „dringender öffentlicher Zweck“ für das Angebot einer Volkshochschule zur Erteilung von Nachhilfeunterricht für Schüler verneint, weil eine hinreichende Zahl privater Anbieter vorhanden war, die das Bedürfnis nach „Nachhilfe“ befriedigte.116 Ein „dringender öffentlicher Zweck“ wurde auch in dem Angebot einer Gemeinde zur Durchführung gärtnerischer Arbeiten für Privatleute (wie sie ein normaler Gartenbaubetrieb am Markt anbietet) nicht gesehen.117 Erstinstanzlich verneint wurde ferner der „dringende öffentliche Zweck“ für das von einer Gemeinde betriebene Recycling-Unternehmen für Autos, weil angesichts zahlreicher privater Anbieter am Markt ein Bedarf für das kommunale Unternehmen nicht erkennbar sei.118 Interessante Entscheidungen

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OVG NW, DVBl 2004, S. 133 (136) = NVwZ 2003, S. 1520 (1523) = NWVBl 2003, S. 462 (465). 113 OVG NW, NVwZ-RR 2005, S. 198 (199) = NWVBl 2005, S. 68 (69). 114 OVG NW, NVwZ 2008, S. 1031 (1036) = NWVBl 2008, S. 418 (423). 115 OLG Hamm, DVBl 1998, S. 792 (793) = NJW 1998, S. 3504 (3505) = JZ 1998, S. 576 (577) = NWVBl 1998, S. 456, mit Hinweis darauf, dass sich die Kommune den die Betätigung rechtfertigenden Zweck nicht selbst schaffen dürfe, indem sie die entsprechende Einrichtung so dimensioniere, dass sie nur bei zusätzlicher wirtschaftlicher Betätigung wirtschaftlich arbeiten könne; zustimmend OLG München, NVwZ 2000, S. 835 (836) = GewArch 2000, S. 279 (281). 116 OLG Düsseldorf, NWVBl 1997, S. 353; kritisch Anmerkung M. Moraing, NWVBl 1997, S. 355 (356 f.). 117 OLG Hamm, DVBl 1998, S. 792 (793) = NJW 1998, S. 3504 (3505) = JZ 1998, S. 576 (577) = NWVBl 1998, S. 456; zustimmend Anmerkung M. Müller, JZ 1998, S. 578 (579). 118 LG Wuppertal, DVBl 1999, S. 939 = NWVBl 1999, S. 275 (276); aufgehoben durch OLG Düsseldorf, DVBl 2000, S. 284 = DÖV 2000, S. 169, weil das kommunale Unternehmen

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liegen auch zur Subsidiaritätsklausel vor. So wurden seitens einer Stadt marktmäßig angebotene Arbeiten des Elektrikerhandwerks erstinstanzlich als Verstoß gegen die Schranken des kommunalen Wirtschaftsrechts (Art. 87 Abs. 1 Nr. 4 BayGO) gewertet, weil das Handwerk diese Aufgaben nach wie vor ebenso gut und wirtschaftlich wie die Stadt erfülle.119 Landschaftsgärtnerische Tätigkeiten eines städtischen Eigenbetriebs wurden ebenfalls erstinstanzlich als Verstoß gegen die Subsidiaritätsklausel (§ 102 Abs. 1 Nr. 3 GO BW) gewertet, da in der betreffenden Kommune ein quantitativ und qualitativ ausreichendes Angebot der Privatwirtschaft vorlag.120 Städtische Dienstleistungen auf dem Gebiet des Gebäudemanagements wurden als unvereinbar mit der Subsidiaritätsklausel (§ 107 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GO NW) erachtet, weil in dem betroffenen Düsseldorfer Raum ein gut funktionierendes privates Angebot an Gebäudemanagement bestand.121 Die Beispiele aus der Rechtsprechung zeigen, dass die kommunalrechtlichen Bestimmungen zur Zulässigkeit kommunaler Wirtschaftstätigkeit bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt – unabhängig von einer Bewertung der Einzelergebnisse der genannten Entscheidungen – operationabel sind. Es ist keinesfalls so, dass der Drittschutz im kommunalen Wirtschaftsrecht „zum Papiertiger ohne greifbaren praktischen Gehalt“122 werden muss. Das gilt insbesondere für die Subsidiaritätsklausel. V. Grundrechtsschutz Nur der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass ein Konkurrentenschutz im kommunalen Wirtschaftsrecht auf der Basis der Grundrechte von der Rechtsprechungspraxis abgelehnt wird.123 Durchgesetzt hat sich die bekannte, vom Bundesver-

eine privilegierte Einrichtung der Abfallentsorgung (§ 107 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 GO NW) darstelle. 119 LG München, GewArch 1999, S. 413 (415); bestätigt von OLG München, NVwZ 2000, S. 835 (836) = GewArch 2000, S. 279 (281), unter Verneinung schon des „öffentlichen Zwecks“, da es lediglich um die bessere Auslastung der kommunalen Einrichtung (Eigenbetrieb der Stadt) gehe; aufgehoben durch BGHZ 150, 343, da ein Verstoß gegen kommunales Wirtschaftsrecht im UWG-Verfahren nicht zu prüfen sei (Einzelheiten dazu oben III. 3.). 120 LG Offenburg, NVwZ 2000, S. 717 (718) = GewArch 2000, S. 151 (152 f.); aufgehoben durch OLG Karlsruhe, DVBl 2001, S. 833 = DÖV 2001, S. 431 = NVwZ 2001, S. 712 = VBlBW 2001, S. 234, mit der fehlerhaften Begründung, dass die Subsidiaritätsklausel keinen Drittschutz gewähre. 121 OLG Düsseldorf, DVBl 2001, S. 1283 (1286) = DÖV 2001, S. 912 (915) = NVwZ 2002, S. 248 (250) = NWVBl 2001, S. 443 (446) = GewArch 2001, S. 370 (372). 122 So C. Braun (Fn. 65), SächsVBl 2009, S. 201 (203). 123 VerfGH RP, DVBl 2000, S. 992 (993) = DÖV 2000, S. 682 (683) = NVwZ 2000, S. 801 (802); VGH BW, DÖV 2006, S. 831 (834) = NVwZ-RR 2006, S. 714 (716) = VBlBW 2006, S. 348 (350); OVG NW, DVBl 2004, S. 133 (137) = NVwZ 2003, S. 1520 (1523) = NWVBl 2003, S. 462 (466); NVwZ-RR 2005, S. 198 (200) = NWVBl 2005, S. 68 (70); DÖV 2005, S. 616 (617) = NVwZ-RR 2005, S. 738 = NWVBl 2005, S. 343 = GewArch 2006, S. 122.

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waltungsgericht124 früh festgelegte Linie: Die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) schütze nicht vor Konkurrenz, auch nicht vor dem Wettbewerb der öffentlichen Hand, solange dadurch nicht die private Konkurrenz unmöglich gemacht werde; die Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 GG) schütze ebenfalls nicht vor dem Auftreten eines neuen, auch in öffentlicher Trägerschaft stehenden Konkurrenten, es sei denn, dieser erlange durch eine behördliche Maßnahme eine Monopolstellung; ein Eingriff in die Wettbewerbsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) sei erst gegeben, wenn durch die hoheitliche Maßnahme die Fähigkeit des privaten Konkurrenten zur Teilnahme am Wettbewerb unzumutbar beeinträchtigt würde.125 Bislang wurden in der Praxis, soweit ersichtlich, diese Voraussetzungen in keinem einzigen Fall als gegeben erachtet. Die Kritik des Schrifttums126 an diesen allzu plakativen Formeln wird von der Rechtsprechung schon lange nicht mehr zur Kenntnis genommen und gewürdigt. Die Judikatur setzt sich nicht mit der mittlerweile sehr differenzierten Dogmatik zum faktischen Grundrechtseingriff auseinander. Die Gerichte analysieren auch nicht, dass der Wettbewerb zwischen öffentlichen und privaten Unternehmen durch die „Asymmetrie zwischen Kompetenz und Freiheit“ bestimmt wird.127 Hinterfragt wird ferner nicht die äußerst zweifelhafte These, dass der Schutzbereich eines Freiheitsgrundrechts erst dann eröffnet sein soll, wenn die Freiheitsbetätigung praktisch unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert wird. Ungeachtet der Kritik ist eine Änderung der Rechtsprechung nicht zu erwarten. VI. Kommunalaufsicht Die Kommunalaufsicht spielt in Bezug auf die Einhaltung der kommunalrechtlichen Grenzen für die wirtschaftliche Betätigung von Kommunen praktisch keine Rolle. Angenommen wird, dass sich die Steuerungsschwäche der einschlägigen Gesetzesbestimmungen auch in diesem Zusammenhang auswirkt.128 Aus der Rechtspre124 BVerwGE 39, 329 (336 f., 337 f.); BVerwG, NJW 1978, S. 1539 f. = BayVBl 1978, S. 376; DVBl 1996, S. 152 (153) = NJW 1995, S. 2938 (2939) = BayVBl 1995, S. 698. 125 VGH BW, NJW 1984, S. 251 (252 f.) = VBlBW 1983, S. 78 (79); DÖV 1995, S. 120 f. = NJW 1995, S. 274 = VBlBW 1995, S. 99; BayVGH, BayVBl 1976, S. 628 (630); HessVGH, DÖV 1996, S. 476 (477) = NVwZ 1996, S. 816 (817); NdsOVG, DÖV 2008, S. 1008 (1009) = NVwZ 2009, S. 258 (260) = NdsVBl 2009, S. 21 (23); OVG LSA, NVwZ-RR 2009, S. 347 (348); aus dem Schrifttum z. B. H. D. Jarass, Kommunale Wirtschaftsunternehmen und Verfassungsrecht, DÖV 2002, S. 489 (492 ff.); B. Pieroth/B. J. Hartmann, Grundrechtsschutz gegen wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand, DVBl 2002, S. 421 ff. 126 D. Ehlers, Gutachten E zum 64. DJT (Fn. 49), S. 40 f., 89 f.; A. Faber (Fn. 11), DVBl 2003, S. 761 (762 f.); E. Schmidt-Aßmann, FS Ulmer (Fn. 47), S. 1019 f.; C. Scharpf, Die wirtschaftliche Betätigung von Gemeinden zwischen Grundrechtsrelevanz und kommunalem Selbstverwaltungsrecht, GewArch 2005, S. 1 (4 ff.); K.-J. Faßbender (Fn. 89), DÖV 2005, S. 89 (98); U. Schliesky (Fn. 47), NdsVBl 2005, S. 113 (121); T. Heilshorn (Fn. 71), VBlBW 2007, S. 161 (163). 127 So E. Schmidt-Aßmann, FS Ulmer (Fn. 47), S. 1020. 128 M. Ruffert (Fn. 41), VerwArch 92 (2001), S. 27 (37 ff.).

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chung sind kaum Kontroversen bekannt, und die vereinzelten Beispiele betreffen auch noch eher Randfragen der hier behandelten Thematik.129 Im Übrigen wird konstatiert, dass Kommunalaufsicht zur Rechtsdurchsetzung im kommunalen Wirtschaftsrecht nicht oder kaum stattfinde; hingewiesen wird auf eine Ressourcenknappheit bei den Aufsichtsbehörden sowie auf eine politische Steuerungsschwäche.130 Empirisches Material zur Aufsichtspraxis liegt, soweit ersichtlich, nicht vor. Aber die wenigen verfügbaren Indizien legen in der Tat die Vermutung nahe, dass zum Konkurrentenschutz im kommunalen Wirtschaftsrecht von der Kommunalaufsicht nichts zu erwarten ist. VII. Perspektiven Vergleicht man den Konkurrentenschutz im kommunalen Wirtschaftsrecht mit anderen Materien zur Drittschutzproblematik, muss ehrlicherweise nach wie vor von einem Entwicklungsrückstand der verwaltungsgerichtlichen Rechtsdurchsetzung im Kommunalwirtschaftsrecht gesprochen werden.131 Dieses Defizit ist weder juristisch gerechtfertigt noch praktisch vonnöten. Denn das rechtsnormative Potential zur Etablierung rechtlich tragfähiger und im Ergebnis vernünftiger Ergebnisse ist gegeben: (1) Der Subsidiaritätsklausel lässt sich nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck mühelos die drittschützende Wirkung entnehmen. (2) Beurteilungsspielräume zu Gunsten der Kommunen beim Erfordernis des „öffentlichen Zwecks“ und dem Leistungsvergleich mit privaten Unternehmen schützen die Verwaltungsträger. (3) Der gesamte Bereich sog. nichtwirtschaftlicher Tätigkeiten ist von der für die wirtschaftliche Betätigung geltenden Schrankentrias ausgenommen.132 Vor diesem Hintergrund bleibt die Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgerufen, ihre etwas allzu indolente Haltung zu überdenken. Dem Recht, auch dem kommunalen Wirtschaftsrecht, wird kein Gefallen dadurch getan, dass seine praktische Wirksamkeit auf der Strecke bleibt.

129 OVG Lüneburg, dng 1984, S. 270: Beanstandung der Wahl einer privatrechtlichen Organisationsform für eine Jugendfreizeiteinrichtung; VG Leipzig, LKV 2001, S. 327: Beanstandung der Beteiligung einer Gemeinde an einer Beratungsfirma. 130 E. Schmidt-Aßmann, FS Ulmer (Fn. 47), S. 1024; U. Schliesky (Fn. 47), NdsVBl 2005, S. 113 (114); J. Suerbaum (Fn. 48), Die Verwaltung 40 (2007), S. 29 (39); R. Mann (Fn. 62), DVBl 2009, S. 817 (818 f.); A. Berger (Fn. 81), DÖV 2010, S. 118 (126 f.). 131 E. Schmidt-Aßmann, FS Ulmer (Fn. 47), S. 1025. 132 OVG NW, NVwZ 2005, S. 1211 (1212) = NWVBl 2005, S. 133 (134); DÖV 2005, S. 616 = NVwZ-RR 2005, S. 738 = NWVBl 2005, S. 343; OVG RP, DÖV 2006, S. 611 (612) = UPR 2006, S. 282.

Das CCS-Gesetz Gesetzgebung im schwierigen Terrain Von Dieter Sellner, Berlin I. Einführung Ziel der CCS-Technologie (englisch: Carbon Dioxide Capture and Storage) ist, im Interesse des Klimaschutzes die CO2-Emissionen aus Verbrennungsanlagen, die auf der Grundlage fossiler Brennstoffe betrieben werden, zu vermindern. Erwartet wird eine Reduzierung der CO2-Emissionen von 75 bis 90 %. Zu unterscheiden sind in der CCS-Technologie technisch 3 Stufen: die Abscheidung des CO2 in der Verbrennungsanlage; der Transport des abgeschiedenen CO2 zu den Speicherstätten; die unterirdische Verpressung des CO2 in gasförmigem oder flüssigem Zustand. Alle Phasen der CCS-Technologie befinden sich noch in der Forschungs- und Entwicklungsphase. Im gemeinsamen Referentenentwurf des BMU und des BMWi vom 23. 07. 20101, der den derzeitigen Stand des noch nicht abgeschlossenen Gesetzgebungsverfahrens enthält, heißt es in diesem Zusammenhang: „Die CCS-Technologien sind bisher auf ihre Wirtschaftlichkeit, technische Machbarkeit und Unbedenklichkeit für die menschliche Gesundheit, Natur und Umwelt im großtechnischen Maßstab noch nicht überprüft worden“2.

Für die Abscheidung werden 3 Methoden unterschieden: Die Pre-CombustionTechnik, bei der das CO2 vor der Verbrennung der Kohle abgeschieden wird. RWE beabsichtigte, auf Basis dieser Technik in Hürth ein Kraftwerk zu errichten. Der Plan ist aufgegeben. Des Weiteren wird die Post-Combustion-Technik angeführt, die das CO2 nach der Verbrennung der Kohle abscheidet. Bei der schließlich noch in Rede stehenden Oxyfuel-Technik verbrennt man die Kohle in reinem Sauerstoff, also nicht in Luftsauerstoff. Vattenfall errichtet am Standort Schwarze Pumpe (Bran-

1 Gesetz zur Demonstration und Anwendung von Technologien zur Abscheidung, zum Transport und zur dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid. Art. 1 enthält das Gesetz zur Demonstration der dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid (Kohlendioxid-Speicherungsgesetz – KSpG). Art. 2 enthält das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung. Art. 3 enthält das Gesetz zur Änderung des Treibhausgas-Emissionshandelsgesetzes. Durch die weiteren Art. 4 bis 8 werden das Umweltschadensgesetz, das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, die Verordnung über genehmigungsbedürftige Anlagen und die Verordnung über Großfeuerungs- und Gasturbinenanlagen geändert sowie das Inkrafttreten des Gesetzes geregelt. 2 Siehe Referentenentwurf Begründung, S. 46.

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denburg) eine Pilotanlage mit dieser Technik; es besteht die Absicht, danach ein Demonstrationskraftwerk mit dieser Technik zu errichten. Der Transport des CO2 nach der Abscheidung im Kraftwerk am Speicher soll in Rohrleitungen erfolgen. Dazu wird das CO2 unter hohem Druck verflüssigt. Die dritte Stufe, die Verpressung und dauerhafte Speicherung, ist nach der bisherigen Übersicht im Wesentlichen in salinen Aquiferen vorgesehen. Ein Forschungsprojekt wird in Ketzin (Brandenburg) von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) betrieben. In 600 bis 800 m Tiefe existiert eine Aquifer-Struktur, in der eine Speicherkapazität von ca. 30.000 t CO2 pro Jahr erprobt wird. Es ist die Rückholbarkeit des CO2 angezielt3. Bei diesem Sachverhalt4 ist die Normsetzung durch eine Situation charakterisiert, die eine endgültige Aussage insbesondere über die dauerhafte Speicherung noch nicht zulässt. Das erschwert das legislative Verfahren offensichtlich. Insbesondere die Sicherheitsfragen, die mit der Speicherung verbunden sind, können zurzeit noch nicht abschließend beantwortet werden. Die Frage nach der Beherrschung der Technologie ist bedeutsam, aber noch nicht endgültig beantwortet. Es gibt positive Erwartungen, jedoch keine abschließende Beweisführung. Der Referentenentwurf enthält sich dementsprechend einer Risikobewertung; er führt die Technologie noch nicht ein. II. Unionsrecht Die geschilderte Ausgangslage ändert freilich nichts daran, dass die Mitgliedstaaten der Union verpflichtet sind, die Richtlinie 2009/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. 04. 2009 über die geologische Speicherung von Kohlendioxid und anderen Stoffen, die im Zusammenhang mit Kohlendioxid zu sehen sind, umzusetzen. Die Umsetzungsfrist endet nach Art. 39 der Richtlinie mit dem 25. 06. 20115. Hier ist allerdings die Besonderheit herauszustellen, die man als atypisch im Zusammenhang mit einer Richtlinien-Umsetzung ansehen mag: Die Mitgliedstaaten sind berechtigt, die Gebiete in ihrem Hoheitsgebiet zu bestimmen, aus denen Speicherstätten ausgewählt werden dürfen. Das schließt das Recht ein, die Speicherung im 3 Zum Stand des Projektes am Pilotstandort Ketzin vgl. Kühn et al, Vortrag anlässlich der Gemeinsamen Tagung des Lehr- und Forschungsgebietes Berg- und Umweltrecht der RWTH Aachen und der GDMB Gesellschaft für Bergbau, Metallurgie, Rohstoff- und Umwelttechnik e.V. am 25. 1. 2011 in Aachen, Heft 124 der Schriftenreihe der GDMB, S. 63. 4 Darstellung der Technologien im Einzelnen, z. B. Reinhard Grünwald, CO2-Abscheidung und -Lagerung bei Kraftwerken, Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag, A-Drs. 16 (18) 340b. 5 Richtlinie 2009/31/EG vom 23. 04. 2009 über die geologische Speicherung von Kohlendioxid und zur Änderung der Richtlinie 85/337/EWG des Rates sowie der Richtlinien 2000/60/ EG, 2001/80/EG, 2004/35/EG, 2006/12/EG und 2008/1/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 (Amtsbl. 2009, L 140/114).

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gesamten Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates oder in Teilen davon gänzlich zu untersagen oder einer anderen Nutzung des Untergrundes wie der Exploration, Gewinnung und Speicherung von Kohlenwasserstoffen oder der Geothermie, den Vorrang einzuräumen (Art. 4 der Richtlinie, Begründungserwägung Ziff. 19). Diese unionsrechtliche Grundlage wird dahingehend zu verstehen sein, dass der Rechtsrahmen für die CCS-Technologie in Form eines Umsetzungsgesetzes jedenfalls geschaffen werden muss6. Dass in diesem Zusammenhang erhebliche Schwierigkeiten bestehen, zeigt schon das bisherige Verfahren zur Umsetzung der Richtlinie, auf das im Folgenden einzugehen sein wird. III. Umsetzung der CCS-Richtlinie in Deutschland Da die beiden zuständigen Bundesministerien – BMU und BMWi – schon frühzeitig – vor Inkrafttreten der CCS-Richtlinie 2009/31/EG – mit der Erarbeitung eines CCS-Gesetzes begonnen hatten – im Hinblick auf die schon von vornherein zu erwartende kurze Umsetzungsfrist sicher eine sinnvolle Vorgehensweise – gelang es, trotz erheblicher Meinungsverschiedenheiten im Diskussionsprozess der beiden federführenden Ressorts schon im Frühjahr 2009 zu einer Einigung in der Bundesregierung zu gelangen. Das Kabinett beschloss den Regierungsentwurf eines CCS-Artikelgesetzes7. Danach jedoch stockte das Gesetzgebungsverfahren im Wesentlichen aufgrund der Widerstände in den Bundesländern, die im Hinblick auf die im September 2009 anstehenden BT-Wahlen dazu führten, dass es nicht zu einem Gesetzesbeschluss im Bundestag kam. Alle Kompromissversuche scheiterten im Bundestag. Kontrovers waren im Hinblick auf den Regierungsentwurf, auf dessen Grundlage auch eine Anhörung von Sachverständigen im Umweltausschuss des Bundestages stattfand, Fragen wie der Übergang der Haftung auf die Länder, die Nutzungskonflikte etwa zwischen CO2-Speicherung einerseits und Geothermie andererseits, der Streit um die Einführung einer Speicherabgabe in den Ländern; der Bundesrat unterbreitete eine Fülle von Änderungsvorschlägen8. In der neuen Legislaturperiode begannen alsbald wieder die Abstimmungsgespräche zwischen den federführenden Ressorts BMU und BMWi. Sie erreichten bisher 6 Das gilt auch dann, wenn die Umsetzungsverpflichtung ins Leere läuft, weil auf dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates keine geologischen Speicherstätten bestehen oder aber der Mitgliedstaat für seinen Bereich die Speicherung überhaupt ausschließt. Dazu Wasielewski, Vortrag anlässlich der Gemeinsamen Tagung des Lehr- und Forschungsgebietes Berg- und Umweltrecht der RWTH Aachen und der GDMB Gesellschaft für Bergbau, Metallurgie, Rohstoff- und Umwelttechnik e.V. am 25. 1. 2011 in Aachen, Heft 124 der Schriftenreihe der GDMB, S. 45, 47; siehe auch Kohls/Kahle, Klimaschutz durch CO2-Speicherung – das neue CCS-Gesetz, RdE 2009, S. 197. 7 Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Drs. 16/12782 vom 27. 4. 2009. Zum Kabinettsentwurf s. Hohmuth/Kahle/Kohls, Rechtliche Vorgaben für CCS – das Kohlendioxidspeicherungsgesetz, ET 2009, S. 59; Wahlhäuser, UPR 2009, S. 295. 8 Vgl. zu den Eckpunkten des Regierungsentwurfs Wasielewski (Fn. 6), S. 48 ff.

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immerhin erneut einen Referentenentwurf, der vom 23. 07. 2010 datiert und im Vordergrund der nachstehenden Betrachtungen stehen soll. Bemühungen, auf der Grundlage dieses Referentenentwurfs das Gesetzgebungsverfahren im Regierungsbereich weiterzuführen, waren allerdings Beleg dafür, dass noch viele Unstimmigkeiten zu überwinden sind. Inzwischen hatte sich nämlich insbesondere die umweltpolitische Gegnerschaft zur CCS-Technologie verschärft. Auch die Interessenlage in dem Wirtschaftszweig, für den die CCS-Technologie bedeutsam sein könnte, hatte sich verändert. RWE hatte das Projekt in Hürth aufgegeben und bekundet, zunächst ein neues Projekt nicht zu verfolgen. In Brandenburg wird von den Umweltverbänden und Teilen der Bevölkerung, die die Braunkohlenverstromung kritisieren, CCS bekämpft – nicht nur, weil man in der Technologie nicht ausgeräumte Risiken sieht, sondern auch, weil die Einführung der Technologie die weitere Verstromung von Braunkohle stützen könnte9. Schleswig-Holstein hat nach der letzten Landtagswahl im Koalitionsvertrag der CCS-Speicherung eine Absage erteilt10. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund wendet sich mit Nachdruck gegen den Referentenentwurf (Stellungnahme vom 27. 09. 2010), und zwar auch grundsätzlich gegen die Einführung der neuen Technologie11. Während diese Abhandlung entsteht, ist gänzlich unklar, wann und wie das Gesetzgebungsverfahren Fortgang nimmt, und es ist auch offen, ob die Umsetzungsfrist für die EU-Richtlinie eingehalten werden kann. IV. Vom Regierungsentwurf vom 27. 04. 2009 zum Referentenentwurf vom 23. 07. 2010 Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Entwürfen liegt im Geltungsbereich der Gesetze. Nach dem Referentenentwurf (§ 2) vom 23. 7. 2010 soll das Gesetz zwar die gesamte CCS-Kette und damit die Zulassung von Abscheidungsanlagen, die Zulassung von CO2-Pipelines und die CO2-Speicherung regeln. Es beschränkt sich aber für die CO2-Speicherung auf die Genehmigungspflicht für die Erkundung geeigneter Speicherstätten und auf die Zulassung von Demonstrations- und Forschungsanlagen. Der Referentenentwurf nimmt – anders als der Regierungsentwurf vom 27. 04. 2009 – für sich in Anspruch, in einer Phase, in der nur Demonstrationsanlagen und Forschungsanlagen zugelassen werden, Nachweise für die Zuverlässigkeit der neuen Technologie besser erbringen zu können und Besorgnissen der Bevölkerung nachhaltiger Rechnung tragen zu können12. 9

Im Einzelnen siehe dazu FAZ vom 6. 12. 2010, Das Gas, die Hoffnung und die Angst, S. 3, die Situation in Brandenburg darstellend. 10 Siehe Koalitionsvertrag zwischen der Christlich Demokratischen Union (CDU) und der Freien Demokratischen Partei (FDP) in Schleswig-Holstein für die 17. Legislaturperiode des Schleswig-Holsteinischen Landtages, S. 16. 11 Stellungnahme des Deutschen Städte- und Gemeindebundes vom 27. 9. 2010 zum Entwurf des Kohlendioxid-Speicherungsgesetzes, Zusammenfassung der Argumente gegen die CCS-Technologie; Stellungnahme Greenpeace vom 30. 8. 2010 zum Referentenentwurf. 12 Referentenentwurf, S. 52 f.

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Die Errichtung und der Betrieb von Demonstrationsanlagen sollen als erster Schritt die Zuverlässigkeit der Technologie belegen. Was die Vorsorgestandards, die Demonstrationsanlagen zu erfüllen haben, betrifft, so gibt der Referentenentwurf vom 23. 07. 2010 eine Reihe von Besonderheiten vor: Der Zulassungsantrag für Speicher muss bis Ende 2015 gestellt werden (§ 2 Abs. 2 RefE); die jährliche Speichermenge darf 3 Mio. t pro Speicher-CO2 nicht überschreiten (§ 2 Abs. 2 RefE); die jährliche Gesamtmenge aller Demonstrationsspeicher darf bundesweit 8 Mio. t nicht übersteigen (§ 2 Abs. 2 RefE); bis zum 31. 12. 2017 muss die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag einen umfassenden Evaluierungsbericht vorlegen (§ 44 Abs. 1 RefE). Die CCS-Technologie wird nur weiter verfolgt, wenn der Bericht positiv ausfällt. Anderenfalls wird die Technik nicht gestattet (§ 44 Abs. 3 RefE); der Vorsorgemaßstab für Errichtung und Betrieb der Demonstrationsanlagen ist sehr weitgehend, indem er dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen muss (§ 13 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 RefE). Weiterhin ergibt sich aus dem Informationspapier des BMU vom 14. 07. 2010 zum CCS-Gesetzgebungsvorhaben in diesem Zusammenhang Folgendes: BMU und BMWi sind der Auffassung, dass die neuen Anforderungen des Gesetzesentwurfs „deutlich über den Entwurf der letzten Legislaturperiode hinausgehen und dass damit den vielfach in der Bevölkerung geäußerten Besorgnissen Rechnung getragen wird“. Neben den schon oben genannten Voraussetzungen werden die nachfolgenden Weiterentwicklungen hervorgehoben: Eine wirksame Absicherung gegenüber langfristigen Risiken durch den Betreiber durch Anpassung der Nachsorgebeiträge von der ersten gespeicherten Tonne an; wirksamer Schutz anderer Nutzungsansprüche, z. B. Geothermie; besserer Schutz der Rechte der Grundstückseigentümer bei Betreten der Grundstücke zur Untersuchung; Nachteilsausgleich für betroffene Gemeinden „im Rahmen der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit“.

V. Würdigung des Referentenentwurfs vom 23. 07. 2010 Im Rahmen dieser Abhandlung kann eine umfassende Würdigung aller Details des Entwurfs nicht erfolgen. Eine Beschränkung auf wesentliche Fragen muss erfolgen.

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1. Geltungsbereich des Gesetzes Es fällt auf, dass der Geltungsbereich des Gesetzes durch den neuen § 2 des Referentenentwurfs gegenüber dem Regierungsentwurf vom 27. 04. 2009 eingegrenzt ist. Im Hinblick auf die Absicht, in den Folgejahren nach Inkrafttreten des Gesetzes zunächst die CCS-Technologie zu erproben und danach zu evaluieren, um zu einer endgültigen Entscheidung zu gelangen, ist dieses Vorgehen zwar konsequent; dennoch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass – verglichen mit dem Regierungsentwurf von 2009 – die Gesamtheit der Regelungen einem Vollgesetz entsprechen. Insoweit sind die Änderungen, die gegenüber dem Regierungsentwurf von 2009 eingefügt wurden, dergestalt konzipiert, dass durch eine Erweiterung des Geltungsbereichs nach der Probe- und Evaluierungsperiode das Gesetz alsbald wieder zu einem Vollgesetz modifiziert werden kann. Offenbar sollte die umfangreiche Erarbeitung eines Vollgesetzes bis 2009 nicht umsonst aufgewendet sein. Für ein reines Demonstrationsvorhabens-Gesetz hätte es indes dieser umfangreichen Regelungen letztlich noch nicht bedurft13. Wie sinnvoll diese Vorgehensweise letztlich sein wird, muss die praktische Anwendung des Gesetzes zeigen. Dabei wird die Frage von besonderem Interesse sein, ob die umfassenden materiellen Planfeststellungsvoraussetzungen für die Speicherung, wie sie in § 13 des Entwurfs enthalten sind, schon bei Demonstrationsanlagen erfüllt werden können bzw. sollen. Die Konzeption des Gesetzes geht auf der Grundlage des eingeschränkten Anwendungsbereichs in § 2 offenbar dahin, dass durch die Begrenzung der Einspeichermenge eines einzelnen Speichers auf jährlich 3 Mio. t. CO2 und durch die bundesweit lediglich zulässige Gesamtspeichermenge von 8 Mio. t CO2 eine Risikobegrenzung erfolgt. In der Gesetzesbegründung zu § 2 heißt es, die Mengenbegrenzung sei erforderlich, um vor einer kommerziellen, großtechnischen Anwendung die Umweltverträglichkeit und technische Machbarkeit der CCS-Technologien prüfen zu können. Durch die Beschränkung könne die dauerhafte Speicherung schrittweise geordnet und in Abhängigkeit von den jeweils gewonnenen Erfahrungen entwickelt werden. § 2 Abs. 1 Satz 2 regelt zugleich das sogenannte „Windhund-Prinzip“. Die Landesbehörden entscheiden in der Reihenfolge des Eingangs der vollständigen Antragsunterlagen. Darüber hinaus sind allerdings dann in den Planfeststellungsverfahren das volle Programm des § 13 des Gesetzes, insbesondere die Vorsorgeanforderungen zu prüfen und vom Betreiber zu erfüllen. Dabei ist von Bedeutung, dass auch für die Demonstrationsanlagen bereits der Sicherheitsnachweis nach § 19 des Entwurfs und das Überwachungskonzept nach § 20 des Entwurfs vorgelegt werden müssen. Einen

13 Dazu Wasielewski (Fn. 6), S. 56; Hellriegel, Der neue Gesetzentwurf zu Carbon Capture und Storage, NVwZ 2010, S. 1530, 1533; vgl. auch Wißmann, Anmerkungen zur Innovationsverantwortung im Energiesektor, ZJS 2010, S. 297, 304.

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„Bonus“ für die Demonstrationsanlagen sieht das Gesetz nicht vor. Das ist bei einer neuen Technologie sicher nicht zu kritisieren. Gleichwohl können angesichts der umfangreichen Sicherheitsanforderungen, aber auch im Hinblick auf den Aufbau und die Regelungstiefe der Bestimmungen des Entwurfs Zweifel aufkommen, ob es sich tatsächlich lediglich um ein Demonstrationsgesetz handelt. Es könnte sinnvoll sein, insoweit den Entwurf daraufhin zu überprüfen, ob er nicht zahlreiche Bestimmungen enthält, die derzeitig entbehrlich sind14. 2. Nachteilsausgleich – Speicherabgaben Der Referentenentwurf enthält in § 10 Abs. 3 eine Regelung zum Nachteilsausgleich für die Benutzung fremder Grundstücke. Diese Regelung ist auf das Untersuchungsverfahren beschränkt. Der Untersuchungsberechtigte hat hiernach dem Grundstückseigentümer und den sonstigen Nutzungsberechtigten für die durch die Untersuchungsarbeiten entstandenen nicht zu beseitigenden Nachteile einen Ersatz in Geld zu leisten. Dieser Nachteilsausgleich korrespondiert mit entsprechenden Regelungen in anderen Gesetzen über Betretungsrechte bezüglich fremder Grundstücke. Diese Regelung wird durch Bestimmungen in Anlehnung an §§ 39, 40 BBergG ergänzt. Erteilt der Grundstückseigentümer oder sonstiger Nutzungsberechtigter nicht die Zustimmung zur Untersuchung, kann diese ersetzt werden durch behördliche Entscheidung, wenn überwiegende öffentliche Interessen diese Untersuchung erfordern (§ 10 Abs. 5). Das kann zu erheblichen Verzögerungen führen. Die Duldungspflicht im Regierungsentwurf 2009 war dieser Regelung vorzuziehen15. Hervorzuheben ist der neue Ausgleichsanspruch der Gemeinden gemäß § 42 des Gesetzesentwurfs. Danach zahlt der Betreiber eines Kohlendioxidspeichers den über dem Kohlendioxidspeicher belegenen Gemeinden einen Ausgleichsbetrag in Höhe von zwei Prozent des durchschnittlichen Wertes der Anzahl der Berechtigungen, die nach § 3 Abs. 4 Satz 1 des Treibhausgas-Emissionshandelsgesetzes der im Betriebsjahr gespeicherten Menge Kohlendioxid entspricht. Diese Regelung ist neu gegenüber dem Regierungsentwurf. Das weitere Gesetzgebungsverfahren wird zeigen, ob in einer derartigen Regelung von den Ländern der Interessenausgleich gesehen wird, der möglicherweise doch dem Gesetz aus Ländersicht Akzeptanz verschafft. 3. Ausschluss der CO2-Speicherung durch Regelungen der Länder Eine im Detail zu klärende Frage wird sein, ob die Länder berechtigt sind, die Einführung der Speichertechnologie in ihrem Hoheitsgebiet auszuschließen. Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2009/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. 04. 2009 ist der einzelne Mitgliedstaat nicht gehindert, die CO214 15

Dazu Wasielewski (Fn. 6), S. 56. Hellriegel (Fn. 13), S. 1532.

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Speicherung für sein Hoheitsgebiet insgesamt oder für einzelne Teile des Gebietes auszuschließen. Der vorliegende Referentenentwurf sieht eine solche Regelung konsequenterweise noch nicht vor, weil er davon ausgeht, dass nach Eingang verschiedener Planfeststellungsanträge bis zum Jahre 2015 und nach dem Bericht der Bundesregierung über die Evaluierung der Speichertechnologie zunächst eine Grundsatzentscheidung über die Zulassung von CCS in der Bundesrepublik zu erfolgen hat. Wie verlautet, ist allerdings von den beiden federführenden Ressorts der Bundesregierung bereits zum Ausdruck gebracht worden, einzelne Länder seien zum Ausschluss der Technologie für ihre Gebiete berechtigt. Die Folge derartiger Länder-Ausschlüsse würde gegebenenfalls sein, dass im praktischen Ergebnis die Technologie in Deutschland nicht eingeführt werden kann. Für Schleswig-Holstein, wo nach bisheriger Übersicht die umfangreichsten Speichermöglichkeiten bestehen, liegt bereits die Absichtserklärung in Form des Koalitionsvertrages vor, die CO2-Speicherung nicht zuzulassen. Nordrhein-Westfalen – wo umfangreich Braunkohle abgebaut und verstromt wird – verfügt nicht über geeignete Speicherformationen. Für Brandenburg fehlt es bislang an einer endgültigen Positionierung, doch ist anzunehmen, dass bei der Bedeutung, die die Braunkohlengewinnung in Brandenburg aufweist, eine derartige Ausschlussregelung für dieses Bundesland wohl nicht in Betracht kommt. Interessant ist die Frage, ob die Länder berechtigt sind, durch raumordnerische Regelungen den Ausschluss von Speicherstätten für CO2 zu erreichen. § 2 Abs. 2 Nr. 6 letzter Satz ROG sieht die Schaffung räumlicher Voraussetzungen für die Einlagerung klimaschädlicher Stoffe vor. Ist aus fachlichen Gründen die Speicherung in einem Land nicht möglich, kann auch das Raumordnungsrecht die Speicherung ausschließen. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, gibt das Raumordnungsrecht über den o.g. Grundsatz den Ländern auf, entsprechende Speicherbereiche räumlich zu ermöglichen16. Im Planfeststellungsverfahren nach § 13 Abs. 1 Satz 4 des Referentenentwurfs sind die Ziele der Raumordnung zu beachten. Auch müssen die Grundsätze der sonstigen Erfordernisse der Raumordnung berücksichtigt werden. Daher dürfte das Raumordnungsrecht den Ausschluss der CO2-Speicherung nicht zulassen. Eine andere Frage ist, ob ein Landesgesetz die CCS-Technologie ausschließen kann. Die Frage ist bisher nicht gelöst. Mehr scheint dafür zu sprechen, dass eine derartige Regelung, die Unionsrecht entsprechen würde, wegen § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 letzter Satz ROG unzulässig ist17. 4. Oberflächeneigentum Ein kritischer Fragenbereich im Zusammenhang mit dem CCS-Gesetzgebungsverfahren ist das Verhältnis zwischen dem unterirdischen CO2-Speicher einerseits 16 17

Wasielewski (Fn. 6), S. 54 f.; so auch Hellriegel (Fn. 13), S. 1533. Hellriegel (Fn. 13); anderer Ansicht Wasielewski (Fn. 6), S. 55.

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zum Oberflächeneigentum andererseits. Nach § 905 BGB erstreckt sich das Recht des Grundeigentümers auf den Erdkörper unter der Erdoberfläche (§ 905 Satz 1 BGB). Der Grundeigentümer kann allerdings Einwirkungen nicht untersagen, die in solcher Höhe oder Tiefe vorgenommen werden, dass er an ihrer Ausschließung kein Interesse hat – § 905 Satz 2 BGB. Die Rechtsprechung erkennt hier als schutzwürdige Interessen solche an, die auf die Ausnutzung des Grundeigentums gerichtet sind. Es darf sich nicht um fernliegende Nutzungsabsichten handeln18, vielmehr muss ein konkretes Nutzungsinteresse bestehen19. Gerade im Zusammenhang mit den diskutierten Akzeptanzproblemen sollte das CCS-Gesetz Regelungen vorsehen, die in diesem Zusammenhang so weit wie möglich Konfrontationen zwischen Oberflächeneigentümer und Speicherinteressent ausschließen. Der Referentenentwurf behandelt den Konflikt in § 14; er regelt eine Duldungspflicht des Oberflächeneigentümers nach Maßgabe des § 75 Abs. 2 S. 1 VwVfG. Die zivilrechtlichen Unsicherheiten werden dadurch nicht gelöst. Sie kann der Planfeststellungsbeschluss nicht verändern20. Die Schwierigkeit liegt darin, dass der Planfeststellungsbeschluss nicht zu einer Änderung der materiellen Eigentumslage führt und deshalb noch nicht ein Recht zur Benutzung fremder Grundstücke zum Inhalt hat. Zwar werden mit der Bestandskraft des Beschlusses die Abwehrrechte des Oberflächeneigentümers gegen die Speicherung jedenfalls insoweit hinfällig, als er dadurch nicht in seiner Grundstücksnutzung beeinträchtigt ist. Im Übrigen ist aber, sofern eine gütliche Einigung mit dem Oberflächeneigentümer nicht erfolgen kann, eine Enteignung aufgrund der enteignungsrechtlichen Vorwirkung des Planfeststellungsbeschlusses geboten. Davon geht § 15 des Referentenentwurfs aus. Solche Enteignungsverfahren sind regelmäßig sehr zeitintensiv. In der Praxis wird das Enteignungsverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erheblichen Verzögerungen des Speicherprojektes führen. Voraussetzung für die Zulässigkeit der Enteignung ist nach § 15 des Referentenentwurfs, dass Errichtung und Betrieb des CO2-Speichers einen nachhaltigen und wirksamen Beitrag zum Klimaschutz und zur Energieversorgungssicherheit leisten. Nur dann dient das Projekt dem Wohl der Allgemeinheit, wie § 15 des Referentenentwurfs ausdrücklich formuliert. Darüber wird durch die zuständige Behörde in der Planfeststellung entschieden. Es liegt auf der Hand, dass die enteignungsrechtliche Vorwirkung, die an diese Voraussetzungen geknüpft ist, letztlich ein „stumpfes Schwert“ darstellt, die Auseinander-

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BGHZ 125, 57; BGH, WM 1981, 129. Kohls/Kahle (Fn. 6), S. 201 m.w.N.; Kühne, RdE 2009, S. 14, 16. 20 Vgl. zur gesamten Problematik Franke, Spezifische Probleme der CCS-Speicherung, Vortrag anlässlich der Gemeinsamen Tagung des Lehr- und Forschungsgebietes Berg- und Umweltrecht der RWTH Aachen und der GDMB Gesellschaft für Bergbau, Metallurgie, Rohstoff- und Umwelttechnik e.V. am 25. 1. 2011 in Aachen, Heft 124 der Schriftenreihe der GDMB, S. 31, 35 f. 19

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setzungen zwischen Oberflächeneigentümer und Speicherberechtigtem letztlich noch nicht ausschließt21. Es sollte geprüft werden, ob nicht die Regelung des § 3 Abs. 2 Satz 2 BBergG, wie vielfach in der Auseinandersetzung über den Gesetzesentwurf vorgeschlagen, in das Gesetz aufgenommen werden sollte, um Nutzungs- und Akzeptanzkonflikte durch eine klare Regelung des Gesetzes auszuschließen22. Nach § 3 Abs. 2 Satz 2 BBergG erstreckt sich auf bergfreie Bodenschätze das Eigentum an einem Grundstück nicht. Diese Regelung kann Vorbild für die Lösung des hier behandelten Konfliktes sein. Das Gesetz würde damit im Ergebnis eine weitere Ausnahme von der Erstreckungsregelung des § 905 Satz 1 BGB zulassen. Enteignungsrechtliche Bedenken bestehen unter Berücksichtigung der erforderlichen Abwägung zwischen den Zielen des CCSGesetzes einerseits und dem Ausschließungsinteresse des Oberflächeneigentümers andererseits nicht23. 5. CO2-Speicherung und andere tiefe Untergrundnutzungen Geht man davon aus, dass eine CO2-Speicherung ganz überwiegend in salinen Aquiferen, seltener in früheren Erdgaslagerstätten stattfinden wird, so liegen Nutzungskonflikte auf der Hand. Wie auch die bisherige Diskussion zeigt, gilt dies zum einen für die Geothermie in großen Tiefen, soweit es um die salinen Aquifere geht; zum anderen kann es zu Nutzungskonflikten mit der Untergrundspeicherung von Gas oder Öl kommen24. § 13 Abs. 1 Satz 2 des Referentenentwurfs ordnet die „entsprechende Geltung“ der sich aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 bis 7 ergebenden Voraussetzungen an. Für den beschriebenen Nutzungskonflikt ist für die Erteilung der Untersuchungsgenehmigung die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 des Referentenentwurfs maßgeblich. Die Untersuchungsgenehmigung darf nur erteilt werden, wenn Beeinträchtigungen von Bodenschätzen und vorhandenen Nutzungsmöglichkeiten des Untergrundes, deren Schutz jeweils im öffentlichen Interesse liegt, sowie Beeinträchtigungen von berg- und wasserrechtlichen Zulassungen ausgeschlossen sind. Ist dies nicht der Fall, darf auch eine Planfeststellung für den CO2-Speicher nicht erfolgen. Die Regelung ist dem Vorbild des § 11 Nr. 9 BBergG entnommen. Die bergrechtliche Untersuchungserlaubnis darf hiernach unter anderem nur erteilt werden, wenn Bodenschätze nicht beeinträchtigt werden, deren Schutz im öffentlichen Interesse liegt. Diese bergrechtliche Regelung hat stets, soweit sie im konkreten Verfahren einschlägig war, Anwendungsprobleme aufgeworfen. Insbesondere ist die Frage schwer zu ent21

Zur Konfliktsituation und der Problematik des § 15 des Referentenentwurfs siehe Franke (Fn. 20), S. 35 ff. 22 Zu Regelungen des Kabinettsentwurfs 2009 in diesem Zusammenhang schon Kohls/ Kahle (Fn. 6), S. 202; Franke (Fn. 20), S. 36 f. 23 Vgl. im Einzelnen Franke (Fn. 20), S. 37. 24 Siehe Franke (Fn. 20), S. 39 ff.

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scheiden, wann der Schutz anderer Bodenschätze, als sie Gegenstand des konkreten Erlaubnisverfahrens sind, im öffentlichen Interesse liegt und damit Vorrang beanspruchen kann. Im Falle CCS spielen, wie sich auch aus der Gesetzesbegründung25 ergibt, naturgemäß Belange des Klimaschutzes eine besondere Rolle. Da der Belang des Klimaschutzes sowohl für die CO2-Spreicherung als auch für die Geothermienutzung ins Gewicht fallen kann, ist die Abwägung, welcher Nutzung des Untergrundes im Einzelfall der Vorrang zukommen soll, komplex26. Ob durch diese Regelungen zu konkurrierenden Nutzungsinteressen wirklich ein der Sache entsprechender Ausgleich erreichbar ist, ist zweifelhaft. Die Regelung sollte sicherlich überdacht werden; so wird etwa in der Literatur der Vorschlag unterbreitet, eine planerische Steuerung konkurrierender Ansprüche an die Nutzung des Erdkörpers einzuführen27. Die planerische Steuerung wird ihre Grundlage finden können im Raumordnungsrecht28. Zwar ist es, wie oben dargelegt, wohl nicht zulässig, dass mit Mitteln des Raumordnungsrechtes ein Land die CO2-Speicherung für sein Gebiet insgesamt ausschließt. Dazu ist das Raumordnungsrecht nicht das geeignete Instrument. Zulässig ist aber, dass durch Festlegung von Zielen und Grundsätzen der Raumordnung oder durch Festlegung von Vorrang- und Vorbehaltsgebieten die Bereiche bestimmt werden, die für bestimmte Nutzungen einerseits vorgesehen, für andere Nutzungen andererseits ausgeschlossen sein sollen. Mit dem Verweis auf das Instrumentarium des Raumordnungsgesetzes wird deutlich, dass der Nutzungskonflikt letztlich auf der Ebene der politischen Bewertung und Entscheidung zu bewältigen ist. Dies ist richtiger, als die Lösung des Konfliktes dem Vollzug zu überlassen und damit eine gesetzliche Regelung vorzusehen, die im bisherigen Referentenentwurf in Anlehnung an das Bergrecht vorgesehen ist. VI. Perspektiven des weiteren Gesetzgebungsverfahrens Die Abhandlung hat sich auf wesentliche Probleme, die das Vorhaben eines CCSGesetzes zu lösen hat, konzentriert. Sie hat aufgezeigt, dass entscheidende Fragen, die der Referentenentwurf versucht hat zu regeln, überdacht und zweckmäßigerweise zur Vermeidung von Vollzugskonflikten anders als vom Entwurf vorgesehen gelöst wer25

Vgl. Referentenentwurf, S. 58, 59. Vgl. im Einzelnen zum Verhältnis verschiedener Tiefennutzungen Franke (Fn. 20), S. 39 ff. 27 Vgl. Franke (Fn. 20), S. 42. 28 Dietrich/Schäperklaus, Erdöl Erdgas Kohle, 2009, 2024 f.; die oben behandelte Änderung des Raumordnungsgesetzes 2008 gegenüber der Vorgängerregelung sowie § 13 Abs. 1 letzter Satz Referentenentwurf, der die Beachtung der Ziele der Raumordnung sowie die Berücksichtigung von Grundsätzen und sonstigen Erfordernissen der Raumordnung vorschreibt, sind hier weiterführend. Vgl. auch § 4 ROG, auf den die Begründung des Referentenentwurfs, S. 65, im Zusammenhang mit § 13 Abs. 1 letzter Satz Referentenentwurf ausdrücklich hinweist. 26

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den sollten. All diese Fragen enthalten, wie die Diskussion gezeigt hat und sicher auch noch weiterhin belegen wird, erhebliche in der Regel nur politisch zu bewältigende Konflikte. Das gilt nicht nur für Nutzungskonflikte in der Tiefe und für Konflikte zwischen Oberflächeneigentum und Tiefennutzung. Das gilt auch für die schwierigen, vom Gesetzgeber noch endgültig zu überdenkende und zu lösende Fragen etwa der Öffnungsklausel für Länder oder der Begrenzung des Anwendungsbereichs des Gesetzes auf Demonstrationsvorhaben und Forschungsvorhaben in Abweichung vom Regierungsentwurf 2009, der noch ein Vollgesetz vorsah. Hinzu kommen die zunehmenden Akzeptanzprobleme. Bedenkt man, dass für die rechtzeitige Umsetzung der Richtlinie nur noch 5 Monate zur Verfügung stehen – Ende der Umsetzungsfrist Ende Juni 2011 –, so wird deutlich, dass Zweifel daran bestehen, ob angesichts der zu lösenden Grundsatzkonflikte das Gesetz rechtzeitig verabschiedet wird. Die Abhandlung, die hiermit vorgelegt wird, enthält freilich Diskussionspunkte, die bereits in den letzten beiden Jahren auf dem Tisch waren und angesichts der Heftigkeit der politischen Auseinandersetzung nach diesseitiger Auffassung nicht befriedigend gelöst werden konnten. Dabei muss bedacht werden, dass von der betroffenen Industrie Investitionsentscheidungen in Richtung auf CCS wohl nur dann getroffen werden, wenn ein sicherer Rechtsrahmen geschaffen ist. Ohnehin wird, liegt ein solcher Rechtsrahmen vor, noch mit umfangreichen Auseinandersetzungen in den sicher zeitintensiven Planfeststellungsverfahren über die Transportpipelines und Speicher und in sich anschließenden Gerichtsverfahren zu rechnen sein. Auch dies wird, wie der Konflikt über neue Technologien regelmäßig, einen weiteren Unsicherheitsfaktor für den potentiellen Investor mit sich bringen. All diese Überlegungen führen zu der Frage, ob das CCS-Gesetz letztlich überhaupt entscheidungsreif ist. Eine Prognose ist insoweit mit zahlreichen Unsicherheitsfaktoren belastet. Sie rühren nicht zuletzt daher, dass wir vor der Einführung einer gänzlich neuen Technologie stehen, deren Anwendbarkeit und Sicherheit bislang, wie im Referentenentwurf ausdrücklich betont, nicht belegt ist. Diese Unsicherheit wird manifestiert in der Befristung für die Antragstellung (31. 12. 2015) und in der Anordnung an die Bundesregierung, danach bis 2017 eine Evaluation vorzunehmen und dem Bundestag vorzutragen, deren Ergebnis dafür entscheidend ist, ob die Technologie endgültig eingeführt wird. Ist ein Gesetzgebungsverfahren – wie das selten in diesem Ausmaße der Fall ist – mit solchen Unsicherheitsfaktoren belastet, so ist es nicht fernliegend, dass die Verabschiedung auf nicht unerhebliche Widerstände stößt. Nicht zuletzt ist hervorzuheben, dass Art. 7 des Referentenentwurfs die Einfügung eines neuen § 9a in die GroßfeuerungsanlagenVO (13. BImSchV) vorsieht. Nach dieser Vorschrift ist vor der erstmaligen Genehmigung der Errichtung oder des Betriebes einer Stromerzeugungsanlage mit einer elektrischen Nennleistung von 300 Megawatt oder mehr vom Betreiber zu prüfen, ob geeignete Kohlendioxid-Speicher zur Verfügung stehen und ob der Zugang zu Anlagen für den Transport des Kohlendioxids

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sowie die Nachrüstung von Anlagen für die Abscheidung und Kompression von Kohlendioxid technisch möglich und wirtschaftlich zumutbar ist. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, dann hat der Betreiber auf dem Betriebsgelände eine hinreichend große Fläche für die Nachrüstung der errichteten Anlage mit den für die Abscheidung und Kompression von Kohlendioxid erforderlichen Anlagen freizuhalten. Die Bedeutung dieser Regelung („Capture Ready“) ist nicht ganz deutlich. Ihr Wortlaut spricht lediglich für eine Prüfungspflicht des Betreibers. Der Referentenentwurf geht in seiner Begründung davon aus, dass damit der vollständigen Umsetzung von Art. 33 der Richtlinie entsprochen ist29. Unmittelbar vor der abschließenden Drucklegung des Werks, für das diese Abhandlung bestimmt ist, befasste sich überraschend das Bundeskabinett in seiner Sitzung vom 13. 04. 2011 mit dem CCS-Gesetz. Zugrunde lag eine gegenüber dem Referentenentwurf vom 23. 07. 2010 in einigen Einzelheiten überarbeitete Gesetzesfassung vom 12. 04. 2011, die der BMU an diesem Tag ins Internet stellte. Diese Fassung, die bis dahin nicht zugänglich war, konnte, um die Fertigstellung des Gesamtwerks nicht zu gefährden, in dieser Abhandlung nicht mehr berücksichtigt werden. Das Kabinett verabschiedete diese Fassung. Aus der Pressemitteilung des BMU vom 13. 04. 2011 ergibt sich, dass in der zuletzt umstrittenen Frage der Einflussmöglichkeiten einzelner Länder bei der Demonstrationsspeicherung eine Einigung erzielt worden ist. Es heißt in der Pressemitteilung wörtlich wie folgt: „Die Länder können im Rahmen einer fachlichen Abwägung sowohl Gebiete ausweisen, in denen die CO2-Speicherung zulässig ist, als auch solche, in denen sie nicht zulässig ist. Damit wird der Gesetzesentwurf den unterschiedlichen regionalen Gegebenheiten gerecht und trägt dazu bei, die Akzeptanz für CCS zu erhöhen“. Die neue Öffnungsklausel des Gesetzes in der Fassung vom 12. 04. 2011 – § 2 Abs. 5 – lautet: Die Länder können durch Landesgesetz bestimmen, dass eine Erprobung und Demonstration der dauerhaften Speicherung nur in bestimmten Gebieten zulässig ist oder in bestimmten Gebieten unzulässig ist.“

Die Reaktionen im politischen Raum auf den Kabinettsbeschluss lassen erwarten, dass trotz dieser Einigung innerhalb der Bundesregierung die endgültige Verabschiedung durch den Gesetzgeber noch nicht als gesichert angesehen werden kann, zumal das Gesetz auch der Zustimmung des Bundesrates bedarf.

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Referentenentwurf, S. 80.

Zur „Ökonomisierung“ der Universität Von Rudolf Steinberg, Frankfurt a. M.

I. Einleitung Der Begriff der „Ökonomisierung“ der Hochschule hat Konjunktur. Er wird für alle Übel verantwortlich gemacht, die den Universitäten in Deutschland in den letzen Jahren widerfahren sind.1 Hierzu wird die Neugestaltung der Finanzverantwortung mit der Einführung des Globalhaushalts und dem System leistungsorientierter Mittelzuweisung, der Einführung von Zielvereinbarungen, von Berichtspflichten und Evaluationsverfahren ebenso gerechnet wie neue Organisations- und Besoldungsstrukturen. Und auch die Bologna-Reform mit ihren neuen Bachelor- und Master-Studiengängen2 samt der dazu gehörenden Akkreditierungsverfahren wird als Ausdruck der „Ökonomisierung“ verstanden, nicht weniger als – und das wirkt nun doch schon ein wenig überraschend – die Internationalisierung der Hochschulen. Inzwischen scheint die Hochschule gleichsam zum Referenzgebilde einer alle Lebensbereiche ergreifenden Kommerzialisierung zu werden: Studiengebühren und Studenten, die als „Kunden“ betrachtet würden; eine zunehmend rein quantitative Betrachtung des Erkenntnisgewinns; Drittmittelgeber aus der Privatwirtschaft, die auf exklusiver Nutzung der von ihr finanzierten Forschung bestünden; die kaufmännische Buchhaltung in öffentlichen Einrichtungen und das ,New Public Management; der Verlust an Bildungsideen, Wahrheitssuche und ethischen Einstellungen.3 In dem vorliegenden Beitrag sollen einige Aspekte der Diskussion aufgegriffen werden. Nachdem kurz die wesentlichen Elemente der Neugestaltung der Universitäten in Deutschland und deren Gründe skizziert werden (II.), sollen drei Bereiche eingehender betrachtet werden: die Verstärkung der Wettbewerbselemente (III.), 1 Besonders anschaulich vgl. die Beiträge von R. Hendler und U. Mager, Die Universität im Zeichen von Ökonomisierung und Internationalisierung, VVDStRL 65 (2006), S. 238 ff. (274 ff.); ferner M. Schulte, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, VVDStRL 65 (2006), S. 110 ff., jeweils mit umfangreichen Nachw. 2 Hierzu auch H. Schmoll, Wie die Bologna-Studiengänge zu verbessern wären, FAZ Nr. 37 v. 13. 2. 2010, S. 4. – Der Verf. hat sich in der Vergangenheit immer wieder kritisch zur BolognaReform geäußert, durch die kein Problem der Universität gelöst wurde, stattdessen der Rest eines forschungsbasierten Studiums in Gefahr steht, ausgemerzt zu werden. Die komplexen Ursachen für diesen Reformversuch lassen sich jedoch nicht mit dem Schlagwort einer „Ökonomisierung“ erklären. 3 So der Bericht über eine Konferenz der FAZ „Tendenzwende“ von H. Schmoll/J. Kaube, Reichen die Tendenzen für eine Tendenzwende?, FAZ Nr. 31 v. 6. 2. 2010, S. 4.

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die Stärkung von Autonomie und Verantwortlichkeit (IV.); schließlich das Verhältnis von Universität und Praxis (V.). Erhofft wird eine Versachlichung der teilweise emotional geführten Debatte in Deutschland, deren Verbissenheit auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung – anders als in Österreich und der Schweiz mit ganz vergleichbaren Entwicklungen – einen schweizerischen Beobachter verwundert.4 Diese Zeilen sind dem Jubilar gewidmet, der viele Jahre als Mitglied des Senats und als Vizepräsident die Entwicklung der Universität Freiburg i.Br. mitgeprägt hat. II. Die neue Universität Nachdem die Ordinarienuniversität unter dem Ansturm der 68er untergegangen und durch die sog. Gruppenuniversität ersetzt war, wurden zunehmend auch deren Schwächen thematisiert. Die Kritik gipfelte in dem Alarmruf des sozialdemokratischen Bildungspolitikers Peter Glotz: „Im Kern verrottet? Fünf vor zwölf an Deutschlands Universitäten“.5 Er wurde bekräftig von dem späteren Vorsitzenden des Wissenschaftsrates Dieter Simon, der die Universität als Ort organisierter Verantwortungslosigkeit bezeichnete.6 Beklagt wurde vor allem der internationale Bedeutungsverlust der deutschen Universitäten, die bis zum 1. Weltkrieg das Mekka der Wissenschaft und gleichzeitig das Modell für die damals gegründeten, heute weltweit führenden amerikanischen Forschungsuniversitäten darstellten. Diese, aber auch die Spitzenuniversitäten in England und Frankreich stellen heute die Magneten für die besten jungen Köpfe aus aller Welt dar, an sie verliert auch Deutschland im Zuge eines brain drain zahlreiche Begabungen, Absolventen deutscher Universitäten, die dort – an amerikanischen Institutionen – den Nobelpreis gewinnen. Die Gründe sind nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Historisch kaum reversibel wirkt der gewaltige Aderlass der Vertreibung jüdischer und politisch missliebiger Gelehrter nach 1933. Zu beklagen ist aber auch die andauernde chronische Unterfinanzierung der deutschen Hochschulen,7 die im internationalen Vergleich lange Studiendauer und 4 P. Richli, Von der Gelehrtenrepublik zur Managementuniversität? Rechtsfragen der Organisation und Leitung von Universitäten in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich, der Schweiz und den USA, 2009, S. 29. – Vgl. etwa den Diskussionsbeitrag von M.-E. Geis, VVDStRL 65 (2006), S. 326, der mit seiner Bemerkung einer „wilden Ökonomisierung“ jedes Maß an Differenzierung vermissen lässt. – Zu dem Thema auch der ehemalige Präsident der Harvard University D. Bok, Universities in the Marketplace, The Commercialization of Higher Education, 2003. 5 1996. 6 Diese allgemeine Einschätzung bringt auch der Economist auf die Formel: „Universities are a mess across Europe.“, The brains business. A survey of higher education in Europe, 10. 9. 2005. 7 Vgl. nur Wissenschaftsrat, Thesen zur künftigen Entwicklung des Wissenschaftssystems in Deutschland, 2000, S. 51 f. – Das belegen auch die vergleichenden Zahlen der OECDIndikatoren, Bildung auf einen Blick 2008, 2008, S. 248 ff., wonach die Länder Kanada, USA und Korea zwischen 2,4 bis 2,7 % des BSP in tertiäre Bildungseinrichtungen investierte,

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hohe Abbrecherquote, die hierarchischen, selbständige Forschungen jüngerer Wissenschaftler behindernden Strukturen und damit die mangelnde Attraktivität für den in- und ausländischen wissenschaftlichen Nachwuchs, die Vernachlässigung von Studium und Lehre, die Praxisferne von Forschung und Lehre, schließlich die bürokratische Gängelung der Universitäten durch Ministerien und Gerichte.8 Remedur gegen diese und andere Übel sollte erreicht werden durch einen Abbau der bürokratischen Umhegung der Universitäten. Schrittweise sollte „Die blockierte Universität“9 „entfesselt“10 werden, damit sie Räume eigenständiger Gestaltung gewinnen konnte. Wesentliche Veränderungen brachte die Novellierung des HRG 1998. Sie verfolgte – so die Bundesregierung in ihrer Begründung des Gesetzentwurfs – die „Reform des deutschen Hochschulsystems mit dem Ziel, durch Deregulierung, durch Leistungsorientierung und durch die Schaffung von Leistungsanreizen Wettbewerb und Differenzierung zu ermöglichen sowie die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Hochschulen für das 21. Jahrhundert zu sichern.“11 Die hierzu vorgesehenen Neuregelungen betrafen vor allem die Einführung einer leistungsorientierten Hochschulfinanzierung (§ 5) sowie einer Evaluation von Forschung und Lehre (§ 6). Um die Hochschulen wettbewerbsfähig zu machen, müsste darüber hinaus das Hochschulmanagement weiterentwickelt und müssten Hochschul- wie Fachbereichsleitung gestärkt werden. Der Gesetzentwurf, der sich auf ein hohes Maß an Konsens in den Grundfragen der Hochschulreform zwischen Bund und Ländern

während Deutschland mit etwa 1,1 % unter dem OECD-Durchschnitt liegt. Damit hat sich der Anteil am BSP gegenüber 1975 um 0,22 % verschlechtert, so G. Turner, Hochschule zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Zur Geschichte der Hochschulreform im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, 2001, S. 171. – Damit fehlen den Hochschulen pro Jahr mehr als fünf Milliarden Euro, um wieder den Finanzierungsstandard von 1975 zu erhalten; in demselben Zeitraum hat sich die Zahl der Studierenden mehr als verdoppelt, so K. U. Mayer, Das Hochschulwesen, in: K.S. Cortina/J. Baumert/et al. (Hrsg.), Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland, 2008, S. 606 f. – Auch die finanzielle Lage der Hochschulforschung hat sich in den letzen Jahren zugunsten der Förderung der außeruniversitären Forschungsinstitute und zulasten der finanziellen Grundausstattung der Hochschulen verschlechtert, vgl. ebd. S. 627 f. – Die Lage auf europäischer Ebene ist ähnlich, so beklagt die Kommission in ihrer Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament – Das Modernisierungsprogramm für Universitäten umsetzen, BRat-Drs. 350/06 v. 23. 5. 2006, S. 3, das „enorme Finanzierungsdefizit, von dem die Universitäten sowohl in der Bildung als auch in der Forschung betroffen sind.“ Die durchschnittliche Finanzierungslücke betrüge bezogen auf die amerikanischen Universitäten ca. 10.000 Euro pro Student und Jahr. – Um auf den U.S.-amerikanischen Anteil am BSP zu kommen, fehlen in Deutschland jährlich ca. 39 Mrd. Euro. 8 Vgl. Mayer, ebd., S. 599 ff. 9 So der Titel eines Buches von M. Daxner, 1999 mit dem Untertitel: Warum die Wissensgesellschaft eine andere Hochschule braucht. 10 So die Streitschrift von D. Müller-Böling, Die entfesselte Hochschule, 2000. 11 BRat-Drs. 724/97 v. 26.9.1997.– Auf die Änderung von Vorschriften, die Studium und Lehre betrafen, wird im Folgenden nicht eingegangen.

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stützt,12 sah insbesondere auch eine weitgehende Deregulierung der Vorschriften über die innere und äußere Organisation und Verwaltung der Hochschulen vor (§§ 38 – 40, §§ 58 – 66). Durch die Deregulierung dieser Regelungskomplexe sollten die „Länder einen umfassenden Handlungsspielraum für die Umgestaltung des Managements der deutschen Hochschulen“ erhalten. Damit werde der Grundstein „für ein von Autonomie und Wettbewerb geprägtes, international konkurrenzfähiges Hochschulsystem gelegt, das in der Lage ist, flexibel und kreativ auf heute bestehende und sich künftig stellende Herausforderungen zu reagieren.“13 Die Länder haben durchweg den neuen Freiraum für eine Reform ihrer Hochschulgesetze im Sinne des rahmenrechtlichen Anstoßes genutzt. Sie führten etwa in Hessen über weitreichende Novellierungen 1998, 2000, 2004 zum TU Darmstadt-Gesetz vom 5. 12. 2004.14 In ihm wird die Technische Universität Darmstadt nur noch als Körperschaft des öffentlichen Rechts bezeichnet und der Zusatz „staatliche Einrichtung“ gestrichen. Den Organen der Universität – vor allem dem Präsidenten und dem Hochschulrat – werden bislang dem Land vorbehaltene Befugnisse übertragen. Einen großen Schritt weiter ging der Hessische Gesetzgeber, als er am 28. 9. 2007 die Goethe-Universität Frankfurt am Main zur Stiftung öffentlichen Rechts umgestaltete und sich aus der Detailsteuerung der Universität vollständig zurückzog.15 Diese Reform ähnelt damit der in ihrem Weg und ihrer Ausgestaltung unterschiedlichen Regelung des Niedersächsischen Gesetzgebers, der 2004 die Voraussetzungen dazu geschaffen hat, dass Hochschulen in die Trägerschaft von Stiftungen des öffentlichen Rechts überführt werden können.16 Markante Reformen stellten schließlich die neuen Hochschulgesetze von Nordrhein-Westfalen 200617 und Baden-Württemberg 200418 dar. Die Möglichkeit eigenständiger Gestaltung im Hochschulbereich ist schließlich durch die Föderalismusreform entscheidend gesteigert worden. In ihr ist nicht nur die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes in Art. 75 Abs. 1 Nr. 1a GG gestrichen worden, sondern sind auch die Kompetenzen der Länder im Personalbereich deutlich gestärkt worden.19 Dies bietet den Ländern die Chance, mit ihren Hochschu-

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Ebd. S. 19. Ebd. S. 21. 14 GVBl. I, S. 382. 15 GVBl. I, S. 640. 16 GVBl. S. 262. – Dazu Th. Oppermann, Vom Staatsbetrieb zur Stiftung – Impulse für neue Hochschulen, in: ders. (Hrsg.), Vom Staatsbetrieb zur Stiftung – Moderne Hochschulen für Deutschland, 2002, S. 10 ff. – Von dieser Möglichkeit haben die Universitäten Göttingen, Hildesheim und Lüneburg, die Tierärztliche Hochschule Hannover und die Fachhochschule Osnabrück Gebrauch gemacht. 17 GV. NRW. 2006, 474. 18 GVBl. 2005, S. 1. 19 Vgl. E. Hansalek, Die neuen Kompetenzen des Bundes im Hochschulrecht, NVwZ 2006, S. 668 ff.; L. Knopp, Föderalismusreform – zurück zur Kleinstaaterei, An den Beispielen des Hochschul-, Bildungs- und Beamtenrechts, NVwZ 2006, S. 1216 ff. 13

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len einen gesetzlichen Rahmen zu finden, der deren Aufgaben in Forschung und Lehre optimal unterstützt. III. Steuerung durch Wettbewerb Nach dem Abbau bürokratischer Steuerungselemente mussten zwangsläufig alternative Elemente der Steuerung entwickelt werden. Den Anstoß hierzu gab die Monopolkommission in ihrem Sondergutachten „Wettbewerb als Leitbild für die Hochschulpolitik“ aus dem Jahre 2000.20 Dabei ging es ihr nicht um den der modernen Wissenschaft seit jeher immanenten Wettbewerbscharakter,21 sondern um Fragen der institutionellen Ausgestaltung. So fordert sie in ihrem Gutachten, „die Hochschulen zu Wettbewerb in allen Bereichen anzuhalten.“ Sie bemängelt vor allem die durch das HRG, aber auch das System der Professorenbesoldung geförderten Vereinheitlichungs- und Zentralisierungstendenzen,22 aber auch das Auseinanderfallen von Zuständigkeit und Verantwortlichkeit. Neben der Forderung nach Abschaffung des HRG macht sie Vorschläge zur Reform der Finanzautonomie, zur Reform des Dienst-, Tarif- und Besoldungsrechts, schließlich Vorschläge zur Stärkung der institutionellen und korporativen Autonomie der Hochschule.23 Diese Forderungen stellten in den Hochschulen durchaus eine kleine Revolution dar. Dabei waren starke Wettbewerbselemente bis zu der zentralstaatlichen Verstaatlichung der Universitäten seit den 70er Jahren in Deutschland immer Teil der abendländischen Universität. So konkurrierten die Professoren an den neuen Universitäten in Bologna und Paris um ihre Studenten, von deren Bezahlung sie abhängig waren, und schreckten dabei auch nicht von Polemik, ja Handgreiflichkeiten gegen ihre Konkurrenten zurück.24 Besonders heftig war der Kampf um die besten Professoren in den oberitalienischen Renaissance-Städten des 13. und 14. Jahrhunderts. Hier berichtet Jakob Burckhardt, dass sich die Universitäten berühmte Lehrer durch hohe finanzielle 20

Sondergutachten der Monopolkommission Bd. 30, 2000. – Vgl. auch Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, Qualität durch Wettbewerb und Autonomie, 2002. 21 Vgl. etwa M. Weber, Der Beruf zur Wissenschaft, in J. Winckelmann (Hrsg): Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, 5. Aufl. 1973, S. 311 ff., S. 315 f., wonach der Sinn der Arbeit der Wissenschaft darin liegt, bisherige Erkenntnisse zu überholen, d. h. „bessere“ Antworten auf wissenschaftliche Fragen zu erarbeiten als die Vorgänger, aber auch die Kollegen. – F.v.Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: Freiburger Studien, 1994, S. 249 ff., nennt die Wissenschaft als Prototypen eines Verfahrens zur Entdeckung unbekannter Tatsachen. 22 Monopolkommission, a.a.O. (Fn. 20), S. 53 ff. 23 Ebd. S. 83 ff., 96. ff., 109 ff. – In Vielem ähnlich Wissenschaftsrat, a.a.O. (Fn. 7), passim. – Überwiegend negativ M.-E. Geis/Ch. Bumke, Universitäten im Wettbewerb, VVDStRL 69 (2010), S. 364 ff. (407 ff.). 24 Vgl. H. Bookmann, Wissen und Widerstand. Geschichte der deutschen Universität, 1999, S. 48; J. Fried, Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, 2008, S. 228.

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Aufwendungen abspenstig zu machen suchten; hierzu soll die Universität Bologna die Hälfte seiner Staatseinnahmen auf die Universität verwandt haben.25 Und Hans-Ulrich Wehler bezeichnet schon für die Zeit vor 1800 als den eigentlichen Vorzug des deutschen Universitätswesens den dezentralen Wettbewerb zwischen vielen Rivalen mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Damit unterschied es sich zutiefst von den zentralistischen Strukturen von Paris, Oxford und Cambridge und gewährleistete nicht nur, „dass eine belebende Konkurrenz in Gang gehalten wurde, sondern dass wichtige methodische und institutionelle Innovationen auch relativ schnell an vielen Orten übernommen wurden.“26 Und bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts sollte – so jedenfalls die Theorie – die Attraktivität einer Vorlesung durch besonders zahlreiche „Hörergelder“ belohnt werden.27 Inzwischen ist den Forderungen nach Stärkung des Wettbewerbs im Hochschulsystem in erheblichem Maße entsprochen worden. Das soll anhand von drei Bereichen paradigmatisch dargestellt werden. Der erste betrifft das Haushalts- und Finanzierungssystem der Hochschulen. So ist die kameralistische Buchhaltung, bei der lediglich die Ein- und Ausgaben erfasst werden, durchweg ersetzt worden durch die kaufmännische Buchführung und der Aufbau einer Kosten- und Leistungsrechnung. Damit verbunden sind zum ersten Mal auch finanzielle Planungssysteme z. B. der mittelfristigen Verpflichtungen der Hochschule (z. B. aufgrund von Berufungszusagen) oder der aufgrund von Abschreibungen für die Instandhaltung von Gebäuden erforderlichen Mittel. Diese Umstellung war verbunden mit, in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzenden, Einführung des Globalbudgets. Damit war die Verteilung der Haushaltsmittel vom Ministerium auf die Organe der Universität übertragen, lediglich die Planstellen für Beamte mussten noch im Haushaltsplan des Landes etatisiert werden. Nachdem die Hochschulen auch nicht verausgabte Mittel in das nächste Haushaltsjahr übertragen konnten, war zum ersten Mal den Hochschulen, ihren zentralen Organen, aber auch den Fachbereichen eine weitsichtige Bewirtschaftung ihrer Mittel möglich. Fachbereiche bildeten Rücklagen, z. B. um absehbare teure Berufungen finanzieren zu können.28 Das bis dahin ver25 J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, 1997, S. 208 f., wonach die florentinische Regierung einen abwanderungswilligen Rechtsprofessor sogar in Haft nahm und nur gegen eine Kaution von 18.000 Gulden freilassen wollte. 26 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1700 – 1815, 1987, S. 302. 27 Das System der Hörergelder wurde dann abgeschafft und durch Pauschalen zum Grundgehalt eines Professors ersetzt. Begründet wurde dies mit einer Blockierung der großen Pflichtveranstaltungen durch die „Platzhirsche“ und auch damit verbundene Erschwerung von neuen Unterrichtsformen. – Es erscheint deshalb ein wenig unrealistisch, wenn B. Schefold, Die Ökonomisierung der Wissenskultur, FAZ Nr. 84 v. 12. 4. 2010, S. 12, meint, damit hätten die Studenten die Professoren evaluieren und deren Einkommen unmittelbar verändern können. – Schefold überschätzt die Wahlmöglichkeiten der Studenten innerhalb einer Universität und ihre Mobilität. 28 Die Rücklagen der Hochschulen in Hessen, die im Jahre 2010 einen Betrag von mehr als 250 Mio. Euro ausmachen sollen, dienen u. a. auch zur Rechtfertigung der für 2011 angekündigten Budgetkürzung um 30 Mio. Euro, vgl. FAZ Nr. 73 v. 27. 3. 2010, S. 55.

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breitete „Novemberfieber“, währenddessen vorhandene Haushaltsreste um jeden Preis noch verausgabt werden mussten, sollten sie nicht „verloren“ gehen, war verschwunden. Das Ergebnis war eine erheblich rationalere Gestaltung der Haushaltswirtschaft an den hessischen Hochschulen. Elemente des Wettbewerbs fanden Eingang in das Budgetierungssystem mit der Einführung der sog. leistungsorientierten Mittelzuweisung. Ihre bundesrechtliche Grundlage erhielt diese durch § 5 HRG 1998, wonach sich die staatliche Finanzierung der Hochschulen „an den in der Forschung und Lehre sowie bei der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses erbrachten Leistungen“ orientieren sollte. Diese Regelung begründete auch in Hessen 2003 das neue Budgetierungssystem, bei dem zu einem nach Studierendenzahlen bemessenen Grundbudget ein Erfolgsbudget hinzukam, das durch eine Reihe von Parametern – z. B. Drittmittel, Sonderforschungsbereiche und Graduiertenkollegs der DFG, Absolventenzahlen, Promotionen und Habilitationen, Gleichstellungszahlen – ermittelt wurde. Damit war zwar der Wettbewerb um die Haushaltsmittel des Landes eröffnet; gleichwohl brachte dies nur begrenzt Marktrationalität in den Budgetierungsprozess. Denn alle Elemente des Budgetierungsmodells: das Verhältnis von Grund- zu Erfolgsbudget, die „Preise“ für die unterschiedlichen Fächercluster, die Kriterien des Erfolgsbudgets wie auch ihr Gewicht, waren das Ergebnis zähen, manchmal auch erbitterter „politischer“ Verhandlungen zwischen den Ministerien und den Hochschulen, zwischen den Universitäten und Fachhochschulen, nicht zuletzt auch zwischen den Universitäten untereinander. Hintergründigen Kontrollmaßstab stellte immer auch der budgetmäßige status quo dar, von dem nur in Maßen abgewichen werden durfte. Allerdings war die Existenz des Erfolgsbudgets (ca. 15 % des Landesbudgets, hinzu kamen 5 % eines sog. Innovationsbudgets) von nicht geringer Bedeutung; denn dieses war im Wesentlichen der Teil des Budgets, den man im Wettbewerb mit den anderen Hochschulen zugunsten der eigenen Universität verändern konnte.29 Es war deshalb konsequent, die damit geschaffenen Anreize durch ein ähnlich strukturiertes hochschulinternes Mittelverteilungsmodell „weiterzureichen“. Auch hier in der Universität gab es jetzt für die Fachbereiche ein Grund- und Erfolgsbudget, und es wurde Wert darauf gelegt, dass diese auch die Professorinnen und Professoren über Prämien am Erfolg z. B. von Drittmitteleinwerbungen beteiligten. Es nimmt wenig Wunder, dass die Fähigkeit zur Einwerbung von Drittmitteln zu einer elementaren Voraussetzung einer erfolgreichen Universität geworden ist. Sie findet Eingang in Ausschreibungen für Professorenstellen und Berufungsvereinbarungen; sie findet sich schließlich wieder als Kriterium bei der Evaluation von Fachbereichen, Instituten und Professuren z. B. im CHE-Ranking, aber auch im Ranking der DFG oder – neuerdings – des Wissenschaftsrats. 29 Die Drittmitteleinwerbung an der Goethe-Universität konnte von 2000 bis 2008 von 48 Mio. Euro auf 120 Mio. Euro gesteigert werden.

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Gewisse Bedenken vermag diese Entwicklung weniger zu wecken, weil sie bestimmte Bereiche der Universität – die Medizin oder die Natur- und Ingenieurwissenschaften – zulasten vor allem der Geisteswissenschaften begünstigt. Auch diese können – wenn sie sich denn die Mühe der Antragsstellung machen – ebenfalls Drittmittel in erheblichem Umfang einwerben. Die Bedenken rühren eher daher, dass sie die Folgen der chronischen Unterfinanzierung der Universitäten verschärfen. Denn die Mittel des Erfolgsbudgets werden ja nicht zusätzlich zu dem bestehenden Budget der Universitäten gewährt, sondern sind auch Teil desselben. Und das heißt, dass aus ihm auch Grundbedürfnisse der Universität – Liegenschaften, Lehre, Personal – finanziert werden müssen, die von dem geförderten Projekt völlig unabhängig sind. Die Durchführung von Drittmittelprojekten verursacht in der Regel jedoch zusätzliche Kosten, für die die Universität aus ihrem allgemeinen Etat aufkommen muss. Es ist deshalb ein großer Fortschritt, dass zu den Fördermitteln der DFG jetzt ein overhead gezahlt wird, der diese Wirkungen reduziert.30 Problematisch wirkt auch die mit vielen Fördermaßnahmen vor allem von Professorenstellen verbundene Erwartung der Fortführung der Stelle durch die Universität nach Auslaufen der Förderung. Das bindet langfristig Mittel und führt zur fremdbestimmten Setzung von Prioritäten in der Forschung und der Lehre. Der „goldene Zügel“, von dem sich auch hier sprechen lässt,31 unterminiert auf diese Weise subtil die neu geschaffene Autonomie. Abhilfe könnte hier nur geschaffen werden durch eine auskömmliche Grundfinanzierung der Universitäten, die seit langem – etwa vom Wissenschaftsrat immer wieder thematisiert – auf der Tagesordnung steht. Keinerlei Entlastung bringt hingegen die sog. Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder; im Gegenteil werden durch sie die geschilderten Probleme in gewisser Weise auf die Spitze getrieben.32 Das gilt nicht zuletzt für die Ausblendung von Problemen von Studium und Lehre, deren ohnehin oftmals beklagte Vernachlässigung in den Universitäten nochmals befördert wird. Der zweite Bereich, in dem Wettbewerbselemente gestärkt wurden, betrifft die Besoldung der Professorinnen/Professoren. Zwar gab es auch hier im Rahmen der bis bisher geltenden C-Besoldung Aspekte des Wettbewerbs. So konnten bei Rufen und Bleibeverhandlungen in unterschiedlicher Höhe Zulagen gezahlt werden. Da je30 Leider sind Großgeräte ausgenommen, so dass die z. T. erheblichen Betriebskosten die Universität belasten. 31 Es handelt sich um eine regelmäßige Problembeschreibung staatlicher Zweckzuweisungen, bes. auch aus dem Bereich der kommunalen Selbstverwaltung, vgl. etwa BVerwGE 101, 99 (109). – Die von A. v. Mutius, Gutachten E zum 53. Deutschen Juristentag, 1980, S. E 77 ff., 119 ff. genannten Elemente einer Schwächung der kommunalen Selbstverwaltung durch Zweckzuweisungen an die Gemeinden (Veränderung der sachlichen und zeitlichen Prioritäten, Schwächung der eigenen Finanzen, Benachteiligung schwacher Gemeinden, Verschärfung der Unsicherheiten bezüglich der zukünftigen Finanzsituation) lassen sich durchaus auf die Hochschulen übertragen. 32 Bedauerlicherweise ist die grundlegende Kritik von R. Münch, Die akademische Elite, 2007 nicht zur Kenntnis genommen worden. – Treffend J. Kaube, Exzellenz per Beschluss, in: ders., (Hrsg.), Die Illusion der Exzellenz, 2. Aufl. 2009, S. 82 ff.; krit. auch Mayer, a.a.O., (Fn. 7), S. 644 f.

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doch lediglich ca. 15 % der Professoren einen Zweitruf erhielten, war für die große Mehrzahl das mit den Dienstjahren ansteigende Grundgehalt maßgeblich. Das änderte sich 2005 mit der Einführung der sog. W-Besoldung. Bei dieser wird ein festes Grundgehalt verbunden mit Leistungs- und Funktionsbezügen. In der Kritik stehen vornehmlich die Grundgehälter der Besoldungsstufen W-2 und W-3,33 die jedoch nach meiner Erfahrung – d. h. an der Frankfurter Universität – nur in außergewöhnlichen Fällen gezahlt werden.34 Die deutlich verbesserte Flexibilität erlaubt es, auch „teure“ Berufungen etwa aus dem Ausland erfolgreich abzuschließen oder Abwanderungen ins Ausland zu verhindern. Keinesfalls ist die Gesamtsumme der Professorengehälter unter dem W-Regime gesunken; sie hängt letztlich von dem Budget ab, das die Universität für Berufungen zur Verfügung hat. Es ist eine professorale selbstgefällige Mär, wenn behauptet wird, ein Professor sei im Wesentlichen intrinsisch motiviert, und diese intrinsische Motivation werde durch Leistungsbezüge zerstört.35 Natürlich wird niemand ein guter akademischer Forscher und Lehrer ohne ein hohes Maß an innerer Motivation werden, das schließt jedoch die Anreizfunktion der Bezüge nicht aus. Diese stellten in Hunderten von Berufungs- und Bleibeverhandlung – neben der Ausstattung und der Lehrbelastung – das Thema Nr. 1 dar. Auch Adam Smith befürwortete nachdrücklich ein gemischtes System, wonach Professoren zu einem Grundgehalt ein Hörergeld erhielten. Er hatte die Praxis an den alten englischen Universitäten, vornehmlich Oxford, vor Augen, wo die Fellows an den Colleges feste Bezüge erhielten. Dieses System bezeichnete er als verrottet, ein erstzunehmender Unterricht finde nicht mehr statt, da Anreize für gute Lehre fehlten. Ehr- und Pflichtgefühl könnten monetäre Anreize ergänzen, aber Smith traute ihnen keine genügende Kraft zu.36 Aber auch mit ihren monetären Interessen stehen die heutigen Professoren in einer guten abendländischen Tradition: So bekannte einer der bedeutendsten Wissenschaftler des Mittelalters, Abaelard, er habe die Wissenschaft „des Ruhmes und des Geldes wegen“ gewählt.37 Und neu ist auch nicht die Spreizung der Bezüge zwischen den Fachbereichen und innerhalb der Fachbereiche, die als zwangsläufige Folge der jetzt höheren Leistungszulagen beobachtet werden. So berichtet J. Burckhardt, dass an den italienischen Renaissance-Universitäten einzelne Juristen und Me-

33 Vgl. etwa die Befürchtung eines „Wettlaufs nach unten“, der durch die Föderalismusreform zum 1. 1. 2006 beflügelt wurde, L. Knopp, a.a.O. (Fn. 19), S. 1216, 1219 f.; aus der Rechtsprechung vgl. den Vorlagebeschluss des VG Gießen v. 8. 12. 2008, ZBR 2009, 211. 34 Darauf verweist auch für die rechtliche Bewertung zutr. der BayVerfGH in seiner Entscheidung v. 28. 7. 2008, NVwZ 2009, 46 49. 35 So wiederholt der Zürcher Wirtschaftswissenschaftler B.S. Frey, Auszeichnungen statt Leistungslöhne, Forschung & Lehre 2010, S. 225. – Von der Höhe der Zürcher Bezüge mag man das behaupten können, an der selbst die Berufung auf die Leitung eines Max-Planck-Instituts scheitert. 36 Vgl. Schefold, a.a.O. (Fn. 27), S. 12. 37 Zit. bei Fried, a.a.O. (Fn. 24), S. 228.

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diziner die höchsten Besoldungen erhielten.38 Die beiden Gruppen gehören auch heute noch zu den Spitzenverdienern – ergänzt um die Ökonomen und Ingenieure. Und damals wie heute erzielen die Juristen ihre hohen Bezüge nicht zuletzt durch gut dotierte Gutachten und Prozessvertretungen. Auch insoweit führt mehr Wettbewerb zu weniger Gleichheit! Neben dem Wettbewerb um Finanzmittel und Professorinnen/Professoren kommt dem Wettbewerb um – gute – Studierende besondere Bedeutung zu. Allerdings sind die Fortschritte hier eher verhalten. Stein des Anstoßes waren vor allem die Bestimmungen in §§ 31 ff. HRG, in denen nicht nur minutiös die Kriterien für die Zulassung geregelt waren, sondern vor allem auch die Einrichtung einer Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen vorsah. Vor allem letztere, die ZVS, galt als Inbegriff einer zentralistisch-bürokratischen Mangelverwaltung. Durch die Gesetzesänderung 2002 wurde die Möglichkeit einer Ausgestaltung des Auswahlverfahrens durch die Hochschulen erweitert. Diese taten sich allerdings mit der neu gewonnenen Freiheit schwer; galt es doch eigene Kriterien und Verfahren für die Auswahl zu entwickeln. Umgekehrt klagten die Bewerber über die unterschiedlichen, nicht immer transparenten Zulassungsbedingungen, langwierige Verfahren und Leerlauf durch die Notwendigkeit von zahlreichen Parallelbewerbungen. Länder und Hochschulen haben es bis heute nicht geschafft, eine Clearingstelle für die Bewerbungen zu schaffen.39 Die Entwicklung eigener Qualitätsmaßstäbe für die Zulassung von Studienbewerbern wurde ferner stark beschränkt durch die Rechtsprechung, die in ständiger Rechtsprechung auf der Grundlage von curricularen Normwerten und eines sog. Kapazitätserschöpfungsanspruchs für eine „unzulässige Niveaupflege“40 keinen Raum sah.41 Es bleibt abzuwarten, wie die Rechtsprechung mit Zulassungsanträgen in den neuen MasterStudiengängen umgeht. Zu hoffen ist, dass wenigstens hier Entscheidungsspielräume den Hochschulen eröffnet werden. Nur mit einem höheren Maß an wechselseitiger Passung zwischen den Anforderungen eines Studienganges und den Fähigkeiten und Interessen eines Studienbewerbers kann die Qualität der Studiengänge und Abschlüsse gesteigert werden und wird es gelingen, die Abbrecherquote nachhaltig zu senken und möglicherweise auch die Absolventen vor einem späteren beruflichen Scheitern zu bewahren.42

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A.a.O., (Fn. 25), S. 209. Als Vorbild hätte sich Assist e.V. angeboten, eine von zahlreichen Universitäten und Fachhochschulen getragene Organisation, die in den letzten Jahren erfolgreich die Bewerbungen ausländischer Studienbewerber für ihre Mitglieder gemanagt hat. 40 BVerwGE 60, 25. 41 Dazu krit. Steinberg/Müller, Art. 12 GG, Numerus Clausus und die neue Hochschule, NVwZ 2006, S. 1113 ff. 42 Vgl. etwa die Ergebnisse empirischer Untersuchungen von U. Rauin, Lehrerberuf: Warum Studierende oft die falsche Wahl treffen, Forschung Frankfurt, H. 7/2007, S. 83 ff., wonach ein erheblicher Teil der Lehramtsstudenten für den Beruf des Lehrers ungeeignet ist. 39

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IV. Autonomie und Verantwortlichkeit Die Abnabelung der Universitäten von der Ministerialverwaltung machte zwangsläufig Änderungen ihrer Organisationsstruktur, aber auch der Beziehungen zwischen Universität und Ministerium erforderlich. Die sich blockierende, entscheidungs- und verantwortungsunfähige Gremien- und Gruppenuniversität wurde abgelöst durch die neue Präsidialuniversität. Der Präsident/Rektor unterstützt von Vizepräsidenten/Prorektoren und Kanzler im Präsidium stellt das neue Leitungsorgan der Universität dar, das für wesentliche Entscheidungen in der Universität zuständig und verantwortlich war. Er – unterstützt vom Präsidium – trägt weitgehend die Personalverantwortung, und das schließt die maßgebliche Rolle bei der Berufung der Professoren ein,43 wie auch die Organisations- und Budgetverantwortung. Mit der Ersetzung bürokratischer Instrumente durch der Wirtschaft entlehnte Managementinstrumente – wie die Kosten- und Leistungsrechnung, die doppelte Buchführung mit Verfahren der Budgetierung und Planung, aber auch ein akademisches controlling –, ist die Hochschulleitung zum ersten Mal in der Lage, die Ziele der Hochschule effizient und effektiv zu realisieren.44 Vor allem aber sind die Universitäten zum ersten Mal in ihrer – jüngeren – Geschichte in der Lage, eigenständige Entwicklungsziele z. B. mit der Bildung von Forschungsschwerpunkten unter Umständen auch in neuen rechtlich selbständigen Organisationseinheiten zu definieren und zu verfolgen. Der Präsident gewinnt damit Züge eines CEO mit einem erheblichen Anteil von Managementfunktionen, der in erster Linie auch für die Entwicklung „seiner“ Universität verantwortlich ist.45 Es gilt deshalb mittlerweile auch in diesem Bereich der Satz: Auf den Präsidenten kommt es an. Die Stärkung der Managementfunktion von Präsident und Präsidium hat das BVerfG in mehreren Entscheidungen gebilligt, da der parlamentarische Gesetzgeber durch das Grundgesetz nicht an überkommene hochschulorganisatorische Strukturen gebunden sei.46 Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG erfordere jedoch ein Gesamtgefüge, in dem ein hinreichendes Partizipationsniveau der Grundrechtsträger gewährleistet sei.47 Der Präsident und das Präsidium werden beraten und kontrolliert vom Senat, einem Organ, das zusammengesetzt aus Vertretern aller Statusgruppen einen Rest von Gruppenuniversität darstellt. Der Senat hat im Wesentlichen Beratungs- und 43

In Einzelheiten unterscheiden sich die Regelungen. So beruft in einer Reihe von Ländern der Präsident, in anderen das Ministerium. 44 Das betont auch Bok, a.a.O., (Fn. 4). S. 20 ff. 45 Dies kommt auch im Bad.-Württ. HG in der Bezeichnung des Leitungsorgans der Hochschule als Vorstand (und des Hochschulrats als Aufsichtsrat) – zum Ausdruck (vgl. §§ 16, 20). Diese Nomenklatur droht allerdings die Unterschiede zwischen einer Hochschule und einer Aktiengesellschaft eher zu verwischen. – Eine Stärkung des professionellen Managements in den Hochschulen zulasten einer Kollegialsteuerung fordert auch der Wissenschaftsrat, a.a.O., (Fn. 7), S. 45. 46 BVerfGE 47, 327 (404); 111, 333 (355 f.). 47 Mit dieser Begründung wurden jetzt die Bestellung und Kompetenz des Dekanats im HambHG beanstandet, BVerfG, NVwZ 2011, 224. – Grundlegend BVerfGE 35, 79 ff.

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Kontrollkompetenzen, unterschiedlich in den Ländern besitzt er Entscheidungskompetenzen vor allem für die Verabschiedung der Grundordnung der Hochschule und für bedeutsame akademische Fragen. Seine wichtigste Kompetenz stellt seine maßgeblich Rolle bei der Bestellung, aber auch der möglichen Abberufung des Präsidenten dar; denn dieser kommt angesichts der zentralen Bedeutung des Präsidenten für die Zukunft einer Hochschule eine überragende Bedeutung zu.48 Nach dem Grundsatz der doppelten Legitimation wirkt an der Bestellung des Präsidenten auch ein zweites Organ der Hochschule mit,49 das wie kein zweites in der Diskussion steht, der Hochschulrat.50 Da der Hochschulrat – jedenfalls teilweise51 – aus Externen besetzt ist, wird ihm ein demokratisches Legitimitätsdefizit bescheinigt. Dabei wird allerdings übersehen, dass sich die Legitimation durchaus aus seiner Bestellung herleitet, da seine Mitglieder ausnahmslos durch die jeweilige Landesregierung bestellt werden, im Übrigen seine Ausgaben enumerativ gesetzlich geregelt sind.52 Auch das Bundesverfassungsgericht hat mit überzeugender Begründung die Einrichtung eines Hochschulrats nach dem Brandenburgischen Hochschulgesetz für vereinbar mit dem Grundgesetz gehalten.53 Die Mitglieder des Hochschulrats bringen externen Sachverstand in die Hochschule, schlagen eine Brücke zwischen Hochschule und Gesellschaft und können aber auch „der Gefahr der Verfestigung von status quo Interessen bei reiner Selbstverwaltung“ begegnen.54 Es ist zu begrüßen, dass die Landesgesetzgeber für die Zusammensetzung nicht dem – zunehmend in Misskredit geratenden – Modell des Rundfunkrats gefolgt sind,55 sondern durchweg auf herausragenden Persönlichkeiten aus Wirtschaft und beruflicher Praxis wie auch aus der Wissenschaft gesetzt haben.56 Diesen Sachverstand auch bei der Wahl eines Präsidenten mittels eines ausschließlichen Vorschlagsrechts oder aber mittels der Wahl selber zur Geltung zu bringen, dient der Qualitätskontrolle und verhindert die auch einer Universität nicht fremde Neigung zum bequemeren Kandidaten. Die Wahl durch den Senat oder dessen Vorschlagsrecht verhindern das Oktroi eines Präsidenten und zwingen zur engen Abstim48

BVerfGE 111, 333 (364); jetzt auch BVerwG, NdsVBl 2010, 154 ff. (Tz. 57). Hierbei hat der HSR mittlerweile in der Mehrzahl der Länder eine (mit-)entscheidende Rolle, vgl. W. Kahl, Hochschule und Staat, 2004, S. 100 ff. 50 Vgl. nur Mager, a.a.O., (Fn. 1), S. 298 ff. m.umf. Nachw. 51 Vgl. dazu Kahl, a.a.O. (Fn. 49), S. 102 ff. 52 So zutr. Richli, a.a.O. (Fn. 4), S. 215 f.; differenzierend Kahl, a.a.O., (Fn. 49), S. 105 ff. 53 BVerfGE 111, 333 (363 ff.); vgl. auch BayVerfGH, NVwZ 2009, 177 und BVerwG, NdsVBl 2010, 154 ff. (Tz. 48 ff.); zustimmend Ch. Möllers, in: Kaube, a.a.O., (Fn. 32), S. 56 ff. 54 BVerfGE 111, 333 (356). 55 A.A: Hendler, a.a.O., (Fn. 1), S. 253. 56 Besonders schön bringt das § 21 Abs. 3 HG NRW zum Ausdruck, demzufolge die Mitglieder „in verantwortungsvollen Positionen in der Gesellschaft, insbesondere der Wissenschaft, Kultur oder Wirtschaft tätig sind oder waren und auf Grund ihrer hervorragenden Kenntnisse und Erfahrungen einen Beitrag zur Erreichung der Ziele und Aufgaben der Hochschule leisten können.“ 49

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mung zwischen Senat und Hochschulrat.57 Zu den weiteren Aufgaben des Hochschulrats gehört die Beratung und Kontrolle des Präsidiums – damit die Rücknahme ministeriellen Aufsichtskompetenzen kompensierend – und in unterschiedlichem Maße die (Mit-)Entscheidung bei strategischen Entscheidungen der Hochschule. Insgesamt dürfte sich nach den Erfahrungen der letzten Jahre auch insoweit die Einrichtung des Hochschulrats als glückliche organisatorische Neuerung erwiesen haben. Auch wenn die autonomisierte Hochschule heute im Wesentlichen selber ihre Entwicklung bestimmt, kann dem Staat diese angesichts seiner fortbestehenden Finanzierungsverantwortung nicht gleichgültig sein. Allerdings haben sich die Einwirkungsmöglichkeiten gegenüber den autonomisierten Hochschulen geändert. Dabei wirken als zentrale Steuerungsinstrumente die zahlreichen gesetzlichen Bestimmungen des Hochschul-, Beamten- und Dienstrechts, des Haushaltsrechts, – soweit diese Aufgaben nicht auf die Hochschulen übergegangen sind58 – die Vorgaben der staatlichen Liegenschaftsverwaltung, vor allem aber auch das Volumen und die Struktur des Hochschulbudgets fort. Alle diese Vorgaben stellen mehr oder weniger einschneidende Restriktionen der eigenständigen Entwicklung dar. Aber auch innerhalb dieses – mehr oder weniger engen – Rahmens wirkt der Staat an der Entwicklung der Hochschule, indem er mit diesen sog. mehrjährige Zielvereinbarungen abschließt, mit. Sie enthalten Angaben über Schwerpunktsetzungen in Forschung und Lehre, die Anzahl der bereitzustellenden Studienplätze in bestimmten Fächerclustern, über die Konzepte zur Qualitätssicherung, den Wissenstransfer, Frauenförderung und die Internationalisierung (vgl. etwa § 7 Abs. 2 HHG 2009). Ebenfalls wird der angestrebte Finanzrahmen angegeben. Da die Zielvereinbarungen von den Präsidien geschlossen werden müssen, stärken sie deren Rolle bei der Entwicklung der Hochschule, auch wenn der Senat die Möglichkeit der Stellungnahme besitzt (§ 36 Abs. 2 Nr. 6 HHG). Die Präsidien der Hochschulen ihrerseits sind verpflichtet, mit den Fachbereichen Zielvereinbarungen zur Umsetzung der Entwicklungsplanung der Hochschule abzuschließen (§ 7 Abs. 3 HHG). Es dürfte müßig sein, über die Rechtsnatur dieser Vereinbarung zu diskutieren. Die Praxis zeigt, dass es sich hierbei um ein Instrument im Schatten der Hierarchie handelt. Eine Hochschule kann ernsthaft sich nicht verweigern, sieht doch auch das Gesetz (§ 7 Abs. 4 HHG) eine ministerielle Zielvorgabe vor, wenn eine Zielvereinbarung nicht zustande kommt. Und auch die Verbindlichkeit – jedenfalls die des Landes – ist keine strikte, wie man in der Haushaltskrise 2003 in Hessen sehen konnte: Als das Land im Zuge der, der Haushaltssicherung dienenden, „Aktion sichere Zukunft“ die im Hochschulpakt – einer Rahmenzielvereinbarung zwischen Land und Hochschulen – festgelegten Finanzmittel kürzen wollte, haben die Präsidenten der 57 Dies wird in Hessen durch die Einsetzung einer paritätisch besetzen Findungskommission gewährleistet, vgl. § 42 Abs. 5 Satz 2 HHG. 58 So erstmalig in §§ 2 ff. TUD-Gesetz, dann für die Frankfurter Stiftungsuniversität in § 100c Abs. 4 u. 5 HHG 2007; jetzt besteht in Hessen hierfür eine Option der Hochschulen, vgl. § 9 Abs. 3 HHG 2009.

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hessischen Hochschulen „freiwillig“ diesen Änderungen zugestimmt.59 In der Praxis handelt es sich bei den Zielvereinbarungen eher um flexible Planungsinstrumente, die ein gewisses Maß an Transparenz und Planungssicherheit schaffen; es fehlt jedoch die bei einem Vertrag vorausgesetzte faktische Entschließungsfreiheit auf Seiten der Hochschule und der strikte Verpflichtungswille des Landes. Als Beleg für die These einer Ökonomisierung der Universität taugt dieses neue Instrument deshalb wenig; es stellt weniger ein marktmäßiges Vehikel mit Formen synallagmatischen Austausches dar, als vielmehr eine neue Form hierarchisch-bürokratischer Steuerung der Hochschule. Als letztes neue ebenfalls 1998 in das HRG mit § 6 eingefügte Instrument der Steuerung der autonomisierten Hochschule sollen schließlich Verfahren der Evaluation in den Blick genommen werden. Das Instrument der Evaluation wird dann eingesetzt, wenn Vorgaben der Verwaltung zielförmig und nicht mehr in der klassischen Form konditionaler Regeln gesetzt werden.60 In diesem Sinne evaluieren die Hochschulen regelmäßig die Erfüllung ihrer Aufgaben; dabei haben sie Externe beizuziehen und – im Bereich der Lehre – die Studierenden zu beteiligen (§ 12 Abs. 1 HHG). Diese Pflicht zur Evaluierung besitzen auch die Fachbereiche gegenüber der Hochschulleitung (§ 7 Abs. 4 HHG). Auch die Professoren sind in regelmäßigen Abständen zu Berichten über ihre Leistungen in Forschung und Lehre verpflichtet (§ 61 Abs. 3 HHG). Daraus können sich Konsequenzen ergeben für ihre Ausstattung, die Gewährung eines Forschungssemesters (§ 68 Abs. 4 HHG), schließlich auch die Gewährung von Leistungszulagen (§ 33 BBesG). Es wirkt schon eher absonderlich, wenn Professoren erklären, ihre Arbeit könne man nicht evaluieren, Evaluationsverfahren verstießen gegen das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit.61 Das erinnert an das vermeintliche Grundrecht „in Ruhe gelassen zu werden“,62 die öffentliche Hand und der Steuerzahler werden auf die Rolle des klag- und fraglosen Finanziers verwiesen. Die Freiheit des Professors zu For59 Dasselbe hat sich im Frühjahr 2010 wiederholt, als die hessische Wissenschaftsministerin den Hochschulpräsidenten, die erwogen, die Unterzeichnung des neuen Hochschulpaktes abzulehnen, unverhohlen mit Nachteilen drohte, vgl. FAZ v. 28. 4. 2010, S. 49; darauf unterzeichneten – wenngleich die meisten unter Protest – alle! 60 Dazu bereits Steinberg, Evaluation als neue Form der Kontrolle final programmierten Verwaltungshandelns, Der Staat 15 (1976), S. 185 ff. 61 So die Entschließung von Professorinnen und Professoren des Fachbereich Rechtswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt a.M., Sorge um die Wissenschaftsfreiheit und die Qualität universitärer Forschung und Lehre, KritV 2007, S. 228 ff.; zur Vereinbarkeit von Evaluationsverfahren mit Art. 5 Abs. 3 GG demgegenüber BVerfGE 111, 333 (358 ff.); deutlich P. Kirchhof, Ordnungspolitische Grundlagen. Öffentliche Aufgaben – Private Finanzierung, in: VW-Stiftung (Hrsg.), Zukunft Stiften, 2002, S. 12 ff. (33): „Vor allem ist Forschung und Lehre immer wieder zu messen und nach verlässlichen Maßstäben zu ermutigen oder zu beanstanden.“ – Differenzierend A. Morkel, Die Universität muß sich wehren, 2000, S. 105 ff. 62 BVerfGE 27, 1, 6. – Dieses Grundrecht wurde zum ersten Mal formuliert von Justice Louis Brandeis, in: Olmstead v. U.S., 277 U.S. 438, 478 (1928), diss. op. „the right to be let alone“.

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schung und Lehre degeneriert so zur Pfründe und zum Privileg. Richtig verstanden – mit wissenschaftsadäquaten Kriterien und Verfahren63 – sollen Evaluationsverfahren als Teil eines universitären Qualitätsmanagement zum einen Verantwortlichkeit bei der Aufgabenwahrnehmung in Forschung und Lehre schaffen, zum anderen aber auch einen Ansporn zu besonderen Leistungen geben. Insoweit stellen derartige Verfahren ein unentbehrliches Instrument in einer autonomisierten Universität wie auch des Wettbewerbs dar. Niemand hat bislang zu erklären versucht, warum Professoren in einer Universität nicht ebenso in Verfahren einer praktizierten Verantwortlichkeit eingebettet sein müssen wie Menschen in anderen Institutionen. Im Übrigen ist die Einsicht in die Notwendigkeit von Evaluation wenngleich mit einer anderen Vokabel nicht neu. Karl Jaspers erkennt in der Institution Universität die Tendenz, sich zum Endzweck zu machen. Deshalb verlangt er als „unerlässliche Voraussetzung für den Fortgang und die Überlieferung der Forschung … die ständige Prüfung, ob ihr Sinn als Mittel dem Zweck der Verwirklichung der Idee dient.“64 Auch sollten die gern in Bezug genommenen Begründer der modernen Universität in Berlin vor 200 Jahren in Erinnerung gerufen werden, die deutlich davor gewarnt haben, den Professoren die Universität allein zu überlassen.65 Er übernahm damit die neue Regelung 63 Dazu auch BVerfGE 111, 333 (358 ff.) – Insoweit ist auch die Entscheidung der DFG, anstelle auf Quantität von Veröffentlichen bei der Bewertung von Förderanträgen auf Qualität zu setzen, zu begrüßen. Die DFG erwartet, dass dies auch zu Konsequenzen bei der leistungsorientierten Mittelvergabe in den Universitäten führen werde, vgl. Presseerklärung Nr. 7 v. 23. 2. 2010. 64 K. Jaspers, Die Idee der Universität, 1946, S. 66. – Bemerkenswerterweise begründet er unter Berufung auf J. Grimm seine Besorgnis mit der Neigung der Universität zur instinktiven Ablehnung der überragenden Persönlichkeit bei den Berufungen zugunsten des Mittelmaßes. Und er begründet das Erfordernis einer Staatsaufsicht mit der Gefahr der „Entartungsmöglichkeiten, denen eine völlig selbständige Universität ausgesetzt ist. … Korporationen neigen dazu, sich aus persönlichen Interessen und Furcht vor dem Überragenden zu verwandeln in Cliquen monopolistischer Sicherung ihrer Durchschnittlichkeit.“ Ebd. S. 117. – Ganz ähnlich der legendäre Friedrich Althoff im preußischen Kultusministerium, vgl. H.-A. Koch, Die Universität, 2008, S. 13 f. – Man wird weder behaupten wollen, dass dies den heutigen Alltag an einer deutschen Universität beschreibt noch dass diese Gefahren nicht mehr existieren; sie auszuschließen oder jedenfalls zu minimieren kann ohne institutionelle Vorkehrungen nicht gelingen. – Es gilt auch für Universitäten wie jede Institution die berühmte Bemerkung von Madison in den Federalist Papers, no. 51: „If men were angels no government would be necessary. If angels were to govern men, neither external nor internal controls on government would be necessary.“ 65 So begründete Humboldt die Notwendigkeit staatlicher Berufungen, vgl. Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: E. Müller (Hrsg.), Gelegentliche Gedanken über Universitäten, 1990, S. 273 (282). Über die für ihren „Geist(.) kleinlicher Intrigue“ berüchtigten Universitäten klagt auch F.D.E. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanke über Universitäten in deutschem Sinn, in: Müller, ebd., S. 159 (211). – Nach Ansicht Humboldts, gehörten Professoren zu der „unbändigsten und am schwersten zu befriedigenden Menschenklasse mit ihren ewig sich durchkreuzenden Interessen, ihrer Eifersucht, ihrem Neid, ihrer Lust zu regieren, ihren einseitigen Ansichten…. Gelehrte dirigieren ist nicht viel besser als eine Komödiantentruppe unter sich zu haben.“ Zit bei Wehler, a.a.O. (Fn. 26), S. 481. – Ähnliche Klagen findet man sowohl für frühere als auch spätere Zeiten: So berichtete F. Gedike 1789 dem preußischen König über „Ausbrüche der Kabale, des Neides, der

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der 1736 gegründeten Reformuniversität Göttingen, an der die Berufung der Professoren durch den Landesherr bzw. dessen Vertreter, den hannoveraner Premierminister und Universitätskurator von Münchhausen erfolgte, um den an den Universitäten des 16. und 17. Jahrhundert sattsam bekannten Dauerzwist in Personalfragen, den Nepotismus und die einseitige Zuwahl zu verhindern.66 Dass die Evaluation von Forschung unverzichtbares und forschungsadäquates Mittel zur Qualitätssicherung darstellt, zeigen elaborierte Evaluationssysteme etwa der Max-Planck-Gesellschaft67 oder – aus dem Ausland – der früheren Bell-Labs in den USA.68 Niemand hat hier je behauptet, dass dadurch die Freiheit der Forschung beeinträchtigt sei. Die Forderung, in Ruhe gelassen zu werden, fügte sich allenfalls in das oben kritisierte System organisierter Verantwortungslosigkeit ein, in dem sich offensichtlich einige wohl gefühlt haben. Ein Element antizipierter Qualitätskontrolle stellt die im Zuge des Bologna-Prozesses durchweg eingeführte Akkreditierung von Studiengängen dar. Neue Studiengänge bedürfen danach der Akkreditierung durch eine dazu gegründeten neuen Agenturen. Auf den ersten Blick könnte man hierin die Einführung eines marktwirtschaftlichen Instruments sehen. Das mag auch insoweit der Fall sein, als für neue Unternehmen ein blühender Markt geschaffen wurde. Aus der Sicht der Universitäten ist allerdings lediglich die staatliche Bürokratie durch eine private Auxiliarbürokratie ersetzt worden. Diese arbeitet genauso langsam wie ihre staatlichen Vorläufer, aber erheblich teurer! Dass Universitäten, die zur Teil seit Jahrhunderten erfolgreich Studiengänge anbieten, derartige Prozeduren übergestülpt wurden, erscheint unverständlich.69 Sie lassen sich allenfalls vertreten als Form des Verbraucherschutzes bei Lehrangeboten neuer privater Institutionen, die sich Hochschule oder gar Universität nennen. Im Übrigen wären – wenn man denn zutreffend den Staat aus der inhaltlichen Konzeption Verkleinerung- und Verleumdungssucht“ an den Universitäten, vgl. Boockmann, a.a.O. (Fn. 24), S. 179; in der Weimarer Republik erkannt der sozialdemokratische Kultusminister C.H. Becker wegen des Korporationsegoismus und -konservatismus der Universitäten die Notwendigkeit einer durch klare staatliche Vorgaben bestimmten Hochschulpolitik an, vgl. Kahl, a.a.O., (Fn. 49), S. 54. 66 Vgl. Wehler, a.a.O., (Fn. 26), S. 481; vgl. auch Bookmann, a.a.O. (Fn. 24), S. 174 ff., Koch, a.a.O. (Fn. 64), S. 122 ff.– Heute spricht F. Schoch aufgrund seiner Erfahrung als Mitglied des Wissenschaftsrats und seiner Arbeit für die DFG von „,verrotteten Zuständen“ in den Geisteswissenschaften und warnt vor einem Abrutschen in einen „Privilegienbereich“, VVDStRL 69 (2010), S. 471. 67 Vgl. Max-Planck-Gesellschaft, Evaluation, Die Verfahren der Max-Planck-Gesellschaft, Juni 2002; dies., Regelungen für das Fachbeiratswesen, April 2009. – Von den diskutierten Evaluationsverfahren streng zu unterscheiden ist die nur in Ausnahmefällen zulässige fachliche Bewertung von Forschungsergebnissen, dazu BVerwGE 102, 304. 68 Vgl. den Nobelpreisträger der Physik H. Störmer, The Bell Labs – Conditions for Basic Research at Privately Financed Institutions, in: Max Planck Forum 5, Innovative Structures in Basic Research, 2000, S. 99 ff. 69 Kritisch jetzt auch der baden-württembergische Wissenschaftsminister P. Frankenberg: „Das Akkreditierungssystem in seiner bisherigen Form ist gescheitert.“, zit. bei H. Schmoll, Ärgernis Akkreditierung, FAZ v. 15. 12. 2009, S. 10.

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von Studiengängen raushalten will – fachliche Mindeststandards durch die jeweiligen wissenschaftlichen und professionellen Organisationen zu entwickeln. Damit könnte auch ein Stück weit die Mobilität zwischen den Universitäten wiederhergestellt werden, die im Zuge von Bologna weitgehend verloren gegangen ist.

V. Universität und Praxis Einer der geläufigen Vorwürfe gegenüber der ökonomisierten Universität richtet sich gegen zunehmende gesellschaftliche Einflüsse insbesondere aus dem Bereich der Wirtschaft. Damit werde das Wesen der universitären Forschung „in Einsamkeit und Freiheit“ zugunsten von Anwendungsinteressen verfälscht. Umgekehrt ist aber auch gerade die angebliche Praxisferne den Universitäten vorgeworfen worden.70 Formen der Einwirkungen der Praxis auf die Wissenschaft werden gesehen in der Einrichtung von Stiftungsprofessuren, der Förderung von Forschungsprojekten, in gemeinsamen Forschungseinrichtungen und mittels Auftragsforschung,71 aber auch in der Mitwirkung bei der Entwicklung und Akkreditierung von Studiengängen. Insofern wird in einem ganz anderen Sinne als bei den bisher diskutierten Phänomenen, bei denen Handlungsformen der Wirtschaft in die Hochschulen getragen werden, eine Ökonomisierung der Hochschulen im Sinne einer Öffnung für ökonomische Interessen vermutet. Dabei gehen diese Kritiken von einer naiven, unhistorischen Sicht der modernen Wissenschaft aus. Sie übersehen, dass diese untrennbar mit der technischen Realisation und dem abendländischen Kapitalismus entstanden ist.72 Allerdings lässt sich die Klage eines Abfalls vom Humboldtschen Universitätsideal durch einen Blick in die Texte von diesem und anderen Universitätsreformern zu Anfang des 19. Jahrhunderts eindeutig widerlegen. Denn auch bei den preußischen Reformern ist „das Geschäft“ der Universität mitnichten zweckfrei. Zwar betont J.G. Fichte, dem Gelehrten müsse die Wissenschaft nicht Mittel für irgendeinen Zweck, sondern sie müsse ihm selbst Zweck werden;73 gleichwohl betont er, dass die von ihm konzipierte Lehranstalt keineswegs eine in sich selbst abgeschlossene Welt bilde, sondern dass sie eingreifen 70

So nachdrücklich Wissenschaftsrat, a.a.O., (Fn. 7), S. 5 ff.; vgl. auch Daxner, a.a.O., (Fn. 9), S. 52 f. 71 Vgl. die Übersicht in Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Interaktion von Wissenschaft und Wirtschaft, 2007, A.III; instruktiv auch P. Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, 2001, S. 171 ff. 72 Vgl. vor allem J. A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 8 Aufl. 2005, S. 203, wonach der in der Neuzeit aufsteigende Kapitalismus die geistige Haltung der modernen Wissenschaft hervorgebracht habe. – Vgl. auch M. Weber, Vorbemerkungen zu den gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie, in: Winckelmann (Hrsg.), a.a.O., (Fn. 21), S. 340 ff. (348 ff.) und A. N. Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, 1984, S. 116 ff. 73 Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt, in: Müller (Hrsg.), a.a.O., (Fn. 65), S. 71.

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solle in die wirklich vorhandene Welt.74 Es gehe um die „Anwendung der Wissenschaft im Leben“.75 Der Hinweis des Universitätsgründers Wilhelm von Humboldt, die Universitäten erfüllten die Zwecke des Staates, „und zwar von einem viel höheren Gesichtspunkte aus“,76 wenn sie ihren Endzweck erreichten, bezog sich auf die „eigentliche“ Universität, deren Inbegriff die philosophische Fakultät darstellte. Selbst in diesem Verständnis wird die Universität demnach nicht als zweckfreie Anstalt verstanden. „Die Universität steht nämlich“, so fügt der Reformer hinzu, „immer in engerer Beziehung auf das praktische Leben und die Bedürfnisses des Staates.“77 Diese eher allgemeine Verbindung von Universität und Zwecken des Staates wurde erheblich konkreter für die von Kant „obere“ Fakultäten genannten Theologen, Juristen und Mediziner.78 Bei ihnen bestand kein Zweifel, dass sie sich der Lösung praktischer Probleme der Moral, der Gesittung und der Gesundheit dienend unmittelbar auf die Interessen und Bedürfnissen des Staates beziehen. Kant spricht von der „Nützlichkeit …, welche die oberen Fakultäten zum Behuf der Regierung versprechen.“79 Diese Bedürfnisse des Staates nach dem Zusammenbruch des preußischen Staates 1806 macht auch die Friedrich Wilhelm III. zugeschriebene Bemerkung deutlich: „Der Staat muß durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren hat.“80 Die Verbindung von Wahrheit und Nützlichkeit in der Universität stellt ihr eigentliches Problem dar.81 Dabei ist es völlig selbstverständlich, dass die heutigen Bedürfnisse des Staates und der Gesellschaft – wie gezeigt – völlig andere sind als 1810. Auch die Universitätsreform 1810 stand in engstem Zusammenhang mit den umfassenden Reformen des preußischen Staates in Recht, Verwaltung, Heer und Gesellschaft.82 Dabei ging es um die Freisetzung der bislang verschütteten Kräfte des Volkes durch die Beteiligung an der (Selbst-)Verwaltung, die Schaffung bürgerlicher Freiheit und Gleichheit und schließlich auch durch die Förderung der Wissenschaft zum Zwecke der Bildung des Einzelnen wie auch der Pflege der allgemeinen Wohlfahrt insgesamt. Praktisch bedeutete dies vor allem die auch mit der Universitätsreform ange74

Ebd. S. 79; vgl. auch ebd. S. 62, wonach der Sinn des Studierens darin liege, das Erlernte „auf die vorkommenden Fälle des Lebens anzuwenden und so es in Werke zu verwandeln.“ 75 Ebd. S. 62. 76 A.a.O., (Fn. 65), S. 278. 77 Ebd. S. 281. 78 I. Kant, Der Streit der Fakultäten (1789), in: Werke in sechs Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Bd. VI, 1983, S. 261, (280 ff.). 79 Ebd. S. 290. 80 Vgl. Bookmann, a.a.O., (Fn. 24), S. 184. 81 Die Vereinigung von heteronomer Interessenwaltung der oberen Fakultäten mit der Wahrheitssuche der unteren mache die Universität Kantischen Zuschnitts aus, so R. Brandt, Universität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Kants „Streit der Fakultäten“, 2003, S. 157. – Die Betonung eines äußerst engen Verhältnisses von Wissenschaft und praktischer Anwendung findet sich bereits bei G. W. Leibniz, vgl. die gleichnamige Schrift von R. Finster/ G. van den Heuvel, 1990, S. 117 ff. 82 Vgl. D. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866, 1988, S. 76 ff.; vgl. auch Kahl, a.a.O., (Fn. 49), S. 22 ff.

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strebte allgemeinwissenschaftliche Vorbildung der Staatsdiener, d. h. der Verwaltungsbeamten, bei der das Augenmerk auf die humanistischen Bildungserfordernisse mit Philosophie und Geschichte, Mathematik und Philologie, aber auch den unentbehrlichen Naturwissenschaften gerichtet werden sollte.83 Und der große Aufschwung der Philosophischen Fakultät lieferte die Grundlage der fachwissenschaftlich hervorragend ausgebildeten Gymnasiallehrer verbunden mit der bis heute nachwirkenden Geringschätzung der Pädagogik.84 Ist es da wirklich überraschend, dass sich 200 Jahre später eine tiefgreifend veränderte globale Wissensgesellschaft ein modifiziertes, ihren Problemen und Herausforderungen angemessenes Hochschulsystem sucht? Paradoxerweise scheinen die Universitäten für die Sinn- und Motivationsstiftung ihrer Mitglieder – bemerkt K.U. Mayer – umso mehr von der Humboldtschen Universitätsidealen zu zehren, je weiter sie sich von ihnen entfernen.85 Dabei mögen zentrale Elemente der Humboldtschen Universität wie der Wissenschaftsbegriff86 oder Bildung durch Wissenschaft87 mutatis mutandis ihre Gültigkeit bewahrt haben. Die Vorstellung jedoch einer

83 Vgl. W. Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg, 1972. S. 92 ff. (290 ff.) wonach trotz wiederholter Anläufe diese Ziele zugunsten des restaurativen, justizjuristischen Verwaltungsbeamten auf der Strecke blieben, dessen berufliches Wissen sich in Begriffskonstruktion und Subsumtionstechnik erschöpfte und weniger dem Verständnis der gesellschaftlichen und politischen Ordnung diente. – Und dem Scheitern des Bildes der Beamtenreform entspricht auch die Verengung der Staatsreform auf formal-rechtsstaatliche Gehalte des sich entwickelnden obrigkeitsstaatlich-wirtschaftsliberalen Staates, vgl. ebd. S. 286 ff. 84 Vgl. Wehler, a.a.O. (Fn. 26), S. 482 f. 85 A.a.O., (Fn. 7), S. 641. 86 Das gilt etwa für die Beschreibung Humboldts, wonach „die Wissenschaft als etwas noch nicht Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten und unablässig sie als solche zu suchen“ sei, vgl. a.a.O. (Fn. 65), S. 275. Angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen vermag aber heute keine Universität mehr „die Gesamtheit der Erkenntnis“ (so Schleiermacher, a.a.O., [Fn. 65], S. 178) oder „Die Einheit des Wissens“ (so die anregende Studie von Edward O. Wilson, 1998) darzustellen. – Über die Trennung und Zersplitterung der Wissenschaften im 17. Jahrhundert klagt bereits B. Vico, Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung, 1947, S. 143 (147). – Und auch die Methoden der Forschung haben sich vielfach verändert: Die Forschung in „Einsamkeit und Freiheit“ (Humboldt, a.a.O., [Fn. 65], S. 274) ist heute in vielen – wenngleich nicht in allen – Bereichen dem arbeitsteiligen Teamwork gewichen, und die disziplinäre Ausdifferenzierung macht die problemorientierte, fachübergreifende transdisziplinäre Arbeit unverzichtbar; dazu etwa J. Mittelstraß, Finden und Erfinden. Über die Entstehung des Neuen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, in dem gleichnamigen Buch v. T. Beyes/Mittelstraß (Hrsg.), 2009, S. 22 ff. – Zur historischen Wissenschaft als arbeitsteiligem Großbetrieb R. Kosellek, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, 2010, S. 332 f. – Zu der Legitimitätskrise der Geisteswissenschaften, die zum gut Teil auf dem Verlust ihres sozialen Umfeldes beruhe, M. Fuhrmann, Bildung, 2002, S. 74 ff. (80 f.). 87 Vgl. aber J. Mittelstraß, Die unzeitgemäße Universität, 1994, S. 48: „Humboldt für Massenuniversitäten geht nicht mehr.“

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Universität als fensterloser und auch verantwortungsloser Monade, eines Ortes universitären Mandarinentums88, erscheint nachgerade absurd. Aber auch ein Blick auf die Entwicklung der deutschen Universitäten in den letzten einhundert Jahren lässt erkennen, dass jedenfalls in wichtigen Bereichen der enge Austausch zwischen Forschung und Lehre in der Universität und der Praxis selbstverständlich war.89 Das galt nicht nur – wie bereits erwähnt – für die klassischen „höheren Fakultäten“, sondern auch für die vor 150 Jahren entstehenden Technischen Hochschulen, später auch die neuen naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Fakultäten. Die Gründung der Frankfurter Universität verbunden mit erheblichen Stiftungen durch Frankfurter Bürger, d. h. neben dem Oberbürgermeister der Stadt, vor allem führende Persönlichkeiten aus der aufblühenden chemischen Industrie sowie der sonstigen Wirtschaft war ganz wesentlich angestoßen durch deren Bedarf an qualifizierten Mitarbeitern in Forschung und Management, aber auch durch die Suche nach Lösungen für neue soziale Probleme.90 Heute in der sog. Wissensgesellschaft, d. h. einer durch neues Wissen getriebenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, ist diese noch viel mehr auf neue Ideen angewiesen. Diese werden – so das Ergebnis einer Delphi-Untersuchung des BMBF Ende der 90er Jahre – in besonders hohem Maße erwartet an der Schnittstelle von (universitärer) Forschung und der Praxis. Hier liefert die Praxis neue Probleme, für die die Wissenschaft kraft ihrer theoretischen und methodischen Kompetenz neue Lösungen liefert.91 Vor allem in den besonders innovativen Bereichen – z. B. der Medizin- und Pharmaforschung, der Chemie (insbesondere auch der Biotechnologie) und Informatik,92 aber auch der Finanzwirtschaft – kommt es darauf an, die Zeit von der Entdeckung bis zum Produkt zu verkürzen. Nur so wird unsere Wirtschaft in die Lage versetzt, auf dem Weltmarkt mithalten zu können und unseren hohen Lebensstandard zu sichern.93 Die wichtigste Form des Wissenstransfers erfolgt jedoch über die Köpfe, d. h. die bestmögliche wissenschaftliche Qualifizierung junger Menschen, die in allen Bereichen der Gesellschaft – der Wirtschaft, der Politik, der Wis88

So beschreibt W. Frühwald, Zeit der Wissenschaft, 1992, S. 40 die Ideologie der Interessen- und Folgenlosigkeit in der Wissenschaftsgeschichte. 89 Vgl. eingehend etwa G.A. Ritter, Großforschung und Staat in Deutschland. Ein historischer Überblick, 1992, Frühwald, a.a.O. (Fn. 88), S. 60 ff.; Weingart, a.a.O. (Fn. 71), S. 178 ff.; vgl. auch Schulte, a.a.O. (Fn. 1), S. 130. 90 Vgl. N. Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Bd. I, 1914 – 1950, 1989, S. 17 ff.; vgl. auch deren Gründungsrektor R. Wachsmuth, Die Gründung der Universität Frankfurt, 1929, S. 4 ff. 91 Die zentrale Bedeutung des wechselseitigen Wissensflusses zwischen Wissenschaft und Wirtschaft betont auch der Wissenschaftsrat, a.a.O. (Fn. 71), S. 7 (11 ff., 15), wonach zunehmend Erkenntnisse in „problemorientierten Arbeitszusammenhängen“ generiert werden, „so dass anwendungsorientierte Prozesse neue erkenntnisorientierte Forschungsagenden schaffen können.“ – Vgl. auch Bok, a.a.O., (Fn. 4), S. 62 f. 92 So auch Weingart, a.a.O. (Fn. 71), S. 189. 93 So etwa eindringlich H. Markl, Wissenschaft gegen Zukunftsangst, 1998, S. 197 ff. (296 ff.).

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senschaft – mit neuen Ideen neue Produkte und neue Dienstleistungen entwickeln.94 Es erscheint deshalb wenig überraschend, dass der Präsident des IT-Branchenverbandes Bitkom A.-W. Scheer betont: „Wir benötigen die Universitäten und Hochschulen, die mehr als bisher auf Unternehmertum ausgerichtet sind.“ Dazu müsse die Forschung „ganz oben auf der Agenda bleiben“ und ebenso die Betreuung der Studenten und die Studiengänge verbessert werden.95 Diese enge wechselseitige Beziehung zwischen Wissenschaft und Praxis mag nicht in allen Bereichen der Universität gleich sein; sie greift jedoch über die genannten Disziplinen hinaus in die Bereiche der Sozial- und Erziehungswissenschaften, am schwächsten sicherlich in den Geisteswissenschaften im engeren Sinne. Ungeachtet der Wünschbarkeit einer engen Kooperation von Wissenschaft und Praxis ist jedoch der direkte Zugriff auf die Wissenschaft mit ihren wesentlichen Modi der Entdeckung und Veröffentlichung des Neuen auszuschließen.96 Gerade wegen ihrer Öffnung für die Gesellschaft ist es konsequent, dass die Goethe-Universität 2008 als erste Hochschule in Deutschland „Richtlinien zum Umgang mit Zuwendungen privater Dritter“ beschlossen hat. Insoweit ist es unbestritten, dass die Freiheit der Forschung und Lehre nach wie vor ein überragendes Gut darstellt; denn nur eine nicht vornehmlich anwendungsorientierte Grundlagenforschung schafft den Freiraum für das Neue. Das schließt eine Anwendungsoffenheit der Forschung allerdings nicht aus.97 In diesem Sinne „nützlich“ für die Entwicklung der Gesellschaft sind – das sei betont – nicht nur die wirtschaftlich verwertbaren Disziplinen, sondern auch die Geistes- und Sozialwissenschaften. Sie liefern mit ihrem sog. Orientierungs-

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Vgl. Weingart a.a.O. (Fn. 71), S. 187. Zit. in FAZ v. 8. 12. 2009, S. 15; in diesem Sinne auch der damalige Vorstandssprecher von SAP L. Apotheker, FAZ v. 7. 12. 2009, FAZ v. 7. 12. 2009, S. 15. – Ganz ähnlich: U.-H. Felcht (Hrsg.), Chemie, 2000. 96 Dabei scheint gerade das Letzere eher in einer Wirtschaftskooperation gefährdet zu sein, vgl. Weingart, a.a.O., (Fn. 71), S. 173, 221 ff.; vgl. auch Bok, a.a.O., (Fn. 4), S. 64 ff. 97 Dass die überkommene Trennung von Grundlagenforschung und Anwendung zunehmend problematisch erscheint betont Frühwald, a.a.O. (Fn. 88), S. 82 ff.; vgl. auch Mittelstraß, Unzeitgemäße Universität, a.a.O. (Fn. 84), S. 36 ff.; ders., Finden und Erfinden, a.a.O. (Fn. 86), S. 20 ff.; Weingart, a.a.O. (Fn. 71), S. 192 f., 203; zum Verhältnis von Grundlagenforschung und Anwendungsforschung in der Volkswirtschaftlehre A. Börsch-Supan, Über die Entstehung des Neuen in den Wirtschaftswissenschaften, in: Beyes/Mittelstraß, a.a.O., (Fn. 86), S. 32 ff. – Eine Verstärkung der „erkenntnis- und anwendungsorientierten Grundlagenforschung“ fordert nachdrücklich der Wissenschaftsrat, a.a.O., (Fn. 7), S. 12 u. passim; vgl. auch ders., a.a.O., (Fn. 71), S. 15, der die kategorische Trennung von universitärer Grundlagenforschung und angewandter Forschung und Entwicklung in den Industrielaboratorien in Frage zieht. Die enge wechselseitige Verbindung von Theorie und praktischer Anwendung als Voraussetzung des menschlichen Fortschritts betont schon der französische Aufklärer Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, hrsg. v. W. Alff, 1976, S. 178 f. 95

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wissen98 die Reflexion und den Kompass über die soziale und kulturelle Entwicklung der Gesellschaft und deren Ordnung, ohne die diese blind und ziellos bleiben müsste. VI. Schluss Die kurze tour de raison zeigt, dass mit dem Schlagwort der „Ökonomisierung“ ganz unterschiedliche Phänomene verbunden sind. Diese sind zum einen die Folgen einer stärkeren Abnabelung der Hochschulen von den Ministerien. Sie führen zu einer Betonung von Effektivität und Effizienz auch in diesem Bereich. Die im internationalen Vergleich notwendige Leistungssteigerung soll durch die Stärkung des Wettbewerbs zwischen den Hochschulen erreicht werden. Insofern lässt sich von einem Ersetzen der bürokratischen Steuerung durch Elemente eines nationalen wie auch internationalen (Bildungs-)Marktes sprechen. Dabei drohen durch ein zu hohes Maß an wettbewerblicher Finanzierung der Hochschulen für bestimmte Programme bei gleichzeitiger Fortdauer ihrer chronischen Defizite im Bereich ihrer Grundfinanzierung Fehlentwicklungen. Solche Fehlentwicklungen gibt es auch in bestimmten Einrichtungen des Qualitätsmanagements wie den neuen Akkreditierungssystemen. Das höhere Maß an Hochschulautonomie erfordert auch die Entwicklung von Instrumenten der Verantwortlichkeit durch neue Institutionen wie den Hochschulrat und Verfahren der Evaluation. Allerdings sind auch gegenläufige Bewegungen einer neuen Zentralisierung etwa durch den „goldenen Zügel“ oder die Akkreditierungsagenturen zu beobachten. Es gilt hier die nicht einfache Balance zu finden zwischen der unabdingbaren Freiheit für akademische Forschung und Lehre auf der einen Seite, notwendigen Verfahren der Sicherung von Verantwortlichkeit und Effizienz anderseits. Dabei ist ein sorgfältig austariertes System von checks and balances zu entwickeln, in dem die unterschiedlichen Perspektiven von Präsidium, den korporativen Gliedern der Universität, insbesondere den Professoren, dem Staat und der Gesellschaft im Interesse einer erfolgreichen Bewältigung der höchst anspruchsvollen, teilweise auch widersprüchlichen Aufgaben der Universität zusammengebunden werden.99 Diese Anforderungen lassen die Universitäten erscheinen als – so die amerikanischen Soziologen M.D. Cohen/J.G. March – „organized anarchies“, wofür sie problematische, wenig eindeutige Ziele, unklare Technologien und eine fließende Mitgliedschaft verantwortlich machen.100 Aber auch ein ganz anderes Phänomen wird für die Ökonomisierung der Universität verantwortlich gemacht: ihre Öffnung gegenüber der Gesellschaft. Dass dies ge98 Zu der Unterscheidung von Verfügungs- und Orientierungswissen vgl. J. Mittelstraß, Wissenschaft als Lebensform, 1982, S. 15 ff. 99 So überzeugend R. Stichweg, Autonomie der Universitäten in Europa und Nordamerika: Historische und systematische Überlegungen, in: Kaube, a.a.O., (Fn. 32), S. 38 ff. – Der Verfasser hat deshalb gelassen die Schelte ertragen, die er nach einer Stärkung der Mitwirkungsbefugnisse des Senats in der neuen Stiftungsuniversität erfahren musste, vgl. M. Spiewag, Alle Macht für alle, DIE ZEIT v. 30. 4. 2008, S. 75. 100 Leadership and Ambiguity. The American College President, 1974, S. 2 f.

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rade in einer Wissensgesellschaft mit ihrer wissensbasierten Wirtschaft eine Überlebensfrage darstellt, wird dabei übersehen. Die deutsche Universität war bei ihrer Neugründung in Berlin 1810 ebenso unzweifelhaft eine Einrichtung des Staates wie sie heute ebenfalls als eine Einrichtung der Gesellschaft existiert. Das anzuerkennen fällt manchem schwer, der sich im Elfenbeinturm gut eingerichtet hatte. Deswegen brauchen die Hochschulen in Deutschland auch das stärkere Engagement der Gesellschaft in vielfältiger Form – auch zur Ergänzung der schwachen staatlichen Finanzmittel. Ihre Leistungen für die Gesellschaft in Forschung und Lehre können die Hochschulen aber auch in Zukunft nur dann erbringen, wenn ihre Freiheit in Forschung und Lehre gewährleistet ist. Offenheit für die Gesellschaft u n d Spitzenleistungen in Forschung und Lehre lassen sich ohne Zweifel hervorragend vereinbaren, wie ein Blick auf die führenden amerikanischen Forschungsuniversitäten beweist. Allerdings machen deren Erfolge aber auch schmerzlich bewusst, dass die Erfolge aller Reformbemühungen der deutschen Hochschulen letztlich begrenzt bleiben werden, solange sich die Politik, letztlich aber die Gesellschaft nicht zu einer vergleichbaren Alimentation bereitfindet. Aber wie sollen diese zu einem notwendigen, größerem Engagement gewonnen werden, wenn die Universitäten nicht zeigen, dass sie in den Grenzen des Möglichen in optimaler Weise ihre Aufgaben zu erfüllen suchen und alles tun, um den Erwartungen der Gesellschaft zu entsprechen? Die vor allem im juristischen Schrifttum verbreitete Kritik an den Entwicklungen der letzten Jahre, die einem „ökonomiezentrierten Gesetzgeber“ einen „naiven Reformoptimismus“101 bescheinigt, greift zu kurz, weil sie die in den letzten Jahren erkennbaren Defizite des deutschen Hochschulwesens – von der Tatsache der Unterfinanzierung einmal abgesehen –, aber auch grundlegende Veränderungen in der Struktur von Forschung und Gesellschaft nicht zur Kenntnis nimmt; beides muss zwangsläufig Konsequenzen für die Universität haben. So greift es zu kurz, die „massiven Sparzwänge“ zum maßgeblichen Stimulus der Reformgesetzgebung zu erklären.102 Der Einwurf von A. Kieserling, die Kommentare einiger Kritiker der Hochschulreformen müssten „durch Dramatisierung ausgleichen, was ihnen an analytischer Substanz fehlt“,103 hat einiges für sich. Vielleicht richtet sich die Kritik aber auch nur vor101 So Kahl, a.a.O., (Fn. 49), S. 116. – Über „die immense Juristendichte in der Vertretung der Professoren und unsere etwas legalistische Kultur“ klagt auch der Jurist Ch. Möllers, Kein Grundrecht auf Exzellenzschutz, in: Kaube, a.a.O., (Fn. 32), S. 64. – Warnend vor den von den Juristen gern gemalten „Untergangsszenarien“ bzw. ihrem „defaitistischen Duktus“ auch F. Schoch, VVDStRL 69 (2010), S. 471 und P. M. Huber, ebd. S. 469. 102 Kahl, a.a.O., (Fn. 49), S. 112. 103 Die Wirklichkeit der Humboldt-Rhetorik oder Was soll aus den Studenten werden? in: Kaube, a.a.O., (Fn. 32), S. 31. Was er über seine soziologischen Kollegen sagt, gilt in gleicher Weise für viele Rechtsprofessoren: „Der Sozialwissenschaftler mutiert zum Funktionär seiner partikulären Interessen, und das Ergebnis davon ist ein Gerede, das mit dem Stand seiner Wissenschaft so wenig zu tun hat wie mit der Selbstreflexion jener Institution, um deren Verteidigung es ihm angeblich geht.“ Ebd. S. 31 f. – Vielleicht gilt auch nur die Einschätzung Bookmanns, a.a.O. (Fn. 24), S. 21, wonach „es Universitäten zu allen Zeiten gut verstanden, ihren eigenen Nutzen und ihre Ziele tönend zu formulieren.“ – Auch das BVerfGE 111, 333

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dergründig gegen die Reformen im Hochschulbereich, sondern wird im Wesentlichen gespeist durch das Unbehagen an einer im Übermaß sich ökonomisch gebärdenden Gesellschaft. Der Vorwurf der „Ökonomisierung“ taugt zur Analyse universitärer Entwicklungen aber auch deshalb wenig, weil damit ganz unterschiedliche Erscheinungen erfasst werden. Er verkennt im Übrigen die Geschichte der europäischen Universität, zu der seit deren Gründung in Bologna wesentliche Züge der von den heutigen Kritikern als „Ökonomisierung“ umschriebenen Phänomene gehören; der vermeintliche Sündenfall der letzen Reformjahre stellt lediglich ein Phantom dar.104 Gleichzeitig zielt „Ökonomisierung“ als ein Begriff mit Blendwirkung auch auf eine unübersehbare und wohl auch beabsichtigte diffamatorische Konnotation. Seine analytische Leistungsfähigkeit erscheint deshalb äußerst begrenzt. Er sollte im Interesse einer differenzierteren Diskussion universitärer Probleme verabschiedet werden.

(355) bezeichnet die Professoren „als die an speziellen Interessen orientieren Träger der Wissenschaftsfreiheit“. Den Verdacht der Befangenheit äußert J. Haverkate, VVDStRL 65 (2006), S. 316 zur „Ökonomisierungsdiskussion“ der Staatsrechtslehrer (s. o. Fn. 1). – Dabei übersehen die Rechtsprofessoren eine oftmals gerade von ihnen praktizierte Form der Ökonomisierung der Wissenschaft, haben doch viele von ihnen bereits längst die Forschung in ihrer umfassenden Gutachten- und Prozesspraxis privatisiert; dass es auch hierbei um kein neues Phänomen handelt, belegt der instruktive Vortrag von H. Thieme, Die Ehescheidung Heinrichs VIII. und die europäischen Universitäten, 1957, aber auch der Hinweis Jakob Burckhardts, a.a.O. (Fn. 25), S. 209, auf die große Konsulentenpraxis der italienischen Renaissance-Rechtsprofessoren und der damit verbundenen Einnahmen. 104 Ganz umgekehrt behauptet Schefold, a.a.O. (Fn. 27), S. 12, die vielgeschmähte „Ökonomisierung der Universität“ stelle nicht ein Vordringen des Marktes dar, sondern sei als Misslingen eines bürokratischen Interventionismus zu betrachten.

D. Europäisierung und Internationalisierung des Rechts

Die Werte der Europäischen Union und ihr Wert Von Bengt Beutler, Bremen Die Rezeption von Werten im Vertrag von Lissabon Art. 2 des Vertrags von Lissabon (EU) kodifiziert erstmals vertragsverbindlich und ausdrücklich an prominenter Stelle als solche genannte Werte der EU. Nach Abs. 1 sind die „Werte, auf denen sich die Union gründet, die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten darstellen“. Auch wenn der letzte Halbsatz einen wichtigen zusätzlichen Akzent setzt, lassen Wortlaut und Aufzählung dieser Werte eher an den vertrauten Wortlaut internationaler Konventionen1 und ihre in diesem Sinn „Konventionalität“ als deren leider häufig eher problematische Realität denken2. In welchem Sinn ist das bei der Union anders? Einen ersten Hinweis gibt Abs. 1 selbst, wenn er sich als Einleitung auf diese Werte als „Werte, auf denen sich die Union gründet“ bezieht. Deutlicher könnte der nicht nur historische, sondern auch systematische Gründungsakt öffentlicher Ordnung im Recht und durch das Recht nicht formuliert werden. Andere öffentliche Ordnungen, seien sie national oder international, kennen in ihrem Gründungsakt diese Deutlichkeit nicht. Vor allem bei Staaten stellt sich stets die Frage, wie weit der ihnen zunächst und voraussetzungslos zugebilligte Souveränitätspanzer für international kodifizierte Werte durchlässig ist3. Die ausdrückliche und ausschließliche Begründung im Recht ist eine Absage an ein voraussetzungsloses Ordnungsdenken und insoweit auch jede konzeptionell staatsbezogene Begründung der Union, die dies nicht berücksichtigt.

1 Haratsch, Andreas, Die Bedeutung der UN-Menschenrechtspakte für die Europäische Union, in: MRM, Themenheft „25 Jahre Internationale Menschenrechtspakte“, 2002; S. 29 – 54. 2 Grimm, Sonja, Verpflichten Menschenrechte zur Demokratie? Manuskript 2004 Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin SP IV 2004 – 201. 3 Wahl, Rainer, Europäisierung und Internationalisierung. Zum Verlust der schützenden Außenhaut der Souveränität, in: Schuppert, Folke / Pernice, Ingolf / Haltern, Ulrich (Hrsg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2003, S. 147 ff.

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Folgerichtig sind die Mitgliedstaaten nur eines der – wenn auch der entscheidenden – Elemente in dieser rechtsbegründeten Werteordnung. Denn nach Art. 2 Abs. 2 sind die in Abs. 1 genannten Werte „allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“. Dieses Anspruchsprofil einer Staat und Gesellschaft umfassenden Werteordnung, die die Gesellschaft selbst an Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und an der Gleichheit von Frauen und Männern misst, reflektiert nun allerdings keine Selbstverständlichkeit mehr oder noch nicht, wie sie für die Sicherheit eines diese Selbstverständlichkeit begründenden kulturellen Wandels erforderlich wäre4, sondern wirft in mehrfacher Hinsicht Fragen nach seiner – zivilrechtlich und damit für jeden Juristen verständlich gesprochen – Anspruchsgrundlage auf. Solche Fragen nach dem Anspruchsprofil5 der Werte werden durch die Bezugnahme auf ihre Herkunft in der Präambel noch verstärkt. Nach deren zweiten Spiegelstrich haben sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte „schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“ entwickelt. Diese Formulierung ist Ausdruck einer zuvor erregten Debatte6 und müsste sich trotz der daraus resultierenden Abschwächungen immer noch gegen den Eindruck falsch verstandenen Hegemonialdenkens schützen7. Alle diese Debatten stehen allerdings unter dem Einwand, ob sie im Hinblick auf die gegenwärtig in vieler Hinsicht krisenhaft erscheinende Situation überhaupt und zum richtigen Zeitpunkt geführt werden: oder, um es überspitzt zu formulieren, sind dies nicht die falschen Werte zum falschen Zeitpunkt – benötigt die EU gerade im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht eher ein handlungsfähiges System zur Bewältigung von Euro-, Finanz- und Schuldenkrise als Werte, deren Beitrag zur Lösung dieser Krisen im besten Fall bedeutungslos, im schlimmsten Fall hinderlich sein könnte – und gilt das nicht ganz grundsätzlich für die Handlungsfähigkeit der Union, deren Fähigkeit gerade angesichts der scheinbaren Selbstläufigkeit eines zerstörerischen Kapital- und Finanzsystems benötigt wird, um dieser Selbstläufigkeit Einhalt zu bieten, und deren Fähigkeit dazu und damit die Notwendigkeit einer stabilen wirtschaftli-

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Joas, Hans, Weder Kirche noch Revolution erfanden die Menschenrechte, Die Zeit vom 22. 12. 2010, S. 49; ders., „Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte“, unveröff. Manuskript 2011. 5 So schon Reimer, Franz, Wertegemeinschaft durch Wertenormierung? Die Grundwerteklausel im europäischen Verfassungsvertrag, Zeitschrift für Gesetzgebung 2003, S. 208 – 217. 6 Dazu Schröder, Wolfgang M., Gott im europäischen Projekt rechtsstaatlicher Demokratie. Zur Analyse des europäischen Präambelstreits, in: Fürst, Walter/Drumm, Joachim/Schröder, Wolfgang M. (Hrsg.), Ideen für Europa. Christliche Perspektiven der Europapolitik, Münster 2004, S. 373 – 399. 7 Dazu Wallerstein, Immanuel, Die Barbarei der anderen – Europäischer Universalismus, 2. Aufl., Berlin 2010.

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chen Integration durch die Betonung der Werte eher von den Beinen auf den Kopf8 gestellt wird? Dagegen ließe sich allerdings einwenden, dass gerade in der öffentlichen Debatte der gegenwärtigen Krisen nicht nur die Solidarität im Besonderen, sondern die Werte im Allgemeinen und grundsätzlich zur Krisenbewältigung erstaunlich häufig in Bezug genommen werden9. Und: Gegen die Selbstläufigkeit eines menschenverachtenden Wirtschaftssystems hat kein anderer als E.W. Böckenförde erst jüngst auf die Notwendigkeit eines eigenen Wertebezugs hingewiesen10 – allerdings mit unverhohlener Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit Europas11. Aber ist die wirtschaftliche Integration Europas nicht auf der Grundlage einer Werteentscheidung erfolgt, deren eher selbstverständliche Einbettung in die Nachkriegszeit nach dem Zerfall deren bisherigen Ordnung einer ausdrücklichen Fundierung bedarf? Und ist diese Fundierung nicht nur dann wirklich, wenn sie universell ist? Das würde bedeuten, dass die Union die Universalität dieser Werte und ihrer Fundierung nicht nur behaupten, sondern auch begründen müsste. In der außereuropäischen und internationalen Auseinandersetzung bedeutet dies gerade auch die Begründung der Notwendigkeit und Fortschrittlichkeit, oder kurz gesagt: des Wertes, ihres Gesellschaftsmodells. Wenn sich diese Fragen nicht aus dem Wortlaut von Art. 2 und des Lissabon-Vertrags unmittelbar beantworten lassen, sind für dessen auf die öffentliche Ordnung bezogene Auslegung traditionell die Rechtswissenschaften nach den allgemeinen Regeln juristischer Hermeneutik zuständig – auch wenn nicht unterschlagen werden

8 Vieldeutig insoweit schon der Titel des Beitrags von Müller-Graff, Christian, Der Kopfartikel des Verfassungsentwurfs für Europa, integration 2003, S. 111 ff. 9 Als Beispiele Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer „Humboldt-Rede zu Europa“ am 27. 05. 2009: „Deshalb liegt für mich das eigentlich Verbindende der Europäischen Union in den gemeinsamen Grundwerten, in einer verlässlichen Rechtsordnung und dem Streben danach, dass Wohlstand für alle geschaffen werden kann“ und dies. zur Verleihung Karlspreises 2008: „Wir können am Beispiel unserer europäischen Geschichte aufzeigen: Nach Jahrhunderten gewalttätiger Auseinandersetzungen haben wir das kaum Denkbare geschafft: Ein friedliches und freundschaftliches Miteinander in Europa. Warum soll das nicht auch in anderen Regionen der Welt zu schaffen sein? Für mich ist das keine Utopie. Nein, für mich ist das eine Vision, und zwar eine, die in einen konkreten Auftrag mündet. Daher bin ich auch davon überzeugt: Es ist jede Mühe wert, auf friedliche Konfliktlösungen hinzuwirken. Gelingen kann dies aber nur auf der Grundlage gemeinsam anerkannter Werte. Die Geschichte Europas ist der lebendige Beweis dafür“. 10 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Woran der Kapitalismus krankt, SZ vom 24. 4. 2009, Nr. 94. 11 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Welchen Weg geht Europa? München 1997, Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung Vorträge Band 65.

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sollte, dass die Regeln der dabei vorausgesetzten allgemeinen hermeneutischen Auslegungskunst selbst nicht unproblematisch sind12. Erschwert wird diese Aufgabe einer Auslegung der im Vertrag von Lissabon kodifizierten Werte im Hinblick auf ihre Bedeutung und Wirksamkeit dadurch, dass die Union wie die europäische Integration offenbar singulär ist und sich die allgemeinen Regeln ihrer Auslegung daher aus der Anwendung dieser ihrer Singularität ergeben müssten. Aber wird die Suche nach allgemeinen Regeln dabei nicht durch den Universalitätsanspruch ihrer Werte erleichtert? Der Beitrag der Rechtswissenschaften Das wachsende Bewusstsein der Rechtswissenschaften von der Bedeutung Europas als eigenem, wenngleich singulärem Bezugspunkt wird in dem Begriff der „Europawissenschaft“13 deutlich, deren Anspruch darin besteht, die Rechtswissenschaften in dieser nicht aufgehen zu lassen, aber doch einen eigenen methodischen Zugang zum rechtswissenschaftlichen Begreifen Europas zu finden14. Deutlicher noch wird die dabei gewonnene eigene Perspektive in dem Begriff einer „Europäischen Verfassungslehre“ mit Peter Häberle als ihrem herausragenden Vertreter15, aber auch für deren Variante als „Europäisches Verfassungsrecht“ in den Beiträgen mit Armin von Bogdandy16 an der Spitze. Es ist daher insoweit kein Zufall, wenn die meisten Beiträge, die sich mit der vertraglichen Werterezeption beschäftigen, sich auf die dem Vertrag von Lissabon vorangehende Vorlage der im Wesentlichen wortgleichen Formulierungen im Entwurf

12 Barrico, Alessandro, „Morire dal ridere. Saggio sul carattere transcendentale del teatro comico rossiniano“ in: il genio in fuga. Due saggi sul teatro musicale, 1997 Turin. Deutsch in: Sterben vor Lachen, München/Wien 2005, S. 7 ff. Barrico, der Erfolgsautor von „Seide“, zitiert Benjamin, dass die Ideen etwas mit den Sternbildern zu tun haben: man erkennt sie besser, wenn man die Augen ein wenig zukneift a.a.O.; s.a. Kämpf, Heike, Das ambivalente Erbe der philosophischen Hermeneutik. Zum produktiven Scheitern historischer Selbstvergewisserung europäischer Identität, in: Schöning, Matthias/Seidendorf, Stefan (Hrsg.), Reichweiten der Verständigung. Intellektuellendiskurse zwischen Nation und Europa, Heidelberg 2006, S. 174 ff. 13 Schuppert, Gunnar Folke / Pernice, Ingolf / Haltern, Ulrich (Hrsg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2003. 14 Schuppert, Gunnar Folke, „Theorierung Europa“ oder von der Überfälligkeit einer disziplinübergreifenden Europawissenschaft in: Schuppert, Folke / Pernice, Ingolf / Haltern, Ulrich (Hrsg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2003, S. 3 ff; Haltern, Ulrich, Rechtswissenschaft als Europawissenschaft, in: Schuppert/ Pernice / Haltern, a.a.O., S. 37 ff. 15 Häberle, Peter, Europäische Verfassungslehre, 6. erweiterte und aktualisierte Aufl., Baden-Baden 2009. 16 von Bogdandy, Armin (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., Berlin / Heidelberg / New York 2009.

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eines Verfassungsvertrags beziehen17, sodass im ersten Augenblick der Eindruck entstehen könnte, dass mit dem Verzicht auf die förmliche Benennung als Verfassung auch die Rezeption von Werten an Bedeutung verloren hätte. Das wäre insoweit ungenau, als der Wortlaut der Werte im Vertrag von Lissabon eben im Wesentlichen unverändert aus dem Entwurf eines Verfassungsvertrags übernommen ist. Und diesem Eindruck stehen auch Beiträge gegenüber, die unabhängig von der formellen Benennung als Verfassung im Vertrag jedenfalls im Kern vom Verfassungscharakter der Unionsverträge ausgehen18, ebenso wie es auch schon unter den Beiträgen der ersten Stunde solche gibt, die – so wie Beiträge nach Lissabon19 – an eine eher knappe WerteReflexion in der Hauptsache solche über die künftig eröffneten Handlungsmöglichkeiten der Union anschließen20. Insgesamt aber scheinen die rechtswissenschaftlichen Beiträge nicht so im Kern der Wertediskussion zu stehen wie die anderer Kulturwissenschaften21 unter dem Dach Europawissenschaft. Insoweit scheint der Eindruck einer an anderer Stelle diagnostizierten „Schwebelage“22 zutreffend, auch wenn z. B. Häberle Europawissenschaften ausdrücklich als Kulturwissenschaften begreift. Folgt aus einem kulturwissenschaftlichen Verständnis eher die von ihm artikulierte Zustimmung zur Werterezeption23? Dem steht eine eher kritische Distanz gerade gegenüber der Rezeption der

17 Müller-Graff, Christian, Der Kopfartikel des Verfassungsentwurfs für Europa, integration 2003, S. 111 ff; Speer, Benedikt, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, DöV 2003, S. 980 ff; Reimer, Franz, Wertegemeinschaft durch Wertenormierung? Die Grundwerteklausel im europäischen Verfassungsvertrag, ZG 2003, S. 208 – 217; Mensmann, Thomas, Grundwerte im Prozess der Europäischen Konstitutionalisierung. Anmerkungen zur Europäischen Union als Wertegemeinschaft aus juristischer Perspektive, in: Blumenwitz, Dieter / Gornig, Gilbert / Murswiek, Dietrich, (Hrsg,), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, Berlin 2005; Schmitz, Thomas, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Konkretisierung der gemeinsamen europäischen Werte, in: Blumenwitz/Gornig/Murswiek a.a.O. S. 73 – 97. 18 von Bogdandy, Armin, Founding Principles of EU Law: A Theoretical and Doctrinal Sketch, European Law Journal 2010, S. 95 ff. 19 Ruffert, Matthias, Aufgaben europarechtlicher Theoriebildung nach Lissabon, EuR Beiheft 1/2010, S. 83 ff. 20 De Quadros, Einige Gedanken zum Inhalt und zu den Werten der Europäischen Verfassung, in: Brenner, Michael (Hrsg), FS Badura 2004, S. 1125 ff. 21 s. schon Metz, Almut, Den Stier bei den Hörnern gepackt? Definition, Werte und Ziele der Europäischen Union im Verfassungsprozess, in: Weidenfeld, Werner (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, Gütersloh 2005, S. 35 ff; Heit, Helmut, Die Werte Europas – Verfassungspatriotismus und Wertegemeinschaft in der EU?, Münster 2005, und jetzt Mandry, Christof, Europa als Wertegemeinschaft. Eine theologisch-ethische Studie zum politischen Selbstverständnis der Europäischen Union, Baden-Baden 2009 sowie Kühnhardt, Ludger, Die zweite Begründung der europäischen Integration, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 18 vom 3. 5. 2010. 22 Wahl, Rainer, Die Schwebelage im Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten, Der Staat 2009, S. 587 ff. 23 Häberle, Peter (Fn. 15), S. 639 f, 706.

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bisherigen Werte als Werte bei von Bogdandy gegenüber24. Sozusagen zwischen diesen Bewertungen assoziiert die Formulierung eines „Wertefeuerwerks“ durch Calliess25 eher den Eindruck von Schall und Rauch, deren Substrat jedenfalls noch der Konkretisierung bedürfte. Offenbar sind unabhängig von den Inhalten bei der Bewertung der Werte auch Fragen des Bezugspunktes und der Methode mit im Spiel. Insoweit erscheint die Feststellung von Häberle berechtigt, dass die EU die z. T. typisch deutschen Berührungsängste zum Begriff der Werte nicht teile26. Und ist es ein Zufall, dass diese Diskussion fast zeitgleich mit der Konstatierung der Auflösung einer traditionell zuverlässigeren öffentlich-rechtlichen Dogmatik zusammenfällt27 ? Ein prominentes Beispiel für das Zusammenspiel von Bezugspunkt, Methode und Bedeutung der Rechtswissenschaft(ler) im öffentlichen Diskurs ist der Beitrag von Böckenförde „Woran der Kapitalismus krankt“ in der Süddeutschen Zeitung vom 24. 04. 200928. Entspricht seine Forderung nach einem Wertesystem, das der einzelne Mitgliedstaat nicht mehr leisten kann, dem Thema der Staatlichkeit im Wandel29 – und welche Bedeutung haben Werte in diesem Wandel? Werte, Staat, Gesellschaft und Europa Der Beitrag Böckenfördes30 ist vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses und einer Konstellation von Werten, Staat, Gesellschaft und Europa zu sehen, das durch die Geschichte selbst wie deren konzeptionelle Rezeption geprägt ist. Danach ist die moderne Geschichte durch die Herausbildung des modernen Staats als politischer Einheit geprägt. Es gab eine Zeit, in der Werte und Staat wie unvereinbare Gegensätze erschienen, weil die Berufung auf Werte zu unlösbaren Konflikten führte, zu deren Lösung gerade der Staat erforderlich war und in diesem Sinn einen eigenen Wert darstellte. Das ist der rote Faden einer staatsphilosophisch begründeten Dogmatik, die von Hobbes31 ihren Ausgangspunkt nimmt und bis in die Gegenwart

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von Bogdandy, Armin, Europäische Verfassung und Europäische Identität, JZ 2004, S. 53 ff, 59 ff.; ders., (Fn. 18), S. 95 ff. 25 Calliess, Christian, Identität durch europäisches Verfassungsrecht, JZ 2004, S. 1033 ff. 26 Häberle, Peter (Fn. 15), S. 706. 27 Schlink, Bernhard, Abschied von der Dogmatik, Merkur 2006, S. 1125 ff. 28 Böckenförde, Ernst-Wolfgang (Fn. 10). 29 Hurrelmann, Achim / Leibfried, Stephan / Martens, Kerstin / Mayer, Peter (Hrsg.), Zerfasert der Nationalstaat?: Die Internationalisierung politischer Verantwortung (Staatlichkeit im Wandel), Frankfurt/M. 2008. 30 Böckenförde, Ernst-Wolfgang (Fn. 10). 31 Hobbes, Thomas, Leviathan, Stuttgart, 2002.

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reicht32. Dass der Staat an ihrem Ende als zeitgemäßer Rechtsstaat eine freiheitliche Gesellschaft entlässt, macht ihn nach dieser Auffassung von dem Wert der Freiheit abhängig, die er nach dem berühmten Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde nicht selbst garantieren kann33. Diese Optik impliziert die Identität von politischer und Werteordnung und verschiebt sich, wenn man sie trennt und den Wert der Staatlichkeit als Bezug auf ein Gemeinwohl und in die für seine Gewährleistung erforderlichen institutionellen Vorkehrungen aufgehen lässt, die – notfalls mit Gewalt – die Voraussetzungen der Freiheit gegen die sichern, deren Freiheit nicht die der anderen ist. Den kategorialen Voraussetzungen dieses Denkens hat Kant in seiner Streitschrift zum ewigen Frieden ein pointiertes Denkmal gesetzt34. In der Idee des Rechtsstaats fallen diese Voraussetzungen staatlicher Souveränität und der Anerkennung ihrer Einbindung zum Schutz der Freiheit des Einzelnen noch einmal zusammen. Die Gründung der EU ist selbst ein Vorgang, in dem faktischer Geltungsanspruch und seine rechtliche Rückbindung zusammenfallen, aber in umgekehrter Richtung: in ihm begründet das Recht die Geltung des nur durch es selbst legitimierten Geltungsanspruchs. Genau hier aber setzt der Text von Art. 2 des Lissabon-Vertrags ein und er geht noch einen Schritt weiter, weil er auf dieser Grundlage die Gleichheit der auf Freiheit gegründeten Gesellschaft35 in den Blick nimmt und ihren Geltungsanspruch gleichermaßen auf Staat und Gesellschaft bezieht, und den Werten einen umfassenden, aber gleichwohl nicht bloß verbalen Anspruch auf praktische Wirksamkeit durch das entwickelte Handlungssystem der Union, das ebenfalls Staat und Gesellschaft umfasst, einräumt. Eine zentrale und insoweit fast fragwürdige Bedeutung in der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft nimmt gegenwärtig die Wirtschaft ein: Viele Debatten über Ursachen und Lösungen der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrisen beziehen sich auf die Erklärungs-Alternativen von Markt- oder Staatsversagen. Geht man davon aus, dass der Markt als Institution nicht strukturell vorgegeben, sondern in seiner Entstehung als ein Instrument zur Verstärkung der Freiheit des Einzelnen begründet wurde36, wird verständlich, dass in der Wirtschaftsdiskussion die Frage der Nachhaltigkeit unter dem Titel der Wirtschaftsethik die Reflexion auf 32 Beutler, Bengt, Paradigm lost, in: Paech, Norman/Rinken, Alfred/ Schefold, Dian/ Weßlau, Edda (Hrsg.), Völkerrecht statt Machtpolitik, Beiträge für Gerhard Stuby, Hamburg 2007, S. 134 ff. 33 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt/M. 1976, S. 60. 34 Kant, Immanuel, Zum ewigen Frieden, Stuttgart 2002. 35 Über den Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit s. Sen, Amartya, Inequality reexamined, Oxford 1992, S. 2 f. 36 Stehr, Nico, Die Moralisierung der Märkte, Frankfurt/M. 2007, S. 76 ff.

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grundsätzliche rechtstheoretische und philosophische Fragestellungen einschließt, die institutionelle wie anthropologische Elemente umfasst37. Insoweit bilden Freiheit im Sinne einer selbstbestimmten Freiheit und die Möglichkeit, die dafür nötige Verantwortung ohne deren eigene Einsicht entweder durch freiwillige Angebote (in Form eines auch insoweit wirksames Wissen vermittelnden Bildungssystems) oder andernfalls und in jedem Fall vorsorglich institutionell abzusichern, eine zentrale Voraussetzung, das Wirtschaftssystem nicht sich selbst in einem entfesselten Kapitalismus zu überlassen, sondern sein Funktionieren in gemeinverträglicher Weise zu sichern. Diesen Zusammenhängen trägt die systematische Neubestimmung des Binnenmarktes in Art. 3 Abs. 3 des Vertrages von Lissabon Rechnung. Nach dessen ersten Abschnitt errichtet die Union auf der Grundlage und unter dem Ziel ihrer Werte einen Binnenmarkt und „wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt“. Und weiter heißt es in Abschnitt II bis IV: „Sie (d. h. die Union) bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierung und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten Sie wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas“.

Diese Zitate sollen den Wertebezug dieses markt- und wirtschaftsbezogenen Programms der Union verdeutlichen, dessen Verwirklichung daher auf die anschließend eingeräumten Zuständigkeiten und institutionellen Handlungsmöglichkeiten angewiesen ist. Aber dieses Programm ist jedenfalls kein Freibrief ungezügelter Wirtschaftsmacht, sondern ein Ausgleich zwischen der Selbstläufigkeit des Marktgeschehens und seinen möglichen Regulierungen, deren notwendige Umsetzung traditionelle staatliche Fähigkeiten überschreitet , und der auch optisch mitten in das Wertesystem des Vertrags der Europäischen Union eingepasst ist. Methodische Einwände Gegen die Rezeption oder Umwandlung der in den vorangehenden Unionsverträgen so genannten Grundsätze in Werte und damit gegen die Benennung von Werten

37 Ulrich, Peter, Integrative Wirtschaftsethik: Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, 4. Auflage, Haupt, Bern/Stuttgart/Wien 2008.

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im Vertrag selbst wendet sich mit guten Gründen von Bogdandy38. Nach seiner Auffassung gefährdet diese Umformulierung auch wegen des methodenintegrativen Zugangs die bisher erreichte Autonomie einer europäischen Rechtsordnung. Die unterschiedlichen Anforderungs- und Umsetzungsmethoden der einzelnen Ebenen und Methoden überforderten unter dem gemeinsamen Dach einer Wertordnung die Geltung der bis dahin kodifizierten Grundsätze und drohten sie zu entleeren. In der Tat ist die Herausbildung einer eigenen Rechtsordnung jenseits eines allein auf Staatlichkeit zentrierten Systems eine der herausragenden Errungenschaften des bisherigen Integrationsprozesses. Diese Ordnung charakterisiert als allgemeines Merkmal den besonderen Charakters der europäischen Union und ihre Herausarbeitung ist daher auch eine hermeneutisch herausragende Leistung. Von Bogdandy beruft sich für die Begründung dieser Autonomie auch auf das Konzept einer „neuen rechtlichen Ordnung“, das durch den EuGH entwickelt wurde39 und das inzwischen allgemein anerkannt sei. Diese neue rechtliche Ordnung hat sich in der Tat vom Staat und damit staatstheoretischen Grundlagen emanzipiert, weil sie dem einzelnen aus einem überstaatlichen Geltungsgrund eigene Rechte gegenüber dem einzelstaatlichen Souveränitätsanspruch einräumt40. Wenn sich von Bogdandy für die Begründung der Selbständigkeit der im Verlauf dieser Entwicklung entstandenen systematischen Grundsätze auf die Stimmigkeit ihrer Prinzipien beruft, nähert sich diese Bewertung erstaunlicherweise den zitierten konstatierten früheren Vorzügen traditioneller dogmatischer Systematik an, deren Verschwinden in der Gegenwart beklagt wird41, muss sich auf der anderen Seite aber der Frage stellen, ob damit nicht stillschweigend deren Voraussetzung, nämlich das spiegelbildliche Zusammenfallen mit einer politischen Ordnung vorausgesetzt wird. Bezugspunkt zu der Beantwortung dieser Frage wäre die von von Bogdandy selbst in Bezug genommene Rechtsprechung und die Konzeption des EuGH einer „neuen rechtlichen Ordnung“. Die Argumentation des EuGH ist die, dass ohne diese neue rechtliche Ordnung die Existenz der Gemeinschaft mit der allgemeinen Geltung ihres Rechts selbst in Frage gestellt wäre42. Sucht man nach einem übergreifenden Begründungsmaßstab für die Einordnung der Rspr. des EuGH, scheint die methodische Forschungsschnittmenge eher auf

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von Bogdandy, Armin (Fn. 18), S. 95 ff. EuGH van Gend & Loos/Niederlande, Rs. 26/62, Slg. 1963, S. 3, und Costa/E.N.E.L. Rs. 6/64, Slg. 1964, S. 1253. 40 EuGH a.a.O. 41 Schlink (Fn. 27). 42 EuGH a.a.O. (Fn. 39) und zuletzt Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission 402/05 P und C-415/05 P, Slg. 2008, I-6351. 39

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einem etwas verkürzten Weberschen Rationalitätskonzept zu liegen43, während – nur historisch – einen Schritt zurück die „List der Vernunft“44 nicht gering geschätzt werden sollte. Denn wenn Rationalität und Vernunft nicht austauschbare Begriffe sein sollen, so würde die Vernunft die Einbettung einer eher abstrakten Rationalität in den konkreten Entwicklungszusammenhang, hier der europäischen Integration, bedeuten45. Dass sich die Rspr. des EuGH aus diesem Zusammenhang nicht lösen lässt, wird durch die methodische Bezugnahme des EuGH zu Beginn seiner in der Tat ja revolutionären Rechtsprechung auf den „Geist“ der Verträge46 angedeutet. Nicht nur wegen der seinerzeitigen französischen Präsidentschaft des Gerichtshofs und seines Anspruchs eines LEurope des juges fühlt man sich an den „Geist der Gesetze“ von Montesquieu erinnert47. Der Geist der Gesetze ist ja nicht ihr spiritueller, sondern ihr genereller in die anschauliche Wirklichkeit eingebetteter. Und es ist sicher nicht uninteressant, dass Montesquieu in seinen Persischen Briefen48 diesen „Geist“ durchaus wechselseitig ohne Anspruch auf Bevorrechtigung auf die wechselseitige Wahrnehmung von Okzident und Orient projiziert hat. Sicher wäre es verfehlt, allein aus Montesquieu eine kulturwissenschaftliche Begründung einer Europawissenschaft abzuleiten, aber doch ein Anlass, den Fokus rechtswissenschaftlicher Reflexion weiter zu spannen und zu fragen, wie weit der Geist der Verträge und die neue rechtliche Ordnung auf Werten im Prozess der europäischen Integration beruhen. Werte im europäischen Integrationsprozess Die Annahme, dass der europäische Integrationsprozess von Werten geprägt sei, scheint allerdings auch im Widerspruch zu dem Jean Monnet zugeschriebenen Ausspruch zu stehen, wenn er das Ganze der europäischen Einigung noch einmal zu ma-

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s. Fukuyama, Francis, The End of History and the Last Man, London 1992; s. auch den informativen Überblick Grimmel, Andreas, Judicial Interpretation or Judicial Activism?: The Legacy of Rationalism in the Studies of the European Court of Justice, Manuskript, Harvard Centre of European Studies, Working Paper # 176 (2010). 44 Hegel, G.W.F., Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie Werkausgabe Bd. 12, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, S. 49. 45 Auch hier sehr illustrativ Grimmel, Andreas, Integration and the Context of Law: Why the European Court of Justice is not a Political Actor, Manuskript, Working Paper University of Cambridge, 2010. 46 EuGH van Gend & Loos/Niederlande, Rs. 26/62, Slg. 1963, S. 3. 47 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brde et de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. In neuer Übertragung eingeleitet und herausgegeben v. Ernst Forsthoff, 1. Bd. Tübingen 1951, S. 214 – 226; zit. nach: Behschnitt, W. Die Französische Revolution, Quellen und Darstellungen, Politische Bildung, Materialien für den Unterricht, Stuttgart 1978, S. 17 ff. Ditzingen 1994 Übertr., ausgew. u. eingel. v. Kurt Weigand. 48 Montesquieu (s. Fn. 47), Persische Briefe, Reclam, Ditzingen (1991).

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chen hätte, würde er nicht bei der Wirtschaft anfangen, sondern bei der Kultur49. Ob authentisch oder nicht – jedenfalls assoziiert der Begriff der Kultur eine größere Nähe zu Werten als der der Wirtschaft. Auf der anderen Seite lässt sich nicht übersehen, dass der Beginn der Integration wertefundiert war: gegen die Erfahrung des Krieges eine friedliche und freiheitliche Ordnung zu errichten. Das wird aus der Präambel des Montanvertrags ebenso deutlich wie aus ihrem Vorläufer, dem Schumann-Plan. Durch das Scheitern der politischen Union nach den Anfangserfolgen der Montanunion wurde dieser Wertehintergrund nicht verändert, wohl aber durch ein ökonomisches Integrationskonzept überlagert. Aber auch diese relance europeen stützt sich auf Werte: die wirtschaftliche Integration sieht diese nicht als Selbstzweck. Das ist auch der Hintergrund und die Ratio der frühen Rechtsprechung des EuGH von der neuen rechtlichen Ordnung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Einzelne sich auf seine durch internationale Verträge begründeten Rechte auch gegenüber dem eigenen Staat berufen kann. Dieser Werte-Hintergrund ist allerdings zunächst auch eingebunden in den WestOst-Konflikt, der auch ein Wertekonflikt war, und dessen klare Kanten der europäischen Integration die eigene Begründung ihrer Wertefundierung weitgehend abgenommen haben. Die entscheidende Zäsur für eine systematische Neu-Orientierung ist insoweit der Zusammenbruch des Ostblocks und damit die Frage, welche Wertekonstellation an seine Stelle tritt und welche Rolle die Union dabei übernimmt. Der Beschluss des Europäischen Rates vom 22. Juni 1993 über die Kopenhagener Kriterien ist eine Antwort darauf und zitiert unter den institutionellen Voraussetzungen eines Beitritts genau das Ensemble von Demokratie und Achtung der Menschenrechte, das sich ausdrücklich in Art. 2 des Vertrags von Lissabon wiederfindet – allerdings als Grundsätze, die dann in Art. 6 des Vertrages von Amsterdam übernommen wurden. Die Weiterentwicklung dieser Grundsätze als Werte kann man in dieser Perspektive auch als eine Weiterentwicklung des Monnetschen Zitats verstehen: dass nämlich die funktionelle Integration der relance europeenne nicht mehr ausreicht, sondern einer eben nicht nur funktionell- sondern wertebezogenen Ergänzung bedarf. Diese Ergänzung formuliert sich unter dem Titel eines Europa der Bürger und schließt in der weiteren Entwicklung insoweit folgerichtig den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts an – und übernimmt mit der dadurch implizierten Bestimmung des Verhältnisses von Sicherheit und Freiheit das Grundlagenthema der modernen Staatengeschichte in das Wertesystem des Unionsvertrags.

49 Zitiert nach Nouschi, Marc, Dialog – Deutsch-polnisches Magazin, Nr. 65 (2003/2004), S. 21 ff.

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In der Fassung des Vertrags von Lissabon und dessen Systematik liest sich diese Entwicklung wie eine umgekehrte Reihenfolge aus der Sicht des aktuellen Wertesystems: Die Errichtung des Binnenmarktes in ihrer bereits zitierten Form in Art. 3 Abs. 350 folgt den Werten, die damit die entscheidende Orientierungsfunktion übernommen haben, und unter den Zielen der Union nach dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. In dem nachfolgenden Abs. 5 wird auf die Bedeutung der Werte für die Außenpolitik und in dem deren Ziele konkretisierenden Art. 21 ebenfalls auf die Grundsätze Bezug genommen, die für die Union „für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgebend waren“. Diese Grundsätze sind daher nicht nur funktionsbezogen, sondern reflektieren eine darüber hinausgehende wertebegründete und werteverstärkende Entwicklungslinie des Integrationsprozesses, vor deren Hintergrund sich erst die Wirksamkeit der Rspr. des EuGH und das Konzept seiner neuen rechtlichen Ordnung entfalten kann, die wiederum selbst den Wert bzw. die Werte des Integrationsprozesses beeinflussen. Die Wirksamkeit des vertraglichen Wertesystems von Lissabon Die Annahme, dass das Wertesystem ein so zentraler Bezugspunkt der Union und ihrer künftigen Entwicklung ist, muss sich aber umgekehrt – und nicht nur, aber vor allem auch in rechtswissenschaftlicher Perspektive – und unter dem Einschluss der Rspr. des EuGH, aber auch darüber hinaus – dem Test ihrer Wirksamkeit im Rahmen des geltenden Vertragsrechts stellen. Aus einer theoretischen Grundlagenperspektive betrachtet, müsste man nach der Grundentscheidung für das jetzt kodifizierte vertragliche Wertesystem fragen. Formal sind Träger dieser Entscheidung durch die Vertragsänderung die Mitgliedstaaten. Allerdings sind durch die Mitarbeit im Konvent und die innerstaatlichen Ratifikationsverfahren vor und nach dieser Entscheidung die Zivilgesellschaft und die Bevölkerung maßgeblich mit beteiligt. Das entspricht sowohl den Wertentscheidungen des Vertrages als auch eines darüber mit entscheidenden Akteurs, dem Bundesverfassungsgericht, denn sowohl der Vertrag von Lissabon51 wie das Gericht52 weisen unmissverständlich auf die Notwendigkeit einer angemessenen und das heißt: stärkeren demokratisch legitimierten Beteiligung hin. Das aber bedeutet, dass die Bewertung der Europapolitik noch mehr ein Thema mitgliedsstaatlicher Innenpolitik werden muss – und Anzeichen dafür finden sich nicht nur in der öffentlichen Krisen-Rhetorik, sondern auch mit Bezug auf ausgesprochene Werte: der Umgang mit Personen, die Minderheiten angehören, in der Diskussion der französischen Maßnahmen zur Rückführung von Roma-Angehöri50 51 52

s. o. S. 642. s. Art. 12 zu Aufgaben und Mitwirkung der nationalen Parlamente. BVerfGE 123, 267 ff.

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gen, und der Umgang mit der Pressefreiheit in der Diskussion um das jüngst verabschiedete Mediengesetz in Ungarn. Die öffentliche Wahrnehmung und Diskussion dieser Maßnahmen ist auch aus einem weiteren Grund vor dem Hintergrund und im Zusammenhang mit den Werten der Europäischen Union zu sehen. Deren Wirksamkeit lässt sich zumindest nicht ganz trennen von den Verfahren nach Art. 6 f des EU-Lissabon-Vertrags53. Art. 6 und 7 fixieren ein Verfahren, dass nach dem Lissabon-Vertrag ausdrücklich dann Anwendung findet, wenn „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat“ durch die zuständigen Organe der EU festgestellt wird (Art. 7 Abs. 1 Satz 1 EU). Auch wenn die formale Einleitung eines solchen Verfahrens die Grundlagen der Union eher in Frage stellen könnte54, so bleibt seine bloße Möglichkeit als Vorwirkung einer Vermeidung ein wichtiger Rahmen für die Strukturierung der öffentlichen Werte-Diskussion. Es wäre daher auch zu wünschen, dass die Auseinandersetzung um die Beachtung der Werte der Union nicht nur nicht im förmlichen Verfahren nach Art. 7, wohl aber im Vorfeld der öffentlichen Diskussion auch von der Kommission als Dialog mit der Zivilgesellschaft, und nicht nur hinter verschlossenen Türen geführt würde. Das Verfahren nach Art. 6/7 EU steht in systematischem Zusammenhang mit der Sicherung der Beachtung der Werte der Union vor einer Mitgliedschaft durch die für einen Beitritt in Art. 49 geforderte Voraussetzung, dass „jeder europäische Staat, der die in Artikel 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt, beantragen (kann), Mitglied der Union zu werden“. Das ist ein eindeutiges Dokument für die Wirksamkeit der Werte der Union, die daher lediglich ihre uneingeschränkte Überprüfung sowohl im Hinblick auf die Einbeziehung der Balkanstaaten in die Union wie auch auf den „Dauerbrenner“ der Diskussion um den Beitritt der Türkei voraussetzen würde. Eine Schärfung des Werte-Profils der Union für den Fall der Mitgliedschaft ist auch im Hinblick auf die Übernahme des acquis communautaire wünschenswert, von dessen Anerkennung und Umsetzung die Wirksamkeit der neuen rechtlichen Ordnung abhängig ist. Dabei ist im Hinblick auf die Wirksamkeit der Werte in der Union zu berücksichtigen, dass die Rspr. des EuGH wesentlich zur Konkretisierung der in Art. 2 zitierten Wertestruktur der Gesellschaft beigetragen hat. Diese Rspr. des EuGH betrifft vor allem eine Gesellschaft ohne Diskriminierung, die auch die Solidarität ihrer Mitglieder berücksichtigt55. 53 Sadurski, Wojciech, Adding Bite to a Bark: The Story of Article 7, EU-Enlargement, and Jörg Haider, The Columbian Journal of European Law 2010, S. 385 – 426; Stein, Torsten, Die Durchsetzung der Verfassungsgrundlagen der EU in der Europäischen Verfassung – von Art. 7 EUV zum Recht auf Ausschluss? in: Calliess/Isak, Konventionsentwurf, S. 111. 54 Albi, Anneli, Ironies in Human Rights Protection in the EU: Pre-Accession Conditionality and Post-Accession Conundrums, European Law Journal 2009, S. 46 – 69. 55 EuGH, C-144/04 – Mangold – Urteil vom 22. November 2005, Slg. 2005, I-9981, Tz. 32 ff.

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Die Bedeutung eines gemeinsamen Wertebezugs wird auch im Zusammenspiel der Rspr. von EuGH und BVerfG deutlich: im Gegensatz zur Betonung ihrer Gegensätze wird sie durch den gemeinsamen Wertehorizont methodischer Überprüfbarkeit zusammengehalten56 – ein eindrucksvolles Beispiel der hermeneutisch eingeforderten Horizontverschmelzung der Rechtswissenschaften in einer Europawissenschaft. Die Wirksamkeit dieser europäischen Werterezeption darf allerdings auch den Blick nach Außen nicht ausblenden. Eine entscheidende Frage bleibt daher, wie weit sie sich auf die Außenbeziehungen übertragen lässt57. Nach dem bereits zitierten Art. 3 Abs. 5 EU schützt und fördert die Union „in ihren Beziehungen zur übrigen Welt…ihre Werte und Interessen“. Die empirischen Untersuchungen zu dem Zusammenspiel von Werten und Interessen fallen unterschiedlich aus58. Wie wichtig der Ausgleich dieses Zusammenspiels und damit auch die Berücksichtigung von Werten ist, zeigt sich aktuell im Rahmen der Mittelmeerpolitik angesichts revolutionärer Unruhen in den Anrainer-Staaten zum Mittelmeer. Welche Werte sind zur Lösung wirksam – und hätten im Vorfeld stärker beachtet und eine krisenhafte Zuspitzung vermeiden können? Und das Gleiche gilt auch für die Lösung der Probleme im Kosovo wie umfassend auf dem Balkan. Die Wirksamkeit der Werte der Union lässt sich aber nicht einseitig von Innen nach Außen übertragen, sondern muss sich in diesem Zusammenhang zusätzlich dem Test ihrer Universalisierbarkeit stellen.

Europäische und universelle Werte Die Universalisierbarkeit europäischer Werte ist auch deshalb ein zentrales Thema, weil die Bedeutung von Werten in der internationalen Ordnung zunehmend ein zentrales Thema wird59. Die Bedeutung der Werte der Union in diesem Zusammenhang ist nicht nur durch die faktische globale Marktverschmelzung begründet, sondern auch deren Fragwürdigkeit aus Mangel an eigenen Werten. Insoweit bleibt zu klären, inwieweit das Wertesystem der Union und seine Wirkungen ein europäischer Sonderweg oder ein globales Modell sind Die Prüfung der Werte der Union und ihres Maßstab müsste sich zuvor aber dem Einwand stellen, ob nicht bereits schon der Anspruch universeller Werte imperial ist, weil es solche nicht geben kann, und ihre Behauptung daher den Verdacht der Verein56

BVerfG 2 BvR 2661/06, – Honeywell – vom 6. 7. 2010, NJW 2010, S. 3422 ff. s. dazu die illustrative Fallstudie von Khaliqu Urfan, Ethical Dimensions of the Foreign Policy of the European Union, Cambridge 2008, S. 447 ff; Leino Päivi / Petrov Roman, Between ,Common Values and Competing Universals – The Promotion of the EUs Common Values through the European Neighbourhood Policy, European Law Journal 2009, S. 654 ff. 58 Leino, Päivi / Petrov, Roman (Fn. 57). 59 s. dazu die Erklärung des Gründers und Executive Chairmans des World Economic Forum, Davos Klaus Schwab „Gemeinsame Werte für eine neue Realität“ NZZ Nr. 22 vom 27. 1. 2011, S. 15. 57

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nahmung für die jeweilige Wertephilosophie und einen solchen imperialen Anspruch nährt60. Die Annahme universeller Werte kann aber schon deshalb nicht imperial sein, weil die allgemeine Geltung gerade nicht die Dominanz einer jeweiligen Wertephilosophie ermöglicht, sondern diese geradezu ausschließt. Dass es solche universellen Werte geben kann, ist in der maßgeblichen Literatur auch nicht bestritten worden, sondern kritisiert wird nur die Verkürzung auf eine – vor allem westliche – Sicht. Als universelle Werte sind daher die Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anzuerkennen und die Frage ist daher nicht die nach ihrer Geltung, sondern nach ihren jeweiligen Geltungsbedingungen61. Die Ableitung universeller Werte in der Präambel des Lissabon EU-Vertrags aus ihrer europäischen Genese wie die ausdrückliche Erwähnung eigener Interessen in Art. 3 Abs. 5 EU könnten den Verdacht nähren, dass die Werte des Lissabon-Vertrags einen imperialen westlichen Geltungsanspruch verfolgen, dessen Behauptung als universelle Werte zu Recht kritisiert worden ist62. Gegen den Kampf der Kulturen hat Dieter Senghaas eine andere Deutung vorgeschlagen: auch die europäischen Werte sind das Ergebnis eines schmerzlichen Prozesses, dessen Ergebnis der Modernisierung unumkehrbar ist, deren Entwicklungsmöglichkeit aber nicht einer europäischen Werte-Deutungshoheit unterliegt. Es spricht einiges dafür, eine Differenzierung als Ausdruck eines Modernisierungsprozesses der Gesellschaft zu sehen, ohne dass damit eine Verabsolutierung eines Wertes verbunden wäre. Vielmehr kommt es auf die Zuordnung an, die die gleichzeitige Differenzierung einer Gesellschaft voraussetzt63. Es handelt sich dann aber bei der Werteentfaltung zunächst um Binnenprozesse und nicht um Prozesse, die von außen gewaltsam importiert werden, sondern für die nur Lösungsmöglichkeiten angeboten werden können.

60 Wallerstein, Immanuel, Die Barbarei der anderen – Europäischer Universalismus, 2. Aufl., Berlin 2010; Meyer, John W. Die Europäische Union und die Globalisierung der Kultur; in: ders. Weltkulturen – Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt/M. 2005, S. 163 ff. 61 Sen, Amartya, Identity and Violence, 2006, dt.: Die Identitätsfalle – Warum es keinen Kampf der Kulturen gibt, München 2010. 62 Leino, Päivi, European Universalism? The EU and Human Rights Conditionality, Yearbook of European Law 2001, S. 330 ff. (383); Menndez, Augustn Jos, The European Democratic Challenge: The Forging of a Supranatioal Volont Gnrale, European Law Journal 2009, S. 277 ff. 63 Senghaas, Dieter , Zivilisierung wider Willen, Frankfurt/M. 1998 gegen Huntington, Samuel, Kampf der Kulturen, Hamburg 1996.

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Die Frage wäre daher, ob die europäische Integration für solche Binnenprozesse selbst exemplarisch64 oder ein Sonderweg wäre. Bei der Beurteilung der dabei zu berücksichtigenden Werte gibt es Unterschiede zwischen einer europäischen und amerikanischen Lesart65, die es daher bereits verbieten, die eigene Lösung für die einzig richtige zu halten. Wenn man die europäischen Werte in dieser Perspektive als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses sieht, der selbst nicht frei von gewaltsamen Brüchen ist66, würde dies bedeuten, in den Außenbeziehungen offen für entsprechende Entwicklungen und die Förderung ihrer Kompatibilität zu sein. Die eigene Entfaltung eines Wertekanons bei den jeweiligen Entwicklungsprozessen anderer Gesellschaften wäre daher kein Widerspruch zur europäischen Entwicklung und ihren Werten, sondern würde lediglich deren institutionell differenziertes Handlungssystem und den dadurch ermöglichten und dafür erforderlichen Wertebezug erfordern. In diesem gemeinsamen Rahmen wäre der Zusammenhang mit Europa universell und konkret vor allem in der geographischen und wirtschaftlichen Nähe. Dieser Zusammenhang wäre keine Frage der nationalen Identität, sondern der jeweiligen Zuordnung der eigenen Werte unter einem universellen Zusammenhang. Das würde allerdings voraussetzen, Begriffe von Inklusion und Exklusion67 durch den der Transklusion68 auch der Werte zu ersetzen, um zu verdeutlichen, dass es nicht um die Maßstäblichkeit eines einzigen Wertesystems, sondern die Vereinbarkeit unterschiedlicher Wertesysteme unter einem und ihrem kommunikativen Zusammenhang und damit die Anerkennung von dessen Wert ginge, und um damit tatsächlich in der Gegenwart einer Weltgesellschaft anzukommen69, zu deren kulturellen Wandel die EU als ein wertefundiertes institutionelles Handlungssystem durch ihre beispielhafte und wirksame Praxis entscheidend beitragen könnte.

64 Meyer, John W. Die Europäische Union und die Globalisierung der Kultur; in: ders., Weltkulturen – Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt/M. 2005, S. 163 ff. 65 Rifkin, Jerome, Der Europäische Traum – Die Vision einer leisen Supermacht, Frankfurt/ M. 2004 gegen Kagan, Robert, Macht und Ohnmacht – Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin 2003, S. 85. 66 Senghaas (Fn. 63). 67 Luhmann, Niklas, Inklusion und Exklusion, in: ders.: Soziologische Aufklärung, 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S. 237 – 264. 68 Zu diesem Begriff aus der elektronischen Textverarbeitung erstmals Nelson, Ted, Literary Machines: The report on, and of, Project Xanadu concerning word processing, electronic publishing, hypertext, thinkertoys, tomorrows intellectual revolution, and certain other topics including knowledge, education and freedom (1981), 9. Aufl., Sausalito / Kalifornien 1993. 69 Dazu Schlink, Bernhard, „Das Moralische versteht sich von selbst“, Merkur, Juli 2007 Heft 723, S. 33 ff.

Das deutsche öffentliche Recht im europäischen Rechtsraum Überlegungen zur disziplinären Fortentwicklung Von Armin von Bogdandy*, Heidelberg Wie wenige andere hat Rainer Wahl die Reflexion über den Prozess der Europäisierung des öffentlichen Rechts als akademische Disziplin in Deutschland angestoßen und angeleitet.1 Die nachfolgenden Überlegungen nehmen diese Anregungen auf und versuchen sie weiterzuführen, ganz im Sinne der von Rainer Wahl vorgeführten kritischen Offenheit. Im ersten Teil spürt dieser Beitrag einigen Faktoren nach, welche die bisherige Art und Weise rechtswissenschaftlicher Forschung unter Druck setzen, namentlich der europäische Forschungsraum, der europäische Rechtsraum und die Konkurrenz amerikanischer Universitäten. Der zweite Teil thematisiert Momente einer Antwort auf diese Herausforderungen: eine verstärkte Rechtsvergleichung, die Überwindung des methodischen Nationalismus und eine fortentwickelte Identität für die Disziplin des öffentlichen Rechts. I. Zu der Herausforderung 1. Der europäische Forschungsraum Eine erste Herausforderung für die überkommene Forschung zum öffentlichen Recht resultiert aus dem in Art. 179 Abs. 1 AEUV niedergelegten Projekt, einen europäischen Forschungsraum zu schaffen.2 Er soll nicht nur die Natur- und Lebenswissenschaften, sondern zudem die Sozial- und Geisteswissenschaften und damit die Rechtswissenschaft umfassen. Ziel ist, die Forschung durch neue Möglichkeiten und verstärkten Wettbewerb zu verbessern. Insoweit bestehen durchaus Parallelen

* Matthias Kottmann danke ich für wertvolle Kritik und Hilfe bei der Fertigstellung des wissenschaftlichen Apparats. 1 Die Summe bildet Rainer Wahl, Herausforderungen und Antworten – Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006; weiter etwa ders., Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, JZ 2005, 916; ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003. 2 Dazu lvaro de Elera, The European Research Area: On the Way Towards a European Scientific Community?, ELJ 12 (2006), 559; Joseph Franz Lindner, Die Europäisierung des Wissenschaftsrechts, WissR, Beiheft 19, 2009, 1, 7 ff.

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zum Binnenmarktprogramm von 19853. Letzteres verdankte sich maßgeblich der politischen Wahrnehmung allzu sklerotischer Volkswirtschaften, die als schlecht gerüstet galten, dem zunehmenden globalen Wettbewerb mit den USA und Fernost standzuhalten. Die Regierungen der Mitgliedstaaten nutzten die damalige EWG, um ein fundamentales Reformprogramm durchzuführen, das mit ähnlicher Tiefenwirkung durch allein staatliche Maßnahmen kaum je hätte erreicht werden können. Die europäische Reform der mitgliedstaatlichen Wissenschaftssysteme setzt ein mit den Beschlüssen des Europäischen Rates von Lissabon (2000) und von Barcelona (2002). Ihnen gingen zahlreiche Studien voraus, die kein gutes Bild der europäischen Wissenschaftslandschaft ergaben, insbesondere im Vergleich zu den Vereinigten Staaten. Nach dem ersten Gipfel sollte (was nicht gelang) die Europäische Union bis zum Jahre 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ werden.4 In Barcelona entschieden dann die Staats- und Regierungschefs, zur Erreichung dieses Ziels ihre Gesamtforschungsausgaben auf 3 % des BIP zu steigern.5 Zudem sollte ein europäischer Forschungsraum (European Research Area, ERA), gerade in der Grundlagenforschung, entstehen. Eine wichtige Frucht dieser Bemühungen ist der Europäische Forschungsrat, der 2007 seine Arbeit aufgenommen hat.6 Er hat sich bereits überaus erfolgreich positioniert: Die Erfolgsquote bei seinen Programmen ist das vielleicht sichtbarste Instrument des innereuropäischen Vergleichs in puncto Attraktivität und Leistungsfähigkeit der mitgliedstaatlichen wissenschaftlichen Einrichtungen. Seine erfolgreichen ersten Schritte waren daher Anlass für den deutschen Wissenschaftsrat, eine Empfehlung zur Neuorientierung der deutschen Wissenschaft im Lichte des Europäischen Forschungsraums zu erarbeiten, die auch für die Rechtswissenschaft eine Reihe von Aussagen enthält.7 Gerade für die deutsche Rechtswissenschaft besteht ein erheblicher Anpassungsdruck. Der europäische Forschungsraum bedeutet nicht allein mehr Kontakte. Es geht auch nicht allein um mehr Wettbewerb. Die Grundverfassung des bisherigen Wissenschaftsbetriebs steht zur Prüfung an. Die Schaffung eines neuen Raumes stellt etablierte Forschungsgegenstände und überkommene Methoden, Publikations- und Karrieremuster, Reputationshierarchien und nicht zuletzt Identitäten in Frage. Dies ist gerade der Fall für die Wissenschaft vom öffentlichen Recht, die sich ganz überwiegend in Bezug auf ein spezifisches Staatswesen ausgeprägt hat. 3 Weißbuch Vollendung des Binnenmarktes vom 14. 6. 1985, KOM (85) 319 endg.; dazu Roland Bieber/Renaud Dehousse/John Pinder/Joseph Weiler (Hg.), 1992: One European Market?, 1988. 4 Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Lissabon), 23. und 24. März 2000 (SN 100/1/00 REV 1), Nr. 5. 5 Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Barcelona), 15. und 16. März 2002 (SN 100/1/02 REV. 1), Nr. 47. 6 Beschluss 2007/134/EG der Kommission vom 2. 2. 2007, ABl. L 57 vom 24. 2. 2007, S. 14; dazu Thomas Groß, Der Europäische Forschungsrat, EuR 2010, 299. 7 Wissenschaftsrat (Hg.), Empfehlungen zur deutschen Wissenschaftspolitik im Europäischen Forschungsraum, Juli 2010, Drs. 9866 – 10.

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Gewiss steht die Rechtswissenschaft damit nicht allein. Die weltumspannende Gemeinschaft des Wissens ruht bislang insgesamt auf einem nationalen Sockel. Der Wissenschaftsbetrieb, wie wir ihn heute kennen, bildete sich im 19. und 20. Jahrhundert als nationale Veranstaltung, ja als Veranstaltung des Nationalstaats aus. Die Wissenschaftler waren zumeist Staatsdiener, ihr Nachwuchs – insbesondere in staatstragenden Bereichen wie Recht oder Theologie – wurde staatlich examiniert. Der Nationalstaat finanzierte die Wissenschaften zwecks effektiver Verwaltung, nationalen Ruhmes und volkswirtschaftlicher Gewinne. Folgsam organisierten sich die Wissenschaften in nationalen Vereinigungen, pflegten nationale Publikationsorgane, trugen in der Landessprache eine nationale wissenschaftliche Öffentlichkeit. Gewiss gab es stets mehr oder weniger intensive internationale Kontakte. Doch diese Kontakte ruhten auf einer nationalen Basis, die weitgehend über Ausrichtung und Stil, Medien und Mittel, Karriere und Reputation entschied. Unter der Käseglocke des Nationalstaats entwickelten die nationalen Wissenschaften markant eigene Duftnoten. Derartige Duftnoten finden sich besonders ausgeprägt in den öffentlichrechtlichen Fächern als Teil bisweilen eigenwilliger Geisteswissenschaften und sind nicht selten Instrument der nationalstaatlichen Ideologie. Dies zeigen so unterschiedliche Systembegriffe wie Staatssouveränität, service public oder parliamentary sovereignty, aber auch kaum übersetzbare Schlüsselbegriffe wie indirizzo politico, betreffend die italienische Frage nach politischer Führung,8 oder desconstitucionalizacin,9 betreffend die spanische Frage nach der territorialen Ordnung. Wenn die Prämisse zutrifft, auf der Art. 4 Abs. 2 EUV ruht, so bildet das staatliche Verfassungsrecht gar einen Hort der nationalen Identität,10 dem seine Wissenschaft sich oft verpflichtet fühlt. Da Identität immer ein Moment der Besonderheit einschließt, liegen entsprechende wissenschaftliche Differenzen nahe. Die gegenwärtige Verfassungsrechtswissenschaft wie die nationale Unionsrechtswissenschaft sind in Deutschland ohne den Begriff der Staatssouveränität, ohne den staatsrechtlichen Positivismus und den Weimarer Methodenstreit,11 die in England ohne Dicey und die parliamentary sovereignty,12 die in Frankreich ohne die Auseinandersetzung mit dem deutschen Po-

8 Mario Dogliani/Cesare Pinelli, Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts in Italien, in: Armin von Bogdandy/Pedro Cruz Villaln/Peter Huber (Hg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum (IPE) I, 2007, § 5 Rn. 97, 122, 126; Maurizio Fioravanti, Wissenschaft vom Verfassungsrecht in Italien, in: IPE II, 2007, § 31 Rn. 29. 9 Dekonstitutionalisierung, Manuel Medina Guerrero, Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts in Spanien, in: IPE I (Fn. 8) § 11 Rn. 19. 10 Näher M. Hilf, Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, in: Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, 157. So ausdrücklich auch BVerfGE 123, 267, 400 – Lissabon. 11 Walter Pauly, Wissenschaft vom Verfassungsrecht in Deutschland, in: IPE II (Fn. 8), § 27 Rn. 6 ff. 12 Adam Tomkins, Wissenschaft vom Verfassungsrecht in Großbritannien, ibid., § 30 Rn. 5 ff.

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sitivismus und später mit der Science politique,13 die in Ungarn oder Polen ohne die sozialistische Rechtswissenschaft nicht recht zu begreifen.14 In den Verwaltungsrechtswissenschaften sind solche Besonderheiten vielleicht noch stärker als in den Verfassungsrechtswissenschaften ausgeprägt. Die Terminologie des Verfassungsrechts (z. B. Demokratie, Gewaltenteilung oder Rechtsstaat) ist tendenziell rechtsordnungsübergreifend15, und die Gedanken sind oft in universelle theoretische Diskurse eingebettet. Hingegen haben sich die jeweiligen nationalen Entwicklungspfade im Verwaltungsrecht stärker in eigensinnigen Figuren niedergeschlagen. Entstehungskontexte und Grundkoordinaten weisen markante Unterschiede auf. So entwickelt sich in Frankreich das Verwaltungsrecht als öffentlich-rechtliche Königsdisziplin,16 in Deutschland hingegen im Kielwasser des Staatsrechts, die polnische Verwaltungsrechtswissenschaft blüht als Teil nationaler Identität sogar im Widerstand gegen die Besatzer,17 die Schweizer Verwaltungsrechtswissenschaft adaptiert die Kategorien des deutschen obrigkeitsstaatlichen Verwaltungsrechts für eine bürgerschaftliche Milizverwaltung.18 Dies sind nur einige Beispiele für die zahlreichen Unterschiede, die das Selbstverständnis der Akteure ebenso wie ihre wissenschaftlichen Konstrukte bis heute prägen. Diese Unterschiede in einem europäischen Forschungsraum konstruktiv und weiterführend zu verknüpfen, birgt erhebliche Herausforderungen. Es ist keineswegs gesichert, dass der Druck, den der europäische Forschungsraum erzeugt, zu positiven Entwicklungen führt. Ziemlich sicher ist jedoch, dass ein Ignorieren dieses politischen Projekts kein empfehlenswerter Umgang ist.

2. Der europäische Rechtsraum Eine zweite Herausforderung ergibt sich aus der raschen Entwicklung des europäischen Rechtsraums, der zahlreiche verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte 13

Luc Heuschling, Wissenschaft vom Verfassungsrecht in Frankreich, ibid., § 28 Rn. 16 ff. Andrs Jakab, Wissenschaft vom Verfassungsrecht in Ungarn, ibid., § 38 Rn. 11 ff.; Irena Lipowicz, Wissenschaft vom Verfassungsrecht in Polen, ibid., § 34 Rn. 24 ff. 15 Ausführlich Diana Zacharias, Verfassungsrechtliche Terminologie und Begrifflichkeit im europäischen Rechtsraum, ibid., § 40 Rn. 9 ff. 16 Heuschling (Fn. 13), § 28 Rn. 24. 17 Andrzej Wasilewski, Wissenschaft vom Verwaltungsrecht in Polen, in: IPE IV, erscheint 2011, § 64 Rn. 21 ff. 18 Natürlich ist die Schweiz kein Mitgliedstaat der Europäischen Union; sie nimmt aber an den Programmen des Europäischen Forschungsraums teil (Art. 2 des Abkommens über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit zwischen der EG und der EAG einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits vom 20. 7. 2007, ABl. L 32 vom 5. 2. 2004, S. 22). Auch ist sie auf vielfache Weise mit dem europäischen Rechtsraum verbunden; dazu Helen Keller, Offene Staatlichkeit in der Schweiz, in: IPE II (Fn. 8), § 23, Rn. 10 ff. Aufgrund ihres spezifischen Entwicklungspfads birgt sie im öffentlichen Recht großes Reflexionspotenzial; zur Rolle der Milizverwaltung Pierre Tschannen, Wissenschaft vom Verwaltungsrecht in der Schweiz, in: IPE IV (Fn. 17), § 67 Rn. 5. 14

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aufweist. Rainer Wahl war einer der ersten, die die Europäisierung als grundlegendes Phänomen erkannt und thematisiert haben,19 und er gehört zu den ersten, die dann die Erschöpfung dieser Kategorie erkannten.20 Um die Herausforderung heute zu konzeptionalisieren, bietet sich der Begriff des europäischen Rechtsraums an, der über den Begriff der Europäisierung weit hinaus geht. Die an Art. 3 Abs. 2 EUV anknüpfende Begrifflichkeit erscheint mir aus mehreren Gründen besonders leistungsfähig.21 Der Singular zeigt an, dass es um ein neues Ganzes geht, welches das Bisherige, die einzelnen Nationalstaaten, transzendiert. Zugleich vermeidet der Begriff sowohl eine föderale als auch eine rein völkerrechtliche Deutung dieses neuen Ganzen und so eine Positionierung in der ältesten und prinzipiellsten Kontroverse der europäischen Integration. Vielmehr eröffnet er eine für beide Verständnisse akzeptable und tragfähige Basis, um das neue Ganze zu erfassen. Darin ähnelt er dem Schlüsselbegriff der Staatssouveränität im 19. Jahrhunderts. Damals war streitig, bei wem die Souveränität liege, beim Monarchen oder beim Volk. Der Begriff der Staatssouveränität bot für beide Seiten einen tragfägigen Kompromiss.22 Zudem ist dem Begriff des europäischen Rechtsraums eine Dimension unmittelbarer Anschaulichkeit zu Eigen, nachvollziehbar für jeden Bürger, der sich innerhalb der Europäischen Union bewegt – anders als Leitbegriffe wie „Verbund“, „Mehrebenensystem“ oder „Netzwerk“.23 Grundlage des europäischen Rechtsraums ist das durch die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen definierte Territorium der Europäischen Union. Dabei ist ihm die Kombination von Staatlichem und Supranationalem wesentlich. Kern des Begriffs ist die Feststellung, dass die rechtliche Organisation dieses Territoriums ebenso durch mitgliedstaatliche wie unionale Normen erfolgt, um die Ziele des EU-Vertrags im Rahmen einer neuen politischen und rechtlichen Einheit zu verwirklichen. Entsprechend mutieren der einsilbige Staat zum Mitgliedstaat,24 die Staatsverwaltung zum Glied einer Verbundverwaltung, die staatliche Rechtsordnung zur Teilrechtsord19

Zusammenfassend Wahl (Fn. 1). Rainer Wahl, Europäisierung: Die miteinander verbundene Entwicklung von Rechtsordnungen als ganzen, in: Hans-Heinrich Trute/Thomas Groß/Hans Christian Röhl/Christoph Möllers (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, 869, 897. 21 Art. 3 Abs. 2 EUV: „Die Union bietet […] einen Raum […] des Rechts […]“. Der Raumbegriff taucht in zahlreichen weiteren Schlüsselbestimmungen auf, so zunächst bei der Definition des Binnenmarkts in der Einheitlichen Europäischen Akte, nunmehr Art. 26 Abs. 2 AEUV. Weiter ist auf Art. 8 Abs. 1 EUV sowie Art. 67 Abs. 1 und 179 Abs. 1 AEUV hinzuweisen. Zum Begriff Mario P. Chiti, Diritto amministrativo europeo, 3. Aufl. 2008, 91 f.; Jörg Monar, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, 749, 757. 22 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, 106 ff. 23 Zu diesen Begriffen Thomas von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, 611 f.; Claudio Franchini, Les notions dadministration indirecte et de coadministration, in: JeanBernard Auby/Jacqueline Dutheil de la Rochre (Hg.), Droit Administratif Europen, 2007, 245, 252 ff.; Herwig C. H. Hofmann/Alexander H. Türk, Conclusions: Europes integrated administration, in: dies. (Hg.), EU Administrative Governance, 2006, 573, 583. 24 Günter Frankenberg, Staatstechnik, 2010, 61 ff.; Wahl (Fn. 20), 877. 20

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nung.25 Anders als im globalen und völkerrechtlichen Zusammenhang sind die, auch sinnlich wahrnehmbare, Abschaffung innerer Grenzen und eine gemeinsame Definition, eine gemeinsame Abgrenzung gegenüber anderen Räumen, begriffsbestimmend. Der öffentlichrechtliche Aspekt des europäischen Rechtsraums lässt sich als das neue Ius Publicum Europaeum bezeichnen.26 Die Dogmatik einer Teilrechtsordnung dieses Rechtsraums ist notwendigerweise im größeren Kontext neu auszurichten. 3. Amerikanische Universitäten Eine dritte Herausforderung resultiert aus der Attraktivität führender US-amerikanischer Institutionen.27 Die Entgrenzung und Bildung von neuen Räumen erfolgt zumeist nach den Regeln des stärksten Systems. So, wie der europäische Währungsraum maßgeblich nach deutschen Vorstellungen und dem Beispiel der Mark entstand, so formt sich der europäische Wissenschaftsraum nach den Regeln der angelsächsischen Wissenschaftswelt. Gewiß birgt das für die deutsche Rechtswissenschaft Mühe und Kosten. Eine erste Regel etwa lautet: Englisch ist die maßgebliche Sprache. Gleichwohl sollten die vielfältigen Chancen gesehen und genutzt werden, die ein europäischer und international eng eingebundener Wissenschaftsraum nach den Regeln der angelsächsischen Wissenschaftswelt bietet. Es gilt die aus der Ökonomie bekannte Einsicht, dass weltweite Spezialisierung und Wettbewerb grundsätzlich segensreich sind. Auch bedeutet dieses Modell keineswegs eine US-Hegemonie. Es gibt viele wissenschaftliche Zentren außerhalb der Vereinigten Staaten. Einige Länder – vor allem Skandinavien, die Niederlande und die Schweiz – haben wichtige Teile ihres Wissenschaftssystems entsprechend umgestellt und erscheinen im globalen Wissenschaftsbetrieb nach Maßstab der citation indexes sogar erfolgreicher als die in den Vereinigten Staaten und Großbritannien organisierte Forschung. Insgesamt dürfte die kontinentale Wissenschaft vom diskursiveren angelsächsischen Stil profitieren. Gleichwohl verlangt diese Entwicklung für den deutschen, französischen, spanischen oder italienischen Wissenschaftsbetrieb ein Umdenken. So wird es notwendig 25 Näher Christoph Schönberger, Verfassungsvergleichung heute: Der schwierige Abschied vom ptolemäischen Weltbild, VRÜ 43 (2010), 6. 26 Der Begriff des ius publicum europaeum ist aus seiner Schmittianischen Engführung zu befreien, vgl. nur C. Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, 1950; Pier. P. Portinaro, La crisi dello jus publicum europaeum. Saggio su Carl Schmitt, 1982, 11 und passim. Zu seiner Verankerung vgl. nur Joachim Hagemeier, Iuris publici Europaei, Bd. 1 De trium Regnorum septentrionalium Daniae, Norwegiae et Sveciae statu, 1677, Bd. 2 De statu Galliae, 1678, Bd. 3 De statu Angliae, Scotiae et Hiberniae, 1678, Bd. 4 De statu Imperii Germanici, 1678, Bd. 5 De statu provinciarum Belgicarum, 1679, Bd. 6 De statu Italiae, 1680, Bd. 7 De statu regnorum Hungariae et Bohemiae, 1680, Bd. 8 De statu regni Poloniae et imperii Moscovitici, 1680. 27 Zur Vorbildfunktion eindringlich Oliver Lepsius, Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen?, Die Verwaltung, Beiheft 7: Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, 319, 348 ff.

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sein, die knappen Ressourcen auf wenige Forschungseinrichtungen zu konzentrieren; die deutsche Exzellenzinitiative kann durchaus in diesem Licht verstanden werden.28 Denn Entgrenzung erleichtert die Migration; internationale Attraktivität ist teuer. Die weitere Erosion von Gleichheitspostulaten zwischen wissenschaftlichen Institutionen und Wissenschaftlern wird schmerzhaft sein und harte Verteilungskämpfe mit sich bringen. Und ähnlich wie in den USA und dem Vereinigten Königreich dürfte sich das Heranziehen des wissenschaftlichen Nachwuchses auf eine Handvoll Institutionen beschränken. Mit diesen Feststellungen wird nicht bestritten, dass die prinzipielle Gleichheit der öffentlichen Forschungseinrichtungen, von der man in der Bundesrepublik bis vor wenigen Jahren ausging, einen hohen, nicht nur wissenschaftspolitischen Wert hatte. Doch dieses Postulat ist nun gefallen. Ungeachtet aller Chancen, die sich im europäischen Forschungsraum bieten, ist die Herausforderung durch die führenden amerikanischen Law Schools gewaltig. Das liegt auch daran, dass die Forschung in diesen Institutionen, so unterschiedlich sie sich im Einzelnen auch darstellt, doch regelmäßig mit der „normalen“ dogmatischen Forschung in Europa kontrastiert.29 Die Rolle, die im kontinentaleuropäischen rechtswissenschaftlichen Diskurs die Dogmatik hat, wird im amerikanischen Diskurs am ehesten durch die Economic Analysis of Law wahrgenommen.30 Die praxisgerechte Aufbereitung des geltenden Rechts wird weitgehend den Verlagsjuristen überlassen, die die Datenbanken pflegen; die großen Rechtswissenschaftler sind eher public intellectuals.31 In einem globalisierten System der Rechtswissenschaft ist der überkommene Modus dogmatischer Wissenschaft daher zu überdenken. Wohlgemerkt: Es kann nicht darum gehen, amerikanische Forschung zu kopieren, denn Kopie ist niemals Spitzenforschung. Es gilt vielmehr, Wege der Öffnung zu finden, ohne auf die vielfachen Leistungen einer differenzierten Rechtsdogmatik zu verzichten. II. Was tun? 1. Rechtsvergleichung Dieser Befund und die mit ihm zusammenhängende Entwicklung verlangen nach wissenschaftlicher Orientierung und Neuvermessung zentraler Begriffe, Forschungsziele und Methoden in vergleichender Perspektive. Dafür ist eine Reflexion der Ent28

Dazu Michael Hartmann, Die Exzellenzinitiative – ein Paradigmenwechsel in der deutschen Hochschulpolitik, Leviathan 34 (2006), 447. 29 Näher Michel Rosenfeld, The role of constitutional scholarship in comparative perspective, Intl J Constitutional Law 7 (2009), 362; Matthias Kumm, On the past and future of European constitutional scholarship, ibid., 401; Alexander Somek, The indelible science of law, ibid., 424; Giulio Napolitano, Sul futuro delle scienze del diritto pubblico,Rivista trimestrale di diritto pubblico 2010, 1: die besten Rechtswissenschaftler schreiben nicht zum geltenden Recht und sind public intellectuals. 30 Robert C. Post, Constitutional scholarship in the United States, Intl J Constitutional Law 7 (2009), 416, 421. 31 So zuspitzend Lepsius (Fn. 27), S. 340 f.

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wicklungspfade der erfassten Staaten und Rechtsordnungen unverzichtbar.32 Eine der wissenschaftlichen Herausforderungen des europäischen Rechtsraums besteht darin, mitgliedstaatliche Ereignisse und Erzählungen in seiner Perspektive neu zu ordnen und damit auch für die dogmatische und anwendungsbezogene Rechtswissenschaft eine den veränderten Gegebenheiten angemessene Orientierung zu entfalten. Daneben sind die einzelnen (Teil-)Rechtsordnungen in ein „Gespräch“ zu bringen, das Identität und Differenz zugleich sucht,33 um auf dieser Erkenntnisgrundlage den gemeinsamen Rechtsraum zu verstehen und zu gestalten. In diesem Sinne geht es um ein neues Ius Publicum Europaeum als der öffentlichrechtliche Aspekt eines Rechtsraums, den das Recht der Europäischen Union und das ihrer Mitgliedstaaten gemeinsam bilden. Die Qualität dieses Ius Publicum hängt davon ab, dass Wissenschaftler wie Praktiker ein Verständnis für das Recht anderer Staaten entwickeln. Sie sollten auf der Grundlage gemeinsamer Fertigkeiten, Kenntnisse und Wertvorstellungen operieren. Sie sollten in der Perspektive des europäischen Rechtsraums ihren jeweiligen öffentlichrechtlichen Acquis neu justieren und fortentwickeln. Rechtsvergleichung im Lichte des europäischen Rechtsraums ist der Beruf der Zeit. Die Rechtsvergleichung erschließt die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und so auch eine Quelle des Unionsrechts. Oft ist nur mittels Rechtsvergleichung das Regelungsmodell eines europäischen Rechtsaktes oder die Entscheidung eines europäischen Gerichts zu durchdringen und die angestoßene Transformation des nationalen Rechts zu begreifen. Rechtsvergleichung und Kenntnisse anderer Systeme des öffentlichen Rechts können den europäisch wie zwischenstaatlich agierenden Beamten helfen, die Positionen der Kollegen zu verstehen und die eigene Argumentationslinie abzustimmen und anzureichern. Ähnliches gilt für die sich intensivierende Begegnung von Rechtswissenschaftlern im europäischen rechtswissenschaftlichen Raum, auf Tagungen, am Schreibtisch, und zwar keineswegs allein bei „europabezogenen“ Themen. Es wird immer mehr zum Standard guter rechtswissenschaftlicher Forschung, selbst eine rein innerstaatliche Fragestellung in einer europäischen Perspektive und aus fremden Lehren schöpfend neu zu entfalten. Allerdings ist ausländisches Recht fremd. Rechtsquellen und Rechtserkenntnisquellen sind nicht leicht zu erschließen. Oft ist die Terminologie anders. Aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungspfade können dieselben Worte bzw. ihre sprachlichen Äquivalente divergierende Begriffe tragen. Diese sind nicht einfach zu ermitteln, da Rechtsbegriffe ihren vollen Gehalt erst im Zusammenhang mit anderen 32

Wahl, Herausforderungen und Antworten (Fn. 1), 12 ff.; Jo Kushal Murkens, The Future of Staatsrecht, MLR 70 (2007), 731. 33 Näher Rainer Wahl, Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung, in: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (Fn. 1), 96; Susana de la Sierra, Una metodologa para el Derecho Comparado europeo. Derecho Pfflblico Comparado y Derecho Administrativo Europeo, 2004, 67 ff.

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Rechtsbegriffen und aus der praktischen Handhabung erhalten. Die Pluralität im europäischen Rechtsraum im Allgemeinen sowie die in Art. 4 Abs. 2 EUV anerkannte expressive, die nationale Identität aufzeigende Rolle der mitgliedstaatlichen Verfassungen im Besonderen verlangen, fremdes Recht als fremdes zu akzeptieren und der Neigung entgegenzuwirken, sprachlichen Assonanzen unbeschwert nachzugeben. Es gilt, die Grundlagen anderer europäischer Rechtsordnungen, insbesondere prägende historische Erfahrungen, Entwicklungsstufen, systematische Grundlagen, juristische und rechtswissenschaftliche Stile in der Perspektive des sich bildenden europäischen Rechtsraums zu erschließen. 2. Methodische Europäisierung Die Gestaltung des europäischen Rechtsraums ist nicht nur eine Aufgabe der Politik, sondern gerade auch der Rechtswissenschaft, welche die Rechtsentwicklung durch Politik und Rechtsprechung vordenken und kritisch begleiten sollte. Es ist daher heute unerlässlich, diesen europäischen Rechtsraum allen Juristen so vor Augen zu führen, dass sie ihn als relevanten Kontext ihrer Arbeit sehen, ihre Rolle und ihre Verantwortung dafür begreifen und entsprechend ihre Entscheidungen und Begründungen ausrichten. Dabei können zwei Reflexionsmodi helfen, die als das Verallgemeinerungs- und das Gestaltungsprinzip bezeichnet seien: Sie können die Rechtswissenschaft, aber auch Rechtsetzung und richterliche Rechtsfortbildung, im europäischen Rechtsraum anleiten. Diese Prinzipien sind nicht allein rechtspolitischer Natur, sondern können im Rahmen von Folgeerwägungen Einfluss auf die teleologische Auslegung des geltenden Rechts nehmen.34 Dies ist heute ein methodischer Standard. Das Verallgemeinerungsprinzip: Ein herausragendes Kriterium bei der Entwicklung und Prüfung eines rechtlichen Gedankens ist dessen Verallgemeinerungsfähigkeit. Es findet moraltheoretisch seine paradigmatische Ausformulierung in Kants kategorischem Imperativ. Dieser verlangt: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“.35 Im juristischen Bereich ist entsprechend zu prüfen, wie eine dogmatische Figur, aber auch eine Rechtsfortbildung, auf weitere Konstellationen passt, ob sie auch dort plausible, überzeugende Ergebnisse produziert.36 Dies ist selbstverständliches, fest etabliertes methodisches Handwerkszeug eines jeden Juristen. Aber: Bislang ist der Bezugsrahmen 34 Gertrude Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen, 1981, 139 ff.; Georg Hermes, Folgenberücksichtigung in der Verwaltungspraxis und in einer wirkungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, 359; Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, 2006, 1, Rn. 32 ff. 35 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, Suhrkamp Werkausgabe Band VII, 51. 36 Lübbe-Wolff (Fn. 34), 156.

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dieses Prinzips der mitgliedstaatliche Kontext, soweit es um eine Rechtsfortbildung im mitgliedstaatlichen Recht geht. Hier sei die These vertreten, dass der europäische Rechtsraum heute auch bei der dogmatischen Durchdringung und Fortbildung mitgliedstaatlichen Rechts einen maßgeblichen Kontext der Verallgemeinerung bilden sollte. Rechtlich kann dies im Integrationsgebot des Grundgesetzes verankert werden.37 Die Verallgemeinerung im Rahmen des europäischen Rechtsraums stellt ein wichtiges Instrument dar, überzeugende von weniger überzeugenden dogmatischen Figuren und Fortentwicklungen zu unterscheiden. Das zweite Prinzip sei als Gestaltungsprinzip bezeichnet. Es verlangt, die mitgliedstaatliche Rechtsordnung stets auch aus einer Perspektive der Gestaltung des europäischen Rechtsraums zu konzipieren. Die Perspektive des Autonomieschutzes des mitgliedstaatlichen Rechtsraums ist dem nachzuordnen. Die gestaltungsorientierte und die schutzorientierte Perspektive sind unterschiedlich ausgerichtet: die erste proaktiv zupackend, die zweite reaktiv abwehrend. Reaktiv abwehrendes Vorgehen wird kaum helfen, die großen Aufgaben im europäischen Rechtsraum zu bewältigen. Zudem bringt es nationale Rechtsordnungen und Rechtswissenschaften in eine schwache Position. Sie werden kaum prägende Kraft im europäischen Rechtsraum entfalten. Ein gutes Beispiel für die Fruchtbarkeit dieser Prinzipien bildet die wissenschaftliche Debatte zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts.38 Die ihm zustimmenden Wissenschaftler39 betrachten die Frage nicht hinreichend im Kontext des europäischen Rechtsraums. Zieht man ihn in die Betrachtung ein, so sieht man, dass die Bundesrepublik zu einem Sonderfall unter den Mitgliedstaaten der EU zu werden droht, ähnlich Irland, Polen oder das Vereinigte Königreich. Will man für Deutschland keinen verfassungsrechtlichen Sonderstatus beanspruchen, dann müssen bei der rechtsfortbildenden Entwicklung neuer Maßstäbe und Verfahren für den innerstaatlichen Umgang mit dem Unionsrecht stets auch deren Verallgemeinerbarkeit für alle Mitgliedstaaten berücksichtigt werden. Jedes Land und jede mitgliedstaatliche Institution, und das umfasst die Rechtswissenschaft, sollte Verantwortung für die Entwicklung der EU übernehmen und sich nicht auf Positionen versteifen, die nicht verallgemeinerungsfähig sind. Der kategorische Imperativ entsprechender mitglied-

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Näher Peter Huber, Offene Staatlichkeit im Vergleich, in: IPE II (Fn. 8), § 26 Rn. 104 ff. BVerfGE 123, 267; Rainer Wahls Einschätzung dieses Urteils ist deutlich positiver als die meine, vgl. Rainer Wahl, Die Schwebelage im Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten, Der Staat 48 (2009), 587; zum Urteil aus der Fülle der Literatur etwa Matthias Kottmann/Christian Wohlfahrt, Der gespaltene Wächter?, ZaöRV 69 (2009), 443. 39 Neben Wahl (Fn. 38) etwa Klaus Gärditz/Christian Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen, JZ 64 (2009), 872; Dieter Grimm, Das Grundgesetz als Riegel vor einer Verstaatlichung der Europäischen Union, Der Staat 48 (2009), 475; Josef Isensee, Integrationswille und Integrationsresistenz des Grundgesetzes, ZRP 2010, 33; Frank Schorkopf, Die Europäische Union im Lot, EuZW 2009, 718. 38

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staatlicher Rechtsfortbildung lautet, stets nur so zu handeln, wie es sich zur allgemeinen Regel für alle Mitgliedstaaten eignet, ohne dass die EU Schaden nimmt.40 Zudem muss sich die mitgliedstaatliche wissenschaftliche Diskussion klar darüber werden, ob sie in der EU vor allem eine Chance für politische und rechtliche Gestaltung oder aber eine übermächtige Bedrohung sehen will. Wer die deutschen Debatten verfolgt hat, konnte den Eindruck gewinnen, es sei die vordringlichste, verfassungsrechtlich gebotene Aufgabe, bei laufenden Gesetzgebungsvorhaben der EU geeignete Systeme der „Frühwarnung“ zu errichten und darüber zu entscheiden, unter welchen Bedingungen neben dem Bundestag auch der Bundesrat ein „Notbremseverfahren“ aktivieren kann, um ein Vorhaben zum Halt zu bringen. Anstelle solcher Verhinderungsdiskurse wäre an die deutsche Rechtswissenschaft und -praxis die Erwartung zu richten, die europäische Gesetzgebung aktiv zu begleiten.41 Vorzugswürdig im Sinne des kategorischen Imperativs wären eine Prüfung von EU-Vorhaben am Maßstab der EU-Grundrechte und eine Beurteilung der möglichen Auswirkungen auf Europa insgesamt, auf alle Unionsbürger. Alle Akteure der Rechtsordnung, Wissenschaftler wie Praktiker, müssen den gesamten Raum in den Blick nehmen, sich also vom methodischen Nationalismus befreien, soll dieser Rechtsraum erfolgreich gestaltet werden. 3. Transformation der disziplinären Identität Methodisch kann als gemeineuropäischer Befund festgehalten werden: Praxisorientierte Dogmatik bildet die Pflicht und darüber hinausgehende Fragestellungen die Kür in der Wissenschaft vom öffentlichen Recht in Europa.42 Dies erscheint nur zukunftsträchtig, wenn die Kür, wie in jeder guten Vorstellung, als unerlässlich begriffen wird. Aldo Sandulli etwa zeigt anschaulich, dass die italienische Verwaltungsrechtswissenschaft der juristischen Methode nicht nur ihre Bedeutung, sondern auch ihren Niedergang in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts verdankt. Sie vermochte neue Fragestellungen, Methoden und Wissensbestände kaum zu integrieren, so dass

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Idee und Formulierung von Jürgen Bast. In diesem Sinne das lettische Verfassungsgericht zum Vertrag von Lissabon, Rs. No. 2008-35-01, Urteil vom 7. April 2009, Rn. 17. 42 Hierzu ausführlich Patrice Chrtien, Wissenschaft vom Verwaltungsrecht in Frankreich, in: IPE IV (Fn. 17), § 61 Rn. 38; Gunilla Edelstam, Wissenschaft vom Verwaltungsrecht in Schweden, ibid., § 66 Rn. 51 f.; Mariano Garca-Pechun, Wissenschaft vom Verfassungsrecht in Spanien, in: IPE II (Fn. 8), § 37 Rn. 21 f.; Heuschling (Fn. 13), Rn. 46; Jakab (Fn. 14), Rn. 21 ff.; Barbara Leitl-Staudinger, Wissenschaft vom Verwaltungsrecht in Österreich, in: IPE IV (Fn. 17), § 64 Rn. 40 ff.; Pauly (Fn. 11), Rn. 14; ders., Wissenschaft vom Verwaltungsrecht in Deutschland, in: IPE IV (Fn. 17), § 60 Rn. 18 ff.; Christos Pilafas, Wissenschaft vom Verfassungsrecht in Griechenland, in: IPE II (Fn. 8), § 29 Rn. 15 ff.; Aldo Sandulli, Wissenschaft vom Verwaltungsrecht in Italien, in: IPE IV (Fn. 17), § 63 Rn. 83 ff.; Alexander Somek, Wissenschaft vom Verfassungsrecht in Österreich, in: IPE II (Fn. 8), § 33 Rn. 24 ff.; Adam Tomkins, Wissenschaft vom Verfassungsrecht in Großbritannien, ibid., § 30 Rn. 34 f.; Tschannen (Fn. 18), Rn. 17. 41

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sie ihre Leitfunktion zunehmend verlor.43 Sabino Cassese brachte in diesen Forschungskontext durch die intensive Rezeption angloamerikanischer Rechtswissenschaft und deutscher Organisationssoziologie ab den siebziger Jahren einen belebenden Innovationsschub ein. In eine ähnliche Richtung weisen bereits zu jener Zeit Arbeiten von Rainer Wahl;44 in der Breite erfolgte diese Öffnung in Deutschland ab den neunziger Jahren insbesondere dank Wolfgang Hoffmann-Riem und Eberhard Schmidt-Aßmann.45 Für den Erfolg dieser Weiterung ist es entscheidend, sie disziplinintern zu etablieren, ohne dabei die dogmatische Arbeit zu beschädigen. Für die Sichtbarkeit einer Wissenschaft des öffentlichen Rechts im europäischen Rechtsraum wird es vor allem auf grundbegrifflich ausgerichtete dogmatische Arbeit sowie die interdisziplinär und theoretisch ausgerichtete Forschung ankommen. Anwendungsorientierte dogmatische Beiträge zu Einzelfragen insbesondere des mitgliedstaatlichen Rechts, das Gros der rechtswissenschaftlichen Arbeit, sind hingegen in der Regel eng mit dem spezifischen nationalen Rechtsmaterial verwoben und daher weit schwerer zu rezipieren. Neben der dogmatischen Betrachtungsweise bedarf es wirkungsorientierter, aufgabenbezogener und nicht zuletzt kritischer Betrachtungsweisen des öffentlichen Rechts, die nicht nur mit technisch-juristischer Begrifflichkeit, sondern auch mit Skalierungen, Leitbildern, Typologien sowie einer Vielzahl von Methoden und Interessen arbeiten. Diese Pluralisierung hat transformatorischen Charakter: Danach bestimmt sich nämlich die Wissenschaft des öffentlichen Rechts nicht mehr über eine einzige Methode;46 ein neokantianischer Wissenschaftsbegriff passt nicht mehr auf sie. Die Pluralisierung greift so die überkommene Identität des Faches an. Es soll nicht der einzige Angriff sein. In vielen Rechtsordnungen hat sich die Verwaltungsrechtswissenschaft durch die Konzentration auf verwaltungsrechtliches Material in Abgrenzung zu anderen Disziplinen etabliert. Dies gilt in besonderer Weise in Rechtsordnungen, wo, wie in Frankreich, Italien oder Spanien, strenge institutionelle Abgrenzungen bestehen, also von den Professoren eine strikte Fokussierung auf das Verwaltungsrecht erwartet wird. Aber auch in rechtswissenschaftlichen Traditionen mit offeneren Profilen, etwa im Vereinigten Königreich oder in Deutschland, hat das Fach ein Proprium im staatlichen verwaltungsrechtlichen Material gefunden, wie der weitgehend standardisierte Zuschnitt der disziplinprägenden Lehrbücher zeigt. Bereits die Konstitutionalisierung hat dies in Frage gestellt.47 Im Zuge der Entwicklung des europäischen Rechtsraums bedarf es zudem zunehmend einer rechtsordnungsübergreifenden Bearbeitung 43

Sandulli (Fn. 42), Rn. 14 ff., 57 ff. Rainer Wahl, Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, 1978. 45 Nunmehr handbuchartig aufbereitet in Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard SchmidtAßmann/Andreas Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 3 Bände, 2006, 2008, 2009. 46 So aber Voßkuhle (Fn. 34), 2; näher Pauly (Fn. 42), § 60 Rn. 19 ff.; wie hier Napolitano (Fn. 29), 3. 47 Näher Luc Heuschling, Verwaltungsrecht und Verfassungsrecht, in: IPE III, 2010, § 54 Rn. 11 ff. 44

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von öffentlichrechtlichen Fragen. Angesichts der Bedeutung unionsrechtlicher Vorgaben in der Praxis der Mitgliedstaaten sieht sich die praxisorientierte Wissenschaft des öffentlichen Rechts gezwungen, sich unionsrechtlich auszuweiten. Die Überwindung des staatlichen Gesichtskreises drängt auf eine Fortentwicklung, ja Transformation der traditionellen Identität des Faches; zwei Aspekte ragen heraus. Erstens steht eine Europäisierung der Identität im Rahmen eines ius publicum europaeum an. Das historische ius publicum europaeum zeichnete aus, dass es auf einer integrierten Wissenschaftskultur aufruhte. Im 19. Jahrhundert zu Zeiten des Deutschen Bundes findet man in Deutschland sogar eine Wissenschaft des öffentlichen Rechts ohne staatsrechtliche Grundlage,48 vergleichbar mit der polnischen Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert.49 Ungeachtet eines entwickelten europäischen öffentlichen Rechts ist man heute von einer gemeinsamen Wissenschaft in Europa weit entfernt. Es gibt eine Vielfalt der nationalen Wissenschaftsstile und –kulturen, die ein gemeinsames Gespräch stark erschwert. Einen europäischen Diskussions- und Rezeptionszusammenhang gibt es derzeit nur in Ansätzen, weil eben die meisten Öffentlichrechtler sich in erster Linie mit Blick auf das jeweilige staatliche Recht und die entsprechende wissenschaftliche Community begreifen. Dies kann als kollektive Ausrichtung für die Zukunft kaum überzeugen. Soll der europäische Rechtsraum den berechtigten Rationalitätserwartungen genügen, die im 20. Jahrhundert mit Blick auf das staatliche öffentliche Rechts formuliert wurden, so bedarf es einer intensiven wissenschaftliche Begleitung, die allein aus den nationalen Wissenschaftsräumen heraus nicht geleistet werden kann. Es bedarf einer europäischen wissenschaftlichen Community, und eine solche Community verlangt eine entsprechende Identität ihrer tragenden Mitglieder. Der Weg dahin ist weit und mühsam: die Sprachenfrage, die Unübersichtlichkeit der Forschungs- und Publikationslandschaft, schlichtweg die Vielgestaltigkeit des europäischen Wissenschafts- und Rechtsraums. Zweitens ist im europäischen Rechtsraum eine disziplinäre Identität, die sich in erster Linie aus einer Abgrenzung des verwaltungsrechtlichen Materials gegenüber verfassungsrechtlichem, des nationalen gegenüber unionsrechtlichem und völkerrechtlichem, aber auch des öffentlichrechtlichen gegenüber privatrechtlichem Material bildet, kaum aussichtsreich. Die disziplinäre Positionierung der Wissenschaft des öffentlichen Rechts im europäischen Rechtsraum sollte weniger durch die Bestimmung von Grenzen und erst recht nicht durch die Fixierung einer Methode, sondern vor allem durch die Klärung ihres zentralen Interesses erfolgen. Das öffentliche Recht findet, zumindest in freiheitlich-demokratischen Staaten, seine Mitte in der auf die Aufklärung zurückgehenden Idee der Freiheit und der daraus folgenden Spannung zwischen individueller Selbstbestimmung und kollektiver Handlungsfähigkeit. Die rechtsquellentheoretische Zuordnung zum Völkerrecht, Unionsrecht oder staatlichen Recht sollte hingegen in Zeiten der Interdependenz der verschiedenen 48 Näher Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Bd., 1992, 322 ff. 49 Dazu Lipowicz (Fn. 14), Rn. 10 ff.

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Rechtsordnungen nicht mehr das primäre Kriterium disziplinärer Identität bilden.50 Die einzelnen Disziplinen sollten als unselbständige Teile eines europäischen öffentlichen Rechts, eines Ius Publicum Europaeum, betrieben werden, das sich rechtsquellentheoretisch aus staatlichen, suprastaatlichen und völkerrechtlichen Komponenten speist. Rigide Primäridentitäten wie Verwaltungsrechtler, Verfassungsrechtler, Europarechtler oder Völkerrechtler werden prekär. Es steht zu erwarten und zwecks einer problemadäquaten Wissenschaft gar zu hoffen, dass sie sich im europäischen Rechtsraum verflüssigen. Andere Identitätsgehalte wie ein besonderes Interesse an einem Sachgebiet (Sicherheitsrecht, Umweltrecht, Verfahrensrecht oder Rechtsschutz im Verbundsystem, oft unter Einschluss privat- und strafrechtlicher Komponenten) oder einer bestimmten Aufgabenstellung (dogmatischer Systembau, Anwendungsdiskurse, eine bestimmte theoretische Forschungsrichtung) werden an Gewicht für das Selbstverständnis gewinnen. Eine Pluralisierung der Identitäten wird die Attraktivität der Wissenschaft stärken. Zugleich erscheint es für die Integration der Disziplin von hoher Bedeutung, dass sie eine Mitte behält. Nichts scheint mir dafür geeigneter als das dem „öffentlichen Recht“ zugrundeliegende Faszinosum hoheitlicher Macht in ihrer dialektischen Spannung zu individueller Selbstbestimmung. Rainer Wahl hat eine solche Entwicklung unserer Wissenschaft im Bereich der dogmatischen Grundlagenforschung exemplarisch vorgeführt.

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Dies beinhaltet kein Plädoyer für eine Disziplin globales Verwaltungsrecht, zu den Gründen meiner Ablehnung vgl. Armin von Bogdandy, Prolegomena zu Prinzipien internationalisierter und internationaler Verwaltung, in: Trute/Groß/Röhl/Möllers (Fn. 20), 683, 684 ff.; in diese Richtung hingegen Eberhard Schmidt-Aßmann, Die Herausforderung der Verwaltungsrechtswissenschaft durch die Internationalisierung der Verwaltungsbeziehungen, Der Staat 45 (2006), 315; Sabino Cassese, Global Administrative Law: An Introduction, 2005 (www.iilj.org/global_adlaw/documents/Cassesepaper.pdf); Benedict Kingsbury/Nico Krisch/ Richard Stewart, The Emergence of Global Administrative Law, Law and Contemporary Problems 68 (2005), 15. Zur Disziplin des Verfassungsrechts im Mehrebenensystem Rainer Wahl, Verfassungsdenken jenseits des Staates, in: Mensch – Staat – Umwelt, 2008, 135.

Tötung im Krieg: Rückfragen an das Staats- und Völkerrecht Von Albin Eser*, Freiburg I. Vorbemerkung Gewiss sind „Töten“ und „Krieg“ nicht gerade Stichworte, mit denen man den mit einer Geburtstagsfestschrift zu Ehrenden beglücken könnte. Und dies wohl umso weniger, wenn die Schriften des Jubilars selbst, soweit ersichtlich, keine Befassung mit dieser Thematik erkennen lassen, man sich also nicht einmal damit salvieren könnte. Wenn ich gleichwohl einem freundschaftlich verbundenen Fakultätskollegen einen Beitrag zu dieser menschlich-unmenschlichen Dramatik hoffe widmen zu dürfen, dann deshalb, weil auch für Rainer Wahl die Beschäftigung mit internationalen Fragestellungen nicht fremd ist1 und er sich immer wieder an aktuellen Problemen interessiert zeigt. Eine solche Offenheit für brisante Fragen wird wohl auch für „Töten im Krieg“ zu erwarten sein, ist dies doch nicht zuletzt durch die in zahlreichen Todesopfern resultierende Bombardierung eines Tanklastzugs im afghanischen Kundus zu einem buchstäblich „heißen Thema“ geworden. Selbst wenn die strafrechtliche Verfolgung des dafür verantwortlichen deutschen Kommandeurs vom Generalbundesanwalt inzwischen eingestellt wurde2 und man auch ein Disziplinarverfahren für nicht veranlasst sah3, ist die öffentliche Debatte dazu kaum schon für erledigt zu erklären4. * Prof. Dr. Dr. h. c. mult., M.C.J., Direktor em. am Max-Planck Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg. – Für Mitarbeit bei Sammlung und Sichtung des Materials bin ich Rechtsreferendar Sebastian Hfele zu besonderem Dank verpflichtet. 1 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei lediglich hingewiesen auf die Beiträge von Rainer Wahl zu: Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europe, Band I: Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 745 – 781 sowie zu: Europäisierung und Internationalisierung. Zum Verlust der schützenden Außenhaut der Souveränität, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, S. 147 – 176. 2 Einstellungsverfügung des Generalbundesanwalts im Ermittlungsverfahren gegen Oberst Klein – 3 BJs 6/10 – 4 vom 19. 04. 2010, veröffentlicht in: Neue Zeitschrift für Wehrrecht (NZWehrr) 2010, S. 172 – 174. Eine „offene Version“ des Einstellungsvermerks ist seit 5. 10. 2010 zugänglich über www.generalbundesanwalt.de/docs/vermerk20101005.pdf. 3 Spiegel Online vom 19. 8. 2010: Kundus-Affäre. Bundeswehr verzichtet auf Disziplinarverfahren gegen Oberst Klein. 4 Vgl. einerseits Sandra Petersmann, Rechtliche Grauzone im modernen Krieg, in: DWWorld.de vom 28. 7. 2010, Ulf Häußler, Gezieltes Töten erlaubt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. 8. 2010, bzw. Mathias Gebauer, Kundus-Bombardement: Falsche Kamerad-

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Im Gegenteil, soweit es Grundsatzfragen zu Tötung im Krieg und diesen gleichzustellenden „bewaffneten Konflikten“ geht,5 sind sowohl deren Legitimität wie auch ihr Ausmaß noch weithin offen. Das mag überraschen, ist doch Töten im Krieg ein menschheitsgeschichtliches Phänomen, das einem längst als fraglos legitim erscheinen könnte. Aber vielleicht ist es gerade diese scheinbare „Selbstverständlichkeit“, dass man sich traditionellerweise eine genauere Hinterfragung meint ersparen zu können. Wie jedoch nicht zuletzt die verunsicherten Reaktionen auf gezieltes Töten von mutmaßlichen Feinden und dabei in Kauf genommenen „Kollateralschäden“ an unschuldigen Zivilisten erkennen lassen, erweist sich manches Selbstverständliche am Töten im Krieg als keineswegs so wohl fundiert, wie es seine traditionelle Tabuisierung erscheinen lässt. Als ich solchen Zweifeln auf einer ersten Suche nach strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen für Töten im Krieg meinte abhelfen zu können6, stellte sich alsbald heraus, dass man es sich im Strafrecht recht einfach macht, indem man auf das völkerrechtliche Kriegsrecht zu verweisen pflegt. Diese Spur soll hier noch einmal vertiefend aufgegriffen und weiter verfolgt werden, auch wenn in diesem Rahmen schwerlich dem nach wie vor dürftigen Behandlungsstand dieser Problematik7 abzuhelfen sein wird. Dabei wird es jedoch wiederum nicht um eine einzelfallorientierte Aufarbeitung der gegenwärtigen Kundus-Affäre8 als vielmehr um Grundsatzfragen gehen. Dazu wird zunächst in einem Dreischritt zu zeigen sein, wo die strafrechtlichen Rechtfertigungsversuche an eine Grenze stoßen, wie es zudem einer verfassungsrechtlichen Legitimierung bedarf und letztlich auf das Völkerrecht zurückzugreifen ist (II.). Auf dieser Ebene werden Entwicklungslinien von einem „selbstgerechten“ Kriegsrecht zu einem „rechtfertigungsbedürftigen“ Konfliktvölkerrecht und daraus schaft mit Oberst Klein, in: Spiegel-Online vom 19. 8. 2010, Stephan Löwenstein, Aufgearbeitet – Beigelegt?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. 9. 2010. 5 Wobei nachfolgend, soweit nicht anders angezeigt oder sich aus dem Zusammenhang ergebend, „Krieg“ grundsätzlich für jede Art von völkerrechtlich gleich zu behandelndem „bewaffneten Konflikt“ steht. Näher zur „Entwicklung vom Kriegsrechts zum Recht des bewaffneten Konflikts“ vgl. Knut Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl., 2004, S. 1247. 6 Albin Eser, Rechtmäßige Tötung im Krieg: Zur Fragwürdigkeit eines Tabus, in: Dölling/ Götting/Meier/Verell (Hrsg.), Verbrechen – Strafe – Resozialisierung. Festschrift für Heinz Schöch, Berlin 2010, S. 461 – 480. 7 Wie bereits in meinem Überblick (Fn. 6, S. 463 ff.) näher dargetan und namentlich auch von Horst Dreier, Grenzen des Tötungsverbots, JZ 2007, S. 261 – 270, 317 – 326 (262 Fn. 18) und Martin Kutscha, Das Grundrecht auf Leben unter Gesetzesvorbehalt – ein verdrängtes Problem, NVwZ 2004, 801, (803) beklagt. 8 Zu Einzelheiten und ersten Bewertungen dieses Falles und ähnlicher Vorfälle vgl. David Diehl, Tanklasterbeschuss auf Befehl eines Deutschen ISAF-Kommandeurs mit fatalen Folgen – Einschätzung der Rechtslage aus völker- und verfassungsrechtlicher Perspektive, in: Humanitäres Völkerrecht 23 (I/2010), S. 4 – 20, Helmut Frister/Marcus Korte/Claus Kreß, Die strafrechtliche Rechtfertigung militärischer Gewalt in Auslandseinsätzen auf der Grundlage eines Mandats der Vereinten Nationen, JZ 2010, 10 ff., Constantin von der Groeben, Criminal Responsibility of German Soldiers in Afghanistan: The Case of Colonel Klein, in: German Law Journal 11 (2010), 460 ff.

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zu ziehende Konsequenzen zu erörtern sein (III.). Abschließend wird in einem kurzen Ausblick vor gefährlicher Ausweitung des Tötungsrechts vom „äußeren“ auf den „inneren“ Feind zu warnen sein (IV.) II. Vom Strafrecht über das Staatsrecht zum Völkerrecht 1. Militärische „Tötungslizenz“ aus dem Strafrecht? Im Rahmen meiner ersten Befassung mit dieser Thematik war nicht ohne Verwunderung festzustellen, dass die unterschiedliche Bewertung von Tötung im Alltag und Tötung im Krieg kaum radikaler sein könnte: Während das Verbot, einen Menschen zu töten, sei es vorsätzlich oder fahrlässig, kaum klarer und unbeschränkter als in den Tötungsstrafbeständen des Strafgesetzbuchs (§§ 211, 212, 222) statuiert sein könnte und demzufolge ein „normaler“ Totschlag fraglos strafbar ist, scheint es für den Kriegsfall eine geradezu selbstverständliche „Lizenz zum Töten“ zu geben.9 Wenn man dies nicht einfach als selbstverständlich hinnehmen will, liegt es nahe, zunächst einmal auf innerstrafrechtlicher Ebene zu prüfen, ob und inwieweit tödliche Kriegshandlungen schon tatbestandlich aus dem allgemeinen Tötungsverbot ausgenommen sein könnten oder mit allgemeinen Rechtfertigungsgründen zu legitimieren wären – wobei man sich jedoch nicht schon mit rechtstechnisch-formalen Exklusionen zufrieden geben darf, sondern gegebenenfalls auch nach deren materialer Ratio zu fragen ist. Wie sich jedoch bereits bei meiner vorangegangenen Untersuchung gezeigt hat, ist auf rein innerstrafrechtlicher Ebene wenig zu gewinnen. Ganz abgesehen davon, dass nicht wenige Autoren einschlägiger Strafrechtsliteratur offenbar meinen, über das Töten im Krieg kommentarlos hinweggehen zu können. Doch selbst dort, wo man tödliche Kriegshandlungen mit dem allgemeinen Tötungsverbot in Einklang zu bringen versucht, versagen die üblichen strafrechtlichen Instrumentarien. Das gilt nicht nur für den heute kaum noch vertretbar erscheinenden Versuch, Tötung im Krieg als „sozialadäquat“ aus dem Tatbestand auszuschließen.10 Vielmehr vermögen auch die klassischen Rechtfertigungsgründe, wenn überhaupt, allenfalls in engem Rahmen durchzugreifen.11 9 Vgl. Eser (Fn. 6), S. 468, 473 mit Hinweis auf die Monierung von „overall licentiousness in the use of force in the international arena“ von Yoram Dinstein, National and Collective Selfdefence, in: Bassiouni/Nanda (Hrsg.), A Treatise on International Criminal Law, Vol. I, Springfield 1973, S. 273 – 286 (273). 10 Wie dies zeitweilig prominent von Hans Welzel, Der Allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, 1940, S. 33, vertreten worden war, dann aber vor allem auch von Hellmuth Mayer, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1953, S. 107, mit deutlicher Distanzierung aufgegeben wurde. Näher dazu Eser (Fn. 6), S. 474 f. 11 Vgl. zum Folgenden auch Frister/Korte/Kreß (Fn. 8), S. 11 ff., von der Groeben (Fn. 8), S. 486 ff., Dominik Steiger/Jelena Bäumler, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit deutscher Soldaten bei Auslandseinsätzen. An der Schnittstelle von Strafrecht und Völkerrecht, Archiv

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Das betrifft vor allem die Notwehr. Auch wenn der ihr zugrunde liegende Verteidigungsaspekt für die Rechtfertigung von Krieg von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist, vermag Notwehr nach § 32 StGB für die tödliche Abwehr militärischer Angriffe kaum eine Rolle zu spielen.12 Schon von ihrer klassischen Zielsetzung her sind Notwehr und Nothilfe auf die Verteidigung von Individualrechtsgütern ausgerichtet. Selbst soweit Notwehr und Nothilfe über diesen individualrechtlichen Schutzaspekt hinaus auch von einem sogenannten sozialrechtlichen „Rechtsbewährungsprinzip“ bestimmt sein sollten,13 gelten als notwehrfähig grundsätzlich nur Individualrechtsgüter, so dass die Verteidigung von staatlichen oder sonstigen Rechtsgütern der Allgemeinheit allenfalls insoweit als Nothilfe im Sinne von § 32 StGB zu rechtfertigen wäre, als es sich dabei – wie bei Eigentum und Vermögen – gleichzeitig um Individualrechtsgüter handelt oder, wie teilweise zugestanden, vitale staatliche „Lebensinteressen“ auf dem Spiel stehen und der Staat sich durch hoheitliche Eingriffsbefugnisse seiner Organe nicht selbst zu schützen vermag.14 Demzufolge ist selbst im Rahmen eines aufgezwungenen Verteidigungskrieges die Tötung von Menschen nicht einfach als klassische Notwehr zu rechtfertigen, und dies umso weniger für den Fall eines Angriffskrieges, selbst wenn dieser aus politisch nachvollziehbaren Gründen geführt wird oder gar als humanitäre Intervention zu verstehen ist.15 Daher ist für § 32 StGB allenfalls insoweit Raum, als ein Soldat im Nahkampf einem bereits auf ihn gerichteten Angriff durch einen schnelleren Verteidigungsschuss zuvorkommen will, wobei es jedoch selbst in einem solchen Fall an der Rechtswidrigkeit des gegnerischen Angriffs fehlen kann.16 Folglich könnte klassische Notwehr nach § 32 des Völkerrechts 48 (2010), S. 189 – 225 (201 ff., 209 ff.), Heinrich Amadeus Wolff, Gewaltmaßnahmen der Vereinten Nationen und die Grenzen der strafrechtlichen Rechtfertigung der beteiligten deutschen Soldaten, NZWehrR 1996, S. 9 ff. 12 So im Ergebnis auch Frister/Korte/Kreß (Fn. 8), S. 10 f. (unter kritischer Bewertung der mit Putativnotwehr begründeten – und damit Notwehr implizit für möglich erachtenden – Verfahrenseinstellung der Staatsanwaltschaft Zweibrücken vom 23.01.2009 – 4129Js12550/08, NZWehrR 2009, S. 169 – 172). Dies dürfte es auch erklären, warum sich Notwehr als Rechtfertigung einer tödlichen Kriegshandlung in den Strafrechtskompendien, sofern es mir nicht entgangen sein sollte, an denkbar einschlägigen Stellen meistens nicht einmal erwähnt oder jedenfalls nicht ernsthaft erwogen findet: wie beispielsweise nicht bei Gössel/Dölling, Strafrecht. Besonderer Teil 1, 2. Aufl., Heidelberg 2004, S. 39 (Rn. 67), Burkhard Jähnke, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Bd. 5, 11. Aufl., Berlin 2008, § 212 Rn. 16 f.; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., München 2011, Vor § 32 Rn. 24, § 212 Rn. 4 oder Walter Perron, in: Schönke/ Schröder (Hrsg.), StGB, 28. Auf.,2010, § 32 Rn. 42 c. 13 Mehr zu dieser derzeit vorherrschenden „Zwei-Elementen-Theorie“ Perron (Fn. 12), § 32 Rn. 1 f. 14 Einzelheiten dazu bei Perron (Anm. 12), § 32 Rn. 4 ff.; vgl. auch Frister/Korte/Kreß (Fn. 8), S. 12 sowie zu möglichen Friktionen zwischen Notwehrrecht und spezifischen militärischen Einsatzregeln Dirk Freudenberg, Das Spannungsverhältnis im operativen Einsatzrecht: Auftragstaktik, Rules of Engagement (ROE), und deutsche Strafrechtsordnung, NZWehrR 2007, S. 89, 93 ff. 15 Vgl. unten in und zu Fn. 96. 16 Vgl. Helmut Satzger, Internationales und europäisches Strafrecht, 4. Aufl., Baden-Baden 2010, S. 275 .

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StGB eines Kombattanten – ebensowenig wie Nothilfe zugunsten eines Kameraden – weder präemptiv gegenüber einem noch nicht angriffsbereiten noch konsekutiv gegenüber einem bereits fliehenden Gegner rechtfertigend zum Zuge kommen.17 Diese individualrechtliche Ausrichtung der klassischen Notwehr, die einen Soldaten weniger in seiner Rolle als Amtsträger denn als Bürger zu tödlicher Verteidigung berechtigt,18 dürfte auch der Notwehrregelung nach Artikel 31 (1) (c) des Rom-Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof zugrunde liegen, kann doch danach die Rechtfertigung eines Kriegsverbrechens nicht schon aus der Teilnahme eines Kombattanten in einer Verteidigungsoperation begründet werden19. Vor allem aber, und dem kommt angesichts der erschreckend hohen Zahl von zivilen Opfern bei bewaffneten Auseinandersetzungen eine immer größere Bedeutung zu, ist die – wie quasi aus dem Wörterbuch des Unmenschen – als „Kollateralschaden“ verharmloste Tötung von Unbeteiligten keinesfalls als Notwehr zu rechtfertigen.20 Ob und inwieweit stattdessen Rechtfertigung aus Notstand in Betracht käme, ist ebenfalls sehr zweifelhaft. Soweit dieser Weg überhaupt erwogen wird,21 wird er jedenfalls nicht über § 34 StGB für gangbar gehalten,22 würde dem doch letztlich die Unabwägbarkeit von Leben gegen Leben entgegenstehen.23 Selbst Entschuldigender Notstand nach § 35 StGB würde nicht weiterhelfen: Für Soldaten schon deshalb nicht, weil sie aufgrund ihrer besonderen Rechtsbeziehung nach Abs. 1 S. 2 von § 35 StGB in Verbindung mit § 6 Wehrstrafgesetz selbst tödliche Gefahren hinzunehmen hätten24 und diese nicht durch Tötung von unbeteiligten Zivilisten abwenden dürften; ebenso wenig könnten sich Soldaten mit dem Schutz „nahestehender Personen“ entschuldigen, könnte dies doch keinesfalls gleichermaßen gefahrtragungspflichtigen Kameraden zugute kommen.25 Ganz abgesehen davon würden sich Soldaten für tödliche Kriegshandlungen sicherlich gerne gerechtfertigt und nicht nur entschuldigt sehen. Wenn also Rechtfertigung aus Notstand überhaupt in Betracht kommen soll, dann wäre das allenfalls in Form von „defensivem Notstand“ denkbar, wie dies von manchen für den Fall der Opferung unschuldiger Passagiere und Besatzungs17

Vgl. Frister/Korte/Kreß (Fn. 8), S. 11 f., von der Groeben (Fn. 8), S. 486, Wolff (Fn. 11),

S. 13. 18

Vgl. Perron (Fn. 12), § 32 Rn. 42c. Vgl. Albin Eser, Grounds for excluding criminal responsibility, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court, 2. Aufl., München 2008, Art. 31 Rn. 37 ff., Satzger (Fn. 16), S. 275. 20 Vgl. BGHSt 39 (1994), 374 (380), Volker Erb, in: Münchener Kommentar zum StGB, München 2003, § 32 Rn. 117, Thomas Fischer, StGB, 57. Aufl., München 2010, § 32 Rn. 24, Steiger/Bäumler (Fn. 11), S. 202, 209. 21 Wie offenbar zunächst von Frister/Korte/Kreß (Fn. 8), S. 11 (eingangs II), ohne dass aber Notstand innerhalb jenes Abschnittes noch einmal aufgegriffen würde. 22 Wolff (Fn. 11), S. 13. 23 Vgl. Perron (Fn. 12), § 34 Rn. 23, Claus Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl., München 2006, § 16/33. 24 Vgl. Perron (Fn. 12), § 35 Rn. 21 ff. 25 Steiger/Bäumler (Fn. 11), S. 203. 19

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mitglieder durch den Abschuss eines zu terroristischen Angriffen gekaperten Flugzeugs erwogen wird.26 Doch auch mit einer solchen Analogie würde man die Grenzen der für das Verhältnis von Bürger zu Bürger gedachten Rechtfertigungsgründe des allgemeinen Strafrechts überschreiten, handelt es sich doch sowohl bei Abschuss von Luftfahrzeugen wie auch bei militärischen „Kollateralschäden“ an zivilen Personen nicht um rein private Notstandshilfe, sondern um dem Staat zurechenbare und damit möglicherweise verfassungsrechtlich legitimierungsbedürftige Eingriffe in menschliches Leben.27 Entsprechendes wird auch für die Rechtfertigung der Tötung von Kombattanten oder auch „kollateral“ mitbetroffener Zivilpersonen aus Amtsrechten oder Dienstbefugnissen, wie es sich ebenfalls vertreten findet, zu gelten haben.28 Auch soweit sich daraus strafrechtlich relevante Rechtfertigungen ergeben könnten, wäre deren Grundlage letztlich im öffentlichen Recht zu finden und dementsprechend möglichen Gesetzesvorbehalten unterworfen.29 Wenn dem aber so ist, wenn also Tötung im Krieg im Allgemeinen nicht mit spezifisch strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen zu legitimieren ist, bleibt nach außerstrafrechtlichen Begründungen zu suchen. Dazu pflegt man sich, wie bereits in meiner Untersuchung dazu näher dargetan, vor allem auf das Kriegsvölkerrecht zu berufen.30 Vor diesem transnationalen Schritt sind jedoch vorweg gewisse innerstaatliche Hürden zu überwinden. Denn wie im Grunde erst durch die umstrittene Ermächtigung des Luftsicherheitsgesetzes zum Abschuss terroristisch eingesetzter Luftfahrzeuge allgemein bewusst geworden ist,31 handelt es sich bei dem Staat zurechenbarer

26 So etwa von Hans Joachim Hirsch, Defensiver Notstand gegenüber ohnehin Verlorenen, in: Hettinger u. a. (Hrsg.), Festschrift für Wilfried Küper, Heidelberg 2007, S. 149, 153 ff., Klaus Rogall, Ist der Abschuss gekaperter Flugzeuge widerrechtlich?, NStZ 2008, 1 (4). Vgl. auch Fischer (Fn. 20), § 34 Rn. 11 f. mit weiteren Nachweisen zur strafrechtlichen Rechtfertigungsproblematik der vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Abschussermächtigung gemäß § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz (BVerfGE 115 (2006), 115 ff.; Zu damit verbundenen verfassungsrechtlichen Legitimierungsproblemen vgl. unten II.3. 27 Vgl. Fischer (Fn. 20), § 34 Rn. 23, Wolf-Rüdiger Schenke, Die Verfassungswidrigkeit des §14 III LuftSiG, NJW 2006, 736 (739), aber auch Perron (Fn. 12), § 34 Rn. 7 mit weiteren Nachweisen. 28 Wie insbesondere in einer Entscheidung des OLG Kiel SJZ 1947 Sp. 323 (329), wonach „die Amtstätigkeit eines Vollzugsbeamten [denen auch Soldaten zugerechnet werden] bei pflichtmäßiger Vollstreckung immer rechtmäßig (sei)“. Noch ausdrücklicher wird die Tötung feindlicher Soldaten von Dreier (Fn. 7), S. 262 nicht als kriminelles Delikt, sondern als „Erfüllung einer militärischen Pflicht“ eingestuft. Vgl. auch Hans-Günther Schwenck, Die kriegerische Handlung und die Grenzen ihrer strafrechtlichen Rechtfertigung, in: Warda u. a. (Hrsg.), Festschrift für Richard Lange, Berlin 1976, S. 92 sowie Wolff (Fn. 11), S. 19, der von einem „internationalen Amtsrecht“ spricht. 29 Vgl. zum Ganzen auch Eser (Fn. 6), S. 476 f. 30 Vgl. Eser (Fn. 6), S. 465 f. mit Einzelnachweisen, ferner Arndt Sinn, Tötung Unschuldiger aufgrund §14 III Luftsicherheitsgesetz – rechtmäßig?, NStZ 2004, 585 (590). 31 Vgl. oben zu Fn. 26 f.

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Vernichtung menschlichen Lebens (auch) um Grundrechtseingriffe32, die jedenfalls insoweit, als dabei keine nationalen Grenzen überschritten werden, nicht ohne weiteres mit internationalem Kriegsrecht überspielt werden können. 2. Verfassungsrechtliche Legitimierungsprobleme Bevor also das Kriegsvölkerrecht auf die Rechtfertigung von Todesopfern näher zu beleuchten ist, bleiben innerstaatliche Vorbehalte und Ermächtigungen zu untersuchen. Dabei mag bereits jetzt auf gewisse Unterschiede zur strafrechtlichen Rechfertigungsdiskussion hingewiesen sein: Während in den ohnehin wenigen Sonderfällen, in denen – wie bei unmittelbarer Notwehr oder bei kollateraler Tötung von Zivilisten – ein spezifisch strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund in Betracht kommen könnte, dieser eine materiale Ratio voraussetzen würde, meint man sich offenbar sowohl im nationalen Verfassungsrecht wie auch im internationalen Kriegsrecht schon mit formalen Ermächtigungen begnügen zu können, ohne – über die Existenz der bewaffneten Auseinandersetzung hinaus – nach einer materialen Tötungsratio fragen zu müssen. Umso mehr ist gerade diesem Punkt, weil bislang weithin vernachlässigt, besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Da ich als Strafrechtler für mich nicht in Anspruch nehmen kann, mit allen Feinheiten des inzwischen hoch entwickelten öffentlichen Rechts und deren entsprechender Terminologie voll vertraut zu sein, darf ich für etwaige Fehlgriffe von vornherein um Nachsicht bitten. Auch ohne meinerseits endgültige Antworten in Aussicht stellen zu können, möchte ich es gleichwohl wagen, mir wesentlich erscheinende kriegerische Tötungskonstellationen aufzuzeigen und dafür gegebene Legitimierungen weniger formal als rational zu hinterfragen. Dabei sind von vornherein – über alle Fronten hinweg – drei grundrechtlich bedeutsame Legitimierungsschritte zu beachten: Zum einen ist die Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 GG) wie auch das Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 GG) jedem Menschen – ohne Rücksicht auf Staatsangehörigkeit oder sonstigen Status – garantiert33, und demzufolge auch insoweit, als die Wirkungen staatlicher Betätigung im Ausland eintreten.34 Insofern kommt auch Kriegsteilnehmern, gleich auf welcher Seite sie stehen, zunächst einmal der gleiche Achtungs- und Schutzanspruch zu.35 32

Was hinsichtlich militärischer Aktionen offenbar bis in die neueste Zeit hinein viel zu wenig beachtet worden ist, wie namentlich von Dieter Wiefelspütz, Auslandseinsatz der Streitkräfte und Grundgesetz, NZWehrR 2008, 89 beklagt; vgl. auch Wolfram Höfling/Steffen Augsberg, Luftsicherheit, Grundrechtsregime und Ausnahmezustand, JZ 2005, 1080 ff., von denen die bisher allzu formale Fokussierung moniert wird. 33 Vgl. Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 9. Aufl., München 2007, Art. 7 Rn. 44, Art. 19 Rn. 10, Philip Kunig, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, 5. Aufl., München 2000, Art. 2 Rn. 44. 34 Vgl. Kutscha (Fn. 7), 803 mit weiteren Nachweisen. 35 Vgl. BVerfGE 6, 290 (295), Michael Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 5. Aufl., München 2009, Vor Art. 1 Rn. 19.

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Zum zweiten müsste damit im Grunde jede militärisch veranlasste und somit dem betreffenden Staat zurechenbare Tötung – auf welcher Seite auch immer – unerlaubt sein, wenn darin eine Verletzung der – eigentlich unantastbaren – Menschenwürde zu erblicken wäre.36 Diese scheinbare verfassungsrechtliche Totalsperre wird jedoch dadurch überwunden, dass die Menschenwürde zwar die Grundlage für den Lebensschutz bilde, dessen genaues Ausmaß jedoch nach Art. 2 Abs. S. 1 GG zu bestimmen sei.37 Zudem sei in einer Tötung als solcher solange keine Verletzung der Menschenwürde zu erblicken, als dies nicht in entwürdigender Weise geschieht.38 Da eine solche Entwürdigung wohl nur im Falle einer kriegsverbrecherischen Tötung im Sinne von § 8 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) anzunehmen sein wird, steht „normalen“ tödlichen Kriegshandlungen (nur) das Grundrecht auf Leben entgegen. Zum dritten aber ist das Recht auf Leben nicht uneingeschränkt verbürgt, weil in dieses „aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden“ kann (Art. 2 Abs. 2 GG). Demzufolge hängt die Legitimierbarkeit von Tötung letztlich entscheidend davon ab, unter welchen Umständen eine möglicherweise tödliche Verletzungsbefugnis angenommen werden kann. Noch am leichtesten dürfte eine Eingriffsbefugnis in das Lebensrecht gegenüber feindlichen Kombattanten zu begründen sein. Dass staatlich autorisierte Soldaten einen Kriegsgegner töten dürfen, scheint für manche Kommentatoren der einschlägigen Grundrechte so selbstverständlich zu sein, dass dies keiner ausdrücklichen Feststellung39 oder – im Unterschied zum polizeilichen Todesschuss oder zum Abschuss eines terroristisch instrumentalisierten Passagierflugzeugs – jedenfalls keiner länge-

36 So offenbar Adalbert Podlech, in: Denninger (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (AK-GG-Loseblattsammlung), wenn er in der Erstkommentierung von 1984 zu Art. 2 Abs. 2 Rn. 26 feststellt: „Jede Entscheidung für einen Krieg ist eine Entscheidung für die Tötung von Menschen. Eine gesetzliche Ermächtigung für diese Tötung gibt es nicht und ist vom Grundgesetz nicht vorgesehen“; stattdessen sei auf das Völkerrecht zurückzugreifen. Vgl. Fn. 74. 37 So bereits BVerfGE 88 (1993), 203 (251); vgl. Wolfgang Hecker, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz, KJ 2006, 179 (190). 38 Wie dies das BVerfGE insbesondere beim Abschuss von entführten Flugzeugen gegenüber unschuldigen Passagieren und Besatzungsmitgliedern gegeben sähe, weil diese in einer aussichtslosen und unentrinnbaren Lage als Mittel zur Rettung anderer benutzt und dadurch verdinglicht würden: BVerfGE 115, 118 (154 Rn. 122); vgl. aber dazu auch Dietrich Murswiek, in: Sachs (Hrsg.) (Fn. 35), Art. 2 Rn. 182a. Näher zu dieser je nach Sichtweise Ent- oder Verkoppelung von Menschenwürde und Lebensschutz Udo di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, München 2009, Art. 2 Abs. 2 Rn. 14 f., Kutscha (Fn. 7), S. 802 mit weiteren Nachweisen. 39 Wie offenbar bei Di Fabio (Fn. 38), Art. 2 Abs. 2 Rn. 15, 40, wo, soweit ersichtlich, im Hinblick auf die Tötung von Kriegsgegnern lediglich ein kursorischer Hinweis auf „militärischen Einsatz“ zu finden ist, bzw. Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 2. Aufl., Tübingen 2004, Art. 2 II Rn. 45 unter Hinweis auf „militärische Aktionen“. Ähnlich begnügt sich Kunig (Fn. 33), Art. 2 Rn. 44 mit einem nicht weiter differenzierten Hinweis auf den „Kriegsfall“.

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ren Ausführungen bedürfe.40 Soweit im Übrigen Begründungen zu finden sind, fallen diese recht unterschiedlich aus. Auch sind dabei mehr formale Ermächtigungsaspekte und materiale Rechtfertigungskriterien nicht immer leicht auseinander zu halten. Am einfachsten könnte man es sich dadurch machen, dass man das Recht zur Tötung von Kriegsfeinden von der staatlichen Souveränität ableitet41 oder sich auf Gewohnheitsrecht beruft.42 Doch selbst wenn das „naturgegebene Recht“ des Staates zur Selbstverteidigung im Sinne äußerer Souveränität das Recht zur Kriegsführung begründen mag,43 ist damit nicht auch schon das jedem Menschen – und somit auch dem gegnerischen Kombattanten – garantierte Lebensrecht des Einzelnen zur Disposition des Staates gestellt, soll doch dessen interne Souveränität gerade durch Einräumung individueller Gegenrechte bestimmten Beschränkungen unterworfen werden. Auch wenn davon wiederum bestimmte Ausnahmen unter Gesetzesvorbehalt gemacht werden können, wird dafür nicht schon ungeschriebenes Gewohnheitsrecht genügen können, sondern, wie heute allgemein zu Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG vertreten, eine gesetzesförmige (oder höherrangige) Erlaubnisbefugnis erforderlich sein.44 Von daher ist es verständlich, dass man für Eingriffe in das Lebensrecht gegnerischer Kombattanten nach positivrechtlichen Ansatzpunkten sucht. Soweit man einen solchen schon darin finden will, dass weder das Völkerrecht noch das Grundgesetz Gewalt – und wie wohl stillschweigend mitgemeint auch tödliche – zur Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff verbiete,45 wurde solchen gleichsam negativ aus dem Fehlen eines Tötungsverbots begründeten Tötungsbefugnissen bereits an anderer Stelle der Boden entzogen.46 Doch auch verschiedenartige Versuche, die Zulässigkeit von (jedenfalls der Verteidigung dienenden) Kriegen als vom Grundgesetz vorausgesetzt zu sehen und aus der Gesamtheit der verfassungsrechtlichen Bestimmungen über Bundeswehreinsätze implizit auch eine Tötungsermächtigung entnehmen zu können,47 sind nicht ohne Kritik geblieben. Zwar wird durch den dafür vornehmlich herangezogenen Art. 87a GG eine Bundeskompetenz zur Aufstellung und zum Einsatz von Streitkräften geschaffen; doch werden damit keine Eingriffsbefug40

Wie etwa bei Murswiek (Fn. 38), Art. 2 Rn. 182 f. bzw. 172. Wie dies aus den Souveränitätsbegriffen von Bodin und Hobbes herausgelesen werden könnte; vgl. Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 6. Aufl., München 2009, S. 193 f., Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 16. Aufl., München 2010, S. 103. 42 Wie es Herrmann v. Mangoldt/Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., München 1957 in ihrer Interpretation des Gesetzesvorbehaltes von Art. 2 II (Anm. VII 1) offenbar nicht gänzlich meinten ausschließen zu sollen. 43 Wie von Otto Depenheuer, in: Maunz/Dürig (Hrsg.) (Fn. 38), Bd. VI (2008), Art. 87a Rn. 4 ff. dargetan; vgl. aber dazu auch unten III.3. 44 Vgl. Kutscha (Fn. 7), S. 804, Christian Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl., München 2010, Art. 2 Abs. 2 Rn. 199 mit weiteren Nachweisen. 45 Christoph Gröpl, Staatsrecht I, 2. Aufl., München 2010, S. 201. 46 Vgl. Eser (Fn. 6), S. 469 ff. 47 Murswiek (Fn. 38), Art. 2 Rn. 172, Wiefelspütz (Fn. 32), S. 101 f. 41

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nisse in individuelle Grundrechte begründet, die über bereits dort vorgesehene Schutzschranken hinausgehen würden.48 Das wird auch gegenüber der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts zur Lagerung chemischer Waffen zu beachten sein, wonach das Grundgesetz mit der Entscheidung für die militärische Landesverteidigung zu erkennen gegeben habe, „dass der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Rückwirkungen auf die Bevölkerung bei einem völkerrechtsgemäßen Einsatz von Waffen gegen den militärischen Gegner im Verteidigungsfall nicht umfasst“.49 Denn selbst wenn daraus eine „quasi-tatbestandliche Begrenzung der Schutzwirkungen“ der Lebensschutzgarantie herausgelesen werden könnte,50 wird man daraus zwar gewisse Duldungspflichten hinsichtlich möglicher Belästigungen und Gefährdungen entnehmen können, aber wohl kaum ein bereits außerhalb der Lebensschutzgarantie stehendes und damit keiner weiteren Legitimierung bedürftiges Tötungsrecht. Wenn man also den Eingriffsvorbehalt von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG wirklich ernst nehmen und sich nicht mit gewagten Ableitungen von Tötungsbefugnissen aus Aufgabenstellungen begnügen will, wird jedenfalls in formaler Hinsicht schon gegenüber feindlichen Kombattanten nicht ohne eine (zumindest) gesetzliche Erlaubnis zum Töten auszukommen sein.51 Damit soll nicht gesagt sein, dass es einer solchen Legitimierung an materiellen Gründen ermangeln würde. Auch wenn Umfang und Grenzen tödlicher Notwehr nicht leicht zu bestimmen sind, kann im Grundsatz doch kein Zweifel daran sein, dass sich ein Land zu seiner Verteidigung militärischer Gewalt bedienen und diese erforderlichenfalls bis zur Tötung angreifender Feinde gehen darf. Ob dies näherhin aus dem Selbstbehauptungsrecht und Schutzauftrag des Staates,52 aus Güterabwägungs- und Ultima Ratio-Kriterien,53 oder, wie neuerdings in Mode kommend, aus Zuständigkeitsaspekten54 rationalisiert wird, dies ist wegen möglicherweise unter48 Vgl. Werner Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. III, 2. Aufl., Tübingen 2008, Art. 87a, Rn. 21, Bodo Pieroth, in: Jarras/Pieroth (Hrsg.) (Fn. 33), Art. 87a Rn. 2. 49 BVerfG 77 (1988), 170 (221). 50 Wie von Michael Sachs, in: Stern (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, München 1994, S. 586, Bd. IV/1, 2006, S. 152 angenommen, aber zugleich skeptisch beurteilt. Immerhin dürfte aber aus dieser Exklusion zu erklären sein, dass Sachs im gezielten Todesschuss der Polizei den „wohl einzige(n) klare(n) Fall eines klassischen Eingriffs in das Lebensrecht“ erblickt (IV/1, S. 151). 51 In dem Sinne, wie dies etwa von Schenke (Fn. 27), S. 735 f. für die Verfassungsförmigkeit des Abschießens von terroristisch eingesetzten Luftfahrzeugen gefordert wird. 52 Eingehend dazu Depenheuer (Fn. 43), S. 1 ff., 26 ff. 53 Wie etwa bei Starck (Fn. 44), Art. 1 Abs. 1 Rn. 78 – hinsichtlich der parallelen Problematik des Schusswaffengebrauchs der Polizei – durch höhere Einstufung des Lebens eines Angegriffenen gegenüber dem des Angreifers. 54 Wie namentlich von Reinhard Merkel, § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?, JZ 2007, 373 ff. mit der freilich schwer nachvollziehbaren Konstruktion, dass die Tötung eines Angreifers aufgrund seiner Zuständigkeit für sein rechtswidriges Handeln als ein Suizid in mittelbarer Täterschaft zu betrachten sei. Doch ganz abgesehen

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schiedlicher Reichweite gewiss nicht unerheblich. Gleichwohl wird damit gegenüber feindlichen Kombattanten die grundsätzliche Legitimierbarkeit der Tötung eher gestärkt denn geschwächt. Im Vergleich dazu bewegt man sich bei „kollateralen“ Todesopfern unter der Zivilbevölkerung des Kriegsgegners auf weniger sicherem Boden. Nicht nur, dass es auch insoweit bereits an einer förmlichen Eingriffsbefugnis fehlt, vielmehr ist auch materiell die Tötung unschuldiger Zivilisten weitaus schwerer zu legitimieren. Da diese noch weniger als Kombattanten von vornherein vom Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ausgenommen sein können,55 bedarf deren gezielte oder auch nur in Kauf genommene Tötung einer Legitimierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG. Eine solche in klassischen Rechtfertigungsgründen von Notwehr und Notstand zu finden, ist gegenüber unbeteiligten Zivilisten noch weniger aussichtsreich als gegenüber Kombattanten.56 Auch der bei Todesopfern unter der eigenen Bevölkerung herangezogene Aufopferungs- und Solidaritätsgedanke57 würde gegenüber Angehörigen der Gegenseite von vornherein fehlgehen. Daher ist die „kollaterale“ Tötung von Zivilbevölkerung des Kriegsgegners kaum anders als über das Völkerrecht zu legitimieren. Dies wird im nächsten Schritt zu prüfen sein. Zuvor jedoch bleibt auch noch an mögliche Kriegsopfer auf der eigenen Seite zu denken. Denn bei bewaffneten Auseinandersetzungen geht es ja nicht nur um die Tötung von Kombattanten und Zivilisten auf Seiten des Gegners, vielmehr können dadurch auch eigene Staatsangehörige den Tod finden. Sieht man dabei von versehentlichem Töten eigener Kameraden in sogenanntem „friendly fire“ einmal ab, so spielt hier weniger das Recht zu aktivem Töten eine Rolle, ist doch ein solches eigenen Staatsangehörigen gegenüber sicherlich nicht gewollt. Umso größere Bedeutung kommt aber hier der Frage zu, ob und inwieweit der Staat seine Angehörigen dem mit militärischen Auseinandersetzungen verbundenen Risiko aussetzen darf, durch Feindeshand getötet zu werden. Soweit es dabei um Soldaten oder gleichermaßen dienstverpflichtete Personen geht, erscheint die Bereitschaft und Verpflichtung, für die Landesverteidigung mögdavon, dass mit dem Abheben auf (formale) Zuständigkeit noch nichts zu deren letztlich entscheidender materialen Grundlage ausgesagt ist, ist zudem auch schwer nachzuvollziehen, warum bei staatlich veranlasster tödlicher Nothilfe [wie dies wohl auch für die Tötung von Kriegsgegnern zur Verteidigung der eigenen Bevölkerung gelten müsste] „das Grundrecht auf Leben in Wahrheit überhaupt nicht (berührt werde)“ (S. 377). 55 Wie dies aber Begründungen wie die nahe legen könnten, dass das Tötungsverbot gegenüber Kombattanten in einschlägigen Konflikten „aufgehoben“ sei und dies auch für Zivilisten gelte, soweit die Verhältnismäßigkeit im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB gewahrt werde: Christoph Safferling/Stefan Kirsch, Die Strafbarkeit von Bundeswehangehörigen bei Auslandseinsätzen: Afghanistan ist kein rechtsfreier Raum, JA 2010, 81 (85). Dieser Ableitung einer Tötungsrechtfertigung aus einem Nichtverbot wären wiederum die bereits angezeigten Einwände entgegen zu halten (vgl. oben zu Fn. 46). Vgl. auch Steiger/Bäumler (Fn. 11), S. 202 f. 56 Vgl. dazu bereits oben I.1 zu Fn. 11 ff. 57 Vgl. unten zu Fn. 61, 69.

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licherweise tödliche Risiken einzugehen, letztlich unverzichtbar. Gleichwohl sieht sich die Selbstverständlichkeit, mit der dies traditionellerweise ohne weiteres Begründungsbedürfnis angenommen wird, immer mehr hinterfragt. Dies zwar weniger in grundsätzlicher Hinsicht, gilt es doch nach allgemeiner Staatslehre und Verfassungsrecht als ausgemacht, dass im Verteidigungsfall der Staat vom Einzelnen aufgrund seiner Gemeinschaftsgebundenheit den Einsatz seines Lebens fordern kann.58 Ob und inwieweit dies jedoch vorbehaltlos und uneingeschränkt abverlangt werden kann, ist weniger leicht zu beantworten. Gewiss wird ein Lebensrisiko grundsätzlich nur für bewaffnete Auseinandersetzungen zu übernehmen sein, die sich im Rahmen verfassungsrechtlicher Landesverteidigung bewegen.59 Doch selbst unter diesem Vorbehalt soll der Staat nicht mehr als einen das Leben gefährdenden Einsatz, nicht aber eine „lebensbeendende Aufopferung des Selbst“ verlangen dürfen, wie dies bei einem „bewussten In-den-Tod-Schicken“ der Fall wäre.60 Ein danach vom Einzelnen zu erwartendes „Mindestmaß an Solidarität“61 wird aber schon in materieller Hinsicht nicht leicht zu bestimmen sein, wie etwa im Grenzfall von noch als sinnvoll oder bereits als sinnlos einzuschätzenden „Durchhaltebefehlen“.62 Zudem wird man auch in formaler Hinsicht nicht so einfach über den für Eingriffe in das Lebensrecht nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG erforderlichen Gesetzesvorbehalt hinwegsehen können, wie man dies hinsichtlich des Lebensopfers von eigenen Soldaten gewohnt war. Nicht nur dass sich deren möglicherweise tödlicher Lebenseinsatz schon seit Längerem nicht mehr aus der Rechtsfigur des „besonderen Gewaltverhältnisses“ begründen lässt63 und dem Gesetzesvorbehalt auch nicht mit sonstigen gewohnheitsrechtlichen Pflichten eines Soldaten zu genügen ist.64 Vielmehr scheinen auch weder die dem 58

Wie namentlich in einem gerne in Bezug genommenen Zitat von Dürig, in: Maunz/Dürig (Hrsg.) (Fn. 38), Art. 2 Abs. 2 Rn. 19/20 festgestellt. Vgl. auch Christoph Enders, in: Friauf/ Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Berlin 2010, Art. 1 Rn. 94 ff. 59 Vgl. Starck (Fn. 44), Art. 1 Rn. 75. 60 Höfling/Augsberg (Fn. 32), S. 1082 mit weiteren Nachweisen. Weitergehend hingegen Walter Leisner, Das Lebensrecht, Hannover 1976, S. 38, wonach selbst das klare „Himmelfahrtskommando“ zu legitimieren sei, wenn es der Rettung vieler Anderer dient. 61 Matthias Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), München 2009, Art. 1 Abs. 1 Rn. 28. 62 Vgl. Peter Lerche, Grundrechte der Soldaten, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 4/1, Berlin 1960, S. 447, 496. 63 Vgl. Michael Sachs, Die Pflicht zum Einsaz von Leben und Gesundheit in öffentlichrechtlichen Dienstverhältnissen, BayVBl. 1983, 460 (461 ff.); vgl. allerdings auch Michael Sachs, Der Schutz der physischen Existenz (§ 98), in: Stern u. a. (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, München 2006, S. 161, wo man angesichts des Hinweises auf die „weithin akzeptierten Pflichten für Soldaten und bestimmte andere Funktionsträger, in Ausübung ihres Dienstes Lebensgefahren auf sich zu nehmen“, dem „besonderen Gewaltverhältnis“ wohl doch noch verhaftet erscheint; vgl. auch Kay Waechter, Polizeirecht und Kriegsrecht, JZ 2007, 261 (267). 64 Vgl. etwa Dieter Lorenz, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 2. Aufl., Heidelberg 2001, § 128 Rn. 33 (S. 21), wonach die mit Heranziehung zum Kriegsdienst verbundene verletzungsgleiche Gefährdung von Leben und Gesundheit eine verfassungsrechtlich zugelassene Konsequenz der grundsätz-

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Bund grundgesetzlich eingeräumten Aufgaben der Landesverteidigung (Art. 87a GG) noch die Einschränkung von Grundrechten bei Soldaten (gemäß Art. 17a GG) auszureichen, um den Lebenseinsatz von Soldaten auf eine unanfechtbare Rechtsgrundlage zu stellen. Ohne diese erst in neuerer Zeit profilierte Problematik hier im Einzelnen entfalten zu müssen,65 ist es schon bei dienstverpflichtetem und demzufolge zur Übernahme gewisser Lebensrisiken angehaltenem Personal weder selbstverständlich noch leicht abgrenzbar, ob und inwieweit es das Verfassungsrecht dem Staat gestattet, im Kriegsfall das Leben eigener Bürger zu opfern. Noch weitaus schwieriger ist die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Lebensopfern unter der eigenen Bevölkerung zu begründen. Auch wenn dazu eine Parallele zu der bereits durch das erwähnte Luftsicherheitsgesetz aufgeworfenen Problematik naheliegen könnte,66 bleibt doch ein wesentlicher Unterschied zu beachten: Während es beim Abschuss eines zur Angriffswaffe umfunktionierten Flugzeugs um die Abwägung von Leben (der im Flugzeug befindlichen Passagiere und Besatzungsmitglieder) gegen Leben (der auf dem Boden gefährdeten Bevölkerung) geht und dabei ein konkreter Rettungskonflikt auf dem Spiel steht, wird im Kriegsfall der von feindlichen Angriffen bedrohten Bevölkerung eine Opferung des Lebens für mehr allgemeine Zwecke der Landesverteidigung abverlangt. Ein derartiges Opfer von seinen Bürgern einfordern zu dürfen, dazu hält das Bundesverfassungsgericht den Staat offenbar schon deshalb für berechtigt, weil das Grundgesetz mit der Entscheidung für die militärische Landesverteidigung zu erkennen gegeben habe, „dass der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Rückwirkungen auf die Bevölkerung bei einem völkerrechtsgemäßen Einsatz von Waffen gegen den militärischen Gegner im Verteidigungsfall nicht umfasst“.67 Eine solche „quasi-tatbestandliche Begrenzung des Lebensgrundrechts“68 kann aber schon wegen ihrer Konturlosigkeit gegenüber unschuldigen Zivilisten noch weniger überzeugen, als dies bereits hinsichtlich dienstverpflichteter Staatsangehöriger zu bezweifeln war. Wenn daher der dem Lebensrecht dienende Gesetzesvorbehalt nicht völlig leerlaufen soll, wird dafür nicht schon die lichen Entscheidung für die Verteidigungsbereitschaft sei (vgl. Art. 26; Art. 4 Abs. 3; Art. 115aa ff. GG). 65 Grundlegend dazu namentlich Janina Gauder, Das Opfer des Soldaten – über den Lebenseinsatz auf Befehl und das Recht auf Leben, NZWehrR 2009, 98 ff. wonach ein Lebenseinsatz auf Befehl, solange es eines dem Eingriffsvorbehalt von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG genügenden Gesetz ermangele, als verfassungswidrig anzusehen sei (S. 117 f.). 66 Wie namentlich Äußerungen des damaligen Bundesinnenministers Wolfang Schäuble gedeutet werden könnten: vgl. Manuel Ladiges, Flugzeugabschuss auf Grundlage des übergesetzlichen Notstandes? Verfassungs- und befehlsrechtliche Beurteilung, NZWehrR 2008, 1; ferner Diehl (Fn. 8), S. 14, Michael Pawlik, § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes – Ein Tabubruch?, JZ 2004, 1045 (1053). 67 BVerfGE 77, 170 (221), wobei erklärtermaßen, wie sich aus dem Hinweis zum Wohnen oder Arbeiten in der Nähe eines Waffendepots ergibt, nicht die gegnerische, sondern die eigene Bevölkerung gemeint ist. 68 Wie sie von Sachs, in: Stern III/2 (Fn.50), S. 586, nicht ohne kritischen Unterton aus der BVerfG-Entscheidung gefolgert wird. Vgl. auch oben in und zu Fn. 50.

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pauschale Berufung auf die Landesverteidigung genügen können.Vielmehr wird dann eine Ausweitung staatsbürgerlicher Aufopferungspflicht bis hin zur Preisgabe des eigenen Lebens, selbst wenn nicht prinzipiell illegitim, nur unter eingrenzenden Voraussetzungen annehmbar sein.69 3. Rückgriff auf das Völkerrecht Angesichts der Schwierigkeit, für Tötung im Krieg passende Rechtfertigungsgründe im Strafrecht zu finden und zudem mögliche verfassungsrechtliche Schranken überwinden zu müssen, kann es nicht verwundern, dass man die Legitimationsfrage auf eine höhere Ebene zu verlagern versucht, indem man auf das Völkerrecht zurückgreift. Dieser Weg erfreut sich offenbar wachsender Gefolgschaft.70 Bei näherem Hinsehen sind jedoch dabei sowohl in formal-argumentativer als auch in gegenständlicher Hinsicht gewisse Unterschiede festzustellen. Soweit es den grundsätzlichen Ansatz zur Legitimierung von Töten im Krieg aus dem Völkerrecht betrifft, finden sich darauf hinführende Öffnungen bis hin zu vollen Vereinnahmungen. Auf der einen Seite dieses Spektrums bewegen sich noch jene Vorstelllungen, die im Grunde lediglich den transnationalen Weg zum Völkerrecht freimachen, indem sie intranationale verfassungsrechtliche Hürden beiseite räumen: sei es dadurch, dass mit Berufung auf die grundgesetzlich aufgegebene Landesverteidigung der Schutzbereich des Lebensrechts entsprechend eingeschränkt werde71 und demzufolge der Staat „des Zwangs zu individualbezogen-grundrechtlicher Legitimation enthoben“ sei,72 oder sei es, dass im Falle eines Kampfeinsatzes der Staat „insgesamt frei von der Bindung an gesetzliche Eingriffsbefugnisse“ sei.73 Immerhin wird aber damit bereits das Tor geöffnet, um in einem weiteren Schritt auf das Völkerrecht als Legitimationsgrundlage zu setzen: sei es dadurch, dass man das nationale Recht (einschließlich des Verfassungsrechts) vom Kriegsvölkerrecht überlagert sieht74 oder

69 Wie namentlich für den Fall einer existenziellen Bedrohung des Gemeinwesens von Pawlik (Fn. 66), S. 1052 ff. näher begründet. 70 Vgl. zu den bereits in Eser (Fn. 6), S. 465 zu und in den Fn. 13 – 15 genannten nachfolgend noch weitere anzuführende Anhänger dieses Weges. 71 Wie vor allem in BVerfGE 77, 171 (221) vertreten (vgl. dazu o. zu Fn. 67). Im Ergebnis zustimmend auch Wiefelspütz (Fn. 32), 102. 72 Wie von Lorenz – im Anschluss an das o. Fn. 64 wiedergegebene Zitat – geschlussfolgert. 73 Wie von Tonio Gas, Darf der Staat töten?, in: Die Polizei 2007, 33 (37) angenommen. 74 So bewegt sich namentlich für Josef Isensee, in: Isensee/Kirhchof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, München 1992, S. 401 der militärische Einsatz “auf der Ebene der zwischenstaatlichen Gleichordnung im Rahmen des Völkerrechts (nicht des Verfassungsrechts)“. Ähnlich sieht Podlech (Fn. 36), nachdem im Grundgesetz eine gesetzliche Ermächtigung für Tötung im Krieg nicht vorgesehen sei, die Rechtmäßigkeit eines Krieges – neben dem objektiven Recht der Verfassung (z. B. Art. 26 GG) – durch das auf Kriegshandlungen bezogene Völkerrecht geregelt.

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kriegsbedingtes Töten vom Grundgesetz als bereits anerkannt vorausgesetzt werde,75 sei es, dass man für den Kriegsfall alles für erlaubt hält, was nicht verboten ist,76 oder sei es, dass schlicht auf das Völkerrecht als letztinstanzliche Quelle für die Beurteilung von Tötung im Krieg verwiesen wird.77 Von hier ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, um völkerrechtliche Zulässigkeit als strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund zu begreifen.78 Mit Etablierung des Völkerrechts als Legitimationsgrundlage für Töten im Krieg ist jedoch so lange noch keine volle Rechtssicherheit gewonnen, als in gegenständlicher Hinsicht unklar bleibt, inwieweit alle vier betroffenen Opfergruppen – die Tötung gegnerischer Kombattanten und Zivilisten wie auch Todesopfer unter der eigenen Streitmacht und Bevölkerung79 – erfasst sein sollen. Auch in dieser Hinsicht bietet sich ein uneinheitliches Bild. Während diese verschiedenen Gruppen eher selten insgesamt berücksichtigt werden80 oder wenigstens feindliche Kombattanten und Zivilisten eine differenzierte Behandlung erfahren,81 wird meist recht unspezifisch von kriegsbedingten Tötungshandlungen gesprochen82. Aber selbst soweit spezifiziert wird, indem einerseits nur feindliche Kombattanten angesprochen werden83 oder erkennbar nur solche gemeint sind,84 oder es andererseits nur um „Kollateralschäden“ unter der Zivilbevölkerung geht,85 bleibt offen, wie es um die Berechtigung der Tötung von jeweils anderen betroffenen Gruppen stehen soll. Im Übrigen findet sich auch hinsichtlich der Täterseite nur selten klargestellt, ob und inwieweit die den ei-

75 Wie bei Murswiek (Fn. 38), Art. 2 Rn. 172 und im gleichen Sinne auch im Einstellungsbeschluss des Generalbundesanwalt im Kundus-Fall angenommen (Fn. 2), S. 53. 76 Wie offenbar bereits von Eberhard Schmidhäuser, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 2. Aufl.; Tübingen 1975, S. 315 f. sowie neuerdings von Gröpl (Fn. 45), S. 701 angenommen und auch im Einstellungsbeschluss des Generalbundesanwalts im Kundus-Fall (Fn. 2), S. 59 anklingend. 77 Wie dies vorwiegend im strafrechtlichen Schrifttum zu geschehen pflegt: vgl. Hartmut Schneider, Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 3, 2003, § 212, Rn. 53, Theodor Lenckner/ Detlev Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Hrsg.) (Fn. 12), Vorbem. 91 vor § 32 mit weiteren Nachweisen. 78 Wie bereits von Wolff (Fn. 11), S. 14 f. nach Frister/Korte/Kreß (Fn. 8), S. 12 nun auch vom Generalbundesanwalt im Einstellungsbeschluss Kundus (Fn. 2), S. 53 angenommen. 79 Vgl. oben II.2. 80 Wie etwa von Gas (Fn. 73), S. 36 ff.; vgl. auch Sachs, in: Stern IV/1 (Fn. 50), S. 157 ff. 81 Wie beispielsweise bei Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 12), Vorbem. 91 vor § 32. 82 Wie bei Murswiek (Fn. 38), Art. 2 Rn. 172 oder Podlech (Fn. 36). 83 Wie von Dürig (Fn. 38), Art. 87a Rn. 54 und Eduard Kern, Der Schutz des Lebens, der Freiheit und des Heims, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.) (Fn. 62), S. 51, 59. 84 Wie wohl von Isensee (Fn. 74) sowie den in Fn. 39 Genannten. 85 Wie offenbar bei Paul Kirchhof, Menschenbild und Freiheitsrecht, in: Grote u. a. (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit. Festschrift für Christian Starck, Tübingen 2007, S. 275, 296.

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genen Soldaten eingeräumte Tötungsbefugnis gleichermaßen auch gegnerischen Kombattanten zugute kommen soll.86 Doch welche Fragen auch immer mit der Berufung auf das Völkerrecht offen bleiben, kann jedenfalls im Grundsatz kein Zweifel daran sein, dass die wichtigste, wenn nicht gar einzige Legitimationsgrundlage für Töten im Krieg im Völkerrecht zu finden sein wird. Damit stellt sich die Frage, woraus dieses seinerseits seine Tötungskompetenz – und zwar weniger formal als rational – begründet. III. Vom „selbstgerechten“ Kriegsrecht zum „rechtfertigungsbedürftigen“ Konfliktvölkerrecht Um sich der Radikalität der Legitimierungsfrage bewusst zu werden, ist an die fundamental unterschiedliche Behandlung des Tötens innerhalb und außerhalb eines militärischen Konflikts zu erinnern: Während ein „normaler“ Totschlag grundsätzlich als rechtswidrig anzusehen ist, gilt Töten im Krieg nicht nur grundsätzlich als rechtmäßig, sondern mag sogar in den Genuss einer statusfördernden Auszeichnung kommen.87 Wie ist diese geradezu gegensätzliche Einschätzung zu erklären? Warum bedarf im „normalen“ Leben dessen Vernichtung einer Rechtfertigung, während im Krieg alles erlaubt sein soll, was nicht verboten ist? Wenn man einer solchen Umkehrung der Werte auf die Spur kommen will, wird man einen Blick auf die Entwicklung des Kriegsvölkerrechts werfen müssen und dabei einige Grundpositionen zu hinterfragen haben. 1. Entwicklungslinien Angesichts der weltweiten Allgegenwärtigkeit von Krieg muss im umgekehrten Verhältnis dazu die geringe Aufmerksamkeit verwundern, welche die Rechtfertigung des Tötens im völkerrechtlichen Schrifttum findet.88 Gewiss ist viel von der Verfolgung von Kriegsverbrechen die Rede, kaum aber davon, warum offenbar alles – und damit auch die Vernichtung menschlichen Lebens – erlaubt sein soll, was nicht ausdrücklich verboten ist. Aber vielleicht ist dieses „Totschweigen“ sogar weniger verwunderlich als eher verständlich, erscheint doch Töten im Krieg schon von Alters her 86 Wie dies von Matthias Herdegen, Völkerrecht, 8. Aufl., München 2009, S. 382 und Ipsen (Fn. 5), S. 1247 bejaht wird, wobei sich nach Georg Dahm, Völkerrecht Bd. III, Berlin 1961, S. 283 aus dem Kriegsvölkerrecht sogar ein Bestrafungsverbot ergeben kann. 87 Vgl. Eser (Fn. 6), S. 468. 88 Soweit das Töten im Krieg thematisiert wird, bleibt das völkerrechtliche Schrifttum auf den besonderen Schutz der Bevölkerung nach Art. 51 des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen fokussiert (wie etwa bei Michael Bothe, Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl., Berlin 2007, S. 627 f., Ipsen (Fn. 5), S. 1255 ff., während sich die strafrechtlichen Lehrbücher vornehmlich mit möglichen „Defenses“ bei Kriegsverbrechen beschäftigen (vgl. etwa Kai Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., München 2008, S. 172 ff., Satzger (Fn. 16), S. 275 ff., Gerhard Werle, Völkerstrafrecht, 2. Aufl., Tübingen 2007, S. 201 ff.).

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als so selbstverständlich, dass es keiner ausdrücklichen Rechtfertigung zu bedürfen scheint. Auch wenn diese Vorstellung in ihrer Grundtendenz eine lange Tradition haben mag, scheint sie doch von Schwankungen nicht völlig frei zu sein, wie sich vor allem am Verhältnis des sich seit Beginn der Neuzeit entwickelnden Staates zum Krieg beobachten lässt. Ohne dies hier mehr als nur skizzenhaft andeuten zu können, sind für den vorliegenden Zusammenhang folgende Entwicklungslinien bemerkenswert.89 Bis zu der mit Hugo Grotius einsetzenden Entwicklung des modernen Völkerrechts galt die aus der mittelalterlichen Theologie entwickelte Lehre vom „gerechten Krieg“. Nach Thomas von Aquin bedurfte ein „bellum iustum“ einer iusta causa, einer recta intentio und einer auctoritas principis. Töten eines Gegners konnte demnach nur erlaubt sein, wenn die kriegerische Auseinandersetzung vom Herrscher aus gerechtem Grund mit guter Absicht autorisiert war. Auch wenn das darin liegende „Gerechtheitserfordernis“ schwer überprüfbar war und leicht von jeder Seite in Anspruch genommen werden konnte, war damit Töten im Grunde immerhin nur von der einen Seite her zu rechtfertigen. Dieser Schranke wurde jedoch immer mehr der Boden entzogen: so vor allem dadurch, dass aufgrund angeblicher „Indifferenz“ des Völkerrechts hinsichtlich des Rechts zum Krieg wie auch der Figur des „beiderseits gerechten Krieges“ die Entwicklung schließlich zum „ius ad bellum“ als freiem „Recht zum Krieg“ führte. Im Grunde war damit der „selbstgerechte“ Krieg eingeräumt,90 in dem es dann nur noch darum gehen konnte, die grundsätzlich zulässige Kriegsführung in ihren Mitteln bestimmten Beschränkungen zu unterwerfen, wie dies für das „ius in bello“ schließlich durch die Haager Landkriegsordnungen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geschehen ist.91 Zwar blieb davon das traditionelle Recht zum Töten im Krieg im Grundsatz unberührt. Immerhin war aber damit für die weitere Entwicklung des Humanitären Völkerrechts ein Tor für die strafrechtliche Verfolgung besonders schwerer Verletzungen von Schutzvorschriften als Kriegsverbrechen eröffnet.92 Eher zwiespältig, weil einerseits Anlässe zu militärischen Tötungen einschränkend und andererseits ausweitend, verlief eine andere Entwicklung. Auf der einen Seite wurde das aus der souveränen Selbstbestimmung der Staaten abgeleitete „freie Kriegsführungsrecht“ immer weiter eingeschränkt, um schließlich im 20. Jahr-

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Vgl. zum Folgenden namentlich Bothe (Fn. 88), S. 642 ff., Bardo Fassbender, Die Gegenwartskrise des völkerrechtlichen Gewaltverbotes vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung, EuGRZ 2004, 241 ff., Udo Fink, Legalität und Legitimität von Staatsgewalt im Lichte neuerer Entwicklungen im Völkerrecht, JZ 1998, 330 ff., Ipsen (Fn. 5), S. 29 ff. 90 Konnte doch danach „jeder einen Krieg führende Staat diesen als ,bellum iustum betrachten“: Paul Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. II, Basel 1951, S. 591 mit weiteren Nachweisen. 91 Näher dazu Bothe (Fn. 88), S. 691 f., Werle (Fn. 88), S. 907 ff. 92 Vgl. Werle (Fn. 88), S. 922 ff.

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hundert einem grundsätzlichen Gewaltverbot unterworfen zu werden,93 wobei dies zudem nicht nur für „Krieg im Rechtssinne“, sondern für jede Art von Gewalt in internationalen Beziehungen gilt.94 Dieses Verbot gilt zwar nicht ausnahmslos; indem jedoch nur aus drei Gründen – zur Wahrnehmung des „naturgegebenen Rechts zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“, bei Einwilligung des betroffenen Staates oder aufgrund Entscheidung einer internationalen Organisation – militärische Gewaltanwendung zulässig sein soll,95 wird diese rechtfertigungsbedürftig und damit erhofftermaßen auch die Opferung von Menschenleben eingeschränkt. Andererseits kann aber in gegenläufiger Richtung die Zulassung humanitärer Interventionen zwecks Verhinderung schwerer Menschenrechtsverletzungen, wie dies in vordringender Weise für berechtigt gehalten wird,96 auch eine Ausweitung von militärischen Einsätzen zur Folge haben, mit entsprechenden Risiken für das Leben von Kombattanten und Zivilisten. Doch wie eng oder weit auch immer solche Ausnahmen vom Gewaltverbot ausfallen mögen, bleibt in grundsätzlicher Hinsicht eine wesentliche Kehrtwende nicht zu unterschätzen: Während in Zeiten völkerrechtlicher Indifferenz zum Kriegsführungsrecht der Staat in freier Selbstbestimmung über den Einsatz militärischer – und damit zwangsläufig auch tödlicher – Gewalt entscheiden konnte, ist ihm das heute nur noch in begründeten Ausnahmefällen gestattet. Nimmt man hinzu, dass dies nicht nur für den „Krieg“ im engeren Sinne, sondern für jeden „bewaffneten Konflikt“ gilt,97 so ist darin eine Entwicklung von „selbstgerechtem“ Kriegsrecht zu einem „rechtfertigungsbedürftigen“ Konfliktvölkerrecht zu beobachten. 2. Töten als „selbstverständliches“ Mittel des Krieges? Einen Krieg zu rechtfertigen, ist das eine; aber soll das zugleich heißen, dass damit auch jedes Mittel der Kriegsführung – einschließlich des Tötens von Menschen – recht ist? Dass dem nicht so sein kann, ist im Grundsatz spätestens seit der Haager Landkriegsordnung von 1907 und den Genfer Abkommen von 1949 unbestreitbar.98 Genau besehen aber werden durch dieses humanitäre Kriegsvölkerrecht lediglich be93 Näher zu diesem vor allem in Art. 2 Nr. 4 UN-Charta verankerte Verbot von Interventionen unter Androhung oder Anwendung von Gewalt vgl. Bothe (Fn. 88), S. 644 ff., Ipsen (Fn. 5), S. 1067 ff. 94 Ipsen (Fn. 5), S. 1210 ff., Theodor Schweisfurth, Völkerrecht, Tübingen 2006, S. 479 f. 95 Vgl. insbes. Art. 51 und 42 UN-Charta sowie Bothe (Fn. 88), S. 652 ff., Herdegen (Fn. 86), S. 223 ff. 96 Vgl. Rudolf Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Aufl., München 2009, S. 304, Steiger/Bäumler (Fn. 11), S. 209 f., Wil D. Verwey, Humanitarian Intervention, in: Cassese (Hrsg.), The Current Legal Regulation of the Use of Force, 1986, 57 ff.; aber auch Ipsen (Fn. 5), S. 1083 ff. 97 Näher dazu Ipsen (Fn. 5), S. 1210 ff. 98 Zu Einzelheiten dieser kriegs- und konfliktvölkerrechtlichen Kodifikationen vgl. Ipsen (Fn. 5), S. 37 ff., 1197 ff.

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stimmte Tötungsmittel (auch) gegenüber Kombattanten99 beziehungsweise unverhältnismäßige Todesopfer unter der Zivilbevölkerung100 verboten,101 während hinsichtlich des Tötens als solchem klare Aussagen – sei es verbietender oder erlaubender Natur – zu vermissen sind. Darin scheint man jedoch, soweit ersichtlich, weithin keinen erörterungsbedürftigen Mangel zu sehen. Dass Töten zum Krieg gehöre und – abgesehen von ausdrücklichen Verbotsfällen – erlaubt sein soll, gilt offenbar als derart selbstverständlich, dass man es unter der harmlosen Redeweise von „Schädigung des Feindes“ in Art. 22 Haager Landkriegsordnung und vergleichbaren Sammelbezeichnungen102 keiner eigenen Artikulierung für wert erachtet – oder es vielleicht auch verschämt unter solchen Pauschalierungen zu verstecken versucht. Soweit hingegen kein Zweifel daran gelassen wird, dass „jede Entscheidung für einen Krieg eine Entscheidung für die Tötung von Menschen“ ist,103 sieht man das Recht dazu als dem bewaffneten Konflikt „innewohnend“,104 von der Kriegsbefugnis „impliziert“105 oder jedenfalls „im Ergebnis so klar, dass die dogmatische Herleitung kaum diskutiert wird“.106 Eine solche „Selbstverständlichkeit“ wäre jedoch allenfalls dann hinzunehmen, wenn aus dem Fehlen eines ausdrücklichen Verbots von Tötung im Krieg deren Erlaubtheit abgeleitet werden könnte. Dies würde aber, wie bereits an anderer Stelle zum innerstaatlichen Recht näher dargetan,107 voraussetzen, dass auf völkerrechtlicher Ebene das Leben im Kriegsfall prinzipiell rechtlos wäre und erst durch das Verbot seiner Vernichtung Rechtschutz erlangen würde. Ich wüsste nicht, wie man eine solche primäre Rechtlosigkeit von Leben mit seiner menschenrechtlichen Garantie vereinbaren könnte – es sei denn, dass man für den Kriegsfall Leben von vornherein aus dem menschenrechtlichen Schutzbereich ausnimmt, wie man dies offenbar den

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Vgl. insbes. Art. 23 (a)-(e) Haager Landkriegsordnung, Art. 35 Abs. 2 Zusatzprotokoll I. Vgl. insbes. Art. 48, 51, 52, 54 Zusatzprotokoll I. 101 Zu Einzelheiten vgl. Ipsen (Fn. 5), S. 1240 ff., Stefan Oeter, Kampfmittel und Kampfmethoden in bewaffneten Konflikten und ihre Vereinbarkeit mit dem humanitären Völkerrecht, in: Hasse u. a. (Hrsg.), Humanitäres Völkerrecht, Baden-Baden 2001, S. 78 ff. 102 Wie etwa bei Friedrich Berber, Lehrbuch des Völkerrechts Bd. II, Kriegsrecht, 2. Aufl., München 1969, S. 163 das Recht der Kriegsführenden, „sich gegenseitig in großem Umfang Schäden zuzufügen, die im Frieden verboten sind und dort Völkerrechtsdelikte darstellen würden“, ohne aber klarzustellen, dass mit „Schädigung“ des Kriegsgegners auch dessen Tötung mit abgedeckt sei. Vgl. dazu auch Eser (Fn. 6) S. 469. 103 Wie mit unerbittlicher Stringenz von Podlech (Fn. 36) konstatiert. 104 Steiger/Bäumler (Fn. 11), S. 213; ebenso die „Stellungnahme zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit im „Fall Kundus“ des European Center for Constitutional and Human Rights e.V. vom 10.06. 2010 (S. 35 Fn. 132), mit der bemerkenswerten Einschränkung jedoch, dass bei Zivilisten das humanitäre Völkerrecht die Tötung nicht „erlaubt“, sondern lediglich notgedrungen „duldet“ (S. 56). 105 Murswiek (Fn. 38), Art. 2 Rn. 172. 106 Wie von Wolff (Fn. 11), S. 15 festgestellt. 107 Eser (Fn. 6), S. 469 ff. 100

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einschlägigen Konventionsgarantien des Lebens meint unterstellen zu können.108 Soll dem nicht so sein, so wird man auch auf völkerrechtlicher Ebene besonderer Ermächtigungsnormen für die Vernichtung von menschlichem Leben bedürfen. Solche Ermächtigungen aber werden nicht einfach aus begrenzenden Verbotsnormen, wie es sie bislang ausschließlich gibt, zu entnehmen sein.109 3. Souveränität: ein tragfähiger Legitimationsgrund? Sucht man nach Gründen, woraus sich erklären ließe, warum man sich mit dem Fehlen einer ausdrücklichen Ermächtigungsgrundlage für Tötung im Krieg zufrieden gibt, könnte man vielleicht in gewohnheitsrechtlichen Vorstellungen fündig werden.110 Fragt man jedoch weiter, ob sich diese Faktizität auf eine bestimmte Ratio stützen ließe, so würde wohl auf die dem Kriegsführungsrecht vornehmlich zugrundeliegende Souveränitätsdoktrin zurückzukommen sein. Wenn Souveränität nicht nur einerseits als Schutz vor Intervention seitens anderer Staaten, sondern andererseits auch als Recht verstanden wird, zur Wahrnehmung eigener Interessen in den Krieg zu ziehen,111 mit der Folge, dass Krieg als „a right inherent in sovereignty itself“ bezeichnet werden kann,112 so scheint der Staat in der Tat so lange in der Wahl seiner Kriegsmittel – bis hin zur Tötung von Menschen – frei zu sein, als er sich nicht selbst in souveräner Freiheit durch völkerrechtliche Abmachungen bestimmten Beschränkungen unterworfen hat. Doch ist dies auch heute noch ein tragfähiges Modell? Ganz absehen von der ohnehin nicht ganz gradlinigen Entwicklung des Souveränitätsbegriffs113 sind in zweifacher – und dabei gewissermaßen gegenläufiger – Hinsicht Zweifel angebracht.

108 Vgl. Diehl (Fn. 8) S. 14. Denn selbst wenn man etwa Art. 15 Abs. 2 EMRK entnehmen will, dass darin die Rechtmäßigkeit tödlicher Kriegshandlungen bereits als anerkannt vorausgesetzt werde (vgl. dazu Eser (Fn. 6), S. 468), wird man aus den von der Lebensgarantie vorgesehenen Ausnahmen in Art. 2 Abs. 2 EMRK schwerlich eine generell für alle kriegsbedingten Tötungen geltende Exklusion aus dem Schutzbereich des Lebensrechts herauslesen können. 109 Vgl. Werner Heun (Fn. 48), § 87a Rn. 21. 110 Wie etwa in dem Sinne, dass nach Maßgabe des universellen Völkergewohnheitsrechts der Krieg – wie die Repressalie – als eine „Rechtsschutzeinrichtung“ zu verstehen sei; vgl. Guggenheim (Fn. 90), S. 590. 111 Anthony Clark Arend/Robert J. Beck, International law and the use of force, London 1993, S. 16 f.; vgl. auch Fink (Fn. 89), S. 336, Daniel Thürer, Völkerrecht als Fortschritt und Chance, Baden-Baden 2009, S. 149, Schweisfurth (Fn. 94), S. 267. 112 Yoram Dinstein, War, Agression and Self-Defense, Camcridge 1988, S. 72; vgl. auch Thomas Braha, Gewaltverbot, in: Wolfrum/Philipp (Hrsg.), Handbuch Vereinte Nationen, 2. Aufl., München 1993, S. 235; Depenheuer (Fn. 43), Art. 87a Rn. 5. 113 Vgl. Ipsen (Fn. 5), S. 61 ff., Stefan Oeter, Souveränität – ein überholtes Konzept?, in: Cremer u. a. (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts. Festschrift für Helmut Steinberger, Berlin 2002, 259, 261 ff.

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So erscheint es mir grundsätzlich verfehlt, menschliches Leben solange und insoweit der Tötungsgewalt eines Kriegssouveräns unterstellt zu sehen, als Töten nicht ausdrücklich verboten ist. Denn wäre dies richtig, so wäre menschliches Leben im Kriegsfall grundsätzlich vogelfrei und nur ausnahmsweise und zudem lediglich gegen bestimmte Tötungsmittel oder Unverhältnismäßigkeit geschützt. Einer solchen Auffassung wäre entgegenzuhalten, dass jedenfalls mit der völkerrechtlichen Anerkennung von Menschenrechten – einschließlich des Lebens – die staatliche Souveränität nicht erst durch ausdrückliche Tötungsverbote, wie insbesondere die der Haager und Genfer Abkommen und die der internationalen Strafgerichtsbarkeiten, eingeschränkt ist, sondern bereits durch die zu beachtenden Menschenrechte. Solange davon das Lebensrecht, gleich ob von Zivilisten oder Kombattanten, nicht ausgenommen ist – und davon ist in den einschlägigen menschenrechtlichen Lebensgarantien nichts zu erkennen –, besteht für die Annahme einer „selbstverständlichen“ und nicht weiter zu hinterfragenden Tötungslizenz eines Kriegssouveräns kein Grund. So wie sich somit einerseits Menschenrechte nicht mit Berufung auf staatliche Souveränität übergehen lassen, kann diese andererseits einen Staat nicht davor bewahren, eine militärische Intervention tolerieren zu müssen, wenn dies zur Verhinderung schwerer Menschenrechtsverletzungen in seinem Land notwendig ist, sei es, weil er dazu selbst nicht in der Lage ist, oder sei es, dass diese Verbrechen sogar von seinen eigenen Organen lanciert, assistiert oder protegiert werden. Wenn im Fall einer solchen humanitären Intervention Menschen in dem betreffenden Land, auf welcher Seite auch immer, zu Tode kommen, so geschieht dies nicht aufgrund, sondern geradezu entgegen der Souveränität des betroffenen Staates. Sollen die Todesopfer gleichwohl gerechtfertigt sein, bedarf es für den Eingriff in das menschenrechtlich garantierte Leben eines anderen Grundes als der Berufung auf Souveränität.114 4. Rechtfertigungserfordernisse Die letztgenannte Fallgruppe könnte es nahelegen, anstelle der einzelstaatlichen Souveränität in der Autorisierung durch eine supranationale Organisation eine Rechtfertigung für militärische Einsätze (einschließlich möglicherweise daraus resultierender Verluste an Menschenleben) zu finden, wie dies insbesondere gemäß Art. 51 UN-Charta möglich erscheint. Doch auch in diesem Fall würde sich die Interventionsbefugnis nicht allein, wenn überhaupt, aus der formalen Hoheitsgewalt, sondern aus dem materialen Zweck der Friedenssicherung ergeben, ähnlich wie es auch bei dem den Einzelstaaten eingeräumten Selbstverteidigungsrecht um mehr gehen muss als nur um formale Demonstration selbstherrlicher Souveränität115. Souveränität ist kein Selbstzweck. Sie gibt dem Staat nach außen hin das Recht, sich um 114 In diesem Sinne wohl auch Wilfried Hinsch/Dieter Janssen, Menschenrechte militärisch schützen, München 2006, S. 92 ff., Ipsen (Fn. 5), S. 38 f. 115 In diesem Sinne konnte schon von Braha (Fn. 112), S. 235 festgestellt werden, dass – über Souveränitätswahrung hinaus – in den meisten internationalen Konflikten „zusätzlich moralische Rechtfertigungsgründe“ geltend gemacht wurden.

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seines Volkes willen zu verteidigen, und macht ihm nach innen hin zur Pflicht, die Rechte der ihm anvertrauten Menschen zu achten und zu fördern.116 Welche materialen Interessen es sein könnten, um deren Bewahrung willen Todesopfer legitimerweise in Kauf zu nehmen wären, kann hier im Einzelnen nicht ausgelotet werden. Immerhin mögen drei Grunderfordernisse für die Rechtfertigung kriegerischer Tötung angedeutet sein: Erstens: Militärische Gewaltanwendung mit möglichen Todesfolgen kann vorneherein nur dann legitimierungsfähig sein, wenn und soweit sie unter Beachtung des Gewaltverbots autorisiert ist. Zweitens: Um autorisierbar zu sein, muss – über formale Souveränitätsbehauptung hinaus – ein gewichtiger Grund vorliegen, dessen Zielsetzung nicht außer Verhältnis zu möglichen Verlusten an Menschenleben stehen darf. Wie bereits an anderer Stelle dargetan, können dafür die in allgemeinen Notwehr- und Notstandskonzepten enthalten Verteidigungs- und Abwägungskriterien als Modell dienen117. Drittens: Um rechtsstaatlichen Erfordernissen zu genügen, sind Eingriffe in das Recht auf Leben durch Ermächtigung zu militärisch erforderlichen Tötungshandlungen so klar wie möglich in gesetzesförmiger Weise zu bestimmen. IV. Ausblick: Vom „äußeren“ zum „inneren“ Feind? Wie hoffentlich vorangehend zum Ausdruck kommt, bin ich nicht so weltfremd zu meinen, dass Töten im Krieg generell die Rechtmäßigkeit abzusprechen sei. Worum es mir vielmehr geht, ist das Schlussmachen mit der weit verbreiteten Selbstverständlichkeit, mit der in kriegerischen Auseinandersetzungen alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, schlicht für erlaubt angesehen wird – über alle verfassungs- und völkerrechtlichen Garantien des Rechts auf Leben hinweg. Auch wenn bestimmte Tötungsmittel inzwischen verworfen sind und jedenfalls die Zivilbevölkerung von unverhältnismäßigen Verlusten an Menschenleben verschont bleiben soll, fehlt es für das Töten als solches noch an einer positiven Rechtfertigung. Damit aber bleiben auch Grund und Grenzen legitimen Tötens unscharf und beliebig. Dies ist schon bei „klassischen“ Kriegen schwerlich mit Menschenrechtsgarantien und Rechtsstaatlichkeit vereinbar. Umso bedenklicher muss es werden, je mehr der Kriegsbegriff ausgeweitet und ihm „bewaffnete Konflikte“ schwer eingrenzbarer Art gleichgestellt werden. Was dadurch einerseits an Schutz durch Unterstellung unter das humanitäre Völkerrecht gewonnen wird, geht andererseits durch kriegsrechtliche Suspendierung des Tötungsverbots verloren. Soll das zudem über internationale Kon-

116

Vgl. auch Albin Eser, Rechtspolitische Reflexionen zur Aufarbeitung und Verhinderung von Systemunrecht, in: Eser/Sieber/Arnold (Hrsg.), Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse, Bd. 14,10.IV.H.4. (im Druck). 117 Eser (Fn. 6), S. 478 f.

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flikte hinaus auch für nicht-internationale gelten118, bleibt erleichtertes Töten nicht auf „äußere“ Feinde beschränkt, vielmehr wird es dann in steigendem Maße auch gegenüber „inneren“ Feinden eröffnet. Es bedarf keiner großen Phantasie, sich vorzustellen, wohin diese Entwicklung schließlich führen könnte, wenn allem, was heute leichthin als „War“ – wie beispielsweise „War on terror“ – bezeichnet oder als „Feindstrafrecht“ verstanden wird,119 mit dem kriegsüblichen Recht zu töten begegnet werden könnte. Auch dem gilt es durch positivrechtliche Konturierung möglicher Rechtfertigung von Töten im Krieg entgegen zu wirken.120

118

Vgl. Herdegen (Fn. 86), S. 386 ff. Näher zu solchen Grenzverwischungen und damit verbundenen rechtlichen Entgrenzungen Ulrich Sieber, Blurring the Categories of Criminal Law and the Law of War, in: Manacorda/Nieto (Hrsg.), Criminal Law between War and Peace, Cumenca 2009, S. 35, 55 ff. 120 Vgl. auch Eser (Fn. 6), S. 478 f. 119

Europäisierung und Internationalisierung des Verwaltungsverfahrens Von Georg Hermes, Oberursel Der Einfluss des Unionsrechts und des internationalen Rechts auf das Verwaltungsverfahren liegt im Überschneidungsbereich von zwei zentralen Aufmerksamkeitsfeldern von Rainer Wahl1 und ist zugleich zentrales Element dessen, was er als die „folgenreichste Entwicklung der deutschen Rechtsordnung nach 1949“2 – die zweite Phase des Öffentlichen Rechts unter dem Grundgesetz – analysiert hat. Die Grundsatzfragen nach Funktionen und Strukturen der Verwaltungsverfahren und die ihnen zugrundeliegende Aufgabe, das Verhältnis von Verfahrens- und materiellem Recht genauer zu bestimmen, werden durch den seit langem zu beobachtenden Prozess der Europäisierung neu oder jedenfalls unter veränderten Vorzeichen gestellt. Dabei wird die Perspektive auf das Unionsrecht zunehmend ergänzt oder überlagert durch die internationale Rechtsentwicklung. Das gibt Anlass, eine bescheidene Zwischenbilanz zu versuchen, die sich in erster Linie um eine Systematik der verschiedenen Entwicklungstendenzen bemüht. Dieser Versuch kann zurückgreifen auf eine Serie von Untersuchungen zur Europäisierung des Verwaltungsrechts3 im Allgemeinen und des Verwaltungsverfahrensrechts4 im Besonderen, während der Einfluss des internationalen Rechts erst in Ansätzen erkennbar und nicht mit ver1 s. nur R. Wahl, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41 (1983), S. 151 ff.; ders., Art. „Verfahren, Verfahrensrecht“, in: Staatslexikon, Bd. 5, 7. Aufl. 1989, Sp. 628 ff.; ders./D. Groß, Die Europäisierung des Genehmigungsrechts am Beispiel der Novel-Food-Verordnung, DVBl. 1998, S. 2 ff.; ders., Das Verhältnis von Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozessrecht in europäischer Sicht, DVBl. 2003, S. 1285 ff.; ders., Europäisierung und Internationalisierung, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 147 ff. 2 So – anknüpfend an diverse Vorarbeiten – R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 94 ff. 3 s. nur M. Zuleeg und H.-W. Rengeling, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht – wechselseitige Einwirkungen, VVDStRL 53 (1994), S. 154 ff. und S. 202 ff.; F. Schoch, Die Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, JZ 1995, S. 109 ff.; S. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1999; P.-M. Huber, Das Kooperationsverhältnis von Kommission und nationalen Verwaltungen beim Vollzug des Unionsrechts, in: FS für W. Brohm, 2002, S. 127 ff.; M. Ruffert, Europäisiertes Allgemeines Verwaltungsrecht im Verwaltungsverbund, Die Verwaltung 41 (2008), S. 543 ff. 4 G. Sydow, Europäisierte Verwaltungsverfahren, JuS 2005, S. 97 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Die Europäisierung des Verwaltungsverfahrens, in: FG 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 487 ff.; O. Puigpelat, Die Kodifikation des Verwaltungsverfahrensrechts im Europäischen Verwaltungsverbund, Die Verwaltung (Beiheft 8/2009), S. 177 ff.

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gleichbarer Intensität untersucht ist5. Ohne Zweifel hat dieses geringere Interesse für die Internationalisierung des Verwaltungsverfahrens seinen Grund in der geringeren unmittelbaren rechtlichen Wirkungskraft des internationalen Rechts auf die nationale Rechtsordnung. Dennoch scheint der Versuch lohnend, den Stand, den die Europäisierung des Verwaltungsverfahrens zwischenzeitlich erreicht hat, als Folie zu benutzen für die Frage, ob sich für eine Globalisierung des Verwaltungsverfahrens vergleichbare Phänomene identifizieren lassen. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden nach einer kurzen Bemerkung zum Verständnis des untersuchten Verwaltungsverfahrens (I.) drei Schichten des europäischen und – zumindest partiell – auch des internationalen Verwaltungsrechts in den Blick genommen und Anhaltspunkte für ihren möglichen Einfluss auf nationale Verwaltungsverfahren festgehalten werden. Es geht zunächst um das Eigenverwaltungsrecht der Exekutiveinrichtungen der Union sowie das „Aktionsrecht“ internationaler Verwaltungsinstanzen6 (II.). Daneben ist das Kooperationsrecht spezifischer Verbundprobleme in den Blick zu nehmen, das auf europäischer Ebene unter dem Begriff des „Europäischen Verwaltungsverbundes“ behandelt wird (III.). Schließlich sind als offensichtliches Zentrum der Themenstellung die Elemente des Unions- und des internationalen Rechts zu behandeln, die als „Determinationsrecht für die nationalen Verwaltungsinstanzen“7 explizite Anforderungen an die Gestaltung der nationalen Verwaltungsverfahren enthalten (IV.). Einige grundsätzliche Fragen und Probleme, die der Einfluss dieser drei Schichten europäischen und internationalen Rechts auf das nationale Verwaltungsverfahrensrecht mit sich bringt, sollen in einem letzten Schritt aus deutscher Perspektive registriert werden (V.).

I. Verwaltungsverfahren als Gegenstand einer europäischen und internationalen Perspektive Wenn hier der Blick auf das Verwaltungsverfahren gerichtet werden soll, so setzt dies zunächst eine Eingrenzung des Gegenstandes voraus. Welche Phänomene der Verwaltungspraxis und welche Besonderheiten des diese Verwaltungspraxis steuernden Rechts gemeint sind, wenn von Verwaltungsverfahren und von Verwaltungsverfahrensrecht die Rede ist, wird sich mit Blick auf das Unions- und das internationale Recht kaum unter Rückgriff auf § 9 VwVfG sinnvoll eingrenzen lassen8. Mit ihrem

5

s. etwa C. Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln, 2001, sowie die Beiträge in: Möllers/Voßkuhle/Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007; s. auch E. SchmidtAßmann, Die Herausforderungen der Verwaltungsrechtswissenschaft durch die Internationalisierung der Verwaltungsbeziehungen, Der Staat 45 (2006), S. 315 ff. 6 Schmidt-Aßmann, Herausforderungen (Fn. 5), S. 336 f.; Ruffert, in: Internationales Verwaltungsrecht (Fn. 5), S. 405. 7 Schmidt-Aßmann, Herausforderungen (Fn. 5), S. 336 f. 8 Zur Notwendigkeit eines über die begrenzte Funktion des § 9 VwVfG hinausgehenden Verfahrensrechtsbegriffs s. nur E. Schmidt-Aßmann, Der Verfahrensgedanke im deutschen und

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Bezug auf die „nach außen wirkende Tätigkeit der Behörden, die auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlass eines Verwaltungsaktes oder auf den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags gerichtet ist“, erfüllt diese Legaldefinition die spezifische und beschränkte Funktion, den Anwendungsbereich der nachfolgenden Verfahrensnormen zu bestimmen. Dennoch ist sie – wie das Verwaltungsverfahrensgesetz insgesamt – Ausdruck eines konzeptionellen Verständnisses, das u. a. durch seine Beschränkung auf traditionelle Formen hoheitlicher Verwaltung, durch seine Entscheidungsorientierung, durch seine Beschränkung auf die nationale Perspektive und vor allem durch eine „dienende Funktion“ des Verwaltungsverfahrens – also eine Richtigkeitsgewähr durch (gerichtliche) Kontrolle des Verfahrensergebnissen am Maßstab materieller Maßstäbe – geprägt ist9. Den nachfolgenden Überlegungen soll deshalb ein weiteres Verständnis des Verwaltungsverfahrens zugrundegelegt werden10, mit dessen Hilfe nicht erst eine jüngere Tendenz in der deutschen Lehre, deren Protagonisten sich um eine „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“11 bemühen, nicht zuletzt unter dem Einfluss des Unionsrechts die zuvor angedeuteten Engführungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes hinter sich zu lassen sucht. Dieses Verständnis schlägt sich etwa in der folgenden Umschreibung nieder: „Verwaltungsverfahren sind geordnete Vorgänge der Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung, die in der Verantwortung eines Trägers öffentlicher Verwaltung ablaufen“ und die Verwaltung dazu befähigen soll, „auf rationale Weise zu handeln“12. Trotz der deutlich erkennbaren Tendenz, die „dienende Funktion“ des Verfahrens und damit seine Nachrangigkeit gegenüber materiellen Entscheidungsmaßstäben im Sinne einer „Prozeduralisierung“ der Entscheidung zu überwinden, bleibt die Vorstellung einer Unterscheidung von „formellem“ Verfahrens- und Organisationsrecht einerseits und materiellem, das Verwaltungshandeln sachlich-inhaltlich determinierendem Recht doch prägend13. Diese Unterscheidung zwischen Verfahrens- und materiellem Recht wird auch von der deutschen Verfassung vorausgesetzt und verfestigt, weil nach Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG die Länder für die Regelung der „Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren“ zuständig sind, wenn sie – entsprechend dem verfassungsrechtlich als Regel vorgegebenen Vollzugsmodell – die Bundesgesetze „als eigene Angelegenheit“ ausführen. Diese Bundesgesetze, die von den Ländern auf der

europäischen Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2008, § 27 Rn. 44 ff. 9 Zu diesen und weiteren Merkmalen des Verwaltungsverfahrensgesetzes Schmidt-Aßmann, Verfahrensgedanke (Fn. 8), § 27 Rn. 13. 10 Zum Verwaltungsverfahren als Verwirklichungsmodus des Verwaltungsrechts s. bereits Wahl, Verwaltungsverfahren (Fn. 1), S. 153 ff. 11 A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 1. 12 Schmidt-Aßmann, Verfahrensgedanke (Fn. 8), § 27 Rn. 1. 13 Dazu M. Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007, S. 31 ff.

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Grundlage eigener Organisations- und Verfahrensregelungen vollzogen werden, können also nur solche mit „materiellem“ Gehalt sein. Auch auf europäischer Ebene liegt die Unterscheidung zwischen Verfahrensrecht und materiellem Recht dem Modell des sog. indirekten Vollzugs von Unionsrecht durch die mitgliedstaatlichen Behörden zugrunde. Nach diesem Modell beschränkt sich das europäische Recht regelmäßig darauf, „materielle“ Pflichten der Mitgliedstaaten und korrespondierende individuelle Rechte von Bürgern und Unternehmen zu normieren. Für den Vollzug dieses materiellen Programms greift die Union auf die vorhandenen Verwaltungsstrukturen und –ressourcen der Mitgliedstaaten zurück. Diese sind verantwortlich für die administrative Umsetzung des unionsrechtlich vorgegebenen Programms. Wesentliches Element dieses Vollzugsmodells ist die „mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie“14. Dass die Verwaltungsverfahren nationaler Behörden angesichts globaler Umweltprobleme und international agierender Wirtschaftsakteure und vor dem Hintergrund der Mobilität von Personen, Gütern und Dienstleistungen heute nicht mehr an traditionellen Territorialitätsvorstellungen orientiert werden können, liegt auf der Hand. Die rechtliche und rechtswissenschaftiche Verarbeitung dieser „Entmächtigung“ des Nationalstaates15 im Allgemeinen und ihre Konsequenzen für die Fortentwicklung des Verwaltungs- und Verwaltungsverfahrensrechts im Besonderen steht allerdings erst am Anfang. Dabei sind die Praxis der Europäisierungsprozesse und vor allem ihre rechtswissenschaftliche Durchdringung deutlich weiter fortgeschritten als dies auf der internationalen Ebene der Fall ist. Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass sich die Notwendigkeit von Verwaltungsverfahren auf internationaler Ebene zunächst am Desiderat effizienter Behördenkooperation entwickelte und nicht allzu sehr auf die Sicherung der Rechte Einzelner bedacht war, wie dies im nationalen Verwaltungsrecht und durch die frühe Etablierung europäischer Grundrechte zunehmend auch auf europäischer Ebene der Fall ist16. Die Verwaltungsrechtswissenschaft hat die Globalisierung erst spät entdeckt und ist noch weit entfernt von einer einheitlichen Terminologie17, von einem konsentierten theoretischen Bezugsrahmen und von einer einheitlichen Bestimmung ihres Gegenstandes. Schon deshalb erscheint es legitim, hier zunächst von den deutlicher erkennbaren Strukturen der Europäisierung des Verwaltungsverfahrensrechts auszugehen. Außer14

Nachweise dazu bei Sydow, Verwaltungsverfahren (Fn. 4), S. 97. J. Habermas, Die postnationale Konstellation, 1998, S. 107. 16 E. Schmidt-Aßmann, Structures and Functions of Administrative Procedures in German, European and International Law, in: Javier Barnes (Hrsg.), Transforming Administrative Procedure, 2008, S. 43 (73). 17 s. etwa das Konzept eines „Global Administrative Law“ im Rahmen des Instituts for International Law and Justice (http://www.iilj.org/GAL) und die ersten Versuche deutscher Rechtswissenschaftler, ein „Internationales Verwaltungsrecht“ als Forschungsgegenstand zu bestimmen: Internationales Verwaltungsrecht (Fn. 5). 15

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dem ist zutreffend darauf hingewiesen worden, dass der Blick auf die Europäisierung des Verwaltungsrechts möglicherweise Rückschlüsse auf mögliche Verläufe, Alternativen und Konzepte der Entstehung eines Internationalen Verwaltungsrechts ermöglicht18. II. Verwaltungsverfahren europäischer und internationaler Einrichtungen Wird das Unionsrecht – ausnahmsweise19 – durch Unionsorgane selbst im sogenannten direkten Vollzug angewendet, wird dies in deutscher Terminologie als EU-Eigenverwaltungsrecht bezeichnet. Soweit es dabei nicht um interne Angelegenheiten (Personal, Beschaffungswesen) geht, handelt es sich entsprechend den Regelungen des Art. 291 AEUVum Verwaltungshandeln von Einrichtungen der Union mit unmittelbaren Auswirkungen für Bürger und Unternehmen (externes EU-Eigenverwaltungsrechts). So kann etwa die Kommission auf der Basis unionaler Durchführungsrechtsakte exekutive Maßnahmen bei Verstößen gegen das Kartellverbot an sich ziehen20. Auch die Fusionskontrolle gehört in diesen Zusammenhang21. Daneben kommt der Auslagerung von Verwaltungsbefugnissen aus dem Bereich der Kommission auf selbständige Agenturen – insbesondere solche mit echten Exekutivbefugnissen – eine kontinuierlich wachsende Bedeutung zu22. Gleichzeitig mit dieser Autonomisierung von Verwaltungsentscheidungen auf Unionsebene bleiben die EU-Verwaltungsbehörden in vielen Bereichen auf nationale Verwaltungsbehörden bei der Durchsetzung angewiesen, so dass die Übergänge des Eigenverwaltungsrechts zu einer eigenverwaltungsrechtlich angeleiteten Kooperationsverwaltung fließend sind. Das Verwaltungsverfahrensrecht sowohl der Kommission als auch der Agenturen ist Gegenstand einer zunehmend detaillierter ausfallenden Kodifikation23, so dass die 18

Ruffert, in: Internationales Verwaltungsrecht (Fn. 5), S. 412. Zum Regel/Ausnahme-Verhältnis siehe nur T. von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 315 ff. 20 s. Art. 11 Abs. 6 der VO (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. 12. 2002; Nachweise dazu bei J. Gundel, Verwaltung, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2. Aufl. 2010, § 3 Rn. 95. 21 Nachweise dazu bei Gundel, Verwaltung (Fn. 20), § 3 Rn. 96. 22 Z.B. das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt, das Gemeinschaftliche Sortenamt, die Europäische Arzneimittel-Agentur, die Europäische Agentur für Flugsicherheit oder auch die Grenzschutzagentur Frontex; zu letzterer siehe A. Fischer-Lescano/T. Tohidipur, Europäisches Grenzkontrollregime, ZaöRV 2007, S. 1219 ff.; grundlegend zu den Agenturen die Beiträge in: Geradin/MuÇoz/Petit (Hrsg.), Regulation through Agencies in the EU, 2005, sowie jüngst C. Görisch, Demokratische Verwaltung durch Unionsagenturen, 2009. 23 Ausführliche Nachweise dazu bei Puigpelat, Kodifikation (Fn. 5), S. 190 f.; T. Groß, Die Kooperation zwischen europäischen Agenturen und nationalen Behörden, EuR 2005, S. 54 ff.; J. Fleischer, Die europäischen Agenturen als Diener vieler Herren?, in: Jann/Döhler (Hrsg.), Agencies in Westeuropa, 2007, S. 212 ff. Siehe auch die Mitteilung der Kommission „Verwaltung der Gemeinschaftsprogramme über ein Netz nationaler Agenturen“, KOM/2001/648 endg. 19

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erforderliche Lückenschließung durch den Gerichtshof unter Rückgriff auf allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts24 in ihrer Bedeutung abzunehmen scheint. In durchaus vergleichbarer Weise scheint sich ein „internationales Eigenverwaltungsrecht“25 solcher Einrichtungen zu entwickeln, die auf globaler Ebene zunehmend exekutive Aufgaben wahrnehmen26. Dabei geht es nicht nur um Internationale Organisationen im engeren Sinne, für deren exekutive Tätigkeit der Begriff des Internationalen Verwaltungsrechts etabliert ist27, sondern auch um diverse Formen intergouvernementaler Zusammenarbeit, Netzwerke nationaler Behörden und ähnliches28. Augenfällig erscheinen einige Parallelen zu frühen Formen völkerrechtlicher Kooperationen in Form der Verwaltungsunionen, die Mitte des 19. Jahrhunderts zur besseren grenzüberschreitenden Erfassung und Regulierung des technischen Fortschritts eingerichtet wurden, weswegen man hier auch eine Renaissance internationalen Verwaltungsrechts zu beobachten glaubt29. In dem Maße, in dem solche internationalen Institutionen in direkte Beziehungen zu Bürgern, Organisationen und Unternehmen treten, indem sie etwa Inspektionen vornehmen30 oder Individuen Zugang zu internationalen Entscheidungsgremien verschaffen, bedarf es (auch) verfahrensrechtlicher Ausformung solcher Rechtsbeziehungen. Allerdings bleiben die Auswirkungen des europäischen und internationalen Eigenverwaltungsrechts auf das nationale Verwaltungsverfahrensrecht beschränkt. Eher umgekehrt entwickelt sich diese Schicht des europäischen und internationalen Verwaltungsrechts unter Rückgriff auf nationale verfahrensrechtliche Traditionen. Exemplarisch sei hier verwiesen auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der das mitgliedstaatliche Verwaltungsverfahrensrecht im Wege wertender Rechtsvergleichung fruchtbar gemacht hat, um Lücken im erst allmählich kodifizierten EU-Eigenverwaltungsrecht zu schließen31. Auch auf internationaler Bühne lassen 24

Nachweise dazu bei Gundel, Verwaltung (Fn. 20), § 3 Rn. 99 f. F. Mayer, Internationalisierung des Verwaltungsrechts?, in: Internationales Verwaltungsrecht (Fn. 5), S. 49 ff. (55). 26 s. insbesondere die Beiträge in: von Bogdandy/Wolfrum/von Bernstorff/Dann/Goldmann (Hrsg.), The Exercise of Public Authority by International Institutions, 2010, S. 99 ff., 659 ff. 27 M. Ruffert, Perspektiven des Internationalen Verwaltungsrechts, in: Internationales Verwaltungsrecht (Fn. 5), S. 395 ff. (401). 28 Exemplarisch hierzu für den Bereich „Sport“ A. Wax, Internationales Sportrecht, 2009, S. 95 ff.; für das „Entwicklungsverwaltungsrecht“ P. Dann, Grundfragen eines Entwicklungsverwaltungsrechts, in: Internationales Verwaltungsrecht (Fn. 5), S. 7 ff. 29 M. Ruffert/C. Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, 2009, S. 15 f. und S. 219 ff., mit Verweis auf die Fernmeldeunion (1865), den Weltpostverein (1874) und den Pariser Verband zum Schutz des gewerblichen Eigentums (1883). 30 Nachweise aus den Bereichen Menschenrechten, Arbeitsrecht und Umweltrecht bei Tietje, Verwaltungshandeln (Fn. 5), S. 270 f. 31 Gundel, Verwaltung (Fn. 20), § 3 Rn. 98 ff. sowie schon früh ausführlich M. Zuleeg, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht – wechselseitige Einwirkungen, VVDStRL 53 (1994), 154 (S. 170 ff.). 25

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sich Elemente eines „Erkenntnisexportes“ vom nationalen Verwaltungsrecht und seiner Dogmatik auf die internationale Ebene konstatieren32. Rückkoppelungsprozesse in dem Sinne, dass auf europäischer und internationaler Ebene entwickelte Verfahrensrechtsprinzipien zurückwirken auf das nationale Recht, sind immerhin zu vermuten. Das Recht auf Zugang zu Dokumenten der Unionsorgane könnte hierfür ein Beispiel sein. III. Koordinations- und Kooperationsverfahren Zu den wesentlichen Erkenntnissen auf dem Gebiet des europäischen Verwaltungsverfahrensrechts gehört die genauere Analyse der vertikalen und horizontalen Koordinierungs- und Kooperationsverfahren zwischen den Verwaltungen der Mitgliedstaaten untereinander und in ihrem Verhältnis zu den Exekutivorganen der Union. Die damit angesprochenen Phänomene werden unter dem Begriff des „Europäischen Verwaltungsverbundes“33 zusammengefasst. Auch dem Begriff des „Verwaltungskooperationsrechts“34 kommt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfunktion zu. Hier geht es um die verwaltungsrechtswissenschaftliche Konsequenz aus der Struktur der Union als Mehrebenensystem. Für den indirekten Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten war zunächst kennzeichnend, dass er in isoliert-einzelstaatlichen Verfahren erfolgte. Dies ist zwar nach wie vor die Regel. Zunehmend erfolgt der indirekte Vollzug von Unionsrecht aber auf der Grundlage entsprechender europäischer Kooperationsgesetzgebung in kooperativer Zusammenarbeit zwischen Kommission und Mitgliedstaaten (vertikale Dimension) bzw. zwischen den Mitgliedstaaten (horizontale Dimension)35. Dieser Verwaltungsverbund verschränkt „in unterschiedlichen Variationen und Mischformen die nationalen Verwaltungen untereinander und mit der europäischen Verwaltung“ und bindet sie „in unterschiedliche Strukturen des verbundenen Vollzugs von Unionsrecht mit variabler Aufgaben- und Befugnisverteilung“36 ein. Zuweilen ist bei besonders intensiven Kooperationsformen von einer „gemeinsamen oder geteilten Verwaltung“ die Rede37. 1. Vertikale Dimension Die vertikalen Beziehungen zwischen nationalen Verwaltungsbehörden auf der einen und Kommission oder Agenturen auf der anderen Seite sind zunächst geprägt 32

F. Mayer, in: Internationales Verwaltungsrecht (Fn. 5), S. 67 f. E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 31 ff. 34 Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fn. 33), S. 388. 35 Vgl. hierzu Schmidt-Aßmann, Europäisierung (Fn. 4), S. 503 ff.; ders., Ordnungsidee (Fn. 33), S. 383; vgl. auch Sydow, Verwaltungsverfahren (Fn. 4), S. 202. 36 E. Pache, Verantwortung und Effizienz in der Mehrebenenverwaltung, VVDStRL 66 (2007), 106 (S. 126). 37 Pache, Mehrebenenverwaltung (Fn. 36), S. 126. 33

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durch Notifikationspflichten der Mitgliedstaaten oder allgemeine Berichtspflichten. Auf sekundärrechtlicher Grundlage beruhen unmittelbare Weisungsrechte, Inspektions- und Kontrollbefugnisse38. Eine deutlich gesteigerte Mitwirkungsbefugnis der europäischen Ebene, die auch unmittelbar auf die Struktur des nationalen Verwaltungsverfahrens durchgreift, findet sich in Gestalt von Anhörungs-, Zustimmungs-, Genehmigungs- und Derogationsrechten der Kommission. Diese führen zu mehrstufigen oder gemischten – in der italienischen Lehre treffend als „procedimenti composti“39 bezeichneten – Verwaltungsverfahren, bei denen die nationalen Behörden im Außenverhältnis gegenüber dem Bürger verantwortlich bleiben, während intern – im Verhältnis zur europäischen Ebene – ihre Entscheidung durch den Mitwirkungsakt der Kommission determiniert ist40. In diesen Zusammenhang gehört insbesondere das Notifikationsverfahren im Beihilfen-Recht, das der Kommission die Befugnis einräumt, durch einen staatengerichtete Entscheidung die Rückabwicklung durch die subventionierende nationale Stelle anzuordnen. Die Koordinationsprobleme, die durch vertikale Kooperationsverfahren verursacht werden, zeigen sich etwa an der Frage, ob in den gestuften Verfahren nach der Beihilfen-Verordnung und der Kartell-Verordnung der Anspruch auf rechtliches Gehör bereits durch die Anhörung vor den nationalen Behörden erfüllt wird oder ob eine – zusätzliche – Anhörung im Zwischenverfahren vor der europäischen Kommission erforderlich ist41. Schwierigere Koordinierungsprobleme werden im Zusammenhang mit den Fragen des Rechtsschutzes aufgeworfen. Der Zusammenhang zwischen Verwaltungsverfahren und Rechtsschutz zeigt sich hier z. B. in solchen Fällen, in denen der Konkurrent eines Beihilfeempfängers keine Möglichkeit hatte, gegen die zulassende Kommissionsentscheidung vorzugehen, und deshalb das nationale Gericht – inzident – die Rechtmäßigkeit der Kommissionsentscheidung nur im Wege einer Vorabentscheidung nach Art. 234 EG überprüfen lassen kann42. Zutreffend wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Europäisierung des Verwaltungsverfahrensrechts von einer Europäisierung des Verwaltungsrechtsschutzes begleitet sein muss. Die europäischen und die nationalen Gerichte müssen ihre Rechtsschutzaufträge den administrativen Kooperationsbeziehungen entsprechend abstimmen43. Vergleichbare Phänomene einer derart intensiven Mitwirkung finden sich auf der Ebene des internationalen Verwaltungsrechts wohl noch nicht. Allerdings ist auf der 38

Nachweise dazu bei Pache, Mehrebenenverwaltung (Fn. 36), S. 128 f. s. nur M. Chiti, Diritto amministrativo europeo, 2. Aufl. 2004, S. 442 ff.; G. della Cananea, I procedimenti amministrativi composti dellUnione europea, in: Bignami/Cassese (Hrsg.), Il procedimento amministrativo nel diritto europeo, 2004, S. 307 ff. 40 Zusammenfassend Pache, Mehrebenenverwaltung (Fn. 36), S. 129. 41 Nachweise dazu bei Sydow, Verwaltungsverfahren (Fn. 4), S. 203. 42 Zu einer solchen Konstellation Sydow, Verwaltungsverfahren (Fn. 4), S. 207. 43 So Schmidt-Aßmann, Europäisierung (Fn. 4), S. 505. 39

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Ebene der „einfachen“ Kooperation zwischen nationalen Behörden und internationalen Einrichtungen eindrucksvoll nachgewiesen worden, dass die praktische Behördentätigkeit in großem Umfang durch mehr oder weniger formalisierte Kooperationsbeziehungen geprägt ist. Das gilt insbesondere für das Gesundheitsverwaltungsrecht (Mensch, Tier, Pflanzen), für das Umweltverwaltungsrecht und für das Kommunikations- und Transportverwaltungsrecht44. Explizite Veränderungen der nationalen Verwaltungsverfahren werden offensichtlich durch die erwähnten unionsrechtlichen Mitentscheidungsrechte der Kommission oder der Agenturen (mehrstufige Verfahren) bewirkt. Aber auch die schwächeren Formen der vertikalen Kooperation zwischen nationalen und europäischen/internationalen Stellen dürften nicht ohne Einfluss auf die konkrete Gestaltung und den Ablauf von Verwaltungsverfahren bleiben. Bereits der Umstand, dass nationale Verwaltungsmaßnahmen unter einer formalisierten Beobachtung europäischer oder internationaler Instanzen stehen, lässt Unterschiede zu exklusiv national geführten Verfahren vermuten. 2. Horizontale Dimension Deutlicher lassen sich Auswirkungen auf das nationale Verwaltungs- und Verwaltungsverfahrensrecht aufzeigen, soweit es um horizontale Kooperations- und Koordinationsformen zwischen nationalen Verwaltungsbehörden geht. Das Unionsrecht hat im Hinblick auf die horizontale Koordination mitgliedstaatlicher Verwaltungsentscheidungen zwei Typen herausgebildet: Das Modell der „Referenzentscheidung“, das auch als Verfahren der gegenseitigen Anerkennung bezeichnet wird und vor allem im Produktzulassungsrecht verbreitet ist, verpflichtet die anderen Mitgliedstaaten zur Anerkennung einer nationalen Zulassungsentscheidung. Den anderen Mitgliedstaaten stehen nur begrenzte Überprüfungsbefugnisse zu. Im Konfliktfall ist ein mehrstufig ausgestaltetes Divergenz-Bereinigungsverfahren vorgesehen, an dessen Ende die Entscheidungskompetenz auf die Kommission übergehen kann45. Beispiele für dieses Modell sind die verfahrensrechtliche Koordination mitgliedstaatlicher Zulassungsverfahren und Entscheidungen für Human-46 und Tierarzneimittel, für Pflanzenschutzmittel, Biozide47 oder gentechnisch veränderte Organismen. Die Referenzentscheidung des Referenzmitgliedstaates entfaltet lediglich prozedurale Sperrwirkung. Sie hindert andere Mitgliedstaaten daran, eigene – abweichende – Entscheidungen ohne Rücksicht auf die bereits erlassene Referenzentscheidung zu treffen. Vergleichbare Phänomene finden sich – soweit ersichtlich – auf der Ebene des internationalen Verwaltungsrechts nicht. Allerdings dürfte die intensive Einbindung 44 45 46 47

Tietje, Verwaltungshandeln (Fn. 5), S. 288 ff. Zusammenfassend zu diesem Modell Pache, Mehrebenenverwaltung (Fn. 36), S. 130. Art. 4 ff. VO (EG) Nr. 1084/2003. Nachweise dazu bei Sydow, Verwaltungsverfahren (Fn. 4), S. 205.

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nationaler Verwaltungen in grenzüberschreitenden Behördennetzwerken (Finanzmarktaufsicht)48 und die beispielsweise daran anknüpfenden Vereinbarungen über internationale Standards49 zu ähnlichen Effekten führen. Weiter geht das zweite europäische Modell der „transnationalen“ Wirkung mitgliedstaatlicher Vollzugsakte, welches auch mit dem Stichwort des „transnationalen Verwaltungsaktes“ bezeichnet wird. Hier verpflichtet das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten, ohne zusätzlichen Anerkennungs- oder Transformationsakt Vollzugsentscheidungen der nationalen Behörden anderer Mitgliedstaaten Wirksamkeit zukommen zu lassen. Solchen Entscheidungen gehen regelmäßig horizontale Kooperationsverfahren (Anhörungsrechte, Vetopositionen, Einvernehmen) zwischen den nationalen Behörden voraus. Auch hier münden nicht auflösbare Meinungsverschiedenheiten in eine abschließende Entscheidungsbefugnis der Kommission50. Eine derartige „transnationale Geltung“ kommt etwa zollrechtlichen Entscheidungen, Ausfuhrgenehmigungen für Güter mit doppeltem Verwendungszweck oder auch Visa mit bis zu dreimonatiger Geltung zu51. Auch in diesen beiden Modellen ist grundsätzlich das nationale Verwaltungsverfahrensrecht maßgeblich, soweit nicht Ausnahmen in Form gemeinschaftsrechtlicher Normierung52 des nationalen Verwaltungsverfahrens bestehen. Auch der transnationale Verwaltungsakt53 bleibt eine Entscheidung einer nationalen Verwaltungsbehörde und das Verfahren, in dem diese Entscheidung gefunden wird, bleibt – zumindest in der Regel – dem nationalen Verwaltungsverfahrensrecht vorbehalten. Dass es dennoch – mittelbar – zu weitreichenden Auswirkungen auf das nationale Verwaltungsverfahren im weiteren Sinne kommen kann, zeigt eine jüngere Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts54. Es ging dabei um die Marktdefinition und Marktanalyse als Voraussetzung der telekommunikationsrechtlichen Feststellung, ob ein Unternehmen über „beträchtliche Marktmacht“ verfügt. Die Rahmenrichtlinie 48 Exemplarisch für die „internationale Finanzmarktaufsicht“ D. Zaring, International Law by Other Means: The Twilight Existence of International Financial Regulatory Organizations, Texas International Law Journal 1998, S. 281 ff. 49 R. Weber/R. Gertsch, Die Bedeutung internationaler Standards für die Finanzmarktaufsicht, Die Volkswirtschaft 2005, S. 16 ff.; H. Geiger/A. Trott, Integrierte Finanzmarktaufsicht im internationalen Vergleich, Working Paper 42/2006, Institut für schweizerisches Bankwesen, (http://www.isb.uzh.ch/publikationen/pdf/workingpapernr42.pdf), zuletzt abgerufen am: 15. 3. 2011. 50 Zusammenfassend zu diesem Modell Pache, Mehrebenenverwaltung (Fn. 36), S. 130 f. 51 Nachweise dazu bei Sydow, Verwaltungsverfahren (Fn. 4), S. 204. 52 Für Kooperationsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten bestehen bereichsspezifische Verordnungen mit detaillierten Verfahrensregelungen, so z. B. die Beihilfen-VO und die Kartell-VO, vgl. hierzu nur Sydow, Verwaltungsverfahren (Fn. 4). S. 203. 53 Transnationale Verwaltungsakte werden durch mitgliedstaatliche Behörden in mitgliedstaatlichen Verwaltungsverfahren erlassen. Verfahrensrechtliche Bestimmungen dafür können sich aus einer europarechtlichen Verordnung ergeben, etwa aus dem Zollkodex, vgl. hierzu nur Sydow, Verwaltungsverfahren (Fn. 4), S. 204. 54 BVerwG, U. v. 29. 10. 2008 – 6 C 38/07, NVwZ 2009, S. 653 ff.

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über den gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste sieht für solche Entscheidungen nationaler Regulierungsbehörden ein besonderes Konsultationsverfahren vor. In dessen Verlauf ist den Stellungnahmen der Kommission und anderer nationaler Regulierungsbehörden weitestgehend Rechnung zu tragen. Aus dieser Richtlinienbestimmung und ihrer Umsetzungsnorm im deutschen Telekommunikationsgesetz schließt nun das Bundesverwaltungsgericht, dass der zuständigen deutschen Bundesnetzagentur ein gerichtlich nur sehr begrenzt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zukomme. Für die Dogmatik des deutschen Verwaltungsrechts, die traditionell auf intensive Ergebniskontrolle durch die Gerichte ausgerichtet ist, muss dies erhebliche Irritationen auslösen.

3. Institutionelle Kooperationsarrangements Unabhängig von der Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Vollzug und auch unabhängig von den Modellen vertikaler sowie horizontaler Kooperation finden sich auf europäischer Ebene Kooperationsformen der Netzwerkbildung und der institutionalisierten Kooperation. Das Netzwerk zwischen der Kommission und den nationalen Kartellbehörden zum Vollzug der Kartellverfahrensverordnung oder der europäische Regulierungsverbund nach den neuen Telekommunikationsrichtlinien sind prominente Beispiele. Ähnliches gilt auch für die Bereiche der Produktsicherheit oder des Strukturfonds55. Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehören die Kommitologieausschüsse56, die offene Methode der Koordinierung57 und zunehmend auch die europäischen Agenturen und Ämter58. Die Beteiligung an der Vorbereitung von Gemeinschaftsrechtsakten wie auch die Vollzugsüberwachung sowie die konkretisierende Vollzugssteuerung stehen im Mittelpunkt der Aufgaben solcher institutionalisierter Kooperation. Diese Form institutionalisierter Zusammenarbeit auf europäischer Ebene findet – in abgeschwächter Form – ihre Entsprechung auf internationaler Ebene. Auch hier stehen Aufgaben der Standardisierung und der konkretisierenden Vollzugssteuerung im Mittelpunkt der Aufgaben59. Keine Standardsetzung im eigentlichen Sinne, aber 55

Weiter dazu v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht (Fn. 19), S. 340 f. Grundlegend C. Joerges/J. Falke, Das Ausschusswesen der EU, 2000; C. Bergstrom, Comitology: Delegation of Powers in the European Union and the Committee System, 2005; C. Möllers, Transnationale Behördenkooperation, in: ZaöRV 2005, S. 351 ff. 57 C. Radaelli, The Open Method of Coordination: A new governance architecture for the European Union?, 2003; A. Schäfer, Die neue Unverbindlichkeit. Wirtschaftspolitische Koordinierung in Europa, 2005. 58 Zusammenfassend dazu Pache, Mehrebenenverwaltung (Fn. 36), S. 132 ff.; Andenas/ Türk (Hrsg.), Delegated Legislation and the Role of Committees in the EC, 2000; kritisch aus rechtstheoretischer Perspektive T. Tohidipur, Deliberative Rechtstheorie, in: Christensen/Buckel/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2. Aufl. 2009, S. 423 (434 ff.). 59 A. Nußberger, Sozialstandards im Völkerrecht, 2005; E. Riedel, Theorie der Menschenrechtsstandards, 1986; die Befunde bündelnd H. Röhl, Internationale Standardsetzung, in: Internationales Verwaltungsrecht (Fn. 5), S. 319 ff. 56

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doch eine Form der Ausübung erheblichen politischen Einflusses – wenn nicht sogar „öffentlicher Gewalt“ in einem weiteren Sinne – durch (Be-)Wertung repräsentieren Verfahren der Politikbewertung wie die PISA-Studie der OECD, die, ähnlich wie der rechtlich unverbindliche Bologna-Prozess in der EU, substanzielle Reform- und Umgestaltungsprozesse ausgelöst hat60. Auswirkungen auf das Verwaltungsverfahren vor nationalen Behörden können auch hier nur mittelbarer Natur sein. Erwähnenswert ist insbesondere die „informelle“ Immunisierung von Behörden in solchen Netzwerken gegenüber der politischen Spitze des jeweiligen Mitgliedstaates. Solche Veränderungsprozesse werden kaum ohne Auswirkungen auf das Verwaltungsverfahren bleiben.

IV. Nationales Verfahrensrecht unter dem direkten Einfluss der Europäisierung und Internationalisierung Die bisher erörterten Schichten europäischen und internationalen Rechts haben nur wenig konkrete und eher indirekte Auswirkungen auf das nationale Verwaltungsverfahren gezeigt. Der wichtigste Schauplatz für konkrete Beobachtungen der Wege und Wirkungen des europäischen und internationalen Einflusses auf das Verwaltungsverfahrens ist die dritte zuvor erwähnte Schicht. Es geht um spezielle und mit rechtlichem Verbindlichkeitsanspruch ausgestattete Normen oder gerichtlich konkretisierte allgemeine Rechtsgrundsätze, die explizit das nationale Verfahrensrecht mit der Intention betreffen, seine exekutive und gerichtliche Anwendungspraxis zu steuern und/oder den nationalen Gesetzgeber zu einer Umgestaltung des Verfahrensrechts zu veranlassen. 1. „Instrumentalisierung“ nationalen Verfahrensrechts Die zumindest aus deutscher Perspektive bedeutsamste und umstrittenste Variante dieser Wirkungsweise ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den Anforderungen an das nationale Verfahrensrecht beim indirekten Vollzug des Unionsrechts. Das Grundmodell des indirekten Vollzugs mit seiner Unterscheidung zwischen europäischer Sachnorm und mitgliedstaatlicher Verfahrensnorm und mit seiner modelltypischen Annahme einer mitgliedstaatlichen „Verfahrensautonomie“ verlangt offensichtlich nach einer Kollisionsregel für den Fall, dass ein Konflikt zwischen europäischer Sachnorm und mitgliedstaatlicher Verfahrensnorm auftritt. Mit dem Äquivalenzgrundsatz, dem Effektivitätsgrundsatz und dem Grundsatz der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts61 hat der Europäische Gerichtshof bekanntlich die ent60

A. v. Bogdandy/M. Goldstein, Die Ausübung internationaler öffentlicher Gewalt durch Politikbewertung, ZaöRV 2009, 51 ff. 61 Zusammenfassend mit weiteren Nachweisen dazu Sydow, Verwaltungsverfahren (Fn. 4), S. 98; Schmidt-Aßmann, Europäisierung (Fn. 4), S. 488 f.

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scheidende Grundlage für die Rechtsprechung gelegt, die die deutsche Lehre als „Instrumentalisierung“62 des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts deutet. Die wesentlichen Stationen dieser Rechtsprechung, die in Deutschland eine erste Welle der Beschäftigung mit der Europäisierung des Verwaltungsrechts ausgelöst hat, müssen hier nicht nachgezeichnet werden. Insbesondere das Beispiel der Rückabwicklung einer europarechtswidrigen Subvention – etwa das EuGH-Urteil in der Sache „Alcan“63 – hat in Deutschland kontroverse Diskussionen ausgelöst64. Nachdem sich die Aufregung zwischenzeitlich gelegt hat, bleiben aus einer distanzierteren Perspektive vor allen Dingen Fragen nach der Kohärenz zwischen den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die für den direkten Vollzug gelten, einerseits und den – offensichtlich strengeren – Maßstäben für den indirekten Vollzug durch die Mitgliedstaaten65. Thematisch ist diese Variante gemeinschaftsrechtlichen Einflusses auf das nationale Verwaltungsverfahrensrecht in erster Linie bezogen auf die Fragen des Bestandsund Vertrauensschutzes in Fällen unionsrechtswidriger begünstigender Verwaltungsentscheidungen. Die Kontrolle von Fristen- und Präklusionsregelungen66 hat eher punktuellen Charakter. Der Rechtsprechung der Europäischen Gerichtsbarkeit kommt insoweit jedenfalls keine systemverändernde Wirkung zu. 2. Verfahrensgrundrechte Etwas anderes könnte für den Einfluss gelten, den die europäischen Verfahrensgrundrechte auf das nationale Verwaltungsverfahrensrecht ausüben. Obwohl die als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts entwickelten und nunmehr durch Art. 41 der Grundrechtecharta verbürgten67 Verfahrensgarantien die Funktion haben, das Handeln der Unionsorgane zu steuern, gelten sie nach gefestigter Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in bestimmten Konstellationen (indirekter Vollzug von Unionsrecht und Eingriffe in unionsrechtlich begründete Rechte) auch für alle mitgliedstaatlichen Verwaltungsbehörden68. Das kann punktuell dazu führen, dass Mitgliedstaaten von ihren verfahrensrechtlichen Standards zugunsten eines Bürgers abweichen müssen69.

62

Schmidt-Aßmann, Europäisierung (Fn. 4), S. 488. EuGH, Slg. 1997, I-1591; danach BVerfGE 106, 328. 64 Vgl. hierzu Schmidt-Aßmann, Europäisierung (Fn. 4), S. 487. 65 Hinweise dazu bei Sydow, Verwaltungsverfahren (Fn. 4), Seite 101 f. 66 Nachweise dazu bei Gundel, Verwaltung (Fn. 20), § 3 Rn. 195. 67 Dazu v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht (Fn. 19), S. 531. 68 Nachweise dazu bei Gundel, Verwaltung (Fn 20), S. 181 f.; Sydow, Verwaltungsverfahren (Fn. 4), Seite 100 f. 69 Beispiel bei Sydow, Verwaltungsverfahren (Fn. 4), S. 100 mit Fußnote 35. 63

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Aus deutscher Perspektive schließt sich daran die Problematik an, wie mit Heilungs- und Unbeachtlichkeitsvorschriften umzugehen ist, von denen das deutsche Recht bekanntlich großzügig Gebrauch macht70. Es wird die Frage gestellt, ob nicht die durch die Unionsgrundrechte gewährten Verfahrensrechte zu einer Unanwendbarkeit von Heilungs- und Unbeachtlichkeitsbestimmungen des nationalen Rechts (vgl. §§ 45, 46 VwVfG) führen müssen71. Auf das damit angesprochene Grundproblem des Verhältnisses von Verfahrensrecht und materiellem Recht wird zurück zu kommen sein. 3. Spezielle Verfahrensnormen a) EU-Richtlinien Der wohl bedeutsamste und langfristig grundlegendste Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Verfahrensrecht geht von sektoralen Richtlinien insbesondere des europäischen Umweltrechts aus. Dieser Einfluss wird in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur unter dem Stichwort „Umorientierung“ des mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechts diskutiert72. Wichtige Beispiele sind die Richtlinien zur Umweltverträglichkeitsprüfung sowie die Richtlinie über den freien Zugang zu Umweltinformationen73. Der Gedanke der informierten Öffentlichkeit – insbesondere dort, wo er verfahrensunabhängig ausgestaltet ist – wird vor der Folie des traditionellen deutschen Verwaltungsverfahrensrechts als eine systemverändernde Umorientierung angesehen. Ähnliches gilt für die Tendenz zur Verfahrensprivatisierung, wie sie der Verordnung über das Öko-Audit sowie dem für das Produktrecht typischen Zertifizierungs- und Akkreditierungssystem zugrunde liegt74. Die neue Dienstleistungsrichtlinie75 könnte eine vergleichbare Prominenz erlangen. Sie wird nämlich weitreichende Auswirkungen auf das mitgliedstaatliche Verwaltungsverfahren – insbesondere in seinen Wechselwirkungen mit der Verwaltungsorganisation – haben76. Defiziten bei der Vollendung des Binnenmarktes auf dem 70

Nachweise dazu bei Sydow, Verwaltungsverfahren (Fn. 4), S. 100 f. Vgl. hierzu Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl. 2008, § 45 Rn. 158 ff. 72 D. Scheuing, Europarechtliche Impulse für innovative Ansätze im deutschen Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 289 ff.; Schmidt-Aßmann, Europäisierung (Fn. 4), S. 498 ff. 73 s. dazu nur die Übersicht bei L. Krämer/G. Winter, Umweltrecht, in: Schulze/Zuleeg/ Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2. Aufl. 2010, § 26 Rn. 89 ff., 111 ff. 74 s. dazu die Nachweise bei Schmidt-Aßmann, Europäisierung (Fn. 4), S. 500. 75 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 12. 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABlEU Nr. L 376, S. 36). 76 So H. Schmitz/L. Prell, Verfahren über eine einheitliche Stelle, NVwZ 2009, 1 (S. 1); J. Ziekow, Die Auswirkungen der Dienstleistungsrichtlinie auf das deutsche Genehmigungsverfahrensrecht, GewArch 2007, S. 179 ff; M. Ruffert, Verwaltungsverbund (Fn. 3). S. 563. Das Ausmaß dieser Auswirkungen findet in den Erwägungsgründen der Dienstleistungsrichtlinie freilich eine andere Akzentuierung. So heißt es in Nr. 42: „Die Bestimmungen in Bezug auf 71

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Dienstleistungssektor will die Richtlinie mit einem Bündel von Maßnahmen begegnen. Insbesondere soll das Genehmigungsverfahren einfach, schnell und transparent ausgestaltet werden. Im deutschen Verwaltungsverfahrensgesetz (§§ 71a-71e VwVfG) wurde zur Umsetzung der Richtlinie eine neue Verfahrensart eingeführt, die insbesondere die Forderung der Richtlinie nach einem „einheitlichen Ansprechpartner“ erfüllt. Mit der einheitlichen Stelle haben Bürger und Unternehmen einen Ansprechpartner neben der eigentlich zuständigen Fachbehörde zur Verfügung, der Anträge, Anzeigen, Willenserklärungen und Unterlagen entgegennimmt und auf Anfrage unverzüglich Informationen u. a. über die maßgeblichen Vorschriften und zuständigen Behörden mitteilt. Der Effektivierung des Verfahrens dient auch, dass es auf Verlangen elektronisch durchzuführen ist. Die Einrichtung einer solchen einheitlichen Stelle erfordern entsprechende Änderungen des Verwaltungsorganisationsrechts77, deren systemändernde Wirkungen noch nicht genau absehbar sind. b) Internationales Recht Eine vergleichbare Determination nationalen Verwaltungsverfahrensrechts durch spezielle normative Vorgaben findet sich auf der Ebene des internationalen Rechts nicht. So ist etwa das Umweltvölkerrecht – im Unterschied zum europäischen Umweltrecht – durch eine geringere Intensität des Einflusses auf nationale Verfahrensstrukturen geprägt, weil es vielfach mit finalen Zielvorgaben arbeitet, die den Vertragsstaaten bestimmte Umweltschutzziele vorgeben, den Weg zur Verwirklichung dieser Ziele aber offenlassen78 (z. B. Kyoto-Protokoll). Allerdings ist hier der politische Druck nicht zu unterschätzen, der zumindest zur weitreichenden Modifizierung des deutschen Umweltrechts qua Umsetzung völkerechtlicher Verpflichtungen geführt hat79. Zudem ist auch auf völkerrechtlicher Ebene eine Tendenz erkennbar, den Vertragsstaaten konkrete Regelungsinstrumente – auch verfahrensrechtlicher Art – vorzuschreiben. Wichtigstes Beispiel dürfte die Aarhus-Konvention über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten darstellen80. Auch aus der Genfer Flüchtlingskonvention können sich Anforderungen an das Verwaltungsverfahren ergeben81, wobei hier, ebenso wie im Umweltrecht, die Union durch Portierung Verwaltungsverfahren sollten nicht darauf abzielen, die Verwaltungsverfahren zu harmonisieren, sondern darauf, übermäßig schwerfällige Genehmigungsregelungen, -verfahren und -formalitäten zu beseitigen, die die Niederlassungsfreiheit und die daraus resultierende Gründung neuer Dienstleistungsunternehmen behindern.“ 77 Vgl. hierzu Schmitz/Prell, Verfahren (Fn. 76), S. 3. 78 W. Durner, Internationales Umweltverwaltungsrecht, in: Internationales Verwaltungsrecht (Fn. 5), S. 121 ff (130). 79 H.-J. Koch/C. Mielke, Globalisierung des Umweltrechts, ZUR 2009, 403 (S. 406). 80 Vgl. hierzu M. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl. 2008, Einleitung Rn. 103; A. Fischer-Lescano, Transnationales Verwaltungsrecht, JZ 2008, S. 373 ff. 81 Vgl. hierzu Sachs, in: VwVfG (Fn. 80), Einleitung Rn. 104.

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der völkervertraglichen Verpflichtungen in europäisches Sekundärrecht zur wirkungsmächtigen „Vollzugsinstanz“ avanciert82. Schließlich sind in diesem völkerrechtlichen Zusammenhang auch die Regelungen des Europarats, in erster Linie die Europäische Menschenrechtskonvention83 mit ihren zahlreichen Auswirkungen auf die Ausgestaltung des nationalen Verwaltungsverfahrens, zu erwähnen84. In der Sache gehört sie allerdings in unmittelbare Nähe zu den oben erwähnten europäischen Verfahrensgrundrechten. Daneben hat sich ein beachtlicher Bestand an Übereinkommen zu einzelnen verfahrensrechtlichen Regelungskomplexen (z. B. Zustellung von Schriftstücken in Verwaltungssachen im Ausland, Erlangung von Auskünften und Beweisen in Verwaltungssachen im Ausland) entwickelt. Darüber hinaus hat der Europarat durch verschiedene Entschließungen und Empfehlungen Mindeststandards für die Regelung der nationalen Verwaltungsverfahren formuliert. Aus deutscher Perspektive werfen auch sie die Frage nach der Legitimation einer im deutschen Recht sehr weit reichenden Relativierung von Verfahrensfehlern auf85. V. Fazit Eine knappe Würdigung, die die aufgeregten Reaktionen aus der frühen Phase der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hinter sich lässt, sollte zwei zentrale Fragen in den Mittelpunkt stellen. Die erste Frage zielt auf die Identifikation zentraler Themen- und Problemfelder, auf denen das europäische und das internationale Recht zu strukturellen Umformungen des deutschen Verwaltungsverfahrens geführt haben oder weiter führen können. Auf einer mittleren Ebene sind in diesem Zusammenhang etwa die Gedanken der informierten Öffentlichkeit sowie der Verfahrensprivatisierung86 anzusiedeln, die der deutschen Tradition fremd sind und erst allmählich eine Verankerung im deutschen verfahrensrechtlichen Denken zu finden scheinen. Das zentrale Thema jedoch, das auf der grundsätzlichen Ebene der Funktion von Verfahren und Verfahrensrecht angesiedelt ist, betrifft das Verhältnis von Verfahrensrecht und materiellem Recht allgemein. Der erste bedeutsame Kristallisationspunkt dieser Grundsatzfrage war die Integration der Umweltverträglichkeitsprüfung in das deutsche Verwaltungsrechtssystem. So wurde der Gedanke einer Richtigkeitsgewähr durch Verfahren und eine Prozeduralisierung der Umweltbelange in der Rechtspre82 Koch/Mielke, Globalisierung (Fn. 79), S. 407; B. Huber/R.-G. Zimmermann, Ausländerund Asylrecht, 2008, S. 579 ff.; D. Kugelmann, Einwanderungs- und Asylrecht, in: Schulze/ Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2. Aufl. 2010, § 41 Rn. 148 ff. 83 Vgl. für weitere Beispiele von in diesem Kontext bedeutsamen Konventionen Sachs, in: VwVfG (Fn. 80), Einleitung Rn. 95. 84 Vgl. für einen Überblick Sachs, in: VwVfG (Fn. 80), Einleitung Rn. 97 (dort, Rn. 99 f., auch zum Folgenden). 85 So m. w. N. Sachs, in: VwVfG (Fn. 80), Einleitung Rn. 102. 86 Schmidt-Aßmann, Europäisierung (Fn. 43), S. 499 f.

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chung des Bundesverwaltungsgerichts zur Umweltverträglichkeitsprüfung ausdrücklich zurückgewiesen87. Hier zeigte sich der unausweichliche Zusammenhang zwischen Richtigkeitsgewähr durch Verfahren einerseits und gerichtlicher Kontrolldichte der abschließenden Verwaltungsentscheidung andererseits in aller Deutlichkeit. Die Frage lautet: „Wovon macht eine Rechtsordnung die Gewähr der Richtigkeit von Entscheidungen eher abhängig, vom richtigen Verfahren oder vom Bemühen um das richtige Ergebnis?“88 Während nach dem einen Verständnis das Verfahren eine dienende Funktion hat und spiegelbildlich dazu dem materiellen Recht ein Vorrang zukommt, misst die gegenteilige Auffassung dem Verfahren einen Eigenwert zu89. Der Anpassungsdruck, dem das deutsche Recht in dieser Frage mit der Tendenz eines größeren Eigenwertes des Verfahrensrechts ausgesetzt ist, dürfte sich nicht nur bei konkreten Fragen z. B. der Heilung und der Beachtlichkeit von Verfahrensfehlern niederschlagen. Die zweite Frage ist diejenige nach der Bereitschaft, neue Impulse aufzunehmen, und nach der damit zusammenhängenden Tragfähigkeit eines zweispurigen Modells, das die notwendigen Anpassungen des nationalen Verfahrensrechts an internationale und europäische Vorgaben auf die europäisierte oder internationalisierte Verwaltungstätigkeit beschränkt und es im Übrigen bei den tradierten Strukturen belässt. Die tatsächliche Reichweite der Europäisierung und Internationalisierung nationaler Verwaltungsverfahren lässt sich letztlich nur vor dem Hintergrund der Frage beantworten, ob ein solches zweispuriges Modell auf Dauer tragfähig ist. Gemessen an strikten rechtlichen Verbindlichkeitsmaßstäben ist kein Mitgliedstaat der Union und kein Vertragsstaat internationaler Organisationen gehindert, eine Strategie der Zweispurigkeit zwischen europäisiertem und globalisiertem Verfahrensrecht einerseits und rein nationalem Verfahrensrecht andererseits zu verfolgen. Skeptische Stimmen, die einem solchen zweispurigen System die Überzeugungskraft absprechen, scheinen aber zu überwiegen. Vieles spricht dafür, dass der faktische Anpassungsdruck90 kaum zu überschätzen ist und auf Dauer das nationale Verfahrensrecht in seiner Gesamtheit erfasst. Häufig treffen insbesondere Anstöße des Gemeinschaftsrechts auf Entwicklungen, die im nationalen Recht bereits angelegt waren. Der Vergleichbarkeit der zu erledigenden Verwaltungsaufgaben kann ein endogenes Vereinheitlichungspotenzial zukommen, das als gemeinsame Entwicklungschance auch und nicht zuletzt für das Verwaltungsverfahren begriffen werden sollte91. Die gemeinsame „Mittelzone“, auf die sich trotz aller verbleibenden Unterschiede die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen zuzubewegen haben, ist auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrens dadurch geprägt, dass 87

BVerwGE 100, 238 (242 ff.); 100, 370 ff. Wahl, Verhältnis von Verwaltungsverfahren (Fn. 1), S. 1286. 89 Dazu Wahl, Verhältnis von Verwaltungsverfahren (Fn. 1), S. 1287. 90 s. nur F. Schoch, Die Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, JZ 1995, 109 (S. 117). 91 Schmidt-Aßmann, Europäisierung (Fn. 4), S. 487. 88

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in ihr der Verfahrensgedanke einen deutlich höheren Stellenwert einnimmt als nach traditionellem deutschen Verständnis92. Die „Neugier und Sensibilität“, die Rainer Wahl mit Blick auf die Europäisierung und Internationalisierung des Rechts selbst praktiziert und der Rechtswissenschaft nahelegt hat93, wird auf lange Sicht zu einem anderen Verfahrensverständnis im deutschen Recht führen.

92 93

Wahl, Verhältnis von Verwaltungsverfahren (Fn. 1), S. 1293. Wahl, Herausforderungen (Fn. 2), S. 102.

Das WTO-Streitbeilegungssystem auf dem Weg zur internationalen Gerichtsbarkeit Von Meinhard Hilf / Tim Ren Salomon, Hamburg Es kann kaum verwundern, dass Rainer Wahl bei seiner Suche nach den Grundlagen des Rechts auch auf ihm eigentlich fernliegende Rechtsgebiete stoßen musste. Zunächst lotete er das nationale Verfassungsrecht mit den Instrumenten der Rechtstheorie, der Rechtsvergleichung und der Rechtsgeschichte aus. Hierbei stieß er immer wieder auf Bezüge zum europäischen und schließlich auch universellen Bereich und dabei wiederum auf weithin unerschlossene Rechtsgebiete, denen er sich unerschrocken näherte.1 Hierzu gehört auch die Welthandelsorganisation WTO,die mit dem bald zu erwartenden Beitritt Russlands einen universellen Rechtsrahmen im Bereich des internationalen Wirtschaftsrechts entwickelt haben wird. Dies hätte auch eine Aufwertung des Streitbeilegungssystems zur Folge, welches schon jetzt zu Recht als das Herz der WTO bezeichnet wurde.2 Auch vom derzeitigen Stocken der Doha-Runde zur Reform der WTO bleibt das Streitbeilegungssystem weitgehend unberührt, nicht zuletzt, da die Verhandlungen förmlich von denen der Doha-Runde getrennt sind. Das WTO-Streitbeilegungssystem ist das weltweit erste nahezu universelle obligatorische Verfahren zur Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten und somit eine völkerrechtliche Besonderheit. Besonders ist auch, dass die WTO-Streitbeilegung sich weitestgehend einer klaren Einordnung in bekannte Kategorien von Streitbeilegungssystemen entzieht. Mit dem Streitbeilegungsverfahren ist es den Mitgliedsstaaten der WTO gelungen, abseits anerkannter Kategorien, eine Chimäre aus echter Gerichtsbarkeit und einvernehmlicher Streitbeilegung zu erschaffen, die ihre Souveränität schont und trotzdem die effektive und rechtsförmige Überprüfung von Sachverhalten gewährleistet. Auf der einen Seite ist der effektiven Durchsetzung der WTO-Verpflichtungen im Wege der Verbindlicherklärung der Entscheidungen durch den Dispute Settlement Body (DSB) Genüge getan,3 auf der anderen Seite orientiert sich die Streitbeilegung jedoch an dem Prinzip der einvernehmlichen Lösungsfindung (Art. 3.7 DSU). Im 1 So zum Beispiel in seinen grundlegenden Betrachtungen des öffentlichen Rechts, Herausforderungen und Antworten: Das öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006. 2 Renato Ruggiero, Address to the World Bank/IMF Development Committee in Washington, D.C., 1996, Focus, WTO Newsletter, No. 12, August-September 1996, S. 7. 3 Zur Umsetzung und Durchsetzung Meinhard Hilf/Tim Ren Salomon, Das Streitbeilegungssystem der WTO, in: Hilf/Oeter (Hrsg.), WTO-Recht, 2. Aufl. 2010, § 7, Rn. 58.

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Rahmen dieses Beitrags soll die Entwicklung dieses Streitbeilegungssystems hin zu einer gerichtsähnlichen Streitbeilegung aufgezeigt werden, wobei dem Verfahrensprinzip der Transparenz besondere Beachtung zukommen wird. I. Entwicklung der WTO-Streitbeilegung Der Grund der Einordnungsschwierigkeiten des Streitbeilegungssystems liegt auch in dessen Entstehungsgeschichte. Nach der Ablehnung der International Trade Organization (ITO) durch die USA wurde das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) im Jahr 1947 als nicht-institutionelle Übergangslösung genutzt. Dessen Streitbeilegungssystem war zwar souveränitätsschonend, allerdings, nicht zuletzt wegen des Erfordernisses des positiven Konsenses, dem good-will der Streitparteien schutzlos ausgeliefert.4 Von diesem Ausgangspunkt erfolgte die Weiterentwicklung des Streitbeilegungssystems für Welthandelskonflikte – wie zumeist im Völkerrecht – in kleinen Schritten und mit großer Rücksichtnahme auf die Souveränität der Vertragsparteien. Aus diesen historischen Umständen ergibt sich auch die Vielschichtigkeit der WTO-Streitbeilegung, welche eine eindeutige Einordnung nicht zulässt. Die jetzige WTO-Streitbeilegung beruht auf einem vielschichtigen – den einzelnen Phasen angepassten – Regelungsregime. 1. Der Blick zurück: Streitbeilegung unter dem GATT 1947 Das GATT 1947 enthielt nur wenige Artikel, die den Rahmen für die Streitbeilegung absteckten. So sah Art. XXII GATT 1947 die Möglichkeit bilateraler Konsultationen bezüglich der „Vorstellungen, welche die Anwendung dieses Übereinkommens betreffen“ vor. Art. XXIII GATT 1947 enthielt eine Verpflichtung zur Durchführung von Konsultationen als Voraussetzung der Vorlage einer Streitigkeit bei den Vertragsparteien. War eine Vertragspartei der Auffassung, dass Zugeständnisse oder sonstige Vorteile, die sich mittelbar oder unmittelbar aus dem Übereinkommen ergeben, zunichte gemacht oder geschmälert worden sind (nullification or impairment), so konnte sie die Angelegenheit den Vertragsparteien vorlegen. Art. XXIII GATT 1947 ermächtigte diese insgesamt, nach ihrem Ermessen Weisungen und Empfehlungen abzugeben und gegebenenfalls einer Vertragspartei die Aussetzung von vertraglichen Zugeständnissen zu erlauben.5

4

Zu den Hintergründen, Georges Abi-Saab, The WTO Dispute Settlement and General International Law, in: Yerxa/Wilson (Hrsg.), Key Issues in the WTO Dispute Settlement: The First Ten Years, 2005, S. 7 f. 5 Nur in einem einzigen Fall wurde eine Vertragspartei tatsächlich ermächtigt, Handelsvorteile zu entziehen: Netherlands Measures of Suspension of Obligations to the United States, GATT-Panel, BISD (1953) 1S/32.

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In der Anfangsphase des GATT 1947 wurde versucht, Streitfälle ausschließlich auf dem Verhandlungswege zu lösen. Hierzu trafen sich die Vertragsparteien zunächst halbjährlich. Später wurde ein intersessional committee errichtet und wiederum später eine besondere Arbeitsgruppe (working party) mit der Suche nach Lösungswegen betraut.6 Mitte der 1950er Jahre trat eine entscheidende Veränderung im Streitbeilegungssystem ein: Es wurde beschlossen, die Arbeitsgruppe, zu der allen Vertragsparteien der Zugang offen stand, durch sog. Panel, bestehend aus drei bzw. fünf Experten, zu ersetzen.7 Dies war der erste Schritt hin zu einem gerichtsähnlichen Verfahren. Im Laufe der Jahre wurde das Streitbeilegungssystem durch einige Entscheidungen und understandings ergänzt und zunehmend kodifiziert. Noch heute prägend ist das Understanding Regarding Notification, Consultation, Dispute Settlement and Surveillance8, das 1979 von den Vertragsparteien angenommen wurde. Es beschreibt zum ersten Mal detailliert den vorgesehenen Verfahrensablauf, wie er sich auch in weiten Teilen im heutigen Dispute Settlement Understanding (DSU) wiederfindet.9 In der Folgezeit mehrte sich jedoch die Kritik am bestehenden Streitbeilegungssystem. Mit der Aufnahme dieses Reformanliegens im Rahmen der Uruguay-Runde wurde schließlich eine Neugestaltung des Streitbeilegungsverfahrens eingeleitet.10 Insgesamt war das Streitbeilegungssystem des GATT 1947 äußerst erfolgreich. Aufgrund der gleichgerichteten Interessen der Vertragsparteien an der Wirksamkeit der vereinbarten Regeln wurden zwischen 1948 und 1994 von 196 angestrengten Verfahren immerhin 81 mit Panelberichten abgeschlossen.11 Allerdings litt das Streitbeilegungssystem an gravierenden Schwächen.12

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Robert E. Hudec, The GATT Legal System and World Trade Diplomacy, 1975, S. 66. Meinhard Hilf, Streitbeilegung in der Welthandelsorganisation, in: Marauhn (Hrsg.), Streitbeilegung in internationalen Wirtschaftsbeziehungen, 2005, S. 1 (7 f.). 8 Vom 28. 11. 1979, BISD 26S/210; näher hierzu Pierre Pescatore, The GATT Dispute Settlement Mechanism: Its Present Situation and its Prospects, J.W.T. 27 (1993), S. 5 (6 f.). 9 Zunächst waren Konsultationen durchzuführen, in denen der Generaldirektor des GATT als Vermittler in Anspruch genommen werden konnte. Kam es in diesem Stadium zu keiner einvernehmlichen Lösung, so war ein Panelverfahren vorgesehen. Das jeweilige Panel, das nunmehr auch mit Nicht-Regierungsvertretern besetzt sein durfte, hatte einen Bericht mit abschließenden Empfehlungen anzufertigen und diesen dem GATT-Rat zu unterbreiten. Nahm ihn der Rat an, wurde er für die Streitparteien verbindlich. Bezüglich der Entscheidungsfindung galt das Prinzip des (positiven) consensus. 10 Ministererklärung von Punta del Este vom 20. 9. 1986, Abschnitt D – Verhandlungsthemen; siehe hierzu Frithjof Behrens, Uruguay-Runde und die Gründung der WTO, in: Hilf/ Oeter, WTO-Recht, 2. Aufl. 2010, § 4, Rn 6 f. 11 GATT-Analytical Index, S. 771 ff.; für eine statistische Auswertung der Panelverfahren während der Jahre 1948 bis 1989 siehe Robert E. Hudec/Daniel L. Kennedy/Mark Sgarbossa, A Statistical Profile of GATT Dispute Settlement Cases: 1948 – 1989, Minn. J. Global Trade 2 (1993), S. 1. 12 Übersicht bei John H. Jackson, The World Trade Organization – Constitution and Jurisprudence, 1998, S. 71; siehe auch Meinhard Hilf, Settlement of Disputes in International Economic Organizations: Comparative Analysis and Proposals for Strengthening the GATT 7

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Zunächst begünstigte die Tatsache, dass dem GATT 1947 kein einheitliches Streitbeilegungssystem zugrunde lag, die Möglichkeit des sog. forum-shopping. In der Tokio Runde konnten sich die Vertragsparteien in vielen Punkten nicht auf allgemeinverbindliche Absprachen einigen, so dass verschiedene codes vereinbart wurden – Regelungsregime, denen sich die Vertragsparteien freiwillig unterwerfen konnten. Sieben dieser codes sahen spezielle Regeln für die Beilegung von Streitigkeiten vor. Somit konnten Beschwerdeführer in gewissem Umfang die Regeln desjenigen Streitbeilegungsverfahrens herauszusuchen, in welchem ein positiver Ausgang am wahrscheinlichsten erschien.13 Als bedeutsamster „Geburtsfehler“ des GATT 1947 wird jedoch im Allgemeinen das Prinzip des positiven Konsenses bezeichnet, das vor allem bei der Annahme der Panel-Berichte zur Anwendung kam.14 Da ein positiver Konsens dann scheiterte, wenn eine der Vertragsparteien sich gegen den Bericht aussprach, konnte die potentiell unterlegene Partei die Annahme des Berichts jederzeit blockieren. Auch die Einsetzung eines Panels konnte auf diesem Wege verzögert oder sogar verhindert werden. Erstaunlicherweise kam es nur selten dazu, dass eine Partei die Annahme eines Berichts blockierte.15 Aber allein die Existenz dieses faktischen Vetorechts schwächte das Vertrauen in die Wirksamkeit des Streitbeilegungssystems. In Reaktion auf diese Defizite einigten sich die Vertragsparteien beim Abschluss der Uruguay-Runde auf eine Reform des Streitbeilegungssystems, welche zum 1. Januar 1995 als „Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten“ (Dispute Settlement Understanding, DSU) in Kraft trat. Hierdurch wurde das Streitbeilegungsverfahren grundlegend reformiert und auf den heutigen Stand gebracht.16

Dispute Settlement Procedures, in: Petersmann/Hilf (Hrsg.), The New GATT Round and Multilateral Trade Negotiations, 1989, S. 285 (300 f.); Patrick Specht, The Dispute Settlement Systems of WTO and NAFTA – Analysis and Comparison, Ga. J. Intl & Comp. L. 27 (1998), S. 57 (72 ff.). 13 Näher zum forum shopping siehe etwa Ernst-Ulrich Petersmann, The Dispute Settlement System of the World Trade Organization and the Evolution of the GATT Dispute Settlement System Since 1948, C.M.L.R. 31 (1994), S. 1157 (1203). 14 Trotz des in Art. XXV:4 GATT 1947 vorgesehenen einfachen Mehrheitserfordernisses war es ständige GATT-Praxis, dass die VERTRAGSPARTEIEN wichtige Entscheidungen, wie etwa die Einrichtung eines Panel, die Bestimmung von Panelmitgliedern, die Annahme eines Panelberichtes oder aber die Verhängung von Retorsionsmaßnahmen, einstimmig fassten; allgemein zur Entscheidungsfindung, Meinhard Hilf, Die WTO als Rechtsordnung und Institution, in: Hilf/Oeter (Hrsg.), WTO-Recht, 2. Aufl. 2010, § 6, Rn. 33 ff. 15 Michael J. Hahn, Die einseitige Aussetzung von GATT-Verpflichtungen als Repressalie, 1996, S. 237 kommt auf insgesamt neun Fälle, in denen Panelabschlußberichte im GATT-Rat nicht angenommen worden sind. Blockiert wurden dabei vorwiegend Berichte, die sich auf den Bereich der umstrittenen Antidumping- bzw. Antisubventionskodizes bezogen. 16 Für eine Würdigung der Neuerungen Hilf/Salomon (Fn. 3), Rn. 12; Hilf (Fn. 7), S. 8.

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2. WTO-Streitbeilegung – eine Bestandsaufnahme Das heute geltende Streitbeilegungsverfahren beginnt mit einer vertraulichen Verhandlungsphase vor dem DSB (Art. 4 DSU),17 während welcher Möglichkeiten einer einvernehmlichen Lösung ergründet werden.18 Führen die Verhandlungen, wie im Regelfall,19 nicht zu einer Lösung, so wird auf Verlangen einer Streitpartei die Panel-Phase eingeleitet. Die Panel-Phase mit ihren drei unterschiedlichen Beschwerdearten hat deutliche Anklänge an die Schiedsgerichtsbarkeit.20 Die Verhandlungen im Rahmen des Panelverfahrens sind, wie auch die Konsultationen zuvor, vertraulich und dies selbst gegenüber anderen WTO-Mitgliedern, es sei denn sie sind Dritte dieser Streitigkeit (Art. 10 DSU). Die Panel-Mitglieder werden grundsätzlich von den Parteien ausgesucht,21 welche die Streitigkeit auch weiterhin außerhalb des Panelverfahrens einvernehmlich beilegen können. Ferner bestimmen die Streitparteien die 17

Beachte jedoch Art. 4.11 DSU. Hilf/Salomon (Fn. 3), Rn. 19; auch Valerie Hughes, The WTO Dispute Settlement System – From Initiating Proceedings to Ensuring Implementation: What Needs Improvement?, in: Sacerdoti/Yanovich/Bohanes (Hrsg.), The WTO at Ten, 2006, S. 193 (198); N. David Palmeter/ Petros C. Mavroidis, Dispute Settlement in the World Trade Organization – Practice and Procedure, 2. Aufl. 2004, S. 86 f.; Friedl Weiss, WTO Streitbeilegung, in: Tietje (Hrsg.) Internationales Wirtschaftsrecht, 2009, § 17, S. 776 f.; zum GATT 1947 siehe nur Wolfgang Benedek, Die Rechtsordnung des GATT, 1990, S. 311 ff. 19 John G. Merrills, International Dispute Settlement, 4. Auflage, 2005, S. 215; Peter van den Bossche, The law and policy of the World Trade Organization, 2008, S. 173 geht davon aus, dass lediglich 16 % der Konflikte auf dieser Ebene beigelegt werden, wobei er weitere 8 % der Fälle durch anderweitige Lösungswege gelöst sieht. 20 Zu den drei Beschwerdearten Hilf/Salomon (Fn. 3), Rn. 24. Unterschieden werden der übliche Fall des violation complaints, des non-violation complaints und des in der Streitbeilegungspraxis letztlich bedeutungslosen situation complaints; zum violation complaint, vgl. Jeffrey Waincymer, WTO Litigation, Procedural Aspects of Formal Dispute Settlement, 2002, S. 91 f.; Florentino P. Feliciano/Peter van den Bossche, The Dispute Settlement System of the World Trade Organization: Institutions, Process and Practice, in: Blokker/Schermers (Hrsg.), Proliferation of International Organizations, 2001, S. 297 (307 ff.); Peter-Tobias Stoll/Frank Schorkopf, WTO – Welthandelsordnung und Welthandelsrecht, 2002, Rn. 423; zu den Besonderheiten des non-violation- bzw. situation complaints Hilf/Salomon (Fn. 3), Rn 78 f.; ferner Weiss (Fn. 18), S. 770. 21 Hilf/Salomon (Fn. 3), Rn. 26 f.; den Streitparteien wird zur Erleichterung der Auswahl der Panelmitglieder eine vom Sekretariat geführte, aber nicht abschließende Liste potentieller Experten zur Verfügung gestellt (Art. 8.4 DSU, sog. roster), Indicative List of Governmental and Non-Governmental Panelists, WTO-Dok. WT/DSB/W/8 (Annex) vom 15. 9. 1995; zur Auswahl der Panelmitglieder siehe im übrigen Joseph. H. H. Weiler, The Rule of Lawyers and the Ethos of Diplomats: Reflections on the Internal and External Legitimacy of WTO Dispute Settlement, J.W.T. 35 (2001), S. 191 (202 f.); Andrew W. Shoyer, Panel Selection in WTO Dispute Settlement Proceedings, J.I.E.L. 6 (2003), S. 203; Michael J. Trebilcock/Robert Howse, The Regulation of International Trade, 3. Aufl. 2005, S. 124; Weiss (Fn. 18), S. 779 f.; kommt es innerhalb von 20 Tagen nach Einsetzung des Panel zu keiner Einigung der Streitparteien über die Besetzung des Panel, so kann und muss der WTO-Generaldirektor, um taktische Verzögerungen zu vermeiden über die Zusammensetzung entscheiden (Art. 8.7 DSU); zu Reformüberlegungen, Marc L. Busch/Krzysztof J. Pelc, Does the WTO Need a Permanent Body of Panelists?, J.I.E.L. 12 (2009), S. 579. 18

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terms-of-reference und begründen damit den Streitgegenstand und die Zuständigkeit eines für den konkreten Fall einzusetzenden Panels.22 Den Abschluss findet das Panelverfahren mit dem Panelbericht.23 Anhand des Panelverfahrens wird die Entwicklung des Streitbeilegungsverfahrens von einem auf Parteiherrschaft beruhenden Verfahren – wie im allgemeinen Völkerrecht üblich – hin zu einer Art Offizialverfahren, das den öffentlich-rechtlichen Verfahren nahe kommt, besonders deutlich. Insbesondere die Rolle der Panel indiziert dieses Übergangsstadium: Der Umfang ihrer Prüfungsbefugnis richtet sich nach Art. 11 S. 2 DSU. Demzufolge hat das jeweilige Panel eine objektive Beurteilung des vor ihm liegenden Sachverhalts (objective assessment of the facts) und seiner Vereinbarkeit mit dem Welthandelsrecht vorzunehmen. Anders als im Rahmen der GATT-Streitbeilegung, die auch auf einen politischen Ausgleich gerichtet war, erfolgt hier somit eine vor allem rechtliche Beurteilung der gerügten Maßnahme(n). Dazu bedarf es einer objektiven Tatsachenbeurteilung, die jedoch weder eine völlige Neuermittlung des Sachverhaltes zulässt, noch eine bloße Übernahme der Sichtweisen der jeweiligen Streitparteien rechtfertigt.24 Nach Art. 13 DSU stehen einem Panel zudem weitreichende Befugnisse zur Aufklärung des betreffenden Sachverhalts zu. So hat es das Recht, von Amts wegen von jeder Einzelperson oder jedem Gremium, die es für geeignet hält, Informationen oder fachlichen Rat einzuholen.25 Zusätzlich fühlt es sich – einem Instanzgericht gleichend – jedenfalls faktisch an die Spruchpraxis des Appellate Body gebunden.26 Den flexibleren Regeln der Panelphase stehen in der Revisionsphase27 vor dem Appellate Body zwingende Regeln gegenüber. Der Appellate Body ist ein ständiger Spruchkörper, der über die Auslegung der WTO-rechtlichen Vorschriften wacht. Faktisch sind die vom DSB für verbindlich erklärten Entscheidungen des Appellate Body 22 Zu den terms of reference siehe Brazil – Measures Affecting Desiccated Coconut, Appellate Body Report, WT/DS22/AB/R, 20. 3. 1997, DSR 1997:1, S. 167 f. (186); United States – Countervailing Duties on Certain Corrosion-Resistant Carbon Steel Flat Products from Germany, Appellate Body Report, WT/DS213/AB/R und Corr. 1, 19. 12. 2002, Rn. 124 – 125; Hilf/ Salomon (Fn. 3), Rn. 27 f.; die sog. Dispositionsmaxime ist allerdings nicht genuin schiedsgerichtlich, sondern liegt auch nationalen Zivilverfahren zugrunde, Thomas Rauscher, Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung mit Gerichtsverfassungsgesetz und Nebengesetzen, 2004, Einleitung, Rn. 274 f. 23 Dazu Hilf/Salomon (Fn. 3), Rn. 36 f. 24 Mit diversen Beispielen aus der Spruchpraxis van den Bossche (Fn. 19), S. 248 f. Ausführlich zum Ganzen Stefan Ohlhoff, Die Streitbeilegung in der WTO, in: Prieß/Berrisch (Hrsg.), WTO-Handbuch, 2003, C.I.2., Rn. 94 ff.; Claus-Dieter Ehlermann, Reflections on the Appellate Body of the WTO, J.I.E.L. 6 (2003), S. 695 (701 ff.). 25 Zur Heranziehung von Sachverständigengruppen siehe Anhang 4 zum DSU; im übrigen Joost Pauwelyn, The Use of Experts in WTO Dispute Settlement, I.C.L.Q. 51 (2002), S. 325. 26 Dazu mit umfangreichen Nachweisen Götz Göttsche, WTO als Rechtsordnung, in: Hilf/ Oeter, WTO-Recht, 2. Aufl. 2010, § 5, Rn 22 f. 27 Zur Begrifflichkeit Hilf/Salomon (Fn. 3), Rn. 39; es handelt sich entgegen der deutschen Übersetzung nicht um ein Berufungsgremium, da die Überprüfung letztlich auf Rechtsfehler beschränkt ist.

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bindend für spätere Streitfälle. Auch die Mitglieder des als ständiger Spruchkörper eingerichteten Appellate Bodys stehen für den konkreten Streitfall nicht zur Disposition der Parteien.28 Der Appellate Body ist auf die Überprüfung von Rechtsfragen beschränkt, wobei er die zu beurteilenden Streitfälle nicht wegen fehlender Sachverhaltsaufklärung zurückverweisen kann (remand authority).29 Auf der Grundlage von hinreichenden tatsächlichen Feststellungen des Panels kann der Appellate Body jedoch auch auf Sachverhaltsaspekte eingehen, die das Panel nicht bewertet hat, etwa weil es eine der Tatbestandsvoraussetzungen fälschlicherweise verneint und deshalb die übrigen tatbestandlichen Voraussetzungen nicht weiter erörtert hat (completing the analysis).30 Bestehen keine hinreichenden tatsächlichen Feststellungen, hebt der Appellate Body die Panelentscheidung auf,31 so dass das Verfahren ohne einen Panelbericht endet und das gesamte Verfahren von einer der Parteien erneut in Gang gesetzt werden müsste, um eine verbindliche Streitentscheidung herbeizuführen.32 Schwere Fehler bei der Tatsachenermittlung können allerdings stets zur Aufhebung des Panelberichtes führen, da der Appellate Body im Sinne einer Missbrauchskontrolle prüft, ob ein Panel sein Ermessen bei der Gestaltung der Sachver28 Zur Ernennung der Mitglieder Hilf/Salomon (Fn. 3), Rn. 40; näher zum Ganzen ClausDieter Ehlermann, Six Years on the Bench of the „World Trade Court“ – Some Personal Experiences as Member of the Appellate Body of the World Trade Organization, J.W.T. 36 (2002), S. 605 (607 ff.). 29 Die Einführung einer solchen Rückverweisungsbefugnis ist Gegenstand der zahlreichen Reformvorschläge. Siehe zum Ganzen etwa David Palmeter, The WTO Appellate Body Needs Remand Authority, J.W.T. 32 (1998), Nr. 1, S. 41; vgl. auch die Änderungsvorschläge der EU Contribution of the European Communities and its Member States to the Improvement of the WTO Dispute Settlement Understanding, WTO-Dok. TN/DS/W/1, v. 13. 3. 2002, S. 13 (Einführung eines Art. 13 bis DSU – Remand Procedure); Ching-Chang Yen, Flexibility and Simplicity as Guiding Principles for Improving the WTO Dispute Settlement System, in: Georgiev/van der Borght (Hrsg.), Reform and Development of the WTO Dispute Settlement System, 2006, S. 439; Fernando Pierola, The Question of Remand Authority for the Appellate Body, in: Mitchell (Hrsg.), Challenges and Prospects for the WTO, 2004, S. 193 f. 30 Vgl. hierzu etwa den Fall United States – Standards for Reformulated and Conventional Gasoline, Appellate Body Report, WT/DS2/AB/R, 20. 5. 1996, DSR 1996:1, S. 3 (19 ff.), in dem der Appellate Body die weiteren Voraussetzungen des Art. XX lit. g) GATT prüft, nachdem er zu dem Ergebnis gekommen war, das Panel habe fälschlicherweise eine der Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift verneint und deswegen die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen nicht mehr geprüft; dazu mit weiteren Beispielen aus der Spruchpraxis Alan Yanovich/ Tania Voon, Completing the Analysis in WTO Appeals: The Practice and its Limitations, J.I.E.L. 9 (2006), S. 933. 31 So etwa in den Fällen Canada – Certain Measures Affecting the Automotive Industry, Appellate Body Report, WT/DS139/AB/R, WT/DS142/AB/R, v. 19. 6. 2000, DSR 2000:VI, 2995, paras. 145 f.; Korea – Definitive Safeguard Measure on Imports of Certain Dairy Products, Appellate Body Report, WT/DS98/AB/R, v. 12. 1. 2000, DSR 2000:1, 3, para. 92; European Communities – Measures Affecting Asbestos and Asbestos-Containing Products, Appellate Body Report, WT/DS135/AB/R, v. 5. 4. 2001, paras. 81 ff. 32 Viji Rangaswami, Operation of the Appellate Process and Functions, Including the Appellate Body, L. & Poly Intl Bus. 31 (2000), S. 701 (703); Georg M. Berrisch, Cancffln – was nun?, RIW 2004, S. 69 (73).

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haltsermittlung willkürlich überschritten hat.33 Auch das Appellate Body Verfahren endet mit dem Zustandekommen eines Berichts, der in der Regel vom DSB angenommen wird, es sei denn, die Mitglieder sprechen sich im Wege des negativen Konsenses gegen eine Annahme aus (Art. 17.14 DSU).34 Die Revisionsphase vor dem Appellate Body nähert sich somit stark der echten Gerichtsbarkeit an.35 Lediglich die noch immer größtenteils beibehaltene Vertraulichkeit der Verhandlungen erscheint diesbezüglich systemfremd, ist jedoch in der bereits skizzierten Entwicklung begründet. Die offenbar beabsichtigte uneindeutige Stellung des Streitbeilegungsverfahrens ist auch an der Benennung der Organe und Prozesse des Verfahrens ersichtlich. So wurden Anklänge der echten Gerichtsbarkeit bewusst vermieden, wie beispielhaft in der Bezeichnung der ersten Instanz als „Panel“, der Revisionsinstanz als „Body“ und der jeweiligen Entscheidung als „Report“ (Art. 7.1 DSU) zu erkennen ist.36 Die zögerliche Einstellung der Mitglieder vor einer vollumfänglichen Unterwerfung unter ein verbindliches, gerichtliches Streitbeilegungssystem wird auch anhand dieser Terminologien deutlich. 3. Fazit: Einordnung des status quo Das Streitbeilegungssystem der WTO ist ein zentrales Element zur Schaffung von Sicherheit und Vorhersehbarkeit im multilateralen Handelssystem.37 Es bezieht zwar nur WTO-Mitglieder als Akteure ein, aber im Hintergrund jedes Verfahrens stehen auf beiden Seiten eine Vielzahl von privaten Einzelinteressen, die die Mitglieder drängen und unterstützen, ohne jedoch nach außen hin in Erscheinung treten zu kön-

33 EC Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones), Appellate Body Report, WT/DS26/AB/R, WT/DS48/AB/R, v. 13. 2. 1998, DSR 1998:1, 135, para. 133; Argentina – Textiles and Apparel, Appellate Body Report, WT/DS56/AB/R, DSR 1998:111, 1033, paras. 77 ff.; European Communities – Measures Affecting the Importation of Certain Poultry Products, Appellate Body Report, WT/DS69/AB/R, v. 23. 7. 1998, DSR 1998:V, 2031, paras. 131 ff.; siehe hierzu auch Maurits Lugard, Scope of Appellate Review, Objective Assessment of the Facts and Issues of Law, J.I.E.L. 1 (1998), S. 323; Stefan Ohlhoff, Die Streitbeilegung in der WTO, in: Prieß/Berrisch (Hrsg.), WTO-Handbuch, 2003, C.I.2., Rn. 106. 34 Dazu und zu den Schritten der Annahme im DSB Hilf/Salomon (Fn. 3), Rn. 16, 43. 35 Ausführlich Alberto Alvarez-Jimenez, The WTO Appellate Bodys Decision-Making Process: A Perfect Model For International Adjudication?, J.I.E.L. 12 (2009), S. 289 f.; Peter van den Bossche, The Making of ,The World Trade Court: The Origins and Development of the Appellate Body of the World Trade Organization, in: Yerxa/Wilson (Hrsg.), Key Issues in the WTO Dispute Settlement: The First Ten Years, 2005, S. 63 (79). 36 Donald McRae, What is the Future of WTO Dispute Settlement, J.I.E.L. 7 (2004), S. 3 (7); Patrick Hofmann, Der WTO-Streitbeilegungsmechanismus, Bucerius Law Journal 3/2007, S. 112 (116) mwN. 37 Siehe Art. 3.2 DSU.

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nen.38 Die Streitbeilegung unter der WTO vollzieht sich dabei im Spannungsfeld zwischen dem souveränitätsschonenden Ausgleich im Verhandlungswege und der streitigen Entscheidung zur Einhaltung des WTO-Systems als Teilrechtsordnung des Völkerrechts.39 Eine vollständige Unterwerfung seitens der Mitglieder unter eine wirtschaftsvölkerrechlichte Gerichtsbarkeit ist trotz der heutigen Nähe des WTO-Streitbeilegungsverfahrens hierzu jedoch noch nicht erfolgt. Auch wenn jedenfalls der Appellete Body bereits heute die Grundcharakteristika eines internationalen Gerichts weitgehend erfüllt, so gilt dies nicht in gleichem Maße für das Streitbeilegungssystem in seiner Gesamtheit.40 II. Verfahrenstransparenz als Indikator für die Verrechtlichung Auch die Handhabung der Verfahrensprinzipien untersteht dem aufgezeigten Wandel hin zu einer verbindlichen Gerichtsbarkeit und belegt diesen teils in eindrucksvoller Weise. Besonders anschaulich ist die Handhabung des Prinzips der Verfahrenstransparenz, welches ein Grundcharakteristikum nationaler und internationaler Gerichtsverfahren ist, während schiedsgerichtliche Verfahren oder auch bilaterale Verhandlungen typischerweise nicht öffentlich sind.41 Die Transparenz eines Verfahrens ist folglich ein wichtiger Indikator für die Einordnung eines Streitbeilegungssystems. 1. Öffentlichkeit der Verfahren Der Ausschluss der Öffentlichkeit und die in Art. 14 DSU angeordnete Vertraulichkeit der Verfahren erklärt sich aus den handelsdiplomatischen Ursprüngen des Streitbeilegungsverfahrens. Mit einer Hinkehr zu einer internationalen Gerichtsbarkeit ist der gänzliche Ausschluss der Öffentlichkeit indes nicht vereinbar. Nicht zuletzt wegen dieser Erwägungen und vor dem Hintergrund des Sutherland-Reports 200442 hat sich hinsichtlich der Zulassung der Öffentlichkeit ein Trendwechsel voll-

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Zur innerstaatlichen Anwendung des WTO-Rechts Saskia Hörmann, Rechtsschutz Privater, in: Hilf/Oeter, WTO-Recht, 2. Aufl. 2010, § 8, Rn. 26 ff.; instruktiv auch Gregory C. Shaffer, Defending Interests: Public-Private Partnerships in WTO Litigation, 2003. 39 Vgl. Göttsche (Fn. 26), Rn. 27 f.; zur Souveränitätswahrung, ebenda, Rn. 45 f. sowie McRae (Fn. 36), S. 7. 40 Vgl. zu den Charakteristika eines internationalen Gerichts Hermann Mosler, Das Grundgesetz und die internationale Streitschlichtung, Handbuch des Staatsrechts, 1. Aufl. 1992, Bd. VII, § 179, Rn. 17. 41 Zum Transparenzprinzip sowie zum Prinzip der Rechtsstaatlichkeit siehe Göttsche (Fn. 26), Rn. 50 ff.; für das deutsche Recht vgl. § 169 GVG. 42 Eine der Schlussfolgerungen zum Problembereich Transparenz in der WTO lautete wie folgt: „The Consultative Board feels that the degree of confidentiality of the current dispute settlement proceedings can be seen as damaging to the WTO as an institution. This board accepts the view of many participants in the system that many public observers would be favourably impressed with the processes.“ Consultative Board to the Director-General Supachai

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zogen. Seit 2005 wird Öffentlichkeit in Panel-Verfahren hergestellt, in denen die Streitparteien dies verlangen.43 2008 wurde erstmals ein Verfahren vor dem Appellate Body für die Öffentlichkeit geöffnet.44 Die WTO-rechtliche Zulässigkeit dieses Trendwechsels wird kontrovers beurteilt. Hinsichtlich der Panelverfahren verbrieft Art. 14 DSU letztlich bloß eine Vertraulichkeit der Beratungen (deliberations). Im allgemeinen Sprachgebrauch der internationalen Gerichtsbarkeit sind die deliberations jedoch in erster Linie die Beratungen der Richter bzw. Panelists unter sich, vor der Verkündung des Urteils bzw. des Panelberichts. Somit sperrt sich Art. 14 DSU bereits deswegen nicht gegen die Zulassung öffentlicher Verfahren. Schwieriger ist die Zulässigkeit der Öffnung der Appellate Body Verfahren. Art. 17.10 DSU beginnt mit den Worten: „The proceedings of the Appellate Body shall be confidential.“ Proceedings erscheint begrifflich weiter zu sein als der Begriff der deliberations und umfasst nach vorheriger Spruchpraxis des Appellate Body auch die mündlichen Verhandlungen.45 Die Ansichten der Mitglieder waren hinsichtlich der Zulassung der Öffentlichkeit in Appellate Body Verfahren geteilter Ansicht.46 Der Appellate Body hat sich in einem verfahrensleitenden Beschluss zwar faktisch der Ansicht angeschlossen, dass proceedings die Gesamtheit des Verfahrens vor dem Appellate Body bedeutet und somit die Ansicht der damaligen EG und der USA verworfen, die für eine restriktive Interpretation des Begriffs eintraten.47 Allerdings erstreckt sich die Freistellung der Veröffentlichung von Material in Art. 18.2 DSU nach Ansicht des Appellate Body auch auf die mündlichen Verhandlungen, so dass es den Mitgliedern freigestellt sei, sich für ein öffentliches Verfahren zu entscheiden. Diese Entwicklungen sind begrüßenswert. Es erscheint wahrscheinlich, dass sich der Trend der Öffnung für die Öffentlichkeit festigen und ausweiten wird. Es sind Panitchpakdi, The Future of the WTO: Addressing Institutional Challenges in the New Millennium, 2004, Rn. 261. 43 Erstmals US and Canada – Continued suspension of obligations, Communication from the Chairman of the Panels of 1 August 2005, WT/DS320/8, WT/DS321/8, v. 2. 8. 2005; für eine Liste der öffentlichen Verfahren bis Ende 2008, siehe Lothar Ehring, Public Access to Dispute Settlement Hearings in the World Trade Organization, J.I.E.L. 11 (2008), S. 1021 (1034). 44 Zum Ganzen Ehring (Fn. 43), S. 1021 f.; zum Appellate Body, ebenda, S. 1028 f.; WTO Appellate Bodys Activities in 2008, J.I.E.L. 12 (2009), S. 209 (218 f.). 45 Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft, Appellate Body Report, WT/DS70/AB/R, 20. 8. 1999, DSR 1999:111, 1377, Rn. 141 – 147; Brazil – Export Financing Programme for Aircraft, Appellate Body Report, WT/DS46/AB/R, v. 20. 8. 1999, DSR 1999:VIII, 3327, Rn. 119 – 125. 46 „Australia, New Zealand, Norway, and the Separate Customs Territory of Taiwan, Penghu, Kinmen and Matsu supported the participants request to open the hearing to public observation. Brazil, China, India, and Mexico requested the Appellate Body to deny the participants request.“ US – Continued suspension of obligations, Appellate Body Report, WT/ DS320/AB/R, v. 16. 10. 2008, Rn. 31. 47 US – Continued suspension of obligations (Fn. 46), Annex IV, Rn. 3, 11.

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auch keine Gründe zu erkennen, warum man gegenwärtig noch an der Praxis der strikten Parteienöffentlichkeit im Gegensatz zur allgemeinen Öffentlichkeit festhalten sollte. Geschäftsgeheimnisse und andere anerkennenswerte Vertraulichkeitsinteressen können jedenfalls trotzdem geschützt werden.48 2. Freunde des Gerichts (amicus curiae) und die Beteiligung von NGOs Größeres Medieninteresse als die Öffnung der Panel- und Appellate Body Verfahren auf Gesuch der Streitparteien hat die Entscheidung des Appellate Body im Fall US – Shrimps zu der Frage einer aktiven Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organizations, NGOs) im Streitbeilegungsverfahren der WTO hervorgerufen.49 Die aktive Beteiligung ist ein nicht zu unterschätzender Transparenzträger und ist letztlich fortschrittlicher als die Ausgestaltung nationaler Gerichtsverfahren in Deutschland, denen die Rechtsfigur des amicus curiae briefs50 fremd ist. Aufgrund der umweltpolitischen Tragweite des Verfahrens US – Shrimps hatten Umweltschutzorganisationen, wie etwa der Worldwide Fund for Nature, bereits während der frühen Phase des Verfahrens vor dem WTO-Panel amicus curiae briefs eingereicht. Das Panel wies diese Stellungnahmen schon während des laufenden Verfahrens mit der Begründung zurück, dass sie unverlangt eingesandt worden seien und das Panel nach Art. 13 DSU nicht berechtigt sei, entsprechende Informationen zu berücksichtigen. Dies bestätigte das Panel später in seinem Bericht, akzeptierte jedoch einen von den USA in die eigene Stellungnahme aufgenommenen Ausschnitt eines amicus curiae briefs. Im Verfahren vor dem Appellate Body fügten die USA erneut drei amicus curiae briefs von verschiedenen NGOs als Anlagen bei. Gleichzeitig machten sie geltend, das Panel habe die selbständig eingereichten amicus curiae briefs rechtsfehlerhaft zurückgewiesen, da es Art. 13 DSU zu restriktiv ausgelegt habe. Dies bestätigte der Appellate Body in seiner Entscheidung: Obwohl es der Wortlaut des Art. 13 DSU nahe48

Näher zum Ganzen McRae (Fn. 36), S. 10 f., 16 f.; Ehring (Fn. 43), S. 1030 f.; zu eventuellen institutionellen Hindernissen Yves Bonzon, Institutionalizing Public Participation in WTO Decision Making: Some Conceptual Hurdles and Avenues, J.I.E.L. 11 (2008), S. 751 f. 49 Ehring (Fn. 43), S. 1033; Stefan Ohlhoff, Beteiligung von Verbänden und Unternehmen in WTO-Streitbeilegungsverfahren – Das Shrimps-Turtle Verfahren als Wendepunkt?, EuZW 1999, S. 139; Nick Covelli, Public International Law and Third Party Participation in WTOPanel Proceedings, J.W.T. 33 (1999), Nr. 2, S. 125; zu anderen Problemfeldern im Umgang mit NGOs, insbesondere mit Bezug zu Informationsaustausch Peter van den Bossche, NGO Involvement in the WTO: A Comparative Perspective, J.I.E.L. 11 (2008), S. 717. 50 Bei der Einreichung solcher „Schriftsätze von Freunden des Gerichts“ handelt es sich um eine insbesondere im US-amerikanischen Gerichtsverfahren weit verbreitete Praxis, in der Verfahrensunbeteiligte dem Gericht erklärende Stellungnahmen unterbreiten. Ausführlich dazu Robert E. Hudec, The New WTO Dispute Settlement Procedure: An Overview of the First Three Years, Minn. J. Global Trade 8 (1999), S. 1 (43 ff.) und Georg C. Umbricht, An ,Amicus Curiae Brief on Amicus Curiae Briefs at the WTO, J.I.E.L. 4 (2001), S. 773.

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lege, dass Informationen oder fachlicher Rat zuvor von dem Panel erbeten werden müssten, stehe dem Panel ein weiter Ermessenspielraum darüber zu, ob es überhaupt Informationen von Unbeteiligten einhole und wie es die so erhaltenen Informationen verwerte.51 Es könne daher auch nach eigenem Ermessen unverlangt eingereichte Schriftsätze berücksichtigen. Zudem stehe dem Panel im Rahmen des Art. 12 DSU ein gewisser Spielraum bei der Verfahrensgestaltung zu. Im Fall EC – Asbestos wurde der Appellate Body mit einer Flut unverlangter amicus curiae briefs konfrontiert. In einem verfahrensleitenden Beschluss stellte der Appellate Body daher eine Reihe von Voraussetzungen auf, unter denen er entsprechende Schriftsätze berücksichtigen werde.52 Dieser Beschluss wurde von den WTO-Mitgliedern im Allgemeinen Rat nahezu einhellig als Kompetenzüberschreitung kritisiert. Der Allgemeine Rat schlussfolgerte im Lichte dieser Kritik, dass der Appellate Body bei zukünftigen Fällen extreme Vorsicht walten lassen sollte.53 Der Appellate Body wies letztlich alle vorliegenden amicus curiae briefs als unzulässig zurück und leitete damit eine Praxis ein, nach der unverlangt eingereichte amicus curiae briefs im Ergebnis keinen Einfluss auf das Streitbeilegungsverfahren haben.54 Eine Regelung im größeren Zusammenhang wäre zur Lösung dieser Streitfrage jedoch vielversprechender, als diese faktische Nichtberücksichtigung,55 zumal die Berücksichtigung von amicus curiae briefs durchaus vorteilhafte Auswirkungen auf die Legitimität und Außenwirkung der WTO einerseits, andererseits aber auch auf die Qualität des Ergebnisses haben kann, da anerkannte NGOs zum Teil mit größtem Sachverstand und Hintergrundwissen operieren.56 Allerdings ist bereits die jetzige Praxis 51 United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products, Appellate Body Report, WT/DS58/AB/R, v. 6. 11. 1998, DSR 1998:VII, 2755, para. 104; siehe auch United States — Imposition of Countervailing Duties on Certain Hot-Rolled Lead and Bismuth Carbon Steel Products Originating in the United Kingdom, Appellate Body Report, WT/ DS138/AB/R, v. 10. 5. 2000, paras. 36 ff.; EC – Asbestos (Fn. 31), paras. 50 ff.; siehe auch Arthur E. Appleton, Amicus Curiae Submissions in the Carbon Steel Case: Another Rabbit From the Appellate Bodys Hat?, J.I.E.L. 3 (2000), S. 691. 52 EC – Asbestos, Communication from the Appellate Body, WT/DS135/9 v. 8. 11. 2000. 53 Minutes of the General Council Meeting of 22 November 2000, WT/GC/M/60, v. 23. 1. 2001, Rn. 120. 54 Dazu detailliert Corinna Sandrock, Allgemeine Rechtsgrundsätze im Verfahrensrecht der WTO, 2004, S. 204; auch Gabrielle Marceau/Matthew Stilwell, Practical Suggestions for Amicus Curiae Briefs Before WTO Adjudicating Bodies, J.I.E.L. 4 (2001), S. 155. 55 So auch McRae (Fn. 36), S. 17 f.; Claus-Dieter Ehlermann, Tensions Between the Dispute Settlement Process and the Treaty-Making Activities of the WTO, W.T.R. 1 (2002), S. 301 (302 ff.); Hughes (Fn. 18), S. 210. 56 Zu den Regeln der Auswahl der anerkannten NGOs van den Bossche (Fn. 49), S. 743 f.; zu den positiven Effekten der Einbeziehung von NGOs ebenda, S. 747 f.; Warwick Commission, The Multilateral Trade Regime: Which Way Forward?, 2007, S. 33 f.: „The Commission urges panels and the AB to be more open to the submission and consideration of amicus curiae briefs by non-state actors, including civil society. Permitting non-state actors to participate in this way has the benefit of enriching the nature and quality of information that panellists have when considering disputes and of contributing to the transparency of dispute resolution processes. Such briefs may have a particular value in disputes that involve conflicts between economic and

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in gewisser Weise transparenzfördernd. Die Schriftsätze der amicus curiae rufen teils ein großes Interesse hervor und wirken somit zumindest diskussionsfördernd. Darüber hinaus kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Argumente letztlich ausdrücklich oder auch implizit in das Ergebnis mit einfließen, da ein weiter Ermessensspielraum der Panel anerkannt ist. Hierdurch wird ein Anreiz geschaffen sich mit dem WTO-Streitbeilegungssystem und den Fällen im Einzelnen auseinander zu setzen. Durch die Anerkennung des weiten Ermessensspielraums im Bereich der amicus curiae briefs wird eine gewisse Art der gebilligten Mitarbeit von Interessengruppen institutionalisiert, die nicht zuletzt förderliche Auswirkungen auf die Legitimität der Streitbeilegung hat. Betrachtet man das Verfahrensprinzip der Transparenz und die dazugehörigen Problemfälle wie z. B. die Verfahrensöffentlichkeit und die Handhabung von amicus curiae Schriftsätzen, so wird deutlich, dass sich das WTO-Streitbeilegungssystem weit von den von Vertraulichkeit geprägten handelsdiplomatischen Ursprüngen entfernt hat und mittlerweile eher wie ein gerichtsähnliches System operiert. III. Die Verrechtlichung als Erfolgsursache – eine Bilanz Diese Entwicklung scheint sich insgesamt förderlich auf den Erfolg des WTO Streitbeilegungssystems auszuwirken. Mit dem Inkrafttreten der WTO ist die Anzahl der Streitbeilegungsfälle erheblich gestiegen.57 Von den seit 1995 insgesamt gestellten 390 Anträgen auf Aufnahme von Konsultationen (complaints), wurden bis einschließlich 2008 143 Panel-Berichte und 96 Appellate Body-Berichte vom DSB angenommen.58 Beachtlich ist hierbei die stärkere Inanspruchnahme des Streitbeilegungssystems durch die Entwicklungsländer. Obwohl die sog. Quad-Staaten (USA, EG/EU, Japan und Kanada) nach wie vor am häufigsten in Streitfälle verwickelt sind,59 treten auch die Entwicklungsländer (insbesondere Indien, Brasilien, Me-

non-economic values. We recognise that some fear the DSU could be overwhelmed by amicus submissions, although that experience over the past decade suggests that this fear can be easily overstated. However, in the unlikely event that amicus briefs are submitted in numbers that adversely affect the dispute settlement process, the Dispute Settlement Board could explore mechanisms to limit the number of submissions.“ 57 Zu den statistischen Angaben siehe insbesondere Update of WTO Dispute Settlement Cases („State of Play“), WTO-Dokumentenserie WT/DS/OV/*, www.wto.org/english/tratop_e/dispu_e/dispu_e.htm, abgerufen am 23. 12. 2010; siehe im übrigen auch Kara Leitner/ Simon Lester, WTO Dispute Settlement 1995 – 2009: A Statistical Analysis, J.I.E.L. 13 (2010), S. 205; für eine statistische Auswertung des GATT-Streitbeilegungsverfahrens Hudec/Kennedy/Sgarbossa (Fn. 11), S. 1. 58 Update of WTO Dispute Settlement Cases, WTO-Dok. WT/DS/OV/34, v. 26. 1. 2009, S. iii; Appellate Body, Annual Report for 2008, WTO-Dok. WT/AB/11, v. 9. 2. 2009, S. 10. 59 Auf Antragssteller- bzw. Antragsgegnerseite sind in nahezu der Hälfte der Verfahren entweder die USA oder die EU (früher: EG) beteiligt; so Leitner/Lester (Fn. 57), S. 197; siehe

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xiko und Thailand) zunehmend in Aktion. Ein gegenüber dem GATT 1947 neuartiges Phänomen ist, dass diese nunmehr auch gegeneinander Verfahren einleiten.60 In eindrucksvoller Weise belegt die erfolgreiche Einbindung der Entwicklungsländer den Übergang von der rule of power zu der rule of law, bei der überlegene Handelsmacht im Rahmen von Streitigkeiten zwar faktisch relevant, aber nicht notwendig ist, um die Einhaltung der WTO-rechtlichen Garantien durchzusetzen.61 Auch der mit Gründung der WTO errichtete Appellate Body erfreut sich außerordentlicher Beliebtheit. In 68 % der Fälle, die mit einem Panelbericht abgeschlossen worden sind, wurde das Rechtsmittel zum Appellate Body eingelegt. Die Durchführung eines Rechtsmittelverfahrens stellt in der bisherigen Praxis also nicht die Ausnahme, sondern den Regelfall dar.62 Hierdurch wird wiederum ersichtlich, dass die Streitparteien den Weg in das hochgradig gerichtsähnliche Revisionsverfahren keineswegs scheuen.63 Zugleich hat die zunehmende Verrechtlichung des WTO-Streitbeilegungsverfahrens aber auch dazu geführt, dass Parteien verstärkt versuchen – insbesondere in politisch brisanten Fällen – eine einvernehmliche Lösung zu finden.64 Diese Praxis wird vielfach als eine Bestätigung des Systems angesehen, da sie der zügigen Beilegung von Streitigkeiten dient. Würde aus politisch motivierten Gründen ein Streit zwar beigelegt, nicht aber ein WTO-konformer Zustand hergestellt, so wäre dies allerdings umfassend zu den transatlantischen Streitigkeiten Ernst-Ulrich Petersmann/Mark A. Pollack (Hrsg.), Transatlantic Economic Disputes, the EU, the US, and the WTO, 2003. 60 Näher zum Ganzen Christopher Arup, The State of Play of Dispute Settlement „Law“ at the World Trade Organization, J.W.T. 37 (2003), S. 897 (904 ff.); Mary E. Footer, Developing Country Practice in the Matter of WTO Dispute Settlement, J.W.T. 35 (2001), S. 55 (58); Marc L. Busch/Eric Reinhardt, Testing International Trade Law: Empirical Studies of GATT/WTO Dispute Settlement, in: Kennedy/Southwick (Hrsg.), The Political Economy of International Trade Law, Essays in Honour of Robert E. Hudec, 2002, S. 457 (462 ff.). 61 Dazu auch Hilf/Salomon, Running in Circles – Regionalism in World Trade and How It Will Lead Back to Multilateralism, in: Fastenrath et al. (Hrsg.), Essays in Honour of Bruno Simma, 2011, S. 257. 62 Appellate Body, Annual Report for 2008, WTO-Dok. WT/AB/11, v. 9. 2. 2009, Annex IV, S. 62. Andreas R. Ziegler, Scope and Function of the WTO Appellate System: What Future After the Millennium Round?, Max Planck UNYB 3 (1999), S. 439 (466 f.); Heinz Hauser/ Andrea Martel, Das WTO-Streitbeilegungsverfahren: Eine verhandlungsorientierte Perspektive, Außenwirtschaft 1997, S. 525 (545 f.); Leitner/Lester (Fn. 57), S. 202, Anrufung des Appellate Body in rund 69,9 % der Fälle. 63 Dies birgt freilich auch Probleme, zumal eine Schwächung der Panelinstanz zu befürchten ist und auch der zu erwartende Zeitgewinn die Anrufung des Appellate Bodys trotz aussichtsloser Rechtslage rechtfertigen kann, dazu Hilf/Salomon (Fn. 3), Rn. 84. 64 Siehe beispielsweise US – Imposition of Import Duties on Automobiles From Japan Under sec. 301 and 304 of the Trade Act of 1974, WT/DS6/*; US – The Cuban Liberty and Democratic Solidarity Act (Helms-Burton Act), Note by the Secretariat, WT/DS38/6, v. 24. 4. 1998; siehe auch Debra P. Steger/Susan Hainsworth, World Trade Organization Dispute Settlement: The First Three Years, J.I.E.L. 1 (1998), S. 199 (204); Art. 3.7 DSU verlangt, dass die erzielte Lösung mit den unter die Vereinbarung fallenden Übereinkommen übereinzustimmen hat.

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bedenklich. Denn Sicherheit und Vorhersehbarkeit im Welthandel lassen sich nur bei Einhaltung der materiellen WTO-Verpflichtungen garantieren. Die Errichtung der WTO hat nicht zuletzt zu einer Veränderung bei den streitrelevanten Themen geführt: Gab es unter dem GATT 1947 nur Streitfälle bezüglich des Warenhandels, so sind nunmehr auch der Handel mit Dienstleistungen und mit geistigem Eigentum von Bedeutung.65 Zudem haben die Streitfälle an Komplexität zugenommen, da sie jetzt vielfach gleichzeitig verschiedene Übereinkommen betreffen. Das Gros der Streitigkeiten spielt sich gleichwohl noch immer im Bereich des Warenhandels ab. Ein Drittel der behaupteten Verletzungen bezieht sich auf das GATT. Unilaterale Handelsinstrumente machen beinahe ein weiteres Viertel aus. Danach folgen Verstöße gegen das Landwirtschaftsübereinkommen, gefolgt von Verletzungen der SPS- und TBT-Übereinkommen. Auch anhand der bestehenden Reformvorschläge ist eine Tendenz der weiteren Verrechtlichung zu erkennen. Bereits 1994 ist der Ministerkonferenz durch einen ministeriellen Beschluss zur Uruguay-Runde aufgegeben worden, binnen vier Jahren nach Inkrafttreten des WTO-Übereinkommens über die weitere Anwendung, Änderung oder gar Abschaffung der Streitbeilegungsregeln zu entscheiden.66 Seit 1997 ist eine ganze Reihe unterschiedlicher Anregungen und Vorschläge von verschiedenen WTO-Mitgliedern vorgebracht worden. Von diesen zielen zwar einige auf die Rückgewinnung der Mitgliederkontrolle über das Streitbeilegungsverfahren ab. Die Mehrheit der Vorschläge ist jedoch auf eine weitere Verrechtlichung (etwa detailliertere Verfahrensregeln für die Panels) und bessere Legitimierung (Öffentlichkeit, Transparenz und amicus curiae briefs, Zugang für Einzelne) gerichtet.67 Somit sind weitere Schritte hin zu einer echten Gerichtsbarkeit abzusehen. Eine Einigung der Mitglieder konnte bisher jedoch nicht erzielt werden, obgleich die derzeitigen Verhandlungen förmlich von der Doha-Runde getrennt sind.68 Abzuwarten bleibt eine eventuelle Hinkehr der Mitglieder zu der bilateralen bzw. regionalen Streitbeilegung im Rahmen der 65 Die Beschwerdeführer beriefen sich 26 Mal auf eine Verletzung des TRIPS und immerhin 19 Mal auf einen Verstoß gegen das GATS; hierzu näher die tabellarische Übersicht bei Leitner/ Lester (Fn. 57), S. 202 sowie Appellate Body, Annual Report for 2008, WTO-Dok. WT/AB/11, v. 9. 2. 2009, S. 10 f.; die Bedeutung des Agreement on Trade-Related Investment Measures (TRIMs) spiegelt sich indes nicht in der Streitbeilegungsstatistik wider, zu den Gründen Martin Michaelis/Tim Ren Salomon, Handelsbezogene Investitionsmaßnahmen, in: Hilf/Oeter (Hrsg.), WTO-Recht, 2. Aufl. 2010, § 15, Rn. 33 f. 66 Beschluss zur Anwendung und Überprüfung der Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten, ABl. EG 1994 L 336/269. 67 Für eine Zusammenfassung der Vorschläge der einzelnen WTO-Mitglieder siehe die Übersicht auf der Homepage des Institute of International Economic Law (IIEL): www.law.georgetown.edu/iiel/research/projects/dsureview/synopsis.html (Stand: März 2009); ferner Thomas A. Zimmermann, Negotiating the Review of the WTO Dispute Settlement Understanding, 2006, http://mpra.ub.uni-muenchen.de/4498/1/MPRA_paper_4498.pdf, abgerufen am 23. 12. 2010, S. 127 f.; zu den Vorschlägen der Europäischen Kommission, Hilf (Fn. 7), S. 16 mwN. 68 Ministererklärung von Doha, WTO-Dok. WT/MIN (O1)/DEC/1, vom 14. 11. 2001, para. 30.

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zunehmenden Regionalisierung welthandelsrechtlicher Systeme.69 Der Weg der WTO von einem multilateralen Vertragswerk in eine sich stabilisierende Rechtsordnung dürfte jedoch letztlich ohne Alternative bleiben, zumal er von fast allen Mitgliedern stetig beschritten und als gegenseitig vorteilhaft aufgefasst wird und die Regionalisierungstendenzen teils mehr Probleme schaffen, als sie lösen.70

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So erwartet von McRae (Fn. 36), S. 20 f.; dazu auch Hilf/Salomon (Fn. 61). Diese positiven Effekte dürften letztlich dazu geführt haben, dass sich die USA überhaupt trotz vorgeblicher Abkehr von der internationalen Gerichtsbarkeit nach dem Nicaragua Urteil des IGH sich auf das reformierte und deutlich gerichtsähnlichere System der WTO-Streitbeilegung eingelassen haben, Hilf (Fn. 7), S. 8; zur Regionalisierung Hilf/Salomon (Fn. 61). 70

Schwächung der Demokratie durch verselbständigte Mehrebenensysteme Von Martin Hochhuth, Freiburg I. Einleitung: Die Globalisierung als Chance und Gefahr für demokratisches Recht Anfang 2011, in Rainer Wahls siebzigstem Jahr, steigern sich die „Wandlungsprozesse der politischen Welt und der politischen Einheiten“, die er in der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts diagnostiziert und beschrieben hat1: So stürzen in den arabischen Staaten Nordafrikas tyrannische Herrschaften durch demokratische Aufstände, andere werden immerhin zu Reformen gezwungen. Dabei speisen und stärken die globalisierten Medien, Internet, Radio, Fernsehen und andere schwer zu beherrschende Kommunikationsnetze den Optimismus und Freiheitswillen der Beteiligten, indem sie voneinander und von Gleichgesinnten in anderen Staaten ihres Kulturraumes erfahren. Auch noch ein anderer Aspekt der Globalisierung dürfte hier wohl wirken: Etwa, daß die Weltsprache Englisch bis hinab in die mittleren Volksschichten ausländische politische Nachrichten weltweit verständlich macht. Das kubanische Regime entläßt Dissidenten aus der Haft und selbst die chinesische Diktatur sorgt sich erkennbar vor dem Überspringen des demokratischen Funkens. Es scheint darum kein Zweifel möglich, daß einige Aspekte der Globalisierung die Freiheit und Demokratie jedenfalls dort wesentlich beflügeln können, wo sie bisher schwach ausgeprägt waren. Im Folgenden soll es aber um die Freiheitsstrukturen gehen, in denen der durchschnittliche Westeuropäer heute lebt. Hier fragt sich, ob ein Zentralelement der Globalisierung nicht den hohen Stand der demokratischen Freiheit gefährdet, der hier erreicht war. Die wichtigste Frage steht als These in der Überschrift: Schwindet die Demokratie? Schwindet sie durch jene verrechtlichten Mehrebenensysteme, die sowohl innerstaatlich (z. B. Bund – Land [Kanton] – Gemeinde) als auch durch die rechtlich institutionalisierte Globalisierung und Europäisierung alternativlos sind? Ich vermute es, und möchte acht Wirkfaktoren dieser Gefahr zur Diskussion stellen.

1 Vgl. Rainer Wahl: „Zwei Phasen des Öffentlichen Rechts nach 1949“ in: ders., „Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung“, Frankfurt (Suhrkamp) 2003, S. 411 – 435. Das obige Zitat ist aus dem Einleitungssatz.

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Die Faktoren sind: Unübersichtlichkeit, Zentralisierung, Delegation, sodann die „Zauberlehrlingsregel“2 mit ihren Gefahren von Technokratie und deren Objektivitätsanspruch, der Lobbyismus und schließlich der Umschlag von Quantität in Qualität, d. h. das Summationsproblem.3 Die Kritik, die aus dem Titel spricht, speist sich aus zwei Ideenbündeln, einem weltgeschichtlichen, und einem kleineren, nur nationalstaatlich bedeutsamen. Das kleinere Bündel sind die „Ideen von 1949“4. Das Grundgesetz nahm, wie alle modernen Verfassungen, die weltgeschichtliche Leistung der Französischen Revolution, eben wesentliche „Ideen von 1789“5 auf. Sie verfeinerte und ergänzte sie gemäß den seitherigen Fortschritten der Verfassungsgeschichte6 und verkörpert sie nun, als den guten Zwischenstand seiner eigenen Entstehungs-Epoche, seit über sechzig Jahren.7

2 Zu ihr, die auf Goethes anthropologisch tiefgründiges Gedicht anspielt, unten, S. 730 f. und vor allem S. 735 f. 3 Den ersten und achten Faktor, die Unübersichtlichkeit und das Summationsproblem resümiert Ralf Poscher in der Debatte zu seiner profunden Darstellung des Verfassungsrechts vor den Herausforderungen der Globalisierung (Mitbericht, in: VVDStRL 67, Berlin [de Gruyter] 2008, S. 160 – 200) als Verkomplizierung durch einen Rechtspluralismus, also dadurch, daß „wir mehrere Rechtssysteme (haben), für die jeweils … Normativität und Faktizität zu untersuchen ist.“ (Vgl. seine Antwort auf der Freiburger Staatsrechtslehrertagung in: VVDStRL aaO., S. 219 ff., 220.) 4 D.h. aus Sicht eines Weltbildes, das man m. E. (das ist eine freilich immer wieder bestrittene Meinung) den ausdrücklichen und teilweise durch die Unabänderlichkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG noch systematisch gestärkten Grundwertungen entnehmen kann. Der Ausdruck „Ideen von 1949“ soll natürlich die rechtliche Gründung der Bundesrepublik Deutschland nicht mit jenem weltgeschichtlichen Ereignis vergleichen. 5 D.h. des Weltbildes der Französischen Revolution. Siehe zu diesen geschichtlichen Übernahmen sogleich Fn. 7. 6 Zur „geschichtlich belehrten Anti-Geschichtlichkeit des Grundgesetzes“: Gerade weil die Geschichte gezeigt hatte, wie bedroht die Freiheit ist, nimmt die Verfassung sich paradoxerweise vor, ihr „Allerheiligstes“ der Geschichte zu entziehen. Die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG stellt bestimmte Errungenschaften der Aufklärung, des Liberalismus und der Demokratie aus historischen Gründen „auf ewig“, d. h. es will die Historie hier abbrechen. Es trifft übrigens nicht zu, daß dieser Grundgesetzartikel auf Carl Schmitt zurückgehe. Zu den Vorbildern der Ewigkeitsklausel in drei Kontinenten und über 135 Jahre vgl. „Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes“ , vor allem S. 124 ff. m.w.N. 7 Im „Grundgesetz [sind] in bewußter Rückwendung zum revolutionären Verfassungswesen des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit den ersten drei Artikeln über Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit die politischen Hauptstücke der Aufklärungsphilosophie als Verfassungsrecht ,positiviert [worden]“, erkennt Hasso Hofmann in: Das Recht des Rechts das Recht der Herrschaft und die Einheit der Verfassung, Berlin 1998, S. 52 m.w.N.

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II. Unübersichtlichkeit und Delegation Unübersichtlichkeit, Delegation und die dadurch mögliche zügige Entdemokratisierung illustriert ein drei Jahre junges8 Beispiel aus dem Datenschutzrecht. Hier schufen EU-Mitgliedstaaten unter sich9, später dann die EU selbst, unter sich und sogar im Kontinente-überschreitenden Maßstab undemokratisch Recht. 1. Prüm Der Vertrag von Prüm10 gewährt jedem der – inzwischen11 2712 – an ihm beteiligten europäischen Staaten13 einen ungehinderten – ersten – Zugriff auf zentrale nationale Datenbanken. (Und damit je nach Staat entweder nur auf Daten Verdächtiger14 oder auch Unverdächtiger15.) Verschaffen sich Sicherheitsbehörden also 8 Eine frühe Version dieser Überlegungen wurde am 28. März 2008 an der Waseda-University in Tokio vorgetragen, die sogleich zu kritisierende Paraphierung vom 11.3. (dazu sogleich unten, S. 727, mit Fn. 27) lag also noch keine drei Wochen zurück. 9 Einzelheiten sogleich in den Fußnoten 10 bis 12. 10 Die Literatur hierzu ist inzwischen reichhaltig. Einen ausgezeichneten Überblick, auch über das Schrifttum, gibt Stephanie Mutschler, „Der Prümer Vertrag. Neue Wege der Kriminalitätsbekämpfung auf europäischer Ebene“, Stuttgart (Boorberg) 2010, zugl. Diss. Freiburg i.Br. 2009/2010). 11 Seit 26. August 2008. Der Beschl. v. 23. 6. 2008 stand am 6. 8. 2008 im Amtsblatt und trat gemäß der dortigen Verkündung zwanzig Tage später in Kraft. Zu den Einzelheiten des Verfahrens vgl. die folgenden Fußnoten. 12 Michael Niemeier / Petra Zerbst, „Der Vertrag von Prüm – vertiefte grenzüberschreitende Zusammenarbeit zur Kriminalitätsbekämpfung in der EU – Die Überführung des Vertrages von Prüm in den Rechtsrahmen der EU“, in: ERA-Forum (2007) 8: 535 – 547; Onlineveröffentlichung der Europäischen Rechtsakademie („ERA“) vom 5.12. 2007, S. 536 berichten im Einzelnen über die Ausweitung der Beteiligung. Siehe auch sogleich Fußnote 13. 13 Während ursprünglich, am 27. Mai 2005 im Eifelstädtchen Prüm „nur“ sieben Staaten den Vertrag unterzeichnet hatten, nämlich Luxemburg, Belgien, die Niederlande, Frankreich, Österreich, Spanien und Deutschland (vgl. Tony Bunyan, Freier Markt für Polizeidaten / Das Prinzip der Verfügbarkeit, in: „Bürgerrechte und Polizei/ CILIP 84 [2/2006], S. 21 ff. S. 24 [unter Verweis auf das Ratsdokument 10900/5 v. 7. 7. 2005]) und Italien sogleich Interesse am Beitritt bekundete (Bunyan aaO.) war alsbald auch die „Überführungsinitiative“ der deutschen Ratspräsidentschaft auf alle 27 Mitgliedstaaten erfolgreich: Es kam alsbald zum Beschluß nach Art. 34 Abs. 2 Buchstabe c EUV. Einzelheiten der Überführung bei Mutschler (siehe soeben oben in Fn. 10) sowie wiederum bei Niemeier/Zerbst (wie Fn. 12). 14 § 81 g Abs. 5 der deutschen StPO erlaubt die Speicherung solcher Daten, die bei Feststellung des DNS-Identifizierungsmusters gem. § 81 g Abs. 1 StPO erhoben worden sind, beim deutschen Bundeskriminalamt (BKA). Solche Daten werden aber nicht von Verurteilten, sondern von Verdächtigen (!) erhoben. Sie dienen der allfälligen künftigen Ermittlung bei allfälligen künftigen Taten. § 81 g StPO betrifft drei Gruppen von Tätern: zunächst solche, bei denen nahe liegt, dass sie Hangtäter sein könnten, etwa wegen Sexualdelikten. Jedoch auch sonst bei dem Verdacht (!) auf „Straftaten von erheblicher Bedeutung“. Drittens aber auch schon, wenn „sonstige Straftaten“ wiederholt begangen werden. 15 In Großbritannien können auch die DNS-Profile von Zeugen gespeichert werden, berichtet Daniela Weingärtner, „Fahndung grenzenlos/Vertrag von Prüm“, in: „Das Parlament“

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jemandes Fingerabdruck oder eine Haut- oder Haarprobe – bei der Ergreifung leicht möglich, aber auch sonst nicht schwer – so können sie über den daraus gewonnenen „genetischen Fingerabdruck“16 (DNS-Profil) minutenschnell zweierlei feststellen: Erstens, ob in einem anderen beteiligten Staat Daten über die betreffende Person vorliegen oder nicht. Zweitens, ob die betreffende DNS personenunabhängig schon irgendwo gespeichert wurde, etwa an einem Tatort. Von welcher Art die Daten sind, wird auf dieser ersten Stufe noch nicht mitgeteilt, lediglich, daß ein Mitgliedsstaat, und welcher, sie bereits einmal erfasst hat. Zur Zuordnung der Datensätze zu einer Person bedarf es sodann eines Rechtshilfeersuchens. Diese Zweistufigkeit ist ein gewisser Schutz. Bei Kfz-Anfragen entfällt er jedoch. Hier wird nicht nur der „Treffer“17 mitgeteilt, sondern schon der gesamte Datenbestand zu Halter und Fahrzeug. Das hier im Hintergrund stehende allgemeine „Prinzip der Verfügbarkeit“18 (nämlich: Verfügbarkeit von Daten eines Staates für alle anderen) erleichtert Fahndung und Gefahrenabwehr außerordentlich.19 Aber auch mögliche Sorgen liegen auf der Hand. a) EU-interne Dynamik der Entdemokratisierung Für den europäischen20 Aspekt des Themas „Wiederabschaffung der Demokratie“ bedeutsam ist, wie schnell alles ging, und wie kritiklos: Daß das zugrundeliegende Prinzip der Verfügbarkeit aller Daten bereits viereinhalb Monate nach dem entsprechenden Kommissionsvorschlag21 auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs am 5. November 2004 „ohne Debatte durchgewunken“22 wurde.23

Nr. 20/21 vom 14. 5. 2007, hier zitiert nach dem Internet-Angebot der Zeitschrift, unter „www .bundestag. de/cgibin/druck.pl?N=parlament“ [abgerufen am 19. 3. 2008]. 16 Auch hier gelten wieder feine Abstufungen: Auf der ersten Stufe muß es sich um Strafverfolgung, darf es sich also nicht um bloße Gefahrenabwehr handeln. Dabei ist aber zu bemerken, daß der die Daten vorhaltende Staat keine Möglichkeit hat, zu überprüfen, in welchem Zusammenhang ihn seine Prüm-Partnerstaaten nach „Treffern“ befragen. 17 „Treffer“ oder „kein Treffer“, – „Hit/no hit“. 18 Vgl. dazu im Einzelnen den soeben in Fn. 13 zitierten Aufsatz Tony Bunyans m.w.N. und wiederum Mutschler aaO. 19 Die im deutschen (Niemeier zeitweise auch im französischen) Innenministerium beschäftigten Autoren Niemeier und Zerbst zählen S. 539 f. ihres oben (Fn. 12) zitierten Aufsatzes eindrucksvolle Fahndungserfolge auf, die sie glaubhaft auf den Prümer Datenabgleich zurückführen. 20 Allgemein zur Europäisierung der Gefahrenabwehr vgl. das Kapitel „B“ (in der 6. Aufl. 2005 die Randziffern 47 – 72c, =S. 26 – 39) von Thomas Würtenberger und Dirk Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg. Darin speziell zum bereits 2005 erreichten Grad der Vergemeinschaftung der Polizeigewalt: S. 27 ff. (Rn. 49 – 61). 21 Vom 16. 6. 2004 stammt die endgültige Version, vgl. bei Bunyan aaO. (wie Fn. 13), S. 23. 22 So Bunyan, aaO., S. 24. Der Verfügbarkeitsgrundsatz gehört zum Haager Programm, den Zielvorgaben für den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“.

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Selbst solche Europaparlamentarier, die zwar entweder den „Friß-oder-stirb“-Ansatz24 des Beschlußprojekts25 oder die „Salamitaktik“ kritisierten, mochten das Demokratiedefizit nicht beim Namen nennen, da ja die Parlamente der beitretenden Länder einverstanden seien. Mindestens einer immerhin hielt dem entgegen, im Deutschen Bundestag habe das Verfahren nur 30 Minuten gedauert.26 Warum aber wurde das Demokratiedefizit ausdrücklich geleugnet? Weshalb sprach allein der zuletzt zitierte FDP-Abgeordnete Alvaro so ironisch? Warum scheute die erdrückende Mehrheit der entmachteten Repräsentanten einen – wenigstens kleinen – Skandal?27

b) Erstreckung über die EU hinaus Für den Globalisierungsaspekt, für die Fragen nach Demokratie und Gewaltenteilung in ihr, ist „Prüm“ bedeutsam durch die Paraphierung eines bilateralen Abkommens am 11. März 2008 in Berlin: Die damaligen deutschen Bundesjustiz- und -innenminister Zypries und Schäuble und ihre US-amerikanischen Amtskollegen28 23 Die Bedrohungslage, mit der ich das Problem illustriere, die Entnahme von Körperzellen bei der Ergreifung (oder auch ohne Ergreifung), ist nicht der von den Vertragspartnern beabsichtigte Hauptanwendungsfall. Im wesentlichen soll die Prümer Vereinbarung die Identifizierung bei sog „offenen Spuren“ erleichtern, d. h. bei noch keinem Verdächtigen zuzuordnenden Spuren, zum Zwecke der Strafverfolgung (vgl. aber auch oben, Fn. 14 zu der gewaltigen Erstreckung über § 81 g StPO). 24 Die Abgeordneten werden zitiert bei Weingärtner aaO. (wie Fn. 15). 25 Der Vertrag von Prüm war zunächst bewußt außerhalb des EU-Rahmens (also auch außerhalb der „Dritten Säule“!) geschlossen worden, obwohl ausschließlich EU-Staaten beteiligt waren, und obwohl schon von Anbeginn beabsichtigt gewesen war, letztlich alle Staaten einzubeziehen (i.Ü.vgl. soeben Fn. 12). Zweck war, die Kommission, die etwas andere Konzepte hatte und das Parlament mit seinem Anhörungsrecht als potentielle Bremser zu umgehen. Der hier oben im Text gemeinte Beschluß nach Art. 34 Abs. 2 Buchstabe c EU überführte den Vertrag dann in einen Rechtsakt der Dritten Säule. Dazu kritisch (allerdings nur sehr verhalten kritisch) wiederum Mutschler, S. 302. 26 Kritik des liberalen Abgeordneten Alexander Alvaro, wiedergegeben bei Weingärtner (wie Fn. 15). 27 Vergleichendes Verfassungsrecht sieht in der Zunahme des Taktierens, der Unredlichkeit bei der Kritik oder bei Unterstützung anderer Akteure oder von Maßnahmen einen Grund für die Subsidiarität. Subsidiarität reicht die Zuständigkeit für Entscheidungen soweit hinab, wie möglich; möglichst bis zum Dorf oder Stadtteil, möglichst gar bis zum Stimmbürger selbst. – Für den beruflich vom Erfolg seiner Partei, aber auch seiner Institution abhängigen Repräsentanten vermehren sich die Abhängigkeiten und Loyalitäten gegenüber denen eines gewöhnlichen Staatsbürgers. Je selbständiger der medial-administrativ-politische Komplex gegenüber jenen Bürgern wird, desto mehr. Das Mehrebenensystem potenziert folglich die Versuchung, einen Verwaltungsfunktionär oder Parlamentarier – oder sogar bestimmte Entscheidungen, die sie getroffen haben, – in Schutz zu nehmen – oder anzugreifen – ausschließlich aus solchen Gründen, die weder in der Sache noch in seiner Person liegen, sondern „strategisch“ begründet sind. Solche Entscheidungen verkehren aber Mittel (das politische System) und Zweck (das gute Leben der Repräsentierten oder was immer die jeweiligen materiellen Zwecke der Politik sein mögen).

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geben damit nun auch den Behörden der Vereinigten Staaten von Amerika denselben Zugriff auf die deutschen Daten wie die europäischen Mitgliedsstaaten des Prümer Abkommens sie haben. Der deutsche Bundesdatenschutzbeauftragte, der gegen „Prüm“ an sich nichts einzuwenden gehabt hatte, kritisierte diese Ausweitung.29 So kennen die Vereinigten Staaten von Amerika etwa keinerlei Datenschutzrecht für Ausländer. Auch Anlässe und Umfang von Ermittlungen, von Strafverfolgung und bekanntlich auch die Arten und Maße der Strafen selbst weichen in relevanten Punkten von mittel- und westeuropäischen Maßstäben stark ab. Wäre darum keine längere Beratung, unter Einbeziehung der gesetzgebenden Körperschaften, angezeigt gewesen? Diese Beratung entfiel hier, bei der transatlantischen Erstreckung, entfiel wie in all den Jahren zuvor bezüglich der innereuropäischen30 Datenverfügbarkeit. 2. Das MAI „Prüm“ ist das rasanteste, dynamischste Beispiel der letzten Jahre. Das inhaltlich ausgreifendste Beispiel jedoch galt nicht dem Datenschutz, sondern auf dem Umweg über das Wirtschaftsvölker- dem innerstaatlichen öffentlichen Wirtschaftsrecht aller Staaten. Zu ihm fand und findet sich in der völkerrechtlichen Literatur überraschend wenig Material. Das MAI (Multilaterial Agreement on Investment)31 wurde von Globalisierungsskeptikern, besonders von französischer und kanadischer Seite, gerade noch vereitelt. Es zeigte besonders deutlich die zu beschreibende Tendenz auf: Es hätte für die Setzung nationaler Standards, die die Wirtschaft in irgendeiner Weise belastet hätten, zur Entschädigung verpflichtet, diesbezügliche Politik damit auf finanziellem Umwege verunmöglicht. Diese beiden Fälle, Prüm und MAI eint es, daß der Gesetzgeber nicht eingehend berät. Das erschwert es für die Abgeordneten, zu einer debattengeläuterten eigenen, substantiellen Meinung zu kommen. Sie nehmen an oder verwerfen, ohne jeden Einfluss auf den Inhalt. Problematische internationale Vereinbarungen, die möglicherweise auf Widerstand treffen könnten, werden denn mitunter auch in sogenannten „Paketlösungen“ mit weiteren Vereinbarungen zusammengepackt. Dann scheut sich der zeitlich und arbeitsmäßig belastete Abgeordnete vielleicht noch mehr, sich gegen ein Projekt zu stellen.32 28

Vgl. die Pressemitteilung des BMJ vom 11. 3. 2008. In einem Interview des Radiosenders „Deutschlandfunk“, am Morgen des Unterzeichnungstages, 11. 3. 2008. 30 Dazu wiederum Bunyan (wie oben, S. 725, Fn. 13), S. 24. 31 Vgl. Tony Clarke / Maude Barlow, „MAI. The Multilateral Agreement on Investment and the Threat to Canadian Sovereignty“, Toronto (Stoddart) 1997; Fritz Glunk, „Das MAI und die Herrschaft der Konzerne. Die Veränderung der Welt durch das multilaterale Abkommen über Investitionen“, München (DTV), 1998. 32 Das Projekt MAI ist an anderer Stelle bereits als typisch für eine ökonomistische Gesamttendenz kritisiert worden, die den Fortschritt des Völkerrechts umkehre. Das MAI belegt aber zugleich auch die Entdemokratisierung, um die es hier geht. Vgl. „Staatsräson – Geldräson 29

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Gemäß Artikel 59 Abs. 2 Satz 1 des deutschen Grundgesetzes bedürfen Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes; bei klassischer Außenpolitik eine unproblematische Vorschrift. Ist sie aber noch adäquat, wenn die globale Integration sich konstitutionalisiert? Und kann man – das ist die bislang weit relevantere Frage – Akte, die die europäische Integration vorantreiben, tatsächlich noch wie Völkerrecht einordnen? Das Bundesverfassungsgericht33 hatte Rechtsakte der sog. „Dritten Säule“ als „reines Völkerrecht“ bezeichnet, obwohl das der herrschenden Meinung wohl widerspricht. Zahlreiche rechtlich bedeutsame Entscheidungen sind von der nationalen auf die europäische oder gar auf die Weltebene hinaufgewandert. Der Abstand vom demokratischen Souverän zu seinen Delegierten wächst. Ebenso wächst die Unübersichtlichkeit. Jedoch wächst sie nicht nur für den Staatsbürger, sondern wächst auch aus Sicht des Delegierten, der immer größere, komplexere und abstraktere Aufgaben zu bewältigen hat. Kritik an Fällen wie dem MAI oder der Erstreckung des Prümer Abkommens gilt weder prinzipiell dem parlamentarischen System noch prinzipiell der Idee, Entscheidungen auf Gewählte zu übertragen: Persönliche Gründe, wie die der Parlamentarier, „Prüm“ nur so zurückhaltend zu kritisieren, jene oben angesprochene Verschiebung der Loyalitäten und Interessen34 finden sich überall, sind kein EU-Spezifikum. Aber die Versuchungen in dieser Richtung vermehren sich, je mehr Ebenen es gibt. Das gleiche gilt für die wachsende Unübersichtlichkeit der Themen und Verfahren.

III. Unübersichtlichkeit und Wertevertauschung am Beispiel der Finanzkrise Mit dem MAI sollte Ökonomisierung vermittels der übergreifenden Ebene, ohne den bewußt gebildeten Willen der Betroffenen durchgesetzt werden. Auch diese Tendenz ist nicht vereinzelt. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ titelte bereits ein Jahrzehnt35 vor der momentanen Finanzkrise: „Tietmeyer: Finanzmärkte kontrollieren die Politik“. Der Artikel, der das selbstverständlich nicht kritisierte, berichtete vom Auftritt des (da– Menschenräson. Die Selbstpreisgabe des Staates, besonders im Völkerrecht, und wem sie nützt“. In: Gralf-Peter Calliess/Matthias Mahlmann (Hrsg.): Der Staat der Zukunft. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie-Beiheft 83, 2002, S. 85 – 107. Ich bitte aufmerksame Leser um Nachsicht, wenn im Abschnitt III nun zwei signifikante Zitate von Hans Tietmeyer, sogleich Fn. 35 und Reiner Schmidt, unten, Fn. 41 aus jener Abhandlung wiederkehren. 33 Im Urteil zum Europäischen Haftbefehl, BVerfGE 113, 273. 34 Weil die Rücksichten innerhalb des politischen Systems wichtiger werden, je weiter dieses sich verselbständigt. Vgl. schon soeben, Fn. 27. 35 FAZ vom 3. 2. 1996, S. 29.

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maligen) Präsidenten der deutschen Bundesbank auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Tietmeyer habe dort „erklärt […]“, die Rolle der Finanzmärkte als Kontrollinstanz der Politik werde immer wichtiger. Die Finanzmärkte erhielten die Chance, die Politiker im Zuge der wachsenden politischen wirtschaftlichen Integration zu disziplinieren. Diese Aussage eines Finanz-Fachmannes zeigt, wie er sich das Verhältnis von Wirtschaftsinteressen und Politik vorstellte.36 Seine Vorstellungen scheinen mir symptomatisch für die Schwierigkeiten, die die Globalisierung dem Verfassungsstaat bereitet. Außer über Abkommen und Vorschriften gilt es auch, über Interessen und politische Wertungen zu sprechen. „Die Globalisierung“ besteht wesentlich in den zustimmenden oder eben auch ablehnenden Wertungen von Entscheidungsträgern. Sie ist kein Naturphänomen, sondern etwas Gemachtes und potentiell Steuerbares. Der Rechtswandel, insbesondere Völkerrechtswandel, der bei „Globalisierung“ stillschweigend mitgemeint sein muß, hat früher begonnen als sie37, und könnte als allgemeiner Wandel des Völkerrechts auch isoliert von ihr betrachtet werden. Er ist in wesentlichen Punkten ein Fortschritt. Doch nicht nur die natürliche Person durchbricht ihre vormals umfassende Mediatisierung durch den Staat, sondern auch das fiktive Wirtschaftssubjekt. Beides zu begrüßen. Doch verschieben sich hier, ohne demokratische Rückbindung, die Gewichte: Den juristischen Personen des Privatrechts bleibt die Kritik und Zügelung erspart, mit deren Hilfe die große juristische Person des öffentlichen Rechts, der Staat, gezähmt worden ist.38 Die schon erwähnte Ökonomisierung greift Platz.39 Doch hier geht es nicht um sie selbst, sondern darum, daß sie durchgesetzt wird, obwohl zu der Frage nirgends demokratisch vom Souverän abgestimmt worden ist. Es könnte Ausdruck naiven Objektivitäts-Glaubens und der Zauberlehrlings-Regel40 sein: Das zweifellos sinn36

Für subsidiäres Entscheiden spricht auch die häufige Überforderung gerade auch der Exekutiv-Spitze. Das illustrieren die Umstände eines erneuten Auftauchens des mittlerweile 77jährigen Finanzfachmannes in der breiteren deutschen Öffentlichkeit: Beim Ausbruch der Finanzkrise benannte die deutsche Bundeskanzlerin Merkel ausgerechnet Tietmeyer als Leiter einer Experenrunde, die neue Regeln für die Finanzmärkte ausarbeiten sollte. Damit wäre, wie der Koalitionspartner (laut „Zeit“ und „Focus“) formulierte „der Bock zum Gärtner“ gemacht worden. Verfassungspolitisch spielt es keine Rolle, warum die Regierungschefin ihn vorschlug: Etwa, weil weder die Kanzlerin noch ihre Berater die allgemein bekannten Ansichten Tietmeyers kannten, also überfordert waren; oder weil sie sie kannten und in Wahrheit doch keine Regulierung wollten, obwohl sie das zu wollen vorgaben. Als die Kanzlerin den Vorschlag machte, raunte das Parlament (so www. focus. de / finanzen/boerse/finanzkrise/krisenberater/ _aid_340857. html) oder lachte sogar (so www .zeit . de/ online/ 2008/42/tietmeyer-merkel; beide online-Meldungen vom 15. 10. 2008). Denn immerhin die Abgeordneten wußten von Tietmeyers langjährigem Sitz im Aufsichtsrat der Unternehmen, die die Krise ausgelöst hatten: der Hypo Real Estate und der Depfa. 37 Vgl. dazu erneut die zitierten Staatsrechtslehrer-Referate sowie dazu Noltes Leitsatz 1, S. 157 und Poschers Leitsätze 1 – 3, S.197. 38 Das ist in dem soeben (in Fn. 32) zitierten Aufsatz dargelegt worden. 39 Vgl. dazu umfassend Rolf Stürner, „Markt und Wettbewerb über alles? Gesellschaft und Recht im Fokus neoliberaler Marktideologie“, München (Beck) 2007. 40 Sie dürfte ein Hauptgrund dafür sein, daß die Vermehrung der Ebenen die Demokratie vermindert.

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volle Werkzeug „Güter-und-Warentausch“ entfernt sich von den natürlichen Individuen, für die es da ist. Die ohnehin nötige Verselbständigung gegenüber den realen Endzwecken und denen, die sie legitimerweise definieren, „potenziert sich“ noch „durch Erweiterung des nationalen zu einem internationalen Bezugsrahmen“41. Dieses Potenzieren, wie Reiner Schmidt es bei der Staatsrechtslehrertagung 1977 nannte, ist in seinen verfassungsrechtlichen Folgen und Dimensionen 2007 von Georg Nolte42 und Ralf Poscher43 spezifisch weiterentfaltet worden. Daß der Staat seinen in der Vergangenheit oft übertriebenen Steuerungsanspruch zurückgenommen hat, ist aber nur dann ein Fortschritt, wenn die Ersatzstrukturen demokratische sind. Davon kann aber m. E., trotz vieler institutioneller Anstrengungen in dieser Richtung44, keine Rede sein.45 Die Ersatzstrukturen funktionieren, wie auch der demokratische Staat selbst, anders, als es die Metapher der „unsichtbaren Hand“ bei Adam Smith, die jüngere optimistische Schwester der ohnehin schon recht optimistischen Idee der volont gnrale Rousseaus, suggerieren können. IV. Unübersichtlichkeit als Europäisches Verfassungsproblem Eine seit Jahren beharrlich anwachsende Flut von Literatur widmet sich folglich der Frage, ob die Europäische Union hinreichend demokratisch sei46. Mir scheint, daß die Demokratiefrage von der Kommission und den europäischen Regierungen hinreichend deutlich schon durch den Umgang mit den Ergebnissen der wenigen Referenden beantwortet wird, die in der Europäischen Union haben stattfinden dürfen. Noch deutlicher wird sie durch die Vermeidung von demokratischen Fragen beantwortet.

41 Vgl. Reiner Schmidt, Mitbericht zum „Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen“, VVDStRL 36, Berlin (de Gruyter) 1978, S. 65 ff., S. 106 (Leitsatz 10). 42 Georg Nolte, „Das Verfassungsrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung“, Erstbericht, in: VVDStRL 67, 2008, S. 129 – 159 und 222 ff. 43 Vgl. den bereits mehrfach (seit Fn. 3) zitierten Ralf Poscher, aaO., S. 160 – 200 und 219 ff. 44 Vgl. zuletzt etwa die Abhandlung der LSE-Wissenschaftlerin Jeanette Hofmann: „Welt 21 Die Zivilgesellschaft erhält auf internationaler Ebene Gehör – etwa beim Thema Internet“ in: WZB-Mitteilungen, Heft 131, März 2011, S. 17 – 20. 45 Poscher (aaO.), der diese Kritik aber selbst so keineswegs teilt, hält es für nicht nur „verbreitet“ sondern auch für naheliegend, daß man „vor dem Hintergrund der identitärdemokratischen Tradition der der deutschen Staatsrechtslehre“ in der Globalisierung ein demokratisches Defizit wahrnimmt. Vgl. etwa seine These 16, aaO., S. 198. 46 Vgl. außer den bereits zitierten Staatsrechtslehrervorträgen etwa Marcel Kaufmann, „Europäische Integration und Demokratie-Prinzip“, Baden-Baden, Nomos 1997 (zugleich Göttinger Diss. 1996/1997) und Alexis v. Komorowski, „Das Demokratieprinzip in der Europäischen Union“, 2010 (zugl. Freiburger [Brsg.] Diss. 2008/2009).

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Verläßliche Kenner hatten bereits im Vorfeld der Entscheidung darauf hingewiesen, daß der Vertrag von Lissabon47 mit „seinen 13 Protokollen und 65 Erklärungen, mit einem Umfang von 271 Seiten im Amtsblatt das gesamte Primärrecht der EU nicht nur besser strukturiert und in ein System bringt, sondern durchaus auch übersichtlicher und besser verständlich macht.“48 – Allerdings besser verständlich nur im Vergleich zur früheren Rechtslage, von der auch Spezialisten – ich zitiere hier wiederum Ingolf Pernice – einräumten, daß es sich „um eine Sache für Spezialisten“ gehandelt habe. Die Frage, ob es sich um eine Verfassung handle oder nicht, kann hier nicht vertieft werden.49 Jedoch erinnert sei an die alte, klassische Bedeutung von Verfassung, den liberalen Kampfbegriff, der auf Montesquieu zurückgeht.50 Schon der Parteienstaat, wie er sich etwa in der Bundesrepublik etabliert hat, läßt Zweifel aufkommen, ob die Gewaltenteilung noch als verwirklicht angesehen werden kann und somit dem Montesquieuschen Verfassungsbegriff noch genügt. Da die Europäischen Union in Fragen der Gewaltenteilung noch einmal weit hinter den Zuständen der Bundesrepublik Deutschland zurückbleibt, hätte sie also im Montesquieuschen Sinne keine Verfassung. Montesquieus wertender Verfassungsbegriff hat einen kritischen Sinn. Es galt über Jahrhunderte als erstrebenswert, eine Verfassung zu haben. Und mit Verfassung war selbstverständlich nicht die Verfassung in jenem wertneutral beschreibenden Sinne gemeint, den schon die Antike kennt, in der schon Platon und Aristoteles „Verfassung“ dort verstehen, wo sie den Begriff politeia in dieser Bedeutung benutzen51 V. Unübersichtlichkeit und Technokratie 1. Zentralisierung und Entscheidungspakete Schon im Zusammenhang mit dem Prümer Vertrag wurde erwähnt, wie „Paketlösungen“ die Entscheidungsmöglichkeiten der zur Entscheidung eigentlich Beru47

Am 13. 12. 2007 von den Staats- und Regierungsschefs der 27 Mitgliedsstaaten der EU unterzeichnet (Amtsblatt EU 2007, Nr. C 306). 48 So Ingolf Pernice, EuZW v. 15. 2. 2008, S. 65. 49 Vgl. dazu das Lissabon-Urt., BVerfGE 123, 267 ff. vom 30. 6. 2009 sowie wiederum Pernice, EuZW aaO. 50 Montesquieu schreibt in seinem Buch Vom Geist der Gesetze (De lsprit des lois), jeder Staat, in dem die Gewaltentrennung nicht gewährleistet sei, habe keine Verfassung. Gewaltentrennung versteht er aber nicht in einem äußerlich formalen Sinne allein. Es genügt nicht, daß die nach ihren Zuständigkeiten unterschiedenen, verselbständigten Institutionen äußerlich getrennt sind. Sie müssen auch von Personen besetzt sein, die nicht derselben Gruppe angehören. 51 Außer ,Verfassung oder Staatsverfassung kann politeia auch ,Freistaat oder ,Republik heißen. Gemeint ist damit die rechtlich-soziale, auch ökonomische und sittliche Ordnung eines Gemeinwesens einschließlich seiner Ämter, Gesetze und maßgeblichen Ziele – so Otfried Höffe in seinem Aristoteles-Lexikon, Stuttgart (Kröner) 2005, S. 478.

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fenen schwächen. Das gilt natürlich unabhängig von der Frage, ob der zur Entscheidung Berufene ein Parlamentarier ist, wie etwa im Fall Prüm, oder ein Stimmbürger. Prüm ist jedoch kein Einzelfall. Es ist nicht einmal ein Extremfall, wenn man die Strukturen der Welthandelsorganisation sieht, die dazu führen, daß ein Einzelner mit einer kleinen Kommission als zuständiger Außenhandelskommissar der EU einem anderen Einzelnen mit dessen kleiner Kommission als dem zuständigen Vertreter der Vereinigten Staaten von Amerika gegenübersitzt, und daß die Gespräche dieser beiden über das Ernährungsverhalten von mehr als einer halben Milliarde Menschen entscheiden. Gewiß sind weltumspannende Regelungen oder auch nur einen Kontinent umspannende Regelungen nur möglich, wenn zuletzt einzelne, ganz wenige für die vielen entscheiden. Prinzipiell ist das nicht abzulehnen. Doch scheint es eine ungeheure Zunahme zentralisierter Entscheidungen zu geben. Sowohl innerstaatlich als auch auf kontinentaler Ebene wie auch auf der Weltebene. Und hier überall werden Pakete im Blick auf „das Große Ganze“ geschnürt. Der eine Handelsblock darf gegen die Verbraucher und Gesundheitsschutzlobby des anderen Handelsblocks doch sein Hormonfleisch einführen, der andere Handelsblock darf gegen die Kraftfahrzeugindustrielobby des einen Handelsblocks dennoch seine Motorräder und Autos dort einführen. Beide Male kann der Vertreter der Zentrale des betreffenden Handelsblocks denjenigen Mitgliedsstaaten oder Regionen und Lobbies, die sich gewehrt haben, entgegenhalten: „Es war uns einfach nicht möglich, die gesamten Handelsliberalisierungs-Verhandlungen nur an eurem Anliegen scheitern zu lassen!“ 2. Insbesondere: Realitätsrelativierung durch Objektivitätsanspruch Er kann meist hinzufügen, daß eine allgemeine Handelsliberalisierung mittelbar auch Mitgliedern der von der betreffenden Lobby geschützten Gruppe diene. Geht es in solchen Zusammenhängen um Gesundheitsschutz oder Verbraucherschutz, geht es gar um die Menschenrechte, so wird der Zentralvertreter seinen Kritikern entgegenhalten: Gewiss sinken in diesem einzelnen Falle auch einmal die Menschenrechts- oder Gesundheits- oder Umweltschutzstandards. Aufs Ganze gesehen, im Weltmaßstab, komme es jedoch mehr darauf an, daß die Standards auch in anderen Gebieten ein wenig angehoben würden. Dies aber werde erreicht. Dafür sei der Preis eines gewissen Absinkens im eigenen Gebiet doch nicht zu teuer. Diese Argumentation ist auch aus dem Bereich des europäischen Umweltschutzrechts bekannt. Auf Sizilien und dem Peloponnes steigt die gesetzlich vorgeschriebene Qualität des Badewassers, die Umweltverträglichkeit und Hygiene bei der Müllentsorgung, der Schutz einer bedrohten Tierart erheblich. Daß er dafür in Skandinavien, Benelux oder einem der deutschsprachigen Länder mitunter ein wenig sinken mag, scheint ein vertretbares Gegengeschäft. Wem das betreffende Rechtsgut am Herzen liegt, der wird möglicherweise in den Verzicht willigen. Nur wenn er sehr skeptisch ist, wird er fragen, ob die dort erhöhten Standards in jenen fernen Regionen auch wirklich durchgesetzt werden, soweit es um

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Umwelt-, Naturschutz, Gesundheitsschutz und dergleichen geht. Auch in Welthandelsfragen wird die im Blick auf das Große Ganze überstimmte Minderheit möglicherweise nicht die finanziellen und intellektuellen Ressourcen haben, um nachzuprüfen, erstens: ob wirklich von einer echten weltweiten Handelsliberalisierung gesprochen werden kann; zweitens: ob die Handelsliberalisierung auch wirklich allen von ihr betroffenen anderen Regionen (wenn schon nicht der eigenen) wirklich in einem solchen Ausmaß hilft, daß der eigene Verzicht sich lohnt. Man wird nicht einmal überprüfen können, ob sie der Mehrheit der von ihr betroffenen Regionen weltweit wirtschaftlich nachhaltig etwas nützt.52 Beide Beispielsfelder müssen Zweifel wecken, was die Entwicklungen in Europa betrifft. Und was den Freihandel betrifft, muß man auch im Weltmaßstab zweifeln.53 Damit wollte ich anschaulich machen: Die Unübersichtlichkeit im Detail und der Anspruch, das Große und Ganze zu regeln, fördern die Technokratie und erschweren die demokratische Rückbindung. Seit jeher misstraut man starken Zentralen; es gibt also, positiv formuliert, eine Tendenz zur Dezentralisierung bei zahlreichen politisch interessierten Menschen durch die Epochen und über die Erdteile hinweg. 3. Tocquevilles Beobachtung Erstaunlich ist aber, daß trotzdem nicht die Dezentralisierung, sondern die Zentralisierung immer wieder zunimmt. Der USA-Reisende Alexis de Tocqueville schrieb bereits in den 1830erJahren: „Ich denke, in den nun anhebenden demokratischen Zeiten werden die Unabhängigkeit des Einzelnen und die lokalen Freiheiten immer künstlich erzeugt sein. Die Zentralisierung wird die natürliche Regierungsweise darstellen.“54 Und in einer Anmerkung fügt er hinzu55 : „Die Leidenschaften aller derer, die [ein demokratisches Volk] lenken, drängen es unaufhörlich [zur Zentralisierung der Gewalt] hin.“ Es sei, schreibt der skeptische Franzose, der Ehrgeiz der Leute, die man mit dem heute modischen Ausdruck als „Eliten“ bezeichnen würde, der die Zentralisierung immer weiter verstärkt. Wer selbst dabei ist, an seinem Aufstieg in der 52 Den Nutzen der derzeitigen Weltwirtschaftspolitik bestreitet profund Ha-Joon Chang, „Kicking Away the Ladder / Development Strategy in Historical Perspective“, London (Anthem Press), ursprüngl. 2003, zahlreiche Auflagen. Im Anschluß an Friedrich List, von dem auch das Titelzitat stammt, argumentiert Chang, die Welthandelspolitik schade den meisten Staaten und werde ihnen nur im Interesse der USA und anderer hochentwickelter Industrienationen eingeredet. Den schwächeren „trete sie die Leiter weg“, auf der die Reichen einst selbst aufgestiegen seien. 53 Vgl. erneut Chang (wie vorige Fn.), als jüngsten Gefolgsmann Lists. 54 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 2. Teil, aus dem Französischen von Hans Zbinden, Stuttgart (DVA) 1962, S. 320 (Dieser 2. Teil zerfällt wiederum in 4 Teile, hier wurde aus dem 4. Teil [Vom Einfluss des demokratischen Denkens und Fühlens auf die politische Gesellschaft], und zwar aus dessen drittem Kapitel zitiert). 55 S. 367.

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Berliner oder gar der Brüsseler Verwaltung zu arbeiten, oder wer in einer dieser beiden Zentralen bereits einen Parlamentssitz errungen hat, wird, wie Tocqueville schreibt, „unvermeidlich dahin wirken […] die Befugnisse der Staatsgewalt zu erweitern, weil sie alle eines Tages an die Führung zu kommen hoffen. Da sie für sich selbst den Staat zentralisieren, hieße es, seine Zeit zu verschwenden, wollte man ihnen beweisen, daß die auf die Spitze getriebene Zentralisierung dem Staate schaden kann.“56 Nun wird Dezentralisierung und Autonomie in der europäischen Rechtsordnung bekanntlich vielfach zugesichert. Aber für solche Versprechungen gilt – ich zitiere erneut Tocqueville: „In den Demokratien wollen nur sehr uneigennützige oder sehr mittelmäßige Leute unter den Staatsmännern die Staatsgewalt dezentralisieren. Die einen sind selten und die anderen machtlos.57 Diese machtsoziologischen Mechanismen im Verhalten der eigentlichen Akteure wirken zusammen mit dreierlei anderem. Nämlich erstens mit der idealistischen, prinzipiell ja richtigen Einsicht in das Überwiegen „des Großen Ganzen“. Zweitens mit der Unübersichtlichkeit und drittens mit jenem oben58 bereits angesprochenen „Zauberlehrlings“-Mechanismus. (D.h. vergröbert, daß wir unvermeidlich Gefahr laufen, die Bediensteten und Opfer unseres Werkzeugs [im weitesten Sinne] zu werden. Eine Gefahr, die uns von jeder Technik, auch intellektuellen „Techniken“ droht, und damit auch von jedem Begriff oder Begriffsgebäude.) Aber selbst für verselbständigte Rechtsstrukturen und Institutionen muß gelten, daß sie nicht zu Selbstzwecken werden dürfen, so wenig wie anderes organisatorisches, geistiges oder technisches „Werkzeug“. Jedes Werkzeug muß jederzeit beherrscht und überwacht werden, rückgebunden bleiben an die Zwecke. Über die Zwecke aber entscheidet das, was man mit einer schönen Formulierung die „Architektur der Ideen“59 nennen kann. VI. Die Summation der Probleme oder: von Quantität zu Qualität Von jener anthropologischen Konstante, daß unsere eigenen Mittel uns zu knechten drohen, blicken wir zurück. Zu ihr und zur Unübersichtlichkeit und den anderen Faktoren hinzu tritt die Beschleunigung der Verfahren, mit denen Regeln entworfen und durchgesetzt werden, die schließlich Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen und mit staatlicher Zwangsgewalt durchgesetzt werden. Zu Unübersichtlichkeit und Beschleunigung gesellt sich weiter der höhere Anspruch so entstandener Regelwerke: Sie gelten nicht mehr nur für eine Stadt oder 56

S. 367 des 2. Bandes. S. 368 des 2. Bandes. 58 Vgl. oben im Text, S. 730 f. 59 Vgl. Michael Kloepfers Begrüßungsrede beim Symposium Europäisches Verfassungsrecht: „Entwicklungsperspektiven der europäischen Verfassung im Lichte des Vertrags von Amsterdam“, S. 1. Hier zitiert nach der Seite des Walter-Hallstein-Instituts an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, aufzufinden unter „Tagung 98“. 57

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Provinz, nur für einen Nationalstaat, sondern gleich für die gesamte Europäische Union oder gar, so bei „Prüm“, einen erklecklichen Bruchteil der nördlichen Erdhalbkugel. Eine Anspruchssteigerung kommt aber sogar auch noch im Normativen hinzu: Selbst das Verfassungsrecht eines Mitgliedstaats hat bekanntlich in nahezu jedem Falle zu weichen. Zu diesen Verschärfungen tritt als weitere das Mehrheitsprinzip. Es kann nicht mehr zurückgefragt werden, ob in allen beteiligten Staaten wenigstens die Mehrheit der Delegierten dieses jeweiligen Staates überzeugt werden konnte. Selbst der entschiedene Widerstand der Repräsentanten von mehr als 100 Millionen Menschen kann überstimmt werden, wenn die Repräsentanten der Mehrheit sich einig sind.60 Keines dieser Probleme ist, wie gesagt, eine Besonderheit gerade des Europaoder des Völkerrechts. Gleichwohl müssen sie im Zusammenhang der Globalisierung diskutiert werden. Weil die Vermehrung der Ebenen wie auch die Zahl der beteiligten Institutionen insbesondere die Unübersichtlichkeit steigert und die Kontrollierbarkeit durch den wählenden Souverän und die Medien noch weiter erschwert. Die Länge der Legitimationsketten dünnt an ihren beiden Enden die Verantwortlichkeit noch weiter aus: Am Ziel dieser Kette: Den Kommissionsbeamten oder WTO-Fachmann steuert der Wille irgendwelcher Wähler nur in einem durch noch einige zusätzliche Zwischenschritte noch weiter abgeschwächten Maß, als den innerstaatlichen Ministerialbediensteten. Und am Anfang der Kette? – Der der Idee nach freie, souveräne Bürger hat offenbar ein Gespür für die Bescheidenheit seines Einflusses auf solche Fragen, die ihn interessieren könnten; zumindest lassen sich die häufigen, noch zahlreicheren Wahlenthaltungen auf Europa-Ebene dahingehend deuten. Auch der Lobbyismus ist, wie bereits gesagt, im Vergleich zum Nationalstaat, kein Spezifikum der angesprochenen Systeme, kann sich jedoch aus den genannten Gründen hier noch weiter steigern.

60 Zur Problematik des Mehrheitsprinzips – das gleichwohl unverzichtbar ist, allerdings eben nur unter demokratischen Bedingungen, d. h. bei Stimmbürgern und Parlamentariern; nicht ohne weiteres aber unter den Repräsentanten ganzer Staaten oder, wie im Falle etwa der Welthandelsorganisation von großen Staatenblöcken, – vgl. die grundlegenden und bis heute nicht überholten Demokratieschriften von Hans Kelsen insbesondere „Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920, S. 1 bis 33) und „Foundations of Democracy“ (1955, S. 248 – 385); beide wieder zugänglich in dem Band von Matthias Jestaedt und Oliver Lepsius, Verteidigung der Demokratie, worauf sich die genannten Fundstellen beziehen. Die Kritik an der Brauchbarkeit von Denkstrukturen Kelsens in europäischen Zusammenhängen von Ingolf Pernice (aus letzter Zeit etwa: Das Verhältnis europäischer zu nationalen Gerichten im europäischen Verfassungsverbund, Vortrag, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 14. 12. 2005, Berlin 2006, Seite 46 ff.) bezieht sich primär auf den Merklschen, von Kelsen übernommenen und popularisierten Stufenbau der Rechtsordnung, an dessen Spitze die (Kelsensche) Grundnorm steht.

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All das aber steigert die Entmachtung des einzelnen, nichtorganisierten Subjekts durch die „objektive“ Struktur in einem Ausmaß, das die melancholischen Prognosen Tocquevilles einholt. VII. Resümee Der Titel dieser Rainer Wahl gewidmeten Überlegung könnte auch als Frage formuliert werden: Drohen die Mehr-Ebenen-Systeme, die durch die internationale Vernetzung zunehmen, durch ihre Verrechtlichung die Demokratie „abzuschaffen“? Die Antwort muss leider im Großen und Ganzen „tendenziell Ja!“ lauten. Eine Ausnahme ist die globale Verbreitung des Freiheitsgedankens und sind Menschenrechtsabkommen, die selbst in diktatorischen Staaten manche Freiheitsstandards unter günstigen Umständen heben, dadurch indirekt auch der Demokratie dienen, und die mitunter sogar spätere Volldemokratisierungen begünstigen. Für den hohen Demokratiestandard, der in Nordamerika und der Schweiz, im übrigen Mittel- und Westeuropa in den nachdiktatorischen Verfassungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenso erreicht war, wie im gesamten „Westen“, zu dem dann auch Japan zählt, ist die Bilanz indessen problematischer. 1. (Nur) graduelle Verschlimmerungen Es handelt sich zwar, wie gesagt, bei all den genannten Gravamina insgesamt nur um eine graduelle Verschlimmerung der Demokratieeinbußen, die jedes Delegationssystem ohnehin schon mit sich bringt, wenn nun durch die Internationalisierungen im weitesten Sinne zusätzliche Rechtsebenen hinzutreten. Andererseits kann auch bei der Entdemokratisierung reine Quantität in Qualität umschlagen. 2. Staatsphilosophisches Resümee: Abstrakte „objektive“ Großysteme über „kleiner“, konkreter Individualwirklichkeit Die „objektive Fortschrittlichkeit“ beanspruchende Europäische Union sowie einige der übrigen über Erdteile hinweg oder gar weltweit geltenden, wachsenden institutionalisierten Rechtsstrukturen laufen eine Gefahr. Diese Gefahr droht anspruchsvollen Großsystemen leicht: Entgegen dem eigenen Anspruch vernachlässigt solch ein System in oft unzumutbarem Umfang das Konkrete und Einzelne.61 Dieser Makel eint die angesprochenen rechtlichen Großsysteme mit der Philosophie Hegels. Hegels philosophisches System, eine Gestalt des sogenannten objektiven Idealismus, hat eine breite Opposition in der Philosophie hervorgerufen. Darunter findet sich auch eine Strömung, die Aspekte des konkret-individuellen 61 Systemtheoretisch gesprochen wird das Konkrete und Einzelne zum „störenden Rauschen“.

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Lebens des Einzelindividuums wieder in den Vordergrund rückte. (Für sie stehen im wesentlichen die Namen Stirner und Kierkegaard, Nietzsche, [Jaspers] Heidegger, [Marcuse und Adorno]). Sie wurde und wird mitunter immer noch pauschal als irrational verworfen. Das ist aber ein Irrtum. Er geht bei ihr ebenso fehl, wie er bei den Opponenten fehlgeht, auf die die in Weltbank, Welthandelsrecht und anderen Institutionen verdichteten rechtlichen Großstrukturen treffen. Auch diese Opposition wird mitunter leichtfertig als insgesamt irrational abgetan. In Einzelzügen tritt sie zwar auch so auf. Das eint sie mit einigen der vorhin genannten62 skeptischen oder subjektivistischen Autoren jener teilweise linkshegelianischen, teilweise antihegelianischen Denkschule. Es beseitigt aber nicht die Rationalität ihres Kernanliegens. Dieses Kernanliegen ist die Wieder-ins-Recht-Setzung der konkret individuellen Realitäten. Gegenüber den sich für objektiv haltenden jeweiligen ökonomischen, sozial- oder auch weltpolitischen – oder auch weltpolizeilichen63 – Ideen (und u. U. Ideologien), die bei den tragenden Akteuren der betreffenden Großstruktur gerade für ein paar Jahre oder auch Jahrzehnte vorherrschen mögen, wird an den vielleicht „systemwidrigen“ aber eben konkret vorhandenen Einzelfall erinnert.

3. Rechtspolitisches Resümee Bremsung der weiteren Integration Als Folgerung legt sich zunächst Zurückhaltung bei der weiteren Integration auf allen Ebenen nahe. Die weitere Entwicklung des schon längst staatsähnlichen europäischen Rechtsgebäudes sollte „solange“ innehalten, bis die vorhandenen Institutionen demokratisch rückgebunden sind. Das gilt für beides, für die weitere Verdichtung durch zusätzlichen Regelerlaß innerhalb der schon bestehenden Union wie auch für Erweiterungsprojekte. Vorbild könnte das langsame Wachstum der Eidgenossenschaft von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts64 an bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts65 sein. Die heutige Schweiz ist möglicherweise deswegen so demokratisch und subsidiär organisiert, weil um jeden Grad des Zusammenschlusses und auch noch über die kleinste Machtdelegation zäh gerungen wurde; und ohne die Einigungsidee zu romantisieren. Die neue europäische Superstruktur hingegen beflügelt, außer von dem von Tocqueville angesprochenen Ehrgeiz der Amtsträger, auch noch eine Europa-Romantik, die mit der Einigungsromantik Deutschlands im 19. Jahrhundert überraschend viel gemeinsam hat: 62

Allerdings nicht mit Jaspers, Marcuse und Adorno, die darum oben in Klammern stehen. Zu Art. 26 GG vgl. noch sogleich unten. 64 Schon der Bundesbrief, in dem die drei Urkantone ihren „Ewigen Bund“ Anfang August 1291 schließen nimmt bereits auf einen früheren Bund ausdrücklich Bezug. 65 Es scheint im Blick auf die Staatswerdung der Suprastrukur passender, die Entwicklung zur heutigen Schweiz mit der (seit 1866 vorbereiteten) Verfassung von 1874 schließen zu lassen. 63

Schwächung der Demokratie durch Mehrebenensysteme

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Wer hier nämlich um der Demokratie Willen verlangsamen oder gar bremsen möchte, gerät leicht in die Rolle eines Bismarck-Gegners um 1870: Die Forderung nach Einigkeit und Freiheit war nach 1848 durch die Revolution bekanntlich nicht befriedigt: Wollte man nun, in den 1860er Jahren, die künftige Einheit Deutschlands selbst dann noch, wenn man dafür „erst einmal für einige Zeit“ die Einbußen an Liberalität und Selbstbestimmung in Kauf nehmen mußte? Eine Führung des militaristischen Preußens brachte das unvermeidlich mit sich. Die Frage spaltete damals die linken und liberalen Patrioten. Heute lautet die Frage, ob die demokratischen und Gewaltenteilungs-Defizite der Europäischen Union nur ein Durchgangsstadium, „Kinderkrankheiten“ sind. Aus der Weltgeschichte ist wohl (außer der einmaligen Politik Michail Gorbatschows) kein einziger Fall bekannt, indem einmal abgegebene Freiheiten von der entstandenen Zentrale freiwillig zurückgegeben worden wären. Unübersichtlichkeit Die Verantwortungsbeiträge beteiligter Amtsträger, Parlamentarier, Behörden und Abteilungen werden unklar, wo die Strukturen durch Überkomplexität unübersichtlich sind. Das ermöglicht Verwaltungen wie Einzelpolitikern das „Spielen über die Bande“: Anliegen, die im eigenen Land an der Mehrheit scheitern würden, werden auf dem europäischen oder dem Welt-Umweg ins Werk gesetzt, woraufhin man zu Hause erklären kann, der heimatliche Standpunkt sei auf jenen oberen Ebenen „einfach nicht durchsetzbar“ gewesen. Unterlegenheit der Kontrolleure Es fehlt an Kontrollinstanzen, die auf Augenhöhe mit den Akteuren der internationalen Strukturen verhandeln könnten, ehe diese neues Völkerrecht zur Entstehung bringen. Das oben im Zusammenhang mit „Prüm“ zitierte Verfahren des Artikels 59 Abs. 2 GG bedarf der Ergänzung. Andererseits werden auch Ergänzungen wenig nützen, solange die Parlamentarier nicht den Mut haben, „Gesetzgebungspakete“ mit bedenklichem oder auch nur unbekanntem Inhalt pflichtmäßig „aufzuschnüren“, zu prüfen, und das Verfahren zu diesem Zweck aufzuhalten, ehe sie neues Recht schaffen. Darum sollte die Ergänzung wohl eine Referendums-Möglichkeit auf Bundesebene sein. 4. Rechtsdogmatisches Resümee a) Systemkern des Grundgesetzes ist Art. 20 GG: Die Artt. 2366 und 24 des Grundgesetzes sollten weit restriktiver ausgelegt, die Forderungen des Lissabon-

66 Die Skepsis zum bis Herbst 2007 erreichten Stand der demokratischen Mitwirkung an der Verwirklichung eines vereinten Europas, wie sie sich etwa in Johannes Masings Bemerkungen in VVDStrL 67, S. 218 f., S. 219 ausdrückt („traurige Hilfskrücken“), ist durch die Forderungen des Lissabon-Urteils, die ja insb. von den gesetzgebenden Körperschaften eingelöst werden müßten, nicht überholt – und durch den Umgang mit der Finanzkrise wohl eher noch bestätigt worden.

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Urteils67 in ihrer Substanz ernstgenommen werden. Restriktion bedeutet dabei Verteidigung der demokratischen Strukturen, die 1949 niedergelegt und die in ihrem Kern von Art. 79 Abs. 3 GG auf Dauer gestellt worden sind. Sie, der Systemkern des Grundgesetzes, dürfen nicht weichen, weil jener von Tocqueville beschriebene Ehrgeiz und konkret benennbare Interessen, besonders die der vielfältigen Lobbies, i.V.m. einer gelegentlich blicktrübenden Romantik Prozesse vorantreiben, die dem neutralen Betrachter selbstzweckhaft erscheinen können. b) Insbesondere ist an der Willensbildung von unten nach oben entschieden festzuhalten. c) Art. 26 GG: Auch das Verbot des Angriffskrieges des Art. 26 Abs. 1 GG darf nicht durch Integration deutscher Kräfte in internationale Strukturen, sei es über Art. 24 GG oder über Art. 23 GG, unterlaufen werden.

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Vgl. oben, Fn. 49.

Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Spanien unter besonderer Berücksichtigung der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der EU-Mitgliedstaaten: Öffentliche Dienstleistung der Elektrizitätsversorgung versus freier Kapitalverkehr Von Antonio Lpez-Pina, Madrid Unter den neueren Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften verdienen die Fälle besondere Aufmerksamkeit, die sich mit den in den letzten Jahrzehnten reihenweise vorgenommenen Privatisierungen beschäftigen. Denn die Konsequenzen, die mit der vom Gemeinschaftsrecht postulierten Liberalisierung der öffentlichen Dienstleistungen verbunden sind, sind von großer Tragweite. So ist es an der Zeit, sich öffentlich mit der Frage auseinanderzusetzen, inwiefern die fortschreitende Zerstückelung und die vorbehaltlose Privatisierung der öffentlichen Dienstleistungen nicht zu einer Zerstörung von Makrogleichgewichten führen, die nicht nur für das Verhältnis von Privatinitiative und den vom Staat zu gewährleistenden öffentlichen Interessen von fundamentaler Bedeutung sind, sondern auch für die effektive Verwirklichung der Bürgerrechte. Die Liberalisierung des Elektrizitätssektors in Spanien hat den Markt für die großen Unternehmenstransaktionen geöffnet. Dabei kollidieren aber die Übernahmen aktienmäßiger Beteiligungen an den Energieversorgungsunternehmen mit der Tradition der öffentlichen Dienstleistungen und der daraus resultierenden Aufsichtspflicht seitens des Staates, die den Elektrizitätssektor kennzeichnet. Der Privatisierungsprozess hat einen Elektrizitätsmarkt geschaffen, auf dem das Energieangebot den Preis bestimmt. Ein solcher wettbewerbsorientierter Markt kann nachteilige Auswirkungen für die Verbraucher haben und unter Umständen zu Versorgungslücken führen, wenn sich Energieversorger mit einer starken Marktposition wettbewerbswidrig verhalten. Insofern besteht ein klares Spannungsverhältnis zwischen freiem Wettbewerb und öffentlichen Dienstleistungen, das der rechtsdogmatischen Klärung bedarf. In meiner Darstellung folgt auf einige einführende Betrachtungen bezüglich der Öffnung des Energiesektors für den freien Wettbewerb (I.) ein Überblick über das Vertragsrecht und die sekundäre Gemeinschaftsgesetzgebung in Bezug auf das Verhältnis von freiem Kapitalverkehr und nationaler öffentlicher Dienstleistung der Elektrizitätsversorgung (II.). Anschließend werde ich aufzeigen, inwiefern die durch das Gemeinschaftsrecht selbst gesetzten Grenzen das Grundprinzip des freien Wettbewerbs einschränken (III) und schließlich auf die besondere Auswirkung der

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gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten1 auf die Garantie der öffentlichen Dienstleistungen eingehen (IV). I. Die Öffnung der öffentlichen Dienstleistung der Elektrizitätsversorgung zum freien Wettbewerb Nach dem Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft im Jahre 1986 verpflichtete die Europäische Einheitsakte den spanischen Gesetzgeber zur Anpassung der spanischen Rechtsordnung an die Liberalisierungsvorgaben, die auf die Schaffung eines Elektrizitätsbinnenmarktes abzielten. Dies führte zur Privatisierung des Elektrizitätssektors und ähnlicher Sektoren, insbesondere der netzgebundenen Wirtschaftszweige (Telekommunikation, Postdienst etc.). Die Umsetzung der EU-Richtlinien in spanisches Recht erfolgte zunächst im Jahr 1994 mit dem Gesetz zur Regelung des Elektrizitätssystems (Ley de Ordenacin del Sistema Elctrico Nacional, LOSEN), später dann mit dem Energiewirtschaftsgesetz (Ley del Sector Elctrico) aus dem Jahr 1997 und dessen Neufassung im Gesetz 17/2007, das die EU-Richtlinie aus dem Jahr 2003 in die spanische Rechtsordnung umsetzt. Dies hat zwangsläufig zu einer Aktualisierung des Konzepts der öffentlichen Dienstleistung geführt, um es dem Grundprinzip des freien Wettbewerbs, das das Gemeinschaftsrecht vorgibt, anzupassen. Die entsprechenden Privatisierungen sind durchgeführt worden, wobei man darum bemüht war, notwendige Gleichgewichte, die der Markt allein nicht gewährleisten kann, um der Bürgerrechte willen beizubehalten. Zu diesem Zweck hat der spanische Gesetzgeber den Gebrauch von Kategorien der spanischen Verfassungsüberlieferung beibehalten, wie etwa die des wesentlichen Dienstes: „Die öffentliche Initiative im Wirtschaftsleben wird anerkannt. Durch Gesetz können der öffentlichen Hand wesentliche Mittel oder Dienste gesichert werden, besonders im Falle eines Monopols; ebenso kann das Eingreifen in Unternehmen beschlossen werden, wenn das allgemeine Interesse dies erforderlich machen sollte“ (Spanische Verfassung, Art. 128 Abs. 2). In Spanien wie auch in weiteren EU-Ländern ist die Regulierung der öffentlichen Dienstleistungen einer umfassenden Wandlung unterzogen worden. Die ehemalige Reservierung bestimmter Tätigkeiten für die öffentliche Verwaltung wurde in eine Dienstleistungsverpflichtung umgewandelt, in der Private an der Erfüllung öffentli-

1

s. Rainer Wahl, Die Schwebelage im Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten, Der Staat, 2009, S. 587 ff.; ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003; ders., Der offene Staat und seine Rechtsgrundlagen, JuS 2003, S. 1145 ff.; ders., Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, in: Horst Dreier (Hrsg.), Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit, Symposium für Hasso Hofmann zum 70. Geburtstag, 2005, S. 115 ff.; ders., Staatsaufgaben im Verfassungsrecht, in: Thomas Ellwein/Joachim Jens Hesse (Hrsg.), Staatswissenschaften: Vergessene Disziplin oder neue Herausforderung?, 1990, S. 29 ff.

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cher Aufgaben unter staatlicher Verantwortung beteiligt sind2, um Sicherheit und Universalität der öffentlichen Dienstleistungen zu gewährleisten. Dieser Prozess, der Mitte der achtziger Jahre einsetzte, besteht im Übergang von öffentlicher Dienstleistung zu öffentlicher Dienstleistungsverpflichtung – mit anderen Worten also in der Regulierung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, die im Rahmen der Wettbewerbsfreiheit erbracht werden. In der Lehre weist T. R. Fernndez darauf hin, dass publicatio und Regulierung die von den Staaten am häufigsten gewählten Maßnahmen sind, um die Bereitstellung bestimmter Dienstleistungen zu gewährleisten. Die publicatio, mit der entsprechenden förmlichen Deklaration der Tätigkeit als öffentliche Dienstleistung, setzt die Implikation der öffentlichen Verwaltung bei der Bereitstellung der Dienstleistung voraus, bis hin zur direkten materiellen Verwaltung. Die Regulierung wird Privatunternehmen auferlegt und verlangt die Aufnahme von Elementen, die für die Gewährleistung der regulären und ununterbrochenen Dienstleistungsbereitstellung, die das Interesse der Allgemeinheit erfordert, notwendig sind. Folgt man dem, so unterscheidet sich die im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäische Union (AEUV) erwähnte Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (Art. 14 AEUV) im Wesentlichen weder vom Universaldienst – das heißt von der öffentlichen Dienstleistung im materiell-objektiven Sinne -, noch vom wesentlichen Dienst, von dem die spanische Verfassung spricht3. Martnez Lpez-MuÇiz definiert die wesentlichen Dienste als Tätigkeiten, die Güter und Dienstleistungen für die Bürger bereitstellen, die von grundlegender Bedeutung für die Befriedigung oder die Ausübung ihrer Grundrechte sind und sich an die Allgemeinheit richten oder für alle unter gleichen Bedingungen zugänglich sind, wobei Regelmäßigkeit, Kontinuität und eine bestimmte Qualität zu gewährleisten sind4. Artikel 93, 106 und 107 AUEV beinhalten die Grundregelungen in Bezug auf Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse. Besagte Vorschriften untersagen einerseits die bevorzugte Behandlung öffentlicher Unternehmen, entbinden diese aber andererseits, in Verbindung mit Artikel 14 AEUV, von der Anwendung der Wettbewerbsbestimmungen, sofern dies die Erfüllung der ihnen zugewiesenen Aufgaben von allgemeinem Interesse gefährden könnte. So heisst es etwa in Art. 106 Abs. 1 AEUV, dass die „Mitgliedstaaten in Bezug auf öffentliche Unternehmen und auf Unternehmen, denen sie besondere oder ausschließliche Rechte gewähren, keine den Verträgen und insbesondere den Artikeln 18 und 101 bis 109 widersprechende Maßnahmen treffen oder beibehalten (werden).“ In Abs. 2 ist weiter vorgesehen, dass „für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaft2 s. Andreas Vosskuhle, Die Beteiligung Privater an der Erfüllung öffentlicher Aufgaben und staatlicher Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), S. 266 ff. 3 s. T.-R. Fernndez Rodriguez, Del servicio pfflblico a la liberalizacin desde 1950 hasta hoy, Revista de Administracin pfflblica, 150, Madrid, septiembre – diciembre 1999. 4 Vgl., J. L., Martnez Lpez-MuÇiz, Servicio pfflblico universal y obligacin de servicio pfflblico en la perspectiva del Derecho comunitario: los servicios esenciales y sus regmenes alternativos, Revista Andaluza de Administracin pfflblica, 39, 2000.

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lichen Interesse betraut sind oder die den Charakter eines Finanzmonopols haben, die Vorschriften dieses Vertrags (gelten), insbesondere die Wettbewerbsregeln, soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe de jure oder de facto verhindert. Die Entwicklung des Handelsverkehrs darf nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt werden, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft.“ Artikel 14 AEUV sieht schließlich vor, dass „unbeschadet der Artikel 73, 86 und 87 und in Anbetracht des Stellenwerts, den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse innerhalb der gemeinsamen Werte der Union einnehmen, sowie ihrer Bedeutung bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts, die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse im Anwendungsbereich dieses Vertrags dafür Sorge (tragen), dass die Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können“. Im Jahr 2003 wurde Richtlinie 2003/54/EG über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt verabschiedet. Sie verfügt, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen haben, dass Elektrizitätsunternehmen in Einklang mit den in der Richtlinie genannten Grundsätzen operieren. Deren Ziel ist die Verwirklichung eines wettbewerbsorientierten und in ökologischer Hinsicht zuverlässigen und nachhaltigen Marktes, wobei die genannten Unternehmen hinsichtlich ihrer Rechte und Pflichten gleichberechtigt zu behandeln sind. Diese Vorgaben sind mit den gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen, die den Unternehmen aufzuerlegen sind, in Beziehung zu setzen. Im Wortlaut: „Die Mitgliedstaaten können unter uneingeschränkter Beachtung der einschlägigen Bestimmungen des Vertrags, insbesondere des Artikels 86, den im Elektrizitätssektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse Verpflichtungen auferlegen, die sich auf Sicherheit, Regelmäßigkeit, Qualität und Preis der Versorgung sowie Umweltschutz, einschließlich Energieeffizienz und Klimaschutz, beziehen können. Solche Verpflichtungen müssen klar festgelegt, transparent, nichtdiskriminierend und überprüfbar sein und den gleichberechtigten Zugang von Elektrizitätsunternehmen in der Europäischen Union zu den nationalen Verbrauchern sicherstellen“ (Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 2003/54/EG). Die Richtlinie enthält ebenfalls Hinweise zum Universaldienst, der folgendermaßen definiert wird: „Das Recht auf Versorgung mit Elektrizität einer bestimmten Qualität zu angemessenen, leicht und eindeutig vergleichbaren und transparenten Preisen“ (Gründe Rn. 24, Richtlinie 2003/54/EG). Sie erlaubt den Mitgliedstaaten, einige der Vorgaben nicht anzuwenden, „soweit eine Anwendung die Erfüllung der den Elektrizitätsunternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse auferlegten Verpflichtungen de jure oder de facto verhindern würde“ (Art. 3 Abs. 8 Richtlinie 2003/ 54/EG), wobei sie sich auf den oben zitierten Artikel 106 Abs. 2 AEUV (ex-Artikel 86 Abs. 2 EGV) bezieht. Die Richtlinie sieht weiter vor, dass die Mitgliedstaaten eine oder mehrere Regulierungsbehörden einrichten. Diese dürfen keine Interessen auf dem Elektrizitätssek-

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tor haben und sollen gleiche Zugangsmöglichkeiten, freien Wettbewerb und das effiziente Funktionieren des Marktes gewährleisten. Seit Einführung des Gesetzes 54/1997 über Energiewirtschaft (Ley General del Sector Elctrico) und des Gesetzes 17/2007 zur Anpassung des Gesetzes 54/1997 an die Vorgaben der Richtlinie 2003/54/EG über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt liegt die Elektrizitätsversorgung ausschließlich in Händen der Energieversorgungsunternehmen, wobei die Regierung bestimmt, wem in letzter Instanz die Versorgungspflicht obliegt. Im Jahr 2007 war die Europäische Union noch weit von dem Ziel der Schaffung eines echten Energiebinnenmarktes entfernt. Das bislang vorletzte Glied der Reform des Energiesektors ist das sogenannte Dritte Energiebinnenmarktpaket, das von der Kommission am 19. 9. 2007 veröffentlicht wurde. Die Kerninhalte der Reform lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: a) Option einer eigentumsrechtlichen Entflechtung zwischen Übertragungsnetz einerseits und Elektrizitätserzeugung und Handel andererseits. Unbeschadet dessen können vertikal integrierte Unternehmen Eigentümer ihrer Netzvermögenswerte bleiben, sofern das Netz von einem unabhängigen Betreiber (Independent System Operator) verwaltet wird. b) Das Paket sieht Schutzmaßnahmen vor, die gewährleisten sollen, dass Unternehmen aus Drittländern, die signifikante Anteile an einem in der Europäischen Union ansässigen Netzunternehmen erwerben wollen oder dessen Kontrolle anstreben, denselben Entflechtungsvorschriften genügen müssen wie in der Europäischen Union ansässige Unternehmen. c) Beabsichtigt ist eine Stärkung der Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden von der politischen Gewalt, sowie ferner eine Stärkung ihrer Befugnisse und Pflichten. d) Zur Stärkung des Energiebinnenmarktes soll die Zusammenarbeit der europäischen Übertragungsnetzbetreiber gefördert sowie ferner eine Agentur für die Zusammenarbeit der Regulierungsbehörden eingerichtet werden. e) Markttransparenz und Verbraucherschutz sollen verbessert werden. Gemäß der im Vorstehenden dargelegten Entwicklung gelangt man so von der Deklaration einer öffentlichen Dienstleistung durch publicatio, die für den Verbundbetrieb im Gesetz zur Regelung des Elektrizitätssektors (Ley de Ordenacin del Sector Elctrico Nacional) den Wettbewerb ausschloss, zur Regulierung. Auf ersterer basierend, behält die Neuregelung die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen bei, die Effektivität, Kontinuität und Qualität bei der Bereitstellung der Dienstleistung gewährleisten sollen. Aber die Öffnung des Elektrizitätssektors für den freien Wettbewerb und die hieraus resultierende Aktualisierung der klassischen Kategorie der öffentlichen Dienstleistung haben verschiedenste Spannungsverhältnisse geschaffen. T. R. Fernndez

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behauptet, die Zielsetzung der öffentlichen Dienstleistung – nämlich die Gewährleistung, bestimmte für das Leben als unerlässlich erachtete Bedürfnisse aller Bürger auf reguläre und kontinuierliche Weise, d. h. ununterbrochen und mit einer bestimmten Qualität, zu befriedigen – sei nach wie vor erfüllt, wenngleich sich die hierbei angewandte Technik gewandelt habe. Angesichts des neuen status quo der Kräfteverhältnisse zwischen Privatinitiative und Öffentlicher Hand erscheint diese Einschätzung vom Wunschdenken bestimmt und wird der Wirklichkeit in keiner Weise gerecht. Immerhin stellen die verschiedenen gesetzlichen Maßnahmen – Real Decreto 929/ 1998, Gesetz 62/2003 über steuerliche, administrative und soziale Maßnahmen, Real Decreto 2351/2004 sowie Real Decreto 4/2006 – einen Versuch seitens der spanischen Regierung dar, diese Probleme zu lösen.

II. Der Streitfall Europäische Kommission gegen Königreich Spanien Der Energiesektor hat sich zu einem großen Markt für Unternehmenstransaktionen entwickelt. Dies stellt ein Risiko für die den Elektrizitätsunternehmen zugewiesenen Aufgaben von öffentlichem Interesse dar. Der spanische Gesetzgeber hat versucht, dieses Problem mit Rechtsmaßnahmen zu lösen, was den Europäischen Gerichtshof dazu bewogen hat, das Königreich Spanien wegen Verletzung des Gemeinschaftsrechts zu verurteilen. Während der Legislaturperioden unter der Regierung des spanischen Partido Popular, zwischen 1996 und 2004, wurden Sondergesetze erlassen, mit denen der Zugang ausländischer öffentlicher Unternehmen zu spanischen öffentlichen Dienstleistungsunternehmen auf dem schnellen Weg des Anteilserwerbs kontrolliert werden sollte. Das Gesetz 5/1995 war das erste, das für einige Unternehmen im Privatisierungsprozess, unter ihnen ENDESA (Real Decreto 929/1998), bestimmte präventive Maßnahmen einführte: Für die Bereitstellung bestimmter Anlagevermögen oder den Erwerb bestimmter Sonderaktien (golden share) wurde eine behördliche Genehmigung erforderlich. Diese Vorschrift wurde abgelöst durch die 27. Zusatzbestimmung des Gesetzes 55/ 1999 über steuerliche, administrative und soziale Maßnahmen, geändert durch Art. 94 des Gesetzes 62/2003 gleichen Namens. Absatz 1 führt diesbezüglich aus: „Öffentliche Einrichtungen oder Personen und Einrichtungen jedweder Rechtsform mit mehrheitlicher Beteiligung oder unter der Kontrolle von öffentlichen Einrichtungen oder der öffentlichen Verwaltung, die auf direktem oder indirektem Wege die Kontrolle über gesamtstaatliche Gesellschaften, die Tätigkeiten auf dem Energiemarkt nachgehen, übernehmen oder signifikante Anteile an diesen erwerben, sind verpflichtet, die vollzogene Kontrollübernahme bzw. den Anteilserwerb dem Staatssekretariat für Energie, Industrielle Entwicklung und Kleine und Mittelständische Unternehmen zu melden, unter ausdrücklicher Angabe der Eigenschaften und Bedingungen, die mit dem Erwerb verbunden sind.“

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Die Vorschrift selbst erläutert einige der verwendeten Begriffe, wie das der „signifikanten Anteile“, nämlich „solche, die wenigstens 3 Prozent des Gesellschaftskapitals oder der Stimmrechte direkt oder indirekt erreichen“ (Abs. 1.5), oder der „Vorbedingung für eine Kontrolle“, wenn „eine der in Art. 4 des Gesetzes 24/1988 über den Wertpapiermarkt genannten Voraussetzungen erfüllt sein“ sollte (Abs. 1.4). Gegenstand der genannten Maßnahmen sind gesamtstaatliche Gesellschaften, die Tätigkeiten auf dem Energiemarkt nachgehen. Dem Erwerber obliegt a posteriori eine Meldepflicht bezüglich der vollzogenen Transaktion gegenüber dem Staatssekretariat, einem Organ des Wirtschafts- und Finanzministeriums mit Befugnissen im Energiebereich: „Im Anschluss an die erfolgte Meldung an das Staatssekretariat für Energie, Industrielle Entwicklung und Kleine und Mittelständische Unternehmen, oder aber von Amts wegen, sofern die vorstehenden Tatbestände erfüllt sind, der Meldepflicht gegenüber dem Staatssekretariat jedoch nicht nachgekommen wurde, wird dieses im Einklang mit den Bestimmungen des Gesetzes 30/1992 über das Rechtssystem der öffentlichen Verwaltungen und das Allgemeine Verwaltungsverfahren einen Vorgang anlegen, über den vorschriftsmäßig die nationale Energieaufsichtsbehörde (Comisin Nacional de Energa, im folgenden CNE) in Kenntnis zu setzen ist“ (Abs. 2). Der Ministerrat trifft diesbezüglich eine Entscheidung (Abs. 3). Aber obwohl die Kontrolle erst im Anschluss an den Erwerb stattfinden kann, ist es den Eigentümern der entsprechenden Aktienpakete untersagt, ihre mit dem Aktienbesitz verbundenen Rechte auszuüben, solange das Verfahren andauert. Bis zum Beschluss der Regierung ist eine Frist von maximal zwei Monaten vorgesehen, wobei die Genehmigung als erteilt gilt, sofern sie nicht innerhalb der Frist versagt wird: „Auf Grundlage des Berichts des Regierungsausschusses für wirtschaftliche Angelegenheiten entscheidet der Ministerrat innerhalb einer Frist von zwei Monaten über Anerkennung oder Verweigerung der entsprechenden Stimmrechtsausübung; die Ausübung der Stimmrechte kann auch an bestimmte Bedingungen geknüpft werden, unter Berücksichtigung u. a. der Grundsätze der Objektivität, der Transparenz, des Gleichgewichts und des reibungslosen Funktionierens der Energiemärkte und –systeme“ (Abs. 3). „Der Beschluss des Ministerrats, der zu begründen ist, hat zu berücksichtigen, ob die Kontrollübernahme bzw. der Erwerb signifikanter Anteile auf direkte oder indirekte Weise signifikante Risiken oder negative Auswirkungen für die von den Unternehmen auf den Energiemärkten ausgeführten Tätigkeiten mit sich bringen könnten. Ziel ist es, eine angemessene Verwaltung dieser Unternehmen sowie die Bereitstellung der Dienstleistungen im Energiesektor gemäß den objektiven Kriterien, die im folgenden Absatz ausgeführt werden, zu gewährleisten.“ Wichtigstes Kriterium für die Beurteilung signifikanter Risiken oder negativer Auswirkungen ist „die Sicherstellung der Energieversorgung oder die physische ununterbrochene Verfügbarkeit der Produkte und Dienstleistungen und insbesondere auch die Notwendigkeit, die Strukturen der entsprechenden Märkte, die für sämtliche Verbraucher unabhängig von ihrer geographischen Lage zugänglich sein müssen, in

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angemessener Qualität zu bewahren und auszubauen; hierbei insbesondere der Schutz vor dem Risiko langfristig unzureichender Investitionen in die Infrastruktur, das die Garantie für die kontinuierliche Verfügbarkeit ausreichender Kapazitäten in Gefahr bringt.“ Hinsichtlich der Verfahrensweise werden keine weiteren Verfügungen getroffen – z. B. in Bezug auf die Befugnisse der spanischen Energieaufsichtsbehörde CNE hinsichtlich der Stellungnahme zum Kapitalanteilserwerb von Unternehmen, die ihrer Aufsicht unterstellt sind; oder auf die Zuständigkeiten, die die nationale Börsenaufsichtsbehörde (Comisin Nacional del Mercado de Valores) für jedwedes börsennotierte Unternehmen im Falle eines Übernahmeangebots hat. Letzten Endes ist es Aufgabe des Staates, die allgemeinen Vorschriften des Gesetzes 39/1992 im Falle eines Übernahmeangebots anzuwenden. Befugnis 14 der spanischen Energieaufsichtsbehörde CNE, die bei den der Regulierung unterstellten Tätigkeiten im Energiesektor wie auch solchen, die Gegenstand einer Sonderregelung sind, gegeben ist, zielt auf den Schutz der genannten Komponente der öffentlichen Dienstleistung ab. Mit dem Real Decreto – Ley 4/2006 wurde der Geltungsbereich der Befugnis 14 vom spanischen Gesetzgeber erweitert (§ 2, Abs. 1). Befugnis 14 fordert die vorherige Genehmigung seitens der spanischen Energieaufsichtsbehörde CNE für von bestimmten Gesellschaften des Elektrizitätssektors vorgenommene Übernahmen aktienmäßiger Beteiligungen an anderen Unternehmen ganz gleich, ob auf demselben oder einem anderen Sektor. Gemäß Befugnis 14, § 1, sind solche Übernahmen aktienmäßiger Beteiligungen durch die spanische Energieaufsichtsbehörde CNE genehmigungspflichtig, wenn sie von Gesellschaften vorgenommen werden, „die einer der Regulierung unterstellten Tätigkeit nachgehen oder solchen Tätigkeiten, die an eine behördliche Intervention gebunden sind, die eine Sonderregelung mit sich bringt“. „Die Genehmigung ist auch dann erforderlich, wenn der Erwerb von mehr als 10 % des Gesellschaftskapitals bzw. eines Anteils, der eine signifikante Einflussnahme ermöglicht, an einer Gesellschaft, die selbst oder durch andere Gesellschaften ihrer Unternehmensgruppe einer der im vorstehenden Paragraphen dieses Abs. 1 genannten Tätigkeiten nachgeht, angestrebt wird, unabhängig davon, wer diese durchzuführen beabsichtigt. Die Genehmigung ist ebenfalls erforderlich für den direkten Erwerb von für die Ausübung der genannten Tätigkeiten erforderlichen Anlagevermögen“ (Real Decreto – Ley 4/2006, 14. Befugnis, § 2). Die reformierte Befugnis 14 benennt die Umstände, unter denen die vorstehenden Genehmigungen verweigert oder an Bedingungen geknüpft werden können (Risiken für die genannten Tätigkeiten, der Schutz der allgemeinen Interessen des Sektors und der als strategisch wichtig erachteten Anlagevermögen, die öffentliche Sicherheit, Versorgungssicherheit und -qualität etc.). Die Übergangsvorschrift des Real Decreto – Ley 4/2006 hat die Anwendung dieses Verfahrens für sämtliche anhängigen Transaktionen festgelegt. Unter diesen befand sich das Übernahmeangebot von E.On für ENDESA. E.On stand mit Gas Natural

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im Bietergefecht um die Kontrolle von ENDESA. E.On brachte vor, das Real Decreto – Ley 4/2006 sei ad hoc zu Gunsten von Gas Natural erlassen worden. Die spanische Energieaufsichtsbehörde CNE schenkte diesem Einwand kein Gehör und machte die Genehmigung des Übernahmeangebots von einer Reihe von Bedingungen abhängig. E.On legte gegen die meisten dieser Bedingungen Beschwerde ein und wendete sich an die Europäische Kommission, die Klage beim Europäischen Gerichtshof erhob. Die Klage betraf einerseits das Decreto – Ley selbst und andererseits seine Anwendung auf gemeinschaftsweite Verflechtungen. Obwohl in den Urteilen vom 4. 6. 2002 gegen Frankreich und Belgien anerkannt wird, dass „das Ziel der Sicherstellung der Energieversorgung im Staatsgebiet des entsprechenden Mitgliedstaates im Krisenfall einen Grund der öffentlichen Sicherheit ausmachen und gegebenenfalls eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs rechtfertigen kann“5, hat sich der Gerichtshof diesem Argument nicht angeschlossen, weil er die Maßnahmen der spanischen Regierung als unverhältnismäßig betrachtet6. Der Gerichtshof hat befunden, dass Direktinvestitionen, also Investitionen jeder Art durch natürliche oder juristischen Personen zur Schaffung oder Aufrechterhaltung dauerhafter und direkter Beziehungen zwischen denjenigen, die die Mittel bereitstellen, und den Unternehmen, für die diese Mittel zum Zweck einer wirtschaftlichen Tätigkeit bestimmt sind, gemäß Art. 63 Abs. 1 AEUV (ex-Art. 56 Abs. 1 des EGV) Kapitalbewegungen darstellten7. Daraus folgt, dass nationale Vorschriften, die den Erwerb von Anteilen an den betreffenden Unternehmen verhindern oder beschränken oder Investoren anderer Mitgliedstaaten davon abhalten könnten, in das Kapital dieser Unternehmen zu investieren, als Beschränkungen im Sinne des Art. 63 Abs. 1 AEUV zu betrachten sind8. Spanien ist insofern der Vertragsverletzung schuldig als Befugnis 14. Abs. 1.2 mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist. Obwohl das Ziel, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, eine Beschränkung der Übernahme gegebenenfalls rechtfertigen kann, befand der Gerichtshof: „Der bloße Erwerb von Anteilen an Unternehmen, die bestimmten der Regulierung unterstellten Tätigkeiten im Energiesektor nachgehen, sowie der Erwerb der für solche Tätigkeiten notwendigen Anlagevermögen können grundsätzlich als solche nicht als tatsächliche und hinreichend schwere Bedrohung für die Sicherheit der Energieversorgung angesehen werden.“ 5 EuGH, Urteil v. 4. 6. 2002, Rs. Rs. 483/99 – Kommission gegen Frankreich, Slg. 2002 I4781; EuGH Urteil v. 4. 6. 2002, Rs. 503/99 – Kommission gegen Belgien, Slg. 2002 I-4809. 6 EuGH, Urteil v. 13. 5. 2003, Rs. C-463/00 – Kommission gegen Spanien, Slg. 2003, I4581. 7 EuGH, Urteil v. 23. 10. 2007, Rs. C-112/05 – Kommission gegen Deutschland, Slg. 2007, I-8995, Rn. 18. 8 EuGH, Urteil v. 4. 6. 2002, Rs. C-367/98 – Kommission gegen Portugal, Slg. 2002, I-4731, Rn. 45; EuGH, Urteil v. 13. 5. 2003, Rs. C-463/00 – Kommission gegen Spanien, Slg. 2003, I4581, Rn. 61; EuGH, Urteil v. 23. 10. 2007, Rs. C-112/05 – Kommission gegen Deutschland, Slg. 2007, I-8995, Rn. 19.

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Vor allem dürfen bei Investitionen die Stimmrechte nicht ausgeklammert werden, da „die mit den Anteilen verbundenen Stimmrechte eines der Hauptinstrumente für Investoren darstellen, um sich effektiv an der Verwaltung einer Gesellschaft oder deren Kontrolle zu beteiligen. Demzufolge können Regelungen, die darauf abzielen, die Ausübung dieses Stimmrechts zu verhindern oder dieses an Bedingungen knüpfen, Investoren anderer Mitgliedstaaten vom Erwerb von Anteilen der betreffenden Unternehmen abhalten und stellen eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar.“9 Darüber hinaus wird kritisiert, dass sich die spanischen Behörden bei ihrer Kontrolle auf den Anfangsmoment, d. h. den Erwerb der Anteile, beschränken, womit sie nicht weit genug greifen: „45. […] Die ausschließlich zum Zeitpunkt der Kontrollübernahme oder des Erwerbs signifikanter Anteile eines im Energiesektor tätigen spanischen Unternehmens durchgeführte Aufsicht über eine öffentliche Einrichtung kann nicht gewährleisten, dass diese nach erfolgter Anerkennung der mit dem Aktienbesitz einhergehenden Stimmrechte von selbigen in angemessener Weise dahingehend Gebrauch macht, dass die Sicherstellung der Energieversorgung gewährleistet bleibt.“ Ein weiteres Argument betrifft die Unverhältnismäßigkeit der in der 27. Zusatzbestimmung getroffenen Maßnahmen: „47. […] In jedem Fall steht die 27. Zusatzbestimmung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel. In der Praxis erstreckt sich die in der genannten Bestimmung vorgesehene Möglichkeit der Nichtanerkennung des Stimmrechts auf sämtliche Aktionärsentscheidungen, unabhängig von dem Risiko, das diese im Einzelnen für die Sicherheit der Energieversorgung bergen könnten. Die Kommission hat bereits darauf hingewiesen, dass die Auferlegung positiver Verpflichtungen für Unternehmen im Energiesektor eine Möglichkeit darstellt, das verfolgte Ziel mit geringerem Schaden für die Freiheit des Kapitalverkehrs zu erreichen.“ Der Gerichtshof bezweifelt, dass es sich um eine nachträgliche Kontrolle handle: „50. […] Die mit der 27. Zusatzbestimmung eingeführte Regelung ist nicht mit der im Urteil Kommission / Belgien betrachteten vergleichbar. Bei letzterer handelt es sich de facto um eine Einspruchsregelung, die nachträglich zu den gefassten Gesellschaftsbeschlüssen wirksam wird. Demgegenüber zeitigt die 27. Zusatzbestimmung in dem Maße, in dem sie die Ausübung der Stimmrechte aussetzen kann und über die Möglichkeit der Nichtanerkennung oder Beschränkung derselben verfügt, ihre Wirkung bereits, bevor die Gesellschaft einen Beschluss gefasst hat, d. h. ohne einen Nachweis über das Vorliegen einer zumindest potentiellen Bedrohung für die Sicherheit der Energieversorgung zu erbringen.“ Abschließend geht der Gerichtshof auf die Unbestimmtheit der in der Vorschrift genannten relevanten Kriterien ein, nach denen sich auch die Regierung richten soll: 9 EuGH, Urteil v. 14. 2. 2008, Rs. C-274/06 – Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Spanien, Abl. EU v. 29. 3. 2008, Nr. C 79, S. 4.

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„52. Andererseits […] sind die Kriterien, nach denen der Ministerrat sich bei anstehenden Entscheidungen richten soll, nur unpräzis definiert und räumen diesem folglich einen großen Ermessensspielraum ein, der von den Gerichtsbehörden nur schwer zu kontrollieren ist.“ So kam der Gerichtshof zu seinem Urteil, dass Spanien gegen die Verpflichtungen des Gemeinschaftsrechts in Bezug auf den freien Kapitalverkehr (Art. 63 Abs. 1 AEUV) und die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) verstößt10.

III. Analyse des Urteils: Durch das Gemeinschaftsrecht gesetzte Grenzen Die Analyse der vorliegenden Streitfälle macht es zunächst erforderlich, die formalen Urteilsbegründungen, die das Verfahrensrecht und die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips betreffen, von der inhaltlichen Interpretation, die die Reichweite der Freiheit des Kapitalverkehrs und des Wettbewerbsprinzips zum Gegenstand hat, zu trennen. In einem weiteren Schritt sind dann die verschiedenen Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen. 1. Formale Analyse des Regierungsvorgehens Die Gemeinschaftsrechtsprechung hat verwaltungs- und prozessrechtliche Kriterien festgelegt: Der Normsatz, dass die öffentliche Sicherheit ins Feld geführt werden kann, wenn eine reale und zureichend schwere Bedrohung besteht, die ein wesentliches Interesse der Gesellschaft betrifft, unterliegt einem doppelten Vorbehalt: Einerseits müssen die getroffenen Maßnahmen angemessen sein, um das angestrebte Ziel zu garantieren, dürfen aber niemals über das dafür Notwendige hinausgehen. Andererseits müssen solche Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit einer effektiven gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden können11. Der spanische Gesetzgeber kann also den Staat befähigen, mit der Begründung, dass Ziele der Energiepolitik in Gefahr sind, zu intervenieren. Aber gleichzeitig muss er von der Regierung verlangen, dass ihre Intervention mit objektiven Kriterien begründet ist und dass sie als Regierungshandlung a posteriori (ex post) stattfindet, sodass eine effektive gerichtliche Kontrolle möglich ist. Zudem muss von der Regierung das Verhältnismäßigkeitsprinzip peinlich genau beachtet werden. Darüber hinaus gehört es zum Konsens, dass die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit erhobenen Forderungen im strikten Sinn interpretiert werden müssen, da sie eine Ausnahme zu der Grundfreiheit des Kapitalverkehrs darstellen. Demnach darf 10 Vgl. EuGH, Urteil v. 14. 2. 2008, Rs. C-274/06 – Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Spanien, Abl. EU v. 29. 3. 2008, Nr. C 79, S. 4; EuGH, Urteil v. 17. 7. 2008, Rs. C-207/07 – Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Spanien, Abl. EU v. 30. 8. 2008, Nr. C 223, S. 14 – 15. 11 EuGH, Urteil v. 4. 6. 2002, Rs. C-503/99 – Kommission gegen Belgien, Slg. 2002, I-4809.

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nicht jeder Staat im Alleingang und ohne Kontrolle seitens der Gemeinschaftsbehörden die Reichweite dieser Forderungen bestimmen12. Tatsache ist, dass die spanische Regierung diese formalen Verfahrensbedingungen, die der Gerichtshof zu Recht als unverzichtbar für die Konformität mit dem Gemeinschaftsrecht betrachtet, mehrfach ignoriert hat – in diesem Fall in dem Real Decreto 929/1998, dem Gesetz 62/2003 über Steuer- und Verwaltungsrechtsmaßnahmen und dem Real Decreto – ley 4/2006. Und in unserem Fall hat das von der spanischen Exekutive ausgeübte Vetorecht ganz klar die Verfahrensregelungen des Gemeinschaftsrechts verletzt. 2. Der Vorrang des Schutzes der öffentlichen Dienstleistungen gegenüber dem Wettbewerbsprinzip Was das materielle Recht betrifft, so wäre ich allerdings nicht so sicher wie der Gerichtshof, dass – gegenüber den öffentlichen Dienstleistungen oder Dienstleistungen von allgemeinem Interesse – die Freiheit des Kapitalverkehrs und das Wettbewerbsprinzip die höchsten Rechtsgüter sind. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. In der Lehre ist man sich einig bezüglich der Sonderstellung der Elektrizität als Ware. Anerkannte Stimmen unter den Rechtsgelehrten folgern daraus, dass das Recht auf freien Warenverkehr nur mit beträchtlichen Vorbehalten auf die Elektrizität anwendbar ist. Aus dem Urteil EuGH Kommission gegen Spanien vom 14.2.200813 lässt sich dagegen entnehmen, dass alle traditionellen und vernünftigen Vorsichtsmaßregeln, die das öffentliche Eigentum und die öffentliche Geschäftsführung der Unternehmen betreffen, weichen müssen, wenn diese mit dem geheiligten Prinzip des freien Kapitalverkehrs in Konflikt geraten. In dem Rechtsstreit C–503/99 Kommission gegen Belgien kommt der Gerichtshof aber zu dem genau entgegengesetzten Urteil, das dem spanischen Fall als Präzedenz hätte dienen müssen14. 12 EuGH, Urteil v. 14. 3. 2000, Rs. C-54/99 – Eglise de Scientologie, Slg. 2002, I-1335, Rn. 17, 39. 13 EuGH, Urteil v. 14. 2. 2008, Rs. C-274/06 – Kommission gegen Spanien, Abl. EU v. 29. 3. 2008, Nr. C 79, S. 4. 14 EuGH, Urteil v. 4. 6. 2002, Rs. C-503/99 – Kommission gegen Belgien, Slg. 2002, I-4809, Rn. 43 „…sind die Bedenken nicht von der Hand zu weisen, die es je nach den Umständen rechtfertigen können, dass die Mitgliedstaaten einen gewissen Einfluss auf ursprünglich öffentliche und später privatisierte Unternehmen behalten, wenn diese Unternehmen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse oder von strategischer Bedeutung erbringen. Rn. 45 „Der freie Kapitalverkehr kann als tragender Grundsatz des Vertrages nur dann durch eine nationale Regelung beschränkt werden, wenn diese aus den in Artikel 73d Absatz 1 EGVertrag genannten Gründen oder durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist, die für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätigen Personen oder Unternehmen gelten.“ Rn. 46 „Im vorliegenden Fall lässt sich nicht leugnen, dass an dem mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziel – der Sicherstellung der Energieversorgung im Krisenfall – ein le-

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Die drei Entscheidungen C–503/99, C–463/00 und C–274/06 sind also nicht nur inkohärent, sondern dazu auch unverhältnismäßig, da sich der Gerichtshof ohne weitere Abwägung den Gesichtspunkt der Kommission zu eigen gemacht und nicht berücksichtigt hat, welche Konsequenzen das für unsere öffentlichen Dienstleistungen mit sich bringt. Einen weiteren Präzedenzfall stellt der Fall EuGH C–463/2000 vom 13.5.200315 dar, in dem der Gerichtshof erkennt, dass das durch die umstrittene spanische Verordnung verfolgte Ziel, nämlich die Gewährleistung der Energieversorgung im Krisenfall, einem legitimen öffentlichen Interesse entspricht: Nach dem Gerichtshof kann der freie Kapitalverkehr als Grundsatz des Vertrags tatsächlich durch nationale Gesetzgebung eingeschränkt werden und zwar aus den in Art. 65 Abs. 1 b) AEUV genannten Gründen oder aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls, die auf jegliche Person oder jedweden Betrieb auf dem Gebiet des Aufnahmestaates angewandt werden können. Die gleiche Begründung kann insofern auf die Behinderung des freien Kapitalverkehrs Anwendung finden, als die öffentliche Sicherheit ebenso unter den in Art. 65 Abs. 1 b) AEUV aufgeführten Gründen erscheint. Das originäre Europarecht erkennt auch Grenzen für die Dienstleistungsfreiheit an. Art. 56 AEUV sieht (in Verbindung mit Art. 52 AEUV), in ähnlicher Weise wie Art. 65 Abs. 1 b) AEUV eine Beschränkung vor, die mit der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt ist. Da der Gerichtshof in den vorliegenden Fällen den Ermessensspielraum nicht ausgeschöpft hat, kann man ihm den Vorwurf nicht ersparen, dass er seiner Verpflichtung, bei der Kollision verschiedener Rechtsgüter die Geltung beider mit der größtmöglichen Sorgfalt abzuwägen und nicht einem von ihnen unbesehen den Vorzug zu geben, nicht nachgekommen ist (Prinzip der schonendsten Interpretation)16. Zwar ist die Entscheidung des Gerichtshofs insofern richtig, als man der spanischen Regierung in der Tat Formfehler und damit eine Verletzung des Gemeinschaftsrechts vorwerfen kann. Aber er hätte bei dieser Gelegenheit, zumindest als obiter dictum, auch auf die inhaltliche Frage nach der Gewichtung von Gewährleistung der öffentlichen Energieversorgung im Krisenfall einerseits und Garantie des freien Kapitalverkehrs andererseits eingehen müssen. gitimes öffentliches Interesse besteht. Wie der Gerichtshof bereits anerkannt hat, gehört zu den Gründen der öffentlichen Sicherheit, aus denen eine Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs gerechtfertigt sein kann, das Ziel, jederzeit eine Mindestversorgung mit Erdölprodukten sicherzustellen. Die gleichen Erwägungen gelten für Beeinträchtigungen des freien Kapitalverkehrs, da die öffentliche Sicherheit auch zu den in Artikel 73d Absatz 1 Buchstabe b EGVertrag genannten Rechtfertigungsgründen gehört.“ 15 Garantie einer Minimalversorgung mit Petroleum-Produkten und Elektrizität; EuGH, Urteil v. 13. 5. 2003, Rs. C-463/00 – Kommission gegen Spanien, Slg. 2003, I-4581, Rn. 34 und 35. 16 s. Peter Lerche, Übermaßverbot und Verfassungsrecht. Zur Bindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit, 1961; ebenso, Bernard Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976.

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IV. Die verfassungsmäßigen Traditionen der Mitgliedstaaten als Schranken – Schranke für einen allgemeinen Zugang zur öffentlichen Dienstleistung der Elektrizitätsversorgung Inhaltlich implizieren die Urteile des Europäischen Gerichtshofs im spanischen Fall eine einseitige Interpretation des Wettbewerbsprinzips und eine Vernachlässigung der Funktion, die der Vertrag den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art. 6 Abs. 3 EUV) einräumt. Die Richter von Luxemburg haben den freien Kapitalverkehr und den freien Wettbewerb überbewertet, ohne zu berücksichtigen, dass nicht nur eine systematische Interpretation der Art. 49, 63, 65 Abs. 1 b) und 101 – 109 AEUV (ex-Art. 43, 56, 58 (1) b) und 81 – 89 EGV) logisch verbietet, zu den Schlüssen ihrer jüngsten Rechtsprechung zu kommen, sondern dass eine solche absolute Einschätzung des Wettbewerbsprinzips auch die offensichtliche Ausblendung der im Vertrag selbst anerkannten Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten verrät. In der Rechtslehre hat sich Christian Tomuschat gefragt, ob das Wettbewerbsprinzip der primäre Baustein eines sozialen Gemeinwesens sein kann. Nach den Worten des anerkannten Vertreters des Öffentlichen Rechts „gehört das Wettbewerbsprinzip in aller Regel nicht zu den tragenden Säulen der Verfassungskonstruktion. Allenfalls lässt es sich aus in allgemeiner Form verbürgten Grundrechtsgarantien wie der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Berufsfreiheit ableiten. Das Wohl des Gemeinwesens beruht auf einem Werteverbund, wo Freiheit und Selbstbestimmung den ersten Platz einnehmen, im Einklang mit der Devise der Französischen Revolution: libert, galit, fraternit“17. Für Tomuschat ist es also ganz offensichtlich, dass die effektive Realisierung der öffentlichen Interessen in unseren Gesellschaften nicht aus der Wirkung von wirtschaftlichen Faktoren abzuleiten ist, wie Adam Smith, Friedrich von Hayek, Ludwig von Mises, Karl Raimund Popper oder Peter Drucker behaupten, sondern dass sie dem Auftrag der Charta Magna der modernen Verfassungsstaaten verpflichtet ist. Der Gerichtshof selbst hat 1969 der Gefahr vorgebeugt, dass man das Wettbewerbsprinzip zum absoluten Maßstab machen könnte, ohne das Gemeinwohl entsprechend zu berücksichtigen, indem er den Schutz der Grundrechte, die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art. 6 Abs. 3 EUV) und das Verhältnismäßigkeitsprinzip (Art. 5 Abs. 4 EUV) als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannt hat. Damit ist in den Verträgen die Debatte über das große Thema der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten eröffnet: In dem Urteil Internationale Handelsgesellschaf18 bezieht sich der Gerichtshof auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen 17 s. Christian Tomuschat, Daseinsvorsorge und Wettbewerbsprinzip in der Europäischen Union, in: Horst Tomann (Hrsg.), Die Rolle der europäischen Institutionen in der Wirtschaftspolitik, 2006. 18 EuGH, Urteil v. 17. 12. 1970, Rs. C-11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125.

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als erste Konkretisierung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts. Und 1974 werden die internationalen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte als Quelle der Gemeinschaftsgrundrechte anerkannt19. Heute ist dieser Leitsatz der Verfassungsüberlieferungen zu einem integrierten Bestandteil der die Grundrechte betreffenden Vertragsrechtsprechung geworden und – zusammen mit der Europäischen Konvention der Menschenrechte – in die Formulierung von Art. 6 Abs. 3 EUV eingegangen. Wie der europäische Gerichtshof unterstreicht, enthält der Vertrag gegenwärtig ein volles Rechtsschutzsystem. Die zuvor existierenden Lücken in den Verträgen sind mit Hilfe einer ergänzenden Interpretation der fraglichen Bestimmungen durch den Gerichtshof gefüllt worden. Damit sind die Grundlagen für die heute gültige Grundrechte-Dogmatik, die ihren positiv–rechtlichen Ort in Art. 6 Abs. 3 EUV hat, geschaffen20. Bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist also zu berücksichtigen, dass dessen Interpretation grundrechtskonform ist. Für die Interpretation „zwingender Bedürfnisse des Gemeinwohls“ stellen die Grundrechte immanente Schranken gegen die Grundfreiheiten des Kapitalverkehrs und der Niederlassung dar: Nach der Rechtslehre des Gerichtshofs sind Einschränkungen der Grundrechte nur dann rechtskonform, wenn sie dem Gemeinwohl dienen und nicht gegen den Wesensgehalt eines Grundrechtes verstoßen. Referenzbasis für ihre materielle Konkretisierung sind an erster Stelle die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Maßnahmen, die mit diesen Traditionen unvereinbar sind, können nie als rechtskonform anerkannt werden. Es ist bezeichnend, dass die Verfassungstraditionen in der positiv-rechtlichen Liste von Rechtsquellen, die der Gerichtshof aufgestellt hat, den ersten Platz einnehmen. Der Text der Norm lässt einen strukturellen Unterschied zwischen zwei Formen der normativen Produktion erkennen: Die eine gründet sich auf den einstimmigen Beschluss der Staaten nach dem Völkerrecht; die andere dagegen, das prätorische Recht, stützt sich auf die Autorität, die den nicht-legislativen Rechtsquellen zuerkannt wird. Mit anderen Worten, für den Gerichtshof ist die Erarbeitung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen auf der Grundlage der Verfassungsüberlieferungen nicht von dem Recht abhängig, das sich auf die intergouvernementale Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten stützt. Für den spanischen Streitfall bedeutet dies konkret, dass die GemeinschaftsGrundrechte von einem Vorverständnis aus interpretiert werden müssen, in dem historische Erfahrung, dogmatische Traditionen und aktuelle Wertmaßstäbe zusammenlaufen. Dem Wettbewerbsprinzip und der Freiheit des Kapitalverkehrs stehen in Spa19

EuGH, Urteil v. 14. 5. 1970, Rs. C-4/73 – Nold gegen Kommission, Slg. 1974, S. 491. Über die Beziehung zwischen der Grundrechte – Charta (EUV) und den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten s. Antonio Lpez-Pina, Verfassungselemente in der supranationalen Ordnung der Europäischen Union, in: Dimitris Th. Tsatsos (Hrsg.), Die Unionsgrundordnung – Handbuch zur Europäischen Verfassung, 2010. 20

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nien als Grenze die Rechte der Verfassungstradition in ihrem objektiven Aspekt als rechtliche Ordnungsgrundsätze, als Ausdruck der öffentlichen Interessen, gegenüber. Sie müssen mit der gleichen Freiheit aller vereinbar sein. In der Auffassung des spanischen Verfassungsgerichts ist die öffentliche Gewalt durch Art. 9 Abs. 2 SV zu einer Handlung verpflichtet, die die Gleichheit der Personen, unabhängig von ihrer sozialen Stellung, als Wesensgehalt zum Ziel hat. Dazu kommt, dass in Spanien die Unterordnung des Eigentums unter das Gemeinwohl (Art. 128 Abs. 1 SV), die soziale Funktion des Kapitals (Art. 33 Abs. 2 SV) und die Gewährleistung der wesentlichen Dienstleistungen (Art. 128 Abs. 2 SV) als Grenzen der privaten Autonomie das Kapital in Spanien mit einem öffentlichen Statut ausstatten, das seinen Schutz auf eine bloß institutionelle Garantie reduziert. Unser Vorverständnis ist also stark einer sozial bestimmten Freiheitsidee verpflichtet. Diese Freiheit, verstanden als gleiche Freiheit für alle, könnte als Kondensation der Verfassungsüberlieferung Spaniens bei der Gründung einer Föderation der europäischen Staaten mittelfristig als Referenz dienen. In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts gehörte der Gedanke zum europäischen Konsens, dass die Organisation der Menschheit auf ein höheres Gleichgewicht unter den disparaten wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten ausgerichtet sein müsse, um einen Mindeststandard an öffentlichen Dienstleistungen und Daseinsvorsorge sicherzustellen. Zu diesem Zweck haben die Verfassungstraditionen von besonderem Gewicht, wie die deutsche, die italienische und die französische, die Rechte des europäischen Staatenverbundes auf die Freiheit, verstanden als gleiche Freiheit für alle, ausgerichtet. Dieses Freiheitsprinzip der europäischen Verfassungsüberlieferungen, auf dem heute die Interpretation der Grundrechte beruht, muss als Kontrapunkt zu der ökonomisch orientierten Freiheitskonzeption verstanden werden, die den wirtschaftlichen Freiheiten der Verträge zugrundeliegt – freier Kapitalverkehr (Art. 63, 65 AEUV), Dienstleistungen (Art. 56 ff. AEUV), Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV) und freier Wettbewerb (Art. 101 – 109 AEUV). In der die Einheitsakte und die Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon bestimmenden neoliberalen Doktrin ist die Freiheit auf die subjektiven Rechte gegenüber der öffentlichen Gewalt reduziert, speziell auf die Freiheit wirtschaftlicher Initiative. Es ist jedoch nicht legitim, das Recht auf wirtschaftliche Initiative und freien Wettbewerb so zu gebrauchen, dass die realen Freiheiten der anderen auf ein Relikt schrumpfen oder dass damit die Arbeit und die Bewusstseinsbildung anderer beherrscht werden. Mit den Worten des Staatsrechtslehrers Paul Kirchhof: „Ein Freiheitsrecht vermittelt niemals Herrschaft über einen anderen Freien“21. Die reale Freiheit aller verlangt nicht nur, über subjektive Rechte zur Verteidigung gegen Staat und öffentliche Verwaltung zu verfügen; die Bürger müssen sich auch gegen die Gewalt zur Wehr setzen können, die das private Kapital auf das soziale 21 s. Paul Kirchhof, Efectividad de los derechos fundamentales: en particular en relacin con el ejercicio del poder legislativo, in: A. Lpez-Pina (Hrsg.), La garanta constitucional de los derechos fundamentales. Alemania, EspaÇa, Francia e Italia, 1991.

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und politische Leben ausübt. Gegenüber der wirtschaftlich bestimmten Freiheitsauffassung verbindet uns Europäer eine egalitäre Freiheitsidee, die die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt und die ebenfalls gewährleistet sein muss. Angesichts dieser weitreichenden Auswirkungen ist es also keinesfalls gleichgültig, ob der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten berücksichtigt oder es an der nötigen Sensibilität dafür fehlen lässt. V. Fazit In den oben aufgeführten Fällen haben sich weder der spanische Gesetzgeber noch der Europäische Gerichtshof der Problematik gewachsen gezeigt. Die Entmonopolisierungen und Privatisierungen der letzten Jahrzehnte stellen ein Rückzugsmanöver der öffentlichen Dienstleistungen als materielle Basis der öffentlichen Interessen dar, bei dem die Staaten einen Rechtsbereich aufgegeben haben, der äußerst schwierig wiederzuerobern sein wird – wie wir tagtäglich feststellen können. Solange Europa sich nicht entscheidet, gemeinsame Normen im Bereich der Energieversorgung festzulegen, und der Gerichtshof seine Funktion als Wächter der Bürgerrechte nicht voll ausübt, wird das Gesetz der kurzfristigen Gewinnmaximierung weiterhin unsere Gesellschaften in ihrer Autonomie einschränken und sie zu bloßen Satelliten des Kapitals herabstufen. Wünschenswert wäre es deshalb, dass die spanische Regierung im Rahmen der Europäischen Union mit den anderen Mitgliedstaaten eine gemeinsame Energiepolitik vereinbaren und Art. 14 AEUV in Richtung Schutz der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse und Begrenzung des freien Kapitalverkehrs entwickeln würde. Eine lediglich nationale Energiepolitik ist zur Impotenz verurteilt und – wie der analysierte Fall gezeigt hat – zudem der dogmatischen Inkonsistenz des Gerichtshofs ausgeliefert.

Demokratische Ebenengliederung Von Christoph Möllers, Berlin I. Fragestellung Zur Beantwortung von Rainer Wahls Frage nach der rechtlichen Stellung des „Einzelnen in der Welt jenseits des Staates“1 wollen die folgenden Überlegungen einen Beitrag leisten. Es soll dabei konkreter um das Problem der demokratischen Partizipation des Einzelnen an Gebilden gehen, in denen sich mehrere demokratische Prozesse überlagern. Aus der Perspektive eines Individuums rekonstruiert, das als Mitglied verschiedener ebenengegliederter Hoheitsgebilde politische Entscheidungen trifft, kann der Beitrag nicht von einem bestimmten Begriff von Volk oder Volkssouveränität ausgehen. Die Verdeutlichung dieses Ausgangspunktes setzt zunächst einige Vorüberlegungen zu den Konzepten einer individuellen Perspektive auf Demokratie und den Begriff der Ebene voraus (II.), bevor im ersten Hauptteil über die Reichweite der Mehrheitsregel in demokratischen Mehr-Ebenen-Gebilden nachzudenken ist (III.). Dies führt im zweiten Hauptteil zur Frage, wann überhaupt von einem Legitimationssubjekt gesprochen werden kann – und was daraus für die institutionelle Organisation von Mehr-Ebenen-Gebilden folgt (IV.), bevor ein Fazit (V.) gezogen werden soll. II. Demokratie in Mehrebenenordnungen: begriffliche Vorüberlegungen 1. Individuelle Perspektive Was soll eine „individuelle“ Perspektive auf demokratische Legitimation bedeuten? Aus der Perspektive des Individuums versteht sich Demokratie als gleiche Mitgliedschaft in einer oder in mehreren politischen Gemeinschaften. Davon zu unterscheiden ist der Kreis an sonstigen subjektiven Rechten, die ein Individuum geltend machen kann, die von der Verfassung oder dem Gesetz eingerichtet und durch Gerichte durchgesetzt werden.2 Für beide Status gibt es in der politischen Theorie unter-

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Vgl. Wahl, Rainer, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, Frankfurt a.M. 2003, S. 53. 2 Zu den legitimatorischen Unterschieden: Möllers, Christoph, Gewaltengliederung, Tübingen 2005, S. 15 ff., S. 25 ff.

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schiedliche Formulierungen: die Freiheit der Alten und der Modernen3, positive und negative Freiheit4 oder private und öffentliche Autonomie.5 Beide Rechtspositionen hängen miteinander legitimatorisch zusammen, private Rechte bedürfen demokratischer Ausgestaltung und demokratische Politik ist ohne einen Schutz privater Autonomie nicht möglich. Beide Formen hängen in ihrer Legitimationsleistung voneinander ab. Beide können aber weder miteinander identifiziert noch gegeneinander ausgespielt werden. So sitzt die Feststellung, die Europäische Union legitimiere sich durch den Bezug auf Individuen gegenüber den Nationalstaaten,6 einer Kategorienverwechselung auf. Subjektive Rechte wie die Grundfreiheiten können politische Mitgliedschaftsrechte nicht ersetzen. Auch die Konzeption einer doppelten Legitimation des Völkerrechts steht in der Gefahr, einen solchen Kategorienfehler zu begehen, wenn sie das Individuum anruft.7 Die hier eingenommene individuelle Perspektive auf Demokratie beschränkt sich auf die Frage der öffentlichen Autonomie, setzt dabei aber nicht staatstheoretische Kategorien wie Volk oder Souveränität voraus, sondern fragt nach den individuellen Präferenzen für oder gegen eine bestimmte politische Gemeinschaft.8 2. Demokratie Aus der Perspektive des Einzelnen stellt sich Demokratie also nicht als Selbstbestimmung eines Volkes dar, sondern als Rechtsstatus gleicher Teilhabe an einem po3 Vgl. Constant, Benjamin, De la libert des Anciens compare  celle des Modernes, in: ders., Ecrits politiques, Paris 1997 (1. Aufl. 1819), S. 591 ff. 4 Berlin bezeichnet mit dieser Unterscheidung das oben Entwickelte, nicht dagegen die Unterscheidung zwischen negativen und positiven Grundrechten wie sie in der deutschen Grundrechtsdogmatik üblich ist, vgl. Berlin, Isaiah, Two Concepts of Liberty, in: ders., Liberty, Oxford 2002 (erstmals gedruckt 1969, in: ders., Four Essays on Liberty, London/Oxford 1969), S. 166 ff. 5 Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1998 (1. Aufl. 1992), S. 151 ff. 6 Pernice, Ingolf, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 170 ff., insb. S. 176. 7 Vgl. dazu auch Peters, Anne, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, Berlin 2001, S. 561 ff. 8 Deutlich werden die unterschiedlichen Perspektiven in der durchaus anders akzentuierten Rechtsprechung zu demokratischer Legitimation zwischen dem Ersten und dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts, dazu etwa Bryde, Brun-Otto, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes als Optimierungsaufgabe, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, Baden-Baden 2000, S. 63 ff. Der Erste Senat, der Grundrechtssenat, nähert grundrechtliche und staatsrechtliche Position eher einander an, weil er auch prozessual aus der Perspektive des Verfassungsbeschwerdeführers denkt, anders der Zweite Senat. Auch die Anerkennung von Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG als Recht gegen den Integrationsgesetzgeber seit BVerfGE 89, 155, hat hier nicht zu einer Individualisierung des Staatsrechts geführt, sondern eher zu einer Etatisierung des Individualrechts. Ähnlich Grefrath, Holger, Expos eines Verfassungsprozessrechts von den Letztfragen? Das Lissabon-Urteil zwischen actio pro socio und negativer Theologie, AöR (2010), S. 245 ff.

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litischen Legitimationssubjekt. Die Gleichheit des Rechtsstatus aller Mitglieder des Legitimationssubjektes impliziert eine Mehrheitsregel für deren Entscheidungen.9 Diese Konsequenz ist demokratietheoretisch zwar nicht völlig unumstritten, doch ist diese Diskussion jedenfalls für die Praxis demokratischer Institutionen kaum von Bedeutung. Varianzen finden sich allenfalls in der Qualifikation der Mehrheit, nicht aber in der Regel selbst. Von Demokratie soll hier im Folgenden also ganz schlicht im Sinne einer Herrschaft der Mehrheit gesprochen werden – unabhängig von der sehr umstrittenen Frage, ob eine solche Bestimmung, die wohl in jedem Fall ein notwendiges Element demokratischer Herrschaft enthalten dürfte, auch hinreichend für demokratische Herrschaft ist, oder ob andere deliberative oder Outputbezogene Kriterien erfüllt sein müssen.10 3. Ebene In einem demokratischen Mehr-Ebenen-System operiert ein Individuum als Mitglied verschiedener Abstimmungsgemeinschaften unterschiedlicher Allgemeinheit: in Europa etwa als Bürger einer Gemeinde, einer Region oder eines Landes, eines Staates und des supranationalen Verbandes der Europäischen Union. Von einer „Ebene“ als Teil eines Mehr-Ebenen-Systems kann man erst sprechen, wenn sich dort Legitimationssubjekte konstituiert haben, wenn es mit anderen Worten verselbstständigte Formen der Rechtserzeugung mit eigenen politischen Legitimationsmechanismen gibt.11 Man könnte zwar auch von der „Ebene“ des Völkerrechts sprechen, aber wohl nicht von einem Mehr-Ebenen-System, dem auch das Völkerrecht angehört. Plausibler bleibt es, auch die föderalen Glieder und die Gemeinden als eigene Ebenen zu verstehen. Dass Länder und Gemeinden bei der Diskussion in Deutschland, immerhin einem der wenigen formellen Bundesstaaten unter den Mitgliedern der EU, manchmal unterschlagen werden,12 dürfte auch mit der überkonsolidierten Verfassung des unitari-

9

Heun, Werner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, Berlin 1983, S. 93 ff. Zur Bedeutung des Mehrheitsprinzips für die Demokratie grundlegend Kelsen, Hans, Vom Wesen und Wert der Demokratie (2. Auflage 1929), in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verteidigung der Demokratie, 2006, S. 149 ff.; Heun, Werner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, Berlin 1983, S. 93 ff.; aus neuerer Zeit etwa Hillgruber, Christian, Die Herrschaft der Mehrheit. Grundlagen und Grenzen des demokratischen Majoritätsprinzips, AöR 127 (2002), S. 460 ff.; Fach, Wolfgang, Archiv fu¨ r Rechts- und Sozialphilosophie 61 (1975), S. 200 ff.; Scheuner, Ulrich, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, Opladen 1973; eine systematische Übersicht zu den demokratietheoretischen Ansätzen der Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips: Dahl, Robert Alan, Democracy and its Critics, New Haven 1989, S. 135 ff. 11 Zum Ebenenbegriff: Mayer, Franz C., Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, Berlin/Heidelberg 2003, S. 269 f.; Möllers, Christoph, Gewaltengliederung, Tübingen 2005, S. 210 ff. 12 So bei Wahl, Rainer, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, Frankfurt a.M. 2003, S. 46 ff. 10

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schen Bundesstaates hierzulande zusammenhängen,13 in dem es keinen echten politischen Konflikt über die Regelungskompetenzen zwischen Bund und Ländern gibt.14 Manche Überlegungen zur Konstitution von Mehr-Ebenen-Rechtsordnungen scheinen, wie wir noch sehen werden, zu einseitig vom Zustand des bundesdeutschen Föderalismus inspiriert zu sein. Die Einbeziehung von Gemeinden in eine Mehr-Ebenen-Betrachtung mag aber auch aus einem anderen Grund zweifelhaft erscheinen; denn die Gemeinden lassen sich – jedenfalls nach deutschem Verständnis – als Teile der Länder verstehen, sie sind eben bloße Formen der Selbst-Verwaltung und keine eigenen Staaten.15 Für unsere Perspektive liefert freilich die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Ebenen jedenfalls im ersten Zugriff aus zwei Gründen kein legitimationsrelevantes Kriterium: Zum Ersten zeigt der föderale Rechtsvergleich, dass die deutsche Bundesstaatstheorie mit ihrer Unterscheidung zwischen Bundesstaat und Staatenbund und dem in ihr enthaltenen Kunstgriff, zwischen souveränen und nicht-souveränen Staaten zu differenzieren, keinen universalen Beschreibungsanspruch erheben kann. Das wäre auch seltsam, verdankt sich diese Konstruktion doch, wie die Zeitgenossen noch scharf sahen, den Besonderheiten der politischen Konstellation nach 1866. Nicht zufällig stieß diese Unterscheidung beim politisch sensiblen Teil der Staatsrechtslehre – von Hugo Preuß bis Hermann Heller, von Hans Kelsen bis Carl Schmitt – auf Ablehnung.16 So ist es kein Zufall, wenn sich die Diskussion um die Konstruktion föderaler Gebilde in anderen Bundesstaaten durchaus anders darstellt; wenn die Frage nach der Souveränität einer Ebene etwa in den Vereinigten Staaten nicht in gleicher Eindeutigkeit zu beantworten ist, auch weil sie politisch umstritten bleibt.17 Der Hinweis auf die Souveränität einer Ebene – dies hat schon Preuß an der herrschenden Lehre des Kaiserreichs zutreffend kritisiert – gerät schnell zu einer petitio principii: 13 Ob die Rekonstruktion des Art. 28 Abs. 1 GG, der gerade nicht von Selbst-Verwaltung spricht, so zwingend ist, mag man auch vor den hier entfalteten Überlegungen bezweifeln, ähnlich Bryde, Brun-Otto, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes als Optimierungsaufgabe, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, Baden-Baden 2000, S. 67. 14 Ausländische Beobachter zweifeln denn auch mitunter daran, ob man bei der Bundesrepublik überhaupt noch von einem Bundesstaat sprechen kann Beaud, Olivier, Thorie de la federation, Paris 2007, S. 330 ff.; siehe auch Greber, Anton, Die vorpositiven Grundlagen des Bundesstaates, Basel 2000. 15 Dazu etwa Schmidt-Aßmann, Eberhard / Möhl, Hans Christian, Kommunalrecht, in: ders, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl., Berlin 2008, S. 22 f. 16 Heller, Hermann, Die Souveränität, 1927, S. 110 ff.; Kelsen, Hans, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 194; Merkl, Adolf, Zum rechtstechnischen Problem der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, ZöR 2 (1921), S. 337 ff. Differenzierter: Schmitt, Carl, Verfassungslehre, Berlin 1927, S. 389 ff. Zurückhaltend auch: Smend, Rudolf, Verfassung und Verfassungsrecht (1927), S. 119, 223 ff. 17 Mit vergleichendem Blick: Halberstam, Daniel, State Autonomy in Germany and the United States, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science 574 (2001), S. 173 ff.; siehe U.S. Term Limits v. Thornton, 514 U.S. 779 (1995).

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Die Ebene ist souverän, weil sie unabgeleitet ist, weil sie staatlich ist, weil sie souverän ist.18 Die Suche nach eindeutigen Kriterien begründet ein Erkenntnishindernis, das die Vielfalt föderaler Ausgestaltungen nicht zu bewältigen vermag.19 Der zweite Grund für einen Verzicht auf die Staatssemantik liegt in der individuellen Perspektive, die im Folgenden eingenommen werden soll. Aus der Perspektive eines Bürgers kann nicht vorgegeben werden, welche Mitgliedschaft, welche politische Identität für ihn am wichtigsten ist, ob er sich primär als Bayer, Deutscher, Europäer oder als Milaneserin, Nord(!)-Italienerin oder Weltbürgerin fühlt. Diese Selbstbeschreibungen haben offensichtlich keine unmittelbaren institutionellen Implikationen, sie erzeugen als solche keine Rechtsfolgen. Aber es kann passieren, dass sich eine Bürgerin eine dominante institutionelle Rolle einer bestimmten Ebene zu Lasten einer anderen wünscht. Es mag auch sein, dass sie ein besonderes Interesse an Fragen hat, die auf einer bestimmten Ebene verhandelt werden, etwa für die rechtlichen Bedingungen von Gewerbe- und Baugenehmigungen, für die maßgeblich die kommunale Ebene zuständig ist. Solche Selbstbeschreibungen und Interessen sind aber legitimationstheoretisch alles andere als unbeachtlich. Spätestens, wenn Mehrheiten in einem territorial begrenzbaren Gebilde ihre politische Identität anders definieren, als die Institutionenordnung dies vorsieht, stellt sich die Frage nach möglichen Veränderungen. Es ist bemerkenswert, dass diese Frage, die mit Blick auf Entwicklungen in Kanada, in Spanien oder in Belgien weltweit diskutiert wird,20 in Deutschland eher als pathologisches Problem unbeachtet bleibt, weil der deutsche Föderalismus seinen politischen Antrieb wohl schon seit der Reichsgründung verloren hat.21 Aber auch die europäische Integration, deren Gründerväter, Schuman, Adenauer, de Gasperi, aus Grenzregionen kamen und die ein deutlich relativierender Blick auf ihre nationalstaatliche Identität verband, verdankt solchen uneindeutigen oder auch nur gedoppelten politischen Selbstbeschreibungen viel. Schließlich dokumentiert das Beispiel der Comunidades Autnomas in Spanien, dass Einheiten, die von Rechts wegen als Selbstverwaltungskörperschaften definiert werden, trotzdem, wenn ein entsprechendes politisches Anliegen besteht, zu legitimationsrelevanten Ebenen werden können.22 Auch dies spricht dagegen, Selbstverwaltungskörperschaften aus einer legitimationstheoretischen Ebenenbetrachtung auszuschließen und die

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Sehr klar bei Preuß, Hugo, Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität (1908), in: Schefold (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Zweiter Band, Tübingen 2009, S. 261. 19 In diesem Sinne gegen die Dichotomie: Schönberger, Christoph, Die Europäische Union als Bund. Zugleich ein Beitrag zur Verabschiedung des Staatenbund-Bundesstaat-Schemas, AöR 129 (2004), S. 81 ff. 20 Aus der unüberschaubaren Literatur nur: Kymlicka, Will, Federalism and Secession, The Canadian Journal of Law and Jurisprudence, 13 – 2 (2000), S. 207 ff. 21 Die Verlustdiagnose ist schon bei Hesse, Konrad, Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962 zu finden. 22 Medina Guerrero, Manuel, § 11, Grundstrukturen staatlichen Verfassungsrechts: Spanien, in: von Bogdandy, u. a. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 1, Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts, Heidelberg 2007, S. 625 ff.

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für sie eingerichteten demokratischen Verfahren als legitimatorisch nur zweitrangig oder abgeleitet zu behandeln. Natürlich ist es möglich, die in diesem Beitrag vermiedene Souveränitätsfrage auch aus einer individual-zentrierten Perspektive zu reformulieren: Es geht dann darum, welcher Ebene ein Individuum die letzte Loyalität schuldet, für welche es etwa in den Krieg zu ziehen bereit ist23 – aber selbst wenn man eine solche Frage unter heutigen Bedingungen für sinnvoll hielte, selbst wenn man vergäße, dass sie aus Zeiten stammt, in denen niemand die Wahl hatte, nicht in den Krieg zu ziehen, so dass sie schon damals problematisch war, würde sich bei ihrer Beantwortung doch ein Bild ergeben, das durch die Idee der Souveränität zumindest einer Ebene nicht zu bewältigen wäre – nämlich ein fundamental uneinheitliches, in dem manche Bürger einer, manche einer anderen Ebene, manche gar keiner Ebene hoheitlichen Handelns letzte Loyalität zu schulden meinen. Diese Einsicht enthält, dies ist noch einmal zu betonen, keine juristische These. Die Figur der völkerrechtlichen Souveränität hat ihren eigenen Sinn und macht, daran ist hier nicht zu zweifeln, viele legitimatorisch offene Fragen für den Normalfall juristisch handhabbar24 – die Diskussion um ein Selbstbestimmungsrecht der Völker wie um die Sezession von Regionen zeigt aber auch, dass auch der Souveränitätsbegriff Probleme demokratischer Legitimation nicht endgültig lösen kann.25 III. Grenzen der Mehrheitsregel in Mehr-Ebenen-Rechtsordnungen Bürger in einer demokratischen Föderation haben sich, wie gesehen, gleich mehrfach einer Mehrheitsregel unterworfen. Sie können auf der Ebene eines Nationalstaates und einer regionalen Organisation demokratische Entscheidungen mitgestalten und diesen gegen ihre individuellen Überzeugungen unterworfen sein. Allerdings ergibt sich hier auf den ersten Blick ein fundamentaler Unterschied etwa zwischen dem Prozess der europäischen Integration auf der einen Seite und dem der Devolution in Großbritannien auf der anderen Seite. Schotten sind zumindest damit vertraut, durch englische Mehrheiten im britischen Parlament regiert zu werden. Dafür wurden sie traditionell in Westminster überrepräsentiert.26 Zudem haben sie ein Interesse an einer Devolution von Kompetenzen, um mehr eigene Entscheidungsgewalt als Mitglieder eines schottischen Legitimationssubjektes zu bekommen. Engländer mögen diesem Prozess gleichfalls zustimmen, weil es für sie keine Rolle spielt, wenn be23

Eine solche Konzeption wird bei Haltern, Ulrich R., Was bedeutet Souveränität?, Tübingen 2007, S. 47 ff. vorgestellt. 24 Dazu Oeter, Stefan, Souveränität – ein überholtes Konzept?, in: Cremer/Giegerich/ Richter/Zimmermann (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts – Festschrift für Helmut Steinberger, Berlin/Heidelberg 2002, S. 259 ff. 25 Zuversichtlicher wohl Grimm, Dieter, Souveränität, Berlin 2009, S. 99 ff. Vgl. aber die Beiträge zu ICJ, Accordance with International Law of the UDI in Respect of Kosovo, No. 2010/25, Advisory Opinion, 2010 I.C.J. 141 im German Law Journal 8 – 1 (2010). 26 MacCormick, Neil, Questioning Sovereignty, Oxford 1999, S. 51 f.

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stimmte Fragen, die die Schotten allein angehen, von den Schotten allein entschieden werden.27 Aber beide, Engländer und Schotten, mögen sich auf der anderen Seite schwer damit tun, durch Entscheidungen regiert zu werden, die durch eine Mehrheit von Nicht-Briten getroffen wurden, etwa durch eine Koalition aus Deutschen, Franzosen und Italienern auf europäischer Ebene. Dergestalt wollen sie nicht überstimmt werden. Mit anderen Worten: Ihnen sind die Mitgliedschaften in Großbritannien und in England/Schottland unter Umständen wichtiger als diejenige in der Europäischen Union. Der Gefahr, solcherart überstimmt zu werden, wird meistens mit Hilfe von VetoPositionen entgegengewirkt, die Institutionen gegeben werden, die ihrerseits demokratische Mehrheiten repräsentieren wie namentlich demokratische Regierungen.28 Einem genuin föderalen Modus entsprechend können verschiedene politische Einheiten auf einer Ebene repräsentiert werden, um die Integrität ihrer internen politischen Willensbildung zu schützen.29 Im Prinzip gibt es dann zwei grundsätzliche Mechanismen der Repräsentation, eine demokratisch-egalitäre, die jedem individuellen Angehörigen eine Stimme gibt und eine föderal-korporative, die jedem repräsentierten politischen Gebilde eine Stimme gibt. Wie nun zu zeigen sein wird, gibt dieser Ausgangspunkt großen Raum für institutionelle Flexibilität – oder anders formuliert: In einer Mehr-Ebenen-Ordnung lassen sich aus der demokratischen Organisation der Ebenen nur begrenzt Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen den Ebenen ziehen. Für diese These lassen sich zwei Gründe anführen: Zum Ersten: Selbst wenn wir eine Regel, die einem Staat eine Stimme auf der oberen Ebene zuspricht, als demokratische Vorgabe akzeptierten, wäre der demokratische Prozess innerhalb eines Staates doch nur wirksam geschützt, wenn es auf der oberen Ebene auch eine Einstimmigkeitsregel gäbe, wie es nach wie vor in den allermeisten Fällen der abgeleiteten Rechtsetzung internationaler Organisationen der Fall ist.30 In diesem Fall könnten wir allerdings, wie gesehen, nicht von einer echten Ebene als Teil eines Mehr-Ebenen-Systems sprechen, denn jeder Ansatz einer politischen Gemeinschaftsbildung wäre mit dieser Abstimmungsregel letztlich unterbunden. Wir würden es weiterhin mit einer Kooperation souveräner Einheiten zu tun haben, die sich zwar durch andere Formen der Verrechtlichung verselbstständigen kann, so wie wir es in der europäischen Integration vor der Einheitlichen Europäi-

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Allerdings beschert dies den Engländern das Problem, dass rein englische Fragen weiterhin von allen Briten entschieden werden – die sogenannte West-Loathian Question, dazu: Bogdanor, Vernon, The West Lothian Question, Parliamentary Affairs 63 – 1 (2010), S. 156 ff. 28 Tsebelis, George, Veto Players: How Political Institutions Work, Princeton 2002. 29 Zur entsprechenden Organstruktur vorzüglich: Maurer, Hartmut, Das föderative Verfassungsorgan im europäischen Vergleich in: Blankenagel/Pernice/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt, Liber Amicorum für Peter Häberle zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2004, S. 551 ff. 30 Überblick bei Alvarez, Jos E., International organizations as law-makers, Oxford 2005.

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schen Akte und im Moment in der WTO beobachten können, die über keine verselbstständigte politische Entscheidungsebene verfügten oder verfügen.31 Der zweite Grund führt zurück zu unserer Vorüberlegung: Nehmen wir an, dass eine Bürgerin Mitglied einer politischen Untergemeinschaft innerhalb ihres Nationalstaates wäre, also zum Beispiel eine Schottin oder eine Katalanin. In diesem Fall wäre nachzufragen, ob sie sich durch ihre nationale Regierung auf der europäischen Ebene angemessen vertreten fühlt und ob sie deshalb überhaupt ein Interesse an einer Einstimmigkeitsregel auf einer Ebene oberhalb des Nationalstaats wie der europäischen hätte. Natürlich ist es richtig, dass eine demokratische Regierung dazu befugt ist, alle Bürgerinnen zu repräsentieren, nicht nur diejenigen, die sie gewählt haben – dies ist die Essenz der Mehrheitsregel. Dies sollte, so will es auch das Völkerrecht, insbesondere für auswärtige Verpflichtungen gelten. „Wenn wir eine Nation sein wollen, müssen wir eine Nation im Verhältnis zu anderen Nationen sein“, wie James Madison in den Federalists festgestellt hat.32 Aber liefern diese beiden Einwände tatsächlich ein durchschlagendes Argument? Rechtfertigt die Tatsache, dass unsere Bürgerin nicht von den Bürgern anderer Nationalstaaten auf europäischer Ebene überstimmt werden will, den Umstand, dass es auf dieser Ebene keine Repräsentation von sei es oppositionellen, sei es sub-staatlichen Stimmen aus den Nationalstaaten geben sollte?33 So wie das Mehrheitsprinzip weder die Repräsentation einer Opposition im Parlament noch eine Herrschaft durch wechselnde Mehrheiten ausschließt, kann es auch nicht verhindern, dass unterschiedliche politische Identitäten innerhalb eines Nationalstaates auch außerhalb seiner abgebildet werden können,34 seien dies politische Parteien, Verbände oder eben im hier interessierenden Fall föderale Untergliederungen, die legitimationstheoretisch den unschätzbaren Vorteil haben, gleiche Individuen nach dem gleichen Prinzip demokratischer Gleichheit zu repräsentieren. Die Beschränkung auf die Repräsentation ganzer Staaten ist schon deswegen legitimationstheoretisch nicht notwendig, weil es – in unserem Beispiel – gar keine zwingende Priorität der einen Präferenz, nicht von anderen Europäern überstimmt zu werden, gegenüber der anderen Präferenz gibt, als Schotte oder Katalane auch oberhalb des Nationalstaates repräsentiert zu werden. Es ist daher kein Zufall, dass wir in vielen föderalen und quasi-föderalen Ordnungen bis hin zu Internationalen Organisationen 31

Für die WTO: von Bogdandy, Armin, Law and Politics in the WTO – Strategies to Cope with a Deficient Relationship, Max-Planck Yearbook o. United Nations Law 5 (2001), S. 609 ff. 32 Madison, James/Hamilton, Alexander/Jay, John, The Federalist Papers (1787/88), New York 1989, Nr. 42. 33 Ein Argument zugunsten föderaler Ordnung kann daher darin bestehen, es für fair zu halten, dass Angehörige unterschiedlicher politischer Identitäten unterschiedliche Ebenen haben, in denen sie Aussicht darauf haben, eine Mehrheit zu erringen, so De Schutter, Helder, Federalism as Fairness, The Journal of Political Philosophy, 19 (2011), S. 167 ff. 34 Ich danke Isabelle Ley für diese Einsicht, zu entsprechenden Anforderungen an die Politisierung des Völkerrechts, siehe Ley, Isabelle, Zur politischen Legitimation des Völkerrechts, Manuskript 2011.

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eine Vielzahl von Mechanismen wie Stimmgewichtung oder gar eine aufgeteilte Repräsentation von Mitgliedstaaten entdecken können.35 Dies ist keine Relativierung demokratischer Gleichheit, sondern vielmehr Umsetzung der Tatsache, dass unter den Bedingungen ebenengegliederter politischer Prozesse die Bedeutung der Mehrheitsregel selbst an Grenzen stößt, soweit unter den Beteiligten Uneinigkeit darüber besteht, welche politische Ebene als relevant angesehen wird. Das Bekenntnis zu demokratischer Gleichheit, welches die Mehrheitsregel fundiert, ist in demokratischen Mehr-Ebenen-Ordnungen beides zugleich: unverzichtbar und in seiner Bedeutung deutlich relativiert. Die unterschiedliche und asymmetrische Verteilung von individuellen politischen Präferenzen lässt sich durch die Mehrheitsregel nicht schlüssig einfangen. Allenfalls lässt sich eine relative Regel formulieren: Je weitergehend eine Ebene eine eigene politische Willensbildung zulässt, desto eher wird sie sich auf eine Mehrheitsregel in einem Verfahren einlassen, welches individuelle Mitglieder unmittelbar adressiert. IV. Demokratische Vorrangregeln in Mehr-Ebenen-Rechtsordnungen? Die begrenzte Reichweite der Mehrheitsregel wirft die Frage auf, ob sich andere Kriterien für eine angemessene Entscheidungsverteilung in demokratischen MehrEbenen-Ordnungen finden lassen. Können wir mit Hilfe demokratietheoretischer Argumente einen Anhaltspunkt dafür bekommen, welche hoheitliche Ebene besser legitimiert ist als die anderen? Soweit haben wir die Mehrheitsregel unter den Bedingungen eines gleichberechtigten Nebeneinanders verschiedener hoheitlicher Ebenen behandelt. Allerdings ist auch diese Annahme nicht zwingend. Vielmehr müssen Unterschiede zwischen den Ebenen Berücksichtigung finden – so vielleicht der Umstand, dass die staatliche Ebene immer noch als die zentrale Ebene politischer demokratischer Auseinandersetzung fungiert.36 Wie oben entwickelt, stellt sich aus einer individuell-legitimationstheoretischen Perspektive die Priorität einer bestimmten Ebene allerdings nicht so eindeutig dar. Dies zeigte sich deutlich an politischen Gebilden mit offenen föderalen Konflikten. In einem Gebilde wie der Europäischen Union, in der manche Mitgliedstaaten ihrerseits solche föderalen Konflikte in ihrem Inneren kennen, genügt allein dieser Hinweis schon, um allgemeine Annahmen von der Ausgezeichnetheit der mitgliedstaatlichen Ebene zwar nicht juristisch, aber eben doch aus einer legitimationstheoretischen Perspektive in Frage zu stellen. Besteht aber dennoch ein Bedarf da-

35 Osieke, Ebere, Majority Voting Systems in the International Labour Organisation and the International Monetary Fund, in: International & Comparative Law Quarterly 33 – 2 (1984), S. 381; Schermers, Henry G., Weighted Voting, EPIL IV (2000), S. 1448. 36 Wahl, Rainer, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, Frankfurt a.M. 2003, S. 62 f.

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nach, für die verschiedenen Ebenen verschiedene Kriterien demokratischer Legitimation zu entwickeln?37 1. Pragmatistischer Ansatz: Legitimation durch die Glieder Eine erste Antwort könnte – durchaus im Sinne eines pragmatischen Demokratieverständnisses38 – darauf verweisen, dass der Vorgang der europäischen Integration durch demokratische Mitgliedstaaten nach deren verfassungsrechtlichen Regeln gestaltet wurde und aus diesem Grund demokratische Legitimation beanspruchen kann. Diese Annahme ist aus einer deutschen verfassungsrechtlichen Perspektive, die Demokratie als ein justitiables verfassungsrechtliches Prinzip versteht,39 durchaus anfechtbar. Allerdings leidet diese Konzeption unter dem Widerspruch, dass sie einerseits Demokratie nur innerhalb des Nationalstaats für möglich hält, andererseits aber die demokratische Außenpolitik eines Nationalstaats unter den Vorbehalt eines Prinzips stellen will, das dem nationalen politischen Prozess entgegengestellt werden kann.40 Ein solches Verständnis des Demokratieprinzips ist zudem eine im Rechtsvergleich eher ungewöhnliche Konstellation.41 Schließlich war es – trotz der scheinbaren Interventionen des Bundesverfassungsgerichts in seinen Urteilen zu den Verträgen von Maastricht42 und Lissabon43 – immer klar, dass die demokratischen Maßstäbe, die an den Vorgang der europäischen Integration anzulegen sind, andere sein müssen als diejenigen, die für nationale Entscheidungen gelten. Mit einer solchen Maßstabsverdoppelung handelt man sich freilich seinerseits große Probleme ein. Woher soll ein anderer als der nationale Maßstab aus dem nationalen Recht auch kommen? Folgerichtig kennen demokratische Verfassungsordnungen in aller Regel jenseits ihrer politischen Verfahrensregeln kein eigenständig überprüfbares Demokratieprinzip. Man könnte dies theoretisch auch als positiv-rechtliche Umsetzung der pragmatistischen Idee eines Vorrangs der Demokratie vor der Philosophie, in diesem Fall in Form eines 37

Eine ähnliche Fragestellung findet sich in Bryde, Brun-Otto, Auf welcher politischen Ebene sind welche Probleme vorrangig anzugehen? in: Sitter-Liver (Hrsg.), Herausgeforderte Verfassung. Die Schweiz im globalen Kontext, Freiburg/Schweiz 1999, S. 223 ff. 38 Dewey, John, The Public and its Problems, Athens 1954 (1. Aufl. New York 1927); Posner, Richard, Law, Pragmatism, and Democracy, Cambridge (Mass.) 2005. 39 Vgl. etwa Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, Heidelberg 1987, § 24.; kritisch Bryde, Brun-Otto, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes als Optimierungsaufgabe, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, Baden-Baden 2000, S. 61 f., 68. 40 Dazu etwa Schönberger, Christoph, Die Europäische Union zwischen „Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot, Der Staat 48 (2009), S. 535 ff. 41 Vgl. etwa Heuschling, Luc, Die Struktur der demokratischen Legitimität im französischen Recht: zwischen Monismus und Pluralismus, zwischen Subjekt-Symbolik und Gewaltenmechanik, EuGRZ 2006, S. 338 ff. 42 BVerfGE 89, 155. 43 BVerfGE 123, 267.

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theoretischen Demokratieprinzips verstehen.44 Anders formuliert: Auf solche Fragen „gibt es keine logischen Antworten, sondern nur pragmatische.“45 Freilich verdrängt dieser Ansatz den Umstand, dass wir es in Europa mit einem schnell und vor allem autonom wachsenden Gebilde zu tun haben, das sich mittels der Rechtsprechung des EuGH wie auch der Sekundärrechtsetzung fortschreibt und dadurch jedenfalls weitgehend von den demokratischen Grundlagen der Mitgliedstaaten entfernt.46 Dies könnte nach anderen Kriterien verlangen, die helfen zu bestimmen, inwieweit es demokratisch vertretbar ist, Ebenen jenseits des demokratischen Staates mit weiteren Handlungsbefugnissen auszustatten. Für ein solches Kriterium kämen in Frage: die Existenz eines Legitimationssubjektes, also eines Volkes auf einer bestimmten Ebene (2.), die Konzeption der Subsidiarität (3.), oder die Einrichtung gerichtlicher Kontrolle als Hüter einer demokratisch sanktionierten Aufgabenverteilung (4.). Freilich dürfte die Bilanz für alle drei Kriterien negativ ausfallen. Stattdessen soll an deren Stelle hier die Idee einer Co-Evolution von demokratischem Legitimationssubjekt und demokratisch-egalitären institutionellen Arrangements vorgeschlagen werden (5.). 2. Die Unergiebigkeit materieller Konzepte von „Volk“ In der politischen Theorie wird im Zusammenhang neuer Formen legitimationsbedürftiger Herrschaft nicht selten auf die notwendigen gesellschaftlichen Voraussetzungen hingewiesen, welche die Bedingung für das Funktionieren einer Demokratie sind. So wie man nicht einfach ein aufblasbares Parlament über Afghanistan abwerfen kann,47 um dort eine Demokratie einzurichten, genügt es auch nicht, auf irgendeiner Ebene demokratische Prozesse schlicht vorzuschreiben. Vielmehr setzt Demokratie einer verbreiteten Ansicht zufolge einen gewissen gesellschaftlichen Zusammenhang voraus, der etwa aus einer den Beteiligten gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen Sprache oder anderen Formen „kultureller“48 Verwurzelung besteht.49 44

Rorty, Richard, Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, in: ders., Solidarität oder Objektivität, Stuttgart 1988, S. 82. 45 Bryde, Brun-Otto, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes als Optimierungsaufgabe, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, Baden-Baden 2000, S. 65. 46 Klassisch dargestellt bei Weiler, Joseph, A Quiet Revolution: The European Court and Its Interlocutors, Comparative Political Studies 26 (1994), S. 510 ff. 47 Sloterdijk, Peter/Mueller von der Hagen, Gesa, Instant Democracy, in: Latour/Weibel (Hrsg.), Making Things Public, Atmospheres of Democracy, Karlsruhe 2005, S. 952 ff. 48 Zu den Doppeldeutigkeiten des Kulturbegriffs in diesem Zusammenhang: Möllers, Christoph, Pluralität der Kulturen als Herausforderung an das Verfassungsrecht? in: Dreier/ Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie, Beiheft 113 (2008), S. 223 ff. 49 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt am Main 1991, S. 92; Isensee, Josef, Nachwort: Europa – Die politische Erfindung eines Erdteils, in: ders., Europa als politische Idee und als rechtliche Form, Berlin 1993, S. 103; Kaufmann, Marcel, Europäische Integration und De-

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An dieser Stelle ist freilich Vorsicht geboten. Denn der unbestreitbare Umstand, dass eine Demokratie ihre eigenen Voraussetzungen nicht garantieren kann – schon weil es sonst keine Voraussetzungen wären –50, führt eben nicht im Umkehrschluss dazu, bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen für eine Demokratie normativ zu setzen. Dagegen sprechen aus der hier gewählten Perspektive schon zwei Beobachtungen, die eine gewisse Parallelität zu den oben zur geteilten föderalen Angehörigkeit gemachten Überlegungen kennzeichnet: Zum Ersten dürfte die Frage, was die definitiven Eigenschaften einer bestimmten politischen Eigenschaft darstellen, in aller Regel auch innerhalb dieser Gemeinschaft umstritten sein – und auch hier mag ein Blick aus einer individualistischen Perspektive weiterhelfen: Angehörige eines Legitimationssubjekts, etwa des deutschen Volkes werden, auch wenn sie ihre Mitgliedschaft ausdrücklich reflektieren und bejahen, ganz unterschiedliche Gründe für diese Bejahung nennen. Manche sind eben gerne Verfassungspatrioten, andere nationalistisch gestimmt.51 Solche Divergenzen, die unter Umständen sogar zu einer ausdrücklichen Kontroverse werden können, müssen für eine demokratische Gemeinschaft noch nicht einmal dysfunktional wirken. James Madison hat wohl, durch Hume beeinflusst, für die USA den Gedanken entwickelt,52 dass ideologische und soziale Vielfalt gerade dazu führen können, demokratische Verfahren offen und beweglich zu halten und die Identifikation demokratischer Mehrheiten mit bestimmten Ideologien oder Interessen zu verhindern. Ob die grundgesetzliche Ordnung das Christentum als Grundlage hat oder genuin säkular zu verstehen ist, war unter den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates ebenso umstritten,53 wie es die Frage nach dem Status bestimmter Regionen in Spanien oder Großbritannien ist. Solche Konflikte werden in aller Regel nicht in der Sache entschieden, hierin liegt wohl der zentrale Irrtum der Schmittschen Verfassungstheorie,54 sie bleiben entweder

mokratieprinzip, Baden-Baden 1997, S. 48, 261 f.; s. hierzu insgesamt kritisch: Hanschmann, Felix, Der Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft, Heidelberg 2008. 50 Zur Tautologie des Satzes von Böckenförde: Heinig, Hans Michael, Öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften, Berlin 2003, S. 39 ff. 51 Ob die Theorie des Verfassungspatriotismus in der Lesart von Jürgen Habermas eine Anhänglichkeit an nationale Spezifika gestattet, erscheint ihren eigenen Voraussetzungen zufolge eher zweifelhaft, wird von ihm aber dennoch bejaht: Habermas, Jürgen, Über den doppelten Boden des demokratischen Rechtsstaates, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, Kleine politische Schriften, Bd. 6, Frankfurt a.M. 1987, S. 18 ff., siehe auch Müller, JanWerner, Constitutional Patriotism, Princeton 2009. 52 Vgl. insbesondere Madison, James/Hamilton, Alexander/Jay, John, The Federalist Papers (1787/88), New York 1989, Nr. 10 (Madison); Hume, David: Idea of a Perfect Commonwealth, in: Haakonsen (Hrsg.), Political Essays, Cambridge 1994, S. 221 ff. 53 Vgl. nur Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, München 1988, S. 20 f. 54 Schmitt, Carl, Verfassungslehre, Berlin 1927.

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offen oder werden – wo sie einer Regelung zugänglich und bedürftig sind – durch die allgemeinen politischen Verfahren klein gearbeitet.55 Zum Zweiten findet sich, wenn man einen Blick in die Welt demokratischer Staaten wirft, auch kein objektives empirisches Muster für die Voraussetzungen, denen eine Population genügen muss, um zu einem demokratischen Volk werden zu können. Eine einheitliche Sprache findet sich weder in Indien noch in der Schweiz. Ein gemeinsamer Traditionsbestand ist selbst für das geeinte Deutschland schwer zu bestimmen. Der Vergleich zwischen Indien und Pakistan zeigt, dass jede Idee gesellschaftlicher Homogenität nichts zur Theorie des demokratischen Legitimationssubjektes beitragen kann.56 Auch die kommunikationstheoretische Variante, die statt eines homogenen Volkes einen gemeinsamen Kommunikationsraum fordert, der eine demokratische Auseinandersetzung ermöglichen solle, dürfte hier nicht weiter helfen. Zum einen ist diese Konzeption demokratischer Öffentlichkeit so unbestimmt, dass sie von manchen zugunsten,57 von anderen zu Lasten58 der Möglichkeit demokratischer Selbstherrschaft jenseits des Nationalstaats verwendet wird. Zum anderen ist diese Konzeption stark von der noch vergleichsweise wenig fragmentierten Öffentlichkeit der Bundesrepublik und von den verfassungsrechtlichen Versuchen geprägt, diese namentlich mit den Mitteln des Rundfunkverfassungsrechts zu bewahren.59 Ob dies angemessene Standards sind, um demokratische Politik in Gebilden wie den Vereinigten Staaten oder Indien zu beschreiben, bleibt sehr zweifelhaft. All dies spricht sehr dafür, dass die Suche nach einem demokratischen Volk schnell zu einem Zirkelschluss verführt: Es gibt ein Volk, weil es demokratische Mechanismen gibt, die ein Volk voraussetzen. Oder umgekehrt: Es gibt kein europäisches Volk, weil es keine gemeinsame demokratische Öffentlichkeit gibt, weil es kein europäisches Volk gibt. Solche Aussagen verweben Deskriptives und Normatives auf charakteristische Art und Weise. Ihr Erkenntnisgewinn liegt freilich sowohl normativ als auch deskriptiv bei Null.

55 Sunstein, Cass, Legal Reasoning and Political Conflict, Oxford 1996; Sunstein, Cass, One Case at a Time, Oxford 1999. 56 Zur Kritik dieser Figur vorzüglich: Hanschmann, Felix, Der Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft, Heidelberg 2008, S. 110 ff.; vgl. auch schon Heller, Hermann, Staatslehre (1934), 6. rev. Aufl., Tübingen 1983, S. 180 ff. 57 Habermas, Jürgen, Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt am Main 1999, 185 ff. 58 Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 588; daran anschließend BVerfGE 123, 267 (358 ff.). 59 Das Kommunikationskonzept im Lissabon-Urteil ist augenscheinlich stark von der Konzeption der Rundfunkfreiheit des Bundesverfassungsgerichts geprägt, vgl. BVerfGE 57, 295 (323); 90, 60 (86 f.); 119, 181 (214 ff.). Zur Kritik etwa Vesting, Thomas, Abschied vom Integrationsmodell. Verfassungstheoretische Überlegungen zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Medium 1992, S. 53 ff.

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3. Subsidiarität als Verteilungsprinzip? Eine Lösung, um überhaupt noch ein Kriterium für eine legitimationsangemessene Ebenengliederung zu entwickeln, könnte im allerdings vordemokratischen Grundsatz60 der Subsidiarität liegen, der nicht zuletzt dank der Bemühungen der europäischen Regionen in die europäischen Gründungsdokumente aufgenommen wurde.61 Der Grundsatz, dass die höhere Ebene nur handeln soll, wenn die niedrigere die Aufgabe nicht erledigen kann, lässt nicht nur alle Fragen offen. Es ist auch legitimationstheoretisch keineswegs plausibel, dass „kleine“ oder „nahe“ Einheiten besser legitimiert sein sollen als größere. Vielfalt der Perspektiven und Distanzierung gegenüber Einzelinteressen mag gerade auch für Entscheidungen der oberen Ebene sprechen. Dagegen scheint sich hinter der Privilegierung von Nähebeziehungen noch ein Stück katholisches konkretes Ordnungsdenken zu verbergen. So hilft der Grundsatz zwar das Problem zu beschreiben, nicht aber es zu lösen, denn welches die „richtige“ Ebene der Entscheidung ist, soll ja gerade geklärt werden.62 Vor allem verkennt der Grundsatz, dass diese Frage gerade in einer politisch lebendigen Föderation in aller Regel umstritten ist: Welche Ebene regelt die Einstellung von Richtern in Spanien: die nationale, weil es um die Garantie einheitlicher rechtsstaatlicher Standards im ganzen Land geht, oder die katalanische, weil sichergestellt werden soll, dass alle Richter, die in Katalanien richten, auch die katalanische Sprache beherrschen, um somit eine kompetente, den Parteien angemessene Rechtsfindung zu ermöglichen?63 Hier stoßen offensichtlich zwei Organisationsprinzipien aufeinander, für deren Auflösung man vom Subsidiaritätsproblem keinen Beitrag erhoffen kann.64 So ist es auch kein Zufall, dass im amerikanischen, aber auch im Schweizer Föderalismus die Frage nach der politischen Ausrichtung und die Frage nach der angemessenen Ebene65 seit jeher zusammenhängen. Das Zweiparteiensystem der USA kannte stets eine Partei, die zentralen Regelungen des Bundes gegenüber misstrauisch blieb. Beispiel: Wer den Sozialstaat bauen oder ausbauen will, oder wer den Umgang mit Waffen kontrollieren möchte, dürfte damit in aller Regel auch ein bestimmtes Ver60 Isensee, Josef, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. mit Nachtrag, Berlin 2001, S. 264 ff. 61 Calliess, Christian, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 2. Aufl. 1999, S. 61 f. 62 Lerche, Peter, Föderalismus als nationales und internationales Ordnungsprinzip, VVDStRL 21 (1964), S. 73 ff. 63 Ich danke Neus Torbisco Casals für dieses Beispiel. 64 Dies dürfte auch für ökonomische Modelle des Föderalismus gelten, vgl. die Bestandsaufnahme bei Oeter, Stefan, Erprobung der Konstitutionellen Politischen Ökonomie an Einzelfragen – Föderalismus, in: Engel/Morlok, Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, Tübingen 1998, S. 141 ff. 65 Dazu Chibber, Pradeeb K./Kollman, Ken, The Formation of National Party Systems: Federalism and Party Competition in Canada, Great Britain, India, and the United States, Princeton 2004.

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hältnis zur Zentralisierung politischer Entscheidungen entwickeln.66 Gleiches zeigt sich für die Schweiz mit Blick auf die Rolle des Staates. Wenn sich diese Erfahrungen verallgemeinern lassen, dann gibt es in einer demokratischen Föderation eben keine vom politischen Prozess verselbstständigten Kriterien einer ebenenangemessenen Entscheidung. Die Rekonstruktion als bloße Kompetenzausübungsregelung in Art. 5 Abs. 1 S. 2 EUV illustriert im Übrigen den begrenzten Erkenntniswert der Formel im positiven Recht. 4. Gerichtliche Kontrolle der Kompetenzverteilung Für das deutsche Verfassungsverständnis liegt die eigentliche Lösung unseres Problems in der verfassungsrechtlichen oder vertraglichen Positivierung der Ebenengliederung. An der herausgehobenen demokratischen Legitimation der Verfassungsgebung67 oder des Vertragsschlusses nehmen die dort festgelegten Kompetenzverteilungsregeln teil. Sie binden den normalen politischen Prozess und werden von Gerichten überprüft. Man kann die Rolle der Gerichte hier als die von Schiedsrichtern eines föderalen Paktes verstehen. Das Interesse der individuellen Angehörigen einer Mehr-Ebenen-Ordnung, nicht von den Mehrheiten einer Ebene einen Bedeutungsverlust der Zugehörigkeit zu einer anderen Ebene zugefügt zu bekommen, wird durch eine unabhängige gerichtliche Kontrolle gesichert. Aus diesem Grund ist es kein Zufall, dass die Institution der gerichtlichen Kontrolle am Maßstab der Verfassung, des Vorrangs der Verfassung, zunächst in föderalen Ordnungen entstanden ist.68 Der Schutz der demokratischen Integrität einer Ebene durch die unabhängige Überwachung von Kompetenznormen funktioniert aber eben trivialerweise nur, wenn diese Überwachung funktioniert, wenn also die Kompetenznormen die Gerichte binden können, wenn sie als Prüfungsmaßstäbe taugen und wenn die Gerichte dazu bereit sind, die Kompetenzen zu überprüfen. An beiden Punkten setzt eine seit langem bekannte Kritik an der europäischen Integration ein: Es fehle wegen des finalen Charakters des Europarechts an überprüfbaren Kompetenznormen. Zudem sei der EuGH nicht bereit, die vorhandenen Normen angemessen stricte auszulegen.69 Auch das Bundesverfassungsgericht hat diese Bedenken artikuliert, allerdings jüngst seinen 66 Zu diesem Zusammenhang für Deutschland bereits Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, FS Friedrich Schäfer, Opladen 1980, S. 182 ff. 67 Auch diese ist freilich nicht unbestreitbar, kritisch etwa von Beyme, Klaus, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, Tübingen 1968. 68 Beaud, Olivier, De quelques particularits de la justice constitutionelle dans un systme fdral, in: Grewe/Jouanjan/Maulin (Hrsg.), La notion de ,justice constitutionelle, Paris 2005, S. 49 ff.; Zum Zusammenhang zwischen Vorrang und dessen gerichtlicher Kontrolle grundlegend Wahl, Rainer, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 ff. 69 Rechtsvergleichend ahnungslos: Herzog/Gerken, F.A.Z. v. 8 .9. 2008, unter http://www. cep.eu/fileadmin/user_upload/Pressemappe/CEP_in_den_Medien/Herzog-EuGH-Webseite. pdf, abgerufen am: 8. 11. 2010.

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Prüfungsanspruch hinsichtlich der europäischen Gerichte wieder weitestgehend aufgegeben.70 Allerdings erfährt auch dieser Zusammenhang zwischen Ebenenschutz und gerichtlicher Kompetenzkontrolle durch einen rechtsvergleichenden Blick eine deutliche Relativierung. Zunächst erscheint die Formulierung der Normen selbst kaum als Ursache für eine unterschiedlich intensive gerichtliche Kontrolle fungieren zu können: „Binnenmarkt“, „Recht der Wirtschaft“ oder „interstate commerce clause“71 dürften sich in ihrer Bestimmtheit nicht signifikant unterscheiden. Zudem kennen auch andere Verfassungsordnungen eine nur beschränkte gerichtliche Kontrolle der föderalen Kompetenzen, so ist es in den Vereinigten Staaten oder in Kanada.72 Dies spricht dafür, dass Unterschiede in der Kompetenzkontrolle andere Ursachen haben. Die deutsche verfassungsrechtliche Kontrolle bundesstaatlicher Kompetenzen ist aus verschiedenen Gründen vergleichsweise intensiv: weil das deutsche Verfassungsrecht ein ganz ungewöhnliches Vertrauen in textuale Herleitungen hat, weil es keinen echten politischen Konflikt um die Zuständigkeit von Bund und Ländern gibt, weil der Kompetenzbestand des Bundes einigermaßen gesättigt ist, weil der Verfassungsgeber das Gericht ausdrücklich aufgefordert hat, auch schwer justitiable Voraussetzungen einer Bundeskompetenz zu prüfen73 und – vor allem – weil es vergleichsweise einfach ist, das Grundgesetz zu ändern und dadurch notwendige Anpassungen im politischen Wege vorgenommen werden können, was sehr häufig geschieht.74 Für unsere Fragestellung bedeutet dies zunächst: Die intensive verfassungsgerichtliche Überprüfung von Kompetenzbestimmungen kann nicht als Normalfall föderaler Ordnungen behandelt werden, von dem das europäische Modell abweicht. Eher ist die hohe Prüfungsdichte im deutschen Verfassungsrecht ungewöhnlich. Sie ist auch dadurch zu erklären, dass der verfassungsändernde politische Prozess recht anpassungsfreudig ist.75 Was folgt daraus? Eine definierte Kompetenzkontrolle durch Gerichte ist weder eine rechtsvergleichende Selbstverständlichkeit noch legitimationstheoretisch absolut geboten. Demokratietheoretisch lässt sich die Intensität der Kompetenzkontrolle eben nicht ohne einen Blick in die Änderungsregeln des auszulegenden Verfassungsdokumentes rechtfertigen. Eine einstimmige Änderungsregel – wie sie in den europäischen Verträgen gegeben ist – fordert eine offenere Auslegung natürlich heraus, weil sich der in allen föderalen Ordnungen erkennbare beständige Anpassungsbedarf an die Kompetenzverteilung an keiner Stellung ventilieren könnte. 70

BVerfG, Beschluss vom 06. Juli 2010, 2 BvR 2661/06. Art. 114 AEU; Art, 74 Abs. 1 Nr. 11 GG; Art. I, § 8, cl. 3 U.S. Const. 72 Möllers, Christoph, Gewaltengliederung, Tübingen 2005, S. 379 ff.; Hogg, Peter W., Constitutional Law of Canada, Toronto 2010, S. 5, 23 ff. 73 Vgl. Art. 72 Abs. 2, 93 Abs. 1 Nr. 2a GG. 74 Übersicht bei Dreier, Horst/Wittreck, Fabian, Grundgesetz. Textausgabe mit sämtlichen Änderungen und andere Texte zum Verfassungsrecht, 5. Aufl. Tübingen 2010. 75 Vgl. die Aufstellung bei: Lorenz, Astrid, Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien, Wiesbaden 2008, S. 22. 71

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Insoweit macht die grundgesetzliche Lösung, ein vergleichsweise anspruchsloses Verfahren der Verfassungsänderung mit einer strikten Verfassungsauslegung durch das Bundesverfassungsgericht zu verbinden, in dieser Hinsicht76 einen durchaus überzeugenden Eindruck, weil dies sowohl die Handlungsfähigkeit qualifizierter demokratischer Mehrheiten, als auch eine gewisse Methodenstrenge der gerichtlichen Auslegung sichert. Aber diese Einsicht bedeutet zugleich, dass sich das Modell nicht einfach auf andere Föderationen übertragen lässt. Für die europäische Integration ergibt sich eher der folgende Zusammenhang, der aus einer europakritischen Perspektive auch als Dilemma gelesen werden mag: Gerade wenn man kein Verfahren der Vertragsänderung will, dass auf das Einstimmigkeitserfordernis der Vertragsparteien verzichtet, muss sich auf der anderen Seite ein bestimmter Anpassungsbedarf bei der Kompetenzauslegung ventilieren. Wenn dies zu Auslegungspraktiken durch den EuGH führt, die einer Mehrheit von Mitgliedstaaten nicht willkommen sind, bleiben diese aber wegen des Einstimmigkeitserfordernisses nicht in der Lage, im Wege der Vertragsänderung Korrekturen vorzunehmen.

5. Co-Evolution von Institution und politischen Prozessen Soweit stehen wir mit leeren Händen da. Ein substantieller Begriff des Volkes hilft uns bei der Bestimmung der besser legitimierten Ebene ebenso wenig weiter wie das Subsidiaritätsprinzip – und auch die gerichtliche Kompetenzkontrolle stößt an legitimationstheoretische Grenzen. Soweit erscheinen alle Katzen grau, alle Ebenen gleichberechtigt. Dies entspricht aber durchaus nicht unserer demokratischen Erfahrung, der Bedeutung, die wir unterschiedlichen Ebenen zuweisen. Haben wir oben dem Umstand Rechnung getragen, dass unsere politische Selbstbeschreibung als Zugehörige unterschiedlicher politischer Gemeinschaften durchaus unterschiedlich bleibt, so können wir umgekehrt kaum abstreiten, dass es stets relevante Mehrheiten geben dürfte, die eine bestimmte politische Ebene für überragend relevant halten. Wie gehen wir mit dieser Einsicht um? Ein wesentlicher Grundfehler der demokratietheoretischen Debatte um die Legitimation von Föderationen dürfte darin liegen, Legitimationssubjekte, „Völker“, entweder als etwas „Vorgegebenes“ zu verstehen,77 an das rechtliche Institutionen bloß anknüpfen müssen, oder umgekehrt Legitimationssubjekte einfach als bloße Funktion juristischer Vorgaben zu verstehen, so als wäre es erst sinnvoll, vom deutschen Volk zu sprechen, wenn ein Gesetz dessen Zugehörigkeit regelt und eine Norm wie Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG das Volk zum Tatbestandsmerkmal macht.78 Die kritische 76 Zu Problemen der sehr leichten Änderbarkeit aber Grimm, Dieter, Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt am Main 1991, S. 334 ff. 77 Dies ist die traditionelle Linie der deutschen Staatsrechtswissenschaft: Möllers, Christoph, Staat als Argument, München 2000, Kap. 11. 78 So im Anschluss an Kelsen wohl Lepsius, Oliver, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik, in: Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 366 ff.

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Gegenüberstellung beider Positionen erinnert nicht nur von Ferne an die Debatten um den Konstruktivismus in den Sozialwissenschaften – und hier wie dort gilt: Der Umstand, dass wir Fakten und Objekte nicht unabhängig von sozialen (rechtlichen) Kontexten beschreiben können, bedeutet nicht, dass Fakten und Objekte einfach durch soziale (rechtliche) Kontexte kreiert werden können.79 Für unsere demokratietheoretische Fragestellung ist dies wie folgt zu reformulieren: Demokratische Verfahren wie beispielsweise Parlamentswahlen bilden keinen bereits vor ihnen bestehenden Volkswillen ab – und trotzdem ist es nicht sinnlos davon zu sprechen, dass ein solcher Volkswille in ihnen zum Ausdruck kommt.80 Vielmehr können sich egalitäre Prozeduren und die demokratischen Legitimationssubjekte, welche diese rechtfertigen sollen, aneinander entlang entwickeln. Verfahren definieren Legitimationssubjekte, die diese Verfahren annehmen und verändern – oder auch nicht. Individuelle Teilnehmer an verschiedenen politischen Gemeinschaften werden die Frage, welche Ebene für sie von Belang ist, ja welche überhaupt in einem emphatischen Sinn den Namen „Ebene“ verdient, immer wieder anders beurteilen. Entlang dieser Veränderungen werden neue Institutionen etabliert und demokratische Verfahren ermöglicht. Die, wie oben gesehen, ohnehin undurchsichtig asymmetrische Verteilung von politischen Zugehörigkeitspräferenzen von Individuen muss zu allem Überfluss an Komplexität auch noch veränderungsoffen gedacht werden. Was das bedeutet und was daraus folgt, soll hier anhand zweier auf den ersten Blick sehr unterschiedlicher Beispiele entwickelt werden. Indien stellt nach ausdrücklicher Entscheidung seiner Verfassungsväter und -mütter keine Föderation, sondern eine Union dar.81 Das bedeutet einerseits, dass es eigene gliedstaatliche politische Prozesse geben muss, andererseits, dass die Ausgestaltung der gliedstaatlichen Verfassung wie auch die Gliederung der Gliedstaaten auf der nationalen Ebene definiert werden. So ändern sich die Grenzen zwischen den Gliedstaaten seit den 1950er Jahren permanent, nicht zuletzt auch nach Kriterien sprachlicher oder religiöser Homogenität.82 Man mag hierin eine Bestätigung für die oben abgelehnten Konzeptionen demokratischer Homogenität sehen, die auf entsprechende Kriterien abstellen. Schaut man aber genauer hin, so sind diese Grenzziehungen Ergebnisse eines korrrekturoffenen demokratischen Prozesses auf der nationalen Ebene, der versucht, für die Disparitäten auf der gliedstaatlichen Ebene Lösungen zu entwickeln. Indien ist als Zentralstaat schwerlich vorstellbar, aber die unübertrof79 Zur neueren Kritik am Konstruktivismus: Hacking, Ian, The Social Construction of What?, Cambridge (Mass.) 1999; Searle, John R., The Construction of Social Reality, London 1995. 80 Ausdruck ist hier daher auch der angemessenere Ausdruck als Repräsentation, dazu Möllers, Christoph, Expressive versus repräsentative Demokratie, in: Kreide (Hrsg.), Transnationale Verrechtlichung, Frankfurt a.M. 2008, S. 160 ff. 81 Granville, Austin, The Indian Constitution, Neuedition, Oxford 2010, S. 186 ff. 82 Ein regionaler Überblick bei Choudry, Sujit, Managing Linguistic Nationalism through Constitutional Design: Lessons from South Asia, International Journal of Constitutional Law 7 (2009), S. 577 ff.

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fene Vielfalt der indischen Gesellschaft bedarf eines zentralen politischen Prozesses, der dabei hilft, die Legitimationssubjekte auf gliedstaatlicher Ebene immer wieder zu bestimmen. Diese Bestimmungen sind nicht willkürlich, sondern reagieren auf Probleme auf der unteren Ebene. Aber wir erkennen hier einen Prozess der Co-Evolution zwischen institutionell eingerichteten Verfahren in der Unions- und der gliedstaatlichen Verfassungsstruktur und den Legitimationssubjekten, der eben diese Verfahren erst rechtfertigen kann. Ganz anders – und doch für unsere Fragestellung ganz ähnlich – lässt sich die Legitimation des Europäischen Parlamentes rekonstruieren. Das Europäische Parlament hat lange Zeit einen institutionellen Status gehabt, der sich mit der Bezeichnung als Parlament nicht vereinbaren ließ. Bis heute ist es nach einem stark gewichteten Wahlrecht zusammengesetzt, der die unterschiedliche Größe der Mitgliedstaaten berücksichtigt und damit die Frage aufwirft, wer eigentlich als das das Parlament kreierende Legitimationssubjekt verstanden werden kann. Zudem verstanden sich Mitglieder des Europäischen Parlaments lange als Repräsentanten einer nationalen Wählerschaft, die mit ihren Landsleuten politisch mehr gemeinsam hatten als mit ihren Fraktionsgenossen.83 Dies hat sich gewandelt, eine spürbare Politisierung und De-Nationalisierung des politischen Prozesses ist zu beobachten. Bis heute leidet das Parlament allerdings an einer sehr schwachen Wahlbeteiligung, die seiner nunmehr erlangten starken institutionellen Rolle nicht wirklich gerecht wird. Was können wir aus diesen Entwicklungen demokratietheoretisch machen? Eine Antwort könnte darauf verweisen, dass es eben kein europäisches Volk gibt und dass es aus diesem Grund kein Zufall ist, dass demokratische Repräsentation im Europäischen Parlament nicht funktioniere.84 Aus dieser Sicht wäre die Einführung eines strikt egalitären Wahlrechts für das Europäische Parlament übrigens ein Verlust an Legitimation, weil es eine Repräsentationsstruktur einführen würde, die nichts zu repräsentieren hätte. Die niedrige Wahlbeteiligung bestätigt diese Sicht eindrucksvoll. Trotzdem bleibt nach dem oben Entwickelten zweifelhaft, ob diese Rekonstruktion der legitimatorischen Struktur des Europäischen Parlamentes angemessen ist. Eine andere Deutung könnte darauf verweisen, dass die Einrichtung des Europäischen Parlaments durch die Mitgliedstaaten gerade einen demokratisch konsentierten Bedarf nach einer europäischen Diskursplattform mit legislativen Kompetenzen zum Ausdruck bringt. Es sind – paradoxerweise – dieselben Europäer, die bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ausbleiben, die die nationalen Regierungen und Parlamente wählten, die das Europäische Parlament eingerichtet haben. Die interne Entwicklung des Europäischen Parlaments hin zu einem Ort politischer Auseinanderset83 Dann, Philip, Die politischen Organe, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, Berlin 2009, S. 383 f. 84 BVerfGE 123, 267 (358 ff.), zustimmend Hillgruber, Christian/Gärditz, Klaus Ferdinand, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, S. 872 ff.

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zung jenseits mitgliedstaatlicher Zugehörigkeit und sein Kompetenzbestand sind jedenfalls gute Argumente für größeres politisches Interesse an den Wahlen – und es ist soweit auch nachvollziehbar, dass zwischen der institutionellen Entwicklung und ihrer Verarbeitung in Form einer politisch aktiven europäischen Öffentlichkeit eine gewisse Zeit vergehen muss. Auch die bis auf weiteres größere politische Macht sowie der weitergehende institutionelle Kompetenzbestand des Rates rechtfertigen sich vor diesem Hintergrund. Der Rat verhindert, dass das Europäische Parlament als Gesetzgeber ohne funktionierendes Legitimationssubjekt handeln kann. Zugleich zeigt die Entwicklung des Unionsrechts, namentlich der bemerkenswerte Umstand, dass Mehrheitsentscheidung im Rat und parlamentarische Mitentscheidung gleichzeitig und im selben Politikbereich zum ersten Mal in die Verträge eingeführt wurden,85 das Kompensationsverhältnis zwischen beiden Verfahren. Sollte sich das Europäische Parlament zu einer auch in der öffentlichen Wahrnehmung relevanten Institution entwickeln, könnten sich diese Gewichte verschieben, und es ist klar, dass es zwischen institutioneller und gesellschaftlicher Entwicklung eine zeitliche Verzögerung geben kann. Andererseits gibt es natürlich keine Garantie, dass dieses Experiment in supranationaler Demokratie funktionieren wird. V. Ausblick: Grenzen des öffentlichen Rechts Aus der Perspektive des deutschen Verfassungsrechts ist der Ertrag der vorliegenden Überlegungen ausnehmend mager. Grenzen der Integration aus dem Demokratieprinzip oder auch nur Verteilungsregeln für demokratische Ebenen konnten nicht ermittelt werden. Stattdessen begleiten die vorliegenden Überlegungen den Prozess der europäischen Integration weitgehend affirmativ. Der Grund dafür liegt aber nicht in irgendwelchen europapolitischen Präferenzen, sondern in der begrenzten Reichweite von beidem, legitimationstheoretischen Argumenten und ihrer Verrechtlichung. Es scheint für die deutschen Rechtswissenschaften an der Zeit, die Hoffnungen in die Verrechtlichung demokratischer Ebenengliederung aufzugeben, nicht zuletzt, um besser verstehen zu können, wie Demokratien funktionieren.

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Durch Art. 100a EWGV nach der Einheitlichen Europäischen Akte.

Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus der Sicht eines Prozessvertreters Reflexionen zu Demokratie und Souveränität in Europa* Von Dietrich Murswiek, Freiburg Internationalisierung und Europäisierung des Öffentlichen Rechts sind Themen, denen seit mehr als zehn Jahren das wissenschaftliche Interesse Rainer Wahls in besonderem Maße gilt. Die Verkündung des Lissabon-Urteils war ein Paukenschlag, mit dem das Bundesverfassungsgericht der scheinbar unaufhaltsam fortschreitenden Europäisierung deutliche Grenzen gezogen hat1. Die nationale Verfassung behält ihre Eigenständigkeit; die Europäisierung des Rechts kann nur in ihrem Rahmen stattfinden und darf nicht aus diesem ausbrechen. Das Urteil setzt neue Maßstäbe für die europäische Integrationspolitik und konkretisiert die Anforderungen des Grundgesetzes für die demokratische Legitimation in Deutschland und in der Europäischen Union. Das Gericht hat zwar den Vertrag von Lissabon für vereinbar mit dem Grundgesetz erklärt, aber mit so weitgehenden Einschränkungen, dass seitens Politik und Europarechtswissenschaft eine Welle harscher und zum Teil äußerst polemischer Kritik an der Entscheidung nach Karlsruhe brandete2, wie es sie kaum je gegeben hatte. Das heißt freilich nicht, dass die Kritik berechtigt war, sondern zunächst nur, dass das Bundesverfassungsgericht auf einen Nerv der EU-Enthusiasten gestoßen ist, für die jede Verlagerung von Kompetenzen nach Brüssel ein Fortschritt und jede Kritik daran ein Ausdruck von Europafeindlichkeit ist. Reflexionen zum Lissabon-Urteil und den dort gesetzten Maßstäben für die weitere Europäisierung scheinen mir daher ein geeigneter Beitrag für eine Festschrift zu Ehren von Rainer Wahl zu sein, dem ich als Freiburger Kollege seit vielen Jahren verbunden bin. Mir geht es in diesem Beitrag weder um eine umfassende Analyse des Urteils noch um eine Auseinandersetzung mit der erwähnten Kritik. Vielmehr möchte ich meine persönliche Perspektive auf dieses Urteil darlegen, die sich aus meiner Be1 * Dieser Abhandlung liegt ein Vortrag zugrunde, den ich am 3. 2. 2010 in der Universität Freiburg gehalten habe. Der Text des frei gehaltenen Vortrags wird nach einem Tonbandmitschnitt veröffentlicht in: Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft (Hrsg.), Herausforderung Demokratie. BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 – Lissabon. 2 Vgl. die Nachweise bei Peter Häberle, Das retrospektive Lissabon-Urteil als versteinernde Maastricht II-Entscheidung, JöR N.F. 58 (2010), S. 317 ff.

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teiligung an dem Verfahren ergibt: Ich war Prozessvertreter des Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler, dessen Verfassungsbeschwerde zwar formal gesehen nur zu einem kleinen, materiell betrachtet jedoch zu einem sehr großen Teil Erfolg hatte. Wir haben mit unserer Klage nicht alles erreicht, was wir erreichen wollten, aber wir haben immerhin erreicht, dass das Bundesverfassungsgericht die im Vertrag angelegte Tendenz zu einer immer weiter fortschreitenden Zentralisierung zumindest gebremst, die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten gesichert und für die Beseitigung schwerwiegender Mängel hinsichtlich der demokratischen Legitimation gesorgt hat. Das möchte ich in folgenden Schritten erläutern: Ich möchte einige Worte zur Bedeutung des Vertrages von Lissabon sagen, also dazu, was der Vertrag Neues bringt. Ich werde dann die Maßstäbe skizzieren, die sich aus dem Grundgesetz für die Beurteilung eines solchen Vertrages ergeben. Dann werde ich darstellen, was mein Mandant und ich verfassungsrechtlich am Vertrag von Lissabon kritisiert haben, und schließlich versuche ich zu skizzieren, wie das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung auf unsere Kritik reagiert hat. I. Zur Bedeutung des Vertrages von Lissabon Mit dem Vertrag von Lissabon3 erhält die Europäische Union eine weitgehend neue Verfassung. Anders als der in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheiterte Verfassungsvertrag wird mit dem Vertrag von Lissabon zwar keine neue Verfassung im formellen Sinne, also keine Urkunde, die man als Verfassung bezeichnet, geschaffen. Aber inhaltlich wird durch die Änderung der EU-Verträge fast alles verwirklicht, was der gescheiterte Verfassungsvertrag verwirklichen sollte. Durch die Verträge von Amsterdam und Nizza waren die Kompetenzen der Europäischen Union schon erheblich erweitert, sie werden jetzt noch einmal ausgedehnt. Die Europäische Union hat jetzt Rechtsetzungszuständigkeiten in fast allen Politikbereichen. Sie ist weit mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft, sie entwickelt sich zu einem Staatenverbund, der Zuständigkeiten auch auf den Gebieten der Außenpolitik, der äußeren und inneren Sicherheit, der Justiz einschließlich des Strafrechts, des Asylrechts und der Einwanderung, der Sozialpolitik, der Forschung und technologischen Entwicklung, der Energiepolitik und nicht zuletzt des Umweltschutzes hat. Auch auf den Gebieten des Gesundheitsschutzes, der allgemeinen und beruflichen Bildung und der Kultur hat die Europäische Union einige – wenn auch begrenzte – Kompetenzen. Die gemeinsame Außenpolitik wird institutionell gestärkt. Die Europäische Union erhält einen Außenminister, der „Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik“ heißt (Art. 18, 27 EUV), weil der Vertrag von Lissabon in Abkehr vom Verfassungsvertrag jede Staatssymbolik zu vermeiden sucht. Die Union errichtet 3 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13. Dezember 2007, ABl. EU 2007, C 306 = BGBl. II 2008, 1039.

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einen Auswärtigen Dienst und diplomatische Vertretungen (Art. 27 III EUV, Art. 221 AEUV). Sie wird nach Kompetenzumfang, institutioneller Struktur und äußerem Erscheinungsbild einem Staat immer ähnlicher. Nachdem die Europäische Union durch den Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten auf 27 Mitglieder angewachsen war, stand die Effektuierung der Entscheidungsstrukturen im Zentrum des Vertrages von Lissabon. Das bedeutet vor allem, dass die Beschlussfassung im Rat künftig in aller Regel nicht mehr nach dem Einstimmigkeitsprinzip, sondern nach dem Mehrheitsprinzip erfolgt. Schon durch die Verträge von Amsterdam und Nizza war für viele Gesetzgebungsmaterien das Mehrheitsprinzip eingeführt worden. Nach dem Vertrag von Lissabon wird über 48 weitere Materien künftig mit qualifizierter Mehrheit im Rat entschieden. Das erleichtert die Beschlussfassung im Rat erheblich, insbesondere die europäische Gesetzgebung, denn der Rat ist nach wie vor das Hauptgesetzgebungsorgan der Europäischen Union. Die Mitgliedstaaten verlieren ihre bisherige Vetoposition auf allen diesen Gebieten. Sie und ihre Bürger können künftig durch europäische Gesetze auch dann gebunden werden, wenn ihre Regierung im Rat dagegen gestimmt hat. Der Zugewinn an Kompetenzen und der Zugewinn an Effektivität auf Seiten der Europäischen Union haben ihren Preis. Den müssen die Mitgliedstaaten bezahlen in Form von Verlust an Einfluss. Was die EU gewinnt – so kann man vereinfacht sagen – verlieren die Mitgliedstaaten. Das muss nicht von vornherein negativ sein. Schließlich sind es die Mitgliedstaaten, die diesen Vertrag geschlossen haben, und sie hätten dies wohl nicht getan, wenn sie die Gesamtbilanz nicht positiv bewerten könnten. So muss man sehen, dass das, was die Mitgliedstaaten an Kompetenzen verlieren, für sie nicht vollständig als Verlust zu verbuchen ist, sondern diese Kompetenzen werden auf eine Union übertragen, an der die Mitgliedstaaten ja beteiligt sind. Auf der höheren Ebene bleiben die Kompetenzen erhalten, und es gibt viele Bereiche, in denen sie dort wirksamer zur Geltung gebracht werden können als auf nationaler Ebene. Viele Umweltprobleme sind grenzüberschreitend, manche sind global. Sie lassen sich auf nationaler Ebene nicht lösen. Und die einzelnen europäischen Staaten werden ihre politischen und ökonomischen Interessen in der Weltpolitik auf sich allein gestellt nicht durchsetzen können, während sie vereint in der Europäischen Union ein Schwergewicht auf dem weltpolitischen Parkett bilden könnten, sofern sie denn in der Lage sind, gemeinsame Interessenpositionen zu entwickeln. Aus diesen Gründen meinen manche Befürworter des Vertrages von Lissabon, dass dieser für die EU und die Mitgliedstaaten eine „win-win“-Situation erzeuge: Was die EU von den Mitgliedstaaten an Kompetenzen gewinne, verlören diese nicht wirklich, denn sie erhielten es nicht nur auf der höheren Ebene ihrer Mitgliedschaft in der EU zurück, sondern sie erhielten auf dieser Ebene sogar noch zusätzlichen Einfluss obendrein. Denn internationalen Einfluss und internationale Problemlösungsmöglichkeiten, die sie auf nationaler Ebene gar nicht hätten, könnten sie auch nicht verlieren; sie würden mehr gewinnen als sie verlören.

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Das ist freilich eine sehr vereinfachte Sicht der Dinge. Sie hat durchaus einen wahren Kern. Aber sie erfasst nicht einmal die halbe Wahrheit über den Vertrag. Denn es gibt nur wenige politische Aufgaben, von denen sich sagen lässt, dass die Mitgliedstaaten sie überhaupt nicht sinnvoll in eigener Verantwortung – das schließt gegebenenfalls zwischenstaatliche Kooperation durchaus ein – wahrnehmen könnten. Regelmäßig geht es nur um die Frage, ob die Aufgabenwahrnehmung auf europäischer Ebene effektiver ist als auf nationaler Ebene. Darüber lässt sich häufig streiten. Und Effektivitätsgewinn ist nicht das einzige Kriterium politischer Bewertung. Es geht ja auch um Bürgernähe, um unterschiedliche kulturelle oder historisch-politische Prägungen, nicht zuletzt um regional oder national unterschiedliche politische Präferenzen. Und schließlich geht es um die Gewährleistung individueller Freiheit und um die demokratische Legitimation politischer Herrschaft. Nur wenn man alle diese Aspekte berücksichtigt, wird man zu einer politisch-wertenden Gesamtbilanz kommen können, die dem Vertrag von Lissabon gerecht wird. Aufgabe dieses Beitrags ist freilich nicht eine politische Bewertung, sondern eine juristische Analyse. Meine Kritik am Vertrag von Lissabon ist eine verfassungsrechtliche Kritik. Ich skizziere daher im folgenden die hier anzuwendenden Maßstäbe des Grundgesetzes, um dann zu zeigen, warum aus meiner Sicht der Vertrag von Lissabon gegen diese Maßstäbe verstößt und warum das Urteil des Bundesverfassungsgerichts diese Verstöße großenteils, aber nicht vollständig durch verfassungskonforme Interpretation und durch das Erfordernis kompensatorischer Begleitgesetzgebung heilt.

II. Die Maßstäbe des Grundgesetzes Grundlage für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union ist Art. 23 Abs. 1 GG, der auch die Voraussetzungen für die Übertragung von Hoheitsrechten bestimmt: Die Europäische Union selbst muss bestimmten verfassungsrechtlichen Grundsätzen genügen – sie muss demokratisch sein und außerdem rechtsstaatlich, sozial, föderativ und dem Subsidiaritätsgrundsatz verpflichtet. Im Zusammenhang mit unserer Klage war der wichtigste Punkt, dass die Europäische Union demokratischen Anforderungen entsprechen muss. Außerdem bestimmt Art. 23 Abs. 1 GG, dass diejenigen grundlegenden Verfassungsprinzipien der Bundesrepublik Deutschland, die nicht einmal durch verfassungsänderndes Gesetz abgeändert oder gar ganz beseitigt werden dürfen (Art. 79 Abs. 3 GG), auch nicht durch Übertragung von Hoheitsrechten an die EU beeinträchtigt oder beseitigt werden dürfen. Zu diesen Prinzipien gehören das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip, das Sozialstaatsprinzip und auch der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit, der allerdings in Art. 79 Abs. 3 GG nicht ausdrücklich erwähnt wird. Ob dieser Grundsatz überhaupt eine verfassungsrechtliche Grenze der europäischen Integration bildet, war bisher umstritten. Ich habe schon lange die Auffassung

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vertreten, dass auch dieser Grundsatz zu den unabänderlichen Verfassungsprinzipien gehört und deshalb auch im Rahmen der Übertragung von Hoheitsrechten beachtet werden muss4. Das lässt sich mit systematischer Argumentation aus dem Grundgesetz ableiten. Hier mögen einige knappe Stichworte genügen5 : • Die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland wird vom Grundgesetz als Grundlage des Grundgesetzes vorausgesetzt. Insbesondere folgt aus dem Status des Grundgesetzes als der Verfassung eines souveränen Staates, dass die souveräne Staatlichkeit nicht im Wege der Verfassungsänderung aufgegeben werden darf. Denn damit würde zugleich der Status des Grundgesetzes als Verfassung insgesamt vollkommen geändert werden. • Zweitens: Die souveräne Staatlichkeit kommt textlich in Art. 20 Abs. 1 GG zum Ausdruck, der davon spricht, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Bundesstaat, also ein Staat ist, und vor allen Dingen in der ursprünglichen Fassung der Präambel, die es den Staatsorganen zur Pflicht machte, die „staatliche und nationale Einheit zu wahren“. Die Präambel ist inzwischen nach der Wiedervereinigung anders formuliert worden, aber es war nicht Zweck dieser Wortlautänderung, die darin enthaltene Pflicht zur Wahrung der staatlichen und nationalen Einheit aufzuheben6. Auch dieses „Wahrungsgebot“ ist eine der Grundentscheidungen des Verfassunggebers, die zum unabänderlichen Verfassungskern gehören7. • Drittens: Das Grundgesetz weist das deutsche Staatsvolk in der Präambel als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt aus. Und wenn die Bundesrepublik Deutschland ihren Status als souveräner Staat verlöre – also sich etwa eingliederte in einen europäischen Bundesstaat – dann ginge auch die verfassunggebende Gewalt auf diesen Bundesstaat über. Der – verfassungsändernde – Gesetzgeber kann aber nicht über die verfassunggebende Gewalt verfügen. Das sind die wichtigsten Punkte, aus denen sich ergibt, dass die souveräne Staatlichkeit Voraussetzung und zugleich Teil des unabänderlichen Kerns des Grundgesetzes ist. Das Bundesverfassungsgericht hat nun im Lissabon-Urteil erstmals genau diese Position bestätigt und gesagt, das Grundgesetz setze das Prinzip der souveränen Staatlichkeit nicht nur voraus, sondern garantiere es zugleich8. Es bilde daher auch eine

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Vgl. Dietrich Murswiek, Maastricht und der Pouvoir Constituant. Zur Bedeutung der verfassunggebenden Gewalt im Prozess der europäischen Integration, Der Staat 32 (1993), S. 161 (162 ff.). 5 Ausführlich zu diesem Thema: Dietrich Murswiek, Der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit als unabänderliches Verfassungsprinzip, in: Kraus/Wolff (Hrsg.), Souveränitätsprobleme der Neuzeit, Freundesgabe für Helmut Quaritsch, 2010, S. 95 ff. 6 Vgl. dazu näher Murswiek (Fn. 5), S. 104 f.; ders., in: BK, Präambel (Stand: 2005), Rn. 243; Peter M. Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Präambel Rn. 41. 7 Dazu eingehend Murswiek, in: BK, Präambel (Stand: 2005), Rn. 180 – 184. 8 BVerfGE 123, 267 (343).

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Grenze für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union9. Das Bundesverfassungsgericht betont in diesem Zusammenhang die Europafreundlichkeit des Grundgesetzes10. Die Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union sei weitreichend, stehe aber unter der Bedingung, dass dabei die souveräne Verfassungsstaatlichkeit gewahrt bleibe11. Das Grundgesetz ermächtige nicht dazu, „durch Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben“. Dieser Schritt sei wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten12. Nur kraft einer Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt könne Deutschland seine souveräne Staatlichkeit aufgeben13. Daraus folgert das Bundesverfassungsgericht insbesondere, dass die KompetenzKompetenz bei den Mitgliedstaaten der Europäischen Union bleiben müsse14. Das europarechtliche Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nimmt aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts ebenso wie die europarechtliche Pflicht, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV), mitgliedstaatliche Verfassungsprinzipien auf15. Damit hat das Bundesverfassungsgericht nicht eine für alle Zeiten unüberwindliche Mauer vor das von manchen erstrebte Ziel eines europäischen Bundesstaates gestellt. Die sogenannte Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG, die die souveräne Staatlichkeit garantiert, kann nur die verfasste Staatsgewalt binden, nicht den Verfassunggeber. Deshalb sagt das Bundesverfassungsgericht, dass diese Grenze der europäischen Integration durch eine verfassunggebende Entscheidung des Volkes überwunden werden könne16. Wenn eines Tages die europäischen Völker bereit sind, sich in einem Bundesstaat zusammenzuschließen und ihre nationale Souveränität aufzugeben, dann ist ihnen das möglich – jedenfalls aus der Perspektive des Grundgesetzes. Nur: Das ist eine so fundamentale, so grundlegende Entscheidung, dass das nicht einfach im routinierten Gang des parlamentarischen Prozesses entschieden werden kann, sondern dafür bedarf es einer verfassunggebenden Entscheidung des Volkes, die insofern neue verfassungsrechtliche Grundlagen schafft. Das Bundesverfassungsgericht wurde kritisiert, eine solche Schranke für den weiteren Gang der europäischen Integration aufzustellen, sei undemokratisch, weil dem

9

BVerfGE 123, 267 (343, 345 – 349). BVerfGE 123, 267 (insb. 346 f.). 11 BVerfGE 123, 267 (347). 12 BVerfGE 123, 267 (347 f.). 13 BVerfGE 123, 267 (331 f., 364). 14 BVerfGE 123, 267 (349 f.). 15 BVerfGE 123, 267 (350). 16 BVerfGE 123, 267 (331 f., 347 f., 364). 10

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demokratisch legitimierten Gesetzgeber hier seine Gestaltungsmöglichkeit auf dem Gebiet der europäischen Integration begrenzt und gar blockiert werde17. Ich sehe das vollkommen anders: Demokratische Legitimation des Gesetzgebers – und natürlich auch der Regierung – kann es nur im Rahmen des geltenden Verfassungsrechts geben. Und die verfassten Staatsorgane – Parlament und Regierung – sind nur insoweit demokratisch legitimiert, als das Grundgesetz ihnen Kompetenzen gibt. Für die Überschreitung dieser verfassungsrechtlich begrenzten Kompetenzen haben sie keine Legitimation – die hat der Verfassunggeber sich selbst vorbehalten: Allein das Volk als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt – so die Konzeption des Grundgesetzes – kann darüber entscheiden, ob solche Grenzen aufgehoben werden. Die Entscheidung, die das Bundesverfassungsgericht hier getroffen hat, entspricht also genau der Demokratiekonzeption des Grundgesetzes. Sie führt dazu, dass ganz fundamentale Entscheidungen, mit denen die „unabänderlichen“ Prinzipien des Grundgesetzes überwunden werden sollen, von den Politikern nicht getroffen werden können, ohne zuvor das Volk zu fragen. Dieses hat dann kraft seiner verfassunggebenden Gewalt die betreffende Frage zu entscheiden. Wie eine verfassunggebende Volksentscheidung herbeigeführt werden könnte18, gehört freilich zu den Fragen, die das Urteil offen gelassen hat. Der en passant gegebene Hinweis auf Art. 146 GG, dessen heutige Funktion sehr umstritten ist19, dürfte nicht mehr als ein obiter dictum sein. III. Die Position der von mir vertretenen Klage Gauweilers Soviel zu den Maßstäben. Ich möchte als nächstes im einzelnen skizzieren, was unsere Kritik am Vertrag von Lissabon gewesen ist und inwiefern wir gemeint haben, dass dieser Vertrag die verfassungsrechtlichen Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten überschreitet. Es sind im Kern zwei Punkte. Einerseits habe ich vor dem Bundesverfassungsgericht dargelegt, dass der Europäischen Union durch den Vertrag von Lissabon und 17 Vgl. etwa Christoph Möllers, FAZ v. 16. 7. 2009, S. 27, der übrigens – wie manch anderer auch – das Erfordernis einer verfassunggebenden Entscheidung als Voraussetzung für die Beteiligung Deutschlands an einem europäischen Bundesstaat (für die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz bzw. der verfassunggebenden Gewalt auf die europäische Ebene) falsch verstanden hat, wenn er dies damit gleichsetzt, dass das Grundgesetz außer Kraft gesetzt werden müsse. Das Grundgesetz kann in Konsequenz des BVerfG-Urteils inhaltlich im Einzelnen unverändert bleiben. Die verfassunggebende Entscheidung, um die es geht, ist allein die, dass der Weg zum Übergang der verfassunggebenden Gewalt und der Souveränität an die Europäische Union freigegeben wird. Das im übrigen unveränderte Grundgesetz wäre dann nicht mehr die Verfassung eines souveränen Staates, sondern die eines Gliedstaates der Vereinigten Staaten von Europa. 18 Vgl. zu dieser Problematik Murswiek, in: BK, Präambel (Stand: 2005), Rn. 173 ff., insb. 175 ff. 19 Vgl. dazu die Nachw. bei Murswiek, in: BK, Präambel (Stand: 2005), Rn. 159 – 172.

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durch die vorangegangenen Verträge in einem solchen Maße erweiterte Kompetenzen übertragen worden sind, dass die sich aus Art. 23 Abs. 1 GG ergebenden Grenzen der Integration jetzt überschritten seien. Und zweitens habe ich die Auffassung vertreten, dass der Vertrag von Lissabon in mehrfacher Hinsicht gegen das Demokratieprinzip verstoße. 1. Zum Verstoß gegen das Prinzip der souveränen Staatlichkeit Es ist sicherlich richtig, dass mit dem Vertrag von Lissabon noch kein europäischer Bundesstaat gegründet werden soll. Allerdings ist die Integrationsgrenze, die sich aus dem Grundgesetz ergibt, nicht so zu verstehen, dass sie erst überschritten ist, wenn förmlich ein europäischer Bundesstaat ausgerufen wird, der sich so nennt, der die entsprechenden Symbole der Staatlichkeit und entsprechende Bezeichnungen der Ämter hat und der dann auch beispielsweise als Mitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen wird. Wenn es darauf ankäme, ob die äußeren Insignien eines Staates von der EU in Anspruch genommen werden, dann könnte es sein, dass die EU der Form nach unterhalb der Schwelle der Staatlichkeit bleibt, also ein Nicht-Staat oder ein Nochnicht-Staat ist, aber gemessen an den tatsächlichen Kompetenzen alle Funktionen ausübt, die einem souveränen Staat zustehen. Es kann also nicht sein, dass so viel an Hoheitsrechten übertragen wird, dass die Kompetenzen der Mitgliedstaaten völlig ausgehöhlt werden und am Schluss nur noch eine leere Hülse davon zurückbleibt, sondern es muss eine Grenze geben, die vorher einsetzt und die dafür sorgt, dass nicht nur der Form nach, sondern substantiell die Mitgliedstaaten selbständige Staaten bleiben. Daraus habe ich die Folgerung gezogen, dass der Schwerpunkt der Staatsaufgaben bei den Mitgliedstaaten bleiben müsse – natürlich auch, dass die Europäische Union nur begrenzte Einzelkompetenzen haben dürfe und keine Kompetenz-Kompetenz20. Im Hinblick auf den Vertrag von Lissabon habe ich dann argumentiert, dass durch die Übertragung zusätzlicher Kompetenzen der Schwerpunkt der Rechtsetzung sich auf die EU verlagere – auf manchen Gebieten dominieren ja schon längst die EU-Richtlinien und machen den Bundestag zum Vollzugsorgan europäischer Politik. Die EU hat jetzt nach dem Vertrag von Lissabon Rechtsetzungskompetenzen auf fast allen Gebieten der Politik. Diese sind freilich meistens sachlich begrenzt. Die EU hat keine Globalkompetenzen für ganze Rechtsgebiete, sondern wenn sie z. B. auf einem Gebiet wie dem der Gesundheitspolitik Kompetenzen hat, dann gilt das nur 20

Ausführlich kann meine Argumentation zu dieser Thematik – mit Nachweisen zu den Thesen – nachgelesen werden in: Murswiek (Fn. 5); noch ausführlicher in dem der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegenden Gutachten: Dietrich Murswiek, Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz. Rechtsgutachten über die Zulässigkeit und Begründetheit verfassungsgerichtlicher Rechtsbehelfe gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon und die deutsche Begleitgesetzgebung, 2. Aufl., 2008, www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/6472. Dieses Gutachten sowie weitere Schriftsätze werden auch veröffentlicht in der von Karen Kaiser herausgegebenen Dokumentation des Verfahrens zum Vertrag von Lissabon, die in der Reihe „Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht“ im Springer-Verlag erscheinen soll.

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für ganz bestimmte Einzelaspekte der Gesundheitspolitik. Auf anderen Gebieten, etwa der Umweltpolitik, sind ihre Kompetenzen sehr viel umfangreicher, da kann man von einer fast vollkommen flächendeckenden Kompetenz für das jeweilige Sachgebiet sprechen. Allerdings hat sich nun in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt, dass der Umstand, dass die EU-Kompetenzen alle auf Einzeltiteln beruhen, die für ein begrenztes Sachgebiet gelten – das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung – nicht wirksam davor schützt, dass die EU von sich aus immer weitere Kompetenzen in Anspruch nimmt und über diese begrenzt beschriebenen Sachgebiete hinausgeht. Dazu hat vor allem die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs beigetragen, die immer wieder sehr expansiven Charakter hatte und sich über die vertraglichen Kompetenzgrenzen hinwegsetzte21. Deshalb – das war ein Schwerpunkt meiner Argumentation im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht – besteht die eigentliche Gefahr für die souveräne Staatlichkeit der Mitgliedstaaten in der Kombination der vielen über alle Politikfelder hinweg verteilten Einzelkompetenzen mit der expansiven Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Man kann sich das Problem mit dem Bild von Inseln in einem Meer veranschaulichen: Das Meer ist die Gesamtheit aller Kompetenzen, die den souveränen Mitgliedstaaten zustehen. Die EU hat InselKompetenzen, aber verteilt über alle Politikfelder, über das ganze Meer. Da gibt es viele kleine und manche große Inseln; einige sind schon so groß wie Kontinente. Mit Hilfe der expansiven Rechtsprechung des EuGH nimmt die EU von diesen Inseln aus immer mehr an Fläche in Anspruch, oft in kleinen, unspektakulären Schritten, die sich aber in ihrer Summe einen gewaltigen Umfang annehmen; die Expansion dehnt sich wie ein Ölteppich allmählich über das ganze Meer aus, bis schließlich die EU die Vollkompetenz hat. Was ich im Namen des Beschwerdeführers eingefordert habe, war: Wir brauchen eine wirksame Begrenzung gegen ständige Ausdehnungen der EU-Kompetenzen über den Vertragswortlaut hinaus. Ein zweiter Aspekt: Es gibt Vorschriften in den EU-Verträgen, die von der EU als Ansatz gebraucht werden könnten, um sich so etwas wie eine Kompetenz-Kompetenz zu verschaffen. Die wichtigste dieser Vorschriften ist die sogenannte Flexibilitätsklausel, die jetzt nach dem Vertrag von Lissabon im Art. 352 AEUV steht. Nach dieser Flexibilitätsklausel kann die EU Maßnahmen erlassen – das sind insbesondere Gesetze (Richtlinien oder Verordnungen) – auf Gebieten, für die sie eigentlich keine Kompetenz hat, wenn ihr das erforderlich scheint, um Ziele, die sich aus den Verträgen ergeben, zu verwirklichen. Sie kann also selbst ihre eigenen Kompetenzen erweitern, indem sie diese Flexibilitätsklausel in Anspruch nimmt. Eine solche Vorschrift hatte es schon vor dem Vertrag von Lissabon – im alten EG-Vertrag – gegeben. Sie war aber beschränkt auf die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes, also auf das klassische ökonomische Gebiet der Gründungsverträge. Diese Beschränkung ist wegge21 Nachweise der extensiven Rspr. des EuGH z. B. bei Dietrich Murswiek, Die heimliche Entwicklung des Unionsvertrages zur europäischen Oberverfassung. Zu den Konsequenzen der Auflösung der Säulenstruktur der Europäischen Union und der Erstreckung der Gerichtsbarkeit des EU-Gerichtshofs auf den EU-Vertrag, NVwZ 2009, S. 481 (484).

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fallen, die Flexibilitätsklausel kann also jetzt für alle Politikfelder in Anspruch genommen werden. Und schließlich ein weiterer Punkt: Es gibt im EU-Vertrag (Art. 2) verfassungsrechtliche Grundwerte, die von allen Mitgliedstaaten beachtet werden müssen. Das sind Werte, die alle Menschen sicherlich schön und gut finden werden, z. B. „Demokratie“, „Rechtsstaat“, aber auch „Solidarität“ und „Gerechtigkeit“. Diese Grundwerte sind nach dem Vertrag nicht nur für die Europäische Union selbst, sondern auch für die Mitgliedstaaten verbindlich. Das Problem, das ich in dieser Klausel gesehen habe, ist der Umstand, dass der Vertrag jetzt die Rechtsprechungszuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs auf diese Klausel erstreckt hat – das war vorher nicht der Fall. Wenn jetzt der Europäische Gerichtshof darüber verbindlich judizieren kann, welche Anforderungen sich aus den Grundwerten für die innerstaatliche Ordnung der Mitgliedstaaten und für die Politik der Mitgliedstaaten auch in den Bereichen ergeben, in denen diese Politik nicht europarechtlich determiniert ist, sondern in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, dann besteht die Gefahr, dass der Europäische Gerichtshof sich hier zu einem europäischen Oberverfassungsgericht entwickelt, das in alle verfassungsrechtlichen Fragen hineinjudizieren kann, die – abgesehen von dem Grundwertebezug – nicht in den Kompetenzbereich der EU fallen, sondern nur das Innere der Mitgliedstaaten betreffen. Die Mitgliedstaaten könnten auf diese Weise ihre verfassungsrechtliche Eigenständigkeit verlieren22. Das sind die Kernpunkte unseres Vorbringens, der Vertrag von Lissabon verstoße gegen das Prinzip der souveränen Staatlichkeit. 2. Zum Verstoß gegen das Demokratieprinzip a) Negative Auswirkungen auf die demokratische Legitimation in Deutschland Das Demokratieprinzip stellt zweierlei Anforderungen an die europäische Integration. Zum einen darf die Übertragung von Hoheitsrechten nicht dazu führen, dass innerstaatlich die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr hinreichend demokratisch legitimiert ist. Dies hat das Bundesverfassungsgericht schon 1993 im Maastricht-Urteil so entschieden und hat gesagt, aus diesem Grunde müssten bei der Übertragung von Hoheitsrechten dem Bundestag immer noch substantielle Entscheidungsbefugnisse verbleiben23. Wenn der Bundestag nichts mehr substantiell wirklich zu sagen hat, dann ist letztlich auch das Teilhaberecht jedes Wählers, der die Abgeordneten zum Bundestag wählt, völlig ausgehöhlt, seiner Substanz entleert und praktisch nichts mehr wert. Das Bundesverfassungsgericht hat hier also einen Zusammenhang hergestellt zwischen demokratischer Legitimation und Umfang der Entscheidungsbefugnisse, die der Bundestag noch behalten muss. Das wird im Lissabon-Urteil wie22 23

Ausführlich zu dieser Problematik Murswiek (Fn. 21), S. 481 ff. BVerfGE 89, 155 (182, 186, 171 f.).

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derholt24. Unter diesem Aspekt überschneiden sich in der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts das Demokratieprinzip und das Prinzip der souveränen Staatlichkeit. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen (III. 1.) verwiesen werden. b) Mangelnde demokratische Legitimation der Europäischen Union Der zweite Aspekt des Demokratieprinzips bezieht sich auf die europäische Ebene. Das Grundgesetz verlangt, dass die EU selbst demokratisch legitimiert ist (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG). Was aber heißt „demokratische Legitimation“? Nach dem Grundgesetz heißt das, die Legitimation der Hoheitsgewalt muss vom Volk ausgehen. Art. 20 Abs. 2 GG macht das deutlich. Um entscheiden zu können, ob die EU in diesem Sinne demokratisch legitimiert ist oder nicht, muss man sich zunächst klarmachen: Wer ist eigentlich das Volk? Diese grundlegende Frage wird in Diskussionen über die demokratische Legitimation der EU oft übersehen. Viele reden so, als ob Demokratie immer dort vorhanden wäre, wo irgend jemand abstimmt. Aber ob eine Abstimmung eine demokratische Abstimmung ist, das hängt davon ab, wer das Legitimationssubjekt ist. Wer ist das Volk im Sinne der Demokratie? Das kann keine beliebige Menge von Menschen sein. Andernfalls könnte sich jede Parteiversammlung oder jeder Stammtisch zum demokratischen Subjekt konstituieren. Wer das demokratische Subjekt ist, wer dazu gehört und wer nicht, muss verfassungsrechtlich bestimmt sein. Nur wenn Klarheit über das Subjekt der konkreten Demokratie besteht, kann beurteilt werden, ob eine Abstimmung demokratische Legitimation verschafft oder nicht. Also: Wer ist das Volk? Das Grundgesetz sagt jedenfalls für innerstaatliche Angelegenheiten: Das deutsche Staatsvolk25. Wer ist das Volk nach dem Vertrag von Lissabon? Das sagt der Vertrag leider nicht so genau. Es gibt zwei Interpretationsmöglichkeiten: Es kommen in Frage als demokratische Subjekte der Europäischen Union: Entweder alle Unionsbürger und Unionsbürgerinnen – das sind die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten in ihrer Summe. Diese würden dann das Unionsvolk bilden. Das wäre ein denkbares demokratisches Subjekt der EU. Die andere Denkalternative wäre, dass die Staatsvölker der Mitgliedstaaten als solche die demokratischen Subjekte auch auf der Ebene der EU sind, dass also von den Völkern der Mitgliedstaaten die demokratische Legitimation ausgehen muss. Das ist nicht eine nur theoretische Unterscheidung, sondern das hat für die demokratische Organisation oder für die Anforderungen, die unter dem Aspekt des Demokratieprinzips an die Organisation gestellt werden müssen, ganz weitreichende praktische Auswirkungen.

24 25

BVerfGE 123, 267 (341). Vgl. BVerfGE 83, 37 (50 f.) – Kommunalwahlrecht für Ausländer Schleswig-Holstein.

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Bevor ich auf diese Auswirkungen eingehe, zunächst zum Vertrag. Der Vertrag lässt nach System und Wortlaut beide Interpretationsmöglichkeiten zu, wobei das System des Vertrages vielleicht eher dafür spricht, dass die Völker der Mitgliedstaaten immer noch die Legitimationssubjekte sind, nämlich aus zwei Gründen: - Das Gesetzgebungsorgan der EU, an dem vorbei kein EU-Gesetz beschlossen werden kann, ist der Rat. Der Rat ist aber zusammengesetzt aus den Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten. Die Legitimation der Regierungsvertreter der Mitgliedstaaten erfolgt durch die Wähler in dem jeweiligen Mitgliedstaat, die das jeweilige Parlament wählen, das dann ihrerseits die nationale Regierung wählt, es sei denn, es gibt Mitgliedstaaten, in denen die Regierung direkt vom Volk gewählt wird. Der legitimatorische Ausgangspunkt für die Mitglieder des Rates sind in jedem Fall eindeutig die Völker der Mitgliedstaaten (Art. 16 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2 UAbs. 2 EUV). - Das Europäische Parlament besteht nach wie vor aus nationalen Kontingenten: Der Vertrag (i.V.m. einem Beschluss des Europäischen Rats) legt fest, wie viele Abgeordnete des Europaparlaments aus welchen Staaten kommen müssen (Art. 14 Abs. 2 EUV). Auf der anderen Seite sagt Art. 14 Abs. 2 EUV jetzt neuerdings, das Europäische Parlament setze sich aus „Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ zusammen. In dem alten Vertrag, vor dem Vertrag von Lissabon, hieß es, das Europäische Parlament setze sich zusammen aus Vertretern der Völker der Mitgliedstaaten. Terminologisch liegt hier ein Wechsel des Subjekts vor. Ob das wirklich so gemeint ist oder ob nur die verbale Fassade sich geändert hat, während die Sache unverändert bleibt, das bleibt in der Schwebe. Ich habe vor dem Bundesverfassungsgericht argumentiert, dass beide Legitimationsmodelle im konkreten Kontext des Vertrages von Lissabon den Anforderungen des Grundgesetzes an die demokratische Legitimation der Europäischen Union nicht genügen. Gehen wir zunächst davon aus, dass die Völker der Mitgliedstaaten noch die demokratischen Subjekte sind, dann war früher die demokratische Legitimation der EUGesetzgebung dadurch gewährleistet, dass der Rat einstimmig entschieden hat. Das heißt, wenn der Vertreter eines bestimmten Volkes nicht zugestimmt hat, dann konnte der Rat kein Gesetz erlassen, durch welches die Bürgerinnen und Bürger des betreffenden Mitgliedstaates verpflichtet werden. Insofern hatten wir also eine, wenn auch indirekte, aber immerhin nachweisbare Legitimation der EU-Gesetzgebung. Es gab eine Legitimationskette, die vom einzelnen Bürger des Mitgliedstaates über die nationalen Parlamente reichte, die ihrerseits die Regierung wählten, und von der Regierung zu dem Vertreter im Rat, der durch die Regierung entsandt wird. Diese Legitimationskette ist jetzt unterbrochen, denn in den meisten Fällen wird jetzt mit Mehrheit entschieden. Ein Volk, dessen Vertreter im Rat gegen ein Gesetz gestimmt hat, das dann aber trotzdem durch Mehrheitsbeschluss Geltung erlangt, hat dieses Gesetz

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nicht mitlegitimiert; insofern geht von dem betreffenden Volk des Mitgliedstaates keine Legitimation mehr aus26. Deshalb muss man sich fragen, ob nicht Legitimation hergestellt werden kann über das Europäische Parlament, das jetzt ein fast gleichberechtigtes Gesetzgebungsorgan neben dem Rat ist und das in fast allen Fällen ebenfalls zustimmen muss, damit ein europäisches Gesetz zustande kommen kann. Das könnte der Fall sein, wenn das Legitimationssubjekt tatsächlich gewechselt hätte und wenn der Vertrag jetzt dazu führte, dass die Legitimation vom europäischen Unionsvolk ausgehen soll. Dann wäre das Europaparlament das Repräsentationsorgan des Unionsvolkes. Aus zwei Gründen muss diese Frage aber verneint werden. Aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts wäre der Wechsel des Legitimationssubjekts mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Nach dem Grundgesetz ist das deutsche Staatsvolk das Subjekt der Demokratie und insbesondere das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt. Alle in Deutschland ausgeübte Staatsgewalt muss vom deutschen Staatsvolk ausgehen. Der nach Art. 79 Abs. 3 GG jeder Verfassungsänderung entzogene und daher auch für den Integrationsgesetzgeber (vgl. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG) unantastbare Art. 20 Abs. 2 GG macht da für die europäische Integration keine Ausnahme. Wenn das Subjekt der Demokratie ausgewechselt werden soll, dann geht das nur über einen verfassunggebenden Akt des Volkes. Abgesehen davon könnte das Europäische Parlament keine hinreichende demokratische Legitimation vermitteln, selbst wenn man davon ausginge, dass ein Subjektwechsel stattgefunden hat und dass nach dem Vertrag das Europäische Parlament das Unionsvolk repräsentieren soll. Denn das Europäische Parlament ist nicht nach demokratischen Gesichtspunkten zusammengesetzt. Das Europäische Parlament ist nach nationalen Kontingenten zusammengesetzt, die wiederum nach dem sogenannten Prinzip degressiver Proportionalität gebildet sind (Art. 14 Abs. 2 EUV). Das bedeutet, dass kleine Mitgliedstaaten in Relation zu ihrer Einwohnerzahl wesentlich mehr Abgeordnete ins Parlament entsenden als große Mitgliedstaaten. Beispielsweise braucht ein Abgeordneter aus Malta 66.000 Stimmen, um in das Europaparlament zu kommen, und ein Abgeordneter aus Deutschland 859.000 Stimmen, d. h. das Stimmgewicht eines maltesischen Wählers ist etwa 13 Mal so groß wie das Stimmgewicht eines Wählers in Deutschland. Zum Demokratieprinzip gehört aber das Prinzip der Gleichheit aller Staatsbürger und Staatsbürgerinnen. Das ist geradezu das Fundamentalprinzip der Demokratie. Der Grundsatz „One man, one vote“ ist hier nicht verwirklicht. Wir haben hier eine föderale Gliederung mit föderalen Kontingenten und unterschiedlichen Stimmgewichten, die unter bundesstaatlichen Gesichtspunkten legitimierbar ist, die aber nicht geeignet ist, demokratische Legitimation durch ein als einheitliches Unionsvolk verstandenes demokratisches Subjekt zu gewährleisten.

26 Dazu ausführlich Murswiek, Gutachten (Fn. 20), S. 89 ff. [C. I. 3. b) bb)], und Schriftsatz vom 21. 10. 2008, Teil 1, C. IV., insb. 2., in der von Karen Kaiser herausgegebenen Dokumentation (Fn. 20).

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c) Mangelnde demokratische Legitimation künftiger Vertragsänderungen Hinzu kommen noch Legitimationsmängel, die sich speziell auf die künftige Weiterentwicklung der EU beziehen. Der Vertrag von Lissabon sieht nämlich ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren vor. In diesem Verfahren können bestimmte Änderungen der Verträge, und das heißt der europäischen Verfassung, vorgenommen werden, ohne dass die Mitgliedstaaten einen erneuten Änderungsvertrag schließen müssen (Art. 48 Abs. 6 UAbs. 2 EUV). Ein Beschluss des Europäischen Rates reicht aus. Insofern wird die Verfassungsänderungskompetenz auf die Europäische Union übertragen. Meine These war: Das geht nicht. Auch in einem vereinfachten Änderungsverfahren darf die Entscheidung nicht ohne die nationalen Parlamente getroffen werden27. Außerdem gibt es in den Verträgen sogenannte Passerelle-Klauseln oder Brückenklauseln, die besagen, dass die EU auf den Gebieten, auf denen bis jetzt, nach den Verträgen in der Fassung des Vertrages von Lissabon, der Rat immer noch nach dem Einstimmigkeitsprinzip entscheidet, zu Mehrheitsentscheidungen übergehen kann, indem sie eine entsprechende Entscheidung auf der Basis dieser Klauseln trifft28. Es gibt diese allgemeine Passerelle-Klausel in Art. 48 Abs. 7 EUV und für Spezialgebiete noch einige spezielle Passerelle-Klauseln. Der Übergang vom Einstimmigkeitsprinzip zum Mehrheitsprinzip hat sehr weitreichende Bedeutung für die Mitgliedstaaten und für die nationalen Parlamente, weil ja die Mitgliedstaaten dann auch noch auf diesen verbliebenen Gebieten ihr Vetorecht verlieren. Deshalb habe ich argumentiert, auch in diesen Fällen sei es notwendig, dass die nationalen Parlamente ausdrücklich zustimmen. Vorgesehen ist im Vertrag nur, dass sie innerhalb eines halben Jahres Einspruch erheben können. Und der deutsche Gesetzgeber hatte das Begleitgesetz so ausgestaltet, dass es in den Fällen, in denen innerstaatlich die konkurrierende Gesetzgebung betroffen ist, nicht ausreicht, wenn der Bundestag seinen Widerspruch einlegt; es musste der Bundesrat dem auch noch zustimmen oder dem jedenfalls nicht widersprechen. Das heißt, nach diesen Regeln des EU-Vertrages in Verbindung mit der deutschen Begleitgesetzgebung war es möglich, dass in einer Vielzahl wichtiger Fälle die europäische Verfassung geändert werden konnte ohne parlamentarische Zustimmung – ja sogar gegen den ausdrücklich erklärten Willlen – des deutschen Bundestages, und das, obwohl sich bei den Passerelle-Klauseln die Änderung der europäischen Verfassung auch auf das deutsche Grundgesetz auswirkt. Verfassungsänderung ohne Parlamentsbeteiligung – aus meiner Sicht ein krasser Verstoß gegen das Demokratieprinzip. Entsprechendes gilt für die durch die Flexibilitätsklausel (Art. 352 AEUV) ermöglichte Kompetenzerweiterung der Europäischen Union ohne Beteiligung der nationalen Parlamente. 27 28

Vgl. Murswiek, Gutachten (Fn. 20), S. 103 ff. [C. I. 3. d) aa)]. Zu diesem Thema näher Murswiek, Gutachten (Fn. 20), S. 106 ff. [C. I. 3. d) bb)].

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IV. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1. Probleme der demokratischen Legitimation a) Vertragsänderungen Das Bundesverfassungsgericht hat mir in meiner Kritik an der undemokratischen Ausgestaltung des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens und der PasserelleKlauseln in vollem Umfang recht gegeben und das deutsche Begleitgesetz, das in diesem Zusammenhang die Rechte des Bundestages und des Bundesrates regelt, für verfassungswidrig erklärt. Das Parlament musste ein neues Begleitgesetz beschließen. Dafür hatte das Bundesverfassungsgericht ihm aufgegeben, in einer Vielzahl von Fällen nachzubessern und die Mängel des ursprünglichen Begleitgesetzes zu reparieren, aber auch durch kompensatorische Regelungen auf innerstaatlicher Ebene Mängel – nämlich Verstöße gegen das Demokratieprinzip – zu beheben, die eigentlich Mängel des Vertrages selbst sind. So hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Deutschland allen Vertragsänderungen in einem vereinfachten Vertragsänderungsverfahren nur durch ein Zustimmungsgesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 GG zustimmen darf29. Und es hat dem deutschen Gesetzgeber vorgeschrieben, dass in dem Begleitgesetz für alle Fälle des Übergangs vom Einstimmigkeitsprinzip zum Mehrheitsprinzip vorgesehen werden muss, dass der deutsche Vertreter im Rat einer solchen Regelung nur nach Zustimmung des Bundestages, in der Regel in Form eines Zustimmungsgesetzes, zustimmen darf30. Dasselbe hat das Bundesverfassungsgericht für die Anwendung der Flexibilitätsklausel entschieden: Wenn der Rat der EU die Anwendung dieser Klausel und somit eine Kompetenzerweiterung auf diesem Wege beabsichtigt, dann darf der deutsche Vertreter im Rat nur zustimmen, wenn er zuvor die Zustimmung des deutschen Parlaments in Form eines Zustimmungsgesetzes eingeholt hat31. Auf diese Weise wird sowohl die demokratische Legitimation dieser Kompetenzausweitung sichergestellt als auch eine Sperre zur Aufweichung der Souveränität eingebaut. b) Demokratische Legitimation der Europäischen Union Zur Frage der demokratischen Legitimation der EU macht das Bundesverfassungsgericht eine ganz grundlegende Aussage. Es sagt, ein Wechsel des Legitimationssubjekts sei nicht zulässig. Das Grundgesetz weise der europäischen Integration den Weg, dass die Völker der Mitgliedstaaten die Subjekte der demokratischen Legitimation sind und bleiben32. Und dann legt das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon so aus, dass in der Tat kein Subjektwechsel stattgefunden hat. Das, 29 30 31 32

BVerfGE 123, 267 (434). BVerfGE 123, 267 (434 ff.). BVerfGE 123, 267 (436). BVerfGE 123, 267 (347 – 349, 404).

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was der Wortlaut des Vertrages in der Schwebe lässt, wird hier also – mit Wirkung für die deutschen Staatsorgane verbindlich – durch eine verfassungskonforme Interpretation zugunsten der Völker der Mitgliedstaaten entschieden33. Dann befasst sich das Bundesverfassungsgericht auch mit der Frage, inwieweit das Europäische Parlament Legitimität vermittelt, und geht in diesem Zusammenhang auf das oben erwähnte Problem ein, dass bei der Wahl dieses Parlaments nicht der Grundsatz „One man, one vote“ gilt. Das Bundesverfassungsgericht teilt im Ansatz meine Auffassung, dass zum Demokratieprinzip diese Gleichheit gehört34 und dass die Europäische Union unter einem Demokratie-Defizit leidet35, meint allerdings, dass bei der Beurteilung der Europäischen Union am Maßstab von Art. 23 Abs. 1 GG nicht dieselben Anforderungen gestellt werden können wie sie an die demokratische Legitimation eines Staates zu stellen seien, weil sich beim gegenwärtigen Integrationsstand wegen der Besonderheiten eines Staatenverbundes doch gewisse Modifikationen und Abweichungen rechtfertigen ließen36. Im Grunde genommen sagt das Bundesverfassungsgericht: Das EU-Parlament kann keine demokratische Legitimation vermitteln, jedenfalls entspricht es nicht in vollem Umfang den Anforderungen, die das Grundgesetz an demokratische Legitimation stellt – aber wir können das noch hinnehmen, weil die EU noch kein Staat ist37. Das Gericht sagt gleichzeitig: Wenn aber die Kommission sich weiterentwickeln sollte zu einer echten europäischen Regierung, dann wäre das im Hinblick auf das bestehende Demokratie-Defizit nicht mehr hinnehmbar38. Vorerst aber könne und müsse die Legitimation durch die demokratische Rückbindung in den Mitgliedstaaten vermittelt werden39. Was das Bundesverfassungsgericht nicht entscheidet und wozu es sich nicht äußert, ist das Problem, dass bei der Legitimation der europäischen Gesetzgebung über den Rat die Legitimationskette aufgrund des Mehrheitsprinzips gebrochen ist. Zu dieser ganz zentralen Frage sagt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung kein Wort. Das ist natürlich auch ein Weg, Probleme zu lösen.

2. Probleme der Kompetenzübertragung Die Frage, ob der Vertrag von Lissabon die Grenze dessen überschreitet, was unter den Aspekten des Prinzips der souveränen Staatlichkeit beziehungsweise des Demokratieprinzips (Verbleib substantieller Entscheidungsbefugnisse beim deutschen Parlament) noch mit dem Grundgesetz vereinbar ist, beantwortet das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis mit einem „Ja – aber“: Ja, der Vertrag von Lissabon ist 33 34 35 36 37 38 39

BVerfGE 123, 267 (371, 372 f., 373 f., 375 f., 404). BVerfGE 123, 267 (373). BVerfGE 123, 267 (370 ff., insb. 371 ff., 377, 379). BVerfGE 123, 267 (364 f., 371 ff.). Vgl. BVerfGE 123, 267 (371 ff.). BVerfGE 123, 267 (372 f., 380 f.). Vgl. etwa BVerfGE 123, 267 (373 f., 380 f.).

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mit dem Grundgesetz vereinbar, aber nur, „sofern das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verfahrensrechtlich über das in den Verträgen vorgesehene Maß hinaus gesichert wird“40, und nur nach Maßgabe der restriktiven Interpretation des Vertrages, die sich aus den Urteilsgründen ergibt41. a) Absolute und relative Grenzen der Integrationsermächtigung Das Bundesverfassungsgericht lehnt es hier ab, die Grenze der Integrationsermächtigung anhand quantitativer Kriterien zu bestimmen. Es waren in der mündlichen Verhandlung Statistiken im Streit, die sehr unterschiedliche Angaben zum quantitativen Einfluss des EU-Rechts machen. Der ehemalige Bundespräsident Herzog hatte schon vor dem Vertrag von Lissabon in einem Zeitungsartikel gesagt, 80 % der Gesetze würden von der EU determiniert. Andere halten den Anteil für viel geringer. Das ist alles sehr umstritten, weil schon die Methoden sehr streitig sind, wie man das eigentlich misst und woran man erkennt, welches Gesetz in welchem Umfang durch EU-Legislatur geprägt ist. Das Bundesverfassungsgericht also lässt sich auf eine quantitative Analyse nicht ein. Es hat auch nicht– und das hängt damit zusammen – auf meinen Vorschlag eingehen wollen, die Grenze, die das Prinzip der souveränen Staatlichkeit uns vorgibt, als 50 %-Grenze zu definieren: Die Grenze wäre nach meinem Vorschlag überschritten, wenn mehr als die Hälfte der Staatsaufgaben in die Kompetenz der Europäischen Union übergegangen sind. Stattdessen sagt das Gericht jetzt: Nicht auf „quantitative Relationen“ komme es an, sondern auf qualitative Kriterien, nämlich darauf, ob der Bundesrepublik Deutschland „für zentrale Regelungs- und Lebensbereiche substantielle innerstaatliche Gestaltungsmöglichkeiten verbleiben“42. Zu diesem Zweck formuliert der Senat Kriterien, die bei jedem neuen Integrationsschritt auf jeden Fall eingehalten werden müssen, wie Kompetenz-Kompetenz und Austrittsrecht der Mitgliedstaaten, keine formelle Gründung eines Bundesstaates, keine eigenständige Legitimation durch ein europäisches Unionsvolk. Diese Kriterien bilden die absoluten Grenzen der europäischen Integration43. Auch im übrigen müssen dem Bundestag substantielle Entscheidungsbefugnisse verbleiben44. Ob dies der Fall ist, wenn ein bestimmter Kompetenzbereich auf die EU verlagert wird, lässt sich nicht isoliert betrachten, sondern das hängt davon ab, welche anderen Kompetenzbereiche bereits übertragen worden beziehungsweise bei den Mitgliedstaaten noch vorhanden sind. Insoweit geht es um relative Grenzen der Integrationsermächtigung45. Weil das aber ein schwammiger, schwer judizierbarer Begriff ist – er stammt 40 41 42 43 44 45

BVerfGE 123, 267 (370). Vgl. BVerfGE 123, 267 (339, 369, 436 f., vgl. auch 379, 406). BVerfGE 123, 267 (406). Näher dazu mit Nachw. Murswiek (Fn. 5), S. 139 f. Vgl. BVerfGE 123, 267 (356, 406). Murswiek (Fn. 5), S. 141.

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aus dem Maastricht-Urteil46 – versucht das Bundesverfassungsgericht jetzt, ein paar politische Materien zu identifizieren, die besonders sensibel für die nationale Souveränität seien und die im Wesentlichen auf der nationalen Ebene bleiben müssten. Dazu rechnet der Senat das Strafrecht, die innere Sicherheit (also Polizei), die äußere Sicherheit (Militär), fiskalische Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben, die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen, kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen, z. B. im Familienrecht, im Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften47. Es wird also ein Versuch gemacht, einen Katalog von Aufgaben zu bestimmen, die die EU nicht für sich in Anspruch nehmen kann, um sicherzustellen, dass den Mitgliedstaaten genug übrig bleibt. Das ist ein Versuch, über den man sicherlich streiten kann. Natürlich kann man sich etwa fragen: Was ist am Familienrecht so wichtig, dass es unbedingt national bleiben muss? Oder warum gehört das Recht religiöser Gemeinschaften zu den nationalen Essentialia – stehen Religionen doch meist in übernationalen Traditionen? Kritisiert wird auch: Was das Bundesverfassungsgericht da aufzähle an Materien, das seien gerade die, die im Augenblick noch bei den Mitgliedstaaten sind, alles andere sei ja schon weg – und von daher erscheine die Eingrenzung willkürlich. Dem lässt sich entgegenhalten: Was soll das Bundesverfassungsgericht machen, wenn es überhaupt Grenzen definieren will beziehungsweise etwas Konkreteres sagen will als so eine letztlich doch nichtssagende Formel wie: „Substantielle Aufgaben müssen dem Bundestag verbleiben“? Es kann doch dann nur Vorgaben machen auf der Basis einer Analyse dessen, was bis jetzt schon alles passiert ist. Wenn wir uns nicht schon mit dem Vertrag von Maastricht für die Währungsunion entschieden hätten und für die gemeinsame europäische Währung, den Euro, dann hätte das Bundesverfassungsgericht vielleicht gesagt, die Währung gehöre zu den Kernaufgaben, hätte dafür aber vielleicht gemeint, die Familienpolitik könnten wir auf die europäische Ebene geben. b) Enge Auslegung begrenzter Einzelkompetenzen Ganz wichtig in der Entscheidung ist nun, dass das Bundesverfassungsgericht betont, dass es bei dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung bleiben muss und dass dies nicht nur auf dem Papier stehen darf, sondern ernst genommen werden muss48. Und damit es ernst genommen wird, hat das Bundesverfassungsgericht einige wichtige Bestimmungen des Vertrages von Lissabon präzisierend ausgelegt und hat gesagt: Diese Vorschriften müssen ganz eng ausgelegt werden, und nur in dieser engen Auslegung sind sie mit dem Grundgesetz vereinbar. Das gilt ganz besonders für einige Vorschriften im Bereich des Strafrechts49, aber auch für Vorschriften 46 47 48 49

BVerfGE 89, 155 (207). BVerfGE 123, 267 (359, näher erläutert 359 – 363). Vgl. BVerfGE 123, 267 (347, 350, 352). BVerfGE 123, 267 (410 ff., 412 f., 413).

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über die Verteidigung50. Und die Vorschrift über „Eigenmittel“ der Union (Art. 311 Abs. 1 AEUV), die nach ihrem Wortlaut als Grundlage für ein eigenständiges Steuererhebungsrecht oder sogar im Sinne einer Kompetenz-Kompetenz verstanden werden könnte, wird vom Bundesverfassungsgericht so interpretiert, dass sie nur programmatischen Charakter hat und keine Zuständigkeit der EU begründet51. Auch im übrigen ist der Vertrag – wie das Bundesverfassungsgericht betont – nur „nach Maßgabe der Gründe“ seines Urteils verfassungsgemäß52. Er darf von den deutschen Staatsorganen somit nur gemäß der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts angewendet werden.

c) Wahrung der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten und der Vorbehalt der verfassungsgerichtlichen „Identitätskontrolle“ Verbindlich ist insoweit insbesondere auch die Interpretation der durch den Vertrag von Lissabon neu gefassten Art. 2 und 4 EUV, durch die das Bundesverfassungsgericht sicherstellen will, dass die deutsche Verfassungsidentität durch die Anwendung des EU-Vertrages nicht angetastet wird. Mein Argument, der EU-Gerichtshof könne nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon zur Durchsetzung der EUGrundwerte innerstaatliche verfassungsrechtliche Streitigkeiten entscheiden53, weist das Bundesverfassungsgericht mit Hinweis auf Art. 4 Abs. 2 EUV zurück. Der Senat interpretiert diese Vorschrift, die den Mitgliedstaaten die Wahrung ihrer Verfassungsidentität garantiert, dahingehend, dass es Sache der Mitgliedstaaten und ihrer Verfassungsgerichte sei, verbindlich über die Interpretation der den Kern ihrer Verfassungen ausmachenden Vorschriften zu entscheiden54. Rechtsakte der EU, die diese Verfassungsidentität nicht achten, seien innerstaatlich unanwendbar55. Ob mit dieser Interpretation das von mir aufgeworfene Problem gelöst ist, scheint mir freilich fraglich. Denn unter Wahrung der „Verfassungsidentität“ versteht das Bundesverfassungsgericht die Wahrung der nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlichen Verfassungsprinzipien – eine Konzeption, die spezifisch deutsch und den meisten EU-Staaten fremd ist und die nicht dem Sinn des Art. 4 Abs. 2 EUV entspricht, der nicht die fundamentalen Verfassungsgrundsätze schützen soll, sondern gerade die nationalen Besonderheiten – also die länderspezifisch unterschiedlichen Ausprägungen der allen Staaten gemäß Art. 2 EUV gemeinsamen fundamentalen Grundsätze – dem Zugriff der EU entziehen soll. Die Uminterpretation dieser Vorschriften durch das Bundesverfassungsgericht führt nun zwar dazu, dass das Bundesverfassungsgericht für sich in Anspruch nimmt, die fundamentalen Grundsätze letztverbindlich zu inter50 51 52 53 54 55

BVerfGE 123, 267 (422 ff., insb. 424, 424 f.). BVerfGE 123, 267 (393). BVerfGE 123, 267 (339, 369, 436 f.). s. o. vor Fn. 22. BVerfGE 123, 267 (353 f., 397, 400). BVerfGE 123, 267 (400).

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pretieren, doch bleibt in dieser Konzeption der EU-Gerichtshof zuständig, über die richtige Umsetzung und Anwendung der fundamentalen Grundsätze in den Mitgliedstaaten zu entscheiden – eine Konsequenz, die die Karlsruher Richter wohl nicht gesehen haben. Das Bundesverfassungsgericht hat sich jetzt das gesichert, was es „Identitätskontrolle“ nennt56. Aber es hat mit seiner Interpretation den spezifischen Garantiegehalt des Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV preisgegeben, der darin bestand, dass die Mitgliedstaaten gerade im Rahmen dessen, was die EU-Grundwerte vorgeben, sich für nationale Varianten entscheiden können. Man kann insoweit nur hoffen, dass der EU-Gerichtshof sich zurückhalten und von dieser ihm vom Bundesverfassungsgericht eröffneten Möglichkeit nicht Gebrauch machen wird. Dies sei hier nur am Rande vermerkt. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist: Nur durch seine spezifische Interpretation des Vertrages von Lissabon stellt das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit des Vertrages mit dem Grundgesetz her. d) Gewährleistung der Kompetenzgrenzen durch verfassungsgerichtliche „Ultra-vires-Kontrolle“ und „Identitätskontrolle“ Nun wird man sich fragen können: Wenn das Bundesverfassungsgericht den Vertrag eng auslegt und auch im übrigen verbindlich so interpretiert, dass er gerade noch mit dem Grundgesetz vereinbar ist, was wird das nachher den Europäischen Gerichtshof interessieren? Ist das nicht alles völlig unbeachtlich? Wird sich nicht der Gerichtshof mit seiner expansiven Rechtsprechung über alle diese Begrenzungen hinwegsetzen? Genau das will das Bundesverfassungsgericht verhindern, und davon, ob das verhindert werden kann, hängt es in der Konzeption des Urteils ab, ob der Vertrag mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das Bundesverfassungsgericht löst dieses Problem, indem es sagt: Ob die begrenzten Einzelermächtigungen tatsächlich als begrenzte und zum Teil sehr eng zu verstehende Ermächtigungen gehandhabt werden, das zu überprüfen behalten wir – das Bundesverfassungsgericht – uns selbst vor; wir nehmen eine „Ultra-vires-Kontrolle“ für uns in Anspruch. Wir Karlsruher Richter bleiben auch nach dem Vertrag von Lissabon kompetent, darüber zu entscheiden, ob die Europäische Union mit irgendeinem Rechtsetzungsakt oder anderen Rechtsakt die Grenzen derjenigen Kompetenzen überschritten hat, die ihr von den Mitgliedstaaten eingeräumt worden sind57. Das Bundesverfassungsgericht selbst macht sich zum Wächter der begrenzten Einzelermächtigungen und zum Wächter der engen Auslegung dieser Ermächtigungen gegen die schleichende Kompetenzausweitung durch eine Vielzahl expansiver EuGH-Judikate. Das ist die Lösung, und wenn das funktioniert, wenn also das Bundesverfassungsgericht ernst macht mit seiner angekündigten Kontrolle und

56 57

BVerfGE 123, 267 (353 – 355). BVerfGE 123, 267 (353 – 355).

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gegen die massive polemische Kritik standhaft bleibt58, dann kann ich sagen: Damit bin ich unter dem Aspekt der souveränen Staatlichkeit einverstanden – dann ist dieses Prinzip gewahrt. Diese Lösung hat dem Bundesverfassungsgericht wütende Angriffe eingetragen. Die Kritiker sagen: Es sei doch Sache des Europäischen Gerichtshofs, darüber zu entscheiden, wie die Europäischen Verträge auszulegen sind. Diese Kritik hat durchaus einen berechtigten Kern. Denn der Gerichtshof ist nach den Verträgen zur Auslegung des primären und sekundären EU-Rechts zuständig. Im übrigen sind die EU-Verträge völkerrechtliche Verträge, und eigentlich gilt bei völkerrechtlichen Verträgen, dass die Auslegung im Konsens der Vertragspartner oder durch ein von den Vertragspartnern für zuständig erklärtes internationales Gericht erfolgt und nicht einseitig von einem Vertragspartner vorgenommen werden kann. Demgegenüber weist das Bundesverfassungsgericht auf Besonderheiten der Europäischen Verträge hin, nämlich darauf, dass ja hier weitgehende Ermächtigungen zu supranationaler Rechtsetzung erteilt werden, zu einer Gesetzgebung, an die die Mitgliedstaaten dann gebunden sind. Wenn die Mitgliedstaaten der EU durch völkerrechtliche Verträge begrenzte Rechtsetzungsermächtigungen geben, dann – so der Gedanke des Bundesverfassungsgerichts – müssten europäische Rechtsetzungsakte, die ersichtlich außerhalb dieser Ermächtigungen ergangen seien, angesichts der fortbestehenden Souveränität der Mitgliedstaaten in Deutschland unanwendbar bleiben59. Daher müsse es den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten auch möglich sein einzuschreiten, wenn die Grenzen der von den Mitgliedstaaten auf die EU übertragenen Kompetenzen überschritten würden. Das ist eine auch durchaus noch vertretbare Auffassung. Denn wenn die EU ihre Kompetenzen überschreitet, dann ist ihr Handeln gerade nicht mehr durch die Verträge gedeckt; und die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs kann nicht weiter reichen als der Zuständigkeitsbereich der Europäischen Union. Logisch lässt sich dieser Konflikt nicht auflösen. Denn was in den Zuständigkeitsbereich der Europäischen Union fällt, hängt von der Auslegung der Verträge ab, und für diese ist der Gerichtshof zuständig. Andererseits kann der Gerichtshof mit einer expansiven, durch Wortlaut und Systematik der Vorschriften nicht gedeckten Interpretation die Kompetenzgrenzen überschreiten. Gerade die Erfahrungen mit der jahrzehntelangen expansiven Rechtsprechung des EuGH aber waren es ja, die es angesichts der vielen Kompetenztitel, über welche die EU inzwischen verfügt, als problematisch erscheinen ließen, ob der Vertrag von Lissabon die Grenzen der grundgesetzlichen Integrationsermächtigung überschreitet. Der expansiven Kompetenzinanspruchnahme seitens der EU und insbesondere ihres Gerichtshofs durch die Ultra58 Schon früh ist vermutet worden, das BVerfG sei ein Hund, der zwar laut bellt, aber nicht beißt, vgl. z. B. Abg. Manuel Sarrazin, Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union, Prot. Nr. 90, S. 118. Ob der Senat mit seinem Honeywell-Beschluss, BVerfG, 2 BvR 2661/06 v. 6. 7. 2010, diese Einschätzung bestätigt hat, soll hier nicht erörtert werden. Vgl. das Sondervotum des Richters Landau, Abs.-Nr. 94 ff., sowie Dieter Grimm, Die große Karlsruher Verschiebung, FAZ v. 9. 9. 2010, S. 8. 59 Vgl. BVerfGE 123, 267 (398, 398 f., 399 – 402).

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vires-Kontrolle entgegenzutreten, war im Duktus der Urteilsbegründung der zentrale Baustein, der es überhaupt ermöglichte, den Vertrag von Lissabon als verfassungsmäßig zu akzeptieren. Die Gerichte sollten darauf achten, dass es nicht zu großen Konflikten zwischen ihnen kommt. Es ist sicherlich richtig, dass das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich dem Europäischen Gerichtshof das erste Wort gibt hinsichtlich der Auslegung der Verträge60. Aber: Voraussetzung dafür, dass das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon für grundgesetzkonform erklären konnte, war, dass der Europäische Gerichtshof eben nicht notwendigerweise das letzte Wort für die Auslegung der Verträge hat. Das sollten all diejenigen bedenken, die das Bundesverfassungsgericht wegen der Inanspruchnahme der Ultra-vires- und der Identitätskontrolle so vehement kritisieren. Es war ja offenkundig das Bestreben des Bundesverfassungsgerichts, den Vertrag passieren zu lassen, also nicht für verfassungswidrig zu erklären. Die Alternative wäre eben gewesen zu sagen: Der Vertrag ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Und das hätte diesen Kritikern noch viel weniger gefallen. V. Antiquiertheit oder Modernität des Lissabon-Urteils? Zuletzt möchte ich noch auf einen weiteren Einwand eingehen, der in der Öffentlichkeit gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erhoben worden ist, und da komme ich jetzt doch noch zu einer kleinen politischen Bewertung: Von Politikern, aber auch von Juristen ist gesagt worden, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sei doch deshalb verfehlt und geradezu skandalös, weil es auf einem Demokratie- und Staatsverständnis des 19. Jahrhunderts beruhe. Wäre diese Kritik berechtigt, dann müsste sie sich m. E. gegen das Grundgesetz richten. Denn was das Bundesverfassungsgericht getan hat, ist, dass es die Konzeption des Zusammenwirkens von Staaten und Europäischer Union entwickelt hat, die im Grundgesetz angelegt ist. Diese Konzeption ist die Konzeption der europaoffenen souveränen Staatlichkeit61. Ist denn das eine Konzeption des 19. Jahrhunderts? Es geht doch nicht um die Rückkehr zum souveränen Nationalstaat, der nur seine eigenen nationalen Interessen verfolgt, sich in keiner Weise in seine inneren Angelegenheiten hineinreden lässt und nicht bereit ist, sich internationaler Rechtsetzung zu unterwerfen. Hätte das Bundesverfassungsgericht das Zustimmungsgesetz für verfassungswidrig erklärt und wäre der Vertrag von Lissabon daher gescheitert, dann wären wir doch nicht zurück im 19. Jahrhundert. Dann wären wir immer noch Mitglied einer hochgradig supranatio60 Vgl. BVerfGE 123, 267 (353 f.); deutlicher BVerfG, 2 BvR 2661/06 v. 6. 7. 2010, Abs.Nr. 60. 61 Dazu eingehend Murswiek, in: BK, Präambel (Stand: 2005), Rn. 245, 213 ff., insb. 216; Christian Hillgruber, Der Nationalstaat in übernationaler Verflechtung, HStR II, 3. Aufl., 2004, § 32 Rn. 1 – 3.

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nal organisierten Europäischen Union und ein in diese integrierter Staat, der in seiner Rechtsetzung sehr weitgehend von dieser Europäischen Union abhängig ist. Mir scheint die Konzeption des Grundgesetzes vielmehr immer noch richtig und zukunftsweisend: Die europäischen Staaten integrieren sich zu einem starken Staatenverbund, der die Interessen der Bürger dort vertritt, wo sie auf nationaler Ebene nicht wirksam vertreten werden können – die Mitgliedstaaten bleiben dennoch selbständige Staaten, weil nur so angesichts unterschiedlicher Sprachen, jahrhundertelanger Traditionen und tief eingeprägter nationaler Besonderheiten eine optimale demokratische Organisation der hoheitlichen Gewalt möglich ist. Indem das Bundesverfassungsgericht diese Konzeption des Grundgesetzes herausgearbeitet und verfahrensrechtlich abgesichert hat, hat es eine grundlegende und wegweisende Entscheidung getroffen.

Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Steuerrecht und die zwei Phasen des Öffentlichen Rechts Von Ralf P. Schenke, Würzburg In seinem Beitrag zu den zwei Phasen des Öffentlichen Rechts hat Rainer Wahl mit luzider Klarheit die beiden „Megatrends“ der bundesdeutschen Rechtsentwicklung der vergangenen sechs Jahrzehnte beschrieben1: Während die erste Phase durch die verfassungsrechtliche Durchdringung des einfachen Gesetzesrechts geprägt war, ist in der zweiten Phase die Konstitutionalisierung mehr und mehr durch die Europäisierung und Internationalisierung der Rechtsordnung überlagert worden. Beide Entwicklungslinien zusammenzuführen und die „Einwirkungen der europäischen und internationalen Ebene auf das deutsche Recht rechtssystematisch und rechtspraktisch Stück für Stück zu bewältigen“2, gehört unbestrittenermaßen auch zu den Gegenwartsaufgaben der Steuerrechtsdogmatik. Diese sieht sich schon seit jeher vor besondere Schwierigkeiten gestellt3. Seinen beredten Ausdruck findet dies in Metaphern und Begriffsschöpfungen wie „Steuerchaos“4 oder „Steuerrechtsdschungel“5, die schon seit vielen Jahrzehnten mit steter Regelmäßigkeit zur Charakterisierung der Steuerrechtsordnung bemüht werden6. Gängige Hypothese für das Versagen des Steuergesetzgebers ist zumeist dessen hektischer Aktionismus7, der der Steuerrechtsdogmatik wenig Zeit lässt, den sich wan1 Rainer Wahl, Die zweite Phase des Öffentlichen Rechts in Deutschland, in: ders. (Hg.), Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, S. 411 ff. (= Der Staat 38 (1999), S. 495 ff.). 2 Wahl (Fn. 1), S. 412. 3 Vgl. dazu etwa Ralf P. Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 2. 4 Roman Seer, Möglichkeiten und Grenzen eines „maßvollen“ Gesetzesvollzugs durch die Finanzverwaltung, FR 1997, S. 553; Wilfried Dann, Steuerchaos in Deutschland, StB 1993, S. 244 (245, 247); Monika Jachmann, Wider das Steuerchaos, 1998, S. 9; Klaus Oechsle, Das System des Steuerrechts, StuW 1999, S. 120 (130). 5 Kurt Mieher/Ludwig Kronthaler, Das Steuerrecht und die Gerechtigkeit, DStZ 1992, S. 257 (261); Joachim Lang, Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung, in: Bühler/u. a. (Hg.), Festschrift Meyding, 1994, S. 33 (37). 6 Vgl. nur Werner Flume, Der Weg aus dem Steuerchaos der Gegenwart, DB 1948, S. 502. 7 Vgl. etwa Klaus von Beyme, Der Gesetzgeber, 1997, S. 69 ff.; Helge Sodan, Das Spannungsfeld von Qualität und Quantität in der Justiz, DÖV 2005, S. 764; speziell zum Steuerrecht Anna Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 544 ff.; Johanna Hey, Steuerplanungssicherheit, 2002, S. 69 ff.; Joachim N. Stolterfoht, Vereinfachender Gesetzesvollzug durch die Verwaltung, in: Fischer (Hg.), Steuervereinfachung, 1998, S. 233 (237); Friedrich Burchardi, Möglichkeiten der dritten Gewalt, zur Vereinfachung des Steuerrechts beizutragen,

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delnden Normenbestand zu ordnen und zu systematisieren. Zu einem nicht unwesentlichen Teil ist dies eine Folge der Instrumentalisierung des Steuerrechts zu Lenkungszwecken. Neben der Grundfunktion der Steuern als dem im Steuerstaat des Grundgesetzes vorrangigen Instrument der Staatsfinanzierung dienen Steuern auch der Verhaltenslenkung8. Damit müssen sie aber immer wieder an sich wandelnde wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen angepasst werden. Eine weitere Ursache der kurzen Halbwertszeit steuerrechtlicher Normen ist das Ausweichverhalten der Steuerpflichtigen9. Um ihre Steuerlasten zu senken, ist deren Bestreben darauf gerichtet, die Verwirklichung steuerrechtlicher Tatbestände soweit wie möglich zu vermeiden. Damit kommt ein „Hase und Igel“ ähnlicher Wettlauf zwischen den Steuerpflichtigen und dem Steuergesetzgeber in Gang10, bei dem neue effektive Gestaltungsoptionen oftmals bereits fertig ausgearbeitet sind, bevor das betreffende Steuergesetz überhaupt in Kraft getreten ist11. Mit den soeben beschriebenen Phänomenen hatte auch bereits die Steuerrechtsdogmatik der Weimarer Republik zu kämpfen12. Welche Schwierigkeiten und Herausforderungen seit den letzten Jahrzehnten zusätzlich durch die Konstitutionalisierung, die Europäisierung und die Internationalisierung zu bewältigen sind, kann im Folgenden nur skizzenhaft erläutert werden. Als „Anschauungsmaterial“ dient dabei vorwiegend das Leistungsfähigkeitsprinzip, das seit jeher das Herzstück des deutschen Steuerverfassungsrechts ausmacht. Gerichtet ist es auf die Verteilung steuerlicher Lasten nach Maßgabe der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und nach ganz überwiegend vertretener Auffassung in Art. 3 Abs. 1 GG verankert13.

StuW 1981, S. 304; Adalbert Uelner, Sicht der Gesetzgebungspraxis, in: Raupach/u. a. (Hg.), Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts, Bd. I, 1985, S. 175 (184); Peter Selmer, Der gerechte Steuerstaat, FinArch 52 (1995), S. 234 (234). 8 Vgl. etwa BVerfGE 122, 210 (231); 117, 1 (30 f.); 98, 106 (117); 93, 121 (147); 84, 239 (274). 9 Vgl. Ralf P. Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 123 ff. 10 Vgl. Hey (Fn. 7), S. 13; auch Clemens Esser, Internationaler Steuerwettbewerb, 2005, S. 16 zum „Wettrüsten“ zwischen Steuergestaltung und Reaktion des Gesetzgebers. 11 Peter Hellwig, Aspekte zum Richterrecht im Steuerrecht, in: Der Präsident des Bundesfinanzhofs (Hg.), Festschrift RFH/BFH, 1993, S. 255 (257). 12 Vgl. etwa Enno Becker, Reichsabgabenordnung7, 1930, § 4 Anm. 1a (= S. 40): „So sind die Verfasser von Steuergesetzen vor Aufgaben gestellt, die befriedigend gar nicht gelöst werden können… Dazu kommen noch die Verbesserungen und Verschlechterungen der parlamentarischen Behandlung. Das Ergebnis ist oft ein Bündel von Unklarheiten und Widersprüchen.“ 13 Monographisch hierzu grundlegend Dieter Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983; kritisch aber Uwe Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, 2009, Art. 3 Rn. 127 ff.

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I. Konstitutionalisierung der Steuerrechtsordnung Wie sonst wohl nur die Polizeiverfügung verkörpert die Steuer den Prototyp des klassischen Grundrechtseingriffs14. Gleichwohl hat die Konstitutionalisierungsdebatte als die erste Phase des deutschen öffentlichen Rechts nach 194915 das Steuerrecht vergleichsweise spät erreicht und lange Zeit nicht die Intensität erreicht, die anderen Gebieten des öffentlichen Rechts zu eigen war16. 1. Ursprünge einer Konstitutionalisierung in Weimar Neben frühkonstitutionellen Vorläufern17 lassen sich Ansätze zu einer verfassungsrechtlichen Überformung des einfachen Gesetzesrechts freilich bereits in die Weimarer Republik und damit bis zur Geburtsstunde des modernen Steuerrechts zurückverfolgen18. Der sich 1919 neu formierende Steuerstaat stand vor der schwierigen Herausforderung, erhebliche Reparationslasten zu schultern, konnte für die Bewältigung dieser Aufgabe aber nicht auf den Erfahrungsschatz einer gefestigten Dogmatik oder gar einer Steuerrechtswissenschaft aufbauen19. Mangels einer eigenen Rechtstradition griff man auf den Erkenntnisstand und die Besteuerungspostulate der klassischen Finanzwissenschaft zurück, deren Grundlagen bereits durch Adam Smith gelegt worden sind20. Als die wichtigsten Besteuerungspostulate sind danach die Gleichheit der Steuerbelastung, die Bestimmtheit der Besteuerung und die Effizienz der Steuer anerkannt21. Eingang haben diese Prinzipien bereits in den Grundrechtskatalog der Weimarer Reichsverfassung gefunden. Wenn nach Art. 134 WRV „Alle Staatsbürger ohne Unterschied […] im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze beitragen sollten“, so wurden hiermit nicht nur der Vorrang und der Vorbehalt des Gesetzes, sondern vor allem auch das Leistungsfähigkeitsprinzip kodifiziert. Die Hinwendung zum Leistungsfähigkeitsprinzip war damals aber nicht nur dem Ideal der Steuergerechtigkeit geschuldet, sondern hatte auch einen fiskalischen 14 Vgl. nur Klaus-Dieter Drüen, Zur Rechtsnatur des Steuerrechts und ihrem Einfluß auf die Rechtsanwendung, in: Drenseck/Seer (Hg.), Festschrift Kruse, 2001, S. 191 f. 15 Wahl (Fn. 1), S. 411. 16 Zur Konstitutionalisierung der Rechtsordnung nur Gunnar Folke Schuppert/Christian Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000; Rainer Wahl, Konstitutionalisierung, in: Eberle/u. a. (Hg.), Festschrift Brohm, 2002, S. 191 ff.; Matthias Knauff, Konstitutionalisierung im inner- und überstaatlichen Recht, ZaöRV 68 (2008), S. 453 ff. 17 Klaus Oechsle, Die steuerlichen Grundrechte in der jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte, 1993, S. 37 ff. 18 Oechsle (Fn. 17), S. 116 ff. 19 Vgl. nur Becker (Fn. 12), § 4 Anm. 1a (= S. 40). 20 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen5, 1974, S. 703 ff. 21 Zu diesen Prinzipien instruktiv Rainer Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 6 ff.

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Hintergrund, der heute noch aktuell ist. Denn Steuern, die nicht als gerecht angesehen werden, rufen erfahrungsgemäß einen starken Steuerwiderstand hervor22, den sich das hoffnungslos überschuldete Reich nicht leisten konnte. Dass das Leistungsfähigkeitsprinzip auch rechtspraktische Bedeutung erlangt hat, ist unter anderem Enno Becker zu verdanken, der die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs nicht nur als Senatspräsident, sondern auch durch seine umfangreichen Kommentierungen und zahlreiche weitere Veröffentlichungen entscheidend geprägt hat. Seine Überlegungen zur Bedeutung des Art. 134 WRV23 haben in weiten Teilen das vorweggenommen, was heute als verfassungskonforme Auslegung bezeichnet wird und weithin gesicherter Bestand der juristischen Methodenlehre ist24.

II. Die Entfaltung des Leistungsfähigkeitsprinzips unter dem Grundgesetz Bemerkenswerterweise spielte das Verfassungsrecht für die steuerrechtliche Systembildung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik eine vergleichsweise untergeordnete Rolle25. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zwar frühzeitig zu einem Grundsatz der Steuergerechtigkeit bekannt und diesen in Art. 3 GG verortet26. Anfänglich vermochte das Leistungsfähigkeitsprinzip aber nur eine geringe Durchschlagskraft zu entfalten. Dies lag in erster Linie daran, dass das Bundesverfassungsgericht an die Rechtfertigung von Durchbrechungen lediglich den Maßstab der Willkürlichkeit anlegen wollte. Auch seitens des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das in anderen Gebieten des öffentlichen Rechts schnell Karriere gemacht hat27, drohte dem Steuergesetzgeber zunächst keine Gefahr. Da der Finanzzweck der Steuer sachgerecht weder einer Überprüfung anhand der Geeignetheit noch anhand der Erforderlichkeit zugänglich ist28, können sich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Steuerrecht allenfalls auf Ebene der Angemessenheit Direktiven für die Höhe der Steuerlast entnehmen lassen. Daraus lässt sich ein Verbot der Erdrosselungssteuer ableiten. Un22 Vgl. nur Franz Salditt, Die Hinterziehung ungerechter Steuern, in: Lang (Hg.), Festschrift Tipke, 1995, S. 475 ff. 23 Enno Becker, Die Entwicklung des deutschen Steuerrechts durch die Rechtsprechung seit 1928, StuW 1931, Spl. 945 (948 f.). 24 Vgl. dazu nur kritisch Andreas Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte, AöR 125 (2000), S. 177 ff. 25 Vgl. etwa Dieter Birk, Verfassungsfragen im Steuerrecht, DStR 2009, S. 877 (878); Klaus Vogel, Verfassungsrechtsprechung zum Steuerrecht, 1999, S. 5 ff. 26 BVerfGE 6, 55 (70). 27 Vgl. nur Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht32, 2008, § 12 Rn. 84 ff.; Andreas von Arnauld, Theorie und Methode des Grundrechtsschutzes in Europa – am Beispiel des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: Armin Hatje/Nettesheim (Hg.), 2008, S. 41 in rechtsvergleichender Perspektive. 28 BVerfGE 115, 97 (115 f.); Gregor Kirchhof, Der qualifizierte Gesetzesvorbehalt im Steuerrecht, DStR 2009, Beihefter Heft 49, S. 135 (138); Hans-Jürgen Papier, Steuerrecht im Wandel, DStR 2007, S. 973 (974).

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terhalb dieser Schwelle muss die Festsetzung der Höhe der steuerlichen Belastung aber dem politischen Prozess überlassen bleiben29/30. Zu nennenswerten Interventionen des Verfassungsrechts in die einfachgesetzliche Steuerrechtsordnung kam es zunächst allein im Bereich der Familienbesteuerung. Zu nennen ist hier vor allem die 1957 gefällte Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der früheren Haushaltsbesteuerung, die Eheleute in offensichtlicher Missachtung des Art. 6 GG schlechter gestellt hatte als unverheiratete Paare31. Die Reaktionen des Schrifttums auf diese Entscheidung fielen indes ganz überwiegend kritisch aus. Ausdruck hiervon gibt die Kritik Armin Spitalers – einer der führenden Steuerrechtler der frühen Nachkriegszeit – der dem Bundesverfassungsgericht eine „nicht den Denkstil des Steuerrechts“ entsprechende Argumentation vorhielt32. Die zögerliche Rezeption verfassungsrechtlichen Denkens im Steuerrecht ist nur aus einer diskurstheoretischen Perspektive zu erklären. Kehrseite der Anerkennung des Steuerrechts als eigenständige Disziplin war nicht nur die Verselbstständigung vom Primat zivilrechtlichen Denkens33, sondern zugleich die dogmatische Isolierung vom Verwaltungsrecht und damit mittelbar auch vom Verfassungsrecht34. Der Versuch, mit dem hektisch agierenden Gesetzgeber Schritt zu halten, gebiert dann ein Spezialistentum, dem die Kraft fehlt, den Anschluss an die dogmatische Fortentwicklung der Nachbardisziplinen zu halten. Ein weiterer Erklärungsansatz dürfte in der Nähe steuerrechtlicher Problem- und Fragestellungen zum Zivil- und Gesellschaftsrecht zu suchen sein35. Neben Juristinnen und Juristen, die wissenschaftlich im öffentlichen Recht sozialisiert worden sind, wird Steuerrecht mit gutem Grund auch von Zivilrechtlerinnen und Zivilrechtlern betrieben, die die verfassungsrechtliche Überformung ihres Rechtsgebietes oftmals als Ausdruck einer verfassungsrechtlichen Hybris zurückweisen36. Von nicht unbedeutenden Teilen der Steuerrechtswissenschaft ist der verfassungsrechtlichen Überformung des Steuerrechts daher lange Zeit eine entschiedene Absage erteilt worden37. Begrifflich auf den Punkt gebracht wird dies

29 Statt vieler nur Andreas Musil, Steuerbegriff und Non-Affektationsprinzip, DVBl 2007, S. 1526 (1527 ff.); a.A. aber Michael Elicker, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Besteuerung, DVBl. 2006, S. 480 (483 ff.). 30 Zur Debatte um den sogenannten Halbteilungsgrundsatz s. u. Fn. 47 f. 31 BVerfGE 6, 55 ff. 32 Armin Spitaler, BB 1957, S. 268. 33 Hierzu wegweisend nur Kurt Ball, Steuerrecht und Privatrecht, 1924. 34 Vgl. dazu, wenngleich mit anderer Akzentsetzung, bereits Albert Hensel, Der Reichsfinanzhof, Recht und Wirtschaft 10 (1921), S. 188 f. 35 Statt vieler nur Kurt Ball, Steuerrecht und Privatrecht, StuW 1925, Spl. 177 (179). 36 Vgl. zur Auseinandersetzung um die verfassungsrechtliche Durchdringung des Zivilrechts nur Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 22 ff. 37 Siehe dagegen zum Verfassungsverständnis der derzeitigen Richtergeneration in der Finanzgerichtsbarkeit Ulrich Hufeld, Konstitutionalisierung des Steuerrechts im Praxistest, Stbg 2010, Editorial 4.

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durch die früher vielfach vertretene These der „radikalen Positivität des Steuerrechts“38, das allein aus dem „Diktum des Gesetzgebers“ lebe39. Trotz dieser ungünstigen Rahmenbedingungen hat die Konstitutionalisierung aber auch vor dem Steuerrecht nicht Halt gemacht40. Angestoßen worden ist diese Entwicklung durch mehrere, sich wechselseitig verstärkende Einflussfaktoren. Einmal war die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung in anderen Gebieten auch außerhalb des öffentlichen Rechts bereits so weit vorangeschritten, dass die verfassungsrechtliche Rückständigkeit des Steuerrechts immer mehr zur begründungsbedürftigen Ausnahme wurde41. Zudem standen mit Klaus Tipke und Klaus Vogel zwei überragende und schulenbildende Steuerrechtler bereit, deren wissenschaftliches Lebenswerk eng mit der verfassungsrechtlichen Überformung der Steuerrechtsordnung verbunden ist42. Die entscheidende Rolle hat aber letztlich nicht überraschend die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gespielt. In dieser ist an die Stelle der alten Willkürrechtsprechung zu Art. 3 GG die ”neue Formel” getreten43, die auch in die steuerrechtliche Judikatur des Bundesverfassungsgerichts Eingang gefunden hatte44. Aus dem vergleichsweise stumpfen Schwert des Gleichheitssatzes war damit ein schlagkräftiges Instrument geformt worden, das zu spürbaren Interventionen des Verfassungsrechts in die Steuerrechtsordnung geführt hat. Ihren vorläufigen Höhepunkt dürfte die Entwicklung in den ganz wesentlich durch Paul Kirchhof geprägten Einheitswertbeschlüssen zur Vermögen- und Erbschaftsteuer des Bundesverfassungsgerichts gefunden haben45, die nicht nur allein wegen des 38 Werner Flume, Richterrecht im Steuerrecht, StbJb 1964/65, S. 55 (68 f.); Heinrich Wilhelm Kruse/Klaus-Dieter Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 2001, § 4 AO Rn. 362; HermannWilfried Bayer, Diskussionsbeitrag: Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39 (1981), S. 364 (366); Albert Hensel, Steuerrecht3, 1933, S. 57: „Der Gesetzgeber ist bei Aufstellung der Tatbestandsnormen frei; so sind beliebig viele einzelne Steuertatbestände denkbar“. 39 BVerfGE 13, 318 (328) im Anschluss an Ottmar Bühler/Georg Strickrodt, Steuerrecht, Bd. I3, 1960, S. 658. 40 Zum aktuellen Entwicklungsstand Joachim Lang, Rechtsstaatliche Ordnung des Steuerrechts, in: Tipke/Lang (Hg.), Steuerrecht20, 2008, Rn. 1 ff. 41 Siehe nur Klaus Tipke, Rechtfertigung des Themas, in: Tipke (Hg.), Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung und Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, 1982, S. 1 (6 f.). 42 Vgl. nur Klaus Tipke, Über Steuergerechtigkeit in Steuergesetzgebung, Steuerverwaltung und Steuergerichtsbarkeit, StuW 1980, S. 281 ff.; Klaus Vogel, Der Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht als Herausforderung an das Verfassungsrecht, in: Friauf (Hg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht, 1989, S. 123 ff. 43 Grundlegend BVerfGE 55, 72 (88), wonach das Gleichheitsgrundrecht „vor allem dann verletzt ist, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“. 44 Vgl. etwa BVerfGE 105, 73 (110); 84, 348 (359); 81, 228 (236). 45 BVerfGE 93, 121 ff.; 93, 165 ff.

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dort propagierten Halbteilungsgrundsatzes46 eine sehr rege Diskussion ausgelöst haben47. III. Systemimmanente Grenzen des Leistungsfähigkeitsprinzips Die im Schrifttum geäußerte Hoffnung, das „Steuerchaos“48 könne durch das Verfassungsrecht kuriert werden49, hat sich indes als trügerische Hoffnung erwiesen. Ein Grund für das Scheitern dieses Ansatzes ist in der bereits zuvor erwähnten Multifunktionalität des Steuerrechts zu suchen, das neben der Einnahmeerzielung und der gerechten Lastenverteilung zugleich der Verhaltenslenkung dient (dazu 1.). Der andere wurzelt paradoxerweise im Komplexitäts- und Vollzugsdilemma leistungsgerechter Steuergesetze (dazu 2.). 1. Lenkungsnormen und Leistungsfähigkeitsprinzip Nach § 3 Abs. 1 HS. 2 AO kann die Einnahmeerzielung auch lediglich Nebenzweck der steuerlichen Belastung sein. Auf einfachgesetzlicher Ebene wird damit die Existenz von Lenkungsnormen anerkannt50. Im Unterschied zu Fiskalzwecknormen, die allein der Einnahmeerzielung und der Verteilung der Steuerlasten dienen, sind Lenkungsnormen darauf gerichtet, die Steuerpflichtigen zu einem bestimmten sozial-, wirtschafts-, umwelt- oder auch anderweitig gesellschaftspolitisch erwünschten Verhalten zu motivieren51. Exemplarisch hierfür stehen insbesondere die §§ 7a ff. EStG, die wirtschafts-, sozial- und umweltpolitisch erwünschte Investitionen durch großzügige Sonderabschreibungen belohnen. Lenkungsnormen müssen notwendigerweise mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip in Konflikt geraten, weil nur derjenige steuerlich prämiert bzw. bevorzugt wird, der in der Lage ist, den Tatbestand der Lenkungsnorm zu verwirklichen52. Verfassungs46 BVerfGE 93, 121 (138), wonach die steuerliche Gesamtbelastung des Sollertrages bei typisierender Betrachtung in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand verbleiben muss; aufgegeben worden ist der Halbteilungsgrundsatz durch BVerfGE 115, 97 (114, 118); hierzu Rainer Wernsmann, Die Steuer als Eigentumsbeeinträchtigung?, NJW 2006, S. 1169 ff. 47 Exemplarisch Joachim Wieland, Der Vermögensteuerbeschluß, in: Guggenberger/Würtenberger (Hg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, 1998, S. 173 (184 f.) einerseits und Paul Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR 128 (2003), S. 1 (20 ff.) andererseits. 48 Vgl. die Nw. oben Fn. 4. 49 Alexander Klein, Das neue Steuerverfassungsrecht, BB 1996, S. 1807 ff. 50 Einführend hierzu Dieter Birk, Steuerrecht13, 2010, Rn. 202 ff. 51 Statt vieler nur Rainer Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005. 52 Ferdinand Kirchhof, Die Tauglichkeit von Abgaben zur Lenkung des Verhaltens, DVBl. 2000, S. 1166 (1170 f.); Birk (Fn. 25), S. 880.

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rechtlich wird diese Privilegierung indes nicht als Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz bewertet. Vielmehr gehört die Instrumentalisierung des Steuerrechts zu Lenkungszwecken zu den weithin akzeptierten Rechtfertigungsgründen einer Durchbrechung des Leistungsfähigkeitsprinzips, sofern sich der Gesetzgeber dabei auf Gemeinwohlgründe berufen kann53. Wenn man dem Gesetzgeber nicht ein vergleichsweise einfach zu handhabendes Mittel der Sozialgestaltung aus der Hand schlagen will, dürfte an dieser Auffassung trotz verschiedentlich geäußerter Bedenken festzuhalten54 sein. Attraktiv ist das „Steuern über Steuern“ vor allem, weil Lenkungsnormen durch die Steuerpflichtigen quasi selbst vollzogen werden und so im Vergleich zu der möglichen Alternative direkter Subventionen auf den Aufbau neuer Behördenstrukturen verzichtet werden kann. Nicht verkannt werden darf freilich, dass die Anerkennung von Lenkungsnormen die Steuerrechtsordnung einem permanenten Veränderungsdruck aussetzt, der die steuerliche Systembildung erheblich erschwert. In vielen Fällen sind Lenkungsnormen zudem auch lenkungspolitisch kaum zu rechtfertigen, sondern dienen allein dazu, die wirtschaftlichen Interessen durchsetzungsstarker Interessengruppen zu befriedigen55. Insoweit auf Abhilfe durch das Bundesverfassungsgericht zu hoffen, ist indes wenig realistisch. Ungeachtet der Konstitutionalisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips würde dies Karlsruhe zu einer Bewertung der Lenkungsziele zwingen, die ihm durch den gebotenen judicial self restraint weitgehend verwehrt bleiben muss. 2. Das Komplexitäts- und Vollzugsdilemma des Leistungsfähigkeitsprinzips Eine weitere Schwachstelle des Leistungsfähigkeitsprinzips wurzelt in seinem Komplexitäts- und Vollzugsdilemma. Hier sieht sich das Ertragsteuerrecht mit einem eigenartigen Paradoxon konfrontiert: Je genauer das materielle Steuerrecht das Leistungsfähigkeitsprinzip verwirklichen möchte, umso größer ist die Anzahl potentiell steuerrechtlich relevanter Sachverhalte und umso größere Schwierigkeiten stellen sich auch bei der Einlösung des Leistungsfähigkeitsprinzips im Verwaltungsvollzug56. Ein materielles Steuerrecht, das die Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen exakt erfassen will, muss um der Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse willen notwendigerweise differenzieren. Selbst bei einer vergleichsweise einfachen Arbeit53

Vgl. etwa BVerfGE 110, 274 (292); 93, 319 (346). Vgl. zu den Chancen und Risiken einer Lenkung durch Steuern nur Rainer Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 119 ff. 55 Vgl. Siegfried Franz Franke, Steuerpolitik in der Demokratie, 1993, S. 357 ff. 56 Vgl. dazu grundlegend Rolf Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 8 ff.; siehe auch ders., Vom konfrontativen zum kooperativen Steuerstaat, StuW 1996, S. 107 ff. 54

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nehmerveranlagung können sich die potentiell steuerrechtlich relevanten Sachverhalte leicht auf weit über hundert Einzeldaten aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen summieren. Insofern sind ein leistungsgerechtes Steuerrecht und ein komplexes Steuerrecht letztlich zwei Seiten derselben Medaille. Hinzu tritt ein weiteres Problem. Einkommensteuerliche Sachverhalte mit der Gewissheit aufzuklären, die etwa dem rechtsstaatlichen Standard des strafgerichtlichen Verfahrens entspricht, würde einen Vollzugsaufwand nach sich ziehen, der in keinem angemessenen Verhältnis mehr zum fiskalischen Ertrag stünde. Zudem ist die Überprüfung der Angaben der Steuerpflichtigen zwar in vielen Fällen theoretisch denkbar, muss sich aber wegen der rechtsstaatlichen Folgekosten, die beispielsweise mit einer „finanzbehördlichen Telefonüberwachung“ verbunden wären, von vornherein verbieten. Wenn der Steuerstaat deshalb den die Steuerpflicht begründenden Sachverhalt nur unvollkommen aufklären kann, eröffnet sich ein Dilemma, bei dem der Steuergesetzgeber zwischen Skylla und Charybdis wählen muss: Die eine Alternative besteht darin, den Angaben der Steuerpflichtigen zu vertrauen. Realistischerweise muss der Steuerstaat dann aber mit erheblichen Steuerverkürzungen rechnen. Zudem ist die Steuerlast überproportional von den steuerehrlichen Steuerpflichtigen zu tragen. Die Alternative zum Vertrauen in den Steuerpflichtigen ist unter dem Aspekt des Leistungsfähigkeitsprinzips nicht weniger problematisch. Hierbei greift der Gesetzgeber zum Mittel der Typisierung steuerlicher Tatbestände57. Eine solche Typisierung, wie sie beispielsweise auf Ebene des einfachen Gesetzesrechts bei den Werbungskosten vorgesehen ist (§ 9a EStG), trägt dazu bei, das Steuergesetz vollzugsfähig zu machen. Der Zugewinn an Vollzugsfähigkeit ist allerdings durch Abstriche am Leistungsfähigkeitsprinzip erkauft. Dies ist für den Steuerpflichtigen besonders problematisch, wenn bestimmten Aufwendungen generell die steuerliche Anerkennung versagt wird, weil der Gesetzgeber von der Steuerunehrlichkeit als dem typischen Fall ausgeht. Ein geläufiges Beispiel hierfür bietet etwa die mangelnde Anerkennung des häuslichen Arbeitszimmers (§ 4 Abs. 5 Nr. 6 lit. b EStG)58 sowie anderer Aufwendungen, die neben der beruflichen unter Umständen auch die private Sphäre des Steuerpflichtigen berühren können59.

57 Vgl. dazu etwa Klaus-Dieter Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 2006, § 3 Rn. 51 m.w.N.; aus der Rechtsprechung BVerfGE 96, 1 (6). 58 Vgl. hierzu jüngst nur BVerfG NJW 2010, S. 2643 ff. 59 Ob mit der Aufgabe des früher postulierten Aufteilungsverbotes in der neuesten Rechtsprechung des BFH, BStBl. II 2010, 672 wirklich ein Zugewinn an Steuergerechtigkeit verbunden ist, mag man angesichts der beschränkten Vollzugskapazitäten der Finanzverwaltung mit guten Gründen bezweifeln.

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3. Zwischenfazit und der Ausweg der Prozeduralisierung des Steuerverfassungsrechts Um ein kurzes Zwischenfazit zu ziehen: Eine Steuergesetzgebung, die dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit verpflichtet ist, sieht sich mit Schwierigkeiten konfrontiert, die mitunter der Quadratur des Kreises gleichen und für die es auch keine verfassungsrechtliche „Therapie“ gibt. Abmildern lassen sich diese, wenn man auf den Einsatz des Steuerrechts als Lenkungsmittel verzichten würde. Selbst in einer von Lenkungsnormen befreiten Steuerrechtsordnung sieht sich das Leistungsfähigkeitsprinzip aber mit einem letztlich unauflösbaren Komplexitäts- und Vollzugsdilemma konfrontiert. Dies könnte eine Ursache dafür sein, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner neueren Rechtsprechung weniger darauf setzt, den Gestaltungsspielraum des einfachen Gesetzgebers durch materielle Vorgaben einzuschränken, sondern eher darum bemüht ist, die Rationalität und die Transparenz des politischen Prozesses zu stärken. Auf dieser Linie einer Prozeduralisierung des Steuerverfassungsrechts, für die sich auffällige Parallelen in der neueren sozialverfassungsrechtlichen Judikatur finden lassen60, liegt es, wenn in der neueren steuerrechtlichen Judikatur bei der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Durchbrechungen des Art. 3 Abs. 1 GG ein besonderer Akzent auf die Folgerichtigkeit gelegt wird. Der Grundsatz der Folgerichtigkeit verlangt beispielsweise bei Lenkungsnormen, die Lenkungszwecke tatbestandlich vorzuzeichnen und gleichheitsgerecht auszugestalten61. Damit wird der Gesetzgeber gezwungen, zur Rechtfertigung steuerlicher Privilegierungen deutlich Farbe zu bekennen und sich so der Kritik und der Kontrolle der parlamentarischen Öffentlichkeit auszusetzen. Ebenso als Stärkung einer diskursiven und prozeduralen Rationalität der Steuergesetzgebung ist die neuere Rechtsprechung zu den Grenzen der Tätigkeit des Vermittlungsausschusses zu deuten62. Indem die Kompetenz des Vermittlungsausschusses auf diejenigen Gegenstände begrenzt wird, die bis zur letzten Lesung des Gesetzes im Bundestag in das jeweilige Gesetzgebungsverfahren eingeführt waren63, wird erneut die Transparenz des Gesetzgebungsverfahrens gestärkt. Dies tut in besonderer Weise im Steuerrecht not, da die Zustimmungsbedürftigkeit zentraler Steuergesetze im Bundesrat (Art. 105 Abs. 3 GG) nur allzu oft zu fragwürdigen Kompromissen und

60 Vgl. BVerfG NJW 2010, S. 505 (508), wonach der Gesetzgeber den aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten Anspruch auf Existenzsicherung folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren zu bemessen hat. 61 BVerfGE 122, 210 (232); 117, 1 (32); 110, 274 (293); 105, 73 (112); 99, 280 (296); 93, 121 (137 f.). 62 BVerfG NVwZ 2010, S. 63 ff. 63 BVerfGE 101, 297 (306 f.); 72, 175 (189 f.).

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Kompensationsgeschäften im Vermittlungsausschuss als der „Dunkelkammer des Föderalismus“64 gezwungen hat. Welche Ergebnisse dieser prozedurale Ansatz zeitigen wird, bleibt freilich abzuwarten. Am Beispiel der Neufassung des Erbschaftsteuergesetzes ließe sich aufzeigen, dass der Gesetzgeber die verfassungsrechtliche Lektion der Prozeduralisierung des Steuerverfassungsrechts offensichtlich noch nicht verstanden hat65. Wie hierauf wiederum das Bundesverfassungsgericht reagiert, dürfte wiederum von entscheidender Bedeutung für die Frage sein, welcher Stellenwert dem Leistungsfähigkeitsprinzip in der Steuerrechtswirklichkeit zukünftig zukommen wird. IV. Internationalisierung und Europäisierung als neue Herausforderungen des Leistungsfähigkeitsprinzips Den Niederschlag, den die Internationalisierung und Europäisierung in der Steuerrechtsordnung gefunden haben, soll im Folgenden anhand der Auswirkungen des internationalen Steuerwettbewerbs sowie der gesetzgeberischen Reaktionen auf Gewinnverlagerungsstrategien internationaler Konzerne erläutert werden. 1. Auswirkungen des internationalen Steuerwettbewerbs Vor große Herausforderungen sieht sich das Leistungsfähigkeitsprinzip durch den internationalen Steuerwettbewerb66 gestellt. Der Wettbewerb der Staaten67 um Unternehmensansiedlungen und Arbeitsplätze wird mehr und mehr auch über den Standortfaktor Steuern ausgetragen. Dass die Staaten einem zunehmenden Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind, ist in erster Linie eine Folge der Europäisierung der Steuerrechtsordnung68. Unter dem Einfluss der europäischen Grundfreiheiten wird es den Mitgliedstaaten zunehmend erschwert, einer Verlagerung von Unternehmensansiedlungen und wirtschaftlicher Aktivitäten ins Ausland wirksam entgegen zu treten. Dass dies auch im Steuerrecht gilt, unterstreicht die seit der Leitentscheidung

64 Vgl. etwa Hans Meyer, Einige Überlegungen zum Entwurf einer Verfassungsänderung, 8. 5. 2006, in: www.bundestag.de/ausschuesse/a06/foederalismusreform/Anhoerung/01_Allgemeiner_Teil/Stellungnahmen/Prof_Dr_Hans_Meyer.pdf (16. 5. 2006), S. 14. 65 Vgl. etwa Birk (Fn. 25), S. 882. 66 Vgl. dazu etwa Clemens Esser, Internationaler Steuerwettbewerb, 2004, S. 9 ff.; Lüder Gerken/Jörg Märkt/Gerhard Schick, Internationaler Steuerwettbewerb, 2000, S. 134 ff. 67 Allgemein zu dem neuen Wettbewerbsparadigma aus finanzwissenschaftlicher Sicht etwa Lüder Gerken, Der Wettbewerb der Staaten, 1999, S. 5 ff.; aus rechtswissenschaftlicher Perspektive nur Veith Mehde, Wettbewerb zwischen Staaten, 2006, S. 28 ff. 68 Vgl. dazu etwa Johanna Hey, Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in Europa, 1997, S. 67 ff.; Heinrich Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 2005; Rainer Wernsmann, Steuerrecht, in: Schulze/u. a. (Hg.), Europarecht, 2010, § 30; Adrian Cloer/Nina Lavrelashvili, Einführung in das Europäische Steuerrecht, 2008.

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avoir fiscal69 mittlerweile viele Bände füllende Judikatur des EuGH, in der der Gerichtshof steuerrechtliche Hindernisse bei der Ausübung der Grundfreiheiten Schritt für Schritt aus dem Weg geräumt hat70. Beispielhaft sei hier nur an den früheren Zwang erinnert, bei der Ausübung der sogenannten Exit-Option die im Unternehmen angesammelten stillen Reserven aufzudecken, was den Wegzug steuerlich unattraktiv gemacht hat (§ 6 AStG a.F.). In einer entsprechenden Vorschrift des französischen Unternehmensteuerrechts sah der EuGH indes eine Verletzung der in Art. 43 EG geschützten Niederlassungsfreiheit71, was auch den deutschen Gesetzgeber zu einer europarechtskonformen Neufassung der Wegzugsbesteuerung gezwungen hat. Wenn der Staat seine Steuerpflichtigen nicht mehr mit Mitteln des Steuerrechts „einsperren“ kann, setzt dies die Mitgliedstaaten der Europäischen Union einem sich verschärfenden Wettbewerb um günstige steuerliche Rahmenbedingungen aus. Um in diesem Wettbewerb zu bestehen, sieht sich der Steuergesetzgeber nur allzu oft zu weiteren Abstrichen beim Leistungsfähigkeitsprinzip gezwungen. Hierzu kommt es, weil das Drohpotential der Steuerpflichtigen, von der Exit-Option Gebrauch zu machen, sehr unterschiedlich ausgestaltet ist72. Realistisch ist die Drohung mit Abwanderung allein für die mobilen Steuerquellen der unternehmerischen Betätigung und des Kapitals, nicht hingegen für die große Gruppe der abhängig Beschäftigten. Welche Folgen dies hat, lässt sich deutlich in der Entwicklung des deutschen Steuerrechts nachverfolgen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich die steuerlichen Rahmenbedingungen für die Unternehmensbesteuerung und die Besteuerung von Kapitaleinkünften nicht unerheblich verbessert. So wurden die ertragsteuerlichen Belastungen von Körperschaften im Zuge der Unternehmensteuerreform 2008 auf nunmehr unter 30 % abgesenkt73. Gleichzeitig kam es auch zu Verbesserungen bei Personengesellschaften, die nunmehr die Möglichkeit erhalten haben, diejenigen Gewinne einer vergleichbar geringen steuerlichen Belastung zu unterwerfen, die thesauriert werden, d. h. im Unternehmen verbleiben (§ 34a EStG)74. Als Reaktion auf den internationalen Steuerwettbewerb ist auch die sogenannte Abgeltungsteuer zu begreifen, die zum 1. 1. 2009 wirksam geworden ist und die im privaten Be69

EuGH Urt. v. 28. 01. 1986 – C-270/83 (Avoir fiscal), Slg. 1986, 285. Hierzu statt vieler nur Ekkehart Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Kokott/u. a. (Hg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 ff.; Axel Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002; Christian Seiler, Das Steuerrecht unter dem Einfluss der Marktfreiheiten, StuW 2005, S. 25 ff.; Hanno Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, 2009; zur jüngeren Tendenz siehe nur Andreas Musil/ Lars Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 ff. 71 Vgl. nur EuGH Urt. v. 11. 03. 2004 – C-9/02 (Hughes de Lasteyrie du Saillant), Slg. 2004, I-2409 zur französischen Wegzugsbesteuerung. 72 Clemens Esser, Internationaler Steuerwettbewerb, 2004, S. 22 f., 27 ff. 73 BT-Drs. 16/4841, 31. 74 BT-Drs. 16/4841, 31. 70

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reich bezogene Einkünfte aus Kapitalvermögen einem niedrigen Steuersatz von 25 % unterwirft (§ 32d Abs. 1 EStG)75. Dagegen ist die steuerliche Belastung der anderen Einkunftsarten unverändert hoch geblieben. Zudem hat die Erhöhung der Umsatzsteuer die steuerliche Belastung gerade derjenigen Bevölkerungsgruppen verschärft, die kaum in der Lage sind, von der Exit-Option Gebrauch zu machen76. Zur Korrektur dieser Entwicklung auf das Verfassungsgericht zu hoffen, ist weder zu erwarten noch wünschenswert: Denn wem kann letztlich damit gedient sein, wenn das Unternehmensteuerrecht das Leistungsfähigkeitsprinzip verwirklicht, diesem aber die Steuersubjekte abhanden kommen, weil die Steuerrechtsordnung nicht mehr konkurrenzfähig ist. Implizit anerkannt worden ist dies bereits in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Dort wurde in einer 2006 getroffenen Entscheidung eine unter Gleichheitsgesichtspunkten problematische Tarifbegünstigung für gewerbliche Einkünfte (§ 32c EStG a.F.) unter anderem unter Hinweis auf den internationalen Steuerwettbewerb gerechtfertigt77. Da genau dieser internationale Steuerwettbewerb aber zum alles bestimmenden Moment der nationalen Steuerpolitik geworden ist, weist das Leistungsfähigkeitsprinzip seitdem eine weithin offene Flanke auf. 2. Leistungsfähigkeitsprinzip und Abwehr von Gewinnverlagerungen Zusätzlich unter Druck geraten ist das Leistungsfähigkeitsprinzip durch die Erosion der dem Steuerstaat stillschweigend zugrunde liegenden Voraussetzung, dass er sich aus den auf seinem Territorium erwirtschafteten Erträgen finanzieren kann. In Frage gestellt wird diese Grundbedingung des Steuerstaates durch die Gewinnverlagerungsstrategien internationaler Konzerne78. Erläutern lässt sich diese These am Beispiel der sogenannten GesellschafterFremdfinanzierung79. Internationale Konzerne sind steuerlich gut beraten, ihre deutschen Tochterkapitalgesellschaften nicht durch Eigenkapital, sondern in weitem Umfang durch Gesellschafterdarlehen der Konzernmutter zu finanzieren, die selbst in einem Niedrigsteuerland ansässig ist. Der steuerrechtliche Vorteil einer entsprechenden Konstruktion liegt auf der Hand: Wenn eine deutsche Tochterkapitalgesellschaft über Eigenkapital finanziert wird, müssen deren Gewinne in Deutschland versteuert werden, selbst wenn diese in Gestalt von Dividenden an die ausländische Mutter ausgeschüttet wurden (§ 8 Abs. 3 S. 2 KStG). Entscheidet sich die Konzernmutter hin75 Dazu einführend Dieter Birk, Steuerrecht13, 2010, Rn. 760 ff.; zur steuersystematischen Einordnung nur Christoph Gröpl, Besteuerung der Kapitaleinkünfte im Wandel, in: Gröpl/ Jachmann/Manssen (Hg.), Festschrift Steiner, 2009, S. 240 ff. 76 BT-Drs. 16/4841, 33. 77 BVerfGE 116, 164 (189 ff.). 78 Hierzu etwa Pia Dorfmueller, Die Errichtung von internationalen Holdingstrukturen durch deutsche Konzerne, IStR 2009, S. 826 ff. 79 Vgl. dazu Otto H. Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung6, 2007, S. 690 f., 915 ff.

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gegen für eine Finanzierung über ein Gesellschafterdarlehen, fließt der Gewinn der Tochter in Gestalt von Zinsen in das Niedrigsteuerland ab (§ 4 Abs. 4 EStG). Der systemkonforme Weg, derartigen Gewinnverlagerungsstrategien zu begegnen, wäre es, die Muttergesellschaft als Darlehensgeber in Deutschland zu besteuern80. Diese Option haben sich Deutschland, aber auch andere Hochsteuerländer indes verbaut. So ist Deutschland nach den geltenden Doppelbesteuerungsabkommen der steuerliche Zugriff auf die Zinserträge der ausländischen Konzernmutter weitgehend verwehrt81. Über eine derartige Beschränkung könnte man sich gegebenenfalls noch durch Bruch der Doppelbesteuerungsabkommen im Wege eines sogenannten treaty override hinwegsetzen82. Neben den Doppelbesteuerungsabkommen steht einer Besteuerung aber auch noch Art. 1 der Europäischen Zins- und Linzenzgebührenrichtlinie entgegen83, über deren Einhaltung der EuGH wacht. Da Hochsteuerländern somit keine Möglichkeit offen steht, auf im Inland erwirtschaftete, aber ins Ausland verlagerte Gewinne auf Ebene der Konzernmutter zurückzugreifen, sehen sich diese vielfach zu einer übermäßigen steuerlichen Belastung der Tochtergesellschaft gezwungen. Ein Beispiel hierfür ist die sogenannte Zinsschranke (§§ 4 h EStG, 8a KStG n.F.), die ebenfalls auf die Unternehmensteuerreform 2008 zurückgeht84. Die Zinsschranke verwehrt es den Steuerpflichtigen, denjenigen Zinsaufwand zum Abzug zu bringen, der ein Drittel des zins- und abschreibungsbereinigten Ertrags des Unternehmens übersteigt. Sofern die Zinsschranke eingreift, ist damit eine Besteuerung der von der deutschen Tochter erwirtschaften Erträge sichergestellt, obwohl deren handelsbilanzrechtlicher Gewinn durch die Abführung der Zinsen eigentlich geschmälert ist. Damit missachtet der Gesetzgeber offensichtlich das objektive Netto- und das ihm zugrunde liegende Leistungsfähigkeitsprinzip, kann so aber eine Besteuerung der in Deutschland erwirtschafteten Erträge sicherstellen. Abgemildert wird der Verstoß indes durch das Recht, in einem Wirtschaftsjahr nicht abzugsfähigen Zinsaufwand vorzutragen (§ 4 h Abs. 1 Satz 5 EStG). 80 Vgl. dazu Christoph Spengel/Martin Golücke, Gesellschafter-Fremdfinanzierung: Implikationen der EG-Rechtswidrigkeit von § 8 a KStG für die Praxis und den Gesetzgeber, RIW 2003, S. 333 (347). 81 Diese orientieren sich insoweit am Vorbild des Zinsartikels des Art. 11 OECD-MA. 82 Vgl. zur Problematik nur Andreas Musil, Deutsches Treaty overriding und seine Vereinbarkeit mit europäischem Gemeinschaftsrecht, 2000, S. 21 ff.; siehe auch Klaus Vogel, Völkerrechtliche Verträge und innerstaatliche Gesetzgebung, IStR 2005, S. 29. 83 RL 2003/49/EG vom 3. 6. 2003 über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten; dazu etwa Rainer Wernsmann, Steuerrecht, in: Schulze/u. a. (Hg.), Europarecht, 2010, § 30 Rn. 70 ff.; Adrian Cloer/Nina Lavrelashvili, Einführung in das Europäische Steuerrecht, 2008, S. 102 ff. 84 Vgl. dazu nur Andreas Musil/Björn Volmering, Systematische, verfassungsrechtliche und europarechtliche Probleme der Zinsschranke, DB 2008, S. 12 ff.; zur europarechtlichen Problematik siehe auch Ralf P. Schenke/Martin Mohr, Auswirkungen des europäischen Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Steuerrecht, DStZ 2009, S. 439 (444 ff.).

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Dass die Zinsschranke an der Durchbrechung des Leistungsfähigkeitsprinzips in Karlsruhe scheitern wird, ist indes – entgegen einer im steuerrechtlichen Schrifttum vielfach vertretenen Ansicht85 – kaum zu erwarten. Ein Besteuerungssystem, dem es nicht mehr gelingt, die auf seinem Territorium erwirtschafteten Erträge zu besteuern, führt sich letztlich selbst ad absurdum. Ein Weg, diese Erkenntnis in die Steuerrechtsdogmatik einzuschleusen, führt über die Einordnung der Zinsschranke als grob typisierende Missbrauchsnorm oder als Lenkungsnorm, weil § 4 h EStG dem steuerrechtlichen Anreiz entgegenwirkt, Disparitäten zwischen verschiedenen Steuerrechtsordnungen auszunutzen86. Theoretisch denkbar erscheint es aber auch, in der Steuerrechtfertigung stärker auf äquivalenztheoretische Ansätze abzustellen, wie dies auch in der Gesetzesbegründung anklingt87 und z. T. auch in der Finanzwissenschaft empfohlen wird88. Danach ist eine Durchbrechung des Leistungsfähigkeitsprinzips zu legitimieren, um steuerlichen Trittbrettfahrern entgegen zu treten, die zwar die Infrastruktur eines Landes ausnutzen, aber nicht bereit sind, sich an den damit verbundenen finanziellen Lasten zu beteiligen. V. Ausblick Die vorstehenden Überlegungen dürften eines deutlich gemacht haben: Das Ziel einer Besteuerung nach Maßgabe des Leistungsfähigkeitsprinzips ist unter den Bedingungen der Internationalisierung und Europäisierung der Steuerrechtsordnung noch einmal deutlich ambitionierter geworden. Wie soll der Steuerstaat aber mit den neuen Problemen umgehen, wenn er noch nicht einmal in der Lage ist, diejenigen zu lösen, die sich im geschlossenen Nationalstaat stellen? Das Leistungsfähigkeitsprinzip zu verabschieden, wäre ein zu hoher Preis. Auch wenn man über seine genaue Ausgestaltung trefflich streiten mag, ist der ihm zugrunde liegende Gedanke der gleichen Lastenverteilung und Opfergleichheit so tief im kollektiven Rechtsbewusstsein verwurzelt, dass an dem Ideal ungeachtet der Kritik, die z. T. von ökonomischer Seite erhoben wird89, weiterhin festzuhalten ist. Wer die Fahne des Leistungsfähigkeitsprinzips hochhalten will, muss aber bereit sein, dafür seinerseits nicht unerhebliche Opfer zu bringen. Systemkonforme Lösungen der angesprochenen Probleme lassen sich nämlich letztlich nicht mehr auf Ebene des Nationalstaates erreichen, sondern verlangen nach Konzepten, die zumindest auf 85 Zuletzt Sören Goebel/Katharina Eilinghoff, (Nicht-)Konformität der Zinsschranke mit dem Grundgesetz und Europarecht?, DStZ 2010, S. 550 (558 ff.). 86 Zu einem weiteren Ansatz instruktiv Arndt Schmehl, Nationales Steuerrecht im Internationalen Steuerwettbewerb, in: Schön/Beck (Hg.), 2009, S. 99 (115 ff.). 87 BT-Drs. 16/4841, 29. 88 Vgl. nur Jörg Märkt, Steuern als Preise. Zur Notwendigkeit einer Besteuerung ohne Trittbrettfahrer angesichts des Steuerwettbewerbs, 2003. 89 Exemplarisch Clemens Fuest, Steuerpolitik und Arbeitslosigkeit, 2000, S. 5 ff.

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der europäischen, wenn nicht gar auf der Ebene der völkerrechtlichen Kooperation angesiedelt sind. Ein durchaus vielversprechender Ansatz, schädlichen Gewinnverlagerungen zu begegnen, ist beispielsweise das von der Europäischen Kommission seit einigen Jahren vorangetriebene Projekt einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage90. Der Gewinn grenzüberschreitender Konzerne soll demnach nicht mehr nach Maßgabe nationaler Rechnungslegungsstandards, sondern einheitlich nach einem europäischen Bilanzsteuerrecht bemessen werden, das sich am Vorbild der IAS-/IFRS orientiert. Der so ermittelte Konzerngewinn würde dann nach einem EU-einheitlichen Schlüssel auf die an der Gewinnentstehung beteiligten Mitgliedstaaten aufgeteilt und mit dem jeweiligen nationalen Steuersatz versteuert. Gewinnverlagerungsstrategien, unter denen gegenwärtig die Steuerrechtsordnungen der Hochsteuerländer zu leiden haben, wäre damit weitgehend der Boden entzogen. Dafür müssten die Mitgliedstaaten aber deutliche Abstriche bei ihrer steuerpolitischen Souveränität in Kauf nehmen. Diese Option ist nach der Lissabon-Entscheidung des BVerfG freilich in die Ferne gerückt. Als eine besonders sensible und für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Gemeinwesens relevante Materie hat der 2. Senat bekanntlich auch die fiskalischen Grundentscheidungen über die Einnahmen identifiziert91. Damit wird die Verwirklichung des Leistungsfähigkeitsprinzips auf unabsehbare Zeit ein frommer Wunsch bleiben, der zwar für politische Sonntagsreden taugt, der mit der steuerpolitischen Wirklichkeit aber immer weniger zu tun hat. Um die Zukunft des Leistungsfähigkeitsprinzips ist es demnach schlecht bestellt. Mit spektakulären Entscheidungen wie der zur Pendlerpauschale92 oder jüngst zur Abzugsfähigkeit des häuslichen Arbeitszimmers93 wird das Leistungsfähigkeitsprinzip zwar vordergründig gestärkt, die wirklichen Probleme müssen indes nicht in Berlin und Karlsruhe, sondern in Brüssel gelöst werden.

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Vgl. etwa das Strategiepapier KOM (2001) 582 vom 23. 10. 2001; zum Stand des Projektes siehe nur http://ec.europa.eu/taxation_customs/taxation/company_tax/common_tax _base/index_de.htm. 91 BVerfGE 123, 267 (359, 361). 92 Vgl. BVerfGE 122, 210 ff. 93 BVerfG NJW 2010, S. 2643 ff.

Der Kohärenzgedanke in den EU-Verträgen: Rechtssatz, Programmsatz oder Beschwörungsformel? Von Eberhard Schmidt-Aßmann, Heidelberg Wo Einheit fehlt, wird Zusammenhalt wichtig. Es verwundert daher nicht, dass die EU-Verträge von einer ganzen Reihe von Kohärenzklauseln durchzogen werden und der Europäische Gerichtshof mit weiteren Kohärenzanforderungen aufwartet. Mag der Begriff der Kohärenz nicht in allen Einzelpunkten definitorisch exakt festliegen, und mögen die Einzelvorschriften unterschiedliche Kohärenzdimensionen ansprechen, so ist die Grundlinie doch deutlich: Stets geht es um Verklammerung, um Zusammenhang und Zusammenhalt. Das sind Kernthemen eines Staaten- und Verfassungsverbundes, der zu staatlicher Einheit bisher nicht gefunden hat und auch künftig kaum dazu finden wird. Da erscheint der Kohärenzgedanke „als entscheidende Integrationsdimension der Europäischen Union“.1 Haben wir es mit einem jener „nicht-staatszentrierten Begriffe“ zu tun, die zu entwickeln Rainer Wahl immer wieder anmahnt? „Mit dem Denken in Verflechtung, wechselseitiger Abhängigkeit und vor allem in horizontaler Koordinierung statt hierarchischer Vorordnung ergeben sich dann Probleme und Sachthemen, die ihre Begriffe und Konzepte erst noch suchen müssen und nur zum Teil schon gefunden haben.“2 Dafür spricht einiges. Kohärenzklauseln erscheinen dann als flexible Mechanismen, Ergebnisse ebenso wie Verfahren umgreifend, mit Annäherungen arbeitend, eher ein Kontinuum als strikte Zäsuren anzeigend. Doch das ist nur die eine Seite. Wenn es nicht bei der Beschreibung politischer Funktionsweisen bleiben, sondern um den Rechtsgehalt von Kohärenzklauseln gehen soll, zeigen sich zugleich Schwachstellen und Gefahren solcher Flexibilitäten. Sie liegen in den weit gespannten Dimensionen, in die hinein der Kohärenzgedanke in zahlreichen Vertragsklauseln entfaltet wird, und in dem ungeklärten Verhältnis zu Nachbarbegriffen wie Konsistenz, Konvergenz, Kooperation, Koordination, Kontinuität und Solidarität, die die EU-Verträge oft in einen engen textlichen Zusammenhang mit der Kohärenz rücken. Jedenfalls vermag die sympathische Kohärenzidee ein 1 So Matthias Pechstein, Das Kohärenzgebot als entscheidende Integrationsdimension der Europäischen Union, EuR 1995, S. 247 ff. 2 Rainer Wahl, Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, in: Horst Dreier (Hrsg.), Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit, Symposion für Hasso Hofmann zum 70. Geburtstag, 2005, S. 113 (148).

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hohes Maß an Argumentationspotential freizusetzen, das, wenn es normativ überzogen genutzt wird, zu erheblichen Kompetenzzugriffen führen kann, wie sie zum Konzept einer nur rahmengebenden Ordnung nicht passen wollen. Die folgenden Untersuchungen stellen zunächst die wichtigsten Kohärenzklauseln in den Texten der EU-Verträge vor (I), gehen dann gesondert auf die Kohärenz des Unionsrechts ein (II), um abschließend einige allgemeine Linien zum Umgang mit dem Kohärenzgedanken aufzuzeigen (III).

I. Ausformungen des Kohärenzgedankens in den Vertragstexten Die Konjunktur der Kohärenzklauseln begann, als die europäische Integration sich anschickte, über die drei Wirtschaftsgemeinschaften hinauszuwachsen und sich auf eine politische Union zuzubewegen. Hatte der EWG-Vertrag noch von der Förderung engerer Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten gesprochen, so wurde mit dem Vertrag von Maastricht der Zusammenhalt zum prägenden Begriff.3 1. Vorläuferregelungen seit dem Vertrag von Maastricht Die Vorläuferregelungen, im Wesentlichen durch den Vertrag von Maastricht 1992 eingeführt und hier in ihrer jüngsten, dem Reformvertrag von Lissabon unmittelbar vorausgehenden Fassung referiert, wiesen dem Kohärenzgedanken einen herausgehobenen Platz in den Artikeln 1 und 3 zu. Nach Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV a.F. sollte es Aufgabe der Union sein, „die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen ihren Völkern kohärent und solidarisch zu gestalten“. In Art. 3 Abs. 1 EUV a.F. hieß es, die Union verfüge über einen „einheitlichen institutionellen Rahmen“, der die Kohärenz und Kontinuität der Maßnahmen zur Erreichung ihrer Ziele sicherstelle, und im folgenden Absatz 2 wurde die Union „insbesondere auf die Kohärenz aller von ihr ergriffenen außenpolitischen Maßnahmen im Rahmen ihrer Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik“ festgelegt.4 Die Literatur unterschied zwischen einer den Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten betreffenden inneren, einer das Verhältnis der EU zu Drittstaaten betreffenden äußeren und einer auf den Zusammenhalt von Maßnahmen abhebenden inhaltlichen Kohärenz, der sogenannten Maßnahmenkohärenz.5 Die Zuordnung dieser Begriffe zu den zitierten Bestimmungen im Einzelnen war umstritten. Teile des Schrifttums sahen in Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUV a.F. nur die innere Kohärenz geregelt, 3 Vgl. Armin von Bogdandy, Grundprinzipien, in: ders./Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 13 (69). 4 Für die Außenpolitik traten ergänzend die Kooperations- und Rücksichtnahmepflichten der Mitgliedstaaten gem. Art. 11 Abs. 2 EUV a.F. hinzu. 5 So mit weiteren Nachweisen Kirsten Siems, Das Kohärenzgebot in der Europäischen Union und seine Justiziabilität, 1999, S. 22 ff.

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während andere diese Bestimmung als Ausdruck eines allgemeinen Kohärenzprinzips betrachteten, das dann in Art. 3 EUVa.F. und in weiteren Bestimmungen der Verträge partiell aufgenommen und jeweils spezifisch weiter entfaltet worden sei.6 Besonders glücklich war die Wortwahl ohnehin nicht; denn die innere und die äußere Kohärenz lagen – anders als ihr Auftreten als Gegensatzpaar vorgibt – mitnichten auf derselben Ebene, sondern bezeichneten sehr unterschiedliche Kohärenzvorstellungen; im Grunde war die äußere Kohärenz ein Unterfall der Maßnahmenkohärenz. a) Die prominent in Art. 1 EUV a.F. angesprochene Aufgabe der Union, die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und zwischen ihren Völkern „kohärent und solidarisch“ zu gestalten, mochte als Antwort auf das Zentralthema der Union erscheinen, den Zusammenhalt zwischen Staaten zu gewährleisten, die nach dem Maastrichter Vertrag einerseits nicht mehr souveräne Nationalstaaten geblieben, sondern „Mitgliedstaaten“ geworden waren, andererseits aber doch auch wieder als „die hohen Vertragsparteien“ anzusehen waren, die die Union auf vertraglicher Grundlage errichtet hatten, wie es die einleitende Bestimmung des Art. 1 Abs. 1 EUV a.F. klarstellte.7 Wozu und auf welche Weise eine solche weitausgreifende Kohärenzvorstellung die Union anhielte, blieb undeutlich. Immerhin anerkannt war, dass damit keine „Verpflichtung zum Ausgleich zwischen den ,ökonomischen und sozialen Ungleichheiten in den Entwicklungsständen der einzelnen Mitgliedsstaaten oder gar ein zentralisierender Kompetenzmaßstab“ gemeint sei.8 Eine solche Ausgleichsaufgabe wurde vielmehr dem Tatbestandsmerkmal der „solidarischen“ Politikgestaltung zugewiesen, das in Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUVa.F. ebenfalls angesprochen und in den Regelungen der Strukturfonds (Art. 158 ff. EGVa.F.) mit sehr konkreten Handlungsbefugnissen ausgestattet war.9 Die Kohärenz des Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUV a.F. konnte nach alledem nur einen sehr weit verstandenen allgemeinen Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten, eine Art föderativer Kohärenz, meinen. Nicht einheitlich beantwortet wurde die Frage, welchen rechtlichen Bindungsgehalt die Kohärenzregelung des Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUV a.F. besitzen sollte. Nicht selten wurde zwar von einem „Kohärenzprinzip“ gesprochen,10 ohne dass damit aber erkennbar an die rechtstheoretische Unterscheidung von Regeln und Prinzipien 6

So Cordula Stumpf, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 1 EUV Rn. 45; Christian Calliess, in: ders./Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 3. Aufl. 2007, Art. 1 EUV Rn. 54. 7 Zur Unterscheidung von Nationalstaaten und Mitgliedstaaten vgl. Rainer Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzen fünf Jahrzehnte, 2006, S. 94 ff. 8 Meinhard Hilf/Eckhardt Pache, in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union (Stand Juni 2006), Art. 3 EUV Rn. 10. 9 Calliess (Fn. 6), Art. 1 EUV Rn. 56:”Der Inhalt der sog. inneren Kohärenz, die Kohäsion nach Art. 158 ff. EGV, stellt sich bei genauer Betrachtung als eine Ausprägung des Solidaritätsprinzips dar“. 10 So z. B. Calliess (Fn. 6), Art. 1 EUV Rn. 54; Matthias Pechstein, in: Rudolf Streinz (Hrsg.) EUV/EGV-Kommentar, 2. Aufl. 2003, Art. 1 EUV Rn. 40.

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hätte angeknüpft werden sollen. Offen blieb bei dieser Aussage ebenso, ob mit der Bezeichnung als Prinzip der in Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUV a.F. angesprochenen Kohärenz dieselbe Normqualität wie den ausdrücklich als Prinzipien („Grundsätze“) bezeichneten Verfassungsprinzipien des Art. 6 Abs. 1 EUV a.F. zuerkannt werden sollte.11 Ungeachtet dieser Unsicherheiten bei der Verwendung des Prinzipienbegriffs wurde Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUV a.F. von den meisten Kommentatoren als eine verbindliche, von allen Adressaten zu beachtende Rechtsnorm angesehen, die allerdings wegen der nur sehr begrenzten Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs in diesem Teil des Unionsvertrages gemäß Art. 46 EUV a.F. nicht justiziabel sei.12 Eine genauere Analyse der rechtlichen Substanz des Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUVa.F. zeigte jedoch, dass hier nur eine allgemeine politische Aufgabe von größter Weite in Bezug genommen war („Kohärenz zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen ihren Völkern“), die mangels jeglicher Konkretisierung elementaren Bestimmtheitsanforderungen eines Rechtssatzes nicht entsprach. Der Vorschrift konnte daher recht betrachtet nur programmatischer Charakter zugesprochen werden, unbestreitbar wichtig zwar, aber ohne dass eigenständige rechtliche Konsequenzen aus ihr hätten gezogen werden können.13 Eine solche Einstufung schien zwar nicht ganz zu dem in Rechtsprechung und Literatur spürbaren Bemühen zu passen, allen Vertragsbestimmungen wenigstens ein Minimum an Rechtsgehalt zuzuerkennen.14 Gegenüber solchen pauschalen Einstufungen ist jedoch Vorsicht angezeigt. Angesichts eines überbordenden Angebots an Begriffen, Erwägungen und Perspektiven, das gerade das Primärrecht der EU kennzeichnet, muss der normative Gehalt jeder einzelnen Vorschrift detailliert untersucht werden, wenn nicht alles mit allem gegenseitig argumentativ aufgeladen werden soll. Andernfalls werden die Begründungszusammenhänge zu Lasten der Verlässlichkeit der eigentlichen Rechtsaussagen beliebig. Der Kohärenzgedanke war in Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUV a.F. erheblich unbestimmter als etwa die Ziele des Art. 2 oder die Grundsätze des Art. 6 EUV a.F. gefasst. Hier wären, um einen eigenen normativen Gehalt zu begründen, nähere Dimensionsangaben schon notwendig gewesen, wenn man von einem (wenn auch reduzierten) rechtlichen Bin-

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Zur geringen Eignung dieser Unterscheidung für die Analyse des Regelungsgehalts von Bestimmungen der Unionsverträge vgl. v. Bogdandy (Fn. 3), S. 34. 12 So z. B. Stumpf (Fn. 6), Art. 1 EUV Rn. 48. 13 Ebenso Pechstein (Fn. 10), Art. 1 EUV Rn. 40: „aufgrund seiner Unbestimmtheit vorwiegend appellative Bedeutung“. 14 Vgl. nur Thomas Oppermann/ Claus Dieter Classen/ Martin Nettesheim, Europarecht, 4. Auflage 2009, § 10 Rn. 26: betr.“Grundsätze“. Ähnlich für die von ihm sogenannten Verfassungsziele Peter-Christian Müller-Graff, in: Manfred A. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EUWirtschaftsrechts (Stand 2010) A. I. Rn. 176 ff.; inwieweit Müller-Graff dabei auch schon Art. 1 Abs. 3 EUV a.F. Zielcharakter beimessen will, ist Rn. 173 nicht ganz sicher zu entnehmen. Das häufig in Bezug genommene Urteil EuGH Rs. 43/75 Slg. 1976, S. 455 Rn. 28 f. beschäftigt sich nur mit dem Begriff des „Grundsatzes“ in einer ganz bestimmten Vertragsvorschrift; eine pauschale Anerkennung aller Vertragsvorschriften als Normen mit rechtlichem Bindungsgehalt lässt sich ihm nicht entnehmen.

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dungsgehalt hätte ausgehen sollen. Da es daran fehlte, formulierte Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUV a.F. nur eine Direktive an die Unionspolitik. b) Anderes galt für die zweite Kohärenzdimension, die schon im alten Unionsvertrag angesprochen war, die Kohärenz von Politiken und Maßnahmen. Sie war in einigen Spezialklauseln, z. B. Art. 11 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 13 Abs. 3 UAbs. 3, und allgemein in dem schon genannten Art. 3 EUVa.F. geregelt.15 Wer Verpflichteter dieser Gebote der Maßnahmenkohärenz im Einzelnen war, musste angesichts der „Säulenstruktur“ der alten Union jeweils gesondert ermittelt werden. Klar aber war, dass jedenfalls die Mitgliedstaaten von diesen Klauseln nicht erfasst wurden. Die Prüfung mitgliedstaatlicher Maßnahmen auf ihre Kohärenz im mitgliedstaatlichen Rahmen, die heute als ein Element der gerichtlichen Kontrolle der Einschränkung von Grundfreiheiten fungiert und dort einen Unterpunkt der Geeignetheitsprüfung darstellt,16 hat mit den genannten Kohärenzklauseln des EUV a.F. nichts zu tun. Diesen Klauseln ließen sich immerhin – anders als Art. 1 Abs. 3 EUV a.F. – vor allem in prozeduraler Hinsicht konkretere Aufgaben und Verantwortlichkeiten entnehmen.17 Die eingeschränkte Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofes relativierte die praktische Bedeutung des Rechtsgehalts zwar,18 ließ diesen aber nicht als solchen entfallen. Rechtlich in Pflicht genommen wurden vor allem die politischen Instanzen, Rat und Kommission. Das dürfte mit dem hier oft anzutreffenden Topos der Kohärenz als eines „Handlungs- und Rechtsgestaltungsprinzips“ der Union gemeint gewesen sein.19 2. Neuregelungen im Vertrag von Lissabon Der Reformvertrag von Lissabon hat die Koordinaten des Kohärenzgedankens in den einzelnen Vertragsklauseln weiter ausdifferenziert, aber auch nicht unerheblich verschoben. Seinen textlich herausgehobenen Platz in Art. 1 EUV hat der Kohärenzgedanke jedenfalls verloren. Auf den Programmsatz der früheren Fassungen konnte verzichtet werden. Die Aufgabe, die Beziehungen „zwischen den Mitgliedstaaten 15

Nachweise z. B. bei Pechstein (Fn. 10), Art. 3 EUV Rn. 1. Besonders deutlich herausgearbeitet in EuGH (Gambelli), Slg. 2003, I-13031 Rn. 67, jüngst EuGH verb. Rs. C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07 vom 8. 09. 2010, angelegt bereits in den älteren Urteilen Schindler, Slg. 1994, I-1039; Läära, Slg. 1999, I6067 und Zenatti, Slg. 1999, I-7289 Rn. 37. Ausführliche Untersuchung bei Gjermund Mathisen, Consistency and Coherence as Conditions for Member States Measures restricting Free Movement, CMLR 47 (2010), S. 1021. 17 So auch Pechstein (Fn. 10), Art. 3 EUV Rn. 15. 18 Hermann-Josef Blanke, in: Calliess/Ruffert (Fn. 6), Art. 3 EUV Rn. 6; Hilf/Pache (Fn. 8), Art. 3 EUV Rn. 9. Zu einigen trotz des Art. 46 EUV a.F. denkbaren Möglichkeiten indirekter Gerichtskontrolle Pechstein (Fn. 10), Art. 3 EUV Rn. 16. 19 Z.B. bei Hilf/Pache (Fn. 8), Art. 3 EUV Rn. 9 unter Bezugnahme auf Georg Ress, Die Europäische Union und die neue juristische Qualität der Beziehungen zu den Europäischen Gemeinschaften, JuS 1992, S. 985 (987). 16

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sowie zwischen ihren Völkern kohärent und solidarisch zu gestalten“, zu der der alte Unionsvertrag die Union schon in der Einleitungsbestimmung anhielt, erscheint heute einerseits selbstverständlicher und politisch mit dem Integrationsgedanken vorgegeben, andererseits aber auch voraussetzungsvoller, insofern sie von einer entsprechenden Ausstattung mit Kompetenzen und Sachmitteln abhängt. Das Pathos der Gründungsphase hat der Nüchternheit konkreter rechtlicher Analyse zu weichen. Kohärenz ist bald Ziel, bald Mittel konkreter Aktionen, die an bestimmte rechtliche Rahmenbedingungen gebunden und inhaltlich regelmäßig Ergebnisse von Abwägungsprozessen sind. Freilich bereitet die exakte Erfassung nach wie vor Schwierigkeiten.20 Das Verhältnis der Begriffe zueinander ist oft ebenso unsicher wie ihr inhaltlicher Bezug auf einen bestimmten Regelungsgegenstand: Mit gebotener Vorsicht lassen sich die folgenden vier Kohärenzdimensionen ausmachen.21 a) Kohärenz als Sachziel: Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten Eine erste Dimension erschließt Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 EUV. Er reiht die Kohärenz in den Zielkatalog der Union ein und nennt die zugeordneten Regelungsaufgaben: „Sie [die Union] fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“. Die Felder einer Politik der Kohärenz sind damit textlich genauer bestimmt als in Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUV a.F. Wie in der damaligen Auslegung, so wird auch heute in der Sache auf die konkreten Vorschriften der Kohäsionspolitik verwiesen.22 Nicht mehr genannt ist dagegen die Aufgabe, die Kohärenz auch „zwischen den Völkern“ der Mitgliedstaaten zu fördern; zu welchen Maßnahmen hätte eine solche Formulierung die Union auch anhalten sollen, zur Förderung möglichst einheitlicher Sozialsysteme, Arbeitsmarktpolitiken, Löhne? Das wäre ein viel zu weitreichender Kohärenzauftrag. Die gleich anschließende Klausel des Art. 3 Abs. 3 UAbs. 4 EUV n.F., die Union habe „den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt“ zu wahren, mahnt zur Zurückhaltung auch im Rahmen des Kohärenzgebotes des UAbs. 3. Sie zeigt nur zu deutlich, dass innerer Zusammenhalt nicht mit gesellschaftlicher Unitarisierung verwechselt werden darf. Als Sachziel des Art. 3 EUV n.F. un20

Neben der Kohärenz spielen gerade in den Ziel- und Grundsatzbestimmungen des EUV eine Rolle: „Solidarität“ (Art. 2, 3 Abs. 3 UAbs. 2, Abs. 5 EUV n.F.), „Kontinuität“ (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 1 EUV n.F.), „Koordination“ (Art. 16 Abs. 1 Satz. 2, 17 Abs. 1 Satz 3) und „Konvergenz“ (Art. 24 Abs. 2 EUV n.F.). 21 Zum Folgenden vgl. vor allem Matthias Ruffert, Kohärente Europäisierung: Anforderungen an Verfassungs- und Verwaltungsverbund, in: Wolfgang Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft, 2010, S. 1397 (1399 ff.); ders., in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar i.E. 2011, Art. 7 AEUV Rn. 1 ff. 22 Ruffert (Fn. 21), Art. 7 AEUV Rn. 8: „Dieser Problemkomplex wird allein durch die Kohäsionspolitik und Strukturförderung verwirklicht (Art. 174 ff.).“

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terliegt die Kohärenz den Regeln, die bei der Verfolgung aller Ziele gelten: Sie ist in ihren Voraussetzungen mittel- und kompetenzgebunden (Art. 3 Abs. 6 EUV n.F.)23 und angesichts unvermeidbarer Zieldivergenzen in ihren Ergebnissen abwägungsabhängig.24 Dabei gilt: „Kohärenz ist kein Prinzip mit allgemeinem Vorrang, Divergenz mag gute Gründe haben“.25 b) Kohärenz als Qualitätsziel Seine zweite wichtige Ausprägung findet der Kohärenzgedanke heute in Art. 13 Abs. 1 Satz 1 EUV n.F.: “Die Union verfügt über einen institutionellen Rahmen, der den Zweck hat, ihren Werten Geltung zu verschaffen, ihre Ziele zu verfolgen, ihren Interessen, denen ihrer Bürgerinnen und Bürger und denen ihrer Mitgliedstaaten zu dienen, sowie die Kohärenz, Effizienz und Kontinuität ihrer Politik und ihrer Maßnahmen sicherzustellen“. Kohärenz ist hier ein Qualitätsziel. Die textliche Anleihe bei Art. 3 Abs. 1 EUVa.F. ist unübersehbar. Der „institutionelle Rahmen“ erinnert an das besondere Problem der Politikverklammerung in einer ihrerseits intern ausdifferenzierten Union. Doch hat sich der Normzweck erheblich verändert. Die alte Fassung war der „Säulenstruktur“ der mit dem Vertrag von Maastricht gegründeten Union geschuldet. Das Kohärenzgebot war hier notwendig, um „eine Verzahnung supranational und völkerrechtlich strukturierter Politikbereiche“ sicherzustellen.26 Konsequent wurde die Einheitlichkeit des institutionellen Rahmens tatbestandlich besonders herausgestellt. Diese Aufgabe ist angesichts der Struktur der Union nach Lissabon entfallen. Der neue Text verzichtet daher bewusst darauf, die Einheitlichkeit des Rahmens besonders anzusprechen. Es ist nur noch vom „institutionellen“ Rahmen die Rede. Ihn in nuce festzulegen, erscheint als die Hauptaufgabe des Art. 13 EUV n.F. Zu diesem Zweck werden die diesen Rahmen bildenden Organe aufgelistet (Abs. 1 Satz 2) und die Maßstäbe ihres Handeln sowie der Grundsatz der Organtreue formuliert (Abs. 2 Satz 2). Vor diesem Hintergrund erscheint der dem organisationsrechtlichen Regelungsgehalt vorangestellte Satz 1 mit dem Traditionsgut des alten Art. 3 Abs. 1 EUV a.F. auf den ersten Blick eigentlich überflüssig; denn dass die Union den Zweck hat, ihren Werten Geltung zu verschaffen, ihre Ziele zu verfolgen pp., ist selbstverständlich und bedarf keiner besonderen Regelung. Die insoweit gleichlautende Regelung des Entwurfs eines Verfassungsvertrages wurde von Teilen der Literatur denn auch

23 Dazu sehr klar Rudolf Geiger, in: ders./Daniel-Erasmus Khan/Markus Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar, 2010, Art. 2 EUV Rn. 15: „Die Zuständigkeiten sind von den Zielen zu unterscheiden.“ 24 Ausf. zu Zielfunktionen und Zieldivergenzen Franz Reimer, Ziele und Zuständigkeiten. Die Funktionen der Unionszielbestimmungen, EuR 2003, S. 992 ff. 25 von Bogdandy (Fn. 3), S. 34. 26 Blanke (Fn. 6), Art. 3 EUV Rn. 1.

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als „Tautologie“ bezeichnet.27 Eine solche bedeutungsminimierende Auslegung ist jedoch nicht angezeigt. Art. 13 EUV n.F. nimmt vielmehr in durchaus eigenständiger Weise die schon aus dem EUV a.F. bekannten beiden Seiten unionaler Politikgestaltung, die inhaltlich-modale und die institutionell-organisatorische, wieder auf und betont ihre Zusammengehörigkeit. Zugleich erweitert er den Kreis der neben der Kohärenz zu berücksichtigenden Ziele um die der Effizienz und der Kontinuität, so dass von einer Trias der Qualitätsziele auszugehen ist. Effizienz hat hier zuallererst die Handlungsfähigkeit der Institutionen im Blick.28 Kontinuität soll Sprunghaftigkeit eindämmen und zur Orientierung an längerfristigen Entwicklungslinien verpflichten; ein Rechtsgrundsatz des Vertrauensschutzes ist damit allerdings nicht ausgedrückt. Die drei Ziele ergänzen sich. Sie können aber auch in Widerstreit treten. So setzt die Effizienz etwa einer Politik Grenzen, die sich fortgesetzt in Abstimmungsprozesse flüchten will, während Kohärenz und Kontinuität einem überstürzten „Durchentscheiden“ entgegenstehen. Insgesamt geht es um Qualitätsvorgaben für die Politik eines Mehrebenensystems. Mit guten Gründen kann man in Art. 13 EUV n.F. so „den Kristallisationskern des europäischen Gemeinwillens“ sehen.29 Das Sachziel der Kohärenz zwischen Mitgliedstaaten (Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 EUV n.F.) bleibt im Blick (vgl. dazu unter a), und die Politik-und Maßnahmenkohärenz (Art. 7 AEUV) wird vorbereitet (vgl. dazu unter c). Art. 13 EUV n.F. hat zwischen beiden eine Transformationsfunktion. c) Politik- und Maßnahmenkohärenz aa) Die Politik- und Maßnahmenkohärenz ist in allgemeiner Form in Art. 7 AEUV geregelt. Die Bestimmung steht am Anfang einer Reihe sog. Querschnittklauseln, die die Politiken der Union auf jeweils ein zu den üblichen Sektoren „querstehendes“ Ziel festlegen, z. B. die Bekämpfung von Diskriminierungen (Art. 10), den Umweltschutz (Art. 11), den Verbraucherschutz (Art. 12 AEUV). Sie überwölbt diese ihrerseits sachspezifischen Querschnittklauseln und bildet den Schlussstein zu ihnen. Art. 7 AEUV lautet: „Die Union achtet auf die Kohärenz zwischen ihrer Politik und ihren Maßnahmen in den verschiedenen Bereichen und trägt dabei unter Einhaltung des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung ihren Zielen in ihrer Gesamtheit Rechnung.“ Ansätze zu einer die Sektoren der Politik übergreifenden Verzahnung fanden sich bereits in Art. 30 Nr. 5 der Einheitlichen Europäischen Akte. Art. 7 AEUV stellt die Notwendigkeit der Verzahnung besonders heraus; denn diese ist ein Strukturproblem 27 So Volker Epping im Blick auf die gleichlautende Formulierung des Art. I-19 des Entwurfs eines Verfassungsvertrages, in: Christoph Vedder/Wolff Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Entwurf eines Verfassungsvertrages für die Europäische Union, 2007, Art. I-19 Rn. 6. 28 Calliess (Fn. 21), Art. 13 EUV Rn. 3. 29 So zu der entsprechenden Regelung im Entwurf des Verfassungsvertrages Christian Calliess, in: ders./Matthias Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union. Kommentar zu den Grundlagenbestimmungen (Teil I), 2006, Art. I-19 Rn. 2; ders., aaO. Rn. 3.

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der Union insgesamt. Gemeinwohl kann sich nur bilden, wenn das Spartendenken begrenzt wird. Die sektoralen Politiken und ihre Repräsentanten müssen aufeinander Rücksicht nehmen; sie müssen Verbindungen und Ausgleich in Fällen konträrer Ziele suchen. Leidet schon die Politik der Nationalstaaten unter „Fragmentierungen“, so ist diese Schwäche im politischen System der Union besonders ausgeprägt. Ihr soll Art. 7 AEUV als allgemeine Klausel der Maßnahmenkohärenz entgegenwirken. Kohärenz meint hier mehr als Widerspruchsfreiheit; sie meint konzeptionelle Stimmigkeit.30 Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die allerdings nur im Rahmen verfügbarer Kompetenzen erfüllt werden kann. Kompetenzbegründend wirkt das Kohärenzgebot in keinem Fall. Das stellt der gegenüber Art. 3 Abs. 1 EUV a.F. geänderte Text heute klar heraus.31 Diese Kompetenzgebundenheit ist auch keiner Abwägung zugänglich. Fehlende Unionskompetenzen können auch unter Berufung auf das Kohärenzgebot nicht „herbeigewogen“ werden.32 Die notwendigen Verklammerungen und Abstimmungen in der Praxis zu gewährleisten, ist primär eine Aufgabe der politischen Instanzen der Union, die durch Art. 7 AEUV aber nicht nur politisch, sondern auch rechtlich dazu angehalten werden. Jedenfalls grobe Verstöße gegen den Berücksichtigungs- und Abstimmungsauftrag dieser Vorschrift können Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen sein, wenn etwa eine Abstimmung mit anderen Politiken nicht einmal angestrebt oder ein Ausgleich offensichtlich verfehlt wird.33 Vor allem aber ist die Organisation der Unionsorgane der richtige Ort, um die geforderte Kohärenz sicher zu stellen (dazu unter d). bb) Neben der allgemeinen Regelung der Maßnahmenkohärenz kennen die Verträge eine Reihe spezieller Klauseln, die diesen Auftrag für bestimmte Politikbereiche noch einmal besonders herausstellen, u. U. neben den Unionsorganen auch noch weitere Verpflichtete einbeziehen. Tradition hat das vor allem für die Außenpolitik, die schon in Art. 3 Abs. 2 und 11 Abs. 2 EUV a.F. gesondert angesprochen worden war. Heute bestimmt Art. 21 Abs. 3 UAbs. 2 EUV n.F.: „Die Union achtet auf die Kohärenz zwischen den einzelnen Bereichen ihres auswärtigen Handelns sowie zwischen diesen und ihren übrigen Politikbereichen“. Korrespondierend legt Art. 24 Abs. 3 EUV n.F. für die Mitgliedstaaten Unterstützungs- und Kooperationspflichten fest; in UAbs. 2 Satz 2 heißt es außerdem: „Sie [die Mitgliedstaaten] enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit als kohärente Kraft in den internationalen Beziehungen schaden könnte“. Einiges spricht dafür, dass diese in Art. 21 und 24 EUV n.F. genannten Pflichten zu Kohärenz und Rücksichtnahme auch ohne ausdrückliche Regelung bereits aus der allgemeinen Maßnahmenkohärenz (Art. 7 AEUV) bzw. aus dem Grundsatz der loyalen Zusam30 So zur Vorläuferregelung des Art. 3 Abs. 1 EUV a.F. Stumpf (Fn. 6), Art. 3 EUV Rn. 7: „Zusammenhang der Unionsmaßnahmen zu einem stimmigen Gesamtkonzept“, ähnlich Blanke (Fn. 6), Art. 3 EUV Rn. 5. 31 Ruffert (Fn. 21), Art. 7 AEUV Rn. 6. 32 Verfehlt daher Martin Coen, in: Carl Otto Lenz/Klaus Dieter Borchardt (Hrsg.), EUVerträge. Kommentar nach dem Vertrag von Lissabon, 2010, Art. 7 AEUV Rn. 2. 33 Ruffert (Fn. 21), Art. 7 AEUV Rn. 5.

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menarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV n.F.) abgeleitet werden können. Die Vertragstexte sind hier von einem gewissen Formulierungsübermaß in Sachen Kohärenz gekennzeichnet, das eher die Funktion der speziellen Kohärenzklauseln als handlungsleitender Politikmaxime denn als Gegenstand systematischer Rechtsauslegung herausstellt. d) Organisationsrechtliche Kohärenzvorsorge Kohärentes Handeln setzt eine kohärenzfördernde Organisation voraus. Dieser Zusammenhang zwischen Aufgabe und Institution ist schon in Art. 13 EUV n.F. deutlich geworden.34 Man kann hier von einem Auftrag des Organisationsrechts zur Kohärenzvorsorge sprechen.35 Dieser Auftrag wird normativ in einigen weiteren Kohärenzklauseln ausgefüllt: Art. 16 Abs. 6 UAbs. 2 EUV n.F. macht es dem Rat in seiner Ausprägung als Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ zur Aufgabe, für die Kohärenz der Arbeiten des Rates in seinen verschiedenen Zusammensetzungen zu sorgen. Art. 17 Abs. 6 lit. b EUV n.F. weist dem Präsidenten der Kommission die Befugnis und die Aufgabe zu, über die interne Organisation der Kommission zu beschließen, um „die Kohärenz, die Effizienz und das Subsidiaritätsprinzip im Rahmen ihrer Tätigkeit sicher zu stellen“. Auch hier ist die Kohärenz der Außenpolitik ein besonderes Regelungsanliegen der Unionsverträge – freilich auch hier mit textlich nicht ganz abgestimmten Formulierungen: Nach Art. 18 Abs. 4 Satz 2 EUV n.F. sorgt der Hohe Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik für die Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union. Art. 26 Abs. 2 UAbs. 2 EUV n.F. nennt dagegen neben diesem auch den Rat als Instanz, die für ein einheitliches, kohärentes und wirksames Vorgehen Sorge zu tragen hat. II. Die besondere Rolle der „Kohärenz des Unionsrechts“ Deutlich andere Aufgaben hat der Kohärenzgedanke, wo er als „Kohärenz des Rechts“ auftritt. An zwei eher versteckten Stellen, in Art. 256 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV, bildet „die Einheit oder die Kohärenz des Unionsrechts“ den Regelungsgegenstand.36 In beiden Fällen geht es darum, den Europäischen Gerichtshof als letzte 34 Zu diesem Zusammenhang und zu den Grenzen seiner juristischen Erfassung allgemein Rainer Wahl, Privatorganisationsrecht als Steuerungsinstrument bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, in: Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997, S. 301 (309 ff.). 35 Zum Begriff der „Kohärenzvorsorge“ Wolfgang Hoffmann-Riem, Kohärenz der Anwendung europäischer und nationaler Grundrechte, EuGRZ 2002, S. 473 (474). 36 Außerdem sind „die Integrität und Kohärenz der Rechtsordnung der Union“ Determinanten, die bei Sonderregelungen für bestimmte außereuropäische Territorien der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen sind (Art. 349 Abs. 3 AEUV).

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Instanz einzuschalten, wenn die Rechtsprechungstätigkeit des Gerichts (erster Instanz) zur Wahrung des erforderlichen Zusammenhalts nicht genügt. Beide Vorschriften betreffen Ausnahmefälle; beide sind von weiteren Festlegungen in der Satzung des Europäischen Gerichtshofs abhängig.37 Im vorliegenden Zusammenhang sind weniger die prozessualen Anlässe als die hinter den beiden Kohärenzklauseln stehenden Vorstellungen wichtig. Kohärenzanforderungen werden hier nicht an einen beliebigen Politikbereich, sondern an das Recht als zentrales Integrationsmedium gestellt. Kohärenz wird in Art. 256 AEUV daher auch nicht vorrangig als ein anzustrebendes Ziel, sondern als schon vorhandener Zustand angesprochen, den es zu wahren, das heißt vor Gefährdungen zu schützen und gegebenenfalls mit den Methoden des Rechts weiter zu entwickeln gilt.38 Die damit umrissene Aufgabe kann in ihren Dimensionen nur richtig erfassen, wer die Europäisierung des Rechts – wie Rainer Wahl eindrucksvoll gezeigt hat – „als die miteinander verbundenen Entwicklungen von Rechtsordnungen als ganzen“ versteht:39 Der Vorrang des Unionsrechts und die durch ihn verlangten Rezeptionsvorgänge sind dabei nur die eine Seite. Sie werden ergänzt durch eine freiwillige Aufnahme unionsrechtlicher Regelungsmodelle in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, aber auch durch von unten nach oben verlaufende Vorgänge, die das Unionsrecht aus dem Lösungsarsenal der nationalen Rechte lernen lassen. Bedeutsam sind schließlich Rezeptionsvorgänge in der horizontalen Richtung zwischen Mitgliedstaaten. Wahl nutzt hier den in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften verwendeten Begriff der „Ko-Evolution“.40 Es ergibt sich das Bild wechselseitig ergänzungsbedürftiger Rechtsordnungen,41 die sich „in allem, was Recht ist“, d. h. auch in Methodenfragen und in ihren unterschiedlichen Vorstellungen von Dogmatik, Systematik und Richterrecht, begegnen.42 Als wechselseitig ergänzungsbedürftige Rechtsordnungen sind Unionsrecht und mitgliedstaatliches Recht zu gegenseitiger Rücksichtnahme angehalten.

37 Im ersten Falle geht es um Rechtsprechungstätigkeit in Bereichen, für die Fachgerichte eingerichtet sind (Art. 256 Abs. 2 AEUV); im zweiten Falle um die bisher nicht aktivierte Möglichkeit, Vorabentscheidungen nach Art. 267 AEUV in festgelegten Gebieten dem Gericht (erste Instanz) anzuvertrauen (Art. 256 Abs. 3 AEUV). 38 Zum Unterschied dieser Kohärenzforderung zu den Anforderungen der Maßnahmenkohärenz nach Art. 7 AEUV vgl. auch Ruffert, in: Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft (Fn. 21), S. 1400. 39 Rainer Wahl, Europäisierung: Die miteinander verbundenen Entwicklungen von Rechtsordnungen als ganzen, in: Hans-Heinrich Trute/Thomas Groß/Hans Christian Röhl/ Christoph Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, S. 868 ff. 40 AaO. S. 878. 41 AaO. S. 879. 42 AaO. S. 889 ff.

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1. Kohärenzanforderungen der Union an die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Um die Bedeutung des Kohärenzgedankens in diesem Zusammenhang genauer zu entfalten, empfiehlt es sich, dem Text des Art. 256 AEUVentsprechend,43 Einheit und Kohärenz begrifflich zu trennen, die Begriffe also nicht, wie es gelegentlich geschieht,44 synonym zu gebrauchen oder zu einem Einheitsbegriff zu verschmelzen. Mit beiden Begriffen werden Anforderungen elementarer Stimmigkeit bezeichnet – allerdings Anforderungen mit unterschiedlicher Blickrichtung und von unterschiedlicher Intensität. a) Unterschiede zwischen Einheit und Kohärenz des Unionsrecht Einheit meint dann die Widerspruchsfreiheit und innere Stimmigkeit des Unionsrechts als einer für sich bestehenden Rechtsordnung. Der Blick ist hier nach innen auf das Unionsrecht selbst gerichtet. Was Widerspruchsfreiheit insofern bedeutet und wie weit sie realistischerweise eingefordert werden darf, sind hier Fragen, wie sie die Allgemeine Rechtslehre vergleichbar für nationale Rechtsordnungen zu stellen pflegt:45 Einheit als Geschlossenheit, die von einer einheitlichen Rechtsetzungsinstanz geschaffen und durch einheitliche Derogationsregeln gesichert werden kann.46 Das Unionsrecht verfügt, für sich genommen, über beides – ein Rechtsetzungssystem (vgl. Art. 289 ff. AEUV) und eine Dogmatik der internen Normenhierarchie.47 Kohärenz erweitert die Perspektive und betrachtet die wechselseitigen Beziehungen zwischen Unionsrecht und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Die föderale Dimension der Kohärenz, im Blick auf eine Politik wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts in Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 EUV n.F. nur schwach ausgeprägt, wird hier erneut, jetzt im Blick auf das Recht, angesprochen. Auch hier ist freilich Vorsicht vor überzogenen Anforderungen geboten. Keineswegs darf Kohärenz „als nur technisches, auf möglichst weit gehende formale Homogenität gesetzter Regeln gerichtetes Ziel verstanden werden“.48 Wenn die Formel von der „Widerspruchsfreiheit“ schon beim Postulat der Rechtseinheit nicht in einem mathematisch stringenten Sinne interpretiert werden darf, dann muss bei der Kohärenz noch größere Zurückhaltung geübt werden. Kohärenz meint hier eine Abgestimmtheit, die neben der Sorge für den not43

Art. 256 AEUV spricht von „Einheit oder Kohärenz“ des Unionsrechts. Vgl. EuGH, Rs C-197/09 Rn. 60 ff.; auch Werner Miguel Kühn, Das Überprüfungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, ELR 2009, S. 355 ff. 45 Vgl. dazu mit weit. Nachw. Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 56. 46 Zu den drei Arten von Beziehungen zwischen Rechtsnormen als „Erzeugungszusammenhang“, „Derogationszusammenhang“ und „Inhaltszusammenhang“ vgl. Clemens Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 57 ff. 47 Dazu Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht (Fn. 14), § 10 Rn. 32 ff. 48 Hoffmann-Riem (Fn. 35), S. 474. 44

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wendigen Zusammenhalt auch die Eigenständigkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen anerkennt. Gleichlauf oder gar Konvergenz ist nicht gemeint. Der innere Zusammenhalt des europäischen Rechts, d. h. der aus Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht bestehenden Rechtsmasse, lässt sich nicht mit radikalen hierarchischen Derogationsregeln durchzusetzen; denn solche Regeln passen nicht zum Bild wechselseitig ergänzungsbedürftiger Rechtsordnungen. Vielmehr sind Verknüpfungen zu entwickeln, die Austausch ermöglichen und für Lernprozesse Raum lassen. Das ist ein kompliziertes und für die Rechtssicherheit nicht ungefährliches Unternehmen. „Das Postulat der Kohärenz gebietet, dass die Verknüpfungen und Vernetzungen sich nicht zu einem unentwirrbaren Knäuel verdichten, sondern dass Knotenpunkte und Netzstrukturen nachvollziehbar und durchsichtig bleiben – mag auch das Netz partielle Spannungen und punktuelle Verzerrungen im Gewebe aushalten müssen“.49 Diese aus den besonderen Gegebenheiten des europäischen Mehrebenensystems folgenden besonderen Anforderungen sind es, die Art. 256 AEUV mit dem Begriff der Kohärenz des Unionsrechts meint und der besonderen Fürsorge des Europäischen Gerichtshofs als letzter Instanz anvertraut. b) Erfordernis einer Kohärenzdogmatik Notwendig wird eine Kohärenzdogmatik, die die Verknüpfungen und Rückkoppelungen zwischen den Rechtsschichten in Rechtsregeln und Rechtsinstitute überführt. Wichtige Elemente sind bereits vorhanden, weitere gerade in der jüngeren Literatur entwickelt worden:50 Der Vorrang des Unionsrechts und die unionsrechtskonforme Auslegung gehören als Standardinstitute ebenso dazu wie die nationalen Identitätsvorbehalte und eine auf Ausnahmefälle begrenzte ultra vires-Kontrolle unionaler Rechtsakte durch nationale Verfassungsgerichte.51 Auch die Anerkennung von Einschätzungsspielräumen bei der Auslegung von Rechtsbegriffen52 und die Zuerkennung von Fehlertoleranzen der Rechtsprechung53 gehören hierher. Sie bilden die kollisionsrechtliche Basis. Doch darf die Kohärenzdogmatik nicht allein als Kollisionsrecht verstanden werden. Vielmehr muss es darum gehen, ihre Institute auch als Anreize zu gegenseitigem 49

Ruffert, in: Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft (Fn. 21), S. 1400 f. Ruffert, aaO.; Wahl, Europäisierung (Fn. 39), S. 879 ff.; Wolfgang Hoffmann-Riem, Kohärenzvorsorge hinsichtlich verfassungsrechtlicher Maßstäbe für die Verwaltung in Europa, in: Trute/Groß/Röhl/Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht (Fn. 39), S. 749 ff.; Thomas von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 141 ff. 51 BVerfGE 123, 267 (349 ff.) und BVerfG EuGRZ 2010, S. 497 (501 ff.). Michael Gerhardt, Europa als Rechtsgemeinschaft, ZRP 2010, S. 161 ff. 52 Insb. mit Blick auf die Art. 8 – 11 EMRK, vgl. etwa EGMR ZEV 2005, 162 (2. Leitsatz und Tz. 46); ausführlich Urska Prepeluh, Die Entwicklung der Margin of Appreciation-Doktrin im Hinblick auf die Pressefreiheit, ZaöRV 2001, S. 771 ff. 53 Dazu BVerfG EuGRZ 2010, S. 497 (503: „Zum andern hat der Gerichtshof Anspruch auf Fehlertoleranz“.). 50

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Lernen, zur Zusammenarbeit und zu gemeinsamer Fortentwicklung des Rechts insgesamt zu nutzen. Das lässt sich am Beispiel des europäischen Grundrechtsschutzes, an den Wirkungen der „Solange“-Rechtsprechung und am Konzept eines Kooperationsverhältnisses zwischen Europäischem Gerichtshof, Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte und Bundesverfassungsgericht aufzeigen.54 Auf der verwaltungsrechtlichen Seite der Kohärenzdogmatik können z. B. das Institut des transnationalen Verwaltungsaktes55 und die spezifische Bestandskraft von Entscheidungen in gestuften Verwaltungsverfahren als Bauformen angesehen werden.56 Die geforderte Kohärenzdogmatik verlangt es, die vorhandenen Rechtsregeln und Rechtsinstitute zueinander in Beziehung zu setzen. Auch hier kann Systemdenken – in diesem Punkte bin ich weniger pessimistisch als Rainer Wahl57 – einen nicht zu unterschätzenden Beitrag leisten.58 2. Speziell: Rechtsschutzkohärenz In intensivierter Form begegnet uns der Gedanke der Kohärenz des Unionsrechts in der vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Vorstellung einer Rechtschutzkohärenz. Auch sie lässt sich präziser in der Abgrenzung zu einem benachbarten Begriff, hier dem der Rechtsschutzeffektivität, bestimmen:59 Effektivität des Rechtsschutzes, ein aus dem Rechtsstaatsprinzip folgender allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts und heute in Art. 47 der EU-Grundrechtecharta positiv-rechtlich normiert, geht es um die rechtliche Verfügbarkeit und praktische Wirksamkeit der zur Rechtsverfolgung notwendigen Rechtsmittel. Auch Fragen zulässiger Lückenschließung zwischen prozessrechtlichen Instrumenten können sich hier stellen.60 54 Vgl. nur Wolfgang Hoffmann-Riem (Fn. 35); Andreas Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, S. 1 ff.; Thomas von Danwitz, Kooperation der Gerichtsbarkeiten in Europa, ZRP 2010, S. 143 ff. 55 Dazu mit weit. Nachw. Christian Bumke, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 2008, § 35 Rn. 119 ff. 56 EuGH Slg. 1994 I, S. 833 ff.; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht (Fn. 50), S. 642 f. Systematisch Ruffert, in: Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft (Fn. 21), S. 1408 ff.: Organisationskonzept des Verbundes, Prinzipien, Mechanismen. 57 Wahl, Europäisierung (Fn. 39), S. 894 f. 58 Wie hier positiv Ruffert, (Fn. 21), Art. 7 AEUV Rn. 11. Allgemein zum Wert systematischen Rechtsdenkens für das Europäische Verwaltungsrecht Wolfgang Kahl, Die Europäisierung des Verwaltungsrechts als Herausforderung an Systembildung und Kodifikationsidee, in: Peter Axer u. a. (Hrsg.), Das Europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase, in: Die Verwaltung Beiheft 10, 2010, S. 39 (43 ff.). 59 Friedrich Schoch, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen (Fn. 55), Bd. 3 2009, § 50 Rn. 26 ff.; Koen Lenaerts, The Rule of Law and the Coherence of the Judicial System of the European Union, CMLR 44 (2007), S. 1625 ff. 60 Dazu nur Christina Last, Garantie wirksamen Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der Europäischen Union, 2008; ferner Christoph-David Munding, Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz im Rechtssystem der Europäischen Union, 2010.

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Die Kohärenz des Rechtsschutzes bringt dagegen die föderative Komponente ins Spiel und reagiert damit auf Probleme, die sich aus dem dualistischen Rechtsschutzmodell der Unionsverträge ergeben.61 Rechtsschutzkohärenz zielt darauf, die beteiligten Institute des unionalen und des nationalen Prozessrechts so aufeinander abzustimmen, wie es den Vorstellungen der Unionsverträge von einem unionsweit wirksamen Rechtsdurchsetzungsrecht entspricht. Rechtsschutzeffektivität und Rechtsschutzkohärenz können je nach Fallkonstellation in ihren Zielen gleichgerichtet sein und einen weiteren Ausbau von Rechtsschutzmöglichkeiten (einschließlich sekundärer Kooperationspflichten zwischen den Gerichten) erfordern.62 Effektivitätsanforderungen können zu Kohärenzanforderungen aber auch in Widerstreit treten, so dass ein Ausgleich zu suchen ist, der auch mit Abstrichen an der Effektivität verbunden sein kann, wenn dieses notwendig ist, um die unionsweit einheitliche Geltung und gleichmäßige Anwendung des Rechts zu sichern. Eine für den Individualrechtsschutz förderliche, klare und für den Kläger einfache Rechtsschutzmöglichkeit ist danach also nicht notwendig auch das, was im Zeichen kohärenten Rechtsschutzes geboten ist. Ein Beispiel dafür bietet gleich die erste Entscheidung, in der die Rechtsschutzkohärenz ausdrücklich als Argumentationsfigur genutzt wurde, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache „Foto Frost“.63 „Die notwendige Kohärenz des vom Vertrag geschaffenen Rechtsschutzsystems“ zwinge dazu, so heißt es dort, dass alle und nicht nur die letztinstanzlich entscheidenden nationalen Gerichte, wenn sie einen Rechtsakt des EG-Rechts für ungültig hielten, den Weg des Vorabentscheidungsverfahrens zu beschreiten hätten. In dieselbe Rechtsprechungslinie wird die Rechtssache „Textilwerke Deggendorf“ gestellt, in der es ebenfalls um Einschränkungen von Kontrollmöglichkeiten nationaler Gerichte ging.64 In der Rechtssache „Zuckerfabrik Süderdithmarschen“ wiederum diente der Kohärenzgedanke dazu, nationalen Gerichten die Aussetzung des Vollzuges von EG-Recht im vorläufigen Rechtsschutz zu gestatten, das nationale Aussetzungsrecht dabei aber auf die für die Eigenverwaltung der Gemeinschaft geltenden Maßstäbe festzulegen.65 Das Prozessrecht wird hier zum Hebel, um den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen erhebliche Anpassungsleistungen abzuverlangen,66 die auch unter Kompetenzgesichtspunkten nicht unproblematisch erscheinen.67 Jedenfalls darf der Kohärenzgedanke nicht genutzt werden, Konvergenz zu erzwingen, wo es rechtlich an den Harmonisierungsvoraussetzungen fehlt. 61

Vgl. Christian Calliess, Kohärenz und Konvergenz beim europäischen Individualrechtsschutz, NJW 2002, S. 3577 ff. 62 Calliess (Fn. 61), bes. S. 3580. 63 EuGH Slg. 1987, S. 4199 Tz.19 ff. 64 So bei Lenaerts (Fn. 59), S. 1633 f.; EuGH Slg. 1994 I, S. 833 Tz. 12 ff., dort allerdings ohne ausdrückliche Nennung der Kohärenz. 65 EuGH Slg. 1991 I, S. 415 Tz. 18 ff. 66 Darstellung bei Schoch (Fn. 59), § 50 Rn. 34 ff. 67 Dezidiert Schoch (Fn. 59), § 50 Rn. 36: „De iure ist jene EuGH-Rechtsprechung kompetenzwidrig ergangen“.

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Die in Art. 291 Abs. 1 AEUV heute (auch) im Text der Verträge ausdrücklich anerkannte Autonomie der Mitgliedstaaten zur Gestaltung ihres Verfahrensrechts bei der Durchführung des Unionsrechts sollte Anlass sein, überzogene Kohärenzanforderungen zu revidieren. Das spricht dafür, Kohärenz nur als Zielvorgabe zu begreifen, die die Mittel der Zielerreichung offen lässt und Kompetenzgrenzen nicht überspielt.68 Notwendige Abstimmungen im Rechtsschutz sind dann dogmatisch nach der Doppelformel des Äquivalenz- und des Effektivitätsprinzips69 und nach den Vorgaben des Kooperationsprinzips gem. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 und Art. 4 Abs. 3 EUV n.F. vorzunehmen.70 III. Allgemeine Überlegungen Kohärenz hat in den Texten der EU-Verträge und in der Rechtsprechung sehr unterschiedliche Erscheinungsformen: Unterschiedlich sind ihre Adressaten, unterschiedlich die erfassten Gegenstände, unterschiedlich der Bindungsgehalt. Ein über den entsprechenden Klauseln schwebendes und über sie hinausgreifendes „allgemeines Kohärenzprinzip“ gibt es nicht. Die beiden wichtigsten Ausprägungen des Kohärenzgedankens sind die als Sachziel fungierende föderative Kohärenz und die Maßnahmenkohärenz; beide können als jeweils eigenständige, abwägungsoffene Rechtsprinzipien charakterisiert werden. Die Kohärenz des Unionsrechts als dritte Erscheinungsform nimmt Ansätze beider auf, ist aber beiden gegenüber ebenfalls eigenständig. Als Sachziel der Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts zwischen den Mitgliedstaaten steht die föderative Kohärenz im Schatten der „Solidarität“ und ist als Kohäsion durch die Kohäsionspolitik und Strukturförderung zu verwirklichen.71 Die weiter ausgreifende Kohärenzförderung zwischen den Völkern der Mitgliedstaaten, die im Vertrag von Maastricht enthalten war, ist im Vertrag von Lissabon entfallen. Kohärenz ist kein Titel, um aus der Union eine „Transferunion“ zu machen. Überhaupt ist der föderative Zusammenhalt zwischen der Union und den Mitgliedstaaten sowie der Mitgliedstaaten untereinander keine Dimension der vertragstextlichen Kohärenzklauseln. Sowohl Art. 13 EUV n.F. als auch Art. 7 AEUV betreffen allein die Aufgaben der Union und nehmen allein deren Organe in die Pflicht. Wo es darum geht, das Verhalten der Mitgliedstaaten zur Unionspolitik in Korrespondenz zu setzen, geschieht das in zusätzlichen Tatbeständen, die jedoch nicht von Kohärenz sprechen, sondern konkrete Unterstützungs-, Abstimmungs-, Rücksichtnahme- oder Nichtstörungspflichten festlegen. Im Übrigen bleibt es dem allgemeinen Pflichtentatbestand loyaler Zusammenarbeit in Art. 4 Abs. 3 EUV 68

Im gleichen Sinne Schoch (Fn. 59), § 50 Rn. 30. Dazu jetzt mit der gebotenen Rücksichtnahme auf die Eigenständigkeiten der nationalen Verfahrensrechte EuGH Urt. vom 8. 7. 2010, NJW 2010, S. 2713 ff. 70 Zum Verhältnis dieser Bestimmungen und zu Art. 291 Abs. 1 AEUV vgl. Wolfgang Kahl, (Fn. 21), Art. 4 Abs. 3 EUV Rn. 25 ff. 71 Ruffert (Fn. 21), Art. 7 AEUV Rn. 9. 69

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n.F. überlassen, den erforderlichen Zusammenhalt herzustellen. Die Vorstellung eines einheitlichen Kohärenzniveaus, dem die Mitgliedstaaten ebenso wie die Unionsorgane zu genügen hätten, ist den EU-Verträgen fremd. Das entspricht dem im Staaten- und Verfassungsverbund der Union angelegten Legitimationsgefälle und der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 1 EUV n.F. Die meisten Kohärenzklauseln der EU-Verträge sind Tatbestände der Maßnahmenkohärenz und richten sich an die Unionsorgane. Kohärenz wird hier als Qualitätsziel der Unionspolitik verstanden, dessen Erreichung regelmäßig auf Abwägungen angewiesen bleibt und den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung einzuhalten hat (Art. 7 AEUV). Die Vorschriften über die Verteilung der Verbandskompetenzen sind für alle Kohärenzforderungen der unüberschreitbare Rahmen. Eine Modifikation der Regeln über die Verteilung der Organkompetenzen erscheint dagegen nach Abwägungsgesichtspunkten nicht von vornherein ausgeschlossen. Die rechtliche Substanz der Klauseln ist angesichts der Weite der Politikfelder relativiert, aber nicht aufgehoben. Offensichtliche Verstöße gegen die Gebote der Maßnahmenkohärenz stellen Rechtsfehler dar, die im Rahmen unterschiedlicher Prozesskonstellationen auch von den Gerichten festzustellen sind. Ein Grundproblem aller Kohärenzklauseln bleibt die exakte Abgrenzung des Kohärenzbegriffs von „Nachbarbegriffen“, die sich oft in derselben Klausel finden und mit denen die Kohärenz auch im Schrifttum oft in einem Atemzug genannt wird. Nicht immer lässt sich ein eigenständiger Bedeutungsgehalt von Kohärenz ermitteln; oft handelt es sich erkennbar nur um unterschiedliche Akzentsetzungen. Je eher es (nur) um die Bedeutung der Kohärenz als Direktive der Politik geht, desto eher lassen sich solche Unsicherheiten tolerieren. Je stärker Kohärenzforderungen jedoch zu rechtlichen Konsequenzen veranlassen sollen, desto zurückhaltender muss man gegenüber begrifflichen Aufladungen bleiben: In der Grundlinie bezeichnet Kohärenz den Zusammenhalt unterschiedlicher Komponenten. Als Beschwörungsformel für ein Höchstmaß an Widerspruchsfreiheit oder ein Maximum an Verschmelzung und Einheitlichkeit taugt sie nicht.

Die Neuerungen auf dem Gebiet des Europäischen Verwaltungsrechts durch den Vertrag von Lissabon Von Jürgen Schwarze, Freiburg I. Einleitung Ziel dieses Beitrages ist es, einen Überblick über die Neuerungen zu liefern, die der Vertrag von Lissabon auf verwaltungsrechtlichem Gebiet erbracht hat. Dabei geht es weniger um die Darstellung aller technischen Einzelheiten auf diesem Felde als um eine systematische Analyse der wesentlichen Entwicklungsschritte. Immerhin bildet der Vertrag von Lissabon mit seinem endgültigen Inkrafttreten den Abschluss eines jahrelangen zähen Ringens um die Reform des Gemeinschaftswerks, das sich allerdings mehr als pragmatische Vertragsreform – die Anpassung an die deutlich größer gewordene Union – als ein machtpolitischer Quantensprung erweist. Mag deshalb bei der Suche nach den charakteristischen Merkmalen des Lissabonner Reformvertrags auch die Betrachtung der durch ihn geschaffenen institutionellen Ordnung und der möglichen Ausweitung der Politikfelder der Union im Vordergrund stehen, so sind auch die Regeln über den Vollzug des Unionsrechts einen Blick wert, entscheidet sich doch dort, wie es um die Durchsetzung eines möglichst einheitlichen Rechts als ein Grundpostulat der Europäischen Union bestellt ist. Neben dem Ertrag in der Sache liegt es bei einem zu Ehren von Rainer Wahl geschriebenen Beitrag auch persönlich nicht fern, die durch den Vertrag angestoßene jüngste Entwicklung des europäischen Verwaltungsrechts zum Gegenstand der Betrachtung zu machen, da die Beobachtung und Analyse der Europäisierung und Internationalisierung des deutschen öffentlichen Rechts zu einem der wesentlichen Forschungsfelder des Jubilars gehört.1 Im Rahmen dieses Beitrages werden neben allgemeinen Vorschriften des Europäischen Rechts, die vornehmlich das Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten regeln, auch solche Bestimmungen in die Analyse einbezogen, welche unmittelbar die Beziehung zum Bürger berühren. Hier gilt es zum einen die Grundrechtecharta, die durch den Vertrag von Lissabon rechtliche Verbindlichkeit erlangt hat, auf Bestimmungen verwaltungsrechtlichen Inhalts zu untersuchen. Zum anderen werden Neuerungen beim Rechtsschutz Privater gegen Verwaltungshandeln der Union dargestellt. 1 Besonders erwähnt sei in diesem Zusammenhang Rainer Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003.

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II. Systematischer Überblick über die Neuerungen 1. Allgemeine Vorschriften zum Verwaltungsrecht Der Vertrag von Lissabon enthält in systematischer Hinsicht keinen eigenständigen Abschnitt zu verwaltungsrechtlichen Regelungen. Entsprechende Vorschriften finden sich sowohl im Vertrag über die Europäische Union (EUV) als auch – schwerpunktmäßig – im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). a) Das Trennungs- und das Kooperationsprinzip als Strukturelemente des Europäischen Verwaltungsrechts In Bezug auf die traditionelle Struktur des europäischen Verwaltungsrechts hat der Vertrag von Lissabon keine nennenswerten Änderungen bewirkt. Die Neuerungen beschränken sich vielfach auf eine Kodifikation bislang ungeschriebener Prinzipien und Grundsätze.2 aa) Die Fortführung des traditionellen Trennungsprinzips Den Ausgangspunkt juristischer Bewertung bildet auch künftig die strukturelle Trennung zwischen direkter, durch die Behörden der Union selbst vorgenommener Verwaltung, und indirekter Verwaltung, die durch die nationalen Behörden erfolgt.3 Im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses wird das Unionsrecht in erster Linie durch die Mitgliedstaaten vollzogen. Direkte Verwaltungskompetenzen der Unionsorgane, insbesondere der Kommission, bestehen demgegenüber nur in speziellen Bereichen wie beispielsweise dem Wettbewerbsrecht.4 Wurde das Prinzip der Verwaltungsautonomie der Mitgliedstaaten bis zum Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags mit einem juristischen Umkehrschluss aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung begründet, ist dieses nun in Art. 291 Abs. 1 AEUV ausdrücklich verankert. Bekräftigt wird der Grundsatz der Verwaltungsautonomie der Mitgliedstaaten zudem durch Art. 197 Abs. 2 S. 4 AEUV, der im Bereich der Verwaltungszusammenarbeit jegliche Harmonisierung mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften verbietet.5 Das Prinzip der Verwaltungsautonomie hat keinen absoluten Charakter. Im Interesse eines Grundmaßes an einheitlichem Vollzug in allen Mitgliedstaaten wird die-

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Zu den allgemeinen Neuerungen im Unionsrecht durch den Vertrag von Lissabon Jürgen Schwarze, Zukunftsaussichten für das Europäische Öffentliche Recht, 2010, S. 108 ff. 3 Vgl. zur Unterscheidung von direktem und indirektem Vollzug Jürgen Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 2005, S. CI. 4 Vgl. Art. 103 ff. und 107 f. AEUV. 5 Zur Verwaltungszusammenarbeit nach Art. 197 AEUV siehe 1. bb).

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ses in der Rechtsprechung der Unionsgerichte in vielfältiger Weise durch das Äquivalenz- und das Effektivitätsprinzip eingeschränkt.6 Der Vertrag von Lissabon stärkt im Übrigen die Rolle der Kommission als Verwaltungsspitze der Union. Art. 17 Abs. 1 S. 5 EUV macht deutlich, dass die Kommission „nach Maßgabe der Verträge Koordinierungs-, Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen (ausübt)“.7 bb) Das Kooperationsprinzip als ergänzendes Erklärungsmuster gegenwärtiger Verwaltungsstruktur Ein zutreffendes Bild der heutigen Verwaltungswirklichkeit wird nur gezeichnet, wenn die zunehmende Verflechtung von nationaler und europäischer Verwaltung berücksichtigt wird. Die neuen, vielfältigen Formen der Kooperation zwischen nationalen Verwaltungsbehörden einerseits, sowie zwischen nationalen und europäischen Behörden andererseits, müssen bei der Beschreibung der Lage des europäischen Verwaltungsrechts insoweit ihren Platz finden.8 Die Kartellverfahrensordnung Nr. 1/ 2003 zeigt besonders deutlich, wie neue Formen der Unionsverwaltung entstehen können. Die Verordnung spricht von einem „Netzwerk“ der Wettbewerbsbehörden und eröffnet so ein wichtiges Anwendungsfeld für die Verwaltungskooperation zwischen den nationalen Wettbewerbsbehörden und der Kommission.9 Mit Art. 197 AEUV hat der Vertrag von Lissabon eine Regelung in das Vertragsrecht eingeführt, der sich grundsätzliche Aussagen zur vertikalen Verwaltungszusammenarbeit entnehmen lassen. Absatz 1 bekräftigt, dass die „effektive Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten“ eine „Frage von gemeinsamem Interesse“ ist. Die Union erlangt ihren Charakter als Rechtsgemeinschaft schließlich nur, wenn das von ihr gesetzte Recht möglichst einheitlich in allen Mitgliedstaaten gilt. Art. 197 Abs. 1 AEUV hat ohne weiteres hohe Symbolkraft, entfaltet im Übrigen aber keine pflichtenbegründende Wirkung. Dies belegt nicht nur der pflichtenneutral formulierte Wortlaut von Absatz 1; auch Absatz 3 der Vorschrift, wonach die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Durchführung des Unionsrechts durch die Bestimmung nicht berührt wird, weist in diese Richtung. Der eigenständige Regelungsgehalt 6 Siehe aus der jüngeren Rechtsprechung die Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak v. 6. 7. 2010, Rs. C-137/08, VB Pnzügyi Lzing Zrt./Ferenc Schneider, noch nicht in der amtl. Slg. 7 Zur parlamentarischen Verantwortlichkeit der Kommission siehe Art. 17 Abs. 8 EUV sowie Matthias Ruffert in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 3. Aufl., 2007, Art. I-26 Rn. 30 ff. 8 Siehe zur systematischen Analyse des europäischen Verwaltungsrechts besonders Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., 2006, S. 383 ff. Zur Ergänzung des Prinzips der Verwaltungskooperation als Erklärungsmuster der gegenwärtigen Verwaltungsstruktur siehe außerdem Jean-Bernard Auby/Jacqueline Dutheil de la Rochre (Hrsg.), Droit Administratif Europen, 2007, S. 235 ff. 9 Dazu Jürgen Schwarze / Andreas Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, Die Verordnung (EG) Nr. 1/2003, 2004, S. 169 ff.

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von Art. 197 Abs. 1 AEUV ist im Übrigen mit Blick auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in Art. 4 Abs. 3 EUV,10 der die Mitgliedstaaten zu einer loyalen Kooperation mit den Unionsorganen verpflichtet, fraglich. Die Verwaltungszusammenarbeit nach Art. 197 AEUV steht im Zeichen des freiwilligen Handelns. Sie befindet sich damit weder in Widerspruch zu Art. 291 AEUV und dem dort verankerten Prinzip der Verwaltungsautonomie der Mitgliedstaaten noch ändert sie die bestehende Kompetenzlage, besitzt die Union in diesem neuen Politikbereich doch (lediglich) unterstützende Befugnisse, die insbesondere jegliche Harmonisierung mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften ausschließt.11 Art. 197 Abs. 2 AEUVenthält das Angebot an die Mitgliedstaaten, dass die Union sie bei ihren Bemühungen um eine Verbesserung ihrer Verwaltungskapazität bei der Durchführung des Unionsrechts unterstützt. Die angesprochene Unterstützung „durch Erleichterung des Austauschs von Informationen und Beamten sowie die Unterstützung von Ausund Weiterbildungsprogrammen“ (Art. 197 Abs. 2 S. 2 AEUV) wurde bereits in der Vergangenheit – auf freiwilliger Basis – praktiziert.12 Trotz der ausdrücklichen vertraglichen Verankerung wird sich hieran auch in Zukunft nichts ändern, macht Art. 197 Abs. 2 S. 3 AEUV doch deutlich, dass die Mitgliedstaaten dieses Angebot nicht in Anspruch nehmen müssen. Der Vertrag von Lissabon spiegelt die tatsächliche Lage des europäischen Verwaltungsrechts damit nur zum Teil wider, indem er zwar die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Unionsverwaltung fortführt, Fragen der Verbundverwaltung im Wesentlichen aber nicht aufgreift, so dass sich deren Entwicklung auch in näherer Zukunft vornehmlich auf der Ebene des Sekundärrechts vollziehen wird. b) Die Unterscheidung zwischen delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten Der Vertrag von Lissabon stellt das System der Rechtsinstrumente der Union, anders als noch durch den Vertrag für eine Verfassung für Europa beabsichtigt, auf keine

10 Der Vertrag von Lissabon hat den bislang ungeschriebenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in das geschriebene Recht eingeführt. Zum Grundsatz der Loyalität siehe allgemein Armin Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip der Europäischen Union, 2001. 11 Vgl. Art. 6 S. 2 lit. g), 2 Abs. 5 AEUV. Zur Kompetenzverteilung im Vertrag von Lissabon Matthias Ruffert, Institutionen, Organe und Kompetenzen – der Abschluss eines Reformprozesses als Gegenstand der Europawissenschaft, EuR 2009, Beiheft 1, S. 31 (36 ff.). Zum Harmonisierungsverbot speziell im Bereich der Verwaltungszusammenarbeit siehe Art. 197 Abs. 2 S. 4 AEUV. 12 Als Beispiel sei an dieser Stelle das Europäische Netzwerk für öffentliche Verwaltung (European Public Administration Network, EUPAN) erwähnt. Es handelt sich um ein informelles Netzwerk, in dem die für den öffentlichen Dienst und die öffentliche Verwaltung zuständigen Arbeitseinheiten der Mitgliedstaaten sowie der Europäischen Kommission organisiert sind. Siehe hierzu im Einzelnen http://www.eupan.org.

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gänzlich neue normative Grundlage.13 Auch wenn Art. 288 AEUV die aus Art. 249 EG bekannten Handlungsformen im Wesentlichen beibehält, enthält das Vertragsrecht mit Art. 289 bis 292 AEUV vier neue Artikel, die Änderungen aus dem Verfassungsvertrag fortführen. Ein Anliegen des Vertrags von Lissabon war eine klarere Abgrenzung der legislativen von den exekutiven Rechtsakten. Im Folgenden wird daher ein besonderes Augenmerk auf der Unterscheidung zwischen delegierten Rechtsakten im Sinne des Art. 290 AEUV und Durchführungsrechtsakten nach Art. 291 AEUV liegen, die sich in einem unterschiedlichen Rechtsrahmen bewegen. Art. 290 AEUV begründet einen Mechanismus, der es der Kommission erlaubt, Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes zu erlassen. In Gesetzgebungsakten, die der Kommission eine solche Befugnis übertragen, müssen bereits Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung ausdrücklich festgelegt werden, so dass die Regelung der wesentlichen Elemente dem eigentlichen Gesetzgebungsakt vorbehalten bleibt. Art. 290 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 AEUV schreibt damit in Übereinstimmung mit den im deutschen Verfassungsrecht geltenden Grundsätzen einen Wesentlichkeitsvorbehalt auf europäischer Ebene fest. Die Kommission ist bei der Ausübung der ihr übertragenen Befugnis nicht völlig frei, sondern unterliegt der politischen Kontrolle des Gesetzgebers. Kontrollmittel sind nach Art. 290 Abs. 2 AEUV das Recht zum Widerruf der übertragenen Befugnis und/oder das Einspruchsrecht gegen die Ausgestaltung eines konkreten Rechtsaktes. Art. 290 AEUV ist im Gegensatz zu Art. 291 AEUV eine sich selbst genügende Vorschrift, zu deren Umsetzung kein verbindlicher Rechtsakt erforderlich ist. Im Dezember 2009 hat die Kommission eine Mitteilung erlassen, in der sie ihren Standpunkt zum Geltungsbereich delegierter Rechtsakte darlegt und die aus ihrer Sicht erforderlichen Eckpunkte der Befugnisübertragung nennt.14 Das Europäische Parlament hat im Mai 2010 eine diesbezügliche Entschließung erlassen.15 Von diesen (quasi-legislativen) delegierten Rechtsakten sind die (exekutiven) Durchführungsrechtsakte zu unterscheiden. Art. 291 Abs. 2 AEUV ermöglicht die Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf die Kommission und unter engen Voraussetzungen ausnahmsweise auch an den Rat, soweit es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union bedarf.16 Einen ge13 Zu den Handlungsformen im Vertrag von Lissabon Thomas von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 270 ff. 14 KOM(2009) 673 endg. 15 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 5. 5. 2010 zur legislativen Befugnisübertragung. 16 Art. 291 Abs. 2 AEUV ist nicht die einzige Vorschrift, die eine „Durchbrechung“ der mitgliedstaatlichen Vollzugshoheit ermöglicht. Ausdrückliche Vollzugskompetenzen von Unionsorganen bestehen insbesondere im Bereich der GASP, so Art. 24, 26, 35 und 43 Abs. 2

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wissen Ausgleich für diesen „Eingriff“ in die Vollzugsautonomie der Mitgliedstaaten schafft Art. 291 Abs. 3 AEUV, wonach den Mitgliedstaaten Kontrollmöglichkeiten über die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission eingeräumt werden müssen. Im Februar 2011 haben das Europäische Parlament und der Rat die Verordnung (EU) Nr. 182/2011 erlassen, die allgemeine Regeln und Grundsätze der mitgliedstaatlichen Kontrolle über die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission festlegt.17 Die Verordnung hält an der Ausschussstruktur fest, die den bislang geltenden Komitologiebeschluss prägte,18 verkleinert das Ausschusswesen allerdings auf zwei Verfahren.19 Die Kommission unterliegt damit einer dem bisherigen Komitologieverfahren vergleichbaren Kontrolle.20 Art. 291 Abs. 3 AEUV steht damit ganz im Zeichen der durch den Vertrag von Lissabon gewollten Stärkung des Europäischen Parlaments, war nach früherer Rechtslage doch allein der Rat für die Festlegung bestimmter Modalitäten für die Ausübung von Durchführungsbefugnissen der Kommission zuständig.21 c) Formelle Anforderungen an das Verwaltungshandeln Eine für die tägliche europäische Verwaltungspraxis bedeutsame Vorschrift ist Art. 296 AEUV. Ihre Bedeutung hat der Gerichtshof jüngst wieder in einem Verfahren zu den so genannten Terroristenlisten betont. Er führte insoweit aus: „Die Begründungspflicht soll es den Betroffenen ermöglichen, die Gründe für die ergangene Bestimmung zu erfahren, damit sie deren Begründetheit beurteilen können, und dem zuständigen Gericht die Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe gestatten.“22 EUV. Leges speciales zu Art. 291 Abs. 2 AEUV sind auch Art. 75, 105, 108, 178 und 315 AEUV. 17 ABl. 2011 Nr. L 55, S. 13 ff. 18 Der Komitologiebeschluss 1999/468/EG wird durch Art. 12 der Verordnung (EU) Nr. 182/2011 aufgehoben. 19 Die Kommission nimmt ihre Durchführungsbefugnisse nunmehr entweder nach dem Beratungsverfahren oder dem Prüfverfahren wahr. Das Europäische Parlament und der Rat sind nach der Verordnung an den beiden Ausschussverfahren nicht beteiligt. Dies ist auf die primärrechtliche Vorgabe zurückzuführen, dass den Mitgliedstaaten, nicht aber den Unionsorganen die Kontrolle zur Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse der Kommission obliegt. Siehe hier auch Art. 11 der Verordnung (EU) Nr. 182/2011, der als „Kontrollrecht“ des Europäischen Parlaments und des Rates überschrieben ist und den beiden Organen gestattet, die Kommission darauf hinzuweisen, dass ihrer Ansicht nach der Entwurf eines Durchführungsrechtsakts die im Basisrechtsakt vorgesehenen Durchführungsbefugnisse überschreitet. 20 Vgl. Auswärtiges Amt, Denkschrift zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, S. 128, Kommentierung zu Art. 249 c). 21 Vgl. Art. 202 dritter Spiegelstrich EG. In der Praxis hatten Kommission und Europäisches Parlament jedoch vielfältige Formen der Kooperation im Wege einer interinstitutionellen Vereinbarung begründet. Diese findet sich im ABl. 2008 Nr. C 143, S. 1 ff. 22 EuGH, Rs. C-550/09, Strafverfahren gegen E und F, Vorabentscheidungsersuchen des OLG Düsseldorf, Rn. 54, noch nicht in der amtl. Slg. Siehe hierzu auch Frank Meyer, Globale Terrorbekämpfung und nationales Nebenstrafrecht, NJW 2010, S. 2397 ff.

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In systematischer Hinsicht vereint die Vorschrift zwei verschiedene Regelungsgegenstände. Art. 296 AEUV enthält zunächst spezielle Regelungen zur Bindung der Organe an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der begrenzten Einzelermächtigung im Bereich der Rechtsetzung. Nach Unterabsatz 1 haben die Organe, soweit die Verträge die jeweilige Handlungsform nicht ausdrücklich benennen, von Fall zu Fall die angemessene Rechtsform des Rechtsaktes zu wählen. Unterabsatz 3 beinhaltet ein Verbot für den Gesetzgeber während eines Gesetzgebungsverfahrens Rechtsakte anzunehmen, die in dem jeweiligen Verfahren nicht vorgesehen sind. Eine wesentliche Neuerung beinhaltet demgegenüber Art. 296 UAbs. 2 AEUV, der die Begründungspflicht auf alle Rechtsakte im Sinne des Art. 288 AEUV erstreckt. Anders als es die Vorgängerregelung des Art. 253 EG vorsah,23 unterliegen nun auch die unverbindlichen Rechtsakte der Pflicht zur Begründung. Aus Gründen der Transparenz des Organhandelns ist es sicher zu begrüßen, dass auch Empfehlungen und Stellungnahmen zu begründen sind. Die Maßstäbe des dabei einzuhaltenden Detaillierungsgrades werden sich dabei erst entwickeln müssen. Hierbei wird namentlich der Rechtsprechung eine wichtige Rolle zukommen, hat sie in der Vergangenheit doch mehrfach betont, dass der Grundsatz einer ausreichend genauen Begründung zu den Grundprinzipien des Unionsrechts gehört.24 Der umfassende Anwendungsbereich von Art. 296 UAbs. 2 AEUV steht schließlich auch in Einklang mit Art. 41 Abs. 2 lit. c) GRCh, wonach die Begründungspflicht von Verwaltungsentscheidungen grundrechtlich verankert ist.25 d) Die rechtsstaatliche Ausrichtung der Verwaltung Schließlich seien zwei weitere Vorschriften erwähnt, welche die Ausrichtung der Verwaltung im Allgemeinen betreffen. Art. 15 Abs. 1 AEUV legt zunächst fest, dass die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Beachtung des Grundsatzes der Offenheit handeln. Wie der Wortlaut deutlich macht, ist das Transparenzgebot keine absolute Größe, es ist „weitestgehend“ zu berücksichtigen. Die Vorschrift steht damit im Zeichen der auch in Art. 1 Abs. 2 EUV und Art. 10 Abs. 3 S. 2 EUV verankerten Zielsetzung, Entscheidungen auf europäischer Ebene möglichst offen und bürgernah zu treffen. Das Transparenzgebot greift Art. 298 AEUV inhaltlich wieder auf, indem er die Verwaltung ausdrücklich auf die Grundsätze der Offenheit, der Effizienz und der Unabhängigkeit verpflichtet.26 Es handelt sich um Verhaltensmaßstäbe für die gesamte

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Art. 253 EG nannte abschließend die Verordnung, die Richtlinie und die Entscheidung als begründungspflichtige Rechtsakte. 24 EuG, Rs. T-183/97 R, Micheli u. a./Kommission, Slg. 1997, II-1473 Rn. 56 m.w.N. 25 Siehe hierzu unter II. 2. a). 26 Zum skandinavischen Ursprung der Vorschrift siehe Clemens Ladenburger, Evolution oder Kodifikation eines allgemeinen Verwaltungsrechts in der EU, in: H.-H. Trute/T. Gross/

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Unionsverwaltung, deren Bindungswirkung sich nicht auf das Handeln der Kommission beschränkt. Absatz 2 der Vorschrift begründet einen Auftrag an das Europäische Parlament und den Rat, die Anforderungen an die europäische Verwaltung in einem rechtlichen Rahmen niederzulegen und stellt dem Gesetzgeber hierfür das Handlungsinstrument der Verordnung zur Verfügung. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Gewährleistungen des in Art. 41 GRCh verankerten Rechts auf eine gute Verwaltung zu berücksichtigen, mit dem Art. 298 AEUV in enger Wechselwirkung steht. An dieser Stelle zeigt sich einmal mehr, dass der Vertrag von Lissabon vielfach dadurch gekennzeichnet ist, die im Wege der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze ausdrücklich zu kodifizieren, ohne dabei wirkliche Neuerungen zu bewirken. 2. Regelungen der Grundrechtecharta Das Bestreben, das europäische Verwaltungsrecht im Rechtsstaatsprinzip zu verankern und die Unionsverwaltung gleichsam als Verwaltung in einer Rechtsgemeinschaft zu bekräftigen, hat auch die grundrechtlichen Entwicklungen maßgeblich geprägt.27 Aus der Europäischen Grundrechtecharta, die gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV für rechtsverbindlich erklärt wird, sind in Bezug auf das europäische Verwaltungsrecht vor allem zwei Garantien bedeutsam. Sie betreffen zum einen den bereits erwähnten Art. 41 GRCh und das dort verbürgte Recht auf eine gute Verwaltung. Zum anderen gewährt Art. 42 der Charta ein Recht auf Zugang zu Dokumenten der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union. a) Das Recht auf eine gute Verwaltung, Art. 41 GRCh Das „moderne“ Grundrecht auf eine gute Verwaltung greift die bereits zuvor in der Rechtsprechung der EU-Gerichte entwickelten Grundsätze zum „Recht auf eine ordnungsgemäße Verwaltung“28 sowie zu einer „guten Verwaltungsführung“ auf.29 Zudem ist die Kodifikation von Art. 41 GRCh vor dem Hintergrund der seit langem bestehenden Rechtsprechung zu sehen, in der der Gerichtshof zahlreiche rechtsstaatliche Grundsätze für das Verwaltungsverfahren entwickelt hat, wie den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung oder den Vertrauensschutz.30

H. C. Röhl/C. Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, S. 107 (118). 27 Vgl. Matthias Ruffert in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zum EUV/EGV, 3. Aufl., 2007, Art. 41 GRCh Rn. 1. 28 EuG, Rs. T-334/07, Denka International BV, noch nicht in der amtl. Slg, Rn. 164; EuGH, Rs. C-170/02 P, Schlüsselvertrag J.S. Moser, Slg. 2003, I-9889 Rn. 29; EuGH, Rs. 179/82, Lucchini, Slg. 1983, 3083 Rn. 27. 29 EuGH, Rs. 55/70, Reinarz/Kommission, Slg. 1970, 379 Rn. 18; EuGH, Rs. 56 u. 58/64, Consten und Grundig, Slg. 1966, 321 (395 f.). 30 Siehe hierzu Jürgen Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 2005, S. LVI ff. und 219 ff. bzw. S. LXXVII und 843 ff.

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Was zunächst die Grundrechtsträgerschaft angeht, ist Art. 41 GRCh sehr offen gefasst und knüpft nicht an den Status des Unionsbürgers an. Vielmehr erstreckt sich dieses Grundrecht in personeller Hinsicht auch auf Drittstaatsangehörige sowie juristische Personen.31 Hinsichtlich des sachlichen Schutzbereiches ist das eigentliche „Kernrecht“ in Absatz 1 enthalten, wonach für jeden Betroffenen eine unparteiische, gerecht und fristgemäß handelnde, funktionsfähige und effektive Verwaltung gewährleistet werden soll. Einige dieser Aspekte sind bereits durch die Rechtsprechung näher konkretisiert worden. So gehört etwa zu einer unparteiischen Untersuchung, dass alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls geprüft werden.32 Was den Grundsatz des fristgemäßen Handelns angeht, so ist eine übermäßige Verfahrensdauer zu vermeiden. Zudem soll sichergestellt werden, dass jede Verfahrensmaßnahme innerhalb einer gegenüber der vorhergehenden Maßnahme angemessenen Frist erfolgt, wobei die Angemessenheit der Frist einzelfallabhängig zu bestimmen ist.33 In Absatz 2 sind jeweils näher bestimmte Rechte auf Anhörung, auf Aktenzugang sowie auf Entscheidungsbegründung verbürgt, wobei diese Aufzählung lediglich die besonders wichtigen Aspekte beinhaltet und nicht abschließend ist. Das Recht auf Anhörung gehört zu den grundlegenden Rechtsgrundsätzen, die bereits früh von der Rechtsprechung anerkannt wurden.34 Es dient der Verteidigung des Einzelnen im verwaltungsgerichtlichen Prozess wie auch im Verwaltungsverfahren.35 Die Wirkung eines Verstoßes gegen das Recht auf Anhörung im Rahmen des Verwaltungsverfahrens führt indes nur dann zur Nichtigkeit der Handlung, wenn das Verfahren ohne diesen Verstoß zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.36 Das Akteneinsichtsrecht ist ebenfalls seit langem als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt.37 Das in Art. 41 Abs. 2 lit. b) GRCh verbürgte Recht beschränkt sich auf Akten, die denjenigen, der Einsicht begehrt, selbst betreffen und ist insofern vom Recht auf Dokumentenzugang gemäß Art. 42 GRCh zu unterscheiden. Es ist einschränkbar bei einem berechtigten Interesse zur Wahrung der Vertraulichkeit

31 Hans-Werner Rengeling/Peter Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rn. 1093. 32 EuG, Rs. T-54/99, max.mobil, Slg. 2002, II-313 Rn. 48 ff. 33 Philipp Voet van Vormizeele in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl., 2009, Art. 41 GRC Rn. 6; Schlussanträge von GA Jacobs, Rs. C-270/99, Z, Slg. 2001, I-9197 Rn. 40. 34 Philipp Voet van Vormizeele in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl., 2009, Art. 41 GRC Rn. 8. 35 EuGH, Rs. C-399/06 P und C-403/06 P, Hassan und Ayadi, Slg. 2009, I-11393 Rn. 83 ff. 36 EuGH, Rs. C-288/96, Deutschland/Kommission, Slg. 2000, I-8237 Rn. 101. 37 EuGH, Rs. 53/85, Akzo Nobel, Slg. 1986, 1965 Rn. 28; EuG, Rs. T-48/05, Franchet, Slg. 2008, II-1585 Rn. 257.

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sowie zum Schutz des Berufs- und Geschäftsgeheimnisses. Es bedarf jeweils einer Abwägung im Einzelfall, ob insoweit Einschränkungen berechtigt sind.38 Die in Art. 41 Abs. 2 lit. c) GRCh gewährleistete Begründungspflicht von Verwaltungsentscheidungen findet ihr vertragliches Äquivalent in Art. 296 UAbs. 2 AEUV.39 Im dritten Absatz ist ein Recht auf Schadensersatz bei Amtspflichtverletzungen normiert, wobei dieses sich mit dem Anspruch der außervertraglichen Haftung der Union für ihre Organe und Bediensteten gemäß dem früheren Art. 288 Abs. 2 EG [jetzt: Art. 340 Abs. 2 AEUV] deckt. Absatz 4 wiederholt das Recht, sich in einer der Sprachen der Verträge an die Organe der Union zu wenden und eine Antwort in derselben Sprache zu erhalten. Es bedeutet insofern eine Ausdehnung des bereits im früheren Art. 21 Abs. 3 EG [jetzt Art. 24 UAbs. 4 AEUV] verbürgten Rechts für die Unionsbürger auf „jede Person“.40 b) Das Recht auf Zugang zu Dokumenten, Art. 42 GRCh Art. 42 GRCh gewährleistet allen Unionsbürgern sowie jeder natürlichen oder juristischen Person mit Wohnsitz oder satzungsmäßigem Sitz in einem Mitgliedstaat das Recht auf Zugang zu den Unionsdokumenten, gleich in welcher Form diese vorliegen. Dieses Grundrecht ist somit inhaltsgleich mit Art. 15 Abs. 3 AEUV, der ursprünglich durch den Amsterdamer Vertrag in die EU-Verträge aufgenommen wurde. Grundlage hierfür sind das Demokratie- sowie das in Art. 1 Abs. 2 EUV verankerte Transparenzprinzip.41 Im Gegensatz zum Recht auf eine gute Verwaltung gibt es hier jedoch keine Rechtsprechung des EuGH, durch die sich ein entsprechender allgemeiner Rechtsgrundsatz aus den gemeinsamen verfassungsrechtlichen Traditionen der Mitgliedstaaten herausgebildet hätte, wie Generalanwalt Lger betont hat.42 Eine Einschränkungsmöglichkeit dieses grundsätzlich weiten Zugangsrechtes findet sich in dem Gesetzesvorbehalt des Art. 15 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV. Demnach können das Europäische Parlament und der Rat im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnung die allgemeinen Grundsätze des Dokumentenzugangs sowie Einschränkungen aufgrund privater oder öffentlicher Interessen bestimmen. Auf dieser

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EuGH, verb. Rsen. C-204/00 u. a., Aalborg Portland u. a., Slg. 2004, I-123 Rn. 68 ff. Siehe hierzu bereits 1. c). 40 Philipp Voet van Vormizeele in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl., 2009, Art. 41 GRC Rn. 13. 41 Philipp Voet van Vormizeele in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl., 2009, Art. 42 GRC Rn. 1. 42 Schlussanträge GA Lger, Rs. C-41/00 P, Intercorp, Slg. 2003, I-2125 Rn. 80; allerdings findet das Recht auf Zugang zu den Gerichten auch in der Rechtsprechung mittlerweile Beachtung: EuG, Rs. T-264/04, WWF/Rat, Slg. 2007, II-911 Rn. 61. 39

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Grundlage sind die absoluten und relativen Verweigerungsrechte der VO (EG) Nr. 1049/2001 entstanden.43

3. Rechtsschutz Privater gegen Handlungen von Agenturen Die europäischen Agenturen sind Träger der mittelbaren Eigenverwaltung der Union, da sie rechtlich eigenständige Einrichtungen sind, die durch unionsrechtlichen Gründungsakt geschaffen wurden.44 Als Gründe für ihre Errichtung werden vor allem die Entlastung der Kommission, die Bündelung von Fachwissen sowie die Verbesserung der Außenwirkung der EU durch die geografische Verteilung genannt.45 Die EU hat aus diesen Gründen im Laufe der Zeit immer mehr von ihrer Organisationsgewalt Gebrauch gemacht, um neue Verwaltungsstellen zu schaffen,46 so dass vor allem die Agenturen sowohl quantitativ als auch qualitativ in erheblichem Maße an Bedeutung gewonnen haben. Sie übernehmen mittlerweile eine Vielzahl von Verwaltungsaufgaben,47 wie beispielsweise die Eintragungen im Markenrecht oder die Typengenehmigungen im Flugzeugbau.48 In diesem Zusammenhang nehmen sie insbesondere auch Verwaltungsaufgaben mit Wirkung für Private wahr. Als ein Gegengewicht zu diesen in neuerer Zeit vermehrt auftretenden neuen Formen des EU-Verwaltungshandelns wurden durch den Vertrag von Lissabon auch neue Rechtsschutzmöglichkeiten eröffnet.49 Insofern wurden die Vorschriften über die Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV sowie die Untätigkeitsklage gemäß Art. 265 AEUV mit Blick auf die im Laufe der letzten Jahre geschaffenen Agenturen angepasst. Der neue Art. 263 Abs. 1 AEUV sieht die gerichtliche Überwachung der Rechtmäßigkeit von „Handlungen der Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union mit Rechtswirkung gegenüber Dritten“ vor. Entsprechend bestimmt Art. 265 Abs. 1 S. 2 AEUV eine Erweiterung der Klagemöglichkeiten im Falle des vertragswidrigen Unterlassens von Beschlüssen der „Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“. 43 Der EuGH hat sich erst kürzlich mit dem problematischen Verhältnis zwischen dem Schutz personenbezogener Daten und dem Recht auf Zugang zu Dokumenten, ohne hierbei Art. 42 GRCh explizit zu erwähnen, beschäftigt und dieses näher ausgestaltet, in: EuGH, Rs. C28/08 P, Bavarian Lager, EuZW 2010, S. 617. 44 Thomas von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 319. 45 KOM(2008) endg. 135, Mitteilung der Kommission vom 11. 3. 2008 an das Europäische Parlament und den Rat über Europäische Agenturen – Mögliche Perspektiven, S. 2. 46 Thomas Oppermann/Claus Dieter Classen/Martin Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl., 2009, § 7 Rn. 191. 47 Hingegen besteht nicht die Möglichkeit, Agenturen zum Erlass delegierter Rechtsakte oder Durchführungsrechtsakte zu ermächtigen. Dies bleibt nach wie vor der Kommission vorbehalten. Siehe hierzu unter 1.b). 48 Johannes Saurer, Der Rechtsschutz gegen Entscheidungen und Fachgutachten der Europäischen Agenturen nach dem Sogelma-Urteil des EuG, DVBl 2009, S. 1021. 49 Siehe hierzu bereits J. Schwarze (Hrsg.), Bestand und Perspektiven des europäischen Verwaltungsrechts, 2008, S. 17 f.

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Die nun geltenden Bestimmungen führen damit die bereits in den Art. III-365 und Art. III-367 des Vertragsentwurfs über eine Verfassung für Europa aufgenommenen neuen Regeln fort.50 Ihren Ursprung hat diese nun kodifizierte Rechtsschutzausweitung in der Rechtsprechung der EU-Gerichte.51 Speziell für den umfassenden Rechtsschutz gegenüber neuen Einrichtungen ist an dieser Stelle aus jüngerer Zeit das Urteil des Gerichts im Fall Sogelma52 zu nennen. In dieser Rechtssache hat das Gericht gegen Entscheidungen der durch eine Verordnung des Rates errichteten Europäischen Agentur für Wiederaufbau (EAR), die im Bereich des ehemaligen Jugoslawien und angrenzender Länder Wiederaufbauhilfe leisten und zu diesem Zweck u. a. öffentliche Bauaufträge vergeben sollte, Rechtsschutz durch die EU-Gerichte zugelassen, obwohl derartige Einrichtungen in dem seinerzeit geltenden Artikel 230 EG nicht als potentielle Klagegegner aufgeführt waren.53 Für seine richterliche Rechtsfortbildung hat sich das Gericht auf die Leitentscheidung des EuGH im Fall Les Verts54 berufen, wonach grundsätzlich keine Handlung einer Gemeinschaftseinrichtung, die Rechtswirkungen gegenüber Dritten hervorruft, von der richterlichen Kontrolle in der Gemeinschaft ausgenommen werden darf.55 Auf der gleichen Linie liegt es demnach, wenn nun durch den Vertrag von Lissabon Rechtsschutz gegenüber Handlungen mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten von Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union gewährt wird, denen von der EU hoheitliche Aufgaben zur Erledigung übertragen werden.56 Dem Wandel der Aufgabenwahrnehmung soll folglich als Äquivalent ausreichender Rechtsschutz entsprechen.57 50 ABl Nr. C 310 vom 16. 12. 2004; vgl. zum Rechtsschutz durch den Verfassungsvertrag auch: Ulrich Everling, Rechtsschutz im europäischen Wirtschaftsrecht auf der Grundlage der Konventsregelungen, in: J. Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 363 ff. 51 Insbesondere: EuGH Rs. 294/83 – Les Verts, Urteil v. 23. 4. 1986, Slg. 1986, S. 1339 ff. 52 EuG Rs. T-411/06 – Sogelma/EAR, Slg. 2008, II-2771. 53 EuG Rs. T-411/06 – Sogelma / EAR, Slg. 2008, II-2771 Rn. 33; vgl. zum Ganzen auch Johannes Saurer, Individualrechtsschutz gegen das Handeln der Europäischen Agenturen, EuR 2010, S. 51 ff. sowie Jörg Gundel, Der Rechtsschutz gegen Handlungen der EG-Agenturen – endlich geklärt? – Zugleich Anmerkung zu EuG, Urteil v. 8. 10. 2008 Rs. T-411/06 – Sogelma/Europäische Agentur für den Wiederaufbau (EAR), EuR 2009, S. 383 ff. 54 EuGH Rs. 294/83 – Les Verts, Urteil v. 23. 4. 1986, Slg. 1986, 1339. 55 EuG Rs. T-411/06, Slg. 2008, S. II-2771 Rn. 36 ff.; vgl. ebenso aus der jüngsten Rechtsprechung EuG Rs. T-70/05 – Evropaki Dynamiki / EMSA, noch nicht in der amtl. Slg., Rn. 61 ff. 56 Zur Ausdehnung des direkten Rechtsschutzes Privater gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV siehe Ulrich Everling, Lissabon-Vertrag regelt Dauerstreit über Nichtigkeitsklage Privater, EuZW 2010, S. 572. 57 Zum Rechtsschutz im Verwaltungsverfahren allgemein Jürgen Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2007, S. 230 f.

Die Neuerungen auf dem Gebiet des Europäischen Verwaltungsrechts

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III. Schluss Diese Übersicht hat insgesamt gezeigt, dass der Vertrag von Lissabon einige wesentliche Änderungen auf dem Gebiet des europäischen Verwaltungsrechts erbracht hat. Insbesondere hat er bei einzelnen Regeln nennenswerte Schritte zu einer größeren Vereinheitlichung bei der Durchsetzung des Unionsrechts unternommen. Gewiss können weitere Schritte nur auf einer ausdrücklichen Ermächtigung in den Verträgen beruhen. Allerdings muss man sich rechtspolitisch fragen, ob eine immer weitere Zuständigkeitsausdehnung der Union nicht auch eine interne Konsolidierung der Vollzugsregeln verlangt, soll nicht der innere Zusammenhalt in der Union und damit eines der Grundpostulate der einheitlichen Geltung des einmal beschlossenen europäischen Rechts in Gefahr geraten. Deswegen möchte ich auch an dieser Stelle einen Vorschlag erneuern, den ich verschiedentlich erhoben habe, jedenfalls die Grundelemente eines europäischen Verwaltungsverfahrensrechts zu kodifizieren. Dies wäre gewiss kein Allheilmittel, um die heute zu beobachtenden Disparitäten beim Vollzug des europäischen Rechts vollständig zu überwinden. Die auf diese Weise geschaffenen gesetzlichen Maßstäbe würden aber ein größeres Maß an Transparenz bei der Bewertung gestatten, ob das Unionsrecht neben der postulierten, einheitlichen Geltung auch für eine entsprechende einheitliche Durchsetzung sorgt. Ich bin überzeugt, dass die durch die gemeinsamen Regeln eines europäischen Verwaltungsverfahrensrechts eintretende Beschränkung der bislang hoch gehaltenen Verwaltungsautonomie der Mitgliedstaaten durch Herstellung größerer Einheitlichkeit beim Vollzug des gemeinsam beschlossenen Rechts mehr als aufgewogen würde und im Verhältnis der verschiedenen Mitgliedstaaten zueinander zu größerer Gleichbehandlung und zu einem größeren inneren Zusammenhalt beitragen könnte.

Unter dem Rettungsschirm – Der Euro, die PIIGS und das Recht Von Joachim Wieland, Speyer I. Gefahren für die Währungsunion Anfang Mai 2010 hatte Griechenland das Vertrauen der Finanzmärkte verloren und war nicht mehr in der Lage, zur Deckung des staatlichen Finanzbedarfs Kredite aufzunehmen1. Daraufhin haben die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets am 2. Mai 2010 ihre Bereitschaft erklärt, Griechenland in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds mit bis zu 80 Mrd. Euro in Form von koordinierten bilateralen Krediten zu unterstützen. 30 Mrd. Euro wurden für 2010 zur Verfügung gestellt. Der deutsche Anteil sollte 2010 bis zu 8,4 Mrd. Euro und insgesamt rund 22,4 Mrd Euro betragen2. Die deutschen Kredite wurden von der Kreditanstalt für Wiederaufbau ausgereicht, die dafür eine gesetzliche Garantie des Bundes erhielt. Am gleichen Tag, als der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen zum Erhalt der für die Finanzstabilität in der Währungsunion erforderlichen Zahlungsfähigkeit der Hellenischen Republik (Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz – WFStG)3 verabschiedete, am 7. Mai 2010, beschloss der Europäische Rat in Brüssel bei einer Sondersitzung Maßnahmen zur Verteidigung des Euro gegen die Spekulation an den Finanzmärkten4. In der Nacht vom 9. auf 10. Mai 2010 fasste der Rat der Europäischen Union einen konkreten Eilbeschluss und nahm die Verordnung zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus5 an6. Damit war deutlich geworden, dass neben Griechenland auch Portugal, Irland, Italien und Spanien – kurz und ein wenig despektierlich: die PIIGS – eine zu hohe Staatschuld angehäuft haben, deshalb in ihrer eigenen Finanzstabilität gefährdet sind und zugleich die Stabilität des Euro gefährden. Nicht einmal zwei Wochen nach der Verabschiedung der Finanzhilfe für Griechenland musste der Bundestag am 1 Bundesbankpräsident Prof. Dr. Axel A. Weber in der Anhörung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages am 5. Mai 2010, Protokoll Nr. 17/18, S. 9. 2 BT-Drs. 17/1544, S. 1 und 3 f. 3 BGBl. 2010 I S. 537. 4 Pressemitteilung PCE 86/10 des Europäischen Rates vom 7. Mai 2010. 5 Verordnung (EU) Nr. 407/2010 vom 11. Mai 2010, ABl. EU Nr. L 118/1. 6 Pressemitteilung 9596/10 (Presse 108) des Rates der Europäischen Union vom 9./10. Mai 2010.

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19. Mai 2010 die Beratungen über ein Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus7 aufnehmen8, die in das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus vom 22. Mai 20109 mündeten. Damit wird das Bundesfinanzministerium zur Übernahme von Gewährleistungen in Höhe von bis zu 147,6 Mrd. Euro ermächtigt. Ist die Währungsunion damit zu der befürchteten Transferunion geworden? II. Solidarität in der Wirtschafts- und Währungsunion Die Frage führt zurück auf die Grundlagen der Währungsunion: Sie wird regelmäßig in einem Atemzug mit ihrer Schwester, der Wirtschaftsunion, genannt. Während die Währungsunion aber ihren deutlichen Ausdruck in der gemeinsamen Währung, dem Euro, findet und institutionell im Europäischen System der Zentralbanken sowie der Europäischen Zentralbank verankert ist, stellt sich die Wirtschaftsunion als die ältere Schwester der Währungsunion nur als ein sehr lockeres Gebilde dar10. Die Mitgliedstaaten halten an ihrer autonomen Verantwortung für ihre jeweils eigene Wirtschaftspolitik fest. Die Union in Wirtschaftsfragen kommt nur darin zum Ausdruck, dass die Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik als Angelegenheit von gemeinsamem Interesse betrachten und sie koordinieren (Art. 121 Abs. 1 S. 1 AEUV). In der Wirtschaftsunion besteht die rechtliche Pflicht zur Solidarität: „Ist ein Mitgliedstaat aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission beschließen, dem betreffenden Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren“ heißt es in Art. 122 Abs. 2 AEUV. Die Formulierung erinnert deutlich an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur extremen Haushaltsnotlage: „Weil und soweit Situationen eintreten, in denen die verfassungsrechtlich gebotene Handlungsfähigkeit eines Landes anders nicht aufrecht zu erhalten ist, ist bundesstaatliche Hilfeleistung durch Mittel zur Sanierung als ultima ratio erlaubt und dann auch bundesstaatlich geboten“11. Das Bundesverfassungsgericht hat es 2006 als bundesstaatliches Gebot bezeichnet, „die Existenz des Not leidenden Landes als eines handlungsfähigen Adressaten verfassungsrechtlicher Pflichten und als eines Trägers verfassungsrechtlicher Aufgaben auch finanziell zu gewährleisten“12. Das Gericht leitet aus dem Bundesstaatsprinzip 7

BT-Drs. 17/1685. BT-Plenarprotokoll 17/42 vom 19. Mai 2010, S. 4125 (B) ff. 9 BGBl. 2010 I S. 627. 10 Zu den Inhalten der Wirtschafts- und Währungsunion Ulrich Häde, Die Wirtschafts- und Währungsunion im Vertrag von Lissabon, EuR 2009, 200 (201 ff.). 11 BVerfGE 116, 327 (386). 12 BVerfGE 116, 327 (386 f.). 8

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die Pflicht zur finanziellen Hilfe in extremen Haushaltsnotlagen ab, die sich im Text des Grundgesetzes nicht findet. Es hat in einer früheren Entscheidung in diesem Zusammenhang von einem „bündischen Prinzip des Einstehens füreinander“ gesprochen13. Ein vertraglich begründetes Näheverhältnis in Form eines Bundes kann also zwischen Staaten zu Solidaritätspflichten führen. Solidaritätspflichten sind aber naturgemäß begrenzt. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht gerade in seiner letzten einschlägigen Entscheidung sehr nachdrücklich herausgearbeitet, dass bundesstaatliche Finanzhilfen nur als ultima ratio in Betracht kommen. Erforderlich für Sanierungshilfen ist nach der Rechtsprechung „nicht nur eine Haushaltsnotlage im absoluten Sinn einer Existenzbedrohung des Not leidenden Landes, sondern auch im relativen Sinn eines Vergleichs mit den Verhältnissen der übrigen Länder“14. Außerdem müssen die eigenen Handlungsmöglichkeiten des Hilfeempfängers ausgeschöpft sein. Das muss dargelegt und begründet werden. Wenn in der Vergangenheit Sparmöglichkeiten nicht ausgeschöpft wurden, besteht die Vermutung, dass solche Sparmöglichkeiten auch gegenwärtig noch vorhanden sind und kein Notstand eingetreten ist. Das Bundesverfassungsgericht hat aber auch betont, dass dem Gebot, alle zumutbaren eigenen Anstrengungen zur Abwendung einer Notlage zu unternehmen, kein Sanktionscharakter zukommt. Zweck der Regelung ist vielmehr die Sicherstellung der staatlichen Aufgabenerfüllung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. „Ihrem Interesse dienen letztlich bundesstaatliche Einstandspflichten im Notstand“15. Nun ist die Europäische Union ebenso wenig ein Bundesstaat wie die Eurogruppe. Innerhalb der Union ist Solidarität aber eine Selbstverständlichkeit. Dementsprechend fördert die Union gemäß Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 EUV die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten16. Diese Solidarität findet unter normalen Umständen ihren Ausdruck in den Maßnahmen zum wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt gemäß Art. 174 ff. AEUV, insbesondere im Strukturfonds und im Kohäsionsfonds (Art. 177 AEUV). Auch die Wirtschafts- und Währungsunion hat eine von Solidarität geprägte Verbindung zwischen ihren Mitgliedern begründet. Insbesondere die Einführung einer gemeinsamen Währung hat zwischen den Staaten der Eurogruppe ein rechtliches Näheverhältnis geschaffen, das die Grundlage für gegenseitige Hilfe und Solidarität schafft. Solidarität ist besonders in Notlagen gefordert.

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BVerfGE 72, 330 (386). BVerfGE 116, 327 (387). 15 BVerfGE 116, 327 (387 ff., 392). 16 Dazu Jörg Philipp Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt, 41. Ergänzungslieferung, Stand: Juli 2010, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 57. 14

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III. Verbot des Bail out Das war und ist den Mitgliedstaaten der Europäischen Union stets bewusst. Sie wollen sich Hilfe in außergewöhnlichen Notlagen gemäß Art. 122 Abs. 2 AEUV gewähren, aber keinen Anreiz für riskante Verhaltensweisen im Vertrauen auf die Solidarität der anderen Mitgliedstaaten schaffen. Kein Staat soll Schulden im Vertrauen darauf machen können, dass die Union oder die anderen Mitgliedstaaten im Notfall Hilfe gewähren würden17. Daher regelt Art. 125 AEUV, der frühere Artikel 103 EGV, der bereits mit Beginn der 2. Stufe der Währungsunion am 1. Januar 1994 in Kraft getreten ist18, ausdrücklich, dass die Gemeinschaft nicht für die Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten haftet oder eintritt. Auch ein Mitgliedstaat haftet nach dieser Vorschrift nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein. Dieses Verbot eines Bail out gilt umfassend für den gesamten öffentlichen Sektor von Mitgliedstaaten. Ausgenommen von dem Verbot des Bail out ist aber die erwähnte Beistandsgewährung der Union bei Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen gemäß Art. 122 Abs. 2 AEUV (ex Art. 100 Abs. 2 EGV). Insoweit stellt sich zum einen die Frage, was ein außergewöhnliches Ereignis im Sinne dieser Vorschrift ist. Zum anderen stieße die Beistandspflicht an relativ enge finanzielle Grenzen, wenn man mit der herrschenden Meinung19 vom Verbot einer Kreditaufnahme zur allgemeinen Haushaltsfinanzierung der Europäischen Union ausginge, die dann nur mit den in ihrem Haushalt verfügbaren Mitteln Beistand leisten könnte. Nach dem Eigenmittelbeschluss 2007/436/EG vom 7. Juni 200720, der am 1. März 2009 in Kraft getreten ist, dürfen die Eigenmittel der EU die Grenze von 1,23 Prozent des Bruttonationaleinkommens der Union nicht überschreiten. Über 70 Prozent des Haushalts der Union werden aber für die Struktur- und Kohäsionspolitik sowie für die Gemeinsame Agrarpolitik aufgewandt, die auch als Solidaritätsmaßnahme zugunsten der noch stark landwirtschaftlich geprägten Mitgliedstaaten verstanden werden kann. Da auch die übrigen 30 Prozent der Eigenmittel der Union weithin verplant sind, bleiben von den Haushaltsmitteln, die sich 2010 auf etwa 135 Milliarden Euro beliefen, für die Hilfe in Notfällen kaum ausreichende Beträge21. Ungeachtet der theoretischen Übereinstimmung in der Annahme eines Verbots der Kreditaufnahme durch die Gemeinschaft sieht die Praxis anders aus: Kreditfinanziert sind etwa die Hilfen, die 2008/2009 für Ungarn, Lettland und Rumänien als Mitglied-

17 Ausführlich dazu Doris Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 103 EGV Rn. 1. 18 Siehe Art. 116 Abs. 1 und 3 EGV. 19 Vgl. nur Ulrich Häde, Finanzausgleich, 1996, S. 470 m. w. N. 20 ABl. EG Nr. L 163/17. 21 Siehe zu den Einzelheiten des Haushaltsplans der EU die von der Europäische Kommission herausgegebene Broschüre „Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2010 – Übersicht in Zahlen“, 2010.

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staaten außerhalb des Eurogebiets beschlossen worden sind22. Die einschlägige Verordnung (EG) Nr. 332/2002 zur Einführung einer Fazilität des mittelfristigen finanziellen Beistands zur Stützung der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten23 enthält eine Ermächtigung der Kommission, auf den Kapitalmärkten und bei Finanzunternehmen Anleihen aufzunehmen24. In Kenntnis der sonst vertretenen Auffassung von der Unzulässigkeit einer Kreditaufnahme durch die Europäische Union wird diese Ermächtigung zur Kreditaufnahme in der Literatur für vereinbar mit dem Unionsrecht gehalten25, jedenfalls solange die Kreditaufnahme der Höhe nach und sachlich begrenzt werde26. Wo diese Grenze liegen soll, wird allerdings nicht deutlich. Daran zeigt sich, dass die Solidarität in Notlagen offenbar auch in der Union als so starke Verpflichtung angesehen wird, dass die üblichen finanzverfassungsrechtlichen Schranken wie das Kreditaufnahmeverbot auf Unionsebene ebenso überwunden oder vielleicht auch eingerissen werden wie die Begrenzung der Bundesergänzungszuweisungen auf der Ebene der Finanzverfassung des Grundgesetzes: Not kennt kein Gebot? Immerhin kann man darauf verweisen, dass Art. 122 Abs.2 AEUVin einer Notlage gerade die Gewährung von finanziellem Beistand durch die Union gebietet, wenn ein Mitgliedstaat aufgrund eines außergewöhnlichen Ereignisses von Schwierigkeiten betroffen ist. Dass die weltweite Finanzkrise ein außergewöhnliches Ereignis im Sinne von Art. 122 Abs. 2 AEUV ist, wird man kaum bestreiten können27. Denkt 22

Dazu Ulrich Häde, Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, EuZW 2009, 399 (401). 23 ABl. EG 2002 Nr. L 53/1. 24 Art. 1 Abs. 2 VO 332/2002. 25 Nachweise bei Ulrich Häde, Schriftliche Stellungnahme vom 17. Mai 2010 zur Vorbereitung der öffentlichen Anhörung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages am 19. Mai 2010 zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP „Entwurf eines Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus“ (BT-Drs. 17/1685), abgedruckt als Anlage 2, Haushaltsausschuss, Protokoll Nr. 17/21, S. 3 f. Fn. 8. 26 Ulrich Häde, Stellungnahme vom 17. Mai 2010, S. 4. 27 Im Schrifttum finden sich teilweise auch kritische Stimmen. Kurt Faßbender, Der europäische „Stabilisierungsmechanismus“ im Lichte von Unionsrecht und deutschem Verfassungsrecht, NVwZ 2010, 799 (800 f.) vertritt die Auffassung, dass die Schwierigkeiten einiger Eurostaaten aus ihrer Staatsverschuldung und nicht aus der Finanzkrise resultierten. Zudem stelle es kein außergewöhnliches Ereignis dar, wenn infolge der Spekulationen „die Akteure an den Kapitalmärkten Konsequenzen aus den desaströsen Haushaltszahlen einzelner Mitgliedstaaten ziehen“. Schließlich seien zwar „die Inhaber der Staatsanleihen der hochverschuldeten Euro-Staaten sowie die Fähigkeit dieser Staaten, sich günstig auf den Kapitalmärkten zu finanzieren“ gefährdet; eine Gefährdung der Stabilität des Euro oder eine „Systemkrise“ lägen hingegen nicht vor. Nach Jürgen Schwarze, Die europäische Beihilfenkontrolle (Art. 87 ff. EG) in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise, DVBl. 2009, 1401 (1407) lässt sich die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise nicht als „außergewöhnliches Ereignis“ im Sinne des Art. 107 Abs. 2 lit. b AUEV werten. Ein außergewöhnliches Ereignis umfasse nur solche Vorgänge, die von außen in den Wirtschaftsablauf eingreiften; bei der gegenwärtigen Krise sei die Störung letztlich aus dem Wirtschaftsablauf selbst hervorgegangen.

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man sich die weltweite Krise auf den Finanzmärkten hinweg, wären auch die PIIGS trotz ihrer hohen Verschuldung nicht in dem Ausmaß in Finanzierungsschwierigkeiten geraten, wie das jetzt geschieht. Das bedeutet nicht, dass sie nicht auch in einer finanzwirtschaftlichen Normallage über kurz oder lang vor der Notwendigkeit gestanden hätten, ihre Haushalte zu sanieren. Erspart worden wäre ihnen aber die krisenhafte Zuspitzung ihrer Lage, die das Außergewöhnliche des Ereignisses ausmacht, das Voraussetzung für den finanziellen Beistand der Union ist28. Not kennt also im Unionsrecht durchaus ein Gebot: finanzielle Solidarität mit dem betroffenen Mitgliedstaat. Sowohl das Verbot des Bail out als auch das allgemein angenommene Kreditaufnahmeverbot für die Union müssen in der Krise hinter dem Solidaritätsgebot zurückstehen. IV. Die Eigeninteressen der Geberländer Das gilt auch im eigenen Interesse der anderen Mitgliedstaaten der Eurogruppe. Die gemeinsame Währung bindet die wirtschaftlichen und finanziellen Interessen aller Mitglieder dieser Gruppe zusammen. Wird die Stabilität des Euro gefährdet, leiden nicht nur Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien, sondern auch Deutschland, Frankreich, die Beneluxländer und die übrigen Mitglieder der Eurogruppe. Deshalb war es ein Fehler, dass Deutschland sich aus offensichtlich innenpolitischen Gründen so lange gegen die Hilfe für Griechenland gesperrt hat. Gerade ein wirtschaftlich starkes Mitgliedsland der Europäischen Union wie Deutschland, das von der Einführung des Euro durch die damit verbundene Erleichterung und Förderung seiner Ausfuhren wesentlich profitiert, darf und kann sich der europäischen Solidarität nicht wegen kurzfristig zu befürchtender Nachteile bei Landtagswahlen entziehen. Dieses Verhalten hat die Krise verschärft, weil die Märkte als Folge des deutschen Zögerns Zweifel an der Bereitschaft der Union bekommen haben, den Euro als ihre Währung gemeinsam kraftvoll zu verteidigen. Wärend die anderen Mitgliedstaaten schon im Februar oder März, als sich die Schwierigkeiten Griechenlands abzuzeichnen begannen, und nicht erst im Mai eingeschritten und hätten keinen Zweifel an ihrer Solidarität mit dem Land gelassen, wäre die Hilfe wesentlich billiger geworden. Auch in Währungsfragen gilt: Wenn man eine glimmende Lunte auslöscht, entsteht kein Schaden oder der Schaden bleibt jedenfalls gering. Wartet man ab und führt dem Feuer durch entsprechende Äußerungen noch Sauerstoff zu, droht ein Flächenbrand zu entstehen, der wesentlich schwerer zu bekämpfen ist und wesentlich mehr Schaden anrichtet. Das zweite Rettungspaket hat im Mai diesen Flächenbrand zwar gerade noch einmal verhindert. Der Preis dafür besteht aber in viel höheren finanziellen Kosten, die sich allein für Deutschland auf bis zu 150 Milliarden Euro belaufen können.

28 So auch Ulrich Häde, Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, EuZW 2009, 399 (401).

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V. Das Lissabonurteil des Bundesverfassungsgerichts In diesem Zusammenhang gibt auch die Rolle des Bundesverfassungsgerichts Anlass zum Nachdenken. Es ist zwar verständlich und nicht ohne Anlass, dass das Gericht in seinem Lissabonurteil29 deutlich gemacht hat, auch das integrationsfreundliche Grundgesetz setze Grenzen für die Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf die Europäische Union und die vertraglichen Grundlagen räumten der Union keine Kompetenz-Kompetenz ein30. Das fragile Gleichgewicht zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof, zwischen dem auch vom Bundesverfassungsgericht anerkannten Vorrang des Unionsrechts31 und dem vom Bundesverfassungsgericht zu wahrenden Eigenstand des Grundgesetzes als der deutschen Verfassung gerät jedoch in Gefahr, wenn die Verfassungsrechtsprechung so verstanden werden kann und wohl auch soll, dass sie die Bundesregierung auf vielen Handlungsfeldern in Brüssel gleichsam unter Kuratel stellt. Die bislang nur im Rahmen eines vom Bundesverfassungsgericht abschlägig beschiedenen Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz geprüften Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus stehen verfassungsprozessual auf äußerst schwachen Füßen – man könnte auch sagen, sie sind offensichtlich unzulässig, weil eine Grundrechtsverletzung der Beschwerdeführer nicht ersichtlich ist32. Das Bundesverfassungsgericht hat die Beschwerdebefugnis der Bürgerinnen und Bürger aus dem in Art. 38 GG gewährleisteten Wahlrecht zum Bundestag in der Vergangenheit bereits weit ausgedehnt33. Dieses Vorgehen hat ihm zwar den richterlichen Zugriff auf die Kontrolle des Lissabonvertrags eröffnet34. Es hat den Zweiten Senat aber auch verleitet, in relativ freier Rechtsschöpfung einen umfangreichen Katalog von Politikfeldern zu kreieren, die gleichsam integrationsfest sein sollen35. Über diese Brücke gewinnt der Senat Zugang zu einer weitreichenden Kontrolle des Unionshandelns, deren Maßstäbe erst noch zu konturieren sind. Diese richterliche Kompetenzausweitung ist zwar unter dem Gesichtspunkt erklärbar, dass das Gericht dem Schwund seiner eigenen Wirkungsmöglichkeiten ent-

29 BVerfGE 123, 267; ausführlich zu dem Lissabonurteil Hatje/Terhechte (Hrsg.), Grundgesetz und europäische Integration, EuR-Beiheft 1/2010. 30 BVerfGE 123, 267 (392 ff.). 31 BVerfGE 123, 267 (396 ff.). 32 Das Bundesverfassungsgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Grund einer Folgenabwägung abgelehnt, BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2010, Az. 2 BvR 1099/10, EuGRZ 2010, 385 ff. 33 BVerfGE 123, 267 (329 ff.) mit Verweisen auf die frühere Rechtsprechung. 34 Kritisch Christoph Schönberger, Die Europäische Union zwischen „Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot, Der Staat 48 (2009), 535 (539), der von einer „uferlose(n) Entgrenzung des Anwendungsbereichs von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG“ spricht. 35 BVerfGE 123, 267 (Rn. 357 ff.). Kritisch dazu Christoph Schönberger, Der Staat 48 (2009), 535 (554 f.).

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gegenwirken will36, der sich aus jedem Kompetenzzuwachs der Europäischen Union notwendig ergibt. Das Gericht begibt sich aber mit dem von ihm gewählten dogmatischen Ansatz auf ein gefährliches Terrain. Es übernimmt Verantwortung für die Prüfung von Rechtsetzungsakten der Union am Maßstab des Grundgesetzes, die sich zwar unter dem das Unionsrecht prägenden Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung37, der die europäische Kompetenzordnung leitet, im Ansatz rechtfertigen lässt. In diesem Ansatz ist jedoch die Gefahr inhärent, dass der Vorrang des Unionsrechts, der für ein wirkungsvolles Handeln der Europäischen Union unverzichtbar ist, im Ergebnis zu sehr eingeschränkt werden wird. Das labile Gleichgewicht zwischen begrenzter Einzelermächtigung und Vorrang des Unionsrechts darf auch durch den Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts nicht aufgehoben werden. Das aber wäre der Fall, wenn das Gericht nach der extensiven Auslegung von Art. 38 GG nunmehr die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG so deuten würde, dass sie ihm den Zugang zur umfassenden richterlichen Kontrolle der Angemessenheit der Stabilisierungsmaßnahmen für den Euro eröffnete. Das deutsche Verfassungsrecht hat die Verfassungsbeschwerde auf den Schutz der Verletzung eigener Grundrechte des Beschwerdeführers beschränkt. Dem einzelnen Beschwerdeführer ist nicht das Recht auf Einleitung eines Verfahrens der abstrakten Normenkontrolle eingeräumt38. Dieses Recht ist nicht ohne Grund der Bundesregierung, einer Landesregierung oder einem Viertel der Mitglieder des Bundestages39 vorbehalten. So wird sichergestellt, dass nur Verfassungsorgane oder deren Teile die Autorität des demokratisch legitimierten Gesetzgebers in Karlsruhe auf den Prüfstand stellen können. Die abstrakte Normenkontrolle verlagert in einer parlamentarischen Demokratie Kompetenzen von der Legislative auf die Judikative. Sie schwächt tendenziell die Legitimation des Gesetzgebers, dessen Handeln zwar durch das Volk unmittelbar legitimiert ist, aber immer unter dem Vorbehalt steht, dass nicht das Bundesverfassungsgericht später – in der Regel auf Betreiben der parlamentarischen Opposition – einen Verstoß gegen das Grundgesetz feststellt. Bis zu der Entscheidung des Gerichts ist das Gesetz zwar formell rechtswirksam, materiell aber nur begrenzt verbindlich. Es ist in gewisser Weise vorläufiges Recht. Dieser Legitimationsschwund des parlamentarischen Gesetzgebers ist der Preis für die unbedingte Rechtsstaatlichkeit des staatlichen Handelns, zu der sich Deutschland als Folge seiner Geschichte nicht ohne Grund ver36 Siehe dazu Jörg Philipp Terhechte, Europäischer Bundesstaat, supranationale Gemeinschaft oder Vertragsunion souveräner Staaten? – Zum Verhältnis von Staat und Union nach dem Lissabon-Urteil des BVerfG, EuR-Beiheft 2010, 135 (141 f.). 37 Zum Inhalt und zur Funktion des Grundsatzes Hans-Peter Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWG-Vertrages, 1991, S. 20 ff. 38 Siehe zur Verfassungsbeschwerde und zum Verfahren der abstrakten Normenkontrolle Joachim Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 93 Rn. 55 ff., 75 ff. 39 Siehe zur Senkung des Quorums für die Antragsberechtigung von einem Drittel auf ein Viertel der Mitglieder des Bundestages Joachim Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, 2. Aufl., Supplementum 2010, Art. 93 Rn. 17a ff.

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pflichtet hat. Dennoch wird nicht ohne Grund beklagt, dass die Politik als Reaktion auf diesen Mechanismus zu oft abwartend nach Karlsruhe blickt, selbst wenn eine mutige politische Entscheidung geboten wäre40. Es wäre fatal, wenn das Gericht nun dazu überginge, jedem Bürger durch eine sehr weite Auslegung der Grundrechte, hier der Eigentumsgarantie, faktisch die Einleitung eines Verfahrens der abstrakten Normenkontrolle zu ermöglichen. Ein solches Vorgehen würde dem Gericht zwar die Kontrolle jedes politisch umstrittenen Gesetzes ermöglichen, weil sich immer beschwerdewillige Bürgerinnen und Bürger finden, die die erforderliche Verfassungsbeschwerde erheben. Das Gericht setzte sich damit aber faktisch über die Vorgabe der Verfassung in Art. 93 Abs.1 Nr. 2 GG hinweg, die das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gerade nicht jedermann, sondern nur den Regierungen und einem Viertel der Bundestagsabgeordneten eröffnet. Diese Beschränkung ist nicht zufällig, sondern dient dem Schutz der Autorität und Legitimität des Handelns des Gesetzgebers. Kann er von seinem Gesetzgebungsrecht nur noch unter dem Vorbehalt der Bestätigung seiner Regelung im regelmäßig auf das Gesetzgebungsverfahren folgenden verfassungsgerichtlichen Verfahren Gebrauch machen, verlagert sich der Schwerpunkt der öffentlichen Debatte vom Parlament auf das Gericht41. Selbstverständlich ist die Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz zulässig. Sie muss aber verfassungsprozessual nicht ohne Grund hohe Hürden überwinden. Das Bundesverfassungsgericht selbst betont in ständiger Rechtsprechung, dass ein Beschwerdeführer, der seine Verfassungsbeschwerde direkt gegen ein Gesetz richtet, von diesem Gesetz selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen sein muss42. Das ist in aller Regel nicht der Fall, weil die Grundrechtsverletzung sich nicht aus dem Gesetz, sondern erst aus einem Vollzugsakt ergibt. Diesen Vollzugsakt muss ein potentieller Beschwerdeführer abwarten. Er muss ihn dann vor den Fachgerichten anfechten und kann sich erst nach Erschöpfung des Rechtswegs an das Bundesverfassungsgericht wenden43. Diese Zugangsregelung gewährleistet ihm Schutz vor einer Verletzung seiner Grundrechte, respektiert und sichert aber auch die unmittelbare demokratische Legitimation des Handelns des Parlaments durch die Volkswahl. Ruft man sich diese Zusammenhänge in Erinnerung, ist zumindest auf den ersten Blick nicht zu erkennen, wie eine gesetzliche Ermächtigung der Exekutive, Bürg40

Kritisch Ernst Gottfried Mahrenholz, Zur Funktionsfähigkeit des BVerfG, ZRP 1997, 129 (132): „Die Politik wäre gut beraten (…) selbstkritisch zu fragen, ob sie auf ein Instrument der Fortsetzung der Politik mit verfassungsrechtlichen Mitteln verzichten kann“. 41 Zu der Frage, ob das Bundesverfassungsgericht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers respektiert Jochen Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Loseblatt, 33. Ergänzungslieferung, Stand: August 2010, § 76 Rn. 2 mit weiteren Literaturangaben in Fn. 19. 42 Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 1, 91 (94 f.). Seit BVerfGE 53, 30 (48 ff.) sind diese Trias auch für Beschwerden gegen Einzelakte maßgeblich. 43 Vgl. etwa BVerfGE 74, 33 (37); hierzu auch Wolf-Rüdiger Schenke, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze, NJW 1986, 1451 (1452 f.).

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schaften einzugehen, Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern verletzen sollte. Das gilt auch im vorliegenden Fall, in dem es um Bürgschaften und Gewährleistungen in dreistelliger Milliardenhöhe geht. Als Bürger mag man diese Form der Rettungsaktion für den Euro und in finanziellen Schwierigkeiten befindliche Mitgliedstaaten der Europäischen Union für politisch verfehlt halten – eine unmittelbare, gegenwärtige Verletzung eigener Grundrechte wird man kaum plausibel begründen können. Soweit ins Feld geführt wird, die entsprechenden Gesetze würden über kurz oder lang zu erheblicher Inflation in Deutschland führen44, ist darauf hinzuweisen, dass die Meinungen der Experten in dieser Frage zumindest geteilt sind45. VI. Die Gefahren des Nichthandelns Zudem wäre auch ein Nichthandeln des Gesetzgebers mit erheblichen Gefahren verbunden: Sollte tatsächlich ein Mitgliedstaat der Eurogruppe zahlungsunfähig werden, würde das vermutlich die Stabilität des Euro ernsthaft ins Wanken bringen und die Spekulation weiter anheizen. Die vergangenen Monate legen die Vermutung nahe, dass die Zahlungsunfähigkeit eines Staates aus der Gruppe der PIIGS an den Finanzmärkten als Signal für Wetten auf die Zahlungsunfähigkeit anderer Mitglieder dieser Gruppe verstanden werden würde. Daneben wären vermutlich Forderungsausfälle bei deutschen Banken in beträchtlicher Höhe zu befürchten, so dass die nächste Milliardenhilfe des Staates nicht mehr zu vermeiden wäre. Die niedrigen Zinsen und das reichlich zur Verfügung stehende Zentralbankgeld machen es gegenwärtig zu einem lohnenden Geschäft, mit dem niedrig verzinsten Zentralbankgeld höher verzinste Kredite an Staaten zu vergeben, die wegen ihrer Schwierigkeiten geneigt sind, deutlich höhere Zinsen zu zahlen als solvente Schuldner. Das erklärt den hohen Anteil von Krediten nicht nur deutscher, sondern auch französischer und anderer Banken an die PIIGS. VII. Die Casinomentalität der Finanzmärkte Das Ausfallrisiko wird über Credit Default Swaps, kurz CDS, abgesichert, die auf den Finanzmärkten als beliebtes Instrument für Wetten, etwa gegen Währungen, be-

44 So die Beschwerdeführer der Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus, BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2010, Az. 2 BvR 769/10, EuGRZ 2010, 385 (387). 45 Vgl. Michael J. Brück/Christoph Schalast/Kay-Michael Schanz, Finanzkrise letzter Akt: Die deutschen Zustimmungsgesetze zur Griechenlandfinanzhilfe und zum europäischen Stabilisierungsmechanismus, BB 2010, 2522 (2526) mit Verweis auf Die Welt online vom 29. 8. 2010: Die Inflationsbegünstigung werde theoretisch angenommen, habe sich aber in der Praxis nicht verwirklicht, da auch nach den entsprechenden Rettungsaktionen weitere historische Zinstiefstände zu beobachten seien.

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nutzt werden46. Grundsätzlich dienen CDS als Versicherungen gegen Forderungsausfall. Wenn etwa eine Bank an ein Unternehmen oder einen Staat Kredite in beträchtlicher Höhe vergibt, können sie sich durch CDS gegen den Zahlungsausfall des Schuldners versichern. Darüber hinaus eignen sich CDS aber auch ausgezeichnet für zwar riskante, aber durchaus gewinnträchtige Casinogeschäfte auf den Finanzmärkten. Wer etwa Anfang 2010 davon ausging, dass Griechenland auf absehbare Zeit in Zahlungsschwierigkeiten geraten würde, konnte CDS auf griechische Verbindlichkeiten erwerben und darauf hoffen, dass sich diese CDS im Laufe der Zeit verteuern würden. Tritt diese Verteuerung nicht von selbst ein, kann dem vor allem von hinreichend finanzkräftigen Marktteilnehmern auch etwas nachgeholfen werden. Möglichkeiten sind Äußerungen vergleichbarer Art, wie sie seinerzeit der Vorstandssprecher der Deutschen Bank über Leo Kirchs Kreditwürdigkeit getan hat. Oft reicht aber schon ein am Markt sichtbar werdendes verstärktes Engagement in bestimmten CDS, um Nachahmer und Trittbrettfahrer auf den Plan zu rufen. Börsenteilnehmer folgen tendenziell dem Herdentrieb. Im Ergebnis bieten CDS verlockende Wettmöglichkeiten für risikofreudige und finanzkräftige Investoren – um das hässliche Wort Spekulanten zu meiden. Erwirbt jemand für 200.000 Euro im Jahr CDS, die Ansprüche aus Staatsanleihen in Höhe von 100 Millionen Euro gegen eine Zahlungsunfähigkeit Griechenlands in den nächsten drei Jahren absichern, ist sein Risiko begrenzt. Er kann in den nächsten zehn Jahren insgesamt 2 Millionen Euro verlieren, gewinnt aber 100.Millionen, wenn Griechenland seine Verpflichtungen nicht erfüllt. Das Risiko ist überschaubar, die Gewinnmöglichkeit übersteigt die Chance, die man hat, wenn man im Roulette 2 Millionen Euro auf eine Zahl setzt. Zudem macht der Investor schon einen Gewinn, wenn die Märkte das Risiko einer Zahlungsunfähigkeit Griechenlands in den nächsten zehn Jahren höher einschätzen als zum Zeitpunkt des Kaufs, weil dann der Preis des CDS steigt, also etwa von 200.000 auf 220.000 Euro. Kommt es tatsächlich zur Zahlungsunfähigkeit Griechenlands, erhält der Investor 100 Millionen - wahrscheinlich ohne dass er selbst Verluste erleidet, weil er vermutlich keine Staatsanleihen Griechenlands im Depot hat. Nicht ohne Grund wird ein solcher CDS mit der Versicherung des Hauses des Nachbarn gegen Brandschäden verglichen. Würden solche Versicherungen angeboten, wäre mit einem erheblichen Ansteigen der Zahl von Hausbränden zu rechnen. Der Markt mit CDS funktioniert zwar nur solange, wie sich genügend Investoren finden, die bereit sind, als Gegenpartei zu fungieren. Das ist aber bislang in der Regel der Fall, weil nicht alle Investoren über die gleichen marktrelevanten Informationen verfügen und die gleichen Einschätzungen teilen. Auch insoweit gilt der Satz eines der reichsten Männer der Welt, des Investors Warren Buffett: „There is a dummy in every market. If you cannot see the dummy, you are the dummy.“

46 Ausführlich zu Credit Default Swaps Günter Reiner/Johann A. Schlacht, Credit Default Swaps und verbriefte Kreditforderungen in der Finanzkrise, WM 2010, 337 ff. und WM 2010, 385 ff.

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VIII. Die Aufgabe des Staates Führt man sich diese Marktmechanismen vor Augen, überrascht es nicht, warum es in relativ kurzer Zeit zu Spekulationen gegen bestimmte Länder in drei- oder mehrstelliger Milliardenhöhe kommen kann – insbesondere, wenn mehrere finanzkräftige Investoren ihre Mittel poolen und abgestimmt vorgehen. Die Verteidigung gegen eine solche Spekulation kann nur gelingen, wenn die Mitglieder der Eurogruppe keinen Zweifel an ihrer Solidarität und an ihrer Entschlossenheit zu gemeinsamem Handeln aufkommen lassen. Solidarität muss schnell und entschlossen gezeigt werden, wenn sie die Finanzmärkte beeindrucken soll. Wer die Solidarität zu zögerlich zeigt, erhöht ihre Kosten beträchtlich. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, wie moral hazard in der Eurogruppe verhindert werden kann. Wenn alle Mitgliedstaaten wissen, dass sie jedenfalls im äußersten Notfall auf finanzielle Unterstützung anderer Mitgliedstaaten rechnen können, wird diese Kenntnis ihr Verhalten beeinflussen und sie risikogeneigter machen, was die Gestaltung ihrer Haushalte angeht47. Die Bereitschaft zu übermäßiger Kreditaufnahme wird wachsen, wenn hinreichende Erwartungsgewissheit besteht, dass letztlich Hilfe von außen kommen wird. Das gilt für Finanzunternehmen wie Banken und Versicherungen nicht anders als für Staaten. Solange die Banken die Möglichkeit haben, billiges Zentralbankgeld gegen höhere Zinsen an Staaten zu verleihen, die in Zahlungsschwierigkeiten sind, werden sie das gern tun. Die Bereitschaft von Finanzinstituten, Risiken einzugehen, wächst, wenn sie bei fehlgeschlagenen Spekulationen mit staatlicher Hilfe (Bail out) rechnen dürfen. Da die Staaten sich nach dem Zusammenbruch der Lehmann Brothers entschlossen zu haben scheinen, systemrelevante Banken wie in Deutschland etwa die HRE oder die Commerzbank48 in jedem Fall und ohne Rücksicht auf die Kosten zu unterstützen, können die Banken geschäftliche Risiken eingehen, ohne eine Insolvenz fürchten zu müssen. Damit sind die grundlegenden Regeln der Marktwirtschaft praktisch außer Kraft gesetzt und der Staat degeneriert zur Agentur der schlechten Risiken49. Demgegenüber ist an den Satz des Ökonomen Hyman Minsky zu erinnern: „If a bank is too big to fail, it is too big“. Der Staat darf sein Machtmonopol auch nicht indirekt dadurch gefährden, dass er die Märkte sich selbst überlässt und das Geld der Steuerzahler einsetzt, wenn es zu einer Krise kommt. Er muss seiner Verantwortung für einen angemessenen Ordnungsrahmen für das Handeln der Marktteilnehmer nachkommen, damit die Marktwirtschaft funktionieren kann. Diese regulierende Aufgabe kann er aber nur erfüllen, wenn er auch im Verhältnis zu Wirtschaftsunternehmen und Finanzinstituten handlungsfähig bleibt. 47 So auch Walter Frenz/Christian Ehlenz, Europäische Wirtschaftspolitik nach Lissabon, GewArch 2010, 329 (333), die für die Zukunft einen geringeren Ansporn der Mitgliedstaaten zur disziplinierten Haushaltsführung befürchten. 48 Zur staatlichen Beteiligung an der Commerzbank und Übernahme der HRE Joachim Wieland, Der Staat als Aktionär der letzten Instanz, ZSE 2009, 470 (477 ff.). 49 Jochim Wieland, Der Staat als Aktionär der letzten Instanz, ZSE 2009, 470 (472).

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Deshalb ist die vom Bundeswirtschaftsminister geplante Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für eine Entflechtung von Unternehmen50 ein wichtiges Mittel, um den Staat gegenüber Wirtschaftsunternehmen handlungsfähig zu halten. Die Möglichkeit der Entflechtung von Wirtschaftsunternehmen ist seit über 100 Jahren Bestandteil des Kartellrechts der Vereinigten Staaten von Amerika und hat sich dort bewährt. Wer die Entflechtung ablehnt, steht selbst in der Verantwortung, Vorschläge zu machen, wie mit systemrelevanten Banken umgegangen werden soll. Solange die Systemrelevanz eines Finanzinstituts es ausschließt, dass eine Bank oder eine Versicherung in die Insolvenz gehen, und solange der Staat in dieser Situation praktisch gezwungen ist, mit Steuergeldern einzuspringen, funktioniert ein grundlegendes Prinzip der Marktwirtschaft nicht: Die begünstigten Unternehmen haften nicht für Fehlverhalten und Fehleinschätzungen ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten, sondern können sich darauf verlassen, dass sie nötigenfalls mit öffentlichen Mitteln gerettet werden. Das fördert die Bereitschaft zum Abschluss riskanter, gewinnträchtiger Geschäfte nicht weniger als Erfolgsprämien für das Management, die nicht am langfristigen Unternehmenserfolg, sondern an kurzfristig realisierbaren Gewinnen orientiert sind und damit eine Casinomentalität fördern. Hier bedarf es ebenfalls staatlicher Regulierung. Eigenkapitalrenditen von 25 Prozent lassen sich nur bei hoher Risikobereitschaft erzielen. Wenn ein Unternehmen dieses Risiko eingehen will, muss auch gesichert sein, dass es selbst und seine Gesellschafter, nicht aber die Allgemeinheit der Steuerzahler die Folgen tragen. IX. Übermäßige Defizite Für Staaten gilt im Grundsatz das Gleiche wie für Unternehmen: Auch ein Staat darf keine Risiken eingehen, die er nicht mehr beherrscht. Wenn die Risiken von Finanzunternehmen größer sind als der Staatshaushalt, gefährdet das ebenso dessen wirtschaftliche Stabilität wie die Aufnahme zu hoher Schulden. Dafür muss die Bevölkerung büßen, die auf diesem Wege die Folgen einer verfehlten Wahlentscheidung zu tragen hat. Die wirtschaftliche Belastung der Bevölkerung setzt dem Einfordern einer Sanktion für eine zu hohe staatliche Kreditaufnahme allerdings moralische und faktische Grenzen. Werden Sparmaßnahmen zu hart, droht zunächst eine Rezession, die zu einer weiteren Einschränkung der Zahlungsfähigkeit der Schuldnerstaaten, im schlimmsten Fall zu Aufruhr und Bürgerkrieg führt. Beides liegt nicht im Interesse der Gläubiger. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Mitgliedstaaten der Eurogruppe in der Höhe ihrer Kreditaufnahme frei wären. Art. 126 AEUV, der frühere Art. 104 EGV, stellt in Abs. 1 lakonisch fest: „Die Mitgliedstaaten vermeiden übermäßige öffentliche Defizite.“ Daran schließen sich detaillierte Regelungen über die Höhe des zulässigen Defizits und das Verfahren bei einem übermäßigen öffentlichen Defizit an. Insbesondere 50 Näher dazu Daniel Zimmer,Gutachten G zum 68. Deutschen Juristentag, in: Verhandlungen des 68. Deutschen Juristentages, Bd. 1, 2010, S. G 26 mit Fn. 41.

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wird die Kommission verpflichtet, die Haushaltslage und die Höhe des öffentlichen Schuldenstands in den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Feststellung schwerwiegender Fehler zu überwachen – leichtere Fehler sind offenbar der Aufmerksamkeit der Kommission nicht wert. Die Kommission prüft die Einhaltung der Haushaltsdisziplin anhand zweier Kriterien, die in dem 1992 beschlossenen Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit51 festgelegt sind, das zum Primärrecht gehört52. Es legt in seinem Art. 1 die Referenzwerte fest, die im Vertrag selbst nicht definiert sind: Das Verhältnis des öffentlichen Defizits zum Bruttoinlandsprodukt darf 3 Prozent nicht überschreiten. Ganz so ernst ist dieser Grenzwert aber doch nicht gemeint, denn zwei Abweichungsmöglichkeiten werden gleich mitgeliefert: Der Wert von 3 Prozent gilt, „es sei denn, dass entweder das Verhältnis erheblich und laufend zurückgegangen ist und einen Wert in der Nähe des Referenzwerts erreicht hat oder der Referenzwert nur ausnahmsweise und vorübergehend überschritten wird und das Verhältnis in der Nähe des Referenzwertes bleibt.“ Eine vergleichbare Weichspülung des eigentlich klaren mathematischen Wertes durch unbestimmte Rechtsbegriffe findet sich bei dem zweiten Referenzwert, der das Verhältnis des öffentlichen Schuldenstands zum Bruttoinlandsprodukt betrifft. Hier beträgt der Referenzwert 60 Prozent, „es sei denn, dass das Verhältnis hinreichend rückläufig ist und sich rasch dem Referenzwert nähert.“ Wer so formuliert, gibt deutlich zu erkennen, dass die auf den ersten Blick präzisen Kriterien doch viel Raum für Interpretationen lassen. Auf Betreiben Deutschlands hin wurde die Vertragsbestimmung 1997 noch durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt ergänzt53, weil einige Mitgliedstaaten befürchteten, dass die genannten primärrechtlichen Vorgaben für die mitgliedstaatliche Haushaltsdisziplin zu vage seien. Den Beteiligten war klar, dass ein Staatshaushalt ohne übermäßiges öffentliches Defizit zwar Voraussetzung für die Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion war, dass der Anreiz für eine solide Haushaltswirtschaft jedoch entfallen würde, wenn die „Eintrittskarte aber einmal gelöst“ sei54. Deshalb wurde 1997 die Verordnung (EG) Nr. 1467/97 des Rates über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit55 als Teil des Stabilitäts- und Wachstumspakts beschlossen. Die Verordnung straffte das Verfahren nach Art. 104 EGV und engte die Bewertungsspielräume sowie die Entscheidungsfreiheit von Kommission und Rat bei der Verhängung von Sanktionen ein. Wie ernst diese Verschärfung der Regeln gemeint war, erwies sich allerdings bald: Als im November 2002 gegen Deutschland und im April 2003 gegen Frankreich ein Defizitverfahren eingeleitet wurde, richtete die Kommission zwar Empfehlungen für 51

Nunmehr als Protokoll Nr. 12 abgedruckt in ABl. EU Nr. C 115/279. Nach Art. 51 EUV sind die Protokolle Bestandteil der Verträge. 53 Die deutsche Bundesregierung schlug bereits im November 1995 einen „Stabilitätspakt“ vor. Vgl. dazu Rüdiger Bandilla, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II, Art. 104 EGV Rn. 3. 54 Doris Hattenberger, Art. 104 Rn. 8, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009 m. w. N. 55 ABl. EG 1997 Nr. L 209/6. 52

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eine Entscheidung an den Rat, wie es im Primärrecht vorgesehen war. Der Rat stellte auch fest, dass in Deutschland ein übermäßiges Defizit bestehe und empfahl der deutschen Regierung, das Defizit durch verschiedene Maßnahmen so schnell wie möglich zu beenden, setzte dann aber das Defizitverfahren implizit aus, weil er die von Deutschland getroffenen Maßnahmen als wirksam ansah. Demgegenüber hielt die Kommission die von Deutschland getroffenen Maßnahmen für ungeeignet und empfahl dem Rat die Feststellung gemäß Art. 104 Abs. 8 EGV, dass die von Deutschland ergriffenen Maßnahmen sich als ungeeignet erwiesen hätten, um dem übermäßigen Defizit abzuhelfen. Außerdem sollte der Rat Deutschland gemäß Art. 104 Abs. 9 EGV mit der Maßgabe in Verzug setzen, Maßnahmen zum Abbau des Defizits zu treffen. Ähnlich sollte gegen Frankreich vorgegangen werden56. Schon bei dieser ersten Belastungsprobe versagte der Stabilitäts- und Wachstumspakt. Der Rat beschloss, den im Primärrecht vorgegebenen Empfehlungen der Kommission nicht zu folgen, gab sich mit geringeren Bemühungen von Deutschland und Frankreich zufrieden und setzte das Defizitverfahren aus. Die Klage der Kommission gegen das Verhalten des Rates vor dem Europäischen Gerichtshof hatte zwar Erfolg57. Der Rat reagierte aber sofort mit einer Verlängerung der Fristen im Defizitverfahren im Verordnungswege und erweiterte die Entscheidungsspielräume von Kommission und Rat. Das „ausnahmsweise Überschreiten“ des Referenzwertes wurde großzügiger gefasst. Ausdrücklich wurde die Möglichkeit vorgesehen, Verfahrensstufen zu wiederholen58. Wer so mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt umgeht, darf sich nicht wundern, wenn er von Beteiligten nicht sehr ernst genommen wird. Dass Griechenland insoweit ein Problemfall sein könnte, war schon vor dessen Beitritt zur Eurogruppe bekannt. Otto Graf Lambsdorf hat am 28. April 2001 in einem Interview vor der Aufnahme Griechenlands in die Euro-Zone mit folgenden Worten gewarnt: „Und jetzt Griechenland aufzunehmen bei den dort vorhandenen Zuständen, immer wirtschaftlich und ökonomisch gesehen, halte ich für einen kapitalen Fehler. Es wird die Situation weiter verschlechtern, und ich kann mich eigentlich nur wundern, was man den Bürgern eigentlich alles zumutet, wenn man jetzt diesen Beschluss auch noch fassen will zur ungeeigneten Zeit und unter ungeeigneten Voraussetzungen“59.

Warum hat Deutschland trotzdem für die Aufnahme Griechenlands gestimmt? Weil wir als Exportnation durch die Einführung des Euro in Griechenland dort wesentlich bessere Absatzmöglichkeiten erhalten haben, die wir auch nutzen. Bei aller berechtigten Verärgerung über die griechische Bilanzkosmetik sollte nicht ver56 Zum Verlauf des damaligen Defizitverfahrens gegen Deutschland ausführlich Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Herrmann, Todgesagte leben länger – oder doch nicht? Der Stabilitäts- und Wachstumspakt nach dem Beschluss des Rates vom 25. 11. 2003 über das Ruhen der Defizitverfahren gegen Frankreich und Deutschland, NJW 2004, 1553 (1554 f.). 57 EuGH, Slg. 2004, I-6649 – Kommission/Rat. 58 VO (EG) Nr. 1056/2005. 59 Zitiert nach BT-Plenarprotokoll 17/41 vom 7. Mai 2010, S. 3994 (C).

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gessen werden, dass die Zahl der Arbeitslosen trotz der Krise in Deutschland gegenwärtig zurückgeht und der Aktienmarkt relativ stabil auf vergleichsweise hohem Niveau verharrt. X. Ergebnis Die Vorteile, die Deutschland aus der Währungsunion zieht, rechtfertigen ein gewisses Maß an Solidarität mit den PIIGS, verbunden mit zukünftig mehr Vorsicht gegenüber den von den Mitgliedstaaten gelieferten Zahlen. Der Beschluss der EU-Finanzminister von Anfang dieser Woche, die Regeln des Stabilitätspakts wieder strenger zu fassen und rechtzeitig die nationale Haushaltsplanung auf übermäßige Defizite zu prüfen, insbesondere auch der Statistikbehörde der Europäischen Union Eurostat eigene Prüfrechte einzuräumen, weist in die richtige Richtung. Übermäßige Haushaltsdefizite kann man in Europa ebenso wie in Deutschland nur durch möglichst frühzeitiges Einschreiten verhindern. Anspruch auf Solidarität in der Zukunft kann nur der geltend machen, der sich an die Regeln hält. Sanktionen für vergangenes Verhalten lassen sich dagegen mit Rücksicht auf die betroffene Bevölkerung nur sehr begrenzt durchsetzen. Hinzu kommt, dass ein zu strikter Sparkurs die Gefahr einer Rezession mit sich bringt, die eine Bekämpfung eines übermäßigen Defizits erschwert und nicht erleichtert. Trotz hoher Schuld und hoher Schulden ist also bei den PIIGS nicht sehr viel Raum für Sanktionen. Geboten ist Solidarität in der Not, verbunden mit besseren Kontrollen in der Zukunft und vor allem sorgfältiger Prüfung, mit wem man sich in der Währungsunion auf Dauer verbindet.

Schriftenverzeichnis von Rainer Wahl Aufgrund ihrer thematischen Bezüge mehrfach zugeordnete Schriften sind mit * markiert.

I. Selbständige Veröffentlichungen 1. Stellvertretung im Verfassungsrecht, Berlin 1971 (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 170). 2. Hans Gerwin Burgbacher / Hans Werner Gartmann / Dieter Grunow / Rolf Knieper / Eckard Rehbinder / Franz Jürgen Röttger / Rainer Wahl, Juristische Berufspraxis, Kronberg 1976. 3. Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, 2 Bände, Berlin 1978 (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 341). 4. Nationale Kernenergiepolitik und Gemeinschaftsrecht, Düsseldorf 1995 (gemeinsam mit Georg Hermes). 5. Prävention und Vorsorge. Von der Staatsaufgabe zu den verwaltungsrechtlichen Instrumenten (Hrsg.), Studien zum Umweltstaat, Berlin 1995 (gemeinsam mit Ivo Appel). 6. Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt 2003. 7. Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Berlin 2006. • Teil II und III unter dem Titel: Aux origines du droit public allemand contemporain, Revue du droit public, 2007, p. 819 – 843 (übersetzt von Olivier Jouanjan). • Kurzfassung in: Waseda Proceedings of Comparative Law, vol. 5, 2005, S. 96 – 112.

II. Herausgeber von Sammelbänden 1. Offene Staatlichkeit. Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, hrsgg. gemeinsam mit Rolf Grawert, Bernhard Schlink, Joachim Wieland, Berlin 1995. 2. Das Recht des Menschen in der Welt. Kolloquium aus Anlaß des 70. Geburtstags von ErnstWolfgang Böckenförde, hrsgg. gemeinsam mit Joachim Wieland, (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 28), Berlin 2002. 3. Verfassungsrecht der Humangenetik im deutsch-japanischen Vergleich: zwei deutsch-japanische Symposien, Tokyo 1998 und Freiburg 2000, Freiburg 2002. – Online-Ressource UB Freiburg: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5028 4. Umweltverfassungsrecht im deutsch-japanischen Vergleich: zwei deutsch-japanische Symposien Tokyo 1998 und Freiburg 2000, Freiburg 2002. – Online-Ressource UB Freiburg: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5029

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5. Umweltrecht und Umweltwissenschaft. Festschrift für Eckard Rehbinder, hrsgg. gemeinsam mit Martin Führ, Peter von Wilmowsky, Berlin 2007. 6. Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation: Vorträge bei deutschjapanischen Symposien in Tokyo 2004 und Freiburg 2005 (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 1104), Berlin 2008.

III. Kommentierungen 1. Gentechnikgesetz (GenTG), in: Robert von Landmann / Gustav Rohmer, Umweltrecht II, München 1994. 2. Kommentierung zu § 42 Abs. 2 VwGO, in: Rainer Pietzcker / Eberhard Schmidt-Aßmann / Friedrich Schoch (Hrsg.), Kommentar zur VwGO, München 1996 (gemeinsam mit Peter Schütz).

IV. Aufsätze 1. Verfassungsrecht Siehe auch I. Nr. 1, 6 und 7 sowie II. Nr. 6 1.

*Die Weiterentwicklung der Institution des Parlamentarischen Staatssekretärs, Der Staat Bd. 8 (1969), S. 327 – 347.

2.

*Notwendigkeit und Grenzen langfristiger Aufgabenplanung, Der Staat Bd. 11 (1972), S. 459 – 482. • Auch in: Manfred Rehbinder (Hrsg.), Recht im sozialen Rechtsstaat, Opladen 1973, S. 363 – 388. • Überarbeitete Fassung: Politische Planung in der differenzierten Gesellschaft. Notwendigkeiten, Grenzen und verfassungspolitische Probleme, in: Bernhard Schäfers (Hrsg.), Gesellschaftliche Planung. Materialien zur Planungsdiskussion in der BRD, Stuttgart 1973, S. 127 – 157 ff.

3.

*Probleme der Ministerialorganisation, Der Staat Bd. 3 (1974), S. 383 – 398.

4.

Empfehlungen zur Verfassungsreform. Zum Schlußbericht der EnquÞte-Kommission Verfassungsreform, AöR Bd. 103 (1978), S. 477 – 521.

5.

*Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, Der Staat Bd. 18 (1979), S. 321 – 348, auch in: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 341 – 373. • Auch in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Moderne Deutsche Verfassungsgeschichte (1815 – 1914), 2. Auflage, Königstein / Ts. 1981, S. 346 – 371.

6.

Der Vorrang der Verfassung, Der Staat Bd. 20 (1981), S. 485 – 516, auch in: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 121 – 160.

7.

Antragsschrift und Plädoyer, in: Wolfgang Heyde / Gotthard Wöhrmann (Hrsg.), Auflösung und Neuwahl des Bundestages 1983 vor dem Bundesverfassungsgericht. Dokumentation des Verfahrens, Heidelberg 1984, S. 3 – 50 und S. 156 – 162.

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Entwurf zur Änderung der Juristenausbildung, Mitteilungen des Hochschulverbandes 1984, S. 45 – 50. • Auch in: VBlBW 1984, S. 43 – 46.

9.

Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, NVwZ 1984, S. 401 – 409, auch in: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 161 – 187.

10. Gesetzgeber und Juristenausbildung, DVBl 1985, S. 822 – 831. 11. Staatszielbestimmungen im Verfassungsrecht – Bemerkungen aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland, in: Raimund Rack (Hrsg.), Grundrechtsreform, Wien / Köln / Graz 1985, S. 223 – 235. 12. Rechtsschutz gegen den Staat, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Einführung in das öffentliche Recht, Heidelberg 1985, S. 210 – 243. 13. Grundrechte und Staatszielbestimmungen im Bundesstaat, AöR Bd. 112 (1987), S. 26 – 53. 14. *Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, Freiburger Universitätsblätter, Heft 95, Freiburg 1987, S. 19 – 35. • Auch in: Deutscher Hochschulverband (Hrsg.), Almanach. Ein Lesebuch II, 1998, Eigenverlag, S. 179 – 198. 15. Das Wahlrecht in der Sondersituation der deutschen Einigung, NJW 1990, S. 2585 – 2593. 16. Constitutionalism (Dt. Landesbericht für Sektion IV des XIII. Internationalen Kongresses für Rechtsvergleichung in Montreal 1990), in: Rudolf Bernhardt / Ulrich Beyerlin (Hrsg.), Reports on German Public Law, Heidelberg 1990, S. 85 – 113. 17. Schutz durch Eingriff, JZ 1990, S. 553 – 563 (gemeinsam mit Johannes Masing). 18. Staatsaufgaben im Verfassungsrecht, in: Joachim Jens Hesse (Hrsg.), Staatswissenschaften – eine vergessene Disziplin oder eine Herausforderung, Baden-Baden 1990, S. 29 – 53. 19. Art. „Demokratie, Demokratieprinzip“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Neuwied 1990, S. 1 – 7. 20. Art. „Repräsentation“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Neuwied 1990, S. 1 – 3. 21. Die Verfassungsfrage nach dem Beitritt, Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1990, S. 468 – 484. 22. *Die deutsche Einigung im Spiegel historischer Parallelen, Der Staat Bd. 30 (1991), S. 181 – 208, auch in: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 374 – 410. 23. Der Zugang zum Bundesverfassungsgericht. Aktuelle Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit unter besonderer Berücksichtigung der neuen einheitsbedingten Herausforderungen, in: Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland gestern und heute, Veranstaltung des Gesprächskreises Politik und Wissenschaft des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung am 13. November 1991 in Bonn, Bonn 1991, S. 13 – 42. 24. Denkmalschutz und Verfassungsrecht, in: Arbeitsgemeinschaft Freiburger Stadtbild e.V. (Hrsg.), Freiburger Stadtbild. Zum 25jährigen Bestehen der Arge Stadtbild, Freiburg 1992, Eigenverlag, S. 145 – 158 (gemeinsam mit Georg Hermes).

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25. *Die Aufgabenabhängigkeit von Verwaltung und Verwaltungsrecht, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Eberhard Schmidt-Aßmann / Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts – Grundfragen, Baden-Baden 1993, S. 177 – 218. 26. *Abschied von den „Ansprüchen aus Art. 14 GG“, in: Bernd Bender / Rüdiger Breuer / Fritz Ossenbühl / Horst Sendler (Hrsg.), Festschrift für Konrad Redeker zum 70. Geburtstag, München 1993, S. 245 – 269. 27. Gewaltmonopol des Staates – Vom zwiespältigen Umgang mit einem alten Verfassungsprinzip, in: Konrad von Bonin (Hrsg.), Dokumente des Deutschen Evangelischen Kirchentages München 1993, Gütersloh 1994, S. 510 – 528. 28. Der Finanzausgleich von Bund und Ländern, in: Johannes Ch. Traut (Hrsg.), Verfassung und Föderalismus Rußlands im internationalen Vergleich, Baden-Baden 1995, S. 171 – 188. 29. Die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts in außenpolitischen Angelegenheiten, in: Eckart Klein (Hrsg.), Grundrechte, soziale Ordnung und Verfassungsgerichtsbarkeit. Festschrift für Ernst Benda zum 70. Geburtstag, München 1995, S. 265 – 309 (gemeinsam mit Friedrich Schoch). 30. *Umweltschutz und Verfassungsrecht: Prävention durch staatliche Kontrolle oder durch Haftungsrecht, Ritsumeikan Law Review (Kyoto), Nr. 10, 1995, S. 105 – 124. 31. *Die doppelte Abhängigkeit des subjektiven öffentlichen Rechts, DVBl 1996, S. 641 – 651. 32. Verfassungsrechtsprechung als knappes Gut. Der Zugang zum Verfassungsgericht, JZ 1996, S. 1137 – 1145 (gemeinsam mit Joachim Wieland), auch in: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 188 – 212. • Auf Spanisch in: La jurisdiccion constitucional como bien escaso. El acceso al Bundesverfassungsgericht, Revista espagnola de Derecho constituionel, Madrid, vol. 51, 1997, S. 11 – 35. 33. Welche Gewährleistungen verlangt das Sozialstaatsprinzip unserer Verfassung?, in: Evangelische Akademie Bad Boll (Hrsg.), Abbau oder Umbau des Sozialstaats. Was kann die Rechtspflege tun?, Tagung vom 10.–12. 10. 1997, Eigenverlag 1997, S. 38 – 47. 34. Quo Vadis Bundesverfassungsgericht? Zur Lage von Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassung und Staatsdenken, in: Bernd Guggenberger / Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit, Baden-Baden 1998, S. 81 – 120. 35. *Die zweite Phase des Öffentlichen Rechts in Deutschland. Die Europäisierung des Öffentlichen Rechts, in: Der Staat Bd. 38 (1999), S. 495 – 518. 36. Chancengleichheit und rechtswidrig handelnde Partei, NJW 2000, S. 3260 – 3262. 37. *Das Bundesverfassungsgericht im europäischen und internationalen Umfeld, Aus Politik und Zeitgeschichte 37 – 38 (2001), S. 45 – 54, auch in: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 411 – 435. • Auch in: Robert Christian van Ooyen / Martin H. W. Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, Wiesbaden 2006, S. 477 – 493.

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38. Die Reformfrage, in: Peter Badura / Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Tübingen 2001, S. 461 – 491, auch in: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 213 – 253. 39. Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, JuS 2001, S. 1041 – 1048. 40. *Der offene Staat und seine Rechtsgrundlagen, JuS 2003, S. 1145 – 1151. 41. Humangenetik als Problem nationaler Grund- und internationaler Menschenrechte, in: Pietro Barcellona / Agostino Carrino (Hrsg.), I diritti umani tra politica filosofie e storia, Napoli 2003, S. 301 – 338. 42. *Zwei Phasen des Öffentlichen Rechts nach 1949, Originalbeitrag in: Rainer Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 411 – 435. 43. Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I: Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 745 – 781. 44. *Das Öffentliche Recht als Fundament und dritte Säule des Medizinrechts, in: Jörg Arnold / Björn Burkhardt / Walter Gropp / Günter Heine / Hans-Georg Koch / Otto Lagodny / Walter Perron / Susanne Walther (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht. Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag, München 2005, S. 1243 – 1260. 45. Lüth und die Folgen. Ein Urteil als Weichenstellung für die Rechtsentwicklung, in: Thomas Henne / Arne Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, Bonn 2005, S. 371 – 397. 46. *Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, in: Horst Dreier (Hrsg.), Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit. Festschrift für Hasso Hofmann zum 70. Geburtstag, 2005, S. 114 – 149. • Auch in: JZ 2005, S. 916 – 925. • Auch in: Teora y Realidad Constitucional [Verfassungslehre und -wirklichkeit], Madrid, Nr. 18, 2. semestre 2006, S. 105 – 129. 47. Ämterpatronage – ein Krebsübel der Demokratie, in: Herbert von Arnim (Hrsg.), Die deutsche Krankheit: Organisierte Unverantwortlichkeit? Beiträge auf der 7. Speyerer Demokratietagung vom 28. bis 29. Oktober 2004 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 2005, S. 107 – 136. 48. Europäisierung und Internationalisierung. Zum Verlust der schützenden Außenhaut der Souveränität, in: Gunnar Folke Schuppert / Ingolf Pernice / Ulrich Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, S. 147 – 176. 49. Die Rolle des Verfassungsrechts angesichts von Dissens in der Gesellschaft und in der Rechtspolitik, in: Giovanni Maio (Hrsg.), Der Status des extrakorporalen Embryos. Perspektiven eines interdisziplinären Zugangs, Stuttgart/Bad Cannstatt, 2007, S. 551 – 593. 50. Humangenetik als Verfassungsproblem, in: Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Jahresband 2006, Heidelberg 2007, S. 93 – 130. 51. *Das Verhältnis der EMRK zum nationalen Recht. Die Relevanz unterschiedlicher Entwicklungspfade, in: Stephan Breitenmoser / Bernhard Ehrenzeller / Marco Sassli / Walter

872

Schriftenverzeichnis von Rainer Wahl Stoffel / Beatrice Wagner Pfeifer (Hrsg.), Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat. Liber amicorum Luzius Wildhaber, Kehl u. a. 2007, S. 865 – 894.

52. Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: Rainer Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation: Vorträge bei deutsch-japanischen Symposien in Tokyo 2004 und Freiburg 2005, (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 1104), Berlin 2008, S. 29 – 48. 53. Verfassungsänderung – Verfassungswandel – Verfassungsinterpretation II, in: Rainer Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation: Vorträge bei deutsch-japanischen Symposien in Tokyo 2004 und Freiburg 2005, (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 1104), Berlin 2008, S. 65 – 79. 54. *Verfassungsdenken jenseits des Staates. in: Ivo Appel / Georg Hermes (Hrsg.), Mensch – Staat – Umwelt, (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 48), Berlin 2008, S. 135 – 153. 55. Verfassungsrecht und Familienrecht – eine schwierige Verwandtschaft, in: Tobias Helms / Jens Martin Zeppernick (Hrsg.), Lebendiges Familienrecht. Festschrift für Rainer Frank zum 70. Geburtstag am 14. Juli 2008, Frankfurt a. Main/Berlin, S. 31 – 55. 56. Die normative Kraft der Verfassung, in: Waseda Proceedings of Comparative Law, 2008, S. 325 – 336. 57. Verfahren und Methoden der Verfassungsfortbildung – Einleitung, in: Giovanni Biaggini / Georg Müller / Jörg Paul Müller / Felix Uhlmann (Hrsg.), Demokratie, Regierungsreform, Verfassungsfortbildung. Symposium für Ren Rhinow zum 65. Geburtstag, Basel 2009, S. 109 – 111. 58. Verfassung jenseits des Staates – Eine Zwischenbilanz, in: Martin Hochhuth (Hrsg.), Nachdenken über Staat und Recht. Kolloquium zum 60. Geburtstag von Dietrich Murswiek, (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 59), Berlin 2010, S. 107 – 148. 59. Rechtsdogmatik und Rechtspolitik im Öffentlichen Recht, in: Rolf Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung. Ein japanisch- deutsches Symposium, Tübingen 2010, S. 121 – 136. 60. *In Defence of „Constitution“, in: Petra Dobner / Martin Loughlin (Hrsg.), The Twilight of Constitutionalism?, Oxford 2010, S. 220 – 242. 61. *Die Rolle staatlicher Verfassungen angesichts der Europäisierung und Internationalisierung, in: Thomas Vesting / Stefan Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert der Verfassung, 2011 (im Erscheinen). 62. *Die praktische Wirksamkeit von Verfassungen: Der Fall des Grundgesetzes, in: Helmut Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat (erscheint 2012).

2. Verwaltungsrecht Siehe auch I. Nr. 3 und 7 + Kommentierung III. Nr. 2 1.

*Zukunftsaspekte der Verwaltung, DÖV 1980, S. 443 – 446.

2.

*Genehmigung und Planungsentscheidung, DVBl. 1982, S. 51 – 62.

Schriftenverzeichnis von Rainer Wahl

873

3.

Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz VVDStRL 41 (1983), S. 151 – 192.

und

Rechtsschutzauftrag,

4.

Der Nachbarschutz im Baurecht, JuS 1984, S. 577 – 586.

5.

Der Klagegegner bei Handeln der unteren Verwaltungsbehörde, VBlBW 1984, 123 – 126.

6.

Vereinheitlichung oder bereichsspezifisches Verwaltungsverfahrensrecht?, in: Willi Blümel (Hrsg.), Die Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrensrechts, Berlin 1984, S. 19 – 59.

7.

*Art. „Erlaubnis“, in: Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 1, Berlin 1986, Sp. 434 – 441.

8.

*Art. „Gebietsreform“, in: Staatslexikon, hrsgg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 2, 7. Auflage, Freiburg 1986, Sp. 782 – 787.

9.

*Art. „Planfeststellung“, in: Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 2, Berlin 1987, Sp. 167 – 180.

10. Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, VBlBW 1988, S. 387 – 392. 11. *Recht und Technik, in: Beiträge aus der evangelischen Militärseelsorge 3 / 1988, S. 5 – 26. 12. Art. „Verfahren, Verfahrensrecht“, in: Staatslexikon, hrsgg. von der Görres- Gesellschaft, Bd. 5, 7. Auflage, Freiburg 1989, Sp. 628 – 633. 13. *Verwaltungsorganisation, in: Hartmut Maurer / Reinhard Hendler (Hrsg.), Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, Frankfurt a.M. 1989, S. 92 ff. 14. *Die Aufgabenabhängigkeit von Verwaltung und Verwaltungsrecht, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Eberhard Schmidt-Aßmann / Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts – Grundfragen, Baden-Baden 1993, S. 177 – 218. 15. *Die Einschaltung privatrechtlich organisierter Verwaltungseinrichtungen in den Straßenbau, in: Willi Blümel (Hrsg.), Einschaltung Privater beim Verkehrswegebau –Innenstadtverkehr (Speyerer Forschungsberichte 115), Speyer 1993, S. 24 – 58. • Erweiterte Fassung in: DVBl. 1993, S. 517 – 527. 16. *Abschied von den „Ansprüchen aus Art. 14 GG“, in: Bernd Bender / Rüdiger Breuer / Fritz Ossenbühl / Horst Sendler, Festschrift für Konrad Redeker zum 70. Geburtstag, München 1993, S. 245 – 269. 17. Das Verhältnis von Rechtsverordnung und Verwaltungsvorschrift, in: Stanislaw Biernat / Reinhard Hendler / Friedrich Schoch / Andrzej Wasilewski (Hrsg.), Grundfragen des Verwaltungsrechts und der Privatisierung, Stuttgart 1994, S. 145 – 156. 18. *Art. „Erlaubnis“, in: Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1994, Sp. 528 – 544. 19. *Art. „Planfeststellung“, in: Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 2, 2. Aufl., Berlin 1994, Sp. 1624 – 1641. 20. *Die doppelte Abhängigkeit des subjektiven öffentlichen Rechts, DVBl 1996, S. 641 – 651.

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Schriftenverzeichnis von Rainer Wahl

21. *Organisation kommunaler Aufgabenerfüllung im Spannungsfeld von Demokratie und Effizienz, in: Hans-Günter Henneke (Hrsg.), Organisation kommunaler Aufgabenerfüllung. Optimierungspotentiale im Spannungsfeld von Demokratie und Effizienz, Stuttgart u. a. 1997, S. 15 – 41. 22. Fehlende Kodifizierung der förmlichen Genehmigungsverfahren im Verwaltungsverfahrensgesetz, NVwZ 2002, S. 1192 – 1195. 23. Verwaltungsvorschriften: Die ungesicherte dritte Kategorie des Rechts, in: Eberhard Schmidt-Aßmann / Dieter Sellner / Günter Hirsch / Gerd-Heinrich Kemper / Hinrich Lehmann-Grube (Hrsg.), Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, Köln / Berlin / Bonn / München 2003, S. 571 – 598. 24. Bedeutungsverlust und Bedeutungsgewinn für das Institut der Genehmigungen, in: Klaus Hansmann / Stefan Paetow (Hrsg.), Umweltrecht und richterliche Praxis, Festschrift für Ernst Kutscheidt zum 70. Geburtstag, München 2003, S. 199 – 212. 25. Das Verhältnis von Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozessrecht in europäischer Sicht, DVBl. 2003, S. 1285 – 1293. • Auch in: Hermann Hill / Rainer Pitschas, (Hrsg.), Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht. Beiträge der 70. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung vom 20. bis 22. März 2002 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 2004, S. 357 – 383. 26. *Zwei Phasen des Öffentlichen Rechts nach 1949, Originalbeitrag in: Rainer Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 411 – 435. 27. Ämterpatronage – ein Krebsübel der Demokratie, in: Herbert von Arnim, Die deutsche Krankheit: Organisierte Unverantwortlichkeit? Beiträge auf der 7. Speyerer Demokratietagung vom 28. bis 29. Oktober 2004 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 2005, S. 107 – 136. 28. Klagebefugnis und Kontrolldichte: Änderungen in der Konzeption des verwaltungsgerichtlichen Rechtschutzes?, in: Winfried Kluth / Klaus Rennert (Hrsg.), Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht. Klagebefugnis, In-camera-Verfahren, Rechtsmittelrecht, (Hallesche Schriften zum Öffentlichen Recht), Universitätsverlag Halle-Wittenberg, 2008, S. 53 – 82. 29. *Zeitprobleme im Verwaltungsverfahren – Das Konzept der Strukturierung und Konzentrierung des Erörterungstermins, in: Gerrit Manssen / Monika Jachmann / Christoph Gröpl (Hrsg.), Nach geltendem Verfassungsrecht. Festschrift für Udo Steiner zum 70. Geburtstag, Stuttgart / München u. a. 2009, S. 910 – 930. 30. Öffentliches Baurecht, in: Dietmar Willoweit (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert. Mit Beiträgen zur Entwicklung des Verlages C.H.Beck, München 2007, S. 969 – 987.

3. Verwaltungsrecht mit Schwerpunkt Planungsrecht Siehe auch I. Nr. 3 1.

Der Regelungsgehalt von Teilentscheidungen in mehrstufigen Planungsverfahren, DÖV 1975, S. 373 – 380.

Schriftenverzeichnis von Rainer Wahl

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2.

Aktuelle Probleme im Verhältnis der Landesplanung zu den Gemeinden, DÖV 1981, S. 597 – 606.

3.

Die vertikale Koordination durch das Landesraumordnungsprogramm: Die Rolle der einzelnen administrativen Ebenen im Wirkungsgefüge räumlicher Planung, in: Perspektiven des künftigen niedersächsischen Landesraumordnungsprogramms (Arbeitsmaterial der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Nr. 48), Hannover 1981, S. 97 – 136.

4.

Bürgerbeteiligung bei der Landesplanung, in: Willi Blümel (Hrsg.), Frühzeitige Bürgerbeteiligung bei Planungen, Berlin 1982, S. 113 – 146.

5.

*Genehmigung und Planungsentscheidung, DVBl. 1982, S. 51 – 62.

6.

Zur Integration der Umweltplanungen in die raumordnerische Planung, in: Umweltplanungen und ihre Weiterentwicklung (Beiträge der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Nr. 73), Hannover 1983, S. 43 – 67.

7.

Rechtliche Wirkungen landesplanerischer Festlegungen gegenüber gemeindlichen Planungen und Fachplanungen, in: Verwirklichung von Umweltschutz durch Raumordnung und Landesplanung (Arbeitsmaterial der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Nr. 90), Hannover 1984, S. 47 – 83.

8.

Der Nachbarschutz im Baurecht, JuS 1984, S. 577 – 586.

9.

*Art. „Erlaubnis“, in: Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 1, Berlin 1986, Sp. 434 – 441.

10. *Art. „Planfeststellung“, in: Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 2, Berlin 1987, Sp. 167 – 180. 11. *Art. „Raumordnung und Landesplanung“, in: Staatslexikon, hrsgg. von der Görresgesellschaft, Bd. 4, 7. Auflage, Freiburg 1988, Sp. 649 – 659. 12. Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung aus verfassungs- und planungsrechtlicher Sicht, in: Strukturwandel und Entwicklungstendenzen im Einzelhandel (Arbeitsmaterial der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Nr. 163), Hannover 1989, S. 41 – 59. 13. Entwicklung des Fachplanungsrechts, NVwZ 1990, S. 426 – 441. 14. Rechtsschutz in der Fachplanung, NVwZ 1990, S. 923 – 928. 15. Das Raumordnungsverfahren am Scheideweg, in: Everhardt Franßen / Konrad Redeker / Otto Schlichter / Dieter Wilke (Hrsg.), Bürger – Richter – Staat. Festschrift für Horst Sendler, München 1991, S. 199 – 223. 16. Eigenentwicklung von Gemeinden, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Notwendigkeit, Möglichkeiten und Grenzen interkommunaler Zusammenarbeit, Tagungsband der Regionalplanertagung 1991 vom 6. bis 8. November 1991 in Überlingen, Hannover 1992, S. 13 – 36. 17. *Die Einschaltung privatrechtlich organisierter Verwaltungseinrichtungen in den Straßenbau, in: Willi Blümel (Hrsg.), Einschaltung Privater beim Verkehrswegebau –Innenstadtverkehr (Speyerer Forschungsberichte 115), Speyer 1993, S. 24 – 58. • Erweiterte Fassung in: DVBl. 1993, S. 517 – 527. 18. Neues Verfahrensrecht für Planfeststellung und Anlagengenehmigung – Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrens oder bereichsspezifische Sonderordnung?, in: Willi Blümel /

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Schriftenverzeichnis von Rainer Wahl Rainer Pitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, Berlin 1994, S. 83 – 120.

19. *Art. „Erlaubnis“, in: Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1994, Sp. 528 – 544. 20. *Art. „Planfeststellung“, in: Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 2, 2. Aufl., Berlin 1994, Sp. 1624 – 1641. 21. Umweltleitplanung als neuer Planungstyp oder Ausbau der Landschaftsplanung zur Umweltleitplanung oder Koordinierung der sektoralen Umweltplanungen durch die Raumordnung?, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Integration einer Umweltleitplanung in die Raumordnung, Hannover 1994, S. 6 – 28. 22. Zielbeachtungspflicht und Zulassungsentscheidung, in: Werner Hoppe / Petra Kauch (Hrsg.), Raumordnungsziele nach Privatisierung öffentlicher Aufgaben. Kolloquium des Zentralinstituts für Raumplanung am 13. März 1996 in Münster, Münster 1996, S. 11 – 34. 23. Art. „Umweltplanung“, in: Wilhelm Korff / Lutwin Beck / Paul Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 3 (Pe-Z), Gütersloh 1998, S. 645 – 650. 24. *Umweltschutz durch Planung, in: Johannes Bizer / Hans-Joachim Koch (Hrsg.), Sicherheit, Vielfalt, Solidarität. Ein neues Paradigma des Verfassungsrechts?, Symposium zum 65. Geburtstag Erhard Denningers am 20. Juni 1997, Baden-Baden 1998, S. 87 – 99. 25. *Europäisches Planungsrecht – Europäisierung des deutschen Planungsrechts. Das Planungsrecht in Europa, in: Klaus Grupp / Michael Ronellenfitsch (Hrsg.), Planung – Recht – Rechtsschutz, Festschrift für Willi Blümel zum 70. Geburtstag am 6. Januar 1999, Berlin 1998, S. 617 – 646. 26. Entwicklung des Fachplanungsrechts: NVwZ 1999, S. 606 – 620 (gemeinsam mit Johannes Dreier). 27. *Einige Grundprobleme im europäischen Raumplanungsrecht, in: Wilfried Erbguth / Janbernd Oebbecke / Hans-Werner Rengeling / Martin Schulte (Hrsg.), Planung, Festschrift für Werner Hoppe zum 70. Geburtstag, München 2000, S. 913 – 926. 28. Entwicklung des Fachplanungsrechts, NVwZ 2006, S. 161 – 171 (gemeinsam mit Dietmar Hönig). 29. *Die Fachplanung in der Phase ihrer Europäisierung, in: Max-Emanuel Geis / Dieter Umbach (Hrsg.), Planung – Steuerung – Kontrolle. Festschrift für Richard Bartlsperger zum 70. Geburtstag, Berlin 2006, S. 427 – 447. 30. *Umweltschutz in der Fachplanung, in: Klaus Hansmann / Dieter Sellner, hrsgg. im Auftrag des Arbeitskreises für Umweltrecht [AKUR]), Grundzüge des Umweltrechts, 3. Aufl., Berlin 2007 (Beiträge zur Umweltgestaltung Bd. A 161), S. 287 – 353. 31. Erscheinungsformen und Probleme der projektorientierten Raumordnung, in: Klaus-Peter Dolde / Klaus Hansmann / Stefan Paetow / Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.),Verfassung – Umwelt – Wirtschaft. Festschrift für Dieter Sellner zum 75. Geburtstag, München 2010, S. 155 – 173.

Schriftenverzeichnis von Rainer Wahl

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4. Verwaltungsrecht mit Schwerpunkt Umweltrecht Siehe auch I. Nr. 4 und 5 sowie II. Nr. 4 und 5 1.

Durchsetzung ökologischer Vorrangbereiche gegenüber konkurrierenden Nutzungen, in: Ökologische Vorranggebiete (Arbeitsmaterial der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Nr. 54), Hannover 1981, S. 55 – 82.

2.

*Art. „Erlaubnis“, in: Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 1, Berlin 1986, Sp. 434 – 441.

3.

*Art. „Planfeststellung“, in: Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 2, Berlin 1987, Sp. 167 – 180.

4.

Thesen zur Umsetzung der Umweltverträglichkeitsprüfung nach EG-Recht in das deutsche öffentliche Recht, DVBl. 1988, S. 86 – 89.

5.

Recht und Technik, in: Beiträge aus der evangelischen Militärseelsorge 3 / 1988, S. 5 – 26.

6.

Die Auswirkungen der Umsetzung der EG-Richtlinie auf die kommunale UVP, in: KarlHermann Hübler / Konrad Otto-Zimmermann (Hrsg.), UVP – Umweltverträglichkeitsprüfung, Gesetzgebung. Sachstand, Positionen. Lösungsansätze, Taunusstein 1989, S. 48 – 59.

7.

Risikobewertung der Exekutive und richterliche Kontrolldichte – Auswirkungen auf das Verwaltungs- und das gerichtliche Verfahren, NVwZ 1991, S. 409 – 418. • Auch in: Risikobewertung der Exekutive und richterliche Kontrolldichte – Auswirkungen auf das Verwaltungs- und das gerichtliche Verfahren, in: Dokumentation zur 14. wissenschaftlichen Fachtagung der Gesellschaft für Umweltrecht e.V. 1990, Berlin 1991, S. 41 – 93.

8.

Das Verwaltungsverfahren bei Genehmigungsverfahren. Die nachvollziehende Amtsermittlung im UVP-Gesetz, in: Karl Kroeschell (Hrsg.), Recht und Verfahren. Symposion der rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Städtischen Universität Osaka, (Freiburger rechts- und staatswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 56), Heidelberg 1993, S. 155 – 182.

9.

*Art. „Erlaubnis“, in: Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1994, Sp. 528 – 544.

10. *Art. „Planfeststellung“, in: Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 2, 2. Aufl., Berlin 1994, Sp. 1624 – 1641. 11. *Das Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, in: Karl Kroeschell/Albrecht Cordes (Hrsg.), Vom nationalen zum transnationalen Recht. Symposion der rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Städtischen Universität Osaka, (Freiburger rechts- und staatswissenschaftliche Abhandlungen Bd. 60), Osaka 1995, S. 197 – 220 (gemeinsam mit Ivo Appel). 12. *Neues Verfahrensrecht für Planfeststellung und Anlagengenehmigung – Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrens oder bereichsspezifische Sonderordnung?, in: Willi Blümel / Rainer Pitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, Berlin 1994, S. 83 – 120.

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Schriftenverzeichnis von Rainer Wahl

13. Risikoabschätzung aus juristischer Sicht, in: Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung Baden-Württemberg (Hrsg.), Gesundheitliche Risiken durch den Kfz-Verkehr, Stuttgart 1994, S. 25 – 31. 14. Das Gentechnikrecht nach der Novellierung, JZ 1994, S. 973 – 982 (gemeinsam mit Hansjörg Melchinger). 15. Prävention und Vorsorge: Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, in: Rainer Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge (Studien zum Umweltstaat), Berlin 1995, S. 1 – 216 (gemeinsam mit Ivo Appel). 16. Genehmigung zwischen Bestandsschutz und Flexibilität, in: Rainer Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge (Studien zum Umweltstaat), Berlin 1995, S. 217 – 262 (gemeinsam mit Georg Hermes und Karsten Sach). 17. *Umweltschutz und Verfassungsrecht: Prävention durch staatliche Kontrolle oder durch Haftungsrecht, Ritsumeikan Law Review (Kyoto), Nr. 10, 1995, S. 105 – 124. 18. *Privatorganisationsrecht als Steuerungsinstrument bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, in: Eberhard Schmidt-Aßmann / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, Baden-Baden 1997, S. 301 – 338. 19. Privatisierung im Umweltrecht, in: Christoph Gusy (Hrsg.), Privatisierung von Staatsaufgaben. Kriterien – Grenzen – Folgen, Baden-Baden 1998, S. 260 – 297. 20. Risikobewertung und Risikobewältigung im Lebensmittelrecht, Zeitschrift für Lebensmittelrecht (ZLR) 1998, S. 275 – 298. 21. *Umweltschutz durch Planung, in: Johannes Bizer / Hans-Joachim Koch (Hrsg.), Sicherheit, Vielfalt, Solidarität. Ein neues Paradigma des Verfassungsrechts?, Symposium zum 65. Geburtstag Erhard Denningers am 20. Juni 1997, Baden-Baden 1998, S. 87 – 99. 22. Verkehrsanlagen und Hochwasserschutz, in: Rüdiger Breuer (Hrsg.), Hochwasserschutz im geltenden und künftigen Recht, Referate und Diskussionen der 19. Vortragsveranstaltung des Instituts für das Recht der Wasser- und Entsorgungswirtschaft an der Universität Bonn am 3. Mai 1996, Köln 1999, S. 83 – 98. 23. Materiell-integrative Anforderungen an die Vorhabenzulassung – Anwendung und Umsetzung der IVU-Richtlinie, NVwZ 2000, S. 502 – 508. • Auch in: Gesellschaft für Umweltrecht e.V. (Hrsg.), Die Vorhabenzulassung nach der UVP-Änderungs- und der IVU-Richtlinie: Dokumentation zur Sondertagung der Gesellschaft für Umweltrecht e.V. Berlin 1999, Berlin 2000, S. 67 ff. 24. Die Normierung der materiell-integrativen (medienübergreifenden) Genehmigungsanforderungen, in: ZUR 2000, S. 360 – 367. 25. Das deutsche Genehmigungs- und Umweltrecht unter Anpassungsdruck, in: Klaus-Peter Dolde (Hrsg.), Umweltrecht im Wandel: Bilanz und Perspektiven aus Anlaß des 25-jährigen Bestehens der Gesellschaft für Umweltrecht (GfU), Berlin 2001, S. 237 – 265. 26. Umweltschutz durch Bauplanung, in: Sung Kyun Kwan Universität, Korean Environmental Law Association, 2001, S. 263 – 284. • Auch in: Sung Kyun Kwan Law Review – The Institute for Comparative Legal Studies, 2001, Vol. 13, No. 2. S. 263 – 307.

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27. *Kompetenzprobleme bei der Umsetzung von europäischen Richtlinien, NVwZ 2002, S. 21 – 28 (gemeinsam mit Eckard Rehbinder). 28. Entstehung und Entwicklung des Umweltrechts im Kontext der gesellschaftlich-politischen Kräfte, in: Martin Führ / Rainer Wahl / Peter von Wilmowsky (Hrsg.), Umweltrecht und Umweltwissenschaft. Festschrift für Eckard Rehbinder, Berlin 2007, S. 127 – 140. 29. *Umweltschutz in der Fachplanung, in: Klaus Hansmann / Dieter Sellner (Hrsg. im Auftrag des Arbeitskreises für Umweltrecht [AKUR]), Grundzüge des Umweltrechts, 3. Aufl., Berlin, 2007, (Beiträge zur Umweltgestaltung Bd. A 161), S. 287 – 353.

5. Verwaltungsrecht mit Schwerpunkt im Gentechnikrecht und der Freiheit der Wissenschaft Siehe auch II. Nr. 3 und III. Nr. 1 1. *Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, Freiburger Universitätsblätter, Heft 95, 1987, S. 19 – 35. • Auch in: Deutscher Hochschulverband (Hrsg.), Almanach. Ein Lesebuch II, 1998, S. 179 – 198. 2. Limits to the Freedom of Science, in: Umberto Bertazzoni u. a. (Hrsg.), Human Embryos and Research, Proceedings of the European Bioethics Conference in Mainz 7.–9. November 1988, Frankfurt/Main u. a. 1990, S. 201 – 211. 3. Forschungs- und Anwendungskontrolle technischen Fortschritts als Staatsaufgabe? – dargestellt am Beispiel der Gentechnik, in: Gentechnikrecht und Umwelt, 6. Trierer Kolloquium zum Umwelt- und Technikrecht vom 26.–28. September 1990, UTR 14 (1991), S. 7 – 36. 4. Das Gentechnikrecht nach der Novellierung, JZ 1994, S. 973 – 982 (gemeinsam mit Hansjörg Melchinger). 5. Art. „Forschung / Forschungsfreiheit“, in: Wilhelm Korff / Lutwin Beck / Paul Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 1 (A-F), Gütersloh 1998, S. 762 – 765. 6. Art. „Freisetzung / Freisetzungsversuche“, in: Wilhelm Korff / Lutwin Beck / Paul Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 1 (A-F), Gütersloh 1998, S. 806 – 808. 7. *Art. „Umweltplanung“, in: Wilhelm Korff / Lutwin Beck / Paul Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 3 (Pe-Z), Gütersloh 1998, S. 645 – 650. 8. *Das Öffentliche Recht als Fundament und dritte Säule des Medizinrechts, in: Jörg Arnold / Björn Burkhardt / Walter Gropp / Günter Heine / Hans-Georg Koch / Otto Lagodny / Walter Perron / Susanne Walther (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht. Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag, München 2005, S. 1243 – 1260. 9. *Formalisierung: Hindernis oder Voraussetzung für sachverständige Begutachtung?, in: Franz Josef Illhardt (Hrsg.), Rechtliche Grundlagen der Beratung von Forschungsvorhaben, Kolloquium der Ethik-Kommission der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg am 24. Oktober 2008, (Ethik-Kommission der Albert-Ludwigs-Universität, Schriftenreihe Heft 5), Eigenverlag 2009, S. 101 – 106.

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Schriftenverzeichnis von Rainer Wahl

6. Verwaltungswissenschaft 1.

*Die Weiterentwicklung der Institution des Parlamentarischen Staatssekretärs, Der Staat Bd. 8 (1969), S. 327 – 347.

2.

Die politische Planung in den Reformüberlegungen der Bundesregierung, DÖV 1971, S. 42 – 47.

3.

*Notwendigkeit und Grenzen langfristiger Aufgabenplanung, Der Staat Bd. 11 (1972), S. 459 – 482. • Auch in: Manfred Rehbinder (Hrsg.), Recht im sozialen Rechtsstaat, Opladen 1973, S. 363 – 388. • Überarbeitete Fassung: Politische Planung in der differenzierten Gesellschaft. Notwendigkeiten, Grenzen und verfassungspolitische Probleme, in: Bernhard Schäfers (Hrsg.), Gesellschaftliche Planung. Materialien zur Planungsdiskussion in der BRD, Stuttgart 1973, S. 127 – 157.

4.

*Probleme der Ministerialorganisation, Der Staat Bd. 3 (1974), S. 383 – 398.

5.

*Zukunftsaspekte der Verwaltung, DÖV 1980, S. 443 – 446.

6.

Die bürokratischen Kosten des Rechts- und Sozialstaats, Die Verwaltung Bd. 13 (1980), S. 273 – 296. • Auf Italienisch: I costi burocratici dello stato sociale e di diritto, in: Problemi di amministrazione pubblica, VI (1981), N. 2, S. 1 – 39. • Auf Portugiesisch: Os nestos burocrticos do estado social de direito, in: Revista da AdministraÅao Pfflblica, n.8 28, S. 191 – 211.

7.

Entscheidungsprozesse bei Gemeinschaftsaufgaben, in: Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften im öffentlichen Recht, Fälle und Lösungen in Ausbildung und Prüfung, Neuwied 1981, S. 318 – 336.

8.

Einführung in die Literatur der Verwaltungswissenschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Öffentlichen Recht, Fälle und Lösungen in Ausbildung und Prüfung, Neuwied, 1981, S. 370 – 381.

9.

*Art. „Gebietsreform“, in: Staatslexikon, hrsgg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 2, 7. Auflage, Freiburg 1986, Sp. 782 – 787.

10. Die Organisation und Entwicklung der Verwaltung in den Ländern und in Berlin. § 1 Die Länder, in: Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5, Stuttgart 1987, S. 208 – 292. 11. Zur Lage der Verwaltung Ende des 20. Jahrhunderts, in: Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5, Stuttgart 1987, S. 1197 – 1217. 12. *Verwaltungsorganisation, in: Hartmut Maurer / Reinhard Hendler (Hrsg.), Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, Frankfurt a.M. 1989, S. 92 ff. 13. Erweiterung des Handlungsspielraums: Die Bedeutung von Kompensationen und Entscheidungsverknüpfungen, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Konfliktbewältigung durch Verhandlungen, Baden-Baden 1990, S. 283 – 288.

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14. *Art. „Raumordnung und Landesplanung“, in: Staatslexikon, hrsgg, von der Görresgesellschaft, Bd. 4, 7. Auflage, Freiburg 1988, Sp. 649 – 659. 15. Die Verwaltung, in: Festschrift Baden-Württemberg: Aufbau und Gestaltung 1952 – 1992, Stuttgart 1992, S. 73 – 89. 16. *Die Aufgabenabhängigkeit von Verwaltung und Verwaltungsrecht, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Eberhard Schmidt-Aßmann / Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts – Grundfragen, Baden-Baden 1993, S. 177 – 218. 17. *Privatorganisationsrecht als Steuerungsinstrument bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, in: Eberhard Schmidt-Aßmann / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, Baden-Baden 1997, S. 301 – 338. 18. *Organisation kommunaler Aufgabenerfüllung im Spannungsfeld von Demokratie und Effizienz, in: Hans-Günter Henneke (Hrsg.), Organisation kommunaler Aufgabenerfüllung. Optimierungspotentiale im Spannungsfeld von Demokratie und Effizienz, Stuttgart u. a. 1997, S. 15 – 41. 19. Landkreise, Regionen, Regierungsbezirke – zu viele Ebenen?, Der Bürger im Staat, 1998, S. 209 – 213. 20. *Zeitprobleme im Verwaltungsverfahren – Das Konzept der Strukturierung und Konzentrierung des Erörterungstermins, in: Gerrit Manssen / Monika Jachmann / Christoph Gröpl (Hrsg.), Nach geltendem Verfassungsrecht. Festschrift für Udo Steiner zum 70. Geburtstag, Stuttgart / München u. a. 2009, S. 910 – 930. 21. Die Regierungspräsidien, in: Siegfried Frech / Reinhold Weber (Hrsg.), Handbuch Kommunalpolitik, (Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg, Politik in Baden-Württemberg Bd. 1), Stuttgart 2009, S. 61 – 80. 22. Formalisierung: Hindernis oder Voraussetzung für sachverständige Begutachtung?, in: Franz Josef Illhardt (Hrsg.), Rechtliche Grundlagen der Beratung von Forschungsvorhaben, Kolloquium der Ethik-Kommission der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg am 24. Oktober 2008, (Ethik-Kommission der Albert-Ludwigs-Universität, Schriftenreihe Heft 5), Eigenverlag 2009, S. 101 – 106.

7. Verfassungsgeschichte 1.

Der preußische Verfassungskonflikt und das konstitutionelle System des Kaiserreichs, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Moderne Deutsche Verfassungsgeschichte (1815 – 1918), Köln 1972, S. 208 – 231, und 2. Aufl. 1981, S. 208–231.

2.

Der Übergang von der feudal-ständischen Gesellschaft zur staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung als Rechtsproblem, Die Entwährungslehre Lorenz von Steins, in: Roman Schnur (Hrsg.), Staat und Gesellschaft. Studien über Lorenz von Stein, Berlin 1978, S. 337 – 371.

3.

*Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, Der Staat Bd. 18 (1979), S. 321 – 348, auch in: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 341 – 373. • Auch in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Moderne Deutsche Verfassungsgeschichte (1815 – 1914), 2. Auflage, Königstein / Ts. 1981, S. 346 – 371.

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4.

Die Bedeutung der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik – im Vergleich zum 19. Jahrhundert und zu Weimar, in: Werner Conze / M. Rainer Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S. 339 – 386 (gemeinsam mit Frank Rottmann).

5.

Rezension: Scheuner, Der Beitrag der deutschen Romantik zur politischen Theorie, in: Der Staat Bd. 20 (1981), S. 613 – 616.

6.

*Die deutsche Einigung im Spiegel historischer Parallelen, Der Staat Bd. 30 (1991), S. 181 – 208, auch in: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 374 – 411.

7.

Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 1. Aufl., Heidelberg 1987, Bd. 1, § 1, S. 3 – 34. (2. unveränd. Auflage 1995).

8.

Die Person im Ständestaat und im Rechtsstaat. Vergleichende Betrachtungen zur europäischen und japanischen Entwicklung, in: Rolf Grawert / Bernhard Schlink / Rainer Wahl / Joachim Wieland (Hrsg.), Offene Staatlichkeit, Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, Berlin 1995, S. 81 – 105. • Auch in: Hans-Martin Pawlowski / Gerd Roellecke (Hrsg.), Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates, ARSP-Beiheft 65 (1996), S. 49 – 70.

9.

Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl., Heidelberg 2002, § 2 , S. 45 – 91, auch in: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 277 – 319.

10. *Verfassungsstaatlichkeit im Konstitutionalismus und in der Weimarer Zeit, Originalbeitrag in: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 320 – 340. 11. Die Bewegung im labilen Dualismus des Konstitutionalismus in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen einer Entwicklung zugunsten des Parlaments, in: Anna Gianna Manca / Luigi Lacch (Hrsg.), Parlamento e Costituzione nei sisstemi costituzionali europei ottocenteschi – Parlament und Verfassung in den konstitutionellen Verfassungssystemen Europas, Bologna/Berlin 2003, S. 95 – 126. 12. Der Konstitutionalismus als Bewegungsgeschichte, Der Staat Bd. 44 (2005), S. 571 – 594. • Auch in: Horst Dreier / Ulrike Müßig / Michael Stolleis (Hrsg.), Konstitutionalismus und Verfassungskultur. Symposium für Dietmar Willoweit, Tübingen 2006, S. 197 – 225.

8. Europäisierung und Internationalisierung des Öffentlichen Rechts 1.

*Das Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, in: Karl Kroeschell/Albrecht Cordes (Hrsg.), Vom nationalen zum transnationalen Recht. Symposion der rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Städtischen Universität Osaka, (Freiburger rechts- und staatswissenschaftliche Abhandlungen Bd. 60), Osaka 1995, S. 197 – 220 (gemeinsam mit Ivo Appel).

Schriftenverzeichnis von Rainer Wahl

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2.

Individualismus und Gemeinschaftsgebundenheit. Vorüberlegungen zu einem Kulturvergleich, in: Dieter Leipold (Hrsg.), Selbstbestimmung in der modernen Gesellschaft aus deutscher und japanischer Sicht, Symposion der rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Städtischen Universität Osaka, (Freiburger rechts- und staatswissenschaftliche Abhandlungen Bd. 62), Heidelberg 1997, S. 47 – 62.

3.

Die Europäisierung des Genehmigungsrechts am Beispiel der Novel Food-Verordnung, DVBl. 1998, S. 2 – 13 (gemeinsam mit Detlef Groß).

4.

Europäisches Planungsrecht – Europäisierung des deutschen Planungsrechts. Das Planungsrecht in Europa, in: Klaus Grupp / Michael Ronellenfitsch (Hrsg.), Planung – Recht – Rechtsschutz. Festschrift für Willi Blümel zum 70. Geburtstag am 6. Januar 1999, Berlin 1998, S. 617 – 646.

5.

*Die zweite Phase des Öffentlichen Rechts in Deutschland. Die Europäisierung des Öffentlichen Rechts, Der Staat Bd. 38 (1999), S. 495 – 518.

6.

*Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung, in: Dietrich Murswiek / Ulrich Storost / Heinrich A. Wolff (Hrsg,), Staat – Souveränität – Verfassung. Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, Berlin 2000, S. 163 – 182, auch in: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 96 – 118.

7.

*Einige Grundprobleme im europäischen Raumplanungsrecht, in: Wilfried Erbguth / Janbernd Oebbecke / Hans-Werner Rengeling / Martin Schulte (Hrsg.), Planung. Festschrift für Werner Hoppe zum 70. Geburtstag, München 2000, S. 913 – 926.

8.

*Internationalisierung des Staates, in: Joachim Bohnert / Christof Gramm / Urs Kindhäuser / Joachim Lege / Alfred Rinken / Gerhard Robbers (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, Berlin 2001, S. 193 – 222, auch in: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 17 – 52.

9.

*Das Bundesverfassungsgericht im europäischen und internationalen Umfeld, Aus Politik und Zeitgeschichte 37 – 38 (2001), S. 45 – 54, auch in: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 411 – 435. • Auch in: Robert Christian van Ooyen / Martin H. W. Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, Wiesbaden 2006, S. 477 – 493.

10. *Der einzelne in der Welt jenseits des Staates, Der Staat Bd. 40 (2001), S. 45 – 72. auch in: Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 53 – 95. 11. *Das deutsche Genehmigungs- und Umweltrecht unter Anpassungsdruck, in: Klaus-Peter Dolde (Hrsg.), Umweltrecht im Wandel: Bilanz und Perspektiven aus Anlaß des 25-jährigen Bestehens der Gesellschaft für Umweltrecht (GfU), Berlin 2001, S. 237 – 265. 12. *Kompetenzprobleme bei der Umsetzung von europäischen Richtlinien, NVwZ 2002, S. 21 – 28 (gemeinsam mit Eckard Rehbinder). 13. Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff?, in: Carl-Eugen Eberle / Martin Ibler / Dieter Lorenz (Hrsg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart. Festschrift für Winfried Brohm zum 70. Geburtstag, München 2002, S. 191 – 207. 14. *Zwei Phasen des Öffentlichen Rechts nach 1949, Originalbeitrag in: Rainer Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (vorne I. Nr. 6), S. 411 – 435.

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15. Der einzelne in der Welt jenseits des Staates, in Rainer Wahl / Joachim Wieland (Hrsg.), Das Recht des Menschen in der Welt. Kolloquium aus Anlaß des 70. Geburtstags von ErnstWolfgang Böckenförde, (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 28) Berlin 2002, S. 59 – 109 (erweiterte Fassung von VIII Nr. 8). 16. Internationalisierung der Informationsordnung, in: Dieter Leipold (Hrsg.), Rechtsfragen des Internet und der Informationsgesellschaft. Symposion der rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Städtischen Universität Osaka, (Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen Band 68), Heidelberg 2002, S. 37 – 61 (unter Mitwirkung von Katrin Hölting). • Auch in: The Law Research Institute, Seoul National University (Hrsg.), Seoul Law Journal, Volume XLV, No. 1, 2004, S. 289 – 320. 17. *Das Verhältnis von Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozessrecht in europäischer Sicht, DVBl. 2003, S. 1285 – 1293. • Auch in: Hermann Hill / Rainer Pitschas (Hrsg.), Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht. Beiträge der 70. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung vom 20. bis 22. März 2002 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 2004, S. 357 – 383. 18. *Der offene Staat und seine Rechtsgrundlagen, JuS 2003, S. 1145 – 1151. 19. Der offene Verfassungsstaat als Staatstyp der Gegenwart, in: Festschrift für Hisao Kuriki, Tokyo 2004, S. 684 – 655. 20. *Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I: Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 745 – 781. 21. *Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, JZ 2005, S. 916 – 925. • Auch in: Horst Dreier (Hrsg.), Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit. Symposium für Hasso Hofmann zum 70. Geburtstag (Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Bd. 35), Berlin 2005, S. 114 – 149. • Auch in: Teora y Realidad Constitucional (Verfassungslehre und -wirklichkeit), Nr. 18, 2. semestre 2006, S. 105 – 129. 22. *Europäisierung und Internationalisierung. Zum Verlust der schützenden Außenhaut der Souveränität, in: Gunnar Folke Schuppert / Ingolf Pernice / Ulrich Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, S. 147 – 176. 23. *Die Fachplanung in der Phase ihrer Europäisierung, in: Max-Emanuel Geis / Dieter Umbach (Hrsg.), Planung – Steuerung – Kontrolle. Festschrift für Richard Bartlsperger zum 70. Geburtstag, Berlin 2006, S. 427 – 447. 24. Die Rolle von Verbänden auf der internationalen Ebene, in: Dieter Leipold (Hrsg.), Verbände und Organisationen im japanischen und deutschen Recht. Japanisch-deutsches Symposium, Osaka 2005, (Japanisches Recht Bd. 42), Köln / Berlin / Bonn / München 2006, S. 297 – 315.

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25. Das Verhältnis der EMRK zum nationalen Recht. Die Relevanz unterschiedlicher Entwicklungspfade, in: Stephan Breitenmoser / Bernhard Ehrenzeller / Marco Sassli / Walter Stoffel / Beatrice Wagner Pfeifer (Hrsg.), Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat. Liber amicorum Luzius Wildhaber, Zürich/ St. Gallen 2007, S. 865 – 894. 26. Europäisierung: Die miteinander verbundenen Entwicklungen von Rechtsordnungen als ganzen, in: Hans-Heinrich Trute / Thomas Groß / Hans Christian Röhl / Christoph Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, Tübingen 2008, S. 869 – 898. 27. Verfassungsdenken jenseits des Staates. in: Ivo Appel / Georg Hermes (Hrsg.), Mensch – Staat – Umwelt, (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Bd. 48), 2008, S. 135 – 153. 28. Europeanisation beyond Supremacy, in: Jan Wouters / Andr Nollkaemper / Erika de Wet (eds.), The Europeanisation of International Law. The Status of International Law in the EU and its Member States, The Hague 2008, S. 17 – 37. 29. Die Schwebelage im Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedsstaaten. Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat Bd. 48 (2009), S. 587 – 614. 30. Verfassung jenseits des Staates – Eine Zwischenbilanz, in: Martin Hochhuth (Hrsg.), Nachdenken über Staat und Recht. Kolloquium zum 60. Geburtstag von Dietrich Murswiek, (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 59), Berlin 2010, S. 107 – 148. 31. In Defence of „Constitution“, in: Petra Dobner/Martin Loughlin (Hrsg.), The Twilight of Constitutionalism?, Oxford 2010, S. 220 – 242. 32. Die Rolle staatlicher Verfassungen angesichts der Europäisierung und Internationalisierung, in: Thomas Vesting / Stefan Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert der Verfassung, 2011 (im Erscheinen). 33. *Die praktische Wirksamkeit von Verfassungen: Der Fall des Grundgesetzes, in: Helmut Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat (erscheint 2012).

9. Sonstiges 1. Kunstraub als Ausdruck von Staatsideologie, in: Kunst und Recht, Symposium aus Anlaß des 80. Geburtstags von Wolfram Müller-Freienfels, Heidelberg 1996, S. 105 – 136. • Geänderte Fassung: Kunstraub als Ausdruck von Staatsideologie, in: Volker Michael Strocka (Hrsg.), Kunstraub – ein Siegerrecht, Berlin 1999, S. 27 – 39. • Gekürzte Fassung: Kunstraub als Ausdruck von Staatsideologie, Neue Zürcher Zeitung Nr. 80 vom 8. April 1997, S. 44 und in: Matthias Frehner (Hrsg.), Das Geschäft mit der Raubkunst. Fakten, Thesen, Hintergründe, 1998, S. 17 – 24. 2. Kann es die Gesundheit und das Leben kosten, in einem Rechtsstaat sein Recht zu wollen? – Überlegungen zu Martin Walser: „Finks Krieg“, in: NJW 1999, S. 1920 – 1925. • Auch in: Hermann Weber (Hrsg.), Reale und fiktive Kriminalfälle als Gegenstand der Literatur, S. 181 – 197.